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vg-dusseldorf-2022-09-07-29-k-605921
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29 K 6059/21
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:01"
"2022-10-17T11:10:13"
Urteil
ECLI:DE:VGD:2022:0907.29K6059.21.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Der mit E-Mail vom 25. Juni 2021 übersandte Beschluss ohne Datum wird aufgehoben.</strong></p> <p><strong>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <p><strong>Die Beklagte darf die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in derselben Höhe leistet.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin als Rechtsnachfolgerin der J.           GmbH produziert und vermarktet Fernsehsendungen und -beiträge. Sie befindet sich in außergerichtlichen Auseinandersetzungen mit der E.                            GmbH über Vergütungsansprüche. Deren Geschäftsführerin, Frau K.    C.         (im Folgenden: Beschwerdeführerin), beschwerte sich mit Schreiben an die Landesbeauftragte für Informationssicherheit und Datenschutz (im Folgenden: LDI) vom 4. Dezember 2020, dass die Klägerin ihrem Auskunftsantrag nach der Datenschutz-Grundverordnung vom 16. Oktober 2020 nicht nachgekommen sei. Die LDI gab die Beschwerde mit Schreiben vom 18. Dezember 2020 zuständigkeitshalber an die Beklagte, die Datenschutzbeauftragte der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM NRW) ab.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Auf die entsprechende Bitte der Beklagten nahm der Datenschutzbeauftragte der Klägerin unter dem 25. Januar 2021 zur Beschwerde Stellung.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit der datenschutzrechtlichen Überprüfung beauftragte die Beklagte eine Anwaltskanzlei, die der Beklagten mit E-Mail vom 26. Mai 2021 zwei vorbereitete Schreiben als Word- Dokumente übersandte, je eines an die Vertreter der Beschwerdeführerin und eines an die Beschwerdegegnerin. In der E-Mail heißt es: „Wenn Sie mit den Entwürfen einverstanden sind, können Sie diese gerne einfach unter dem Briefkopf der LfM NRW versenden.“</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach einem Telefonat der Beklagten mit dem Datenschutzbeauftragten der Klägerin übersandte die Beklagte mit E-Mail vom 25. Juni 2021 das vorbereitete Schreiben, das mit der in eckigen Klammern gesetzten Kopfzeile „Mitteilung an die Beschwerdegegnerin“ überschrieben ist. In der E-Mail heißt es u.a.: „Haben Sie vielen Dank für das angenehme Telefonat. Anbei sende ich Ihnen, wie besprochen, den Beschluss über das oben genannte Auskunftsersuchen. Ich werde die Gegenseite ebenfalls über die Entscheidung in Kenntnis setzen.“</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Bei dem übersandten Schreiben selbst handelt es sich um eine ungeschützte MS-Word-Datei, die weder einen Briefkopf, noch ein Aktenzeichen, Datum oder eine Unterschrift bzw. Namensnennung der handelnden Person enthält. Es ist mit „Beschluss“ überschrieben und enthält die datenaufsichtsrechtliche Anweisung, der Beschwerdeführerin Kopien der sie betreffenden personenbezogenen Daten, die von der Klägerin verarbeitet werden, unverzüglich zur Verfügung zu stellen. Beigefügt war eine Rechtsbehelfsbelehrung.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben der vormaligen Bevollmächtigten der Landesanstalt für Medien NRW vom 5. Juli 2021 an die Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin teilten diese mit, dass ihre Mandantin dem Beschluss der Landesanstalt für Medien NRW vom 25. Juni 2021 Folge leisten werde.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 7. September 2021 hat die Klägerin unter Beifügung des per E-Mail übersandten Schreibens als Anlage K2 Klage erhoben, mit der sie geltend macht: Die Klage sei als Anfechtungsklage statthaft, weil sie davon ausgehen müsse, dass es sich bei dem Dokument um einen belastenden Verwaltungsakt handele. Dem stehe nicht entgegen, dass sie die Nichtigkeit und damit Unwirksamkeit dieses Verwaltungsakts annehme. Sie könne nicht mit dem Rechtsschein belastet werden, der sich aus der faktischen Existenz einer Maßnahme ihr gegenüber ergebe. Die Anfechtung sei fristgerecht erfolgt, da der Beschluss nicht wirksam bekannt gegeben worden sei. Der erforderliche Bekanntgabewille könne aus Sicht des verständigen Empfängers nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden. In der Gesamtschau sei davon auszugehen, dass die Beklagte mit dem Dokument lediglich einen Entwurf übersandt habe. An dieser Bewertung ändere auch die Begleit-E-Mail vom 25. Juni 2021 nichts, da der Entwurfscharakter des angehängten MS-Word-Dokuments nicht durch belastbare Anhaltspunkte beseitigt worden sei. Der Adressat müsse sich aber sicher sein können, dass ihm gegenüber ein Verwaltungsakt verkündet worden sei. Unklarheiten gingen zu Lasten der Behörde. Jedenfalls sei der Verwaltungsakt mit der Folge der Unwirksamkeit nichtig, weil er die erlassende Behörde nicht erkennen lasse. Der Absender einer E-Mail sei nicht gleichzusetzen mit dem Aussteller eines als Anhang übersandten Dokuments. Im Begleittext der E-Mail sei auch nur von „Beschluss“ die Rede, nicht von „meinem Beschluss“. Der Beschluss sei ferner materiell rechtswidrig, weil dem Auskunftsanspruch der Beschwerdeführerin der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenstehe.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><strong>1. den Beschluss (gemäß Anl. K2) aufzuheben;</strong></p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>2. hilfsweise festzustellen, dass dieser Beschluss (gemäß Anl. K2) nichtig ist.</strong></p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen.</strong></p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Sie macht geltend: Die Klage sei bereits unzulässig, weil die Klagefrist nicht eingehalten worden sei. Der streitgegenständliche Beschluss sei der Klägerin bekannt gegeben worden. Sowohl der Datenschutzbeauftragte als auch die Geschäftsführung der Klägerin hätten den Beschluss tatsächlich zur Kenntnis genommen. Durch ihr Verhalten nach Übersendung des Beschlusses bestätige die Klägerin, dass sie den Beschluss tatsächlich erhalten habe, ihn als verbindlich angesehen habe und dass sie ihm Folge leisten wolle. Der Bekanntgabewille der Beklagten liege auf der Hand. Der Beschluss sei willentlich in den Machtbereich der Klägerin gelangt. Der Beschluss sei zuvor bereits angekündigt worden. Allen Beteiligten sei klar gewesen, dass der Beschluss gegenüber der Klägerin Rechtsfolgen habe auslösen sollen. Der Beschluss sei ausdrücklich und ausschließlich unter der Signatur der Beklagten und unter ausdrücklicher Nennung der Klägerin als Adressatin übermittelt worden. Der Beschluss sei Bestandteil einer E-Mail gewesen, hinsichtlich des Absenders der E-Mail gebe es nach einer objektiven Betrachtung keine Zweideutigkeit. Der Absender einer E-Mail könne mit dem Aussteller eines als Anhang übersandten Dokuments gleichgesetzt werden, wenn aus den Gesamtumständen für den Empfänger ersichtlich sei, dass der Absender der E-Mail auch der Absender des in Rede stehenden angehängten Dokument sein solle. Es gebe nur eine einzige Behörde, die in Erscheinung getreten sei. Im Übrigen sei der von der Klägerin angefochtene Beschluss auch materiell rechtmäßig. Rechtsmissbrauch könne der Geltendmachung von Auskunftsrechten nach der Datenschutz-Grundverordnung nur in äußerst krassen und evidenten Fällen entgegen gehalten werden.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entschieden werden kann (§§ 101 Abs. 2, 87a Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), hat Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Sie ist mit ihrem Hauptantrag als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft, zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO kann durch Klage die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt werden. Zwar handelt es sich bei dem per E-Mail übersandten Beschluss nicht um einen materiellen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW). Die Beklagte hat jedoch gezielt den Rechtsschein des Vorliegens eines Verwaltungsaktes dadurch erweckt, dass das streitgegenständliche Schreiben einen Entscheidungssatz und eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Auslegung des mit „Beschluss“ überschriebenen Dokuments nach Maßgabe eines objektiven Empfängerhorizonts unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben ergibt, dass eine für die Klägerin als Adressatin verbindliche behördliche Regelung nicht vorliegt und das am 25. Juni 2021 übersandte Schreiben damit nicht als Verwaltungsakt im Sinne von § 35 Satz 1 VwVfG NRW zu qualifizieren ist.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein behördlicher Akt die materiellen Merkmale eines Verwaltungsakts aufweist, ist der objektive Erklärungswert der Maßnahme, d. h. wie der Adressat unter Berücksichtigung der äußeren Form, Abfassung, Begründung, Beifügung einer Rechtsmittelbelehrung und aller sonstigen ihm bekannten oder erkennbaren Umstände nach Treu und Glauben bei objektiver Auslegung analog §§ 157, 133 BGB die Erklärung oder das Verhalten der Behörde verstehen durfte bzw. musste. Zu würdigen ist der gesamte Inhalt der Erklärung einschließlich der Gesamtumstände. Zur Auslegung können auch der Erläuterungsteil eines Schreibens sowie dem Schreiben bzw. dem Verwaltungsakt beigefügte Unterlagen herangezogen werden. Maßgeblich kommt es dabei auf den Empfängerhorizont an.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH BW), Urteil vom 15. Oktober 2009 – 2 S 1457/09 -, juris Rn. 33; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer Verwaltungsverfahrensgesetz, § 35 Rn. 3a, 54, m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Wille der Behörde, einen Verwaltungsakt, also eine Maßnahme zu erlassen, welche die Kriterien des § 35 VwVfG erfüllt, reicht allein nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer Verwaltungsverfahrensgesetz, § 35 Rn. 3a.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Hiernach ist das mit E-Mail der Beklagten vom 25. Juni 2021 übermittelte Dokument nicht als materieller Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG NRW zu werten.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Zwar ist das streitgegenständliche Dokument mit „Beschluss“ überschrieben und enthält neben einem Tenor mit Begründung auch eine Rechtsbehelfsbelehrung. Das Schreiben konnte aus objektiver Empfängersicht gleichwohl nicht so verstanden werden, dass die Beklagte schon damit eine verbindliche, das Beschwerdeverfahren abschließende Anweisung erlassen wollte. Es erweckt bei objektiver Auslegung vielmehr den Eindruck eines Entwurfs, dem der eigentliche Verwaltungsakt noch nachfolgen würde.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das ergibt sich zunächst daraus, dass es sich bei dem übersandten Schreiben um ein elektronisch veränderbares Word-Dokument handelt und nicht um ein elektronisch geschütztes, unveränderbares Dokument. Die in eckige Klammern gesetzte Kopfzeile „[Mitteilung an die Beschwerdegegnerin]“ zeigt zudem, dass hier noch etwas auszufüllen gewesen wäre. Wenn ein elektronisches Dokument übermittelt wird, das ersichtlich noch bearbeitet werden soll und darüber hinaus auch (von beiden Seiten) verändert werden kann, spricht aus Empfängersicht bereits aufgrund dieser äußeren Form vieles dafür, dass es sich nicht um die gültige Endfassung handeln kann, sondern nur um eine vorläufige.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Bei belastenden Maßnahmen – wie hier – sind unter dem Gesichtspunkt der Formenklarheit aber strenge Anforderungen für das Vorliegen eines Verwaltungsakts aufzustellen. Es muss unmissverständlich erkennbar werden, dass das Verwaltungsverfahren durch die Erklärung (bestandskraftfähig) abgeschlossen werden soll.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage, § 35 Rn. 73.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das ist bei dem streitgegenständlichen Dokument nicht klar. Denn über die unübliche Formatierung hinaus weist das Schreiben auch sonst keines der für einen Verwaltungsakt typischen Formelemente auf. Es fehlen sowohl der Bearbeitername als auch die Signatur bzw. Unterschrift. Das Schreiben enthält außerdem weder den Behördenkopf, noch den Adressaten, noch ein Datum. Ebenso wenig findet sich darin ein behördliches Aktenzeichen. Dass es überhaupt aus der Sphäre der Beklagten oder der Landesmedienanstalt stammt, lässt sich allein der E-Mail der Beklagten entnehmen, mit der das Schreiben übersendet wurde. Für sich genommen ist das Dokument nicht als behördliches Schreiben zu erkennen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Auch bei einer Heranziehung des Begleitschreibens vom 25. Juni 2021 wird nicht deutlich, dass eine verbindliche Regelung getroffen werden sollte. Die dort verwendete Formulierung „anbei sende ich Ihnen, wie besprochen, den Beschluss über das oben genannte Auskunftsersuchen“ schließt die aus dem Entwurfscharakter des Schreibens resultierende Erwartung nicht aus, der „fertige“ Beschluss werde noch, wie üblich, per Post folgen. Eine Klarstellung des behördlichen Willens, hiermit einen Verwaltungsakt zu erlassen – etwa der Hinweis, dass das Beschwerdeverfahren mit dem übersandten Beschluss abgeschlossen sei – wurde im Begleitschreiben nicht vorgenommen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Unklarheiten hinsichtlich der von der Behörde gewählten Form gehen zu deren Lasten.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">VGH BW, Urteil vom 15. Oktober 2009 – 2 S 1457/09 -, juris Rn. 32; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer Verwaltungsverfahrensgesetz, § 35 Rn. 55, m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Bürger als Empfänger einer nach ihrem objektiven Erklärungsinhalt missverständlichen Willensäußerung der Verwaltung darf durch solche Unklarheiten nicht benachteiligt werden.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 12. Januar 1973 – VII C 3.71, juris Rn. 16.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin kann auch nicht entgegengehalten werden, sie habe das Dokument als verbindlichen Beschluss der Beklagten verstanden. Auf ihre subjektive Sicht kommt es bereits nicht an. Verwaltungsakte sind Willenserklärungen. Entscheidend für die Auslegung einer Willenserklärung ist der erklärte Wille der Behörde und der sich daraus ergebende objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen aus der Sicht eines objektiven Betrachters unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH BW, Urteil vom 15. Oktober 2009 – 2 S 1457/09 -, juris Rn. 33.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Nach Maßgabe eines objektiven Empfängerhorizonts ist das streitgegenständliche Dokument aber, wie oben ausgeführt, als unverbindlicher Entwurf zu werten. Abgesehen davon zeigt die vorliegende Klage, dass für die Klägerin gerade nicht unmissverständlich erkennbar war, dass das Aufsichtsverfahren durch das Schreiben bestandskraftfähig abgeschlossen werden sollte.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Schließlich kann in dem der E-Mail vom 25. Juni 2021 vorangegangenen Telefonat zwischen der Beklagten und dem Datenschutzbeauftragten der Klägerin auch kein (verbindlicher) mündlicher Verwaltungsakt gesehen werden. In dem Telefonat hatte die Beklagte den Beschluss angekündigt. Sprechen aber Anzeichen dafür, dass die Behörde einen Verwaltungsakt schriftlich erlassen wird, kann eine mündliche Äußerung eines Bediensteten nicht dahin ausgelegt werden, sie sei bereits die abschließende Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin kann gegen das streitgegenständliche Dokument im Wege der Anfechtungsklage vorgehen. Bedient sich die Behörde der Handlungsform des Verwaltungsakts und wählt die Rechtsbehelfsbelehrung entsprechend, darf der Adressat dies so hinnehmen und die Wahl seines Rechtsbehelfs danach ausrichten.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 15. November 2002 – 3 CS 02.2258 –, juris Rn. 30.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Anfechtungsklage ist auch zulässig, insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Maßnahmen, die aufgrund des von der Behörde gesetzten Anscheins vom Adressaten als Verwaltungsakt verstanden werden mussten, jedoch – wie hier - die übrigen Kriterien des § 35 Satz 1 VwVfG nicht erfüllen, sind aufgrund des von der Behörde zurechenbar gesetzten Rechtsscheins als (aufhebbare) Verwaltungsakte im nur formellen Sinne zu verstehen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 22. Aufl. 2021, § 35 Rn. 3b; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 35 Rn. 16.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob daraus folgt, dass auch bei solchen Verwaltungsakten die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung einzuhalten ist. Denn vorliegend ist jedenfalls keine wirksame Bekanntgabe des mit „Beschluss“ überschriebenen Dokuments erfolgt. Mangels wirksamer Bekanntgabe des „Beschlusses“ wurde die Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO nicht in Lauf gesetzt.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 VwVfG NRW ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekanntzugeben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Unter Bekanntgabe ist allgemein die Eröffnung des Verwaltungsakts gegenüber dem Betroffenen, d.h. die Tatsache des Ergehens und des Inhalts des Verwaltungsakts, mit Wissen und Wollen der Behörde, die den Verwaltungsakt erlässt, zu verstehen.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Tegethoff, in: Kopp/Ramsauer Verwaltungsverfahrensgesetz, § 41 Rn. 6.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage, § 41 Rn. 53 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Dabei setzt jede Form der Bekanntgabe voraus, dass ein sogenannter Bekanntgabewille der Behörde vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage, § 41 Rn. 53 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Am Bekanntgabewillen der Beklagten fehlt es. Das streitgegenständliche Schreiben mag mit Willen der Beklagten in die Sphäre der Klägerin gelangt sein. Die Übersendung des Schreibens per E-Mail konnte von der Klägerin jedoch nicht zweifelsfrei als Bekanntgabe einer verbindlichen Anweisung erkannt  werden. Denn die Vorgehensweise der Beklagten war, wie oben ausgeführt, missverständlich. Aufgrund der äußeren Form des Dokuments war unklar, ob die Beklagte der Klägerin nicht lediglich einen Entwurf zur Kenntnis gegeben hat und der eigentliche Verwaltungsakt nachfolgend per Post bekannt gegeben werden sollte.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Regelmäßig wird der Bekanntgabewille bei schriftlichen Verwaltungsakten aus der Unterschrift oder Namenswiedergabe oder aus sonstigen Umständen geschlossen.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage, § 41 Rn. 53.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Das übersandte Schriftstück enthält aber weder einen Briefkopf noch ein Datum, Namen oder Unterschrift. Das Begleitschreiben trägt zur Verdeutlichung nichts bei.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts von der zuständigen Behörde veranlasst werden muss.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Tegethoff, in: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 22. Aufl. 2021, § 41 Rn. 7.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Welche Behörde die Übersendung des „Beschlusses“ veranlasst hat, ist jedoch unklar. Sie erschließt sich aus dem Dokument selbst nicht, aber auch nicht aus der begleitenden E-Mail. In Betracht kommen entgegen der Auffassung der Beklagten zwei Behörden, nämlich sowohl die Beklagte als Aufsichtsbehörde, als auch die LfM NRW. Die E-Mail wurde zwar vom E-Mail-Postfach des damaligen Datenschutzbeauftragten Q.     übersandt. Unter der Bezeichnung „Datenschutzbeauftragter“ findet sich aber zusätzlich „Landesanstalt für Medien NRW“ nebst deren Adresse, Internetadresse und Twitter-Account. Zu Recht weist die Klägerin darauf hin, dass der E-Mail-Absender und der Aussteller eines als Anhang der E-Mail übersendeten Dokuments nicht identisch sein müssen, so dass die Beklagte auch einen Beschluss der LfM NRW übersenden konnte. Aus dem Text der E-Mail wird die erlassende Behörde nicht deutlich. Darin ist in neutraler Form nur von dem Beschluss die Rede, nicht von „meinem“ Beschluss. Ob der Beklagten bewusst war, dass sie selbst als Behörde einen aufsichtsrechtlichen Beschluss erlässt, ist zudem zweifelhaft. Die beratende Anwaltskanzlei hatte, obwohl das Dokument Ausführungen zur Zuständigkeit der Beklagten enthält, darauf verwiesen, dass der Beschluss „unter dem Briefkopf der LfM NRW“ zu versenden ist. Dass das streitgegenständliche Dokument (auch) nach dem Empfängerhorizont offenbar nicht als verbindlicher Beschluss der Beklagten zu verstehen war, zeigt das Schreiben der früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin an die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin vom 5. Juli 2021. Darin wird der „Beschluss der Landesanstalt für Medien NRW vom 25. Juni 2021“ genannt.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die durch die Form von E-Mail und übersandtem Dokument auf Seiten der Klägerin entstandene Unklarheit über die Bekanntgabe des „Beschlusses“ geht zu Lasten der Beklagten, die Vorsorge dafür treffen muss, dass eine von ihr gewollte Bekanntgabe per E-Mail vom Empfänger eindeutig als solche erkannt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 15. April 1997 – Bs II 177/96 -, juris Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene, mit E-Mail der Beklagten vom 25. Juni 2021 übermittelte „Beschluss“ ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Er erweckt den Rechtsschein, über das Auskunftsersuchen der Beschwerdeführerin abschließend in Form eines Verwaltungsakts, nämlich einer Anweisung gemäß Art. 58 Abs. 2 lit. c) DSGVO, zu entscheiden, zumal die Beklagte das mit „Beschluss“ überschriebene Dokument auch der Beschwerdeführerin zugeleitet hat. Bei dieser Sachlage gebietet nicht zuletzt das aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 Grundgesetz folgende Erfordernis der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes, den von dem streitgegenständlichen Dokument ausgehenden Rechtsschein zu beseitigen. Der Bürger als Empfänger einer nach ihrem objektiven Erklärungsinhalt missverständlichen Willensäußerung der Verwaltung darf durch etwaige Unklarheiten nicht benachteiligt werden.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 26. Juni 1987 - 8 C 21/86 -, BVerwGE 78, 3 ff., juris Rn. 9.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die Beseitigung des Rechtsscheins kann im Entscheidungssatz nur dadurch erreicht werden, dass der von der Beklagten so bezeichnete "Beschluss" aufgehoben wird.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. Dezember 2010 - 2 B 260/10 -, juris Rn. 17; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 12 K 5403/11 -, juris Rn. 31 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 S. 2 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen,</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">1.              wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">2.              wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">3.              wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">4.              wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">5.              wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst 3-fach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss:</strong></p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.</strong></p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 2 GKG erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst 3-fach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
346,578
olgstut-2022-09-07-4-w-7522
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4 W 75/22
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-15T10:01:33"
"2022-10-17T11:10:11"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p/><p>1. Die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts Ulm vom 08.08.2022, Az. 3 O 289/22, wird zurückgewiesen.</p><p>2. Die Beschwerdeführer tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p><p>3. Der Wert des Verfahrens wird in beiden Instanzen auf 24.360,00 EUR festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table> <table style="margin-left:12pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Beschwerdeführer begehren im Wege des einstweiligen Verfügungsverfahrens, dem Beschwerdegegner aufzugeben, unter Rücknahme der schulvertraglichen Kündigungserklärungen vom 22.03.2022 und 29.04.2022 den Töchtern der Beschwerdeführer, M... P... (geb. ...) und E... P... (geb. ...), den Schulbesuch an der F... W... F... in G...-F... mit Beginn des Schuljahres 2022/23 ab dem 12.09.2022 wieder zu gestatten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Diesem Antrag liegt nach dem im einstweiligen Verfügungsverfahren gehaltenen Vortrag der Beschwerdeführer folgender Sachverhalt zu Grunde:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Die Parteien haben am 08.10.2015 jeweils eine Schulvereinbarung (Anlage K 1 und K 2) über die Aufnahme der beiden Kinder der Beschwerdeführer an der F... W... F... in G...-F... geschlossen. Beide Töchter nehmen seitdem am Unterricht des Beschwerdegegners teil. Vor den Sommerferien befand sich die Tochter M... in der 9. Klasse, die Tochter E... in der 7. Klasse. Beide Kinder zeigen ansprechende schulische Leistungen und sind gut und ohne Probleme in die jeweiligen Klassenverbände integriert.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Im Zusammenhang mit der Umsetzung von Corona-Schutzmaßnahmen, insbesondere der Einführung einer Maskenpflicht, ist es zu Konflikten mit den Beschwerdeführern gekommen. Die Beschwerdeführerin richtete am 13.01.2022 eine E-Mail (Anlage K 9) an den Beschwerdegegner.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Am 22.03.2022 (Anlage K 3) und am 29.04.2022 (Anlage 5) kündigte der Beschwerdegegner die Schulverträge mit den Beschwerdeführern zum 31.07.2022. Nachdem ein Gespräch mit dem Schulleiter nicht zu Stande gekommen ist, beauftragten die Beschwerdeführer Ende Juli 2022 einen Prozessbevollmächtigten, der sich mit weiterem Anwaltsschreiben vom 15.07.2022 an den Beschwerdegegner wandte und um Stellungnahme bis 28.07.2022 bat. Mit Schriftsatz vom 04.08.2022, eingegangen beim LG Ulm, haben die Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt. Sie begründen dies im Wesentlichen damit, dass die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam seien. Der Kündigung vom 22.03.2022 fehle es an der notwendigen Begründung. Die weitere Kündigung vom 29.04.2022 sei unwirksam, da weder ein gesetzliches noch ein vertragliches Kündigungsrecht bestehe. Ziffer 5 der Schulvereinbarung verstoße insofern gegen §§ 307 ff. BGB. Beide Schülerinnen würden durch die Regelung unangemessen benachteiligt, weil durch die Kündigung wesentliche Rechte, die sich aus der Natur des Schulvertrages ergeben, derart eingeschränkt werden, dass die Erreichung des Vertragszwecks (dauerhafte Beschulung bis zum Abschluss der 12. Klasse) gefährdet sei. Hinzu komme eine unangemessene Benachteiligung beider Kinder entgegen dem Gebot von Treu und Glauben (§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB). Auch ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund bestehe nicht; zumal der Beklagte die Frist nach § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten habe. Insgesamt sei zu berücksichtigen, dass die Äußerungen der Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit nicht zum Anlass einer Kündigung des Schulvertrags genommen werden können. Hinzu komme, dass den betroffenen Kindern kein Fehlverhalten angelastet werden kann. Es erscheine unbillig, dass die Kinder unter Missachtung ihrer Rechte für das Verhalten der Beschwerdeführer einstehen müssen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Das Landgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 08.08.2022 zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Beschwerdeführer vom 12.08.2022, eingegangen beim OLG Stuttgart am gleichen Tag. Die Beschwerdeführer verfolgen damit ihren erstinstanzlich gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung weiter. Sie wiederholen und vertiefen ihren bisherigen Vortrag, wonach die gerügte Vertragsklausel wegen der Gefährdung des Vertragszwecks und der unangemessenen Benachteiligung der Beschwerdeführer und ihrer Kinder führe. Das Verhalten des Beschwerdegegners sei zudem rechtsmissbräuchlich, da die Kinder die gegenständliche E-Mail nicht verfasst haben und die darin enthaltenen Aussage, keine individuelle Diskreditierung darstelle. Ein kritischer Diskurs müsse nach den Vorgaben des Grundgesetzes möglich sein. Das Landgericht hat dem Beschwerdegericht am 30.08.2022 die Verfahrensakten zur Entscheidung in der Sache vorgelegt.</td></tr></table> <table style="margin-left:12pt"><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>1.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Das Beschwerdegericht kann im vorliegenden Einzelfall ohne Durchführung des Abhilfeverfahrens in der Sache entscheiden. Angesichts des nahenden Schulbeginns am 12.09.2022 und den nachvollziehbar geschilderten schweren Nachteilen für die Töchter der Beschwerdeführer bei einer späteren Entscheidung handelt es sich um einen Eilfall, bei dem im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes und zur Vermeidung einer Verzögerung eine Entscheidung des Beschwerdegerichts ohne vorherige Durchführung eines Abhilfeverfahrens entschieden werden kann (vgl. OLG Koblenz ZfWG 2009, 25; VGH BW NVwZ-RR 1991, 166 zu § 148 VwGO; OLG Naumburg BeckRS 2014, 19295). Überdies ist die Durchführung des Abhilfeverfahrens, das allein der Entlastung des Beschwerdegerichts dient, nach gefestigter höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung nicht Verfahrensvoraussetzung des Beschwerdeverfahrens (BGH NJW-RR 2017, 707; OLG Frankfurt a. M. JurBüro 2008, 422; OLG Karlsruhe BeckRS 2006, 8296; OLG Celle, BeckRS 2021, 10606), so dass das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall, in dem sich die angegriffene Entscheidung als rechtmäßig darstellt (vgl. im Einzelnen Ziffer 2.) und deshalb auch im Abhilfeverfahren keine andere Entscheidung hätte ergehen können (OLG Frankfurt a. M. BeckRS 2002, 30261495; OLG Dresden BeckRS 2020, 28365), sogleich zur eigenen Sachentscheidung befugt.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>2.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Das Landgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu Recht und mit überzeugender Begründung zurückgewiesen. Für den Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung fehlt es sowohl an einem Verfügungsgrund (a.) als auch an einem Verfügungsanspruch (b.) der Beschwerdeführer.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>a.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Aus Sicht des Beschwerdegerichts fehlt es bereits an einem Verfügungsgrund.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Eine einstweilige Verfügung setzt voraus, dass die objektiv begründete Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des status quo die Rechtsverwirklichung des Antragstellers in einem möglichen Hauptsacheverfahren vereitelt oder erschwert werden könnte, sie ist nur dann zu erlassen, wenn sie zur Abwendung einer Gefährdung des Gläubigerinteresses zur vorläufigen Sicherung im Eilverfahren dringlich geboten und notwendig ist. Als besondere Form des Rechtschutzinteresses und damit als Prozessvoraussetzung ist das Vorliegen eines Verfügungsgrundes von Amts wegen zu prüfen, wobei es dem Antragsteller obliegt, das Vorliegen des Verfügungsgrundes mit den Beweismitteln des § 294 ZPO hinreichend glaubhaft zu machen (vgl. etwa OLG Brandenburg Beschl. v. 16.7.2020 – 6 W 66/20, GRUR-RS 2020, 17750 Rn. 6).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Es fehlt an der Eilbedürftigkeit der beantragten einstweiligen Verfügung, weil die Beschwerdeführer die Annahme der Dringlichkeit durch ihr vorprozessuales Verhalten selbst widerlegt haben. Es entspricht einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass ein Verfügungsgrund dann nicht besteht, wenn ein Antragsteller trotz ursprünglich bestehenden Sicherungsbedürfnisses zu lange zugewartet hat, bevor er die einstweilige Verfügung beantragt, weil der Antragsteller durch seine Untätigkeit manifestiert, dass er die Angelegenheit nicht für eilbedürftig hält (vgl. etwa zur ständigen Rechtsprechung des Senats OLG Stuttgart NJW-RR 2016, 932).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Dass die Beschwerdeführer und ihr Prozessbevollmächtigten zwischenzeitlich versucht haben, ein „klärendes Gespräch“ mit dem Schulleiter der Beklagten zu führen, steht dem nicht entgegen. Zwar kann die Frist, aufgrund derer von einer dringlichkeitsschädigenden Selbstwiderlegung auszugehen ist, durch Verhandlungen der Parteien verlängert werden, wenn die begründete Hoffnung besteht, dass dadurch der drohenden oder behaupteten Rechtsverletzung abgeholfen wird und wenn die Verhandlungen in der gebotenen Eile geführt werden (OLG Schleswig, Beschluss vom 07.10.2014 - 5 W 37/14; OLG Nürnberg, Beschluss vom 13.11.2018 - 3 W 2064/18). Diesen Anforderungen genügt das Verhalten der Beschwerdeführer bis zur Einschaltung des Prozessbevollmächtigten jedoch nicht. Der Beschwerdegegner hat das Vertragsverhältnis vorliegend zweimal gekündigt, zuletzt mit Schreiben vom 29.04.2022. Ein klärendes Gespräch sei mit dem Schulleiter nicht zustande gekommen. Gleichwohl wurde erst Ende Juli 2022 ein Prozessbevollmächtigter mit der Durchsetzung der eigenen Rechtsposition beauftragt. Es erschließt sich aus dem Vortrag der Beschwerdeführer nicht, aus welchen Gründen fast drei Monate bis zur Einschaltung eines Rechtsanwalts zugewartet worden ist; zumal sich aus dem außergerichtlichen Schriftverkehr eine Verhandlungsbereitschaft des Beschwerdegegners zu keinem Zeitpunkt ergibt. Angesichts dessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass bis Ende Juli 2022 die begründete Hoffnung bestanden hat, dass der Beschwerdegegner der behaupteten Rechtsverletzung abhelfen wird. Die konsequent ablehnende Haltung des Beschwerdegegners folgt auch daraus, dass er das Rechtsverhältnis nach Einwendungen der Beschwerdeführer vorsorglich erneut gekündigt hatte und damit deutlich machte, dass er in jedem Fall an seinem Ziel der Beendigung der Schulvereinbarung mit den Beschwerdeführer festhalten wird. Folglich haben die Beschwerdeführer durch ihr monatelanges Zuwarten bis zum Schuljahresende deutlich gemacht, dass es ihnen mit der Verfolgung ihres Begehrens nicht eilig ist. Denn spätestens im Rahmen eines Zeitraums von ca. zwei Wochen nach dem erneuten Ausspruch der Kündigung ohne Reaktion des Beschwerdegegners auf das Gesprächsangebot stand fest, dass nicht mehr mit einem Entgegenkommen des Beschwerdegegners zu rechnen ist und kein Anlass mehr bestand, weiteren außergerichtlichen Bemühungen Erfolgsaussichten beizumessen. Dem Antrag der Beschwerdeführer fehlt es vor diesem Hintergrund nach ihrem Vortrag bereits an einem Verfügungsgrund.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>2.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Den Beschwerdeführern steht auch kein Verfügungsanspruch zu.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Das Vertragsverhältnis mit der Beschwerdegegnerin ist wirksam durch ordentliche Kündigung zum 31.07.2022 beendet worden. Aus Sicht des Beschwerdegerichts bestehen keine Bedenken an der Wirksamkeit der (Kündigungs-) Regelung in Ziffer 5 der Schulvereinbarung zwischen den Parteien (a.). Das Beschwerdegericht ist weiter davon überzeugt, dass die Voraussetzungen einer wirksamen Kündigung vorliegend erfüllt sind. Dem stehen insbesondere nicht die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführer noch die betroffenen grundgesetzlich geschützten Rechte der Kinder der Beschwerdeführer entgegen (b.).</td></tr></table> <table><tr><td><strong>a.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Nach Auffassung der Beschwerdeführer und des Landgerichts handelt es sich bei der Regelung um eine allgemeine Geschäftsbedingung, die wirksam gem. § 305 Abs. 1 BGB in die beiden Schulvereinbarungen einbezogen worden ist. Hieran zweifelt auch das Beschwerdegericht nicht; zumal die Klausel – auch nach dem äußeren Erscheinungsbild – nicht ungewöhnlich und so überraschend ist, dass mit ihr nicht hätte gerechnet zu werden braucht.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Im Anschluss an das Landgericht geht auch das Beschwerdegericht davon aus, dass die einschlägige Regelung in Ziffer 5 der Schulvereinbarung, wonach nach Ablauf der Probezeit „<em>das Schulverhältnis zum Schuljahresende am 31.07. oder zum 31.01. Mit einer Frist von drei Monaten gekündigt“</em> und als Kündigungsgrund insbesondere ein unzureichendes Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien angesehen werden kann (vgl. Anlage K 1, Ziffer 5), einer Inhaltskontrolle nach Maßgabe der §§ 307 f. BGB standhält.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>aa.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Ziffer 5 der Schulvereinbarung stellt keine unangemessene Benachteiligung iSd. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB dar. Die Regelung ist weder mit dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung iSd. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unvereinbar (1.), noch enthält diese eine Einschränkung iSd. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB, die den Vertragszweck gefährdet (2.) oder die Beschwerdeführer und die mittelbar betroffenen Dritten entgegen dem Gebot nach Treu und Glauben iSd. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB benachteiligt (3.).</td></tr></table> <table><tr><td><strong>(1.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Der Bundesgerichtshof hat sich bereits im Jahr 2008 (BGH, Urteil vom 17.01.2008, Az. III ZR 74/07) mit der Inhaltskontrolle einer weitgehend identischen Klausel in einer Schulvereinbarung befasst und deren Wirksamkeit bestätigt. Dabei lag der vorgenannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs folgende Klausel zu Grunde:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/><em>„Das Vertragsverhältnis kann von jeder Vertragspartei nur schriftlich zum 31. Januar oder zum 31. Juli unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von 2 Monaten gekündigt werden.“</em></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Im Vergleich zur hiesigen Klausel bestätigte der Bundesgerichtshof damit eine Klausel zum ordentlichen Kündigungsrecht, die binnen einer kürzeren Frist von zwei Monaten und ohne Nennung eines Kündigungsgrundes erklärt werden konnte.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>(2.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die gerügte Klausel ist am Anschluss an die o.g. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach Überzeugung des Beschwerdegerichts mit dem wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB vereinbar. Zwar entspricht vorliegend mangels Anwendbarkeit der §§ 621, 627 BGB nur die Möglichkeit einer Kündigung aus wichtigem Grund iSd. § 626 BGB den Regelungen des Dienstvertragsrechts. Jedoch geht das Gesetz selbst davon aus, dass sich bei langfristigen Dienstverträgen der Dienstverpflichtete nach Ablauf von fünf Jahren nach § 624 BGB vom Vertrag lösen kann, auch wenn die Voraussetzungen des § 626 BGB nicht vorliegen. Auch darf bei der Bewertung der für selbstständige Dienstverhältnisse jeglicher Art geltenden Normen der §§ 611 ff., 620 ff. BGB die besondere Natur des Schulvertrags nicht unberücksichtigt bleiben, wonach gerade das Ende eines Schulhalbjahres, das mit der Vergabe eines Zeugnisses einhergeht, eine deutliche Zäsur darstellt (BGH NJW 2008, 1064). Soweit die Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift auf eine Entscheidung des OLG Dresden vom 29.03.2000, Az. 8 U 477/00, Bezug nehmen, übersehen sie, dass der Bundesgerichtshof der abweichenden - und aus Sicht des Beschwerdegerichts nicht überzeugenden - Auffassung im zitierten Urteil ausdrücklich nicht gefolgt ist (vgl. BGH NJW 2008, 1064).</td></tr></table> <table><tr><td><strong>(3.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Zuerkennung des Rechts zur ordentlichen Kündigung des Schulvertrags durch den Schulträger zum Ende eines Schul(halb-)jahres stellt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer auch keinen Verstoß gegen das Verbot der den Vertragszweck gefährdenden Einschränkung wesentlicher Rechte und Pflichten i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB dar. Soweit die Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang entscheidend darauf abstellen, dass § 90 Abs. 6 SchulG BW einen Ausschluss nur bei einem Fehlverhalten der Schüler und nicht der Eltern der Schüler vorsieht, lassen die Beschwerdeführer außer Acht, dass diese Regelung nach § 2 Abs. 2 SchulG BW für Schulen in freier Trägerschaft nicht gilt. Auch der Rechtsgedanke dieser Ausschlussregelung führt nicht dazu, dass ein Kündigungsrecht, das nicht ausschließlich an das Verhalten der Schüler anknüpft, i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam ist. Der Bundesgerichtshof hat hierzu überzeugend ausgeführt, dass diese von den Beschwerdeführern bemühte Diskussion außer Acht lässt, dass Bestandteil des grundrechtlich geschützten Rechts zur Einrichtung von privaten Schulen nach Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG das Recht zur freien Schülerwahl ist (vgl. BVerfGE 112, 74 [83] = NVwZ 2005, 923) und die Gewährleistung dieses Grundrechts letztlich auch bedeutet, dass sich ein privater Schulträger von Schülern wieder trennen können muss, und zwar nicht nur zu den erschwerten Bedingungen, die für die staatlichen Schulen gelten (BGH NJW 2008, 1064).</td></tr></table> <table><tr><td><strong>(4.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Schließlich benachteiligt Ziffer 5 der Schulvereinbarung die Beschwerdeführer und die mittelbar betroffen Dritten nicht entgegen Treu und Glauben unangemessen i.S.d. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Eine formularmäßige Vertragsbestimmung ist unangemessen, wenn der Verwender durch eine einseitige Vertragsgestaltung missbräuchlich eigene Interessen auf Kosten seines Vertragspartners durchzusetzen versucht, ohne von vornherein auch dessen Belange hinreichend zu berücksichtigen und ihm einen angemessenen Ausgleich zuzugestehen. Die Anwendung dieses Maßstabs setzt eine Ermittlung und Abwägung der wechselseitigen Interessen voraus. Die Unangemessenheit ist zu verneinen, wenn die Benachteiligung des Vertragspartners durch höherrangige oder zumindest gleichwertige Interessen des Verwenders gerechtfertigt ist (BGH, NJW 2005, 1774 [1775]).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Nach diesem Maßstab stellt die Kündigungsmöglichkeit des Privatschulvertrags zum Ende eines Halbjahres mit einer Frist von drei Monaten unter Angaben von Gründen für die Beschwerdeführer keine missbräuchliche Durchsetzung der eigenen Belange auf Kosten ihrer Vertragspartner dar. Zumindest gleichwertige Interessen des Beschwerdegegners rechtfertigen die Abweichung von der gesetzlichen Regelung (ebenso BGH NJW 2008, 1064, für die o.g. Klausel, die eine Kündigung ohne Begründung vorsieht).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Den Beschwerdeführern ist zuzugestehen, dass das Interesse, den Schulvertrag bis zum Erreichen des Ausbildungsziels durch ihre Töchter fortzusetzen, schwer wiegt. Ein Schulwechsel stellt für einen jungen Menschen regelmäßig eine erhebliche Beeinträchtigung dar. Sie verlieren ihr persönliches Umfeld und gegebenenfalls ihre Freunde. Sie müssen sich bei einem solchen Wechsel auf neue Lehrer und nicht selten auch auf neue Lehrmethoden und einen anderen Stand des bereits unterrichteten Lernstoffes einstellen. Dies wiegt um so schwerer, wenn die betroffenen Schüler seit Jahren die Schule besuchen, voll in die Schulgemeinschaft integriert sind und gute schulische Leistungen zeigen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Demgegenüber sind zu Gunsten des Beschwerdegegners jedoch gleichermaßen gewichtige Interessen einer jeden Privatschule an der effektiven Verwirklichung ihrer Bildungsziele anzuerkennen. Kennzeichnend für eine Privatschule ist ein Unterricht eigener Prägung, insbesondere im Hinblick auf die Erziehungsziele, die weltanschauliche Basis, die Lehrmethode und die Lehrinhalte (vgl. BVerfGE 27, 195 [200f.] = NJW 1970, 507). Diese eigenverantwortliche Prägung und Ausgestaltung des Unterrichts bedingt die Freiheit des Schulträgers, für seine Schule die Schüler so auszuwählen, dass ein seinen Vorstellungen entsprechender Unterricht durchgeführt werden kann (BVerfGE 112, 74 [83] = NVwZ 2005, 923). Es versteht sich, dass eine allein auf den Zeitpunkt der Aufnahme des Schülers in die Schule beschränkte „Auswahlfreiheit” des Schulträgers dem grundrechtlich geschützten Anliegen des Schulträgers auf Verwirklichung seines Erziehungs- und Bildungskonzepts nicht genügen könnte. Beruht dieses Konzept etwa wie hier gerichtsbekannt auf einer intensiven individuellen Betreuung und Förderung der Schüler, so liegt es auf der Hand, dass auf Seiten der Schüler <span style="text-decoration:underline">und</span> auch deren Eltern die Bereitschaft zur Einordnung und Mitarbeit unerlässliche Voraussetzung ist. Fehlt oder entfällt diese Voraussetzung, was sich bei Abschluss des Schulvertrags nur selten zuverlässig feststellen oder prognostizieren lässt, besteht ein billigenswertes Interesse der Schule, sich vom Vertrag lösen zu können.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH NJW 1985, 2585 [2586]) ist weiter zu berücksichtigen, dass bei Fehlen einer (wirksamen) Kündigungsklausel dem Vertragspartner des Schulträgers gem. §§ 242, 157 BGB ein ordentliches Kündigungsrecht (jedenfalls) zum Ende des ersten Schulhalbjahres und zu jedem Schuljahresende zuzugestehen ist. Vor dem Hintergrund, dass das Dienstvertragsrecht sowohl dem Dienstberechtigten als auch dem Dienstverpflichteten im Allgemeinen dieselben Kündigungsmöglichkeiten einräumt, ist es nicht zu missbilligen, wenn sich ein Schulträger formularmäßig dieselben Möglichkeiten einer ordentlichen Kündigung vorbehält, die er seinem Vertragspartner einzuräumen gehalten ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Hinzu kommt, dass ein ordentliches Kündigungsrecht des Schulträgers - je nach Fallgestaltung - auch und gerade den Interessen der vom Verhalten mittelbar beeinträchtigten anderen Mitschüler und ihrer Eltern dienlich sein kann.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Angesichts dessen ist im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von der Wirksamkeit der streitgegenständlichen Regelung auszugehen. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass die gegenständliche Klausel - abweichend zu der vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fallgestaltung - sogar eine Begründung verlangt und als möglichen Kündigungsgrund ein unzureichendes Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien ansieht. Soweit die Beschwerdeführer rügen, dass insofern an ein Verhalten der Eltern angeknüpft werde, lassen diese außer Acht, dass Vertragspartner die sorgeberechtigten Eltern sind und der Schulerfolg maßgeblich auch von einer gedeihlichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen dem Schulträger und den sorgeberechtigten Eltern abhängt. In diesem Sinne hat auch der Bundesgerichtshof in der zitierten Entscheidung nicht auf ein Fehlverhalten des Schülers, sondern auf die unverhältnismäßige Reaktion der Eltern des Schülers auf eine gegen diesen ausgesprochene Disziplinierungsmaßnahme abgestellt, die letztlich zu einer die Kündigung auslösenden Beschädigung des Vertrauensverhältnisses geführt hat (BGH NJW 2008, 1064 Rn. 27 f.). Damit hat der Bundesgerichtshof sogleich die Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Parteien als möglichen Kündigungsgrund nach Maßgabe der § 307 f. BGB anerkannt (vgl. ebenso jüngst ausdrücklich OLG Schleswig, Beschluss vom 24.08.2009, Az. 3 U 86/09). Hinzu kommt, dass die Gefahr der willkürlichen Kündigung aufgrund einer vorgeschobenen Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses, insbesondere aufgrund der einhergehenden finanziellen Nachteile für den Beschwerdegegner, gering sein dürfte und eine derartige Kündigung mit Rücksicht auf die Nachteile, die die Beendigung des Schulverhältnisses für den weiteren Lebensweg eines Schülers mit sich bringen kann, als rechtsmissbräuchlich nach § 242 BGB einzustufen und damit unwirksam wäre (vgl. BGH NJW 2008, 1064 Rn. 25).</td></tr></table> <table><tr><td><strong>b.)</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>In diesem Sinne ist die konkrete Entscheidung des Beschwerdegegners, die beiden Schulverträge zu kündigen, keinesfalls als rechtsmissbräuchlich nach § 242 BGB einzustufen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Nach der E-Mail-Nachricht der Beschwerdeführerin vom 13.01.2022 (Anlage K 9) ist das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien derart nachhaltig gestört, dass dem Beschwerdegegner eine Fortsetzung des Vertragsverhältnisses auch unter Berücksichtigung der auf Seiten der Beschwerdeführer stehenden gewichtigen Interessen nicht zuzumuten ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Die E-Mail-Nachricht der Beschwerdeführerin, die an mehrere, bei dem Beschwerdegegner beschäftigten Lehrkräfte sowie an die Geschäftsleitung gerichtet war, steht im Zusammenhang mit den nach der Verordnung des Landes Baden-Württemberg geltenden Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und insbesondere der Geltung einer Maskenpflicht im Schulbetrieb. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer beschränken sich die Ausführungen nicht auf einen kritischen Diskurs der staatlichen Corona-Maßnahmen. Nach dem (insofern maßgeblichen) objektiven Sinngehalt enthalten die Äußerungen vielmehr haltlose Drohungen, Unterstellungen und Vorwürfe an die bei der Beschwerdegegnerin beschäftigten Lehrkräfte und die Geschäftsleitung. So werfen die Beschwerdeführer der Beklagten vor, dass ihre Mitarbeiter, die „alle menschenverachtenden Maßnahmen und Verordnungen durchsetzen“, „Verbrechen gegen die Menschheit begehen“ (Anlage K 9 S. 1 unten). Zugleich wird diesen im Zusammenhang angedroht, dass sie seitens der Beschwerdeführer einem „Zentrum zur Aufarbeitung, Aufklärung, juristischen Verfolgung und Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgrund der Corona-Maßnahmen“ gemeldet werden (Anlage K 9 S. 1 unten). Weiter kündigen die Beschwerdeführer an, dass alles in ihrer Macht stehende unternommen werde, um die „Verantwortlichen vor das Deutsche und Internationale Gericht“ zu bringen (Anlage K 9 S. 1 unten). Schließlich behaupten die Beschwerdeführer, dass „die Kindeswohlgefährdung ([richtig: Kindeswohlschutz] wie auch die Sorgfalts- und Obhutspflicht nach der aktuellen Lage [bei dem Beschwerdegegner] nicht mehr gegeben sei“ (Anlage K 9 S. 2 mittig). Schließlich teilen die Beschwerdeführer mit, dass sie den konkreten Verdacht hegen, dass es einzelnen Lehrkräften Freude bereitet „Kinder zu erniedrigen und zu belehren“ (Anlage K 9 S. 2 mittig).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Mit diesen Äußerungen hat die Beschwerdeführerin auf die angeordneten, nach der Verordnungslage gesetzlich vorgegebenen Schutzmaßnahmen gänzlich unverhältnismäßig reagiert. Die gegenständliche E-Mail ist in Ton und Inhalt unangemessen, insbesondere, weil sie verschiedenste Drohungen enthält (Gerichtsverfahren, Meldung an ein Zentrum) und kompromisslos und plakativ formuliert ist, ohne die pandemiebedingte Konfliktsituation anzuerkennen, in der sich der Beschwerdegegner befunden hat. Die Angriffe gegen die Mitarbeiter des Beschwerdegegners sind auch derart maßlos, dass eine Wiederherstellung des Vertrauensverhältnisses in einem klärenden Gespräch nicht aussichtsreich erschien und daher dem Beschwerdegegner nicht zuzumuten war. Die Beschwerdeführer übersehen, dass es sich vorliegend nicht um die Ausräumung immer wieder auftretender Differenzen oder unterschiedliche Auffassung im Schulalltag handelt. Die Beschwerdeführer stellen mit ihren maßlosen Angriffen vielmehr die Grundlage, auf dem ein jedes Vertrauensverhältnis beruht, grundsätzlich und endgültig in Frage.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Nicht gegenteiliges folgt daraus, dass sich die Beschwerdeführer bei ihren Äußerungen auf das grundgesetzlich geschützte Recht auf Meinungsfreiheit berufen können. Den Beschwerdeführern steht es (weiterhin) frei, ihre Meinung zu äußern und zu vertreten. Dieses Recht schützt die Beschwerdeführer, die als sorgeberechtigte Eltern die Interessen ihrer Kinder wahrnehmen, aber nicht davor, dass sie zivilrechtliche Nachteile dadurch erlangen, dass sie mit ihrem konkreten Verhalten gegen wirksame Vereinbarungen verstoßen (vgl. instruktiv zur Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung BGH NJW 2021, 3179 Rn. 55 ff.). Im Rahmen der Abwägung haben insofern angesichts der Schärfe der Angriffe, die jeden Rahmen einer sachgemäßen Auseinandersetzung verlassen und das Vertrauensverhältnis zum Beschwerdegegner nachhaltig beschädigt haben, die Interessen der Beschwerdeführer, dass sie ihre Meinung ohne Nachteile äußern können und dass ihre Töchter - trotz der nachhaltig geschädigten Vertrauensgrundlage zwischen den Parteien - bis zum Schulabschluss die gewählte Schule besuchen dürfen, zurückzutreten. Entscheidend ist dabei zu berücksichtigen, dass die Kündigung nicht erfolgte, um einen kritischen Diskurs zu unterbinden, sondern aufgrund des in Art und Maß völlig haltlosen und unangemessenen Verhaltens der Beschwerdeführerin gegenüber den Mitarbeitern des Beschwerdegegners, die verschwörungstheoretische Anleihen nimmt und sich - wie dargelegt - auf konkrete Drohung und Unterstellungen erstreckte. Soweit der Prozessvertreter der Beschwerdeführer darauf hinweist, dass zwischenzeitlich sämtliche Corona-Schutzmaßnahmen zurückgenommen worden seien und eine Wiederholung des Verhaltens der Beschwerdeführer nicht zu erwarten sei, greift diese Argumentation zu kurz. Zum einen ist berücksichtigen, dass das Vertrauensverhältnis derart beschädigt erscheint, dass für den Beschwerdegegner keine Gewähr dafür besteht, dass bei künftigen Konfliktlagen, die auf krisenhaften Entwicklungen beruhen, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich sein kann. Hinzu kommt, dass es keinesfalls ausgeschlossen ist, dass es gerade im anstehenden Herbst und Winter 2022/2023 wieder zur Einführung von Corona-Schutzmaßnahmen an Schulen kommen muss. Es ist aus Sicht des Beschwerdegerichts überdies bezeichnend, dass die Beschwerdeführer bis heute die (in der Beschwerdeschrift angekündigte) Entschuldigung gegenüber dem Beschwerdegegner nicht ausgesprochen haben.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Vor diesem Hintergrund war es dem Beschwerdegegner nicht zuzumuten, an der Fortsetzung der Schulvereinbarung trotz der nachhaltigen Beschädigung des Vertrauensverhältnisses durch die Beschwerdeführer festzuhalten. Die bedauerlichen Nachteile, die die Töchter der Beschwerdeführer aufgrund des Verhaltens ihrer sorgeberechtigten Eltern erleiden, treten aufgrund der zentralen Bedeutung des Vertrauensverhältnisses beim Betrieb einer (Privat-) Schule zurück. Die Kündigung ist daher in keiner Weise grundlos oder willkürlich erfolgt, sondern hält sich ohne Weiteres in den durch Ziffer 5 der Schulvereinbarungen in nicht zu beanstandender Weise gezogenen Grenzen.</td></tr></table> <table style="margin-left:12pt"><tr><td><strong>III.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Das Beschwerdegericht setzt den Streitwert gem. § 68 Abs. 3 GKG abweichend auf 24.360,00 EUR fest. Die Festsetzung beruht auf § 53 Abs. 1 Nr. 1 GKG, §§ 3, 9 ZPO. Aufgrund des nachvollziehbar geschilderten hohen Interesses der Beschwerdeführer an der Sicherung des Anspruchs und der Besonderheit, dass sich das Interesse im einstweiligen Verfügungsverfahren mit Beginn des Schuljahres weitgehend dem Befriedigungsinteresse in der Hauptsache deckt, greift das Beschwerdegericht auf die ungekürzten Prozessstreitwerte, namentlich dem dreieinhalbfachen Jahresbetrages der Elternbeiträge (2 x 290 EUR x 12 x 3,5), zurück.</td></tr></table> </td></tr></table>
346,544
ovgnrw-2022-09-07-7-a-136921
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
7 A 1369/21
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:27"
"2022-10-17T11:10:06"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0907.7A1369.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der angefochtene Bauvorbescheid vom 11.5.1994 und der Verlängerungsbescheid vom 11.3.2019 verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Vorbescheid genüge dem Bestimmtheitsgebot gemäß § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung. Er gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, wodurch das Grundstück des Klägers in keiner Weise tangiert werde. Der Vorbescheid verletze den Kläger auch nicht in seinen sich aus dem materiellen Bauplanungsrecht ergebenden subjektiven Rechten. Insbesondere begründe die Befürchtung des Klägers, auf dem neben seinem Grundstück verlaufenden Flurstück 856 könne sich ein öffentlicher Weg entwickeln, der die L.------straße mit der G.              Straße verbinde, keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das dagegen gerichtete Zulassungsvorbringen führt nicht zur Zulassung der Berufung.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1.              Die Zulassungsbegründung legt keine ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dar.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dabei kann offen bleiben, ob die Erklärung des Beigeladenen vom 18.7.2022, seinerseits brauche an dem Bauvorbescheid vom 11.5.1994 nicht mehr festgehalten werden, auch nach Veräußerung des streitgegenständlichen Grundstücks zur Erledigung des darauf bezogenen Bauvorbescheids und damit Unzulässigkeit der Klage führt, so dass sich die angegriffene Entscheidung schon deshalb als im Ergebnis richtig erweist.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls zeigt der Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Annahme des Verwaltungsgerichts auf, die Klage sei unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">a)              Dies gilt zunächst, soweit das Verwaltungsgericht angenommen hat, der angefochtene Bauvorbescheid verletze nicht das Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe sich nicht mit dem Verwaltungsvorgang und den Regelungen des angegriffenen Vorbescheids auseinandergesetzt. Zu dem Bauvorbescheid gehöre als Anlage ein Schreiben der Katholischen Kirchengemeinde St. N.     L1.       , der ursprünglichen Eigentümerin der Vorhabengrundstücke. Darin heiße es, die Erschließung erfolge von der L 136 aus mit einer 3,0 Meter breiten Zuwegung über das pfarreigene Grundstück Parzelle Nr. 397 und werde mit einer entsprechenden Baulast gesichert. Darüber hinaus heiße es, die Verbindung zur L.------straße sei fußläufig, da der Weg nur 2,0 Meter breit sei. Damit verhalte sich der Vorbescheid ausdrücklich auch zu einer Erschließung über die L.------straße ; dies sei auch auf der zeichnerischen Anlage zum Bauvorbescheid hervorgehoben. Zudem fehle eine Auseinandersetzung mit der Nebenbestimmung S 3 des Vorbescheids, die von einer öffentlich-rechtlichen Sicherung der Erschließung durch Baulast spreche. Es könne nicht beurteilt werden, ob von einer gesicherten Erschließung ausgegangen werden könne. Scheitere die Zuwegung über die L 136, werde eine gleichwohl erteilte Baugenehmigung ihm die Duldung eines Notwegerechts aufzwingen können. Es sei jedenfalls nicht richtig, wenn das Verwaltungsgericht meine, der Bauvorbescheid gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, denn eine entsprechende ausdrückliche Regelung dazu enthalte der Bescheid nicht; jedenfalls gebe es keine widerspruchsfreie oder stringente Regelung. Es sei daher durchaus möglich und tatsächlich nicht unwahrscheinlich, dass eine Erschließung über die L.------straße erfolge. Die Verbindung zwischen dem Vorhabengrundstück und der L.------straße erfolge über das Flurstück 856, bei dem es sich um eine Art Stichweg handele. Zugunsten des Baugrundstückes bestehe diesbezüglich ein durch Grunddienstbarkeit gesichertes Wegerecht. Er befürchte, dass dieses Wegerecht über § 917 BGB verbreitert und aufgeweitet werde und sich die gesamte Zuwegung als Erschließung über sein Grundstück erstrecken könne. Im Übrigen liege eine Gestattung der Trägerin der Straßenbaulast der G.              Straße nicht vor. Anders als vom Verwaltungsgericht angenommen, liege kein „anderes Vorhaben“ vor, wenn die Erschließung nicht über die G.              Straße erfolge; dies ergebe sich aus der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2009 - 7 A 2548/08 -.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Diese Rügen bleiben ohne Erfolg. Dem Bauvorbescheid vom 11.5.1994/11.3.2019 mit seinen Anlagen lässt sich mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen, dass die Erschließung allein über die G.              Straße gestattet ist und das zur L.------straße hin gelegene Grundstück des Klägers in keiner Weise tangiert wird.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid vom 11.5.1994 verweist in Nebenbestimmung S 308 ausdrücklich auf die als Anlage beigefügten Planunterlagen und macht damit auch das zu diesen Anlagen gehörende Schreiben der Katholischen Kirchengemeinde St. N.     L1.       vom 2.12.1993 zum Bestandteil der positiven planungsrechtlichen Beurteilung. Danach erfolgt die Erschließung des Vorhabengrundstücks „von der L 136 aus mit einer 3,0 m breiten Zuwegung über das pfarreigene Grundstück Parz. Nr. 397 - im Lageplan braun dargestellt -.“ In Verbindung mit dem ebenfalls zu den Anlagen gehörenden Lageplan, der diese Zuwegung bildlich darstellt, gestattet der Bauvorbescheid allein die Erschließung über die G.              Straße. Nichts anderes ergibt sich aus dem Hinweis des Schreibens der Kirchengemeinde auf eine fußläufige Verbindung zur L.------straße . Schon aus der Wortwahl („Verbindung“) ergibt sich, dass damit nicht die Erschließung im Sinne des § 34 BauGB gemeint ist. Daran vermögen weder die tatsächliche Begehbarkeit des Baugrundstücks von der L.------straße aus noch deren eventuelle Sicherung durch eine Grunddienstbarkeit etwas zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus der Nebenbestimmung S 3, wonach die Zuwegung (zur G.              Straße) durch Eintragung einer Baulast öffentlich-rechtlich zu sichern ist. Inwieweit sich das Verwaltungsgericht damit mit Blick auf die Bestimmtheit des Vorbescheids „nicht hinreichend und nicht sachgerecht“ auseinandergesetzt hätte, legt der Kläger nicht dar.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig steht der Bestimmtheit im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW entgegen, dass eine möglicherweise erforderliche Zustimmung des Landesbetriebs Straßenbau zur Erteilung einer Baugenehmigung noch nicht vorliegt bzw. eine Baugenehmigung ohne eine solche Zustimmung erteilt wurde.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gestattet der angegriffene Vorbescheid allein die Erschließung des Vorhabengrundstücks über eine Zuwegung zur G.              Straße, kann er für die Genehmigung eines Vorhabens mit einer Erschließung auf anderem Wege keine Grundlage bilden. Dann läge - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - ein anderes Vorhaben vor. Aus dem insoweit vom Kläger zitierten Urteil des Senats vom 30.10.2009 - 7 A 2458/08 -<sup>–</sup> ergibt sich nichts anderes. Es verhält sich nicht zu der Frage, ob bei einer anderweitigen Erschließung ein anderes Vorhaben vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">b)              Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich auch nicht aus der Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht verkenne das durch die Bauordnung vorgegebene Prüfungsprogramm der Bauaufsichtsbehörde. Ein Vorbescheid könne in Ermangelung der Sachentscheidungskompetenz der Bauaufsichtsbehörde nicht bezüglich öffentlich-rechtlicher Fragen erteilt werden, die in einem anderen Verfahren abschließend zu entscheiden seien. Vorliegend bedürfe es einer straßenrechtlichen Zustimmung des Landesbetriebes Straßenbau Nordrhein-Westfalen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Damit greift der Kläger keine entscheidungserheblichen Annahmen des Verwaltungsgerichts an. Es hat weder angenommen, eine straßenrechtliche Zustimmung sei nicht erforderlich noch ist es davon ausgegangen, die Beklagte habe in dem streitgegenständlichen Bauvorbescheid über eine möglicherweise erforderliche Zustimmung der Straßenbaubehörde entschieden.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus dem Hinweis des Klägers, die Beklagte habe den Bau eines Einfamilienhauses mit einer Erschließung über eine Straße gestattet, deren Straßenbaulastträgerin sie nicht sei. Auf Grundlage des Vorbescheides sei die Zustimmung des Landesbetriebes Straßenbau nicht erforderlich bzw. nicht einzuholen; dies könne eine Ordnungswidrigkeit darstellen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der angegriffene Vorbescheid vom 11.5.1994 und die Verlängerung vom 11.3.2019 ersetzen ausdrücklich nicht die erforderliche Baugenehmigung und gestatten daher nicht den Bau des Vorhabens. Ebenso wenig ist dem Vorbescheid oder der Verlängerung zu entnehmen, dass eine eventuell erforderliche Zustimmung des Straßenbaulastträgers ersetzt werden sollte.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">c)              Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht aus der Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe die „teilweise anders gelagerten Sachverhalte aus den anhängigen und ebenfalls angefochtenen Parallelverfahren gleichsam über einen Kamm geschoren ohne hinreichende Differenzierung im Einzelfall“, es lägen jedoch „ganz erhebliche Spezifika vor, die sich insbesondere aus der Behandlung der Nebenbestimmungen ergeben“.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt nicht dar, welche „Spezifika“ dies im vorliegenden Verfahren sind und inwieweit sie zu einem anderen rechtlichen Ergebnis geführt hätten. Der Hinweis auf eine tabellarische Aufstellung der Nebenbestimmungen genügt dafür nicht.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">2.              Aus den vorstehenden Gründen weist die Rechtssache nicht die vom Kläger gesehenen besonderen rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">3.              Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine bislang weder höchstrichterlich noch obergerichtlich geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war, die sich auch in dem angestrebten Berufungsverfahren stellt und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kuhlmann in: Wysk, VwGO, Kompaktkommentar, 3. Aufl. 2020, § 124 Rn. 34, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob und bejahendenfalls dass eine Bebauungsgenehmigung bzw. ein Bauvorbescheid, der noch nicht zur Ausnutzung von Baurecht berechtigt, im Hinblick auf die [...] zitierte Automatismusrechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der Baugenehmigung gleich zu behandeln ist, mit anderen Worten, dass es auch im Falle der Erteilung eines Vorbescheides rechtlich wesentlich für den betroffenen Kläger darauf ankommt, die erteilte Bebauungsgenehmigung bzw. den erteilten Bauvorbescheid zur Abwehr rechtlicher Einschränkungen bei der Verteidigung gegen die Inanspruchnahme aus § 917 BGB anzufechten bzw. anfechten zu müssen“.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Diese Frage war für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts indes nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung. Es hat angenommen, der angefochtene Bauvorbescheid gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, für eine „drohende“ Erschließung über das Grundstück des Klägers - etwa über einen Notweg im Sinne des § 917 BGB - lägen daher keine Anhaltspunkte vor.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">4.              Das Zulassungsvorbringen führt nicht zur der behaupteten Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Kläger rügt, die „Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln im Verfahren 2 K 5338/19 mit Urteil vom 20.04.2021“ weiche von der Entscheidung des beschließenden Senats vom 30.10.2009 - 7 A 2548/08 - ab. Damit bezieht er sich schon nicht auf das hier angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln im Verfahren 2 K 3161/19. Dass und mit welchem Rechtssatz das Verwaltungsgericht in diesem Verfahren von der genannten Entscheidung abgewichen sein sollte, ist weder dargelegt noch ersichtlich. Dies gilt auch, soweit der Kläger auf die Ausführungen der Entscheidung zu einem öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch gegen eine Baugenehmigung, die sich auf die Duldung eines Notwegerechts auswirkt, verweist. Der angefochtene Bauvorbescheid vom 11.5.1994 und der Verlängerungsbescheid vom 11.3.2019 gestatten - wie dargelegt - nur die Erschließung über die G.              Straße. Wird das Vorhaben auf diese Weise umgesetzt, kommt es auf ein etwaiges Notwegerecht über das zur L.------straße hin gelegene Grundstück des Klägers nicht an.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">5.              Der Kläger macht ohne Erfolg einen Verfahrensmangel in Form der Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Er legt schon nicht dar, welche seiner Ausführungen das Verwaltungsgericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen habe.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
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"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:25"
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Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0907.7A1370.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die erstattungsfähig sind.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der angefochtene Bauvorbescheid vom 7.8.2019 verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Vorbescheid genüge dem Bestimmtheitsgebot gemäß § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung. Er gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, wodurch das Grundstück des Klägers in keiner Weise tangiert werde. Der Vorbescheid verletze den Kläger auch nicht in seinen sich aus dem materiellen Bauplanungsrecht ergebenden subjektiven Rechten. Eine Verletzung des Gebietsgewährleistungsanspruchs scheide aus, da das Bauvorhaben in einem (faktischen) Wohngebiet realisiert werden solle und auch die Beigeladene eine Wohnbebauung plane. Das geplante Mehrfamilienhaus sei dem Kläger gegenüber auch nicht rücksichtslos. Auch die Befürchtung des Klägers, auf dem neben seinem Grundstück verlaufenden Flurstück 856 könne sich ein öffentlicher Weg entwickeln, der die L.------straße mit der G.              Straße verbinde, begründe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das dagegen gerichtete Zulassungsvorbringen führt nicht zur Zulassung der Berufung.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1.              Die Zulassungsbegründung legt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dar.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">a)              Der Kläger zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Annahme des Verwaltungsgerichts auf, der angefochtene Bauvorbescheid verletze nicht das Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Er rügt, das Verwaltungsgericht habe sich nicht mit dem Verwaltungsvorgang und insbesondere den rechtlichen Zusammenhängen zu dem im Verfahren 2 K 3161/19 streitgegenständlichen Vorbescheid auseinandergesetzt. Insbesondere werde im dortigen Vorgang eine fußläufige Verbindung zur L.------straße angesprochen. Es könne nicht beurteilt werden, ob von einer gesicherten Erschließung ausgegangen werden könne. Scheitere die Zuwegung der L 136, werde eine gleichwohl erteilte Baugenehmigung ihm die Duldung eines Notwegerechts aufzwingen können. Es sei jedenfalls nicht richtig, wenn das Verwaltungsgericht meine, der Bauvorbescheid gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, denn eine entsprechende ausdrückliche Regelung dazu enthalte der Bescheid nicht; jedenfalls gebe es keine widerspruchsfreie oder stringente Regelung. Insbesondere ergebe sich dies - anders als vom Verwaltungsgericht angenommen - nicht aus der Nebenbestimmung Nr. 5. Es sei daher durchaus möglich und tatsächlich nicht unwahrscheinlich, dass eine Erschließung über die L.------straße erfolge. Die Verbindung zwischen dem Vorhabengrundstück und der L.------straße erfolge über das Flurstück 856, bei dem es sich um eine Art Stichweg handele. Zugunsten des Baugrundstückes bestehe diesbezüglich ein durch Grunddienstbarkeit gesichertes Wegerecht. Er befürchte, dass dieses Wegerecht über § 917 BGB verbreitert und aufgeweitet werde und sich die gesamte Zuwegung als Erschließung über sein Grundstück erstrecken könne. Im Übrigen liege eine Gestattung der Trägerin der Straßenbaulast der G.              Straße nicht vor. Zudem ergebe sich die Unbestimmtheit des Vorbescheids aus der Nebenbestimmung Nr. 5, die auf das Schreiben des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen Bezug nehme. Darin werde die erforderliche straßenrechtliche Zustimmung in Aussicht gestellt. Dies sei gegenüber der Zustimmung ein „rechtliches minus“. Es sei nicht auszuschließen, dass eine Baugenehmigung erteilt werden könne, bei der eine Erschließung über die L.------straße unter teilweiser Inanspruchnahme seines Grundstücks stattfinden könne. In der Nebenbestimmung Nr. 5 werde Bezug auf „diese Zustimmung“ genommen; eine Zustimmung im Rechtssinne gebe es jedoch nicht. Im Übrigen heiße es in der Nebenbestimmung Nr. 5, dass der Landesbetrieb im Baugenehmigungsverfahren erneut zu beteiligen und der Nachweis der Einhaltung aller geforderten Nebenbestimmungen zu erbringen sei. Dies sei inhaltlich unbestimmt und widersprüchlich. Aus dem Schreiben des Berichterstatters vom 6.12.2019 ergebe sich nichts anderes. Anders als vom Verwaltungsgericht angenommen, liege kein „anderes Vorhaben“ vor, wenn die Erschließung nicht über die G.              Straße erfolge; dies ergebe sich aus der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2009 - 7 A 2548/08 -.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Diese Rügen bleiben ohne Erfolg. Dem Bauvorbescheid vom 7.8.2019 mit seinen Anlagen lässt sich mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen, dass die Erschließung allein über die G.              Straße gestattet ist und das zur L.------straße hin gelegene Grundstück des Klägers in keiner Weise tangiert wird.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid vom 7.8.2019 verweist in Nebenbestimmung Nr. 2 ausdrücklich auf die als Anlage zurückgereichten Planunterlagen und macht damit auch den Vorentwurf V1.3 eines Lageplans/Geländeschnitts vom 31.7.2019 zum Bestandteil der positiven Beurteilung der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens. Dieser Plan zeigt, dass die Einfahrt zum und die Ausfahrt aus dem gesamten Vorhabenbereich ausschließlich über die G.              Straße erfolgen soll. Daran vermögen weder die tatsächliche Begehbarkeit von der L.------straße aus noch deren eventuelle Sicherung durch eine Grunddienstbarkeit etwas zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig steht der Bestimmtheit im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW entgegen, dass der Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen die Erteilung einer Zustimmung zu einer (zukünftigen) Baugenehmigung in Aussicht gestellt, aber noch nicht erteilt hat bzw. eine Baugenehmigung ohne eine solche Zustimmung erteilt wurde.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Gestattet der angegriffene Vorbescheid allein die Erschließung des Vorhabengrundstücks über eine Zuwegung zur G.              Straße, kann er für die Genehmigung eines Vorhabens mit einer Erschließung auf anderem Wege keine Grundlage bilden. Dann läge - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - ein anderes Vorhaben vor.  Aus dem insoweit vom Kläger zitierten Urteil des Senats vom 30.10.2009 - 7 A 2458/08 - ergibt sich nichts anderes. Es verhält sich nicht zu der Frage, ob bei einer anderweitigen Erschließung ein anderes Vorhaben vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">b)              Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich auch nicht aus der Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht verkenne das durch die Bauordnung vorgegebene Prüfungsprogramm der Bauaufsichtsbehörde. Ein Vorbescheid könne in Ermangelung der Sachentscheidungskompetenz der Bauaufsichtsbehörde nicht bezüglich öffentlich-rechtlicher Fragen erteilt werden, die in einem anderen Verfahren abschließend zu entscheiden seien. Vorliegend bedürfe es einer straßenrechtlichen Zustimmung des Landesbetriebes Straßenbau Nordrhein-Westfalen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Damit greift der Kläger keine entscheidungserheblichen Annahmen des Verwaltungsgerichts an. Es hat weder angenommen, eine straßenrechtliche Zustimmung sei nicht erforderlich noch ist es davon ausgegangen, die Beklagte habe in dem streitgegenständlichen Bauvorbescheid über eine möglicherweise erforderliche Zustimmung der Straßenbaubehörde entschieden.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus dem Hinweis des Klägers, die Beklagte habe mit dem im Verfahren 2 K 3161/19 (7 A 1369/21) streitgegenständlichen Vorbescheid den Bau eines Einfamilienhauses mit einer Erschließung über eine Straße gestattet, deren Straßenbaulastträgerin sie nicht sei. Auf Grundlage des Vorbescheides sei die Zustimmung des Landesbetriebes Straßenbau nicht erforderlich bzw. nicht einzuholen; dies könne eine Ordnungswidrigkeit darstellen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt schon den Zusammenhang zum vorliegenden Verfahren nicht dar. Zudem ersetzen der im Verfahren 2 K 3161/19 (7 A 1369/21) angegriffene Vorbescheid vom 11.5.1994 und die Verlängerung vom 11.3.2019 ausdrücklich nicht die erforderliche Baugenehmigung und gestatten daher nicht den Bau des Vorhabens. Ebenso wenig ist dem Vorbescheid oder der Verlängerung zu entnehmen, dass eine eventuell erforderliche Zustimmung des Straßenbaulastträgers ersetzt werden sollte.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">c)              Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht aus der Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe die „teilweise anders gelagerten Sachverhalte aus den anhängigen und ebenfalls angefochtenen Parallelverfahren gleichsam über einen Kamm geschoren ohne hinreichende Differenzierung im Einzelfall“, es lägen jedoch „ganz erhebliche Spezifika vor, die sich insbesondere aus der Behandlung der Nebenbestimmungen ergeben“. In den Bescheiden heiße es, dass die Zustimmung des Straßenbaulastträgers der G.              Straße Bestandteil der Vorbescheide sei. Im Falle der Bestandskraft der Bauvorbescheide sei dies durch ihn als Betroffenen rechtlich nicht mehr überprüfbar.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit dieser Rüge verkennt der Kläger, dass dem vorliegend allein streitgegenständlichen Vorbescheid vom 7.8.2019 - wie ausgeführt - eine Ersetzung der Zustimmung des Straßenbaulastträgers nicht zu entnehmen ist.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">d)              Der Kläger beanstandet ohne Erfolg, die Nebenbestimmung Nr. 5 zum Vorbescheid vom 7.8.2019 mache die Erteilung einer Baugenehmigung in rechtswidriger Weise u. a. davon abhängig, dass die Auflage zu Ziffer 4 aus dem Schreiben des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen vom 17.6.2019 erfüllt werde. Dazu legt der Kläger indes nicht dar, gegen welche nachbarschützende Vorschrift der Vorbescheid insoweit verstoßen sollte.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">e)              Der Kläger rügt weiter ohne Erfolg, durch die im angegriffenen Vorbescheid vorgesehene Bebauung komme es zu einer deutlich intensiveren Ausnutzung der Grundstücke im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung als dies im maßgeblichen Umgebungsbereich entlang der G.              Straße der Fall sei, er halte insoweit die bereits in erster Instanz vorgetragenen Bedenken im Hinblick auf die bauliche Nutzung aufrecht. Es fehlt hierzu schon an der erforderlichen Darlegung zur nachbarrechtlichen Relevanz dieser Rüge.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu, dass Vorschriften, die das Maß der baulichen Nutzung regeln, grundsätzlich keinen Nachbarschutz vermitteln etwa BVerwG, Urteil vom 28.4.2004 - 4 C 12.03 -, juris.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">2.              Aus den vorstehenden Gründen weist die Rechtssache nicht die vom Kläger gesehenen besonderen rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">3.              Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine bislang weder höchstrichterlich noch obergerichtlich geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war, die sich auch in dem angestrebten Berufungsverfahren stellt und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kuhlmann in: Wysk, VwGO, Kompaktkommentar, 3. Aufl. 2020, § 124 Rn. 34, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob und bejahendenfalls dass eine Bebauungsgenehmigung bzw. ein Bauvorbescheid, der noch nicht zur Ausnutzung von Baurecht berechtigt, im Hinblick auf die [...] zitierte Automatismusrechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der Baugenehmigung gleich zu behandeln ist, mit anderen Worten, dass es auch im Falle der Erteilung eines Vorbescheides rechtlich wesentlich für den betroffenen Kläger darauf ankommt, die erteilte Bebauungsgenehmigung bzw. den erteilten Bauvorbescheid zur Abwehr rechtlicher Einschränkungen bei der Verteidigung gegen die Inanspruchnahme aus § 917 BauGB anzufechten bzw. anfechten zu müssen“.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Diese Frage war für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts indes nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung. Es hat angenommen, der Bauvorbescheid gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, für eine „drohende“ Erschließung über das Grundstück des Klägers - etwa über einen Notweg im Sinne des § 917 BGB - lägen daher keine Anhaltspunkte vor.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">4.              Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu der behaupteten Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger benannte Divergenzentscheidung des beschließenden Senats vom 30.10.2009 - 7 A 2548/08 - befasst sich mit den bauordnungsrechtlichen Anforderungen an die Erreichbarkeit eines Vorhabengrundstücks im Sinne von § 4 Abs. 1 BauO NRW a. F. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, von welchem Rechtssatz dieser Entscheidung das Verwaltungsgericht in seinem Urteil in entscheidungserheblicher Weise abgewichen wäre. Dies gilt auch, soweit der Kläger auf die Ausführungen der Entscheidung zu einem öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch gegen eine Baugenehmigung, die sich auf die Duldung eines Notwegerechts auswirkt, verweist. Der angefochtene Bauvorbescheid vom 7.8.2019 gestattet - wie dargelegt - nur die Erschließung über die G.              Straße. Wird das Vorhaben auf diese Weise umgesetzt, kommt es auf ein etwaiges Notwegerecht über das zur L.------straße hin gelegene Grundstück des Klägers nicht an.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">5.              Der Kläger macht ohne Erfolg einen der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangel geltend, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Soweit er eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt, legt er schon nicht dar, welche seiner Ausführungen das Verwaltungsgericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen haben sollte.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beanstandet weiter, das Verwaltungsgericht habe seinen in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, „Beweis zu erheben zu den tatsächlichen Ausführungen unter Ziffer 2) des Schriftsatzes vom 22.03.2021 durch Einnahme des richterlichen Augenscheins“ zu Unrecht abgelehnt. Auch diese Rüge greift nicht durch. Der Kläger legt nicht dar, weshalb die Ablehnung des Beweisantrags mit der Begründung, die tatsächlichen Umstände, auf die er sich beziehe, könnten als wahr unterstellt werden, keine hinreichende Stütze im Prozessrecht finden sollte.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
346,542
ovgnrw-2022-09-07-13-b-191121
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
13 B 1911/21
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:24"
"2022-10-17T11:10:06"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0907.13B1911.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. November 2021 wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist Content-Providerin. Sie hat ihren Sitz in Zypern und betreibt die Internetseite https://z.com. Diese sowie zwei weitere Webseiten aus ihrem Unternehmensverbund sind Gegenstand aufsichtsbehördlicher bzw. gerichtlicher Verfahren.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 11. Juli 2019 teilte die Antragsgegnerin der zypriotischen Medienbehörde Cyprus Radiotelevision Authority (CRTA) in dem dem Parallelverfahren 13 B 1913/21 zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren mit, dass das Telemedienangebot der N.  T.      Ltd. – einer Tochtergesellschaft der Antragstellerin – „n.com“ aus ihrer Sicht gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und gegen § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 und 4 des Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – JMStV) verstoße. Zugleich bat die Antragsgegnerin die CRTA um Mitteilung, ob sie, die CRTA, rechtliche Schritte einleiten könne, und fragte nach, ob es richtig sei, dass die CRTA nur für Radio und Fernsehen und nicht auch für Video-Sharing-Plattformen zuständig sei und es auch sonst keine staatliche Behörde gebe, die hierfür zuständig wäre. Mit E-Mail vom 14. August 2019 wies die CRTA die Antragsgegnerin darauf hin, dass Zypern dabei sei, die Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) umzusetzen. Daher sei die CRTA derzeit nur für die Überwachung von Rundfunk- und Fernsehangeboten, nicht jedoch für eine Überwachung von Video-Sharing-Diensten zuständig. Die Zuständigkeit zur Umsetzung der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 (E-Commerce-Richtlinie) liege beim „Industry and Technology Service“ (ITS) des zypriotischen Ministeriums für Energie, Handel und Industrie.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 24. Oktober 2019 informierte die Antragsgegnerin die CRTA darüber, dass sie aufgrund festgestellter Verstöße gegen Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags beabsichtige, aufsichtsbehördlich gegen das Telemedienangebot der Antragstellerin einzuschreiten. Sie bat die CRTA zudem bis zum 28. Oktober 2019 um Mitteilung, sollte diese Vorbehalte gegen das beabsichtigte Einschreiten der Antragsgegnerin haben. Mit E-Mail vom 25. Oktober 2019 informierte die CRTA die Antragsgegnerin, dass sie keine Vorbehalte gegen ein Vorgehen gegen die zypriotischen Anbieter habe. Unter dem 14. November 2019 teilte die Antragsgegnerin der Europäischen Kommission mit, dass sie beabsichtige, gegen die Antragstellerin vorzugehen. Mit E-Mail vom 30. April 2020 informierte die Antragsgegnerin den von der CRTA für die E-Commerce-Richtlinie als zuständige Stelle benannten ITS im zypriotischen Ministerium für Energie, Handel und Industrie über das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin und fragte an, ob dieser Bedenken hiergegen hätte; eine Reaktion blieb aus.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 26. März 2020 fand zwischen den Beteiligten ein Austausch per Videokonferenz statt. Im Nachgang hierzu fasste die Antragstellerin mit Schreiben vom 9. April 2020 ihre rechtlichen Argumente zusammen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 20. Mai 2020 erging die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin an den Prüfungsausschuss der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), der 19 Anlagen über den Verfahrensablauf beigefügt waren. In der 28. KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020, die per Videokonferenz stattfand, wurde u. a. auch der Prüffall der Antragstellerin besprochen und vereinbart, dass eine Abstimmung über die Beschlussempfehlung im schriftlichen Verfahren erfolge (TOP 5.7). Mit E-Mail vom 28. Mai 2020 wurden den Mitgliedern der KJM die Faxblätter zur Abstimmung im schriftlichen Verfahren übersandt. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich die Sitzungsunterlagen in Sharepoint befänden und der verfahrensrelevante Mitschnitt im SharePoint-Videobereich freigeschaltet sei. Die übersandten Faxblätter sahen ein Ankreuzen vor, ob der Beschlussempfehlung einschließlich der Begründung im schriftlichen Verfahren zugestimmt werde. Im Falle der Nichtzustimmung wurde eine Begründung erbeten. Alle Mitglieder der KJM stimmten der Beschlussempfehlung einschließlich der Begründung im schriftlichen Verfahren zu. Am 12. Juni 2020 teilte die KJM der Antragsgegnerin den Tenor der Beschlussfassung mit.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 16. Juni 2020, zugestellt am 6. Juli 2020, stellte die Antragsgegnerin – nach vorheriger Anhörung – u. a. fest, dass die Antragstellerin gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV verstoße (Ziffer 1), sprach ihr gegenüber eine Beanstandung gemäß § 20 Abs. 1 JMStV i. V. m. § 59 Abs. 3 RStV aus und untersagte „die Verbreitung des Angebots in dieser Form […] zukünftig“ (Ziffer 2). Die Antragstellerin erfülle ihre Verpflichtung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV, wenn sie die pornografischen Inhalte von ihrem Angebot entferne oder eine geschlossene Benutzergruppe einrichte, durch die sichergestellt werde, dass nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhielten.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage (27 K 3906/20 VG Düsseldorf), über die noch nicht entschieden ist, mit Beschluss vom 30. November 2021 abgelehnt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Es spreche Überwiegendes dafür, dass die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage, § 20 Abs. 1 und Abs. 4 JMStV vom 28. Februar 2003 (GV. NRW. S. 84), zuletzt geändert durch Art. 5 des Neunzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 14. Juni 2016 (GV. NRW. S. 452) – im Folgenden JMStV a. F. – i. V. m. § 59 Abs. 3 RStV vom 21. November 1995 (GV. NRW. S. 1196) in der Fassung des Zweiundzwanzigsten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 26. Oktober 2019 (GV. NRW. S. 134) – im Folgenden RStV a. F. – vorlägen. Der Anwendbarkeit der genannten Vorschriften stehe nicht der Umstand entgegen, dass die Antragstellerin ihren Sitz nicht im Bundesgebiet, sondern auf Zypern habe. Insbesondere sei das sog. Herkunftslandprinzip nicht als Kollisionsregel einzuordnen. Es spreche auch Überwiegendes dafür, dass der der Entscheidung der Antragsgegnerin zugrunde liegende Beschluss der KJM im Einklang mit den Vorschriften des JMStV a. F. gefasst worden sei. Insbesondere habe die KJM die in § 17 Abs. 1 Satz 3 JMStV a. F. normierte Begründungspflicht durch die erfolgte Bezugnahme auf die Begründung der Beschlussvorlage beachtet. Die Bestimmungen im JMStV a. F. zum hier durchgeführten Verfahren verstießen auch nicht gegen Verfassungsrecht. Es liege kein Verstoß gegen das Bundesstaats- und Demokratieprinzip vor. Die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung habe für das hier betroffene Rechtsgebiet des Rundfunk- und Telemedienrechts verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der KJM bislang nicht geäußert, so dass die Kammer jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine Veranlassung sehe, den von der Antragstellerin umfangreich aufgeworfenen Problemstellungen nachzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich mit Urteil vom 20. April 2021 - 6 C 6.20 - konkret mit Aufgaben und Organzuständigkeit der KJM auseinandergesetzt und diesbezüglich keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert. In seinem Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 - habe das Bundesverwaltungsgericht zwar nicht unmittelbar zur KJM (vgl. § 35 Abs. 2 Nr. 4 RStV a. F.), aber zu der Kommission für Zulassung und Aufsicht - ZAK - festgestellt, dass die im Rundfunkstaatsvertrag vorgesehene materielle Entscheidungsbefugnis der ZAK für die Zulassung bundesweiter Programme keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliege. Auch in materieller Hinsicht dürften die in Rede stehenden Regelungen im angefochtenen Bescheid rechtmäßig sein. Es spreche Überwiegendes dafür, dass sie, soweit sie hier angegriffen worden seien, hinreichend bestimmt seien. Der Begründung des Bescheids lasse sich entnehmen, dass sich die Beanstandung nicht auf das gesamte Internetangebot unter der Domain de.z.com, sondern nur auf die gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV a. F. (und § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 und 4 JMStV a. F.) verstoßenden Teile des Angebots beziehe. Zudem lägen auch die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage vor, da die Antragstellerin gegen das Verbot des § 4 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Satz 2 JMStV a. F. als Anbieterin von Telemedien verstoßen habe. Weder Art. 3 Abs. 1 GG noch Art. 12 Abs. 1 GG geböten die Aufstellung eines behördlichen Eingriffskonzepts für die zeitliche Reihenfolge des Einschreitens gegen Anbieter von Telemedienangeboten im Unionsgebiet außerhalb Deutschlands, die pornografische Inhalte frei zugänglich anböten. Die in Rede stehende Maßnahme stehe ferner im Einklang mit völkerrechtlichen Grundsätzen. Das frei zugängliche Angebot pornografischer Inhalte im Internet durch Anbieter mit Sitz im Unionsgebiet außerhalb Deutschlands dürfte eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip aus Art. 3 Abs. 2 TMG a. F. i. V. m. Art. 3 Abs. 2 E-Commerce-Richtlinie begründen. Der Jugendschutz in Gestalt von § 4 Abs. 2 JMStV a. F. stelle ein Schutzgut dar, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dieses Schutzgut sei bei frei zugänglicher Pornografie im Internet ernsthaft und schwerwiegend gefährdet. Bei dieser Einschätzung dürfte es auch ohne Bedeutung sein, ob das in Rede stehende Angebot der Antragstellerin über ein sogenanntes RTA-Label verfüge, das von einer entsprechenden Jugendschutzsoftware ausgelesen werden könne. Die streitbefangenen Maßnahmen – die Beanstandung und die Untersagung der Verbreitung des Angebots in Deutschland, soweit es frei zugängliche Pornografie enthält – dürften im Sinne von § 3 Abs. 5 Satz 1 2. Halbsatz TMG a. F. und der gleichlautenden Vorgabe in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a iii) E-Commerce-Richtlinie auch in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Schutzgut stehen, mithin auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verhältnismäßig sein. Schließlich dürfte die Antragsgegnerin die ihr obliegenden Konsultations- und Informationspflichten gemäß den Vorgaben des Art. 3 Abs. 4 Buchst. b Erster Spiegelstrich E-Commerce-Richtlinie erfüllt haben. Wenn ein Einschreiten rechtlich bereits nicht zulässig sei, weil sich das Verhalten in jenem Mitgliedstaat – wie vorliegend – als gesetzeskonform darstelle, dürften auch die Anforderungen an die Konsultation geringer ausfallen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dagegen hat die Antragstellerin am 10. Dezember 2021 Beschwerde erhoben, die sie am 3. Januar 2022 sowie ergänzend mit Schriftsätzen vom 28. Juni 2022 und 3. August 2022 begründet hat. Sie macht insbesondere geltend, das Verwaltungsgericht setze sich mit der von ihr aufgeworfenen Frage, ob die Entscheidungsprozesse unter Einbindung der KJM verfassungswidrig seien, trotz ihres umfangreichen Vortrags im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, mit dem sie auch in Zweifel gezogen habe, dass die Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts zu der Verfassungsmäßigkeit der ZAK auf die KJM übertragen werden könne, nicht auseinander. Unabhängig davon genüge der am 27. Mai 2020 als Videokonferenz im schriftlichen Verfahren gefasste Beschluss der KJM nicht dem Begründungserfordernis des § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV a. F. Zudem sei der angefochtene Bescheid auch offensichtlich materiell rechtswidrig. Die in den Ziffern 1 und 2 Sätze 1 und 2 des Bescheids enthaltenen Regelungen entsprächen nicht den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Es liege auch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor, da es an einem systemgerechten Vorgehen der Antragsgegnerin fehle. Schließlich verstießen die Maßnahmen gegen das Herkunftslandprinzip; eine Ausnahme gemäß § 3 Abs. 5 TMG a. F. liege nicht vor. Es fehle an einer konkreten Gefährdung oder Beeinträchtigung der Schutzgüter im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 TMG a. F. Zudem sei die Maßnahme unverhältnismäßig und die Antragsgegnerin sei ihren in § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F. i. V. m. Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der E-Commerce-Richtlinie vorgesehenen Informations- und Konsultationspflichten mit Blick auf die zypriotischen Aufsichtsbehörden nicht nachgekommen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 27 K 3906/20 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Juni 2020 anzuordnen, soweit dort das Telemedienangebot der Antragstellerin de.z.com wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV beanstandet und die Verbreitung des Angebots in dieser Form zukünftig untersagt worden ist.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin tritt dem entgegen und beantragt,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Beschwerde zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des Verwaltungsvorgangs ergänzend Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">A. Die zur Begründung der Beschwerde fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">zur Nichtberücksichtigung von nach Fristablauf erstmals geltend gemachten Beschwerdegründen vgl. Rudisile, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht VwGO, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 146 Rn. 13a, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">I. Das Beschwerdevorbringen zeigt keine Fehler auf, die zu einer formellen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids führen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Insbesondere dringt die Antragstellerin nicht mit ihrer Rüge durch, die Beschlussfassung der KJM verstoße gegen die Begründungsanforderungen des <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_17">§ 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV</a>.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der angefochtene Bescheid ist in der zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 16. Juni 2020 gültigen Fassung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt vgl. BVerwG, Urteile vom 20. April 2021 - 6 C 6.20 -, juris, Rn. 11, und vom 31. Mai 2017 - 6 C 10.15 -, juris, Rn. 12; Bay. VGH, Beschluss vom 26. November 2020 - 7 ZB 18.708 -, juris, Rn. 14; VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 - 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 34, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">von der Antragsgegnerin als der gemäß § 14 Abs. 1, § 20 Abs. 1, 4 und 6 JMStV für die Aufsicht über die Antragstellerin zuständigen Landesmedienanstalt erlassen worden. Stellt die zuständige Landesmedienanstalt fest, dass ein Anbieter gegen die Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags verstoßen hat, trifft sie die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Anbieter, § 20 Abs. 1 JMStV. Für Anbieter von Telemedien trifft nach § 20 Abs. 4 JMStV die zuständige Landesmedienanstalt die jeweilige Entscheidung durch die KJM entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 des Rundfunkstaatsvertrags. Nach § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV hat die KJM ihre Beschlüsse, die gegenüber den anderen Organen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend und deren Entscheidungen zu Grunde zu legen sind (§ 17 Abs. 1 Satz 5 und 6 JMStV), zu begründen (§ 17 Abs. 1 Satz 3 JMStV). In dieser Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen (Satz 4).</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat die Anforderungen an das Begründungserfordernis mit Urteil vom 17. Juli 2015 - 13 A 1215/12 - (juris, Rn. 38 ff.) wie folgt konkretisiert:</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">„Bei der Auslegung dieser Vorschriften und zur Ermittlung der Anforderungen an das Begründungserfordernis nach § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV ist das nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag spezifisch ausgestaltete Verhältnis der Landesmedienanstalten und der KJM in den Blick zu nehmen. Danach ist bei der Aufsicht über Telemedien-Angebote die inhaltliche Entscheidung über die Vereinbarkeit von Telemedien-Angeboten mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag und die bei Verstößen zu treffenden Maßnahmen allein der KJM – als Organ der Landesmedienanstalt – zugewiesen (vgl. §§ 14 Abs. 2 Satz 2, 16 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 4 JMStV). Die zuständige Landesmedienanstalt organisiert für die inhaltliche Entscheidung der KJM das Verfahren, ermittelt den Sachverhalt und setzt die Entscheidung der KJM, an die sie inhaltlich und nach der Begründung gebunden ist, nach außen gegenüber dem Anbieter um (§ 17 Abs. 1 Sätze 5 und 6 JMStV).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Zudem sind die hinter dem Erfordernis der Begründung der KJM gemäß § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV stehenden Zwecke zu berücksichtigen. Das Begründungserfordernis dient zum einen objektiven Zwecken: Es soll die KJM dazu anhalten, den von ihr zu beurteilenden Sachverhalt sorgfältig zu ermitteln und diesen unter Berücksichtigung des Vorbringens des Anbieters in jugendschutzrechtlicher Hinsicht selbst sachverständig zu bewerten. Weiter dient die Begründung der Klarheit für die anderen Organe der zuständigen Landesmedienanstalt, weil diese an die Beschlüsse der KJM gebunden sind und sie einschließlich der Begründung ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen haben. Zugleich dient die Begründung aber auch den Rechten der Anbieter von Telemedien. Das Begründungserfordernis für die KJM wurde ausdrücklich mit Blick auf die (Grund-) Rechte der Betroffenen, die eventuell gegen eine abschließende Entscheidung Rechtsschutz in Anspruch nehmen wollen, in den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag aufgenommen. Der Betroffene bedarf der Begründung, da er ohne Kenntnis der Gründe, auf die die KJM ihre Entscheidung stützt, ein gerichtliches Verfahren nicht sinnvoll führen kann. Die Anbieter haben Anspruch darauf, dass die KJM ihren Beschluss nach ausreichender Kenntnisnahme des zu beurteilenden Angebotes unter Bekanntgabe ihrer wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen begründet. Fehlt eine solche Begründung, schlägt dies auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der zuständigen Landesmedienanstalt durch.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 29 ff.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der Bedingungen der Praxis der Medienaufsicht, des vielfach komplexen und umfangreichen Charakters dieser Prüfungsverfahren sowie der Gegebenheiten einer Gremienentscheidung wird einhellig für die Begründung des Beschlusses der KJM als ausreichend angesehen, wenn diese der von der zuständigen Landesmedienanstalt vorgelegten Beschlussvorlage einschließlich einer darin enthaltenen Begründung des vorgeschlagenen Beschlusses durch Bezugnahme zustimmt. Dann müssen eine solche Bezugnahme bzw. Verweisung und der Wille, sich die Begründung der Beschlussvorlage zu eigen zu machen, aus der Niederschrift über den Beschluss der KJM oder aus sonstigen Unterlagen klar und unmissverständlich hervorgehen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014, a. a. O., Rn. 83 f.; Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 26; VG Hannover, Urteil vom 8. Juli 2014 - 7 A 4679/12 ‑, juris Rn. 56.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Zudem kann nur dann die Bezugnahme der KJM auf eine Beschlussvorlage der Landesmedienanstalt deren eigene Begründung ersetzen, wenn diese Beschlussvorlage überhaupt eine Begründung für den Beschlussvorschlag enthält und diese Begründung ihrerseits klar und unmissverständlich ist. An letzterem Erfordernis kann es dann fehlen, wenn die Beschlussvorlage wiederum auf andere Vorlagen der Landesmedienanstalt, die Prüfempfehlung der Prüfgruppe der KJM oder sonstige Schriftstücke Bezug nimmt. In diesem Fall besteht nämlich die Gefahr, dass nicht mehr hinreichend eindeutig ist, was die Begründung der Entscheidung der KJM sein soll. Deshalb geht eine verbreitete Auffassung davon aus, dass eine Begründung für einen Beschluss der KJM nicht ausreichend ist, wenn sich diese allein im Wege einer „Kettenverweisung“ ermitteln lässt.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014, a. a. O., Rn. 84; Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 26; VG Berlin, Urteil vom 3. Mai 2012 - 27 A 341.06 -, juris Rn. 32 f. (fehlende Entscheidung in der Beschlussvorlage); differenzierend VG Hannover, Urteil vom 8. Juli 2014, a. a. O., juris Rn. 58.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der Zwecke einer Begründung des Beschlusses der KJM ist nach Auffassung des Senats eine Bezugnahme auf eine Beschlussvorlage im Grundsatz zulässig, wenn dadurch eine klare und unmissverständliche Begründung des Beschlusses zu Stande kommt. Eine Kettenverweisung wird diesen Maßstäben in der Regel nicht gerecht, weil mehrere Schritte erforderlich sind, um die in Bezug genommene „gemeinte Begründung“ zu ermitteln und hierbei die unmissverständliche Klarheit typischerweise fehlt. Die Bezugnahme muss dem Beschluss der KJM (Plenum oder Prüfausschuss) oder dem diesen enthaltenden Protokoll aber durch eindeutige Formulierungen zu entnehmen sein. Allein der Umstand, dass der Beschluss seinem Inhalt nach der in der Beschlussvorlage vorgeschlagenen Entscheidung entspricht, reicht nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben, die der Senat weiterhin zu Grunde legt, ist der im Anschluss an die 28. Sitzung der KJM von 27. Mai 2020 im schriftlichen Verfahren gefasste Beschluss in einer den Anforderungen des § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV genügenden Weise begründet. Die Mitglieder der KJM stimmten „der Beschlussfassung einschließlich der Begründung“ durch Ankreuzen der vorformulierten Erklärung im schriftlichen Verfahren zu.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zum schriftlichen Verfahren vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 77; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 5 ff.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht zweifelhaft, dass damit die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2020 gemeint gewesen ist, auch wenn der die Zustimmung enthaltende Satz selbst weder ein Datum des Beschlussvorschlags nennt, noch die konkrete Landesmedienanstalt bezeichnet. Aus den jeweiligen Zustimmungsformularen ergibt sich der konkrete Prüffall durch Bezeichnung des Angebots, Nennung der Anbieter und eines Aktenzeichens sowie Angabe der Antragsgegnerin als zuständige Landesmedienanstalt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">So auch im einem ähnlich gelagerten Fall VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 - 27 K 93.16 -, juris, Rn. 65, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Zudem erfolgte die Zustimmung ausdrücklich im Nachgang zu der in Bezug genommenen KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Genauso wenig hat der Senat Anlass daran zu zweifeln, dass die Beschlussvorlage den KJM-Mitgliedern vorab zur Kenntnis gebracht wurde. Im Gegenteil: Aus dem Protokoll zu der 28. KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020 ergibt sich, dass alle KJM-Mitglieder durch Handzeichen bestätigt haben, dass die – vorab in Sharepoint eingestellten – verfahrensrelevanten Mitschnitte und Unterlagen zu dem Prüffall der Antragstellerin, wozu auch die am 20. Mai 2020 übersandte Beschlussvorlage gehörte (Bl. 85, Heft 1a der Beiakte), vollumfänglich gesichtet wurden.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrer Rüge durch, die KJM habe der Antragsgegnerin mit E-Mail vom 16. Juni 2020 lediglich den Beschlussinhalt ohne dazugehörige Begründung mitgeteilt. Wenngleich sich der durch die Bereichsleiterin der KJM übersandten E-Mail nur der Beschlussinhalt entnehmen lässt, folgt aus den ebenfalls übersandten Voten der KJM-Mitglieder, dass diese der Beschlussvorlage der Antragsgegnerin auch hinsichtlich der Begründung gefolgt sind. Da die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2020 eine vollständige Begründung enthielt, liegt – anders als in der vorstehend zitierten Entscheidung des Senats – auch keine unzulässige Kettenverweisung vor. Eine solche ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass der Beschlussvorlage 19 Anlagen zum Verfahrensablauf beigefügt waren, da deren Kenntnis lediglich vertiefender und umfassender Information der Mitglieder der KJM diente und sie nicht zu deren Entscheidungsfindung zwingend erforderlich waren. Vielmehr enthält die in Bezug genommene Begründung bereits alle wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe und erfüllt damit – auch ohne die beigefügten Anlagen – die Anforderungen von § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Zur Beifügung von Anlagen vgl. auch Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 - 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 19.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">II. Auch der Einwand, der Entscheidungsprozess unter Einbindung der KJM unterliege verfassungsrechtlichen Bedenken, greift bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Sofern die Antragstellerin sich mit ihrer Rüge, das Verwaltungsgericht setze sich trotz ihres umfangreichen Vortrags nicht mit der Frage eines Verstoßes gegen das Bundesstaats- und Demokratieprinzip auseinander, auf einen Gehörsverstoß berufen sollte, kann dahingestellt bleiben, ob der behauptete Verfahrensfehler gegeben ist. Denn eine Beschwerde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann nicht allein mit einer Verfahrensrüge erfolgreich geführt werden. § 146 Abs. 4 VwGO kennt – anders als die Vorschriften über die Berufung und die Revision – nämlich kein vorgeschaltetes Zulassungsverfahren (mehr), sondern ermöglicht in den von § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO gezogenen Grenzen eine umfassende, nicht von der erfolgreichen Rüge eines Verfahrensfehlers abhängige Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht als zweite Tatsacheninstanz. Nachdem das Zulassungserfordernis weggefallen und das Beschwerdeverfahren unbeschränkt eröffnet ist, kommt es mithin nur noch auf den Erfolg in der Sache selbst an.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. Mai 2022 - 13 B 1003/21 -, juris, Rn. 6, und vom 10. September 2020 - 1 B 1716/19 -, juris, Rn. 10 f., m. w. N.; OVG LSA, Beschluss vom 15. Februar 2021 - 2 M 121/20 -, juris, Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich ist vielmehr, ob die Antragstellerin die Feststellung des Verwaltungsgerichts, es liege kein Verstoß gegen das Bundesstaats- (vgl. hierzu unter 1.) und das Demokratieprinzip (vgl. hierzu unter 2.) vor, durchgreifend in Zweifel zieht. Das ist nicht der Fall. Zudem liegt auch kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vor (vgl. hierzu unter 3.).</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">1. Die Verlagerung von Aufgaben und Zuständigkeiten auf die KJM durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag dürfte mit dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) vereinbar sein.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">a. Die Beteiligung der KJM berührt weder den Kern der Eigenstaatlichkeit der Länder noch läuft sie dem Grundsatz der Unabdingbarkeit von Verwaltungskompetenzen zuwider.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Da den Ländern nach Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben – jedenfalls dem Grundsatz nach – zusteht, haben sie die Kompetenz zum Abschluss von Verträgen und zur Errichtung gemeinsamer Einrichtungen. Eine unzulässige Aufgabe oder Übertragung von Hoheitsrechten liegt im Verhältnis der Länder untereinander jedenfalls dann nicht vor, wenn in dem zugrunde liegenden Vertrag ausdrücklich vereinbart worden ist, dass dieser innerhalb bestimmter Fristen gekündigt werden kann, und wenn die Abweichung von der Regel der eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung durch Gründe gerechtfertigt ist, die in der Aufgabenmaterie und ihren rechtlichen wie faktischen Anforderungen liegen.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 34, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf die im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vorgesehene Errichtung, organisatorische Ausgestaltung und Entscheidungszuständigkeit der KJM erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Nach § <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_26">26 Satz 2 JMStV</a> kann der Staatsvertrag von jedem der vertragschließenden Länder zum Schluss des Kalenderjahres mit einer Frist von einem Jahr gekündigt werden.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die Regelung einer abschließenden Entscheidungsbefugnis der KJM in <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_17">§ 17 Abs. 1 Satz 4 JMStV</a> hinsichtlich der von ihr gefassten Beschlüsse ist zudem auch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Ziel der Errichtung der KJM ist es, die Zersplitterung der Aufsichtsstrukturen beim Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde im Bereich der Aufsicht über länderübergreifende Angebote in elektronischen Medien zu überwinden. Zu diesem Zweck richten die Länder mit der KJM eine zentrale Aufsichtsstelle für den Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde ein, die den Landesmedienanstalten nach <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV10Anlage-P14">§ 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV</a> als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 14 Abs. 1 JMStV dient. Dabei zielt insbesondere die aus § 17 Abs. 1 Satz 4 JMStV folgende Bindung im Innenverhältnis der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt darauf, den mit der Errichtung der KJM erwünschten Erfolg standortunabhängiger Entscheidungsfindung verfahrensmäßig abzusichern.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. Amtliche Begründung zum JMStV, S. 2, 25 u. 32, abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">https://www.kjm-online.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/JMStV_Genese/Amtliche_Begru__ndung_zum_JMStV.pdf.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Durch die danach beabsichtigte Schaffung eines einheitlichen Jugendschutzstandards in allen Telemedien kommt der Staat seiner Pflicht zum Schutz der Kinder und Jugendlichen nach, indem eine Zersplitterung der Aufsichtsinstanzen verhindert und damit ein einheitlicher Schutzstandard in allen Bundesländern gewährleistet wird.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 37 und 100 f.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 176 und 194; siehe auch zur Filmbewertungsstelle Wiesbaden: BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1966 ‑ VII C 128.64 ‑, juris, Rn. 31, wonach eine unterschiedliche Behandlung der Filme in jedem einzelnen Land der Bundesrepublik nicht als sinnvoll hätte bezeichnet werden können.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">b. Die von der Antragstellerin angenommene „dritte Ebene der Gesamt- bzw. Mehrheit der Länder“ und ein damit verbundener Verstoß gegen den zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff aus Art. 20 Abs. 1 GG liegt bereits deshalb nicht vor, weil die – rechtlich nicht verselbstständigte – KJM trotz ihrer Aufgabe einer länderübergreifenden einheitlichen Spruchpraxis im Jugendmedienschutz formal als ein Organ der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt dient.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-B-II">§ 14 JMStV, Rn. 38</a>; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-14-GL-II">§ 14 JMStV, Rn. 6</a>; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 33; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 182; so auch für die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 602 ff.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch wenn der Beschluss der KJM bindend ist und somit faktisch der Eindruck einer Entscheidung durch die KJM entstehen kann, wird die Entscheidung formell durch die zuständige Landesmedienanstalt, hier die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, vertreten durch ihren Direktor, getroffen (vgl. § 14 Abs. 1 JMStV). <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV10Anlage-P20">§ 20 Abs. 4 JMStV</a> bestimmt, dass die zuständige Landesmedienanstalt für Anbieter von Telemedien durch die KJM entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 des Rundfunkstaatsvertrags unter Beachtung der Regelungen zur Verantwortlichkeit nach den §§ 7 bis 10 TMG die jeweilige Entscheidung trifft. Soweit die Beschlüsse der KJM gegenüber den anderen Organen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend sind (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 5 JMStV), dient diese der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV formal als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Dass die Durchsetzung durch die zuständige Landesmedienanstalt erfolgt, zeigt zudem auch die Begründung zu § 20 Abs. 6 JMStV,</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">vgl. Amtliche Begründung zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, S. 40,</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">https://www.kjm-online.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/JMStV_Genese/Amtliche_Begru__ndung_zum_JMStV.pdf,</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">wonach nach außen die Landesmedienanstalten als Aufsicht auftreten. Welche der insgesamt 14 Landesmedienanstalten im Einzelfall zuständig ist, ergibt sich ebenfalls aus § 20 Abs. 6 JMStV, der auch den Fall vor Augen hat, dass – wie hier – mehrere Landesmedienanstalten zuständig sind oder der Anbieter seinen Sitz im Ausland hat.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Zum Verhältnis von jeweils zuständiger Landesmedienanstalt und KJM vgl. VG Berlin, Urteile vom 13. März 2018 - 27 K 258.14 -, juris, Rn. 57 f., und vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 53; Liesching, in:, Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15.12.2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-16-Gl-A">§ 16, Rn. 1</a>, m. w. N.; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-20-GL-II">§ 20 JMStV, Rn. 4</a>; Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BorErdKoJSchSV-G-JMStV-P-14-GL-B-II-1">§ 14, Rn. 22</a>; Erdemir, Die Kommission für Jugendmedienschutz, RDJB 2006, 285, 288 m. w. N.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 182 f. m. w. N.; sowie zur ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 25.19 -, juris, Rn. 22.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Durch diese Regelungen, die ohnehin nur bei länderübergreifenden Angeboten zur Anwendung gelangen (vgl. <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV6Anlage-P13">§ 13 JMStV</a>), ist insbesondere auch zweifelsfrei klargestellt, dass die Aufgabenwahrnehmung im Außenverhältnis nicht der KJM, sondern der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet wird, und neben dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag das (Verfahrens- und Vollstreckungs-)Recht desjenigen Bundeslandes zur Anwendung kommt, in dem die Landesmedienanstalt ihren Sitz hat. Rechtsbehelfe sind daher ausschließlich gegen die zuständige Landesmedienanstalt und nicht etwa gegen die KJM zu richten.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht 4. Auflage 2018, § 14 JMStV, Rn. 22 ff.; Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, § 14, Rn. 77; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 301; zum Verhältnis der ZAK zu den Landesmedienanstalten vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund bietet insbesondere auch die von der Antragstellerin zitierte Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Oktober 2015 - 8 B 1028/15 -, worin dieser festgestellt hat, dass die im Glücksspielstaatsvertrag erfolgte Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an ein aus 16 Vertretern der Länder bestehendes Glücksspielkollegium mit dem Bundesstaatsprinzip nicht vereinbar sei (juris, Rn. 35 ff.), keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Die Antragstellerin setzt sich an dieser Stelle im Übrigen auch nicht in der gebotenen Weise mit den vielfach vertretenen Gegenansichten auseinander, auf die bereits das Verwaltungsgericht verwiesen hatte (Beschlussabdruck, S. 10).</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur Nds. OVG, Beschluss vom 8. Februar 2018 ‑ 11 ME 130/17 -, juris, Rn. 8; Hamb. OVG, Urteil vom 22. Juni 2017 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=MWRE170007120">4 Bf 160/14 </a>-, juris, Rn. 150; Bay. VerfGH, Entscheidung vom 25. September 2015 - Vf. 9-VII-13 -, juris, Rn. 144 f., m. w. N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Juni 2016 - 3 K 5661/14 -, juris, Rn. 141; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. Mai 2016 - 19 K 3334/14 -, juris, Rn. 168; Dietlein, Verfassungsfragen des Glücksspielkollegiums nach § 9a GlüStV 2012, Gutachten 2015, S. 22 f.; Makswit, Auswirkungen des Föderalismus im Glücksspielrecht, 2015, S. 247.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">c. Dass der KJM gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 JMStV zwei Mitglieder angehören, die von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde entsandt werden, führt schließlich auch nicht zu einer verfassungswidrigen Mischverwaltung.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Liesching, in:               Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15.12.2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-14-Gl-C">§ 14, Rn. 9</a>, m. w. N.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 150 ff.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine verwaltungsorganisatorische Erscheinungsform nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie als Mischverwaltung einzuordnen ist, sondern nur, wenn ihr zwingende Kompetenz- oder Organisationsnormen oder sonstige Vorschriften des Verfassungsrechts entgegenstehen. Es gibt keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach Verwaltungsaufgaben ausschließlich vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, sofern nicht ausdrückliche verfassungsrechtliche Regeln etwas anderes zulassen. Grundsätzlich gilt allerdings, dass der Verwaltungsträger, dem durch eine Kompetenznorm des Grundgesetzes Verwaltungsaufgaben zugewiesen worden sind, diese Aufgaben durch eigene Verwaltungseinrichtungen – mit eigenen personellen und sächlichen Mitteln – wahrnimmt. In diesem Sinn kann von einem „Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ gesprochen werden. Für das Abgehen von dem „Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ bedarf es eines besonderen sachlichen Grundes. Die Heranziehung an sich unzuständiger Verwaltungseinrichtungen kann nur hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie in Betracht kommen.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu der im Grundgesetz angelegten Unterscheidung zwischen Bundes- und Landesverwaltung BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=BVRE100778309">2 BvL 23/81 </a>-, juris, Rn. 124 ff.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon liegt keine verfassungswidrige Mischverwaltung vor.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Es fehlt bereits das eine Mischverwaltung kennzeichnende Element gemeinsamer Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben. Die KJM dient – wie bereits ausgeführt – der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 14 Abs. 1 JMStV; sie ist mithin in die Verwaltungsstruktur des jeweiligen Bundeslandes eingegliedert. Die Entscheidungen der KJM werden rechtlich der zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet. Eine Doppelzuständigkeit wird daher schon nicht begründet.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-A-III-1">§ 14 JMStV, Rn. 10</a>; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-14-GL-IV-3">§ 14 JMStV, Rn. 14</a>, m. w. N.; Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/Cole/Wagner, Medienstaatsvertrag, JMStV, 86. AL 3/2021, § 14, Rn. 1 und 3 sowie § 20, Rn. 5 und 40.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Überdies liegt auch ein besonderer sachlicher Grund für die Einbeziehung zweier Mitglieder von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde vor. Es bedarf zur Erreichung eines einheitlichen Jugendschutzes sowohl bei Rundfunk und Telemedien als auch bei „Offline“-Medien einer Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Während die Länder mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag Online-Medien regeln, ist der Bund mit dem Jugendschutzgesetz für den Jugendschutz bei Trägermedien wie Büchern, CDs und DVDs zuständig. Aufgrund der konkurrierenden Gesetzgebung für den Bereich der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), die auch den Jugendschutz erfasst,</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. März 2017 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE419451701">1 BvR 1314/12</a> -, juris, Rn. 116, und vom 4. Mai 1971 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE290198902">2 BvL 10/70</a> -, juris, Rn. 21,</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">müssen beide Regelungen eng verwoben sein, sich ergänzen und durch ihr gesetzliches Zusammenwirken Schutz vor jugendbeeinträchtigenden und -gefährdenden Einflüssen in der Öffentlichkeit und in den Medien bieten.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Zu der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern vgl. Liesching, in: Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15. Dezember 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-1-Gl-A-I">§ 1 JMStV, Rn. 1 f.</a>, m. w. N.; Schwartmann/Hentsch, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BorErdKoJSchSV-G-JMStV-P-1-GL-B">§ 1, Rn. 3</a>; Frey/Dankert, Zu den Novellierungsplänen von Bund und Ländern für das Jugendschutzgesetz (JuSchG) und den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV), in: CR 2020, <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jzs-CR-2020-09-0626-01-A-013">626, Rn. 1</a>; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 1. Aufl. 2007, S. 42 f. und 94.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Hierzu soll die in § 14 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 JMStV vorgesehene Entsendung von zwei Mitgliedern durch die für den Jugendschutz zuständige oberste Bundesbehörde beitragen.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-A-III-1">§ 14 JMStV, Rn. 11</a>.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">2. Das von der Antragstellerin beanstandete Verfahren zum Vollzug gegen Anbieter von Telemedien dürfte mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) vereinbar sein. Die der KJM zugewiesenen weitreichenden Entscheidungsbefugnisse sind unter Berücksichtigung der Besonderheiten der (Tele-)Medienaufsicht zur Begrenzung des staatlichen Einflusses sachlich gerechtfertigt.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Zu der (bejahten) Frage der Anwendbarkeit des Demokratieprinzips auf Maßnahmen der Landesmedienanstalten und der KEK vgl. Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 500 ff.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Der vom Demokratieprinzip geforderte Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor allem durch die Wahl des Parlaments, durch die von ihm beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt, durch den parlamentarischen Einfluss auf die Politik der Regierung sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung hergestellt. In personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk zurückführen lässt. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird durch Gesetzesbindung und Bindung an Aufträge und Weisungen der Regierung vermittelt.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 25.19 -, juris, Rn. 34, m. w. N. aus der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">a. Zwar ist die demokratische Legitimation der KJM nach diesen Grundsätzen nur schwach ausgeprägt. Dies betrifft mit Blick auf die Besetzung der KJM zum einen die personelle Legitimation. Gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 JMStV besteht die KJM aus zwölf Personen („Sachverständigen“). Hiervon werden nach Satz 2 der Vorschrift sechs Mitglieder aus dem Kreis der Direktoren der Landesmedienanstalten (Nr. 1), vier Mitglieder von den für den Jugendschutz zuständigen obersten Landesbehörden (Nr. 2) und zwei Mitglieder von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde (Nr. 3) entsandt. Während hinsichtlich der von den obersten Bundes-/Landesjugendschutzbehörden entsandten Mitglieder eine mittelbare personelle demokratische Legitimation besteht, ist dies hinsichtlich der von den Landesmedienanstalten entsandten Direktoren nur in den Bundesländern Baden-Württemberg, Saarland, Berlin und Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein sowie Sachsen der Fall, wo die Mitglieder der Entscheidungsgremien vom Landtag bzw. von der Bürgerschaft mit einer Mehrheit von zwei Dritteln gewählt werden. Demgegenüber fehlt es den Direktoren der Landesmedienanstalten in Bayern, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an einer unmittelbaren personellen demokratischen Legitimation, da diese von Entscheidungsgremien gewählt werden, die überwiegend keine vom Volk gewählten Vertretungen sind.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu ausführlich Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 114 f. und 143 ff., m. w. N.; Dörr, Die Bestimmung des § 58 des Saarländischen Mediengesetzes (SMG) und die Vorgaben der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG), Kurzgutachten im Auftrag der Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen, abrufbar unter https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/medien/pdf/gutachten-direktorinnen-wahl-landesmedienanstalt.pdf; siehe auch die Auflistung auf S. 26 der Beschwerdebegründung vom 3. Januar 2022.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Wegen der Weisungsfreiheit ihrer Mitglieder (§ 14 Abs. 7 Satz 1 JMStV), die eine Einflussnahme der Volksvertretungen – gegebenenfalls über die zuständigen Ressortminister – auf das Abstimmungsverhalten ausschließt, ist zum anderen auch die sachlich-inhaltliche Legitimation zurückgenommen.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">So auch für die ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">b. Die beschriebenen Lockerungen des parlamentarischen Verantwortungszusammenhangs dürften aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl. für die ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 6.19, juris, Rn. 38, und für die KJM OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 65 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 19 ff., m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 19 ff.; Bornemann/von Coelln/Hepach/Himmelsbach/Gundel, Bayerisches Mediengesetz, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BoCoHeHiLoLBBayMedR-G-BayMG-A-6-GL-9-9-1-9-1-3-9-1-3-2">Art. 6, Rn. 227 f</a>f.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kom-mission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 148 f.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">aa. Ungeachtet der Frage, ob Telemedien unter den verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriff des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG fallen,</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">dafür Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-RFunkStVertr-P-59-GL-A-III-1">§ 59 RStV, Rn. 9, m. w. N</a>.; Kunisch, Verfassungswidrige Telemedienaufsicht durch Regierungsstellen - Aufsicht über Internetdienste im Schutzbereich der Rundfunkfreiheit, MMR 2011, 796, 798 m. w. N.; so – ohne diese Frage ausdrücklich entschieden zu haben – wohl auch Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, juris, Rn. 29, m. w. N., und Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 21, m. w. N.; a. A. Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308; Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. 7. Auflage 2018, Art. 5, Rn. 252, m. w. N., was aber die Übertragung des Schutzes der Rundfunk- oder Pressefreiheit durch Analogie im Einzelfall nicht ausschließe,</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">wird es jedenfalls ganz überwiegend für zulässig erachtet, den vom Bundesverfassungsgericht aus der Rundfunkfreiheit entwickelten Grundsatz der Staatsferne auch auf den Bereich der Aufsicht über die Telemedien zu erstrecken.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Vgl. Erdemir, Die Kommission für Jugendmedienschutz, RDJB 2006, 285, 288, m. w. N.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 210, m. w. N.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 109 f.; Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308; siehe im Ergebnis auch Cornils, „Staatsferner“ Jugendmedienschutz als Verfassungsgebot: ein Missverständnis, DÖV 2022, 1, 10; a. A. Holznagel, Kein Staatsfernegebot für das NetzDG, in: CR 2022, 245, 246 f. m. w. N., wonach das Staatsfernegebot nur im Bereich der sog. positiven Rundfunkordnung gilt.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Für die Begrenzung des staatlichen Einflusses im Bereich der Aufsicht von Telemediendiensten sprechen sachliche Gründe. Die Reglementierung jugendgefährdender Inhalte erfordert wertende Entscheidungen, die eine gewisse Gefahr einer politischen Instrumentalisierung zur Einflussnahme auf die freie Kommunikation bergen. Die Kontrolle der Einhaltung jugendschutzrechtlicher Standards im Internet ist immer auch Inhaltskontrolle.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Der KJM ist es aufgrund ihrer weitreichenden Zuständigkeiten möglich, zumindest mittelbar Einfluss auf die freie Kommunikation zu nehmen, weshalb eine Erstreckung der staatsfernen Aufsicht über den Rundfunk hinaus auf den vorliegend betroffenen Bereich der Telemedien als zulässig erscheint. Gemäß § 16 Satz 1 JMStV ist die KJM zuständig für die abschließende Beurteilung von Angeboten nach diesem Staatsvertrag. Insbesondere ist sie zuständig für die Überwachung der Bestimmungen des Staatsvertrags (§ 16 Satz 2 Nr. 1 JMStV), wobei sie gemäß § 20 Abs. 4 JMStV als zuständiges Organ der jeweils örtlich zuständigen Landesmedienanstalt für Anbieter von Telemedien entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 RStV die jeweilige Entscheidung und damit schwerwiegende Maßnahmen bis hin zur Untersagung und Sperrung von Angeboten trifft. Zudem ist sie gemäß § 16 Satz 2 Nr. 9 JMStV auch zuständig für die Entscheidung über Ordnungswidrigkeiten nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Anlass zu einer abweichenden Beurteilung bietet auch nicht das von der Antragstellerin zitierte rechtliche Kurzgutachten für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Prof. Dr. Eifert zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Aufsicht über die Einhaltung der strukturellen Vorsorgemaßnahmen durch die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz nach §§ 24a, 24b des Referentenentwurfs des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes,</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">https://fragdenstaat.de/anfrage/verfassungsrechtliches-gutachten-von-eifert-zum-juschgandg/553548/anhang/EifertKurzgutachtenAufsichtberangemesseneVorsorgemanahmen.pdf.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Vielmehr heißt es darin (S. 11), dass Art. 5 Abs. 1 GG eine Ausgestaltung von Entscheidungsgremien und -verfahren legitimieren könne, die den Staatseinfluss begrenze, ohne dass dies verfassungsrechtlich geboten wäre. Soweit dafür aus demokratischer Sicht eine Plausibilität grundrechtlich relevanter Gefährdungspotentiale staatlicher Einflussnahme gefordert wird, liegt diese aus den vorstehend genannten Gründen vor.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">bb. Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrer erstmals mit Schriftsatz vom 3. August 2022 – und damit ohnehin außerhalb der einmonatigen Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO – hilfsweise erhobenen Rüge durch, die KJM sei nicht pluralistisch besetzt, wenn die Anwendbarkeit des Gebots der Staatsferne unterstellt wird.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Der Staatseinfluss im Bereich der Telemedienaufsicht soll durch die Errichtung verschiedener Gremien, u. a. der KJM, die nach Maßgabe der Staatsverträge die maßgebenden Entscheidungen zu treffen haben und deren Zusammensetzung und Aufgaben im Einzelnen festgelegt sind, begrenzt werden. Die Unabhängigkeit der KJM wird durch deren in § 14 Abs. 4 JMStV geregelte politik- und staatsferne Zusammensetzung gestärkt, indem von der Mitgliedschaft in der KJM Mitglieder und Bedienstete der Institutionen der Europäischen Union, der Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, Gremienmitglieder und Bedienstete von Landesrundfunkanstalten der ARD, des ZDF, des Deutschlandradios, des Europäischen Fernsehkulturkanals „ARTE“ und der privaten Rundfunkveranstalter oder Anbieter von Telemedien sowie Bedienstete von an ihnen unmittelbar oder mittelbar im Sinne von § 28 RStV beteiligten Unternehmen ausgeschlossen sind. Die Mitglieder der KJM, deren Amtsdauer fünf Jahre beträgt (§ 14 Abs. 3 Satz 4 JMStV), sind zudem nicht an Weisungen gebunden (§ 14 Abs. 7 Satz 1 JMStV). Entscheidungen, die unter Verletzung dieser Aufgaben- und Zuständigkeitszuweisung getroffen werden, sind rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 66; Bay. VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 21, m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 21; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 33 ff.; VG Berlin, Urteil vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 131; kritisch Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 123.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber bedarf es keiner strikten Umsetzung des Pluralismusgebots, um den staatlichen Einfluss zu begrenzen. Vielmehr genügt es, dass die Kontrolleinrichtung mit Vertretern besetzt ist, die für die Beurteilung des jugendgefährdenden Charakters von Medien besonders qualifiziert sind.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu ausführlich Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 136 ff. m. w. N.; sowie in Bezug auf die KEK Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 468 ff., insbesondere S. 490 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Beschwerde angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zusammensetzung der ZDF-Aufsichtsgremien, wonach strenge Anforderungen an die plurale Zusammensetzung der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu stellen sind, da diesen innerhalb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt weitreichende Befugnisse hinsichtlich der Programmgestaltung und die Geschäftsführung überwachende Aufgaben übertragen sind.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 25. März 2014 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE405351401">1 BvF 1/11</a>, 1 BvF 4/11 -, juris, Rn. 51 ff.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die dort aufgestellten Grundsätze, insbesondere die „2/3-Regel“, wonach der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen darf, können auf die KJM nicht übertragen werden. Zwar hat die KJM – wie bereits ausgeführt – grundsätzlich gewisse Einflussnahmemöglichkeiten auf die Programmgestaltung privater Rundfunk- und Telemedienanbieter. Dieser ist jedoch nicht mit der Reichweite und dem Inhalt der Berichterstattung betreffenden Befugnisse der Gremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vergleichbar, zumal der nicht pluralistisch, sondern zur Gewährleistung einer effektiven Kontrolle gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 JMStV a. F. ausdrücklich mit „12 Sachverständigen“ zu besetzenden KJM kein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht,</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">vgl. zu § 5 JMStV BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2017 ‑ 6 C 10.15 -, juris, Rn. 33 ff.; VG Berlin, Urteil vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 63; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht VwGO, Werkstand: 42. EL Februar 2022, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SchochKoVwGO-G-VwGO-P-114-S-66">§ 114, Rn. 139</a>, m. w. N.; Altenhain, in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Handbuch Multimedia-Recht, 58. EL März 2022, Teil 20 D., II. 4., Rn. 199,</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">sondern ihren die Entscheidung tragenden Bewertungen nur die Bedeutung einer sachverständigen Aussage eingeräumt wird.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 ‑ 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 27; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 68; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 35; a. A. Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, § 14, Rn. 31, der fordert, dass oberste Bundes- und Landesbehörden keine eigenen Bediensteten entsenden dürfen.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Zudem dient die im vorliegenden Zusammenhang erstrebte Begrenzung des Staatseinflusses im Kontext der auf den Jugendschutz begrenzten Aufgabe der KJM auch nicht der Sicherung der – anders als im Fall der ZDF-Aufsichtsgremien nicht in Rede stehenden – Vielfalt im Angebot der privaten Rundfunk- und der Telemedienanbieter, sondern, wie bereits ausgeführt, „nur“ der Verhinderung einer politischen Instrumentalisierung jugendschutzrechtlicher Entscheidungen.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 ‑ 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 27; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 68; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 35.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">cc. Erscheint die abgeschwächte demokratische Legitimation der KJM nach alldem aufgrund der beabsichtigten Begrenzung des Staatseinflusses gerechtfertigt, lässt sich die Annahme des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, die im Glückspielstaatsvertrag erfolgte Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an ein aus 16 Vertretern der Länder bestehendes Glücksspielkollegium sei mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar,</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 16. Oktober 2015 ‑ 8 B 1028/15 -, juris, Rn. 41 ff.,</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">schon nicht auf die KJM übertragen.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Kirchhof, Die demokratische Legitimation der länderübergreifenden Kommissionen im Rundfunkrecht – dargestellt anhand der aktuellen Debatte über das Glücksspielkollegium, <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jzs-AFP-2016-06-0502-1-A-04">AfP 2016, 502, 505 f</a>.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">dd. Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 (AVMD-Richtlinie), wonach jeder Mitgliedstaat eine oder mehrere nationale Regulierungsbehörden oder -stellen benennt und dafür sorgt, dass diese rechtlich von Regierungsstellen getrennt und funktionell unabhängig von ihren jeweiligen Regierungen und anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen sind,</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu VG Köln, Beschluss vom 1. März 2022 ‑ 6 L 1277/21 -, juris, Rn. 105 ff.,</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">vorliegend Anwendung findet und bejahendenfalls für den Bereich jugendschützender Aufsicht das Gebot der Staatsferne statuiert, kommt es daher nicht an.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">c. Soweit die Antragstellerin rügt, dass es an der erforderlichen Rechts- und Fachaufsicht über die KJM fehlt, lässt sie unberücksichtigt, dass die KJM nach § 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV als Organ der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt handelt, die ihrerseits der Rechtsaufsicht unterliegt (vgl. § 117 Abs. 1 LMG NRW). Eine Fach- oder Zweckmäßigkeitsaufsicht würde demgegenüber der erstrebten Begrenzung staatlicher Einflüsse zuwiderlaufen.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Vgl. Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 192; Hesse, Die Organisation privaten Rundfunks in der Bundesrepublik, DÖV 1986, 177, 187.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich bestehen auch im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz der Zuständigkeits- und Verantwortungsklarheit vor. Wie bereits ausgeführt, ist zweifelsfrei klargestellt, dass die Aufgabenwahrnehmung im Außenverhältnis nicht der KJM, sondern der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet wird.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Für die ZAK vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 6.19 -, juris, Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">III. In materieller Hinsicht zieht die Antragstellerin die Beurteilung des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht durchgreifend in Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">1. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Bescheid unter den Ziffern 1 und 2, soweit sie Gegenstand des vorliegenden Eilverfahrens sind, hinreichend bestimmt ist.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Inhaltlich hinreichende Bestimmtheit im Sinne von § 37 Abs. 1 VwVfG NRW setzt voraus, dass für den Adressaten des Verwaltungsakts die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach richten kann. Etwaige Unklarheiten sind unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots unschädlich, sofern sie sich im Wege der Auslegung des Verwaltungsakts beseitigen lassen. Dabei kommt es auf den objektiven Empfängerhorizont und mithin darauf an, wie der Betroffene nach den ihm bekannten oder ohne weiteres erkennbaren Umständen den Verwaltungsakt unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen musste.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 13 ff., vom 27. Juni 2012 - 9 C 7.11 -, juris, Rn. 11, und vom 3. Dezember 2003 - 6 C 20.02 -, juris, Rn. 17, sowie Beschluss vom 6. September 2008 - 7 B 10.08 -, juris, Rn. 24.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt der streitgegenständliche Bescheid.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">a. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass nicht unklar ist, ob sich die ausgesprochene Beanstandung und Untersagung auf das gesamte Telemedienangebot der Antragstellerin oder nur auf die Teile beziehen, die aus Sicht der Antragsgegnerin gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag verstoßen. Dass sich sowohl die Beanstandung als auch die Untersagung auf den Inhalt des Angebots der Antragstellerin beziehen, der gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV verstößt, lässt sich bereits aus der Zusammenschau der Ziffern 1 und 2 erkennen. Dabei konkretisiert die Antragsgegnerin in der Begründung (vgl. S. 6 f. des Bescheids), worin die Verstöße gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m Satz 2 JMStV liegen. Damit einhergehend veranschaulicht sie, was mit „in dieser Form“ gemeint ist, indem sie auf verschiedene im Einzelnen – nur beispielhaft – benannte pornografische Inhalte eingeht und grundlegend feststellt, dass pornografische Inhalte in Telemedien nur zulässig seien, wenn von Seiten des Anbieters durch das Einrichten einer geschlossenen Benutzergruppe sichergestellt sei, dass die Inhalte nur Erwachsenen zugänglich gemacht würden (§ 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV). Danach wird für die Antragstellerin als sachkundiger Betreiberin der Website hinreichend deutlich, dass sich die Beanstandung und Untersagung auf – sämtliche – in ihrem Telemedienangebot enthaltenen pornografischen Inhalte bezieht.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">b. Vor diesem Hintergrund ist – entgegen der Auffassung der Antragstellerin – auch nicht unklar, in welchem Umfang welche konkreten Inhalte die Antragsgegnerin hat beanstanden oder künftig untersagen wollen. Die in dem Bescheid genannten Beispiele dienen lediglich zum Beleg, dass auf der Seite der Antragstellerin pornografische Inhalte enthalten sind, die gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV nur dann zulässig sind, wenn von Seiten des Anbieters sichergestellt ist, dass sie nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden (geschlossene Benutzergruppe). Dementsprechend folgt aus Ziffer 2 Satz 3 des Bescheids, dass die Antragstellerin ihre Verpflichtung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV erfüllt, wenn sie die, d. h. alle, pornografischen Inhalte von ihrem Angebot entfernt oder eine geschlossene Benutzergruppe einrichtet, durch die sichergestellt wird, dass nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhalten. Letzteres wird auf S. 9 des Bescheids dahingehend erläutert, dass der Anbieter (pornografischer Inhalte) seiner Pflicht dadurch entsprechen könne, dass er durch technische oder sonstige Mittel die Wahrnehmung des Angebots durch Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersstufe unmöglich macht oder wesentlich erschwert oder das Angebot mit einer Alterskennzeichnung versieht, die von geeigneten Jugendschutzprogrammen nach § 11 Abs. 1 und 2 JMStV ausgelesen werden können. Mit Angebot sind dabei – aus den vorstehend genannten Gründen – sämtliche pornografischen Darstellungen gemeint. Es kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Antragstellerin als Betreiberin als auch die mit dem Vollzug der Untersagungsverfügung befassten Mitarbeiter über die erforderliche Sachkunde verfügen, um auf der Grundlage des Verfügungsausspruchs und des bei Erlass des Bescheids festgestellten Angebots der Antragstellerin erkennen zu können, inwieweit es sich bei den von der Antragstellerin zukünftig gezeigten Inhalten um pornografische handelt.</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">c. Genauso wenig dringt die Antragstellerin mit ihrer weiteren Rüge durch, unklar sei, ab wann die in Ziffer 2 Satz 2 (vermeintlich) verfügte Untersagung greifen solle. Die Formulierung „Die Verbreitung des Angebots in dieser Form wird <em>zukünftig</em> untersagt“ konnte nicht dahingehend verstanden werden, dass eine Untersagung – in Zukunft – noch ergehen wird. Vielmehr war der Zusatz „zukünftig“ so zu verstehen – und wurde im Übrigen auch von der Antragstellerin selbst so verstanden –, dass die Antragsgegnerin die Verbreitung des Angebots in der beanstandeten Form für die Zukunft – d. h. ab Bescheidzustellung – untersagt hat. Für ein solches Verständnis spricht insbesondere auch, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen nach § 4 JMStV keine aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 20 Abs. 5 Satz 3 JMStV).</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">2. Mit ihrem Beschwerdevorbringen zeigt die Antragstellerin auch nicht auf, dass ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. Die Rüge der Antragstellerin, es fehle an einem „systemgerechten“ Vorgehen der Antragsgegnerin, greift nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 23,</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">zutreffend ausgeführt (Beschlussabdruck, S. 21 f.), dass das Einschreiten der Antragsgegnerin allein am Maßstab der Willkür zu messen sei. Dabei stelle sich das Einschreiten einer Behörde, die den Einsatz ihrer begrenzten Ressourcen nicht an einem Plan ausrichtet, nicht als willkürlich dar, wenn sie Anhaltspunkten für Gesetzesverstöße nachgeht und einschreitet, sobald sie im regulären Gang der Verwaltung die Überzeugung gewonnen hat, dass die Voraussetzungen für ein Einschreiten gegeben sind. Sie ist vor dem Gleichheitsgebot nicht gehalten, ein Handlungskonzept für die zeitliche Reihenfolge des Einschreitens gegen mehrere Störungen aufzustellen oder gar Störungen, für die ein Einschreiten in Betracht kommt, zu ermitteln, um dann gestuft nach der Schwere der Verstöße einzuschreiten.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe überspannt die Antragstellerin die Anforderungen an das Willkürverbot, wenn sie – ohne hinreichende Auseinandersetzung mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts – meint, das Einschreiten der Antragsgegnerin, die über kein Entschließungs-, sondern lediglich über ein Auswahlermessen hinsichtlich der „erforderlichen“ Maßnahme verfügt,</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 - 27 K 93.16 -, juris, Rn. 71, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">erfordere ein „systemgerechtes“ Vorgehen, um willkürfrei zu sein. Das Willkürverbot ist vielmehr erst dann verletzt, wenn sich ein sachlicher Grund für ein staatliches Handeln nicht finden ließe.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 20 f., 23; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2020 - 13 B 1696/19 -, juris, Rn. 53, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Danach ist das Einschreiten der Antragsgegnerin gegen die Antragstellerin nicht willkürlich. Sie ist aufgrund des – von der Antragstellerin schon nicht in Abrede gestellten – Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV zum Einschreiten gegen die Antragstellerin gemäß § 20 Abs. 1 und 4 JMStV verpflichtet gewesen. Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass die Antragsgegnerin qualitative Gesichtspunkte – wie Art, Dauer und Häufigkeit von Verstößen gegen das JMStV – hätte berücksichtigen müssen, übersieht sie, dass das Willkürverbot nicht bereits verletzt ist, wenn nicht die zweckmäßigste oder gerechteste Regelung getroffen wird, sondern erst, wenn schlechterdings keine sachlichen Gründe erkennbar sind. Letzteres legt die Antragstellerin nicht dar. Insbesondere macht sie schon nicht geltend, dass das von der Antragsgegnerin herangezogene Kriterium der Reichweite sachwidrig ist. Zudem legt sie auch nicht in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar, dass sie über eine geringere Reichweite verfügt, als die von ihr benannten konkurrierenden Angebote mit pornografischen Inhalten. Allein der Hinweis darauf, dass ihr Telemedienangebot in der Vergangenheit seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert wurde, genügt hierfür nicht.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen setzt sich die Antragstellerin in diesem Zusammenhang auch nicht mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinander (Beschlussabdruck, S. 22 f.), wonach die Antragsgegnerin nicht nur gegen die Antragstellerin, sondern auch gegen andere, im Einzelnen benannte Angebote mit pornografischen Inhalten vorgegangen sei.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich kann auch die Rüge der Antragstellerin, es liege ein Verstoß gegen das Herkunftslandprinzip vor, nicht zur Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts führen.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Zwar wird gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 TMG in der Fassung vom 1. April 2015 (im Folgenden: TMG a. F.) der freie Dienstleistungsverkehr von Telemedien, die in der Bundesrepublik Deutschland von Dienstanbietern geschäftsmäßig angeboten oder erbracht werden, die in einem anderen Staat innerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinien 2000/31/EG (E-Commerce-RL) und 89/552/EWG niedergelassen sind, nicht eingeschränkt. Allerdings bleibt § 3 Abs. 5 TMG a. F. nach § 3 Abs. 2 Satz 2 TMG a. F. unberührt. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMG a. F. lässt eine einzelfallbezogene Durchbrechung des Herkunftslandprinzips zu, wenn die Maßnahmen dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere im Hinblick auf die Verhütung, Ermittlung, Aufklärung, Verfolgung und Vollstreckung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, einschließlich des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen sowie die Wahrung nationaler Sicherheits- und Verteidigungsinteressen, vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient und die auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts in Betracht kommenden Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Schutzzielen stehen. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F. sind für das Verfahren zur Einleitung von Maßnahmen nach Satz 1 – mit Ausnahme von gerichtlichen Verfahren einschließlich etwaiger Vorverfahren und der Verfolgung von Straftaten einschließlich der Strafvollstreckung und von Ordnungswidrigkeiten – die in Art. 3 Abs. 4 und 5 der E-Commerce-RL vorgesehenen Konsultations- und Informationspflichten zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde zieht die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass diese Voraussetzungen für eine einzelfallbezogene Ausnahme vom Herkunftslandprinzip vorliegen, nicht durchgreifend in Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">a. Die Beschwerde legt nicht hinreichend dar, dass die streitgegenständliche Maßnahme nicht dem Schutz des – von der Antragstellerin nicht in Abrede gestellten – Schutzziels „Jugendschutz“ vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zwar offengelassen (Beschlussabdruck, S. 28), ob und gegebenenfalls wie der Gefahrbegriff in Art. 3 Abs. 4 a ii ECRL bzw. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMG a. F. allgemeingültig zu definieren ist. Es hat aber festgestellt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union seine Prüfung einer Einzelfallausnahme zum Herkunftslandprinzip nach der Zielsetzung der Maßnahme, ihrer Eignung zur Zielerreichung sowie der Frage ausrichte, ob sie über das hinausgehe, was zur Zielerreichung erforderlich sei. Im Weiteren hat es unter Bezugnahme auf verschiedene im Einzelnen benannte Studien angenommen, dass der Konsum pornografischer Inhalte durch Kinder und Jugendliche jedenfalls eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMF a. F. darstelle. Auf dieser Grundlage hat das Verwaltungsgericht dargelegt, dass Kinder und Jugendliche fast ausnahmslos Zugang zum Internet haben und in diesem Rahmen in erheblichem Umfang unzulässige Pornografie konsumieren. Ausgehend von der näher dargestellten Datengrundlage hat es weiter keinen Anlass gesehen, die Einschätzung der Antragsgegnerin zu beanstanden, wonach es hinreichend wahrscheinlich sei, dass zumindest diejenigen Kinder und Jugendlichen, die gezielt Pornografie konsumierten, jedenfalls auch das Angebot der Antragstellerin in Anspruch nähmen. Schließlich hat es angenommen, der Einschätzung einer ernsthaften und schwerwiegenden Gefahr dürfte auch nicht entgegenstehen, dass wissenschaftlich teilweise umstritten sei, welcher tatsächliche Schaden für Kinder und Jugendliche infolge des Konsums unzulässiger Pornografie entstehen könne. In Bezug auf Gesundheitsgefahren, die gemäß § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG a. F. ebenfalls Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip begründen könnten, betone der EuGH u. a. im Kontext mit Gefahren für die sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung regelmäßig, dass ein Mitgliedstaat, wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung der Gefahren für die menschliche Gesundheit bleibe, Schutzmaßnahmen treffen könne, ohne warten zu müssen, bis der Beweis für das tatsächliche Bestehen dieser Gefahren vollständig erbracht sei. Demnach müsse weder der deutsche Gesetzgeber noch die Antragsgegnerin warten, bis nachweislich in erheblichem Umfang Schädigungen bei jungen Erwachsenen auf den Konsum unzulässiger Pornografie in ihrer Kindheit und Jugend wissenschaftlich zurückgeführt werden könnten. Zusammengefasst geht das Verwaltungsgericht also davon aus, dass die Gefahr für das mit hohem Stellenwert ausgestattete Schutzgut des Jugendschutzes mithin in der zu erwartenden Kenntnisnahme unzulässiger Pornografie durch Kinder und Jugendliche in unüberschaubarer Vielzahl (und der damit verbundenen möglichen Schäden für Kinder und Jugendliche und deren Entwicklung) besteht.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Mit dieser tragenden Erwägung und den ausführlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts dazu setzt sich die Antragstellerin nicht in der nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO gebotenen Weise auseinander. Der bloße Hinweis, das Verwaltungsgericht habe eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr nicht definiert, lässt die nötige inhaltliche Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung vermissen.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 146, Rn. 76.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Diese fehlt ebenfalls, soweit die Antragstellerin behauptet, auch die vom Verwaltungsgericht angeführten Studien und Daten könnten keine konkrete, sondern allenfalls eine abstrakte und damit keine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr begründen. Insbesondere legt die Antragstellerin ihrerseits nicht dar, dass der Konsum pornografischer Inhalte keine konkrete Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellt. Insoweit setzt sich die Antragstellerin weder mit den vom Verwaltungsgericht angeführten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union auseinander, noch legt sie selbst Studien oder sonstige Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch den Konsum pornografischer Inhalte vernünftigerweise ausgeschlossen werden kann. Dies folgt insbesondere nicht aus dem Zitat des Professors für Psychologie und Sexualwissenschaft Weller aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">https://www.waz.de/politik/landespolitik/nrws-langerkampf-gegen-sexfilm-portale-wie-youporn-oder-xhamster-id231176316.html.</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Vielmehr gibt dieser darin an, dass eine Studie aus Münster 2017 zu dem Schluss gekommen sei, dass ein Drittel der befragten 14- bis 15-Jährigen bereits online einen Hardcore-Porno gesehen habe. Zu den Folgen des Konsums pornografischer Inhalte verhält er sich im Weiteren nicht. Genauso wenig legt die Antragstellerin Nachweise oder Ähnliches für ihre durch nichts weiter substantiierte Behauptung vor, dass Jugendliche ihre Website nicht oder kaum konsumieren würden. Auch an dieser Stelle ist allein der Hinweis darauf, dass ihr Angebot seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde, unzureichend.</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">b. Anders als die Antragstellerin meint, stehen die angegriffenen Maßnahmen auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel des Jugendschutzes.</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Nach der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union decken sich die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gemäß des durch § 3 Abs. 5 TMG a. F. umgesetzten Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der E-Commerce-RL weitgehend mit denen, die für jede Beschränkung der durch die Art. 34 und 56 AEUV garantierten Grundfreiheiten gelten. Deshalb ist bei der Beurteilung der Unionsrechtmäßigkeit der in Rede stehenden innerstaatlichen Regelung die zu diesen Vorschriften des AEU-Vertrags ergangene Rechtsprechung zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 1. Oktober 2020 - C-649/18 -, juris, Rn. 64.</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Danach muss die in Rede stehende Beschränkung der durch Art. 56 AUEV garantierten Dienstleistungsfreiheit geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten (vgl. hierzu unter aa.), und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. unter bb.). Ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. unter cc.).</p> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 3. Februar 2021 - C-555/19 -, juris, Rn. 107, vom 28. Januar 2016 - C-375/14 -, juris, Rn. 37, und vom 8. September 2009 - C-42/07 -, juris, Rn. 60, sowie allgemein zur Verhältnismäßigkeitsprüfung EuGH, Urteil vom 11. Juli 1989 ‑ 265/87 -, juris, Rn. 21; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-StreinzEUVAEUVKOEuR-G-AEUV-A-56-GL-II-5-a-dd">Art. 56, Rn. 109</a>.</p> <span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">aa. Die gegenüber der Antragstellerin ausgesprochene Beanstandung und Untersagung der Verbreitung pornografischer Inhalte ohne die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe i. S. d. § 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV stellt ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Schutzziels des Jugendschutzes dar.</p> <span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">Die Eignung liegt nur dann vor, wenn durch die Maßnahme das geltend gemachte zwingende Allgemeininteresse in kohärenter und systematischer Weise erreicht wird.</p> <span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 10. März 2009 - C-169/07 -, juris, Rn. 55, und vom 30. Juni 2011 - C-212/08 -, juris, Rn. 57; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-StreinzEUVAEUVKOEuR-G-AEUV-A-56-GL-II-5-a-dd">Art. 56 AEUV, Rn. 110</a> m. w. N.; zum nationalen Recht vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 - 1 BvR 1806/98 -, juris, Rn. 41.</p> <span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Das ist hier der Fall. Die von der Antragsgegnerin geforderte Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe, durch die die Antragstellerin anders als bislang sicherstellt, das nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhalten, ist geeignet, das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, einen Zugriff von Kindern und Jugendlichen auf pornografische Inhalte zu verhindern oder zumindest zu verringern.</p> <span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 2007 - I ZR 102/05 -, juris, Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt nicht mit ihrem Vortrag durch, im Internet seien zahlreiche pornografische Angebote zugänglich, die über keinerlei Jugendschutzmaßnahmen verfügten und daher die Entwicklung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen stärker beeinträchtigen oder gefährden würden. Allein die Existenz weiterer Sachverhalte, die ein behördliches Einschreiten erfordern, kann einer Maßnahme nicht die Eignung absprechen. Eine Untersagungsverfügung kann trotz des grenzüberschreitenden Charakters des Internets und des hierdurch eintretenden möglichen Vollzugsdefizits geeignet sein, die mit dieser Maßnahme verfolgten Ziele zu erreichen.</p> <span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 - 4 K 262/11 -, juris, Rn. 78, unter Verweis auf die Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts zum Glücksspielrecht: BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 8 C 5.10 -, juris, Rn. 35.</p> <span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin – außerhalb der einmonatigen Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO – vorträgt, eine Untersagung ihr gegenüber würde zu einer Verdrängung der Nutzer in Richtung der zahlreichen anderen pornografischen Internetangebote führen, die überhaupt keine Mechanismen für den Jugendschutz vorsähen, legt sie – auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass ihr Angebot seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde – schon nicht dar, dass das Jugendschutzziel hierdurch nicht mehr in kohärenter und systematischer Weise erreicht wird. Da Kinder und Jugendliche gleichwohl noch auf ihr Videoportal – auch außerhalb von Suchmaschinen – zugreifen können, ist jedenfalls weiterhin nicht ausgeschlossen, dass durch die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe dieser Zugriff verringert werden kann.</p> <span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009 ‑ <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE385690901">1 BvR 1231/04</a> -, juris, Rn. 5; OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2003 - 8 B 2567/02 -, juris, Rn. 70; Bay. VGH, Beschluss vom 26. November 2020 - 7 ZB 18.708 -, juris, Rn. 23; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 14 K 4086/07 -, juris, Rn. 76; vgl. zudem auch EuGH, Urteil vom 10. Juli 1980 - C-152/78-, juris, Rn. 17, der es ausreichen lässt, dass eine Regelung dem Gesundheitsschutz – zumindest – in gewissem Umfang dient.</p> <span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">bb. Zudem sind die angegriffenen Maßnahmen auch erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Eine Maßnahme darf nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehen; das gleiche Ergebnis darf mit anderen Worten nicht durch weniger einschneidende Regelungen erreichbar sein.</p> <span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 1991 - C-288/89 -, juris, Rn. 15, m. w. N.; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56, AEUV Rn. 111; zum nationalen Recht vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE305140201">- 1 BvR 1806/98</a> -, juris, Rn. 44, m w. N.</p> <span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Ein milderes, gleich wirksames Mittel, um den Jugendschutz zu gewährleisten, steht nicht zur Verfügung. Die gegenüber der Antragstellerin ausgesprochene Beanstandung, durch die die Antragsgegnerin den Verstoß der Antragstellerin gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV förmlich festgestellt und missbilligt hat,</p> <span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 2014 ‑ 6 B 3.14 -, juris, Rn. 20; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2015 - 13 A 1215/17 -, juris, Rn. 32 m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">stellt bereits das mildeste förmliche Mittel der behördlichen Medienaufsicht dar.</p> <span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 ‑ 27 K 93.16 -, juris, Rn. 113; VG Würzburg, Urteil vom 23. Februar 2017 - W 3 K 16.1292 -, juris, Rn. 125, m. w. N.; VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 ‑ 4 K 262/11 -, juris, Rn. 76; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 14 K 4086/07 -, juris, Rn. 74.</p> <span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin musste es auch nicht bei einer Beanstandung belassen, sondern konnte diese mit der Untersagung der Verbreitung des Angebots in der beanstandeten Form verbinden, um weitergehende Verstöße der Antragstellerin gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag möglichst wirksam zu unterbinden. Indem die Antragsgegnerin der Antragstellerin die Möglichkeit eröffnet hat, ihrer Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags auch dadurch nachzukommen, dass sie die Inhalte nur einer geschlossenen Benutzergruppe zugänglich macht, weist sie zudem auf eine gegenüber der Untersagung weniger einschneidende Möglichkeit hin.</p> <span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 ‑ 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 57.</p> <span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Insbesondere hätte das Ziel Jugendschutz nicht gleich wirksam erreicht werden können durch ein Abwarten bis zur (ungewissen) Umsetzung einheitlicher Jugendschutzvorschriften in Zypern. Der Verstoß gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV hätte bis dahin weiterhin fortgedauert.</p> <span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin rügt, dass das von ihr verwendete RTA-Label ein milderes Mittel gegenüber einem Altersverifikationssystem darstelle, legt sie schon nicht dar, dass es gleichermaßen zum Jugendschutz geeignet ist wie die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe. Dies ist aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen gerade nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Andere mildere, aber gleich geeignete Maßnahmen legt die Antragstellerin schon nicht in der gebotenen Weise dar. Diese sind auch sonst nicht erkennbar. Insbesondere würde durch die – wohl ohnehin eingriffsintensivere – Verpflichtung der Antragstellerin, pornografische Inhalte generell nur zu einer bestimmten Uhrzeit anzubieten, keine geschlossene Benutzergruppe eingerichtet.</p> <span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt schließlich auch nicht mit ihrer – erneut außerhalb der Begründungsfrist angebrachten und damit nicht mehr zu berücksichtigenden – Rüge durch, ein Austausch zwischen den Beteiligten zur Erzielung einer konsensualen Lösung stelle eine mildere Maßnahme dar. Unabhängig davon, ob dies rechtlich geboten war, hat zwischen den Beteiligten am 26. März 2020 per Videokonferenz ein solcher Austausch stattgefunden, ohne dass eine einvernehmliche Lösung gefunden werden konnte. Vielmehr teilte die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 9. April 2020 ihre abweichenden rechtlichen Ansichten mit. Im Übrigen lässt die Antragstellerin, soweit sie auf die seitens der Antragsgegnerin mit ihrem Konkurrenten y. geführten Gespräche abstellt,</p> <span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">vgl. https://www.berliner-zeitung.de/news/pornos-so-will-xhamster-den-jugendschutz-verbessern-li.250381,</p> <span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">unerwähnt, dass – wie sich auch aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ergibt (Beschlussabdruck, S. 23) – gegen diesen ebenfalls eine Beanstandungs- und Untersagungsverfügung wegen des Anbietens pornografische Telemedieninhalte ergangen war.</p> <span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">cc. Schließlich stehen die Maßnahmen auch in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen.</p> <span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 11. Juli 1989 - 265/87 -, juris, Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Dies erfordert eine Abwägung zwischen dem Schweregrad der Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit und dem Grad und der Gewichtigkeit des Zielgewinns unter Einbeziehung sämtlicher relevanter Gesichtspunkte.</p> <span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV 3. Auflage 2018, Art. 56, AEUV, Rn. 115, m. w. N.; zum nationalen Recht vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Oktober 1990 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE211459003">1 BvR 283/85 </a>-, juris, Rn. 74 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Offen bleiben kann, ob sich dies – wie vom Verwaltungsgericht angenommen (Beschlussabdruck, S. 33 ff.) – bereits aus der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch nicht umgesetzten AVMD-Richtlinie 2018 ergibt.</p> <span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">Zur Anwendungsabgrenzung vgl. Liesching, Das Herkunftslandprinzip der E-Commerce-Richtlinie und seine Auswirkung auf die aktuelle Mediengesetzgebung in Deutschland, 2020, S. 28, abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">https://library.oapen.org/bitstream/id/375c872a-962d-44ae-a946-a47d71d12d85/CG_978-3-941159-47-1.pdf.</p> <span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">Denn auch ohne Berücksichtigung der Regelungen und Erwägungen der AVMD-Richtlinie 2018 steht die Beschränkung der Antragstellerin in ihrer Berufsfreiheit sowie ihrer Dienstleistungsfreiheit nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel des Jugendschutzes.</p> <span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">Der Schutz der Rechte des Kindes ist durch verschiedene internationale Verträge anerkannt, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, so durch den am 19. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen und am 23. März 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und durch das am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene und am 2. September 1990 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte des Kindes.</p> <span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 39, und vom 27. Juni 2006 - C-540/03 -, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">Der Schutz des Kindes wird auch durch im Rahmen der Europäischen Union ausgearbeitete Rechtstexte gewährleistet, so durch die am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1), nach deren Art. 24 Abs. 1 Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind.</p> <span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 41; zum Verfassungsrang des Kinder- und Jugendschutzes vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1990 - 1 BvR 402/87 -, juris, Rn. 33; BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 1998 - 1 B 5.98 -, juris, Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf den hohen Stellenwert des Jugendschutzes müssen die Beeinträchtigungen der Antragstellerin in ihrer durch Art. 56 f. AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit zurücktreten. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin die Verbreitung des beanstandeten Angebots nicht vollständig untersagt, sondern dessen Verbreitung nur von der Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe abhängig gemacht hat. Etwaige finanzielle Einbußen, die aus der Beschränkung der Benutzergruppe bzw. dem Vorsehen einer technischen Alterskennzeichnung folgen könnten, hier jedoch in keiner Weise dargelegt wurden, sind angesichts der herausragenden Bedeutung des Jugendschutzes hinzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">So auch VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 ‑ 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 58; VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 - 4 K 262/11 -, juris, Rn. 80; VG Minden, Urteil vom 18. August 2010 - 7 K 721/10 -, juris, Rn. 39.</p> <span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt schließlich auch nicht mit ihrem Vortrag durch, dass in anderen Mitgliedstaaten weniger strenge Vorgaben an die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe gestellt werden. Denn allein der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat für andere Schutzmodalitäten als ein anderer Mitgliedstaat entschieden hat, kann keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der in diesem Bereich erlassenen nationalen Bestimmungen haben. Vielmehr kommt den Mitgliedstaaten – nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts – ein Wertungsspielraum zu, auf welchem Niveau sie den Jugendschutz gewährleisten wollen.</p> <span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Für den Bereich des Gesundheitsschutzes vgl. EuGH, Urteile vom 1. Oktober 2020 - C-649/18 -, juris, Rn. 71, und vom 18. September 2019 - C-222/18 -, juris, Rn. 71; zum Prüfverfahren zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material vgl. zudem EuGH, Urteil vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 49.</p> <span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">Dass dieser vorliegend überschritten wurde, legt die Antragstellerin weder dar, noch ist dies mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen sonst erkennbar.</p> <span class="absatzRechts">203</span><p class="absatzLinks">c. Das Beschwerdevorbringen vermag auch nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts zu erschüttern, die Antragsgegnerin habe die ihr nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b E-Commerce-RL (i. V. m. § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F.) obliegenden Konsultations- und Informationspflichten erfüllt. Danach hat der Mitgliedstaat, der Maßnahmen im Anwendungsbereich der Richtlinie ergreifen möchte, zuvor</p> <span class="absatzRechts">204</span><p class="absatzLinks">-          den Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, und</p> <span class="absatzRechts">205</span><p class="absatzLinks">-          dieser hat dem nicht Folge geleistet oder die von ihm getroffenen Maßnahmen sind unzulänglich;</p> <span class="absatzRechts">206</span><p class="absatzLinks">-          die Kommission und den Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, über seine Absicht, derartige Maßnahmen zu ergreifen, unterrichtet.</p> <span class="absatzRechts">207</span><p class="absatzLinks">Die erste Voraussetzung bedeutet, dass der Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, zuvor über die Schwierigkeiten unterrichtet worden sein und die Möglichkeit gehabt haben muss, selbst eine Lösung zu finden. Die zweite Voraussetzung besagt, dass die getroffenen Maßnahmen nach Auffassung des Bestimmungsmitgliedstaats unzureichend sein müssen. Gemäß der dritten Voraussetzung ist sowohl die Kommission als auch der Herkunftsmitgliedstaat vor dem Ergreifen von Maßnahmen zu informieren. So kann die Kommission ihre Aufgaben nach Absatz 6 ausüben. In der Richtlinie ist keine Frist vorgesehen, innerhalb derer der Staat des Anbieters auf die Unterrichtung durch den Bestimmungsmitgliedstaat des Anbieters reagieren muss. Doch haben die Mitgliedstaaten dem Amtshilfe- und Auskunftsbegehren anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission nach Artikel 19 Abs. 3 der Richtlinie „so rasch wie möglich“ nachzukommen.</p> <span class="absatzRechts">208</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Zentralbank, Anwendung von Art. 3 Abs. 4 - 6 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr auf Finanzdienstleistungen, KOM(2003) 259 endg. vom 14. Mai 2003, S. 7,</p> <span class="absatzRechts">209</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">210</span><p class="absatzLinks">https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2003:0259:FIN:DE:PDF.</p> <span class="absatzRechts">211</span><p class="absatzLinks">Die Unterrichtungspflicht dient dazu, einen Eingriff eines Mitgliedstaats in die grundsätzliche Zuständigkeit des Mitgliedstaats des Sitzes des betreffenden Anbieters des Dienstes der Informationsgesellschaft zu verhindern.</p> <span class="absatzRechts">212</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - C-390/18 -, juris, Rn. 95.</p> <span class="absatzRechts">213</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der E-Commerce-RL vorgesehene Pflicht zur Unterrichtung über eine Maßnahme, die den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft beschränkt, die von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Anbieter erbracht werden, führt daher dazu, dass diese Maßnahme dem Einzelnen nicht entgegengehalten werden kann.</p> <span class="absatzRechts">214</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 ‑ C-390/18 -, juris, Rn. 96.</p> <span class="absatzRechts">215</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben, die auch das Verwaltungsgericht zu Grunde gelegt hat (Beschlussabdruck, S. 36), zeigt die Antragstellerin nicht auf, dass die Antragsgegnerin ihren Konsultations- und Informationspflichten nicht nachgekommen ist. Zwar hat die Antragsgegnerin die zypriotischen Behörden nicht ausdrücklich dazu aufgefordert, Maßnahmen gegen die Antragstellerin zu ergreifen. Vielmehr hat sie „lediglich“ bei der Medienbehörde CRTA angefragt, ob es rechtliche Schritte gebe, die die CRTA einleiten könne, woraufhin die CRTA – die Annahme der Antragsgegnerin – bestätigt hat, dass sie nur für Radio und Fernsehen zuständig sei, aber keine Kompetenz für Video-Sharing Dienste habe. Nach dieser Auskunft wäre die Aufforderung an die zypriotischen Behörden, Maßnahmen zu ergreifen, in Ermangelung einer entsprechender Rechtsgrundlage allerdings von vornherein aussichtslos – und damit bloße Frömmelei – gewesen. Vor dem Hintergrund des vorstehend dargestellten Sinn und Zwecks der Unterrichtungspflicht wurden die Anforderungen des Art. 3 Abs. 4 Buchst. b E-Commerce-RL (i. V. m. § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F.) durch die mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 erfolgte Information der CRTA, dass beabsichtigt sei, gegenüber der Antragstellerin formale Maßnahmen zu ergreifen, hinreichend gewahrt. Hierdurch wurde den zypriotischen Behörden die Möglichkeit eingeräumt, selbst Maßnahmen zu ergreifen. Spätestens mit der Mitteilung der CRTA vom 29. Oktober 2019 an die Antragsgegnerin, dass keine Vorbehalte gegen das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin bestünden, hat sie eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie selbst nicht beabsichtigt, Maßnahmen gegen die Antragstellerin zu ergreifen.</p> <span class="absatzRechts">216</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin beanstandet, dass die CRTA den ITS als zuständige Behörde benannt habe, setzt sie sich nicht in der gebotenen Weise mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auseinander, das davon ausgegangen ist (Beschlussabdruck, S. 39), dass die CRTA lediglich mitgeteilt habe, dass der ITS für die Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie zuständig sei. Im Übrigen berücksichtigt sie nicht, dass die Antragsgegnerin sich mit E-Mail vom 30. April 2020 an den ITS im zypriotischen Ministerium für Energie, Handel und Industrie zwecks Information über das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin gewandt und auch bei dieser Stelle angefragt hatte, ob Bedenken gegen ein Einschreiten durch die Antragsgegnerin bestünden. Hierdurch hat sie Zypern ein weiteres Mal die Möglichkeit eingeräumt, selbst Maßnahmen zu ergreifen, die es aufgrund der weiterhin fehlenden Rechtsgrundlage aber nicht hat ergreifen können.</p> <span class="absatzRechts">217</span><p class="absatzLinks">Ein weiteres Zuwarten bis zur Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie – wie von der Antragstellerin im Schriftsatz vom 28. Juni 2022 gefordert – war schon deshalb nicht geboten, weil der ITS weder mitgeteilt hatte, für wann die Umsetzung geplant gewesen ist, noch gebeten hatte, bis dahin von Maßnahmen abzusehen. Insoweit vermag auch nicht die Annahme der Antragstellerin, die Konsultationspflichten kämen immer erst dann zum Tragen, wenn ein Mitgliedstaat nationales Recht anzuwenden beabsichtige, das über das nationale Recht des Niederlassungsstaates hinausgehe, zu überzeugen. Vielmehr liegt der Unterrichtungspflicht der Gedanke zu Grunde, dass der Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, überhaupt die Möglichkeit hat, eigene Maßnahmen zu ergreifen.</p> <span class="absatzRechts">218</span><p class="absatzLinks">B. Die im Hinblick auf etwaige verbleibende Unsicherheiten lediglich ergänzend vorzunehmende Folgenabwägung ergibt ebenfalls, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung von Ziffern 1 und 2 der angefochtenen Ordnungsverfügung das private Interesse der Antragstellerin, von Vollziehungsmaßnahmen vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt. Das – nicht weiter substantiierte – wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin an der unveränderten Fortsetzung der ihr – in der aktuellen Form – untersagten Tätigkeit muss hinter dem öffentlichen Interesse, die von dieser Tätigkeit ausgehenden ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren von Beeinträchtigungen für den Jugendschutz zu unterbinden, zurücktreten.</p> <span class="absatzRechts">219</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">220</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">221</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 und 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,541
ovgnrw-2022-09-07-13-b-191221
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13 B 1912/21
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:23"
"2022-10-17T11:10:05"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0907.13B1912.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. November 2021 wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist Content-Providerin. Sie hat ihren Sitz in Zypern und betreibt die Internetseite https://de.q. Diese sowie zwei weitere Webseiten aus ihrem Unternehmensverbund sind Gegenstand aufsichtsbehördlicher bzw. gerichtlicher Verfahren.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 11. Juli 2019 teilte die Antragsgegnerin der zypriotischen Medienbehörde Cyprus Radiotelevision Authority (CRTA) in dem dem Parallelverfahren 13 B 1913/21 zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren mit, dass das Telemedienangebot der N.  T.      Ltd. – einer Tochtergesellschaft der Antragstellerin – „de.n.com“ aus ihrer Sicht gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und gegen § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 und 4 des Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – JMStV) verstoße. Zugleich bat die Antragsgegnerin die CRTA um Mitteilung, ob sie, die CRTA, rechtliche Schritte einleiten könne, und fragte nach, ob es richtig sei, dass die CRTA nur für Radio und Fernsehen und nicht auch für Video-Sharing-Plattformen zuständig sei und es auch sonst keine staatliche Behörde gebe, die hierfür zuständig wäre. Mit E-Mail vom 14. August 2019 wies die CRTA die Antragsgegnerin darauf hin, dass Zypern dabei sei, die Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) umzusetzen. Daher sei die CRTA derzeit nur für die Überwachung von Rundfunk- und Fernsehangeboten, nicht jedoch für eine Überwachung von Video-Sharing-Diensten zuständig. Die Zuständigkeit zur Umsetzung der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 (E-Commerce-Richtlinie) liege beim „Industry and Technology Service“ (ITS) des zypriotischen Ministeriums für Energie, Handel und Industrie.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 24. Oktober 2019 informierte die Antragsgegnerin die CRTA darüber, dass sie aufgrund festgestellter Verstöße gegen Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags beabsichtige, aufsichtsbehördlich gegen das Telemedienangebot der Antragstellerin einzuschreiten. Sie bat die CRTA zudem bis zum 28. Oktober 2019 um Mitteilung, sollte diese Vorbehalte gegen das beabsichtigte Einschreiten der Antragsgegnerin haben. Mit E-Mail vom 25. Oktober 2019 informierte die CRTA die Antragsgegnerin, dass sie keine Vorbehalte gegen ein Vorgehen gegen die zypriotischen Anbieter habe. Unter dem 14. November 2019 teilte die Antragsgegnerin der Europäischen Kommission mit, dass sie beabsichtige, gegen die Antragstellerin vorzugehen. Mit E-Mail vom 30. April 2020 informierte die Antragsgegnerin den von der CRTA für die E-Commerce-Richtlinie als zuständige Stelle benannten ITS im zypriotischen Ministerium für Energie, Handel und Industrie über das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin und fragte an, ob dieser Bedenken hiergegen hätte; eine Reaktion blieb aus.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 26. März 2020 fand zwischen den Beteiligten ein Austausch per Videokonferenz statt. Im Nachgang hierzu fasste die Antragstellerin mit Schreiben vom 9. April 2020 ihre rechtlichen Argumente zusammen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 20. Mai 2020 erging die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin an den Prüfungsausschuss der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), der 19 Anlagen über den Verfahrensablauf beigefügt waren. In der 28. KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020, die per Videokonferenz stattfand, wurde u. a. auch der Prüffall der Antragstellerin besprochen und vereinbart, dass eine Abstimmung über die Beschlussempfehlung im schriftlichen Verfahren erfolge (TOP 5.6). Mit E-Mail vom 28. Mai 2020 wurden den Mitgliedern der KJM die Faxblätter zur Abstimmung im schriftlichen Verfahren übersandt. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich die Sitzungsunterlagen in Sharepoint befänden und der verfahrensrelevante Mitschnitt im SharePoint-Videobereich freigeschaltet sei. Die übersandten Faxblätter sahen ein Ankreuzen vor, ob der Beschlussempfehlung einschließlich der Begründung im schriftlichen Verfahren zugestimmt werde. Im Falle der Nichtzustimmung wurde eine Begründung erbeten. Alle Mitglieder der KJM stimmten der Beschlussempfehlung einschließlich der Begründung im schriftlichen Verfahren zu. Am 12. Juni 2020 teilte die KJM der Antragsgegnerin den Tenor der Beschlussfassung mit.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 16. Juni 2020, zugestellt am 6. Juli 2020, stellte die Antragsgegnerin – nach vorheriger Anhörung – u. a. fest, dass die Antragstellerin gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV verstoße (Ziffer 1), sprach ihr gegenüber eine Beanstandung gemäß § 20 Abs. 1 JMStV i. V. m. § 59 Abs. 3 RStV aus und untersagte „die Verbreitung des Angebots in dieser Form […] zukünftig“ (Ziffer 2). Die Antragstellerin erfülle ihre Verpflichtung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV, wenn sie die pornografischen Inhalte von ihrem Angebot entferne oder eine geschlossene Benutzergruppe einrichte, durch die sichergestellt werde, dass nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhielten.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage (27 K 3905/20 VG Düsseldorf), über die noch nicht entschieden ist, mit Beschluss vom 30. November 2021 abgelehnt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Es spreche Überwiegendes dafür, dass die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage, § 20 Abs. 1 und Abs. 4 JMStV vom 28. Februar 2003 (GV. NRW. S. 84), zuletzt geändert durch Art. 5 des Neunzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 14. Juni 2016 (GV. NRW. S. 452) – im Folgenden JMStV a. F. – i. V. m. § 59 Abs. 3 RStV vom 21. November 1995 (GV. NRW. S. 1196) in der Fassung des Zweiundzwanzigsten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 26. Oktober 2019 (GV. NRW. S. 134) – im Folgenden RStV a. F. – vorlägen. Der Anwendbarkeit der genannten Vorschriften stehe nicht der Umstand entgegen, dass die Antragstellerin ihren Sitz nicht im Bundesgebiet, sondern auf Zypern habe. Insbesondere sei das sog. Herkunftslandprinzip nicht als Kollisionsregel einzuordnen. Es spreche auch Überwiegendes dafür, dass der der Entscheidung der Antragsgegnerin zugrunde liegende Beschluss der KJM im Einklang mit den Vorschriften des JMStV a. F. gefasst worden sei. Insbesondere habe die KJM die in § 17 Abs. 1 Satz 3 JMStV a. F. normierte Begründungspflicht durch die erfolgte Bezugnahme auf die Begründung der Beschlussvorlage beachtet. Die Bestimmungen im JMStV a. F. zum hier durchgeführten Verfahren verstießen auch nicht gegen Verfassungsrecht. Es liege kein Verstoß gegen das Bundesstaats- und Demokratieprinzip vor. Die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung habe für das hier betroffene Rechtsgebiet des Rundfunk- und Telemedienrechts verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der KJM bislang nicht geäußert, so dass die Kammer jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine Veranlassung sehe, den von der Antragstellerin umfangreich aufgeworfenen Problemstellungen nachzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich mit Urteil vom 20. April 2021 - 6 C 6.20 - konkret mit Aufgaben und Organzuständigkeit der KJM auseinandergesetzt und diesbezüglich keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert. In seinem Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 - habe das Bundesverwaltungsgericht zwar nicht unmittelbar zur KJM (vgl. § 35 Abs. 2 Nr. 4 RStV a. F.), aber zu der Kommission für Zulassung und Aufsicht - ZAK - festgestellt, dass die im Rundfunkstaatsvertrag vorgesehene materielle Entscheidungsbefugnis der ZAK für die Zulassung bundesweiter Programme keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliege. Auch in materieller Hinsicht dürften die in Rede stehenden Regelungen im angefochtenen Bescheid rechtmäßig sein. Es spreche Überwiegendes dafür, dass sie, soweit sie hier angegriffen worden seien, hinreichend bestimmt seien. Der Begründung des Bescheids lasse sich entnehmen, dass sich die Beanstandung nicht auf das gesamte Internetangebot unter der Domain de.q.com, sondern nur auf die gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV a. F. (und § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 und 4 JMStV a. F.) verstoßenden Teile des Angebots beziehe. Zudem lägen auch die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage vor, da die Antragstellerin gegen das Verbot des § 4 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Satz 2 JMStV a. F. als Anbieterin von Telemedien verstoßen habe. Weder Art. 3 Abs. 1 GG noch Art. 12 Abs. 1 GG geböten die Aufstellung eines behördlichen Eingriffskonzepts für die zeitliche Reihenfolge des Einschreitens gegen Anbieter von Telemedienangeboten im Unionsgebiet außerhalb Deutschlands, die pornografische Inhalte frei zugänglich anböten. Die in Rede stehende Maßnahme stehe ferner im Einklang mit völkerrechtlichen Grundsätzen. Das frei zugängliche Angebot pornografischer Inhalte im Internet durch Anbieter mit Sitz im Unionsgebiet außerhalb Deutschlands dürfte eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip aus Art. 3 Abs. 2 TMG a. F. i. V. m. Art. 3 Abs. 2 E-Commerce-Richtlinie begründen. Der Jugendschutz in Gestalt von § 4 Abs. 2 JMStV a. F. stelle ein Schutzgut dar, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dieses Schutzgut sei bei frei zugänglicher Pornografie im Internet ernsthaft und schwerwiegend gefährdet. Bei dieser Einschätzung dürfte es auch ohne Bedeutung sein, ob das in Rede stehende Angebot der Antragstellerin über ein sogenanntes RTA-Label verfüge, das von einer entsprechenden Jugendschutzsoftware ausgelesen werden könne. Die streitbefangenen Maßnahmen – die Beanstandung und die Untersagung der Verbreitung des Angebots in Deutschland, soweit es frei zugängliche Pornografie enthält – dürften im Sinne von § 3 Abs. 5 Satz 1 2. Halbsatz TMG a. F. und der gleichlautenden Vorgabe in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a iii) E-Commerce-Richtlinie auch in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Schutzgut stehen, mithin auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verhältnismäßig sein. Schließlich dürfte die Antragsgegnerin die ihr obliegenden Konsultations- und Informationspflichten gemäß den Vorgaben des Art. 3 Abs. 4 Buchst. b Erster Spiegelstrich E-Commerce-Richtlinie erfüllt haben. Wenn ein Einschreiten rechtlich bereits nicht zulässig sei, weil sich das Verhalten in jenem Mitgliedstaat – wie vorliegend – als gesetzeskonform darstelle, dürften auch die Anforderungen an die Konsultation geringer ausfallen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dagegen hat die Antragstellerin am 10. Dezember 2021 Beschwerde erhoben, die sie am 3. Januar 2022 sowie ergänzend mit Schriftsätzen vom 28. Juni 2022 und 3. August 2022 begründet hat. Sie macht insbesondere geltend, das Verwaltungsgericht setze sich mit der von ihr aufgeworfenen Frage, ob die Entscheidungsprozesse unter Einbindung der KJM verfassungswidrig seien, trotz ihres umfangreichen Vortrags im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, mit dem sie auch in Zweifel gezogen habe, dass die Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts zu der Verfassungsmäßigkeit der ZAK auf die KJM übertragen werden könne, nicht auseinander. Unabhängig davon genüge der am 27. Mai 2020 als Videokonferenz im schriftlichen Verfahren gefasste Beschluss der KJM nicht dem Begründungserfordernis des § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV a. F. Zudem sei der angefochtene Bescheid auch offensichtlich materiell rechtswidrig. Die in den Ziffern 1 und 2 Sätze 1 und 2 des Bescheids enthaltenen Regelungen entsprächen nicht den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Es liege auch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor, da es an einem systemgerechten Vorgehen der Antragsgegnerin fehle. Schließlich verstießen die Maßnahmen gegen das Herkunftslandprinzip; eine Ausnahme gemäß § 3 Abs. 5 TMG a. F. liege nicht vor. Es fehle an einer konkreten Gefährdung oder Beeinträchtigung der Schutzgüter im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 TMG a. F. Zudem sei die Maßnahme unverhältnismäßig und die Antragsgegnerin sei ihren in § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F. i. V. m. Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der E-Commerce-Richtlinie vorgesehenen Informations- und Konsultationspflichten mit Blick auf die zypriotischen Aufsichtsbehörden nicht nachgekommen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 27 K 3905/20 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Juni 2020 anzuordnen, soweit dort das Telemedienangebot der Antragstellerin de.q.com wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV beanstandet und die Verbreitung des Angebots in dieser Form zukünftig untersagt worden ist.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin tritt dem entgegen und beantragt,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Beschwerde zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des Verwaltungsvorgangs ergänzend Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">A. Die zur Begründung der Beschwerde fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">zur Nichtberücksichtigung von nach Fristablauf erstmals geltend gemachten Beschwerdegründen vgl. Rudisile, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht VwGO, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 146 Rn. 13a, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">I. Das Beschwerdevorbringen zeigt keine Fehler auf, die zu einer formellen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids führen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Insbesondere dringt die Antragstellerin nicht mit ihrer Rüge durch, die Beschlussfassung der KJM verstoße gegen die Begründungsanforderungen des <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_17">§ 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV</a>.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der angefochtene Bescheid ist in der zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 16. Juni 2020 gültigen Fassung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt vgl. BVerwG, Urteile vom 20. April 2021 - 6 C 6.20 -, juris, Rn. 11, und vom 31. Mai 2017 - 6 C 10.15 -, juris, Rn. 12; Bay. VGH, Beschluss vom 26. November 2020 - 7 ZB 18.708 -, juris, Rn. 14; VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 - 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 34, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">von der Antragsgegnerin als der gemäß § 14 Abs. 1, § 20 Abs. 1, 4 und 6 JMStV für die Aufsicht über die Antragstellerin zuständigen Landesmedienanstalt erlassen worden. Stellt die zuständige Landesmedienanstalt fest, dass ein Anbieter gegen die Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags verstoßen hat, trifft sie die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Anbieter, § 20 Abs. 1 JMStV. Für Anbieter von Telemedien trifft nach § 20 Abs. 4 JMStV die zuständige Landesmedienanstalt die jeweilige Entscheidung durch die KJM entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 des Rundfunkstaatsvertrags. Nach § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV hat die KJM ihre Beschlüsse, die gegenüber den anderen Organen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend und deren Entscheidungen zu Grunde zu legen sind (§ 17 Abs. 1 Satz 5 und 6 JMStV), zu begründen (§ 17 Abs. 1 Satz 3 JMStV). In dieser Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen (Satz 4).</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat die Anforderungen an das Begründungserfordernis mit Urteil vom 17. Juli 2015 - 13 A 1215/12 - (juris, Rn. 38 ff.) wie folgt konkretisiert:</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">„Bei der Auslegung dieser Vorschriften und zur Ermittlung der Anforderungen an das Begründungserfordernis nach § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV ist das nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag spezifisch ausgestaltete Verhältnis der Landesmedienanstalten und der KJM in den Blick zu nehmen. Danach ist bei der Aufsicht über Telemedien-Angebote die inhaltliche Entscheidung über die Vereinbarkeit von Telemedien-Angeboten mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag und die bei Verstößen zu treffenden Maßnahmen allein der KJM – als Organ der Landesmedienanstalt – zugewiesen (vgl. §§ 14 Abs. 2 Satz 2, 16 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 4 JMStV). Die zuständige Landesmedienanstalt organisiert für die inhaltliche Entscheidung der KJM das Verfahren, ermittelt den Sachverhalt und setzt die Entscheidung der KJM, an die sie inhaltlich und nach der Begründung gebunden ist, nach außen gegenüber dem Anbieter um (§ 17 Abs. 1 Sätze 5 und 6 JMStV).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Zudem sind die hinter dem Erfordernis der Begründung der KJM gemäß § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV stehenden Zwecke zu berücksichtigen. Das Begründungserfordernis dient zum einen objektiven Zwecken: Es soll die KJM dazu anhalten, den von ihr zu beurteilenden Sachverhalt sorgfältig zu ermitteln und diesen unter Berücksichtigung des Vorbringens des Anbieters in jugendschutzrechtlicher Hinsicht selbst sachverständig zu bewerten. Weiter dient die Begründung der Klarheit für die anderen Organe der zuständigen Landesmedienanstalt, weil diese an die Beschlüsse der KJM gebunden sind und sie einschließlich der Begründung ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen haben. Zugleich dient die Begründung aber auch den Rechten der Anbieter von Telemedien. Das Begründungserfordernis für die KJM wurde ausdrücklich mit Blick auf die (Grund-) Rechte der Betroffenen, die eventuell gegen eine abschließende Entscheidung Rechtsschutz in Anspruch nehmen wollen, in den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag aufgenommen. Der Betroffene bedarf der Begründung, da er ohne Kenntnis der Gründe, auf die die KJM ihre Entscheidung stützt, ein gerichtliches Verfahren nicht sinnvoll führen kann. Die Anbieter haben Anspruch darauf, dass die KJM ihren Beschluss nach ausreichender Kenntnisnahme des zu beurteilenden Angebotes unter Bekanntgabe ihrer wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen begründet. Fehlt eine solche Begründung, schlägt dies auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der zuständigen Landesmedienanstalt durch.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 29 ff.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der Bedingungen der Praxis der Medienaufsicht, des vielfach komplexen und umfangreichen Charakters dieser Prüfungsverfahren sowie der Gegebenheiten einer Gremienentscheidung wird einhellig für die Begründung des Beschlusses der KJM als ausreichend angesehen, wenn diese der von der zuständigen Landesmedienanstalt vorgelegten Beschlussvorlage einschließlich einer darin enthaltenen Begründung des vorgeschlagenen Beschlusses durch Bezugnahme zustimmt. Dann müssen eine solche Bezugnahme bzw. Verweisung und der Wille, sich die Begründung der Beschlussvorlage zu eigen zu machen, aus der Niederschrift über den Beschluss der KJM oder aus sonstigen Unterlagen klar und unmissverständlich hervorgehen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014, a. a. O., Rn. 83 f.; Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 26; VG Hannover, Urteil vom 8. Juli 2014 - 7 A 4679/12 ‑, juris Rn. 56.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Zudem kann nur dann die Bezugnahme der KJM auf eine Beschlussvorlage der Landesmedienanstalt deren eigene Begründung ersetzen, wenn diese Beschlussvorlage überhaupt eine Begründung für den Beschlussvorschlag enthält und diese Begründung ihrerseits klar und unmissverständlich ist. An letzterem Erfordernis kann es dann fehlen, wenn die Beschlussvorlage wiederum auf andere Vorlagen der Landesmedienanstalt, die Prüfempfehlung der Prüfgruppe der KJM oder sonstige Schriftstücke Bezug nimmt. In diesem Fall besteht nämlich die Gefahr, dass nicht mehr hinreichend eindeutig ist, was die Begründung der Entscheidung der KJM sein soll. Deshalb geht eine verbreitete Auffassung davon aus, dass eine Begründung für einen Beschluss der KJM nicht ausreichend ist, wenn sich diese allein im Wege einer „Kettenverweisung“ ermitteln lässt.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014, a. a. O., Rn. 84; Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 26; VG Berlin, Urteil vom 3. Mai 2012 - 27 A 341.06 -, juris Rn. 32 f. (fehlende Entscheidung in der Beschlussvorlage); differenzierend VG Hannover, Urteil vom 8. Juli 2014, a. a. O., juris Rn. 58.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der Zwecke einer Begründung des Beschlusses der KJM ist nach Auffassung des Senats eine Bezugnahme auf eine Beschlussvorlage im Grundsatz zulässig, wenn dadurch eine klare und unmissverständliche Begründung des Beschlusses zu Stande kommt. Eine Kettenverweisung wird diesen Maßstäben in der Regel nicht gerecht, weil mehrere Schritte erforderlich sind, um die in Bezug genommene „gemeinte Begründung“ zu ermitteln und hierbei die unmissverständliche Klarheit typischerweise fehlt. Die Bezugnahme muss dem Beschluss der KJM (Plenum oder Prüfausschuss) oder dem diesen enthaltenden Protokoll aber durch eindeutige Formulierungen zu entnehmen sein. Allein der Umstand, dass der Beschluss seinem Inhalt nach der in der Beschlussvorlage vorgeschlagenen Entscheidung entspricht, reicht nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben, die der Senat weiterhin zu Grunde legt, ist der im Anschluss an die 28. Sitzung der KJM von 27. Mai 2020 im schriftlichen Verfahren gefasste Beschluss in einer den Anforderungen des § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV genügenden Weise begründet. Die Mitglieder der KJM stimmten „der Beschlussfassung einschließlich der Begründung“ durch Ankreuzen der vorformulierten Erklärung im schriftlichen Verfahren zu.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zum schriftlichen Verfahren vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 77; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 5 ff.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht zweifelhaft, dass damit die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2020 gemeint gewesen ist, auch wenn der die Zustimmung enthaltende Satz selbst weder ein Datum des Beschlussvorschlags nennt, noch die konkrete Landesmedienanstalt bezeichnet. Aus den jeweiligen Zustimmungsformularen ergibt sich der konkrete Prüffall durch Bezeichnung des Angebots, Nennung der Anbieter und eines Aktenzeichens sowie Angabe der Antragsgegnerin als zuständige Landesmedienanstalt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">So auch im einem ähnlich gelagerten Fall VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 - 27 K 93.16 -, juris, Rn. 65, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Zudem erfolgte die Zustimmung ausdrücklich im Nachgang zu der in Bezug genommenen KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Genauso wenig hat der Senat Anlass daran zu zweifeln, dass die Beschlussvorlage den KJM-Mitgliedern vorab zur Kenntnis gebracht wurde. Im Gegenteil: Aus dem Protokoll zu der 28. KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020 ergibt sich, dass alle KJM-Mitglieder durch Handzeichen bestätigt haben, dass die – vorab in Sharepoint eingestellten – verfahrensrelevanten Mitschnitte und Unterlagen zu dem Prüffall der Antragstellerin, wozu auch die am 20. Mai 2020 übersandte Beschlussvorlage gehörte (Bl. 80, Heft 1a der Beiakte), vollumfänglich gesichtet wurden.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrer Rüge durch, die KJM habe der Antragsgegnerin mit E-Mail vom 16. Juni 2020 lediglich den Beschlussinhalt ohne dazugehörige Begründung mitgeteilt. Wenngleich sich der durch die Bereichsleiterin der KJM übersandten E-Mail nur der Beschlussinhalt entnehmen lässt, folgt aus den ebenfalls übersandten Voten der KJM-Mitglieder, dass diese der Beschlussvorlage der Antragsgegnerin auch hinsichtlich der Begründung gefolgt sind. Da die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2020 eine vollständige Begründung enthielt, liegt – anders als in der vorstehend zitierten Entscheidung des Senats – auch keine unzulässige Kettenverweisung vor. Eine solche ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass der Beschlussvorlage 19 Anlagen zum Verfahrensablauf beigefügt waren, da deren Kenntnis lediglich vertiefender und umfassender Information der Mitglieder der KJM diente und sie nicht zu deren Entscheidungsfindung zwingend erforderlich waren. Vielmehr enthält die in Bezug genommene Begründung bereits alle wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe und erfüllt damit – auch ohne die beigefügten Anlagen – die Anforderungen von § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Zur Beifügung von Anlagen vgl. auch Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 - 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 19.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">II. Auch der Einwand, der Entscheidungsprozess unter Einbindung der KJM unterliege verfassungsrechtlichen Bedenken, greift bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Sofern die Antragstellerin sich mit ihrer Rüge, das Verwaltungsgericht setze sich trotz ihres umfangreichen Vortrags nicht mit der Frage eines Verstoßes gegen das Bundesstaats- und Demokratieprinzip auseinander, auf einen Gehörsverstoß berufen sollte, kann dahingestellt bleiben, ob der behauptete Verfahrensfehler gegeben ist. Denn eine Beschwerde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann nicht allein mit einer Verfahrensrüge erfolgreich geführt werden. § 146 Abs. 4 VwGO kennt – anders als die Vorschriften über die Berufung und die Revision – nämlich kein vorgeschaltetes Zulassungsverfahren (mehr), sondern ermöglicht in den von § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO gezogenen Grenzen eine umfassende, nicht von der erfolgreichen Rüge eines Verfahrensfehlers abhängige Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht als zweite Tatsacheninstanz. Nachdem das Zulassungserfordernis weggefallen und das Beschwerdeverfahren unbeschränkt eröffnet ist, kommt es mithin nur noch auf den Erfolg in der Sache selbst an.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. Mai 2022 - 13 B 1003/21 -, juris, Rn. 6, und vom 10. September 2020 - 1 B 1716/19 -, juris, Rn. 10 f., m. w. N.; OVG LSA, Beschluss vom 15. Februar 2021 - 2 M 121/20 -, juris, Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich ist vielmehr, ob die Antragstellerin die Feststellung des Verwaltungsgerichts, es liege kein Verstoß gegen das Bundesstaats- (vgl. hierzu unter 1.) und das Demokratieprinzip (vgl. hierzu unter 2.) vor, durchgreifend in Zweifel zieht. Das ist nicht der Fall. Zudem liegt auch kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vor (vgl. hierzu unter 3.).</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">1. Die Verlagerung von Aufgaben und Zuständigkeiten auf die KJM durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag dürfte mit dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) vereinbar sein.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">a. Die Beteiligung der KJM berührt weder den Kern der Eigenstaatlichkeit der Länder noch läuft sie dem Grundsatz der Unabdingbarkeit von Verwaltungskompetenzen zuwider.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Da den Ländern nach Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben – jedenfalls dem Grundsatz nach – zusteht, haben sie die Kompetenz zum Abschluss von Verträgen und zur Errichtung gemeinsamer Einrichtungen. Eine unzulässige Aufgabe oder Übertragung von Hoheitsrechten liegt im Verhältnis der Länder untereinander jedenfalls dann nicht vor, wenn in dem zugrunde liegenden Vertrag ausdrücklich vereinbart worden ist, dass dieser innerhalb bestimmter Fristen gekündigt werden kann, und wenn die Abweichung von der Regel der eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung durch Gründe gerechtfertigt ist, die in der Aufgabenmaterie und ihren rechtlichen wie faktischen Anforderungen liegen.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 34, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf die im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vorgesehene Errichtung, organisatorische Ausgestaltung und Entscheidungszuständigkeit der KJM erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Nach § <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_26">26 Satz 2 JMStV</a> kann der Staatsvertrag von jedem der vertragschließenden Länder zum Schluss des Kalenderjahres mit einer Frist von einem Jahr gekündigt werden.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die Regelung einer abschließenden Entscheidungsbefugnis der KJM in <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_17">§ 17 Abs. 1 Satz 4 JMStV</a> hinsichtlich der von ihr gefassten Beschlüsse ist zudem auch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Ziel der Errichtung der KJM ist es, die Zersplitterung der Aufsichtsstrukturen beim Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde im Bereich der Aufsicht über länderübergreifende Angebote in elektronischen Medien zu überwinden. Zu diesem Zweck richten die Länder mit der KJM eine zentrale Aufsichtsstelle für den Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde ein, die den Landesmedienanstalten nach <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV10Anlage-P14">§ 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV</a> als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 14 Abs. 1 JMStV dient. Dabei zielt insbesondere die aus § 17 Abs. 1 Satz 4 JMStV folgende Bindung im Innenverhältnis der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt darauf, den mit der Errichtung der KJM erwünschten Erfolg standortunabhängiger Entscheidungsfindung verfahrensmäßig abzusichern.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. Amtliche Begründung zum JMStV, S. 2, 25 u. 32, abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">https://www.kjm-online.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/JMStV_Genese/Amtliche_Begru__ndung_zum_JMStV.pdf.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Durch die danach beabsichtigte Schaffung eines einheitlichen Jugendschutzstandards in allen Telemedien kommt der Staat seiner Pflicht zum Schutz der Kinder und Jugendlichen nach, indem eine Zersplitterung der Aufsichtsinstanzen verhindert und damit ein einheitlicher Schutzstandard in allen Bundesländern gewährleistet wird.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 37 und 100 f.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 176 und 194; siehe auch zur Filmbewertungsstelle Wiesbaden: BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1966 ‑ VII C 128.64 ‑, juris, Rn. 31, wonach eine unterschiedliche Behandlung der Filme in jedem einzelnen Land der Bundesrepublik nicht als sinnvoll hätte bezeichnet werden können.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">b. Die von der Antragstellerin angenommene „dritte Ebene der Gesamt- bzw. Mehrheit der Länder“ und ein damit verbundener Verstoß gegen den zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff aus Art. 20 Abs. 1 GG liegt bereits deshalb nicht vor, weil die – rechtlich nicht verselbstständigte – KJM trotz ihrer Aufgabe einer länderübergreifenden einheitlichen Spruchpraxis im Jugendmedienschutz formal als ein Organ der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt dient.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-B-II">§ 14 JMStV, Rn. 38</a>; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-14-GL-II">§ 14 JMStV, Rn. 6</a>; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 33; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 182; so auch für die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 602 ff.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch wenn der Beschluss der KJM bindend ist und somit faktisch der Eindruck einer Entscheidung durch die KJM entstehen kann, wird die Entscheidung formell durch die zuständige Landesmedienanstalt, hier die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, vertreten durch ihren Direktor, getroffen (vgl. § 14 Abs. 1 JMStV). <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV10Anlage-P20">§ 20 Abs. 4 JMStV</a> bestimmt, dass die zuständige Landesmedienanstalt für Anbieter von Telemedien durch die KJM entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 des Rundfunkstaatsvertrags unter Beachtung der Regelungen zur Verantwortlichkeit nach den §§ 7 bis 10 TMG die jeweilige Entscheidung trifft. Soweit die Beschlüsse der KJM gegenüber den anderen Orangen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend sind (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 5 JMStV), dient diese der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV formal als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Dass die Durchsetzung durch die zuständige Landesmedienanstalt erfolgt, zeigt zudem auch die Begründung zu § 20 Abs. 6 JMStV,</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">vgl. Amtliche Begründung zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, S. 40,</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">https://www.kjm-online.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/JMStV_Genese/Amtliche_Begru__ndung_zum_JMStV.pdf,</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">wonach nach außen die Landesmedienanstalten als Aufsicht auftreten. Welche der insgesamt 14 Landesmedienanstalten im Einzelfall zuständig ist, ergibt sich ebenfalls aus § 20 Abs. 6 JMStV, der auch den Fall vor Augen hat, dass – wie hier – mehrere Landesmedienanstalten zuständig sind oder der Anbieter seinen Sitz im Ausland hat.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Zum Verhältnis von jeweils zuständiger Landesmedienanstalt und KJM vgl. VG Berlin, Urteile vom 13. März 2018 - 27 K 258.14 -, juris, Rn. 57 f., und vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 53; Liesching, in:, Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15.12.2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-16-Gl-A">§ 16, Rn. 1</a>, m. w. N.; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-20-GL-II">§ 20 JMStV, Rn. 4</a>; Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BorErdKoJSchSV-G-JMStV-P-14-GL-B-II-1">§ 14, Rn. 22</a>; Erdemir, Die Kommission für Jugendmedienschutz, RDJB 2006, 285, 288 m. w. N.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 182 f. m. w. N.; sowie zur ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 25.19 -, juris, Rn. 22.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Durch diese Regelungen, die ohnehin nur bei länderübergreifenden Angeboten zur Anwendung gelangen (vgl. <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV6Anlage-P13">§ 13 JMStV</a>), ist insbesondere auch zweifelsfrei klargestellt, dass die Aufgabenwahrnehmung im Außenverhältnis nicht der KJM, sondern der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet wird, und neben dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag das (Verfahrens- und Vollstreckungs-)Recht desjenigen Bundeslandes zur Anwendung kommt, in dem die Landesmedienanstalt ihren Sitz hat. Rechtsbehelfe sind daher ausschließlich gegen die zuständige Landesmedienanstalt und nicht etwa gegen die KJM zu richten.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht 4. Auflage 2018, § 14 JMStV, Rn. 22 ff.; Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, § 14, Rn. 77; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 301; zum Verhältnis der ZAK zu den Landesmedienanstalten vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund bietet insbesondere auch die von der Antragstellerin zitierte Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Oktober 2015 - 8 B 1028/15 -, worin dieser festgestellt hat, dass die im Glücksspielstaatsvertrag erfolgte Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an ein aus 16 Vertretern der Länder bestehendes Glücksspielkollegium mit dem Bundesstaatsprinzip nicht vereinbar sei (juris, Rn. 35 ff.), keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Die Antragstellerin setzt sich an dieser Stelle im Übrigen auch nicht in der gebotenen Weise mit den vielfach vertretenen Gegenansichten auseinander, auf die bereits das Verwaltungsgericht verwiesen hatte (Beschlussabdruck, S. 10).</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur Nds. OVG, Beschluss vom 8. Februar 2018 ‑ 11 ME 130/17 -, juris, Rn. 8; Hamb. OVG, Urteil vom 22. Juni 2017 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=MWRE170007120">4 Bf 160/14 </a>-, juris, Rn. 150; Bay. VerfGH, Entscheidung vom 25. September 2015 - Vf. 9-VII-13 -, juris, Rn. 144 f., m. w. N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Juni 2016 - 3 K 5661/14 -, juris, Rn. 141; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. Mai 2016 - 19 K 3334/14 -, juris, Rn. 168; Dietlein, Verfassungsfragen des Glücksspielkollegiums nach § 9a GlüStV 2012, Gutachten 2015, S. 22 f.; Makswit, Auswirkungen des Föderalismus im Glücksspielrecht, 2015, S. 247.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">c. Dass der KJM gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 JMStV zwei Mitglieder angehören, die von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde entsandt werden, führt schließlich auch nicht zu einer verfassungswidrigen Mischverwaltung.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Liesching, in:               Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15.12.2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-14-Gl-C">§ 14, Rn. 9</a>, m. w. N.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 150 ff.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine verwaltungsorganisatorische Erscheinungsform nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie als Mischverwaltung einzuordnen ist, sondern nur, wenn ihr zwingende Kompetenz- oder Organisationsnormen oder sonstige Vorschriften des Verfassungsrechts entgegenstehen. Es gibt keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach Verwaltungsaufgaben ausschließlich vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, sofern nicht ausdrückliche verfassungsrechtliche Regeln etwas anderes zulassen. Grundsätzlich gilt allerdings, dass der Verwaltungsträger, dem durch eine Kompetenznorm des Grundgesetzes Verwaltungsaufgaben zugewiesen worden sind, diese Aufgaben durch eigene Verwaltungseinrichtungen – mit eigenen personellen und sächlichen Mitteln – wahrnimmt. In diesem Sinn kann von einem „Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ gesprochen werden. Für das Abgehen von dem „Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ bedarf es eines besonderen sachlichen Grundes. Die Heranziehung an sich unzuständiger Verwaltungseinrichtungen kann nur hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie in Betracht kommen.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu der im Grundgesetz angelegten Unterscheidung zwischen Bundes- und Landesverwaltung BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=BVRE100778309">2 BvL 23/81 </a>-, juris, Rn. 124 ff.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon liegt keine verfassungswidrige Mischverwaltung vor.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Es fehlt bereits das eine Mischverwaltung kennzeichnende Element gemeinsamer Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben. Die KJM dient – wie bereits ausgeführt – der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 14 Abs. 1 JMStV; sie ist mithin in die Verwaltungsstruktur des jeweiligen Bundeslandes eingegliedert. Die Entscheidungen der KJM werden rechtlich der zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet. Eine Doppelzuständigkeit wird daher schon nicht begründet.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-A-III-1">§ 14 JMStV, Rn. 10</a>; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-14-GL-IV-3">§ 14 JMStV, Rn. 14</a>, m. w. N.; Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/Cole/Wagner, Medienstaatsvertrag, JMStV, 86. AL 3/2021, § 14, Rn. 1 und 3 sowie § 20, Rn. 5 und 40.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Überdies liegt auch ein besonderer sachlicher Grund für die Einbeziehung zweier Mitglieder von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde vor. Es bedarf zur Erreichung eines einheitlichen Jugendschutzes sowohl bei Rundfunk und Telemedien als auch bei „Offline“-Medien einer Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Während die Länder mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag Online-Medien regeln, ist der Bund mit dem Jugendschutzgesetz für den Jugendschutz bei Trägermedien wie Büchern, CDs und DVDs zuständig. Aufgrund der konkurrierenden Gesetzgebung für den Bereich der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), die auch den Jugendschutz erfasst,</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. März 2017 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE419451701">1 BvR 1314/12</a> -, juris, Rn. 116, und vom 4. Mai 1971 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE290198902">2 BvL 10/70</a> -, juris, Rn. 21,</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">müssen beide Regelungen eng verwoben sein, sich ergänzen und durch ihr gesetzliches Zusammenwirken Schutz vor jugendbeeinträchtigenden und -gefährdenden Einflüssen in der Öffentlichkeit und in den Medien bieten.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Zu der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern vgl. Liesching, in: Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15. Dezember 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-1-Gl-A-I">§ 1 JMStV, Rn. 1 f.</a>, m. w. N.; Schwartmann/Hentsch, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BorErdKoJSchSV-G-JMStV-P-1-GL-B">§ 1, Rn. 3</a>; Frey/Dankert, Zu den Novellierungsplänen von Bund und Ländern für das Jugendschutzgesetz (JuSchG) und den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV), in: CR 2020, <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jzs-CR-2020-09-0626-01-A-013">626, Rn. 1</a>; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 1. Aufl. 2007, S. 42 f. und 94.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Hierzu soll die in § 14 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 JMStV vorgesehene Entsendung von zwei Mitgliedern durch die für den Jugendschutz zuständige oberste Bundesbehörde beitragen.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-A-III-1">§ 14 JMStV, Rn. 11</a>.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">2. Das von der Antragstellerin beanstandete Verfahren zum Vollzug gegen Anbieter von Telemedien dürfte mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) vereinbar sein. Die der KJM zugewiesenen weitreichenden Entscheidungsbefugnisse sind unter Berücksichtigung der Besonderheiten der (Tele-)Medienaufsicht zur Begrenzung des staatlichen Einflusses sachlich gerechtfertigt.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Zu der (bejahten) Frage der Anwendbarkeit des Demokratieprinzips auf Maßnahmen der Landesmedienanstalten und der KEK vgl. Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 500 ff.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Der vom Demokratieprinzip geforderte Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor allem durch die Wahl des Parlaments, durch die von ihm beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt, durch den parlamentarischen Einfluss auf die Politik der Regierung sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung hergestellt. In personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk zurückführen lässt. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird durch Gesetzesbindung und Bindung an Aufträge und Weisungen der Regierung vermittelt.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 25.19 -, juris, Rn. 34, m. w. N. aus der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">a. Zwar ist die demokratische Legitimation der KJM nach diesen Grundsätzen nur schwach ausgeprägt. Dies betrifft mit Blick auf die Besetzung der KJM zum einen die personelle Legitimation. Gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 JMStV besteht die KJM aus zwölf Personen („Sachverständigen“). Hiervon werden nach Satz 2 der Vorschrift sechs Mitglieder aus dem Kreis der Direktoren der Landesmedienanstalten (Nr. 1), vier Mitglieder von den für den Jugendschutz zuständigen obersten Landesbehörden (Nr. 2) und zwei Mitglieder von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde (Nr. 3) entsandt. Während hinsichtlich der von den obersten Bundes-/Landesjugendschutzbehörden entsandten Mitglieder eine mittelbare personelle demokratische Legitimation besteht, ist dies hinsichtlich der von den Landesmedienanstalten entsandten Direktoren nur in den Bundesländern Baden-Württemberg, Saarland, Berlin und Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein sowie Sachsen der Fall, wo die Mitglieder der Entscheidungsgremien vom Landtag bzw. von der Bürgerschaft mit einer Mehrheit von zwei Dritteln gewählt werden. Demgegenüber fehlt es den Direktoren der Landesmedienanstalten in Bayern, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an einer unmittelbaren personellen demokratischen Legitimation, da diese von Entscheidungsgremien gewählt werden, die überwiegend keine vom Volk gewählten Vertretungen sind.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu ausführlich Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 114 f. und 143 ff., m. w. N.; Dörr, Die Bestimmung des § 58 des Saarländischen Mediengesetzes (SMG) und die Vorgaben der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG), Kurzgutachten im Auftrag der Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen, abrufbar unter https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/medien/pdf/gutachten-direktorinnen-wahl-landesmedienanstalt.pdf; siehe auch die Auflistung auf S. 26 der Beschwerdebegründung vom 3. Januar 2022.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Wegen der Weisungsfreiheit ihrer Mitglieder (§ 14 Abs. 7 Satz 1 JMStV), die eine Einflussnahme der Volksvertretungen – gegebenenfalls über die zuständigen Ressortminister – auf das Abstimmungsverhalten ausschließt, ist zum anderen auch die sachlich-inhaltliche Legitimation zurückgenommen.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">So auch für die ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">b. Die beschriebenen Lockerungen des parlamentarischen Verantwortungszusammenhangs dürften aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl. für die ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 6.19, juris, Rn. 38, und für die KJM OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 65 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 19 ff., m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 19 ff.; Bornemann/von Coelln/Hepach/Himmelsbach/Gundel, Bayerisches Mediengesetz, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BoCoHeHiLoLBBayMedR-G-BayMG-A-6-GL-9-9-1-9-1-3-9-1-3-2">Art. 6, Rn. 227 f</a>f.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kom-mission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 148 f.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">aa. Ungeachtet der Frage, ob Telemedien unter den verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriff des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG fallen,</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">dafür Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-RFunkStVertr-P-59-GL-A-III-1">§ 59 RStV, Rn. 9, m. w. N</a>.; Kunisch, Verfassungswidrige Telemedienaufsicht durch Regierungsstellen - Aufsicht über Internetdienste im Schutzbereich der Rundfunkfreiheit, MMR 2011, 796, 798 m. w. N.; so – ohne diese Frage ausdrücklich entschieden zu haben – wohl auch Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, juris, Rn. 29, m. w. N., und Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 21, m. w. N.; a. A. Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308; Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. 7. Auflage 2018, Art. 5, Rn. 252, m. w. N., was aber die Übertragung des Schutzes der Rundfunk- oder Pressefreiheit durch Analogie im Einzelfall nicht ausschließe,</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">wird es jedenfalls ganz überwiegend für zulässig erachtet, den vom Bundesverfassungsgericht aus der Rundfunkfreiheit entwickelten Grundsatz der Staatsferne auch auf den Bereich der Aufsicht über die Telemedien zu erstrecken.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Vgl. Erdemir, Die Kommission für Jugendmedienschutz, RDJB 2006, 285, 288, m. w. N.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 210, m. w. N.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 109 f.; Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308; siehe im Ergebnis auch Cornils, „Staatsferner“ Jugendmedienschutz als Verfassungsgebot: ein Missverständnis, DÖV 2022, 1, 10; a. A. Holznagel, Kein Staatsfernegebot für das NetzDG, in: CR 2022, 245, 246 f. m. w. N., wonach das Staatsfernegebot nur im Bereich der sog. positiven Rundfunkordnung gilt.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Für die Begrenzung des staatlichen Einflusses im Bereich der Aufsicht von Telemediendiensten sprechen sachliche Gründe. Die Reglementierung jugendgefährdender Inhalte erfordert wertende Entscheidungen, die eine gewisse Gefahr einer politischen Instrumentalisierung zur Einflussnahme auf die freie Kommunikation bergen. Die Kontrolle der Einhaltung jugendschutzrechtlicher Standards im Internet ist immer auch Inhaltskontrolle.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Der KJM ist es aufgrund ihrer weitreichenden Zuständigkeiten möglich, zumindest mittelbar Einfluss auf die freie Kommunikation zu nehmen, weshalb eine Erstreckung der staatsfernen Aufsicht über den Rundfunk hinaus auf den vorliegend betroffenen Bereich der Telemedien als zulässig erscheint. Gemäß § 16 Satz 1 JMStV ist die KJM zuständig für die abschließende Beurteilung von Angeboten nach diesem Staatsvertrag. Insbesondere ist sie zuständig für die Überwachung der Bestimmungen des Staatsvertrags (§ 16 Satz 2 Nr. 1 JMStV), wobei sie gemäß § 20 Abs. 4 JMStV als zuständiges Organ der jeweils örtlich zuständigen Landesmedienanstalt für Anbieter von Telemedien entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 RStV die jeweilige Entscheidung und damit schwerwiegende Maßnahmen bis hin zur Untersagung und Sperrung von Angeboten trifft. Zudem ist sie gemäß § 16 Satz 2 Nr. 9 JMStV auch zuständig für die Entscheidung über Ordnungswidrigkeiten nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Anlass zu einer abweichenden Beurteilung bietet auch nicht das von der Antragstellerin zitierte rechtliche Kurzgutachten für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Prof. Dr. Eifert zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Aufsicht über die Einhaltung der strukturellen Vorsorgemaßnahmen durch die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz nach §§ 24a, 24b des Referentenentwurfs des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes,</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">https://fragdenstaat.de/anfrage/verfassungsrechtliches-gutachten-von-eifert-zum-juschgandg/553548/anhang/EifertKurzgutachtenAufsichtberangemesseneVorsorgemanahmen.pdf.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Vielmehr heißt es darin (S. 11), dass Art. 5 Abs. 1 GG eine Ausgestaltung von Entscheidungsgremien und -verfahren legitimieren könne, die den Staatseinfluss begrenze, ohne dass dies verfassungsrechtlich geboten wäre. Soweit dafür aus demokratischer Sicht eine Plausibilität grundrechtlich relevanter Gefährdungspotentiale staatlicher Einflussnahme gefordert wird, liegt diese aus den vorstehend genannten Gründen vor.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">bb. Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrer erstmals mit Schriftsatz vom 3. August 2022 – und damit ohnehin außerhalb der einmonatigen Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO – hilfsweise erhobenen Rüge durch, die KJM sei nicht pluralistisch besetzt, wenn die Anwendbarkeit des Gebots der Staatsferne unterstellt wird.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Der Staatseinfluss im Bereich der Telemedienaufsicht soll durch die Errichtung verschiedener Gremien, u. a. der KJM, die nach Maßgabe der Staatsverträge die maßgebenden Entscheidungen zu treffen haben und deren Zusammensetzung und Aufgaben im Einzelnen festgelegt sind, begrenzt werden. Die Unabhängigkeit der KJM wird durch deren in § 14 Abs. 4 JMStV geregelte politik- und staatsferne Zusammensetzung gestärkt, indem von der Mitgliedschaft in der KJM Mitglieder und Bedienstete der Institutionen der Europäischen Union, der Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, Gremienmitglieder und Bedienstete von Landesrundfunkanstalten der ARD, des ZDF, des Deutschlandradios, des Europäischen Fernsehkulturkanals „ARTE“ und der privaten Rundfunkveranstalter oder Anbieter von Telemedien sowie Bedienstete von an ihnen unmittelbar oder mittelbar im Sinne von § 28 RStV beteiligten Unternehmen ausgeschlossen sind. Die Mitglieder der KJM, deren Amtsdauer fünf Jahre beträgt (§ 14 Abs. 3 Satz 4 JMStV), sind zudem nicht an Weisungen gebunden (§ 14 Abs. 7 Satz 1 JMStV). Entscheidungen, die unter Verletzung dieser Aufgaben- und Zuständigkeitszuweisung getroffen werden, sind rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 66; Bay. VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 21, m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 21; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 33 ff.; VG Berlin, Urteil vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 131; kritisch Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 123.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber bedarf es keiner strikten Umsetzung des Pluralismusgebots, um den staatlichen Einfluss zu begrenzen. Vielmehr genügt es, dass die Kontrolleinrichtung mit Vertretern besetzt ist, die für die Beurteilung des jugendgefährdenden Charakters von Medien besonders qualifiziert sind.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu ausführlich Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 136 ff. m. w. N.; sowie in Bezug auf die KEK Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 468 ff., insbesondere S. 490 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Beschwerde angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zusammensetzung der ZDF-Aufsichtsgremien, wonach strenge Anforderungen an die plurale Zusammensetzung der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu stellen sind, da diesen innerhalb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt weitreichende Befugnisse hinsichtlich der Programmgestaltung und die Geschäftsführung überwachende Aufgaben übertragen sind.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 25. März 2014 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE405351401">1 BvF 1/11</a>, 1 BvF 4/11 -, juris, Rn. 51 ff.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die dort aufgestellten Grundsätze, insbesondere die „2/3-Regel“, wonach der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen darf, können auf die KJM nicht übertragen werden. Zwar hat die KJM – wie bereits ausgeführt – grundsätzlich gewisse Einflussnahmemöglichkeiten auf die Programmgestaltung privater Rundfunk- und Telemedienanbieter. Dieser ist jedoch nicht mit der Reichweite und dem Inhalt der Berichterstattung betreffenden Befugnisse der Gremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vergleichbar, zumal der nicht pluralistisch, sondern zur Gewährleistung einer effektiven Kontrolle gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 JMStV a. F. ausdrücklich mit „12 Sachverständigen“ zu besetzenden KJM kein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht,</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">vgl. zu § 5 JMStV BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2017 ‑ 6 C 10.15 -, juris, Rn. 33 ff.; VG Berlin, Urteil vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 63; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht VwGO, Werkstand: 42. EL Februar 2022, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SchochKoVwGO-G-VwGO-P-114-S-66">§ 114, Rn. 139</a>, m. w. N.; Altenhain, in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Handbuch Multimedia-Recht, 58. EL März 2022, Teil 20 D., II. 4., Rn. 199,</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">sondern ihren die Entscheidung tragenden Bewertungen nur die Bedeutung einer sachverständigen Aussage eingeräumt wird.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 ‑ 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 27; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 68; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 35; a. A. Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, § 14, Rn. 31, der fordert, dass oberste Bundes- und Landesbehörden keine eigenen Bediensteten entsenden dürfen.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Zudem dient die im vorliegenden Zusammenhang erstrebte Begrenzung des Staatseinflusses im Kontext der auf den Jugendschutz begrenzten Aufgabe der KJM auch nicht der Sicherung der – anders als im Fall der ZDF-Aufsichtsgremien nicht in Rede stehenden – Vielfalt im Angebot der privaten Rundfunk- und der Telemedienanbieter, sondern, wie bereits ausgeführt, „nur“ der Verhinderung einer politischen Instrumentalisierung jugendschutzrechtlicher Entscheidungen.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 ‑ 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 27; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 68; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 35.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">cc. Erscheint die abgeschwächte demokratische Legitimation der KJM nach alldem aufgrund der beabsichtigten Begrenzung des Staatseinflusses gerechtfertigt, lässt sich die Annahme des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, die im Glückspielstaatsvertrag erfolgte Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an ein aus 16 Vertretern der Länder bestehendes Glücksspielkollegium sei mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar,</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 16. Oktober 2015 ‑ 8 B 1028/15 -, juris, Rn. 41 ff.,</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">schon nicht auf die KJM übertragen.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Kirchhof, Die demokratische Legitimation der länderübergreifenden Kommissionen im Rundfunkrecht – dargestellt anhand der aktuellen Debatte über das Glücksspielkollegium, <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jzs-AFP-2016-06-0502-1-A-04">AfP 2016, 502, 505 f</a>.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">dd. Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 (AVMD-Richtlinie), wonach jeder Mitgliedstaat eine oder mehrere nationale Regulierungsbehörden oder -stellen benennt und dafür sorgt, dass diese rechtlich von Regierungsstellen getrennt und funktionell unabhängig von ihren jeweiligen Regierungen und anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen sind,</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu VG Köln, Beschluss vom 1. März 2022 ‑ 6 L 1277/21 -, juris, Rn. 105 ff.,</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">vorliegend Anwendung findet und bejahendenfalls für den Bereich jugendschützender Aufsicht das Gebot der Staatsferne statuiert, kommt es daher nicht an.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">c. Soweit die Antragstellerin rügt, dass es an der erforderlichen Rechts- und Fachaufsicht über die KJM fehlt, lässt sie unberücksichtigt, dass die KJM nach § 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV als Organ der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt handelt, die ihrerseits der Rechtsaufsicht unterliegt (vgl. § 117 Abs. 1 LMG NRW). Eine Fach- oder Zweckmäßigkeitsaufsicht würde demgegenüber der erstrebten Begrenzung staatlicher Einflüsse zuwiderlaufen.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Vgl. Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 192; Hesse, Die Organisation privaten Rundfunks in der Bundesrepublik, DÖV 1986, 177, 187.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich bestehen auch im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz der Zuständigkeits- und Verantwortungsklarheit vor. Wie bereits ausgeführt, ist zweifelsfrei klargestellt, dass die Aufgabenwahrnehmung im Außenverhältnis nicht der KJM, sondern der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet wird.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Für die ZAK vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 6.19 -, juris, Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">III. In materieller Hinsicht zieht die Antragstellerin die Beurteilung des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht durchgreifend in Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">1. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Bescheid unter den Ziffern 1 und 2, soweit sie Gegenstand des vorliegenden Eilverfahrens sind, hinreichend bestimmt ist.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Inhaltlich hinreichende Bestimmtheit im Sinne von § 37 Abs. 1 VwVfG NRW setzt voraus, dass für den Adressaten des Verwaltungsakts die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach richten kann. Etwaige Unklarheiten sind unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots unschädlich, sofern sie sich im Wege der Auslegung des Verwaltungsakts beseitigen lassen. Dabei kommt es auf den objektiven Empfängerhorizont und mithin darauf an, wie der Betroffene nach den ihm bekannten oder ohne weiteres erkennbaren Umständen den Verwaltungsakt unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen musste.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 13 ff., vom 27. Juni 2012 - 9 C 7.11 -, juris, Rn. 11, und vom 3. Dezember 2003 - 6 C 20.02 -, juris, Rn. 17, sowie Beschluss vom 6. September 2008 - 7 B 10.08 -, juris, Rn. 24.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt der streitgegenständliche Bescheid.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">a. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass nicht unklar ist, ob sich die ausgesprochene Beanstandung und Untersagung auf das gesamte Telemedienangebot der Antragstellerin oder nur auf die Teile beziehen, die aus Sicht der Antragsgegnerin gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag verstoßen. Dass sich sowohl die Beanstandung als auch die Untersagung auf den Inhalt des Angebots der Antragstellerin beziehen, der gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV verstößt, lässt sich bereits aus der Zusammenschau der Ziffern 1 und 2 erkennen. Dabei konkretisiert die Antragsgegnerin in der Begründung (vgl. S. 6 f. des Bescheids), worin die Verstöße gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m Satz 2 JMStV liegen. Damit einhergehend veranschaulicht sie, was mit „in dieser Form“ gemeint ist, indem sie auf verschiedene im Einzelnen – nur beispielhaft – benannte pornografische Inhalte eingeht und grundlegend feststellt, dass pornografische Inhalte in Telemedien nur zulässig seien, wenn von Seiten des Anbieters durch das Einrichten einer geschlossenen Benutzergruppe sichergestellt sei, dass die Inhalte nur Erwachsenen zugänglich gemacht würden (§ 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV). Danach wird für die Antragstellerin als sachkundiger Betreiberin der Website hinreichend deutlich, dass sich die Beanstandung und Untersagung auf – sämtliche – in ihrem Telemedienangebot enthaltenen pornografischen Inhalte bezieht.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">b. Vor diesem Hintergrund ist – entgegen der Auffassung der Antragstellerin – auch nicht unklar, in welchem Umfang welche konkreten Inhalte die Antragsgegnerin hat beanstanden oder künftig untersagen wollen. Die in dem Bescheid genannten Beispiele dienen lediglich zum Beleg, dass auf der Seite der Antragstellerin pornografische Inhalte enthalten sind, die gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV nur dann zulässig sind, wenn von Seiten des Anbieters sichergestellt ist, dass sie nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden (geschlossene Benutzergruppe). Dementsprechend folgt aus Ziffer 2 Satz 3 des Bescheids, dass die Antragstellerin ihre Verpflichtung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV erfüllt, wenn sie die, d. h. alle, pornografischen Inhalte von ihrem Angebot entfernt oder eine geschlossene Benutzergruppe einrichtet, durch die sichergestellt wird, dass nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhalten. Letzteres wird auf S. 9 des Bescheids dahingehend erläutert, dass der Anbieter (pornografischer Inhalte) seiner Pflicht dadurch entsprechen könne, dass er durch technische oder sonstige Mittel die Wahrnehmung des Angebots durch Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersstufe unmöglich macht oder wesentlich erschwert oder das Angebot mit einer Alterskennzeichnung versieht, die von geeigneten Jugendschutzprogrammen nach § 11 Abs. 1 und 2 JMStV ausgelesen werden können. Mit Angebot sind dabei – aus den vorstehend genannten Gründen – sämtliche pornografischen Darstellungen gemeint. Es kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Antragstellerin als Betreiberin als auch die mit dem Vollzug der Untersagungsverfügung befassten Mitarbeiter über die erforderliche Sachkunde verfügen, um auf der Grundlage des Verfügungsausspruchs und des bei Erlass des Bescheids festgestellten Angebots der Antragstellerin erkennen zu können, inwieweit es sich bei den von der Antragstellerin zukünftig gezeigten Inhalten um pornografische handelt.</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">c. Genauso wenig dringt die Antragstellerin mit ihrer weiteren Rüge durch, unklar sei, ab wann die in Ziffer 2 Satz 2 (vermeintlich) verfügte Untersagung greifen solle. Die Formulierung „Die Verbreitung des Angebots in dieser Form wird <em>zukünftig</em> untersagt“ konnte nicht dahingehend verstanden werden, dass eine Untersagung – in Zukunft – noch ergehen wird. Vielmehr war der Zusatz „zukünftig“ so zu verstehen – und wurde im Übrigen auch von der Antragstellerin selbst so verstanden –, dass die Antragsgegnerin die Verbreitung des Angebots in der beanstandeten Form für die Zukunft – d. h. ab Bescheidzustellung – untersagt hat. Für ein solches Verständnis spricht insbesondere auch, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen nach § 4 JMStV keine aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 20 Abs. 5 Satz 3 JMStV).</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">2. Mit ihrem Beschwerdevorbringen zeigt die Antragstellerin auch nicht auf, dass ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. Die Rüge der Antragstellerin, es fehle an einem „systemgerechten“ Vorgehen der Antragsgegnerin, greift nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 23,</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">zutreffend ausgeführt (Beschlussabdruck, S. 20 ff.), dass das Einschreiten der Antragsgegnerin allein am Maßstab der Willkür zu messen sei. Dabei stelle sich das Einschreiten einer Behörde, die den Einsatz ihrer begrenzten Ressourcen nicht an einem Plan ausrichtet, nicht als willkürlich dar, wenn sie Anhaltspunkten für Gesetzesverstöße nachgeht und einschreitet, sobald sie im regulären Gang der Verwaltung die Überzeugung gewonnen hat, dass die Voraussetzungen für ein Einschreiten gegeben sind. Sie ist vor dem Gleichheitsgebot nicht gehalten, ein Handlungskonzept für die zeitliche Reihenfolge des Einschreitens gegen mehrere Störungen aufzustellen oder gar Störungen, für die ein Einschreiten in Betracht kommt, zu ermitteln, um dann gestuft nach der Schwere der Verstöße einzuschreiten.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe überspannt die Antragstellerin die Anforderungen an das Willkürverbot, wenn sie – ohne hinreichende Auseinandersetzung mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts – meint, das Einschreiten der Antragsgegnerin, die über kein Entschließungs-, sondern lediglich über ein Auswahlermessen hinsichtlich der „erforderlichen“ Maßnahme verfügt,</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 - 27 K 93.16 -, juris, Rn. 71, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">erfordere ein „systemgerechtes“ Vorgehen, um willkürfrei zu sein. Das Willkürverbot ist vielmehr erst dann verletzt, wenn sich ein sachlicher Grund für ein staatliches Handeln nicht finden ließe.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 20 f., 23; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2020 - 13 B 1696/19 -, juris, Rn. 53, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Danach ist das Einschreiten der Antragsgegnerin gegen die Antragstellerin nicht willkürlich. Sie ist aufgrund des – von der Antragstellerin schon nicht in Abrede gestellten – Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV zum Einschreiten gegen die Antragstellerin gemäß § 20 Abs. 1 und 4 JMStV verpflichtet gewesen. Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass die Antragsgegnerin qualitative Gesichtspunkte – wie Art, Dauer und Häufigkeit von Verstößen gegen das JMStV – hätte berücksichtigen müssen, übersieht sie, dass das Willkürverbot nicht bereits verletzt ist, wenn nicht die zweckmäßigste oder gerechteste Regelung getroffen wird, sondern erst, wenn schlechterdings keine sachlichen Gründe erkennbar sind. Letzteres legt die Antragstellerin nicht dar. Insbesondere macht sie schon nicht geltend, dass das von der Antragsgegnerin herangezogene Kriterium der Reichweite sachwidrig ist. Zudem legt sie auch nicht in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar, dass sie über eine geringere Reichweite verfügt, als die von ihr benannten konkurrierenden Angebote mit pornografischen Inhalten. Allein der Hinweis darauf, dass ihr Telemedienangebot in der Vergangenheit seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert wurde, genügt hierfür nicht.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen setzt sich die Antragstellerin in diesem Zusammenhang auch nicht mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinander (Beschlussabdruck, S. 22 f.), wonach die Antragsgegnerin nicht nur gegen die Antragstellerin, sondern auch gegen andere, im Einzelnen benannte Angebote mit pornografischen Inhalten vorgegangen sei.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich kann auch die Rüge der Antragstellerin, es liege ein Verstoß gegen das Herkunftslandprinzip vor, nicht zur Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts führen.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Zwar wird gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 TMG in der Fassung vom 1. April 2015 (im Folgenden: TMG a. F.) der freie Dienstleistungsverkehr von Telemedien, die in der Bundesrepublik Deutschland von Dienstanbietern geschäftsmäßig angeboten oder erbracht werden, die in einem anderen Staat innerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinien 2000/31/EG (E-Commerce-RL) und 89/552/EWG niedergelassen sind, nicht eingeschränkt. Allerdings bleibt § 3 Abs. 5 TMG a. F. nach § 3 Abs. 2 Satz 2 TMG a. F. unberührt. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMG a. F. lässt eine einzelfallbezogene Durchbrechung des Herkunftslandprinzips zu, wenn die Maßnahmen dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere im Hinblick auf die Verhütung, Ermittlung, Aufklärung, Verfolgung und Vollstreckung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, einschließlich des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen sowie die Wahrung nationaler Sicherheits- und Verteidigungsinteressen, vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient und die auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts in Betracht kommenden Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Schutzzielen stehen. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F. sind für das Verfahren zur Einleitung von Maßnahmen nach Satz 1 – mit Ausnahme von gerichtlichen Verfahren einschließlich etwaiger Vorverfahren und der Verfolgung von Straftaten einschließlich der Strafvollstreckung und von Ordnungswidrigkeiten – die in Art. 3 Abs. 4 und 5 der E-Commerce-RL vorgesehenen Konsultations- und Informationspflichten zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde zieht die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass diese Voraussetzungen für eine einzelfallbezogene Ausnahme vom Herkunftslandprinzip vorliegen, nicht durchgreifend in Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">a. Die Beschwerde legt nicht hinreichend dar, dass die streitgegenständliche Maßnahme nicht dem Schutz des – von der Antragstellerin nicht in Abrede gestellten – Schutzziels „Jugendschutz“ vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zwar offengelassen (Beschlussabdruck, S. 28), ob und gegebenenfalls wie der Gefahrbegriff in Art. 3 Abs. 4 a ii ECRL bzw. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMG a. F. allgemeingültig zu definieren ist. Es hat aber festgestellt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union seine Prüfung einer Einzelfallausnahme zum Herkunftslandprinzip nach der Zielsetzung der Maßnahme, ihrer Eignung zur Zielerreichung sowie der Frage ausrichte, ob sie über das hinausgehe, was zur Zielerreichung erforderlich sei. Im Weiteren hat es unter Bezugnahme auf verschiedene im Einzelnen benannte Studien angenommen, dass der Konsum pornografischer Inhalte durch Kinder und Jugendliche jedenfalls eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMF a. F. darstelle. Auf dieser Grundlage hat das Verwaltungsgericht dargelegt, dass Kinder und Jugendliche fast ausnahmslos Zugang zum Internet haben und in diesem Rahmen in erheblichem Umfang unzulässige Pornografie konsumieren. Ausgehend von der näher dargestellten Datengrundlage hat es weiter keinen Anlass gesehen, die Einschätzung der Antragsgegnerin zu beanstanden, wonach es hinreichend wahrscheinlich sei, dass zumindest diejenigen Kinder und Jugendlichen, die gezielt Pornografie konsumierten, jedenfalls auch das Angebot der Antragstellerin in Anspruch nähmen. Schließlich hat es angenommen, der Einschätzung einer ernsthaften und schwerwiegenden Gefahr dürfte auch nicht entgegenstehen, dass wissenschaftlich teilweise umstritten sei, welcher tatsächliche Schaden für Kinder und Jugendliche infolge des Konsums unzulässiger Pornografie entstehen könne. In Bezug auf Gesundheitsgefahren, die gemäß § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG a. F. ebenfalls Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip begründen könnten, betone der EuGH u. a. im Kontext mit Gefahren für die sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung regelmäßig, dass ein Mitgliedstaat, wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung der Gefahren für die menschliche Gesundheit bleibe, Schutzmaßnahmen treffen könne, ohne warten zu müssen, bis der Beweis für das tatsächliche Bestehen dieser Gefahren vollständig erbracht sei. Demnach müsse weder der deutsche Gesetzgeber noch die Antragsgegnerin warten, bis nachweislich in erheblichem Umfang Schädigungen bei jungen Erwachsenen auf den Konsum unzulässiger Pornografie in ihrer Kindheit und Jugend wissenschaftlich zurückgeführt werden könnten. Zusammengefasst geht das Verwaltungsgericht also davon aus, dass die Gefahr für das mit hohem Stellenwert ausgestattete Schutzgut des Jugendschutzes mithin in der zu erwartenden Kenntnisnahme unzulässiger Pornografie durch Kinder und Jugendliche in unüberschaubarer Vielzahl (und der damit verbundenen möglichen Schäden für Kinder und Jugendliche und deren Entwicklung) besteht.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Mit dieser tragenden Erwägung und den ausführlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts dazu setzt sich die Antragstellerin nicht in der nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO gebotenen Weise auseinander. Der bloße Hinweis, das Verwaltungsgericht habe eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr nicht definiert, lässt die nötige inhaltliche Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung vermissen.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 146, Rn. 76.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Diese fehlt ebenfalls, soweit die Antragstellerin behauptet, auch die vom Verwaltungsgericht angeführten Studien und Daten könnten keine konkrete, sondern allenfalls eine abstrakte und damit keine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr begründen. Insbesondere legt die Antragstellerin ihrerseits nicht dar, dass der Konsum pornografischer Inhalte keine konkrete Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellt. Insoweit setzt sich die Antragstellerin weder mit den vom Verwaltungsgericht angeführten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union auseinander, noch legt sie selbst Studien oder sonstige Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch den Konsum pornografischer Inhalte vernünftigerweise ausgeschlossen werden kann. Dies folgt insbesondere nicht aus dem Zitat des Professors für Psychologie und Sexualwissenschaft Weller aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">https://www.waz.de/politik/landespolitik/nrws-langerkampf-gegen-sexfilm-portale-wie-youporn-oder-xhamster-id231176316.html.</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Vielmehr gibt dieser darin an, dass eine Studie aus Münster 2017 zu dem Schluss gekommen sei, dass ein Drittel der befragten 14- bis 15-Jährigen bereits online einen Hardcore-Porno gesehen habe. Zu den Folgen des Konsums pornografischer Inhalte verhält er sich im Weiteren nicht. Genauso wenig legt die Antragstellerin Nachweise oder Ähnliches für ihre durch nichts weiter substantiierte Behauptung vor, dass Jugendliche ihre Website nicht oder kaum konsumieren würden. Auch an dieser Stelle ist allein der Hinweis darauf, dass ihr Angebot seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde, unzureichend.</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">b. Anders als die Antragstellerin meint, stehen die angegriffenen Maßnahmen auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel des Jugendschutzes.</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Nach der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union decken sich die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gemäß des durch § 3 Abs. 5 TMG a. F. umgesetzten Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der E-Commerce-RL weitgehend mit denen, die für jede Beschränkung der durch die Art. 34 und 56 AEUV garantierten Grundfreiheiten gelten. Deshalb ist bei der Beurteilung der Unionsrechtmäßigkeit der in Rede stehenden innerstaatlichen Regelung die zu diesen Vorschriften des AEU-Vertrags ergangene Rechtsprechung zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 1. Oktober 2020 - C-649/18 -, juris, Rn. 64.</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Danach muss die in Rede stehende Beschränkung der durch Art. 56 AUEV garantierten Dienstleistungsfreiheit geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten (vgl. hierzu unter aa.), und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. unter bb.). Ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. unter cc.).</p> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 3. Februar 2021 - C-555/19 -, juris, Rn. 107, vom 28. Januar 2016 - C-375/14 -, juris, Rn. 37, und vom 8. September 2009 - C-42/07 -, juris, Rn. 60, sowie allgemein zur Verhältnismäßigkeitsprüfung EuGH, Urteil vom 11. Juli 1989 ‑ 265/87 -, juris, Rn. 21; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-StreinzEUVAEUVKOEuR-G-AEUV-A-56-GL-II-5-a-dd">Art. 56, Rn. 109</a>.</p> <span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">aa. Die gegenüber der Antragstellerin ausgesprochene Beanstandung und Untersagung der Verbreitung pornografischer Inhalte ohne die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe i. S. d. § 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV stellt ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Schutzziels des Jugendschutzes dar.</p> <span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">Die Eignung liegt nur dann vor, wenn durch die Maßnahme das geltend gemachte zwingende Allgemeininteresse in kohärenter und systematischer Weise erreicht wird.</p> <span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 10. März 2009 - C-169/07 -, juris, Rn. 55, und vom 30. Juni 2011 - C-212/08 -, juris, Rn. 57; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-StreinzEUVAEUVKOEuR-G-AEUV-A-56-GL-II-5-a-dd">Art. 56 AEUV, Rn. 110</a> m. w. N.; zum nationalen Recht vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 - 1 BvR 1806/98 -, juris, Rn. 41.</p> <span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Das ist hier der Fall. Die von der Antragsgegnerin geforderte Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe, durch die die Antragstellerin anders als bislang sicherstellt, das nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhalten, ist geeignet, das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, einen Zugriff von Kindern und Jugendlichen auf pornografische Inhalte zu verhindern oder zumindest zu verringern.</p> <span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 2007 - I ZR 102/05 -, juris, Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt nicht mit ihrem Vortrag durch, im Internet seien zahlreiche pornografische Angebote zugänglich, die über keinerlei Jugendschutzmaßnahmen verfügten und daher die Entwicklung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen stärker beeinträchtigen oder gefährden würden. Allein die Existenz weiterer Sachverhalte, die ein behördliches Einschreiten erfordern, kann einer Maßnahme nicht die Eignung absprechen. Eine Untersagungsverfügung kann trotz des grenzüberschreitenden Charakters des Internets und des hierdurch eintretenden möglichen Vollzugsdefizits geeignet sein, die mit dieser Maßnahme verfolgten Ziele zu erreichen.</p> <span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 - 4 K 262/11 -, juris, Rn. 78, unter Verweis auf die Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts zum Glücksspielrecht: BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 8 C 5.10 -, juris, Rn. 35.</p> <span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin – außerhalb der einmonatigen Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO – vorträgt, eine Untersagung ihr gegenüber würde zu einer Verdrängung der Nutzer in Richtung der zahlreichen anderen pornografischen Internetangebote führen, die überhaupt keine Mechanismen für den Jugendschutz vorsähen, legt sie – auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass ihr Angebot seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde – schon nicht dar, dass das Jugendschutzziel hierdurch nicht mehr in kohärenter und systematischer Weise erreicht wird. Da Kinder und Jugendliche gleichwohl noch auf ihr Videoportal – auch außerhalb von Suchmaschinen – zugreifen können, ist jedenfalls weiterhin nicht ausgeschlossen, dass durch die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe dieser Zugriff verringert werden kann.</p> <span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009 ‑ <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE385690901">1 BvR 1231/04</a> -, juris, Rn. 5; OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2003 - 8 B 2567/02 -, juris, Rn. 70; Bay. VGH, Beschluss vom 26. November 2020 - 7 ZB 18.708 -, juris, Rn. 23; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 14 K 4086/07 -, juris, Rn. 76; vgl. zudem auch EuGH, Urteil vom 10. Juli 1980 - C-152/78-, juris, Rn. 17, der es ausreichen lässt, dass eine Regelung dem Gesundheitsschutz – zumindest – in gewissem Umfang dient.</p> <span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">bb. Zudem sind die angegriffenen Maßnahmen auch erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Eine Maßnahme darf nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehen; das gleiche Ergebnis darf mit anderen Worten nicht durch weniger einschneidende Regelungen erreichbar sein.</p> <span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 1991 - C-288/89 -, juris, Rn. 15, m. w. N.; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56, AEUV Rn. 111; zum nationalen Recht vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE305140201">- 1 BvR 1806/98</a> -, juris, Rn. 44, m w. N.</p> <span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Ein milderes, gleich wirksames Mittel, um den Jugendschutz zu gewährleisten, steht nicht zur Verfügung. Die gegenüber der Antragstellerin ausgesprochene Beanstandung, durch die die Antragsgegnerin den Verstoß der Antragstellerin gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV förmlich festgestellt und missbilligt hat,</p> <span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 2014 ‑ 6 B 3.14 -, juris, Rn. 20; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2015 - 13 A 1215/17 -, juris, Rn. 32 m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">stellt bereits das mildeste förmliche Mittel der behördlichen Medienaufsicht dar.</p> <span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 ‑ 27 K 93.16 -, juris, Rn. 113; VG Würzburg, Urteil vom 23. Februar 2017 - W 3 K 16.1292 -, juris, Rn. 125, m. w. N.; VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 ‑ 4 K 262/11 -, juris, Rn. 76; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 14 K 4086/07 -, juris, Rn. 74.</p> <span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin musste es auch nicht bei einer Beanstandung belassen, sondern konnte diese mit der Untersagung der Verbreitung des Angebots in der beanstandeten Form verbinden, um weitergehende Verstöße der Antragstellerin gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag möglichst wirksam zu unterbinden. Indem die Antragsgegnerin der Antragstellerin die Möglichkeit eröffnet hat, ihrer Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags auch dadurch nachzukommen, dass sie die Inhalte nur einer geschlossenen Benutzergruppe zugänglich macht, weist sie zudem auf eine gegenüber der Untersagung weniger einschneidende Möglichkeit hin.</p> <span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 ‑ 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 57.</p> <span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Insbesondere hätte das Ziel Jugendschutz nicht gleich wirksam erreicht werden können durch ein Abwarten bis zur (ungewissen) Umsetzung einheitlicher Jugendschutzvorschriften in Zypern. Der Verstoß gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV hätte bis dahin weiterhin fortgedauert.</p> <span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin rügt, dass das von ihr verwendete RTA-Label ein milderes Mittel gegenüber einem Altersverifikationssystem darstelle, legt sie schon nicht dar, dass es gleichermaßen zum Jugendschutz geeignet ist wie die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe. Dies ist aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen gerade nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Andere mildere, aber gleich geeignete Maßnahmen legt die Antragstellerin schon nicht in der gebotenen Weise dar. Diese sind auch sonst nicht erkennbar. Insbesondere würde durch die – wohl ohnehin eingriffsintensivere – Verpflichtung der Antragstellerin, pornografische Inhalte generell nur zu einer bestimmten Uhrzeit anzubieten, keine geschlossene Benutzergruppe eingerichtet.</p> <span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt schließlich auch nicht mit ihrer – erneut außerhalb der Begründungsfrist angebrachten und damit nicht mehr zu berücksichtigenden – Rüge durch, ein Austausch zwischen den Beteiligten zur Erzielung einer konsensualen Lösung stelle eine mildere Maßnahme dar. Unabhängig davon, ob dies rechtlich geboten war, hat zwischen den Beteiligten am 26. März 2020 per Videokonferenz ein solcher Austausch stattgefunden, ohne dass eine einvernehmliche Lösung gefunden werden konnte. Vielmehr teilte die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 9. April 2020 ihre abweichenden rechtlichen Ansichten mit. Im Übrigen lässt die Antragstellerin, soweit sie auf die seitens der Antragsgegnerin mit ihrem Konkurrenten z. geführten Gespräche abstellt,</p> <span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">vgl. https://www.berliner-zeitung.de/news/pornos-so-will-xhamster-den-jugendschutz-verbessern-li.250381,</p> <span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">unerwähnt, dass – wie sich auch aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ergibt (Beschlussabdruck, S. 23) – gegen diesen ebenfalls eine Beanstandungs- und Untersagungsverfügung wegen des Anbietens pornografische Telemedieninhalte ergangen war.</p> <span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">cc. Schließlich stehen die Maßnahmen auch in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen.</p> <span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 11. Juli 1989 - 265/87 -, juris, Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Dies erfordert eine Abwägung zwischen dem Schweregrad der Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit und dem Grad und der Gewichtigkeit des Zielgewinns unter Einbeziehung sämtlicher relevanter Gesichtspunkte.</p> <span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV 3. Auflage 2018, Art. 56, AEUV, Rn. 115, m. w. N.; zum nationalen Recht vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Oktober 1990 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE211459003">1 BvR 283/85 </a>-, juris, Rn. 74 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Offen bleiben kann, ob sich dies – wie vom Verwaltungsgericht angenommen (Beschlussabdruck, S. 33 ff.) – bereits aus der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch nicht umgesetzten AVMD-Richtlinie 2018 ergibt.</p> <span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">Zur Anwendungsabgrenzung vgl. Liesching, Das Herkunftslandprinzip der E-Commerce-Richtlinie und seine Auswirkung auf die aktuelle Mediengesetzgebung in Deutschland, 2020, S. 28, abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">https://library.oapen.org/bitstream/id/375c872a-962d-44ae-a946-a47d71d12d85/CG_978-3-941159-47-1.pdf.</p> <span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">Denn auch ohne Berücksichtigung der Regelungen und Erwägungen der AVMD-Richtlinie 2018 steht die Beschränkung der Antragstellerin in ihrer Berufsfreiheit sowie ihrer Dienstleistungsfreiheit nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel des Jugendschutzes.</p> <span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">Der Schutz der Rechte des Kindes ist durch verschiedene internationale Verträge anerkannt, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, so durch den am 19. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen und am 23. März 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und durch das am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene und am 2. September 1990 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte des Kindes.</p> <span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 39, und vom 27. Juni 2006 - C-540/03 -, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">Der Schutz des Kindes wird auch durch im Rahmen der Europäischen Union ausgearbeitete Rechtstexte gewährleistet, so durch die am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1), nach deren Art. 24 Abs. 1 Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind.</p> <span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 41; zum Verfassungsrang des Kinder- und Jugendschutzes vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1990 - 1 BvR 402/87 -, juris, Rn. 33; BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 1998 - 1 B 5.98 -, juris, Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf den hohen Stellenwert des Jugendschutzes müssen die Beeinträchtigungen der Antragstellerin in ihrer durch Art. 56 f. AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit zurücktreten. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin die Verbreitung des beanstandeten Angebots nicht vollständig untersagt, sondern dessen Verbreitung nur von der Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe abhängig gemacht hat. Etwaige finanzielle Einbußen, die aus der Beschränkung der Benutzergruppe bzw. dem Vorsehen einer technischen Alterskennzeichnung folgen könnten, hier jedoch in keiner Weise dargelegt wurden, sind angesichts der herausragenden Bedeutung des Jugendschutzes hinzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">So auch VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 ‑ 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 58; VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 - 4 K 262/11 -, juris, Rn. 80; VG Minden, Urteil vom 18. August 2010 - 7 K 721/10 -, juris, Rn. 39.</p> <span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt schließlich auch nicht mit ihrem Vortrag durch, dass in anderen Mitgliedstaaten weniger strenge Vorgaben an die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe gestellt werden. Denn allein der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat für andere Schutzmodalitäten als ein anderer Mitgliedstaat entschieden hat, kann keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der in diesem Bereich erlassenen nationalen Bestimmungen haben. Vielmehr kommt den Mitgliedstaaten – nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts – ein Wertungsspielraum zu, auf welchem Niveau sie den Jugendschutz gewährleisten wollen.</p> <span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Für den Bereich des Gesundheitsschutzes vgl. EuGH, Urteile vom 1. Oktober 2020 - C-649/18 -, juris, Rn. 71, und vom 18. September 2019 - C-222/18 -, juris, Rn. 71; zum Prüfverfahren zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material vgl. zudem EuGH, Urteil vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 49.</p> <span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">Dass dieser vorliegend überschritten wurde, legt die Antragstellerin weder dar, noch ist dies mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen sonst erkennbar.</p> <span class="absatzRechts">203</span><p class="absatzLinks">c. Das Beschwerdevorbringen vermag auch nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts zu erschüttern, die Antragsgegnerin habe die ihr nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b E-Commerce-RL (i. V. m. § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F.) obliegenden Konsultations- und Informationspflichten erfüllt. Danach hat der Mitgliedstaat, der Maßnahmen im Anwendungsbereich der Richtlinie ergreifen möchte, zuvor</p> <span class="absatzRechts">204</span><p class="absatzLinks">-          den Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, und</p> <span class="absatzRechts">205</span><p class="absatzLinks">-          dieser hat dem nicht Folge geleistet oder die von ihm getroffenen Maßnahmen sind unzulänglich;</p> <span class="absatzRechts">206</span><p class="absatzLinks">-          die Kommission und den Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, über seine Absicht, derartige Maßnahmen zu ergreifen, unterrichtet.</p> <span class="absatzRechts">207</span><p class="absatzLinks">Die erste Voraussetzung bedeutet, dass der Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, zuvor über die Schwierigkeiten unterrichtet worden sein und die Möglichkeit gehabt haben muss, selbst eine Lösung zu finden. Die zweite Voraussetzung besagt, dass die getroffenen Maßnahmen nach Auffassung des Bestimmungsmitgliedstaats unzureichend sein müssen. Gemäß der dritten Voraussetzung ist sowohl die Kommission als auch der Herkunftsmitgliedstaat vor dem Ergreifen von Maßnahmen zu informieren. So kann die Kommission ihre Aufgaben nach Absatz 6 ausüben. In der Richtlinie ist keine Frist vorgesehen, innerhalb derer der Staat des Anbieters auf die Unterrichtung durch den Bestimmungsmitgliedstaat des Anbieters reagieren muss. Doch haben die Mitgliedstaaten dem Amtshilfe- und Auskunftsbegehren anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission nach Artikel 19 Abs. 3 der Richtlinie „so rasch wie möglich“ nachzukommen.</p> <span class="absatzRechts">208</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Zentralbank, Anwendung von Art. 3 Abs. 4 - 6 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr auf Finanzdienstleistungen, KOM(2003) 259 endg. vom 14. Mai 2003, S. 7,</p> <span class="absatzRechts">209</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">210</span><p class="absatzLinks">https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2003:0259:FIN:DE:PDF.</p> <span class="absatzRechts">211</span><p class="absatzLinks">Die Unterrichtungspflicht dient dazu, einen Eingriff eines Mitgliedstaats in die grundsätzliche Zuständigkeit des Mitgliedstaats des Sitzes des betreffenden Anbieters des Dienstes der Informationsgesellschaft zu verhindern.</p> <span class="absatzRechts">212</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - C-390/18 -, juris, Rn. 95.</p> <span class="absatzRechts">213</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der E-Commerce-RL vorgesehene Pflicht zur Unterrichtung über eine Maßnahme, die den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft beschränkt, die von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Anbieter erbracht werden, führt daher dazu, dass diese Maßnahme dem Einzelnen nicht entgegengehalten werden kann.</p> <span class="absatzRechts">214</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 ‑ C-390/18 -, juris, Rn. 96.</p> <span class="absatzRechts">215</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben, die auch das Verwaltungsgericht zu Grunde gelegt hat (Beschlussabdruck, S. 36), zeigt die Antragstellerin nicht auf, dass die Antragsgegnerin ihren Konsultations- und Informationspflichten nicht nachgekommen ist. Zwar hat die Antragsgegnerin die zypriotischen Behörden nicht ausdrücklich dazu aufgefordert, Maßnahmen gegen die Antragstellerin zu ergreifen. Vielmehr hat sie „lediglich“ bei der Medienbehörde CRTA angefragt, ob es rechtliche Schritte gebe, die die CRTA einleiten könne, woraufhin die CRTA – die Annahme der Antragsgegnerin – bestätigt hat, dass sie nur für Radio und Fernsehen zuständig sei, aber keine Kompetenz für Video-Sharing Dienste habe. Nach dieser Auskunft wäre die Aufforderung an die zypriotischen Behörden, Maßnahmen zu ergreifen, in Ermangelung einer entsprechender Rechtsgrundlage allerdings von vornherein aussichtslos – und damit bloße Frömmelei – gewesen. Vor dem Hintergrund des vorstehend dargestellten Sinn und Zwecks der Unterrichtungspflicht wurden die Anforderungen des Art. 3 Abs. 4 Buchst. b E-Commerce-RL (i. V. m. § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F.) durch die mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 erfolgte Information der CRTA, dass beabsichtigt sei, gegenüber der Antragstellerin formale Maßnahmen zu ergreifen, hinreichend gewahrt. Hierdurch wurde den zypriotischen Behörden die Möglichkeit eingeräumt, selbst Maßnahmen zu ergreifen. Spätestens mit der Mitteilung der CRTA vom 29. Oktober 2019 an die Antragsgegnerin, dass keine Vorbehalte gegen das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin bestünden, hat sie eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie selbst nicht beabsichtigt, Maßnahmen gegen die Antragstellerin zu ergreifen.</p> <span class="absatzRechts">216</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin beanstandet, dass die CRTA den ITS als zuständige Behörde benannt habe, setzt sie sich nicht in der gebotenen Weise mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auseinander, das davon ausgegangen ist (Beschlussabdruck, S. 39), dass die CRTA lediglich mitgeteilt habe, dass der ITS für die Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie zuständig sei. Im Übrigen berücksichtigt sie nicht, dass die Antragsgegnerin sich mit E-Mail vom 30. April 2020 an den ITS im zypriotischen Ministerium für Energie, Handel und Industrie zwecks Information über das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin gewandt und auch bei dieser Stelle angefragt hatte, ob Bedenken gegen ein Einschreiten durch die Antragsgegnerin bestünden. Hierdurch hat sie Zypern ein weiteres Mal die Möglichkeit eingeräumt, selbst Maßnahmen zu ergreifen, die es aufgrund der weiterhin fehlenden Rechtsgrundlage aber nicht hat ergreifen können.</p> <span class="absatzRechts">217</span><p class="absatzLinks">Ein weiteres Zuwarten bis zur Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie – wie von der Antragstellerin im Schriftsatz vom 28. Juni 2022 gefordert – war schon deshalb nicht geboten, weil der ITS weder mitgeteilt hatte, für wann die Umsetzung geplant gewesen ist, noch gebeten hatte, bis dahin von Maßnahmen abzusehen. Insoweit vermag auch nicht die Annahme der Antragstellerin, die Konsultationspflichten kämen immer erst dann zum Tragen, wenn ein Mitgliedstaat nationales Recht anzuwenden beabsichtige, das über das nationale Recht des Niederlassungsstaates hinausgehe, zu überzeugen. Vielmehr liegt der Unterrichtungspflicht der Gedanke zu Grunde, dass der Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, überhaupt die Möglichkeit hat, eigene Maßnahmen zu ergreifen.</p> <span class="absatzRechts">218</span><p class="absatzLinks">B. Die im Hinblick auf etwaige verbleibende Unsicherheiten lediglich ergänzend vorzunehmende Folgenabwägung ergibt ebenfalls, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung von Ziffern 1 und 2 der angefochtenen Ordnungsverfügung das private Interesse der Antragstellerin, von Vollziehungsmaßnahmen vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt. Das – nicht weiter substantiierte – wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin an der unveränderten Fortsetzung der ihr – in der aktuellen Form – untersagten Tätigkeit muss hinter dem öffentlichen Interesse, die von dieser Tätigkeit ausgehenden ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren von Beeinträchtigungen für den Jugendschutz zu unterbinden, zurücktreten.</p> <span class="absatzRechts">219</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">220</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">221</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 und 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,540
ovgnrw-2022-09-07-13-b-191321
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
13 B 1913/21
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:23"
"2022-10-17T11:10:05"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0907.13B1913.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. November 2021 wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist Content-Providerin. Sie hat ihren Sitz in Zypern und betreibt die Internetseite https://de.n.com. Diese sowie zwei weitere Webseiten aus ihrem Unternehmensverbund sind Gegenstand aufsichtsbehördlicher bzw. gerichtlicher Verfahren.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 11. Juli 2019 teilte die Antragsgegnerin der zypriotischen Medienbehörde Cyprus Radiotelevision Authority (CRTA) mit, dass das Telemedienangebot der Antragstellerin „de.n.com“ aus ihrer Sicht gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und gegen § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 und 4 des Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – JMStV) verstoße. Zugleich bat die Antragsgegnerin die CRTA um Mitteilung, ob sie, die CRTA, rechtliche Schritte einleiten könne, und fragte nach, ob es richtig sei, dass die CRTA nur für Radio und Fernsehen und nicht auch für Video-Sharing-Plattformen zuständig sei und es auch sonst keine staatliche Behörde gebe, die hierfür zuständig wäre. Mit E-Mail vom 14. August 2019 wies die CRTA die Antragsgegnerin darauf hin, dass Zypern dabei sei, die Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) umzusetzen. Daher sei die CRTA derzeit nur für die Überwachung von Rundfunk- und Fernsehangeboten, nicht jedoch für eine Überwachung von Video-Sharing-Diensten zuständig. Die Zuständigkeit zur Umsetzung der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 (E-Commerce-Richtlinie) liege beim „Industry and Technology Service“ (ITS) des zypriotischen Ministeriums für Energie, Handel und Industrie.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 24. Oktober 2019 informierte die Antragsgegnerin die CRTA darüber, dass sie aufgrund festgestellter Verstöße gegen Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags beabsichtige, aufsichtsbehördlich gegen das Telemedienangebot der Antragstellerin einzuschreiten. Sie bat die CRTA zudem bis zum 28. Oktober 2019 um Mitteilung, sollte diese Vorbehalte gegen das beabsichtigte Einschreiten der Antragsgegnerin haben. Mit E-Mail vom 25. Oktober 2019 informierte die CRTA die Antragsgegnerin, dass sie keine Vorbehalte gegen ein Vorgehen gegen die zypriotischen Anbieter habe. Unter dem 14. November 2019 teilte die Antragsgegnerin der Europäischen Kommission mit, dass sie beabsichtige, gegen die Antragstellerin vorzugehen. Mit E-Mail vom 30. April 2020 informierte die Antragsgegnerin den von der CRTA für die E-Commerce-Richtlinie als zuständige Stelle benannten ITS im zypriotischen Ministerium für Energie, Handel und Industrie über das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin und fragte an, ob dieser Bedenken hiergegen hätte; eine Reaktion blieb aus.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 26. März 2020 fand zwischen den Beteiligten ein Austausch per Videokonferenz statt. Im Nachgang hierzu fasste die Antragstellerin mit Schreiben vom 9. April 2020 ihre rechtlichen Argumente zusammen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 20. Mai 2020 erging die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin an den Prüfungsausschuss der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), der 19 Anlagen über den Verfahrensablauf beigefügt waren. In der 28. KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020, die per Videokonferenz stattfand, wurde u. a. auch der Prüffall der Antragstellerin besprochen und vereinbart, dass eine Abstimmung über die Beschlussempfehlung im schriftlichen Verfahren erfolge (TOP 5.5). Mit E-Mail vom 28. Mai 2020 wurden den Mitgliedern der KJM die Faxblätter zur Abstimmung im schriftlichen Verfahren übersandt. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich die Sitzungsunterlagen in Sharepoint befänden und der verfahrensrelevante Mitschnitt im SharePoint-Videobereich freigeschaltet sei. Die übersandten Faxblätter sahen ein Ankreuzen vor, ob der Beschlussempfehlung einschließlich der Begründung im schriftlichen Verfahren zugestimmt werde. Im Falle der Nichtzustimmung wurde eine Begründung erbeten. Alle Mitglieder der KJM stimmten der Beschlussempfehlung einschließlich der Begründung im schriftlichen Verfahren zu. Am 12. Juni 2020 teilte die KJM der Antragsgegnerin den Tenor der Beschlussfassung mit.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 16. Juni 2020, zugestellt am 6. Juli 2020, stellte die Antragsgegnerin – nach vorheriger Anhörung – u. a. fest, dass die Antragstellerin gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV verstoße (Ziffer 1), sprach ihr gegenüber eine Beanstandung gemäß § 20 Abs. 1 JMStV i. V. m. § 59 Abs. 3 RStV aus und untersagte „die Verbreitung des Angebots in dieser Form […] zukünftig“ (Ziffer 2). Die Antragstellerin erfülle ihre Verpflichtung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV, wenn sie die pornografischen Inhalte von ihrem Angebot entferne oder eine geschlossene Benutzergruppe einrichte, durch die sichergestellt werde, dass nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhielten.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage (27 K 3904/20 VG Düsseldorf), über die noch nicht entschieden ist, mit Beschluss vom 30. November 2021 abgelehnt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Es spreche Überwiegendes dafür, dass die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage, § 20 Abs. 1 und Abs. 4 JMStV vom 28. Februar 2003 (GV. NRW. S. 84), zuletzt geändert durch Art. 5 des Neunzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 14. Juni 2016 (GV. NRW. S. 452) – im Folgenden JMStV a. F. – i. V. m. § 59 Abs. 3 RStV vom 21. November 1995 (GV. NRW. S. 1196) in der Fassung des Zweiundzwanzigsten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 26. Oktober 2019 (GV. NRW. S. 134) – im Folgenden RStV a. F. – vorlägen. Der Anwendbarkeit der genannten Vorschriften stehe nicht der Umstand entgegen, dass die Antragstellerin ihren Sitz nicht im Bundesgebiet, sondern auf Zypern habe. Insbesondere sei das sog. Herkunftslandprinzip nicht als Kollisionsregel einzuordnen. Es spreche auch Überwiegendes dafür, dass der der Entscheidung der Antragsgegnerin zugrunde liegende Beschluss der KJM im Einklang mit den Vorschriften des JMStV a. F. gefasst worden sei. Insbesondere habe die KJM die in § 17 Abs. 1 Satz 3 JMStV a. F. normierte Begründungspflicht durch die erfolgte Bezugnahme auf die Begründung der Beschlussvorlage beachtet. Die Bestimmungen im JMStV a. F. zum hier durchgeführten Verfahren verstießen auch nicht gegen Verfassungsrecht. Es liege kein Verstoß gegen das Bundesstaats- und Demokratieprinzip vor. Die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung habe für das hier betroffene Rechtsgebiet des Rundfunk- und Telemedienrechts verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der KJM bislang nicht geäußert, so dass die Kammer jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine Veranlassung sehe, den von der Antragstellerin umfangreich aufgeworfenen Problemstellungen nachzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich mit Urteil vom 20. April 2021 - 6 C 6.20 - konkret mit Aufgaben und Organzuständigkeit der KJM auseinandergesetzt und diesbezüglich keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert. In seinem Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 - habe das Bundesverwaltungsgericht zwar nicht unmittelbar zur KJM (vgl. § 35 Abs. 2 Nr. 4 RStV a. F.), aber zu der Kommission für Zulassung und Aufsicht - ZAK - festgestellt, dass die im Rundfunkstaatsvertrag vorgesehene materielle Entscheidungsbefugnis der ZAK für die Zulassung bundesweiter Programme keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliege. Auch in materieller Hinsicht dürften die in Rede stehenden Regelungen im angefochtenen Bescheid rechtmäßig sein. Es spreche Überwiegendes dafür, dass sie, soweit sie hier angegriffen worden seien, hinreichend bestimmt seien. Der Begründung des Bescheids lasse sich entnehmen, dass sich die Beanstandung nicht auf das gesamte Internetangebot unter der Domain de.mydirtyhobby.com, sondern nur auf die gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV a. F. (und § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 und 4 JMStV a. F.) verstoßenden Teile des Angebots beziehe. Zudem lägen auch die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage vor, da die Antragstellerin gegen das Verbot des § 4 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Satz 2 JMStV a. F. als Anbieterin von Telemedien verstoßen habe. Weder Art. 3 Abs. 1 GG noch Art. 12 Abs. 1 GG geböten die Aufstellung eines behördlichen Eingriffskonzepts für die zeitliche Reihenfolge des Einschreitens gegen Anbieter von Telemedienangeboten im Unionsgebiet außerhalb Deutschlands, die pornografische Inhalte frei zugänglich anböten. Die in Rede stehende Maßnahme stehe ferner im Einklang mit völkerrechtlichen Grundsätzen. Das frei zugängliche Angebot pornografischer Inhalte im Internet durch Anbieter mit Sitz im Unionsgebiet außerhalb Deutschlands dürfte eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip aus Art. 3 Abs. 2 TMG a. F. i. V. m. Art. 3 Abs. 2 E-Commerce-Richtlinie begründen. Der Jugendschutz in Gestalt von § 4 Abs. 2 JMStV a. F. stelle ein Schutzgut dar, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dieses Schutzgut sei bei frei zugänglicher Pornografie im Internet ernsthaft und schwerwiegend gefährdet. Bei dieser Einschätzung dürfte es auch ohne Bedeutung sein, ob das in Rede stehende Angebot der Antragstellerin über ein sogenanntes RTA-Label verfüge, das von einer entsprechenden Jugendschutzsoftware ausgelesen werden könne. Die streitbefangenen Maßnahmen – die Beanstandung und die Untersagung der Verbreitung des Angebots in Deutschland, soweit es frei zugängliche Pornografie enthält – dürften im Sinne von § 3 Abs. 5 Satz 1 2. Halbsatz TMG a. F. und der gleichlautenden Vorgabe in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a iii) E-Commerce-Richtlinie auch in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Schutzgut stehen, mithin auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verhältnismäßig sein. Schließlich dürfte die Antragsgegnerin die ihr obliegenden Konsultations- und Informationspflichten gemäß den Vorgaben des Art. 3 Abs. 4 Buchst. b Erster Spiegelstrich E-Commerce-Richtlinie erfüllt haben. Wenn ein Einschreiten rechtlich bereits nicht zulässig sei, weil sich das Verhalten in jenem Mitgliedstaat – wie vorliegend – als gesetzeskonform darstelle, dürften auch die Anforderungen an die Konsultation geringer ausfallen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dagegen hat die Antragstellerin am 10. Dezember 2021 Beschwerde erhoben, die sie am 3. Januar 2022 sowie ergänzend mit Schriftsätzen vom 28. Juni 2022 und 3. August 2022 begründet hat. Sie macht insbesondere geltend, das Verwaltungsgericht setze sich mit der von ihr aufgeworfenen Frage, ob die Entscheidungsprozesse unter Einbindung der KJM verfassungswidrig seien, trotz ihres umfangreichen Vortrags im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, mit dem sie auch in Zweifel gezogen habe, dass die Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts zu der Verfassungsmäßigkeit der ZAK auf die KJM übertragen werden könne, nicht auseinander. Unabhängig davon genüge der am 27. Mai 2020 als Videokonferenz im schriftlichen Verfahren gefasste Beschluss der KJM nicht dem Begründungserfordernis des § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV a. F. Zudem sei der angefochtene Bescheid auch offensichtlich materiell rechtswidrig. Die in den Ziffern 1 und 2 Sätze 1 und 2 des Bescheids enthaltenen Regelungen entsprächen nicht den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Es liege auch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor, da es an einem systemgerechten Vorgehen der Antragsgegnerin fehle. Schließlich verstießen die Maßnahmen gegen das Herkunftslandprinzip; eine Ausnahme gemäß § 3 Abs. 5 TMG a. F. liege nicht vor. Es fehle an einer konkreten Gefährdung oder Beeinträchtigung der Schutzgüter im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 TMG a. F. Zudem sei die Maßnahme unverhältnismäßig und die Antragsgegnerin sei ihren in § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F. i. V. m. Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der E-Commerce-Richtlinie vorgesehenen Informations- und Konsultationspflichten mit Blick auf die zypriotischen Aufsichtsbehörden nicht nachgekommen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 27 K 3904/20 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Juni 2020 anzuordnen, soweit dort das Telemedienangebot der Antragstellerin de.n.com wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV beanstandet und die Verbreitung des Angebots in dieser Form zukünftig untersagt worden ist.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin tritt dem entgegen und beantragt,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Beschwerde zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des Verwaltungsvorgangs ergänzend Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">A. Die zur Begründung der Beschwerde fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">zur Nichtberücksichtigung von nach Fristablauf erstmals geltend gemachten Beschwerdegründen vgl. Rudisile, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht VwGO, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 146 Rn. 13a, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">I. Das Beschwerdevorbringen zeigt keine Fehler auf, die zu einer formellen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids führen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Insbesondere dringt die Antragstellerin nicht mit ihrer Rüge durch, die Beschlussfassung der KJM verstoße gegen die Begründungsanforderungen des <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_17">§ 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV</a>.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der angefochtene Bescheid ist in der zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 16. Juni 2020 gültigen Fassung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt vgl. BVerwG, Urteile vom 20. April 2021 - 6 C 6.20 -, juris, Rn. 11, und vom 31. Mai 2017 - 6 C 10.15 -, juris, Rn. 12; Bay. VGH, Beschluss vom 26. November 2020 - 7 ZB 18.708 -, juris, Rn. 14; VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 - 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 34, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">von der Antragsgegnerin als der gemäß § 14 Abs. 1, § 20 Abs. 1, 4 und 6 JMStV für die Aufsicht über die Antragstellerin zuständigen Landesmedienanstalt erlassen worden. Stellt die zuständige Landesmedienanstalt fest, dass ein Anbieter gegen die Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags verstoßen hat, trifft sie die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Anbieter, § 20 Abs. 1 JMStV. Für Anbieter von Telemedien trifft nach § 20 Abs. 4 JMStV die zuständige Landesmedienanstalt die jeweilige Entscheidung durch die KJM entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 des Rundfunkstaatsvertrags. Nach § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV hat die KJM ihre Beschlüsse, die gegenüber den anderen Organen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend und deren Entscheidungen zu Grunde zu legen sind (§ 17 Abs. 1 Satz 5 und 6 JMStV), zu begründen (§ 17 Abs. 1 Satz 3 JMStV). In dieser Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen (Satz 4).</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat die Anforderungen an das Begründungserfordernis mit Urteil vom 17. Juli 2015 - 13 A 1215/12 - (juris, Rn. 38 ff.) wie folgt konkretisiert:</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">„Bei der Auslegung dieser Vorschriften und zur Ermittlung der Anforderungen an das Begründungserfordernis nach § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV ist das nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag spezifisch ausgestaltete Verhältnis der Landesmedienanstalten und der KJM in den Blick zu nehmen. Danach ist bei der Aufsicht über Telemedien-Angebote die inhaltliche Entscheidung über die Vereinbarkeit von Telemedien-Angeboten mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag und die bei Verstößen zu treffenden Maßnahmen allein der KJM – als Organ der Landesmedienanstalt – zugewiesen (vgl. §§ 14 Abs. 2 Satz 2, 16 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 4 JMStV). Die zuständige Landesmedienanstalt organisiert für die inhaltliche Entscheidung der KJM das Verfahren, ermittelt den Sachverhalt und setzt die Entscheidung der KJM, an die sie inhaltlich und nach der Begründung gebunden ist, nach außen gegenüber dem Anbieter um (§ 17 Abs. 1 Sätze 5 und 6 JMStV).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Zudem sind die hinter dem Erfordernis der Begründung der KJM gemäß § 17 Abs. 1 Sätze 3 und 4 JMStV stehenden Zwecke zu berücksichtigen. Das Begründungserfordernis dient zum einen objektiven Zwecken: Es soll die KJM dazu anhalten, den von ihr zu beurteilenden Sachverhalt sorgfältig zu ermitteln und diesen unter Berücksichtigung des Vorbringens des Anbieters in jugendschutzrechtlicher Hinsicht selbst sachverständig zu bewerten. Weiter dient die Begründung der Klarheit für die anderen Organe der zuständigen Landesmedienanstalt, weil diese an die Beschlüsse der KJM gebunden sind und sie einschließlich der Begründung ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen haben. Zugleich dient die Begründung aber auch den Rechten der Anbieter von Telemedien. Das Begründungserfordernis für die KJM wurde ausdrücklich mit Blick auf die (Grund-) Rechte der Betroffenen, die eventuell gegen eine abschließende Entscheidung Rechtsschutz in Anspruch nehmen wollen, in den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag aufgenommen. Der Betroffene bedarf der Begründung, da er ohne Kenntnis der Gründe, auf die die KJM ihre Entscheidung stützt, ein gerichtliches Verfahren nicht sinnvoll führen kann. Die Anbieter haben Anspruch darauf, dass die KJM ihren Beschluss nach ausreichender Kenntnisnahme des zu beurteilenden Angebotes unter Bekanntgabe ihrer wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen begründet. Fehlt eine solche Begründung, schlägt dies auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der zuständigen Landesmedienanstalt durch.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 29 ff.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der Bedingungen der Praxis der Medienaufsicht, des vielfach komplexen und umfangreichen Charakters dieser Prüfungsverfahren sowie der Gegebenheiten einer Gremienentscheidung wird einhellig für die Begründung des Beschlusses der KJM als ausreichend angesehen, wenn diese der von der zuständigen Landesmedienanstalt vorgelegten Beschlussvorlage einschließlich einer darin enthaltenen Begründung des vorgeschlagenen Beschlusses durch Bezugnahme zustimmt. Dann müssen eine solche Bezugnahme bzw. Verweisung und der Wille, sich die Begründung der Beschlussvorlage zu eigen zu machen, aus der Niederschrift über den Beschluss der KJM oder aus sonstigen Unterlagen klar und unmissverständlich hervorgehen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014, a. a. O., Rn. 83 f.; Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 26; VG Hannover, Urteil vom 8. Juli 2014 - 7 A 4679/12 ‑, juris Rn. 56.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Zudem kann nur dann die Bezugnahme der KJM auf eine Beschlussvorlage der Landesmedienanstalt deren eigene Begründung ersetzen, wenn diese Beschlussvorlage überhaupt eine Begründung für den Beschlussvorschlag enthält und diese Begründung ihrerseits klar und unmissverständlich ist. An letzterem Erfordernis kann es dann fehlen, wenn die Beschlussvorlage wiederum auf andere Vorlagen der Landesmedienanstalt, die Prüfempfehlung der Prüfgruppe der KJM oder sonstige Schriftstücke Bezug nimmt. In diesem Fall besteht nämlich die Gefahr, dass nicht mehr hinreichend eindeutig ist, was die Begründung der Entscheidung der KJM sein soll. Deshalb geht eine verbreitete Auffassung davon aus, dass eine Begründung für einen Beschluss der KJM nicht ausreichend ist, wenn sich diese allein im Wege einer „Kettenverweisung“ ermitteln lässt.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014, a. a. O., Rn. 84; Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, a. a. O., Rn. 26; VG Berlin, Urteil vom 3. Mai 2012 - 27 A 341.06 -, juris Rn. 32 f. (fehlende Entscheidung in der Beschlussvorlage); differenzierend VG Hannover, Urteil vom 8. Juli 2014, a. a. O., juris Rn. 58.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der Zwecke einer Begründung des Beschlusses der KJM ist nach Auffassung des Senats eine Bezugnahme auf eine Beschlussvorlage im Grundsatz zulässig, wenn dadurch eine klare und unmissverständliche Begründung des Beschlusses zu Stande kommt. Eine Kettenverweisung wird diesen Maßstäben in der Regel nicht gerecht, weil mehrere Schritte erforderlich sind, um die in Bezug genommene „gemeinte Begründung“ zu ermitteln und hierbei die unmissverständliche Klarheit typischerweise fehlt. Die Bezugnahme muss dem Beschluss der KJM (Plenum oder Prüfausschuss) oder dem diesen enthaltenden Protokoll aber durch eindeutige Formulierungen zu entnehmen sein. Allein der Umstand, dass der Beschluss seinem Inhalt nach der in der Beschlussvorlage vorgeschlagenen Entscheidung entspricht, reicht nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben, die der Senat weiterhin zu Grunde legt, ist der im Anschluss an die 28. Sitzung der KJM von 27. Mai 2020 im schriftlichen Verfahren gefasste Beschluss in einer den Anforderungen des § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV genügenden Weise begründet. Die Mitglieder der KJM stimmten „der Beschlussfassung einschließlich der Begründung“ durch Ankreuzen der vorformulierten Erklärung im schriftlichen Verfahren zu.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zum schriftlichen Verfahren vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 77; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 5 ff.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht zweifelhaft, dass damit die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2020 gemeint gewesen ist, auch wenn der die Zustimmung enthaltende Satz selbst weder ein Datum des Beschlussvorschlags nennt, noch die konkrete Landesmedienanstalt bezeichnet. Aus den jeweiligen Zustimmungsformularen ergibt sich der konkrete Prüffall durch Bezeichnung des Angebots, Nennung der Anbieter und eines Aktenzeichens sowie Angabe der Antragsgegnerin als zuständige Landesmedienanstalt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">So auch im einem ähnlich gelagerten Fall VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 - 27 K 93.16 -, juris, Rn. 65, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Zudem erfolgte die Zustimmung ausdrücklich im Nachgang zu der in Bezug genommenen KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Genauso wenig hat der Senat Anlass daran zu zweifeln, dass die Beschlussvorlage den KJM-Mitgliedern vorab zur Kenntnis gebracht wurde. Im Gegenteil: Aus dem Protokoll zu der 28. KJM-Sitzung vom 27. Mai 2020 ergibt sich, dass alle KJM-Mitglieder durch Handzeichen bestätigt haben, dass die – vorab in Sharepoint eingestellten – verfahrensrelevanten Mitschnitte und Unterlagen zu dem Prüffall der Antragstellerin, wozu auch die am 20. Mai 2020 übersandte Beschlussvorlage gehörte (Bl. 109, Heft 1a der Beiakte), vollumfänglich gesichtet wurden.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrer Rüge durch, die KJM habe der Antragsgegnerin mit E-Mail vom 16. Juni 2020 lediglich den Beschlussinhalt ohne dazugehörige Begründung mitgeteilt. Wenngleich sich der durch die Bereichsleiterin der KJM übersandten E-Mail nur der Beschlussinhalt entnehmen lässt, folgt aus den ebenfalls übersandten Voten der KJM-Mitglieder, dass diese der Beschlussvorlage der Antragsgegnerin auch hinsichtlich der Begründung gefolgt sind. Da die Beschlussvorlage der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2020 eine vollständige Begründung enthielt, liegt – anders als in der vorstehend zitierten Entscheidung des Senats – auch keine unzulässige Kettenverweisung vor. Eine solche ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass der Beschlussvorlage 19 Anlagen zum Verfahrensablauf beigefügt waren, da deren Kenntnis lediglich vertiefender und umfassender Information der Mitglieder der KJM diente und sie nicht zu deren Entscheidungsfindung zwingend erforderlich waren. Vielmehr enthält die in Bezug genommene Begründung bereits alle wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe und erfüllt damit – auch ohne die beigefügten Anlagen – die Anforderungen von § 17 Abs. 1 Satz 3 und 4 JMStV.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Zur Beifügung von Anlagen vgl. auch Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 - 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 19.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">II. Auch der Einwand, der Entscheidungsprozess unter Einbindung der KJM unterliege verfassungsrechtlichen Bedenken, greift bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Sofern die Antragstellerin sich mit ihrer Rüge, das Verwaltungsgericht setze sich trotz ihres umfangreichen Vortrags nicht mit der Frage eines Verstoßes gegen das Bundesstaats- und Demokratieprinzip auseinander, auf einen Gehörsverstoß berufen sollte, kann dahingestellt bleiben, ob der behauptete Verfahrensfehler gegeben ist. Denn eine Beschwerde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann nicht allein mit einer Verfahrensrüge erfolgreich geführt werden. § 146 Abs. 4 VwGO kennt – anders als die Vorschriften über die Berufung und die Revision – nämlich kein vorgeschaltetes Zulassungsverfahren (mehr), sondern ermöglicht in den von § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO gezogenen Grenzen eine umfassende, nicht von der erfolgreichen Rüge eines Verfahrensfehlers abhängige Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht als zweite Tatsacheninstanz. Nachdem das Zulassungserfordernis weggefallen und das Beschwerdeverfahren unbeschränkt eröffnet ist, kommt es mithin nur noch auf den Erfolg in der Sache selbst an.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. Mai 2022 - 13 B 1003/21 -, juris, Rn. 6, und vom 10. September 2020 - 1 B 1716/19 -, juris, Rn. 10 f., m. w. N.; OVG LSA, Beschluss vom 15. Februar 2021 - 2 M 121/20 -, juris, Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich ist vielmehr, ob die Antragstellerin die Feststellung des Verwaltungsgerichts, es liege kein Verstoß gegen das Bundesstaats- (vgl. hierzu unter 1.) und das Demokratieprinzip (vgl. hierzu unter 2.) vor, durchgreifend in Zweifel zieht. Das ist nicht der Fall. Zudem liegt auch kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vor (vgl. hierzu unter 3.).</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">1. Die Verlagerung von Aufgaben und Zuständigkeiten auf die KJM durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag dürfte mit dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) vereinbar sein.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">a. Die Beteiligung der KJM berührt weder den Kern der Eigenstaatlichkeit der Länder noch läuft sie dem Grundsatz der Unabdingbarkeit von Verwaltungskompetenzen zuwider.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Da den Ländern nach Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben – jedenfalls dem Grundsatz nach – zusteht, haben sie die Kompetenz zum Abschluss von Verträgen und zur Errichtung gemeinsamer Einrichtungen. Eine unzulässige Aufgabe oder Übertragung von Hoheitsrechten liegt im Verhältnis der Länder untereinander jedenfalls dann nicht vor, wenn in dem zugrunde liegenden Vertrag ausdrücklich vereinbart worden ist, dass dieser innerhalb bestimmter Fristen gekündigt werden kann, und wenn die Abweichung von der Regel der eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung durch Gründe gerechtfertigt ist, die in der Aufgabenmaterie und ihren rechtlichen wie faktischen Anforderungen liegen.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 34, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf die im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vorgesehene Errichtung, organisatorische Ausgestaltung und Entscheidungszuständigkeit der KJM erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Nach § <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_26">26 Satz 2 JMStV</a> kann der Staatsvertrag von jedem der vertragschließenden Länder zum Schluss des Kalenderjahres mit einer Frist von einem Jahr gekündigt werden.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die Regelung einer abschließenden Entscheidungsbefugnis der KJM in <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?j=JMStVG_NW_!_17">§ 17 Abs. 1 Satz 4 JMStV</a> hinsichtlich der von ihr gefassten Beschlüsse ist zudem auch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Ziel der Errichtung der KJM ist es, die Zersplitterung der Aufsichtsstrukturen beim Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde im Bereich der Aufsicht über länderübergreifende Angebote in elektronischen Medien zu überwinden. Zu diesem Zweck richten die Länder mit der KJM eine zentrale Aufsichtsstelle für den Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde ein, die den Landesmedienanstalten nach <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV10Anlage-P14">§ 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV</a> als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 14 Abs. 1 JMStV dient. Dabei zielt insbesondere die aus § 17 Abs. 1 Satz 4 JMStV folgende Bindung im Innenverhältnis der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt darauf, den mit der Errichtung der KJM erwünschten Erfolg standortunabhängiger Entscheidungsfindung verfahrensmäßig abzusichern.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. Amtliche Begründung zum JMStV, S. 2, 25 u. 32, abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">https://www.kjm-online.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/JMStV_Genese/Amtliche_Begru__ndung_zum_JMStV.pdf.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Durch die danach beabsichtigte Schaffung eines einheitlichen Jugendschutzstandards in allen Telemedien kommt der Staat seiner Pflicht zum Schutz der Kinder und Jugendlichen nach, indem eine Zersplitterung der Aufsichtsinstanzen verhindert und damit ein einheitlicher Schutzstandard in allen Bundesländern gewährleistet wird.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 37 und 100 f.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 176 und 194; siehe auch zur Filmbewertungsstelle Wiesbaden: BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1966 ‑ VII C 128.64 ‑, juris, Rn. 31, wonach eine unterschiedliche Behandlung der Filme in jedem einzelnen Land der Bundesrepublik nicht als sinnvoll hätte bezeichnet werden können.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">b. Die von der Antragstellerin angenommene „dritte Ebene der Gesamt- bzw. Mehrheit der Länder“ und ein damit verbundener Verstoß gegen den zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff aus Art. 20 Abs. 1 GG liegt bereits deshalb nicht vor, weil die – rechtlich nicht verselbstständigte – KJM trotz ihrer Aufgabe einer länderübergreifenden einheitlichen Spruchpraxis im Jugendmedienschutz formal als ein Organ der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt dient.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-B-II">§ 14 JMStV, Rn. 38</a>; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-14-GL-II">§ 14 JMStV, Rn. 6</a>; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 33; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 182; so auch für die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 602 ff.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch wenn der Beschluss der KJM bindend ist und somit faktisch der Eindruck einer Entscheidung durch die KJM entstehen kann, wird die Entscheidung formell durch die zuständige Landesmedienanstalt, hier die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, vertreten durch ihren Direktor, getroffen (vgl. § 14 Abs. 1 JMStV). <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV10Anlage-P20">§ 20 Abs. 4 JMStV</a> bestimmt, dass die zuständige Landesmedienanstalt für Anbieter von Telemedien durch die KJM entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 des Rundfunkstaatsvertrags unter Beachtung der Regelungen zur Verantwortlichkeit nach den §§ 7 bis 10 TMG die jeweilige Entscheidung trifft. Soweit die Beschlüsse der KJM gegenüber den anderen Orangen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend sind (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 5 JMStV), dient diese der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV formal als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Dass die Durchsetzung durch die zuständige Landesmedienanstalt erfolgt, zeigt zudem auch die Begründung zu § 20 Abs. 6 JMStV,</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">vgl. Amtliche Begründung zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, S. 40,</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">https://www.kjm-online.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/JMStV_Genese/Amtliche_Begru__ndung_zum_JMStV.pdf,</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">wonach nach außen die Landesmedienanstalten als Aufsicht auftreten. Welche der insgesamt 14 Landesmedienanstalten im Einzelfall zuständig ist, ergibt sich ebenfalls aus § 20 Abs. 6 JMStV, der auch den Fall vor Augen hat, dass – wie hier – mehrere Landesmedienanstalten zuständig sind oder der Anbieter seinen Sitz im Ausland hat.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Zum Verhältnis von jeweils zuständiger Landesmedienanstalt und KJM vgl. VG Berlin, Urteile vom 13. März 2018 - 27 K 258.14 -, juris, Rn. 57 f., und vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 53; Liesching, in:, Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15.12.2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-16-Gl-A">§ 16, Rn. 1</a>, m. w. N.; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-20-GL-II">§ 20 JMStV, Rn. 4</a>; Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BorErdKoJSchSV-G-JMStV-P-14-GL-B-II-1">§ 14, Rn. 22</a>; Erdemir, Die Kommission für Jugendmedienschutz, RDJB 2006, 285, 288 m. w. N.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 182 f. m. w. N.; sowie zur ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 25.19 -, juris, Rn. 22.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Durch diese Regelungen, die ohnehin nur bei länderübergreifenden Angeboten zur Anwendung gelangen (vgl. <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-JMStVGNWV6Anlage-P13">§ 13 JMStV</a>), ist insbesondere auch zweifelsfrei klargestellt, dass die Aufgabenwahrnehmung im Außenverhältnis nicht der KJM, sondern der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet wird, und neben dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag das (Verfahrens- und Vollstreckungs-)Recht desjenigen Bundeslandes zur Anwendung kommt, in dem die Landesmedienanstalt ihren Sitz hat. Rechtsbehelfe sind daher ausschließlich gegen die zuständige Landesmedienanstalt und nicht etwa gegen die KJM zu richten.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht 4. Auflage 2018, § 14 JMStV, Rn. 22 ff.; Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, § 14, Rn. 77; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 301; zum Verhältnis der ZAK zu den Landesmedienanstalten vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund bietet insbesondere auch die von der Antragstellerin zitierte Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Oktober 2015 - 8 B 1028/15 -, worin dieser festgestellt hat, dass die im Glücksspielstaatsvertrag erfolgte Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an ein aus 16 Vertretern der Länder bestehendes Glücksspielkollegium mit dem Bundesstaatsprinzip nicht vereinbar sei (juris, Rn. 35 ff.), keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Die Antragstellerin setzt sich an dieser Stelle im Übrigen auch nicht in der gebotenen Weise mit den vielfach vertretenen Gegenansichten auseinander, auf die bereits das Verwaltungsgericht verwiesen hatte (Beschlussabdruck, S. 10).</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur Nds. OVG, Beschluss vom 8. Februar 2018 ‑ 11 ME 130/17 -, juris, Rn. 8; Hamb. OVG, Urteil vom 22. Juni 2017 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=MWRE170007120">4 Bf 160/14 </a>-, juris, Rn. 150; Bay. VerfGH, Entscheidung vom 25. September 2015 - Vf. 9-VII-13 -, juris, Rn. 144 f., m. w. N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Juni 2016 - 3 K 5661/14 -, juris, Rn. 141; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. Mai 2016 - 19 K 3334/14 -, juris, Rn. 168; Dietlein, Verfassungsfragen des Glücksspielkollegiums nach § 9a GlüStV 2012, Gutachten 2015, S. 22 f.; Makswit, Auswirkungen des Föderalismus im Glücksspielrecht, 2015, S. 247.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">c. Dass der KJM gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 JMStV zwei Mitglieder angehören, die von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde entsandt werden, führt schließlich auch nicht zu einer verfassungswidrigen Mischverwaltung.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Liesching, in:               Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15.12.2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-14-Gl-C">§ 14, Rn. 9</a>, m. w. N.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 150 ff.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine verwaltungsorganisatorische Erscheinungsform nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie als Mischverwaltung einzuordnen ist, sondern nur, wenn ihr zwingende Kompetenz- oder Organisationsnormen oder sonstige Vorschriften des Verfassungsrechts entgegenstehen. Es gibt keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach Verwaltungsaufgaben ausschließlich vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, sofern nicht ausdrückliche verfassungsrechtliche Regeln etwas anderes zulassen. Grundsätzlich gilt allerdings, dass der Verwaltungsträger, dem durch eine Kompetenznorm des Grundgesetzes Verwaltungsaufgaben zugewiesen worden sind, diese Aufgaben durch eigene Verwaltungseinrichtungen – mit eigenen personellen und sächlichen Mitteln – wahrnimmt. In diesem Sinn kann von einem „Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ gesprochen werden. Für das Abgehen von dem „Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ bedarf es eines besonderen sachlichen Grundes. Die Heranziehung an sich unzuständiger Verwaltungseinrichtungen kann nur hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie in Betracht kommen.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu der im Grundgesetz angelegten Unterscheidung zwischen Bundes- und Landesverwaltung BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=BVRE100778309">2 BvL 23/81 </a>-, juris, Rn. 124 ff.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon liegt keine verfassungswidrige Mischverwaltung vor.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Es fehlt bereits das eine Mischverwaltung kennzeichnende Element gemeinsamer Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben. Die KJM dient – wie bereits ausgeführt – der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 14 Abs. 1 JMStV; sie ist mithin in die Verwaltungsstruktur des jeweiligen Bundeslandes eingegliedert. Die Entscheidungen der KJM werden rechtlich der zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet. Eine Doppelzuständigkeit wird daher schon nicht begründet.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-A-III-1">§ 14 JMStV, Rn. 10</a>; Erdemir, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SpindlerSchusterKoREM-G-JMStV-P-14-GL-IV-3">§ 14 JMStV, Rn. 14</a>, m. w. N.; Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/Cole/Wagner, Medienstaatsvertrag, JMStV, 86. AL 3/2021, § 14, Rn. 1 und 3 sowie § 20, Rn. 5 und 40.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Überdies liegt auch ein besonderer sachlicher Grund für die Einbeziehung zweier Mitglieder von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde vor. Es bedarf zur Erreichung eines einheitlichen Jugendschutzes sowohl bei Rundfunk und Telemedien als auch bei „Offline“-Medien einer Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Während die Länder mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag Online-Medien regeln, ist der Bund mit dem Jugendschutzgesetz für den Jugendschutz bei Trägermedien wie Büchern, CDs und DVDs zuständig. Aufgrund der konkurrierenden Gesetzgebung für den Bereich der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), die auch den Jugendschutz erfasst,</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. März 2017 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE419451701">1 BvR 1314/12</a> -, juris, Rn. 116, und vom 4. Mai 1971 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE290198902">2 BvL 10/70</a> -, juris, Rn. 21,</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">müssen beide Regelungen eng verwoben sein, sich ergänzen und durch ihr gesetzliches Zusammenwirken Schutz vor jugendbeeinträchtigenden und -gefährdenden Einflüssen in der Öffentlichkeit und in den Medien bieten.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Zu der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern vgl. Liesching, in: Beck'scher Online-Kommentar JMStV, Stand: 15. Dezember 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BECKOKJMSTV-G-JMSTV-P-1-Gl-A-I">§ 1 JMStV, Rn. 1 f.</a>, m. w. N.; Schwartmann/Hentsch, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BorErdKoJSchSV-G-JMStV-P-1-GL-B">§ 1, Rn. 3</a>; Frey/Dankert, Zu den Novellierungsplänen von Bund und Ländern für das Jugendschutzgesetz (JuSchG) und den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV), in: CR 2020, <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jzs-CR-2020-09-0626-01-A-013">626, Rn. 1</a>; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 1. Aufl. 2007, S. 42 f. und 94.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Hierzu soll die in § 14 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 JMStV vorgesehene Entsendung von zwei Mitgliedern durch die für den Jugendschutz zuständige oberste Bundesbehörde beitragen.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. Held/Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-JMStV-P-14-GL-A-III-1">§ 14 JMStV, Rn. 11</a>.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">2. Das von der Antragstellerin beanstandete Verfahren zum Vollzug gegen Anbieter von Telemedien dürfte mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) vereinbar sein. Die der KJM zugewiesenen weitreichenden Entscheidungsbefugnisse sind unter Berücksichtigung der Besonderheiten der (Tele-)Medienaufsicht zur Begrenzung des staatlichen Einflusses sachlich gerechtfertigt.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Zu der (bejahten) Frage der Anwendbarkeit des Demokratieprinzips auf Maßnahmen der Landesmedienanstalten und der KEK vgl. Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 500 ff.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Der vom Demokratieprinzip geforderte Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor allem durch die Wahl des Parlaments, durch die von ihm beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt, durch den parlamentarischen Einfluss auf die Politik der Regierung sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung hergestellt. In personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk zurückführen lässt. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird durch Gesetzesbindung und Bindung an Aufträge und Weisungen der Regierung vermittelt.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 25.19 -, juris, Rn. 34, m. w. N. aus der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">a. Zwar ist die demokratische Legitimation der KJM nach diesen Grundsätzen nur schwach ausgeprägt. Dies betrifft mit Blick auf die Besetzung der KJM zum einen die personelle Legitimation. Gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 JMStV besteht die KJM aus zwölf Personen („Sachverständigen“). Hiervon werden nach Satz 2 der Vorschrift sechs Mitglieder aus dem Kreis der Direktoren der Landesmedienanstalten (Nr. 1), vier Mitglieder von den für den Jugendschutz zuständigen obersten Landesbehörden (Nr. 2) und zwei Mitglieder von der für den Jugendschutz zuständigen obersten Bundesbehörde (Nr. 3) entsandt. Während hinsichtlich der von den obersten Bundes-/Landesjugendschutzbehörden entsandten Mitglieder eine mittelbare personelle demokratische Legitimation besteht, ist dies hinsichtlich der von den Landesmedienanstalten entsandten Direktoren nur in den Bundesländern Baden-Württemberg, Saarland, Berlin und Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein sowie Sachsen der Fall, wo die Mitglieder der Entscheidungsgremien vom Landtag bzw. von der Bürgerschaft mit einer Mehrheit von zwei Dritteln gewählt werden. Demgegenüber fehlt es den Direktoren der Landesmedienanstalten in Bayern, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an einer unmittelbaren personellen demokratischen Legitimation, da diese von Entscheidungsgremien gewählt werden, die überwiegend keine vom Volk gewählten Vertretungen sind.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu ausführlich Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 114 f. und 143 ff., m. w. N.; Dörr, Die Bestimmung des § 58 des Saarländischen Mediengesetzes (SMG) und die Vorgaben der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG), Kurzgutachten im Auftrag der Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen, abrufbar unter https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/medien/pdf/gutachten-direktorinnen-wahl-landesmedienanstalt.pdf; siehe auch die Auflistung auf S. 26 der Beschwerdebegründung vom 3. Januar 2022.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Wegen der Weisungsfreiheit ihrer Mitglieder (§ 14 Abs. 7 Satz 1 JMStV), die eine Einflussnahme der Volksvertretungen – gegebenenfalls über die zuständigen Ressortminister – auf das Abstimmungsverhalten ausschließt, ist zum anderen auch die sachlich-inhaltliche Legitimation zurückgenommen.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">So auch für die ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 C 6.19 -, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">b. Die beschriebenen Lockerungen des parlamentarischen Verantwortungszusammenhangs dürften aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl. für die ZAK BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 6.19, juris, Rn. 38, und für die KJM OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 65 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 19 ff., m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 19 ff.; Bornemann/von Coelln/Hepach/Himmelsbach/Gundel, Bayerisches Mediengesetz, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-BoCoHeHiLoLBBayMedR-G-BayMG-A-6-GL-9-9-1-9-1-3-9-1-3-2">Art. 6, Rn. 227 f</a>f.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kom-mission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 148 f.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">aa. Ungeachtet der Frage, ob Telemedien unter den verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriff des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG fallen,</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">dafür Schulz, in: Binder/Vesting, Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 4. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-HahnVestingKoRFR-G-RFunkStVertr-P-59-GL-A-III-1">§ 59 RStV, Rn. 9, m. w. N</a>.; Kunisch, Verfassungswidrige Telemedienaufsicht durch Regierungsstellen - Aufsicht über Internetdienste im Schutzbereich der Rundfunkfreiheit, MMR 2011, 796, 798 m. w. N.; so – ohne diese Frage ausdrücklich entschieden zu haben – wohl auch Bay. VGH, Urteil vom 19. September 2013 - 7 B 12.2358 -, juris, Rn. 29, m. w. N., und Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 21, m. w. N.; a. A. Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308; Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. 7. Auflage 2018, Art. 5, Rn. 252, m. w. N., was aber die Übertragung des Schutzes der Rundfunk- oder Pressefreiheit durch Analogie im Einzelfall nicht ausschließe,</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">wird es jedenfalls ganz überwiegend für zulässig erachtet, den vom Bundesverfassungsgericht aus der Rundfunkfreiheit entwickelten Grundsatz der Staatsferne auch auf den Bereich der Aufsicht über die Telemedien zu erstrecken.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Vgl. Erdemir, Die Kommission für Jugendmedienschutz, RDJB 2006, 285, 288, m. w. N.; Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 210, m. w. N.; Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 109 f.; Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308; siehe im Ergebnis auch Cornils, „Staatsferner“ Jugendmedienschutz als Verfassungsgebot: ein Missverständnis, DÖV 2022, 1, 10; a. A. Holznagel, Kein Staatsfernegebot für das NetzDG, in: CR 2022, 245, 246 f. m. w. N., wonach das Staatsfernegebot nur im Bereich der sog. positiven Rundfunkordnung gilt.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Für die Begrenzung des staatlichen Einflusses im Bereich der Aufsicht von Telemediendiensten sprechen sachliche Gründe. Die Reglementierung jugendgefährdender Inhalte erfordert wertende Entscheidungen, die eine gewisse Gefahr einer politischen Instrumentalisierung zur Einflussnahme auf die freie Kommunikation bergen. Die Kontrolle der Einhaltung jugendschutzrechtlicher Standards im Internet ist immer auch Inhaltskontrolle.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. Langenfeld, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, 303, 308.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Der KJM ist es aufgrund ihrer weitreichenden Zuständigkeiten möglich, zumindest mittelbar Einfluss auf die freie Kommunikation zu nehmen, weshalb eine Erstreckung der staatsfernen Aufsicht über den Rundfunk hinaus auf den vorliegend betroffenen Bereich der Telemedien als zulässig erscheint. Gemäß § 16 Satz 1 JMStV ist die KJM zuständig für die abschließende Beurteilung von Angeboten nach diesem Staatsvertrag. Insbesondere ist sie zuständig für die Überwachung der Bestimmungen des Staatsvertrags (§ 16 Satz 2 Nr. 1 JMStV), wobei sie gemäß § 20 Abs. 4 JMStV als zuständiges Organ der jeweils örtlich zuständigen Landesmedienanstalt für Anbieter von Telemedien entsprechend § 59 Abs. 2 bis 4 RStV die jeweilige Entscheidung und damit schwerwiegende Maßnahmen bis hin zur Untersagung und Sperrung von Angeboten trifft. Zudem ist sie gemäß § 16 Satz 2 Nr. 9 JMStV auch zuständig für die Entscheidung über Ordnungswidrigkeiten nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Anlass zu einer abweichenden Beurteilung bietet auch nicht das von der Antragstellerin zitierte rechtliche Kurzgutachten für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Prof. Dr. Eifert zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Aufsicht über die Einhaltung der strukturellen Vorsorgemaßnahmen durch die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz nach §§ 24a, 24b des Referentenentwurfs des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes,</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">https://fragdenstaat.de/anfrage/verfassungsrechtliches-gutachten-von-eifert-zum-juschgandg/553548/anhang/EifertKurzgutachtenAufsichtberangemesseneVorsorgemanahmen.pdf.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Vielmehr heißt es darin (S. 11), dass Art. 5 Abs. 1 GG eine Ausgestaltung von Entscheidungsgremien und -verfahren legitimieren könne, die den Staatseinfluss begrenze, ohne dass dies verfassungsrechtlich geboten wäre. Soweit dafür aus demokratischer Sicht eine Plausibilität grundrechtlich relevanter Gefährdungspotentiale staatlicher Einflussnahme gefordert wird, liegt diese aus den vorstehend genannten Gründen vor.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">bb. Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrer erstmals mit Schriftsatz vom 3. August 2022 – und damit ohnehin außerhalb der einmonatigen Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO – hilfsweise erhobenen Rüge durch, die KJM sei nicht pluralistisch besetzt, wenn die Anwendbarkeit des Gebots der Staatsferne unterstellt wird.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Der Staatseinfluss im Bereich der Telemedienaufsicht soll durch die Errichtung verschiedener Gremien, u. a. der KJM, die nach Maßgabe der Staatsverträge die maßgebenden Entscheidungen zu treffen haben und deren Zusammensetzung und Aufgaben im Einzelnen festgelegt sind, begrenzt werden. Die Unabhängigkeit der KJM wird durch deren in § 14 Abs. 4 JMStV geregelte politik- und staatsferne Zusammensetzung gestärkt, indem von der Mitgliedschaft in der KJM Mitglieder und Bedienstete der Institutionen der Europäischen Union, der Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, Gremienmitglieder und Bedienstete von Landesrundfunkanstalten der ARD, des ZDF, des Deutschlandradios, des Europäischen Fernsehkulturkanals „ARTE“ und der privaten Rundfunkveranstalter oder Anbieter von Telemedien sowie Bedienstete von an ihnen unmittelbar oder mittelbar im Sinne von § 28 RStV beteiligten Unternehmen ausgeschlossen sind. Die Mitglieder der KJM, deren Amtsdauer fünf Jahre beträgt (§ 14 Abs. 3 Satz 4 JMStV), sind zudem nicht an Weisungen gebunden (§ 14 Abs. 7 Satz 1 JMStV). Entscheidungen, die unter Verletzung dieser Aufgaben- und Zuständigkeitszuweisung getroffen werden, sind rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 66; Bay. VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 7 CS 11.1070 -, juris, Rn. 21, m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 20. Oktober 2008 - 10 LA 101/07 -, juris, Rn. 21; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 33 ff.; VG Berlin, Urteil vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 131; kritisch Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 123.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber bedarf es keiner strikten Umsetzung des Pluralismusgebots, um den staatlichen Einfluss zu begrenzen. Vielmehr genügt es, dass die Kontrolleinrichtung mit Vertretern besetzt ist, die für die Beurteilung des jugendgefährdenden Charakters von Medien besonders qualifiziert sind.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu ausführlich Ehrlichmann, Die Verfassungsmäßigkeit der Kommission für Jugendschutz (KJM) und ihrer Tätigkeit, 2007, S. 136 ff. m. w. N.; sowie in Bezug auf die KEK Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat, Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der KEK, 2007, S. 468 ff., insbesondere S. 490 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Beschwerde angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zusammensetzung der ZDF-Aufsichtsgremien, wonach strenge Anforderungen an die plurale Zusammensetzung der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu stellen sind, da diesen innerhalb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt weitreichende Befugnisse hinsichtlich der Programmgestaltung und die Geschäftsführung überwachende Aufgaben übertragen sind.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 25. März 2014 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE405351401">1 BvF 1/11</a>, 1 BvF 4/11 -, juris, Rn. 51 ff.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die dort aufgestellten Grundsätze, insbesondere die „2/3-Regel“, wonach der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen darf, können auf die KJM nicht übertragen werden. Zwar hat die KJM – wie bereits ausgeführt – grundsätzlich gewisse Einflussnahmemöglichkeiten auf die Programmgestaltung privater Rundfunk- und Telemedienanbieter. Dieser ist jedoch nicht mit der Reichweite und dem Inhalt der Berichterstattung betreffenden Befugnisse der Gremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vergleichbar, zumal der nicht pluralistisch, sondern zur Gewährleistung einer effektiven Kontrolle gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 JMStV a. F. ausdrücklich mit „12 Sachverständigen“ zu besetzenden KJM kein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht,</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">vgl. zu § 5 JMStV BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2017 ‑ 6 C 10.15 -, juris, Rn. 33 ff.; VG Berlin, Urteil vom 9. November 2011 - 27 A 64.07 -, juris, Rn. 63; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht VwGO, Werkstand: 42. EL Februar 2022, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-SchochKoVwGO-G-VwGO-P-114-S-66">§ 114, Rn. 139</a>, m. w. N.; Altenhain, in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Handbuch Multimedia-Recht, 58. EL März 2022, Teil 20 D., II. 4., Rn. 199,</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">sondern ihren die Entscheidung tragenden Bewertungen nur die Bedeutung einer sachverständigen Aussage eingeräumt wird.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 ‑ 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 27; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 68; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 35; a. A. Bornemann, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, 2. Auflage 2021, § 14, Rn. 31, der fordert, dass oberste Bundes- und Landesbehörden keine eigenen Bediensteten entsenden dürfen.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Zudem dient die im vorliegenden Zusammenhang erstrebte Begrenzung des Staatseinflusses im Kontext der auf den Jugendschutz begrenzten Aufgabe der KJM auch nicht der Sicherung der – anders als im Fall der ZDF-Aufsichtsgremien nicht in Rede stehenden – Vielfalt im Angebot der privaten Rundfunk- und der Telemedienanbieter, sondern, wie bereits ausgeführt, „nur“ der Verhinderung einer politischen Instrumentalisierung jugendschutzrechtlicher Entscheidungen.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 1. September 2020 ‑ 7 ZB 18.1183 -, juris, Rn. 27; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 13. November 2014 - OVG 11 B 10.12 -, juris, Rn. 68; VG Leipzig, Urteil vom 26. Februar 2016 - 1 K 2051/14 -, juris, Rn. 35.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">cc. Erscheint die abgeschwächte demokratische Legitimation der KJM nach alldem aufgrund der beabsichtigten Begrenzung des Staatseinflusses gerechtfertigt, lässt sich die Annahme des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, die im Glückspielstaatsvertrag erfolgte Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an ein aus 16 Vertretern der Länder bestehendes Glücksspielkollegium sei mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar,</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 16. Oktober 2015 ‑ 8 B 1028/15 -, juris, Rn. 41 ff.,</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">schon nicht auf die KJM übertragen.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Kirchhof, Die demokratische Legitimation der länderübergreifenden Kommissionen im Rundfunkrecht – dargestellt anhand der aktuellen Debatte über das Glücksspielkollegium, <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jzs-AFP-2016-06-0502-1-A-04">AfP 2016, 502, 505 f</a>.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">dd. Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 (AVMD-Richtlinie), wonach jeder Mitgliedstaat eine oder mehrere nationale Regulierungsbehörden oder -stellen benennt und dafür sorgt, dass diese rechtlich von Regierungsstellen getrennt und funktionell unabhängig von ihren jeweiligen Regierungen und anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen sind,</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu VG Köln, Beschluss vom 1. März 2022 ‑ 6 L 1277/21 -, juris, Rn. 105 ff.,</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">vorliegend Anwendung findet und bejahendenfalls für den Bereich jugendschützender Aufsicht das Gebot der Staatsferne statuiert, kommt es daher nicht an.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">c. Soweit die Antragstellerin rügt, dass es an der erforderlichen Rechts- und Fachaufsicht über die KJM fehlt, lässt sie unberücksichtigt, dass die KJM nach § 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV als Organ der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt handelt, die ihrerseits der Rechtsaufsicht unterliegt (vgl. § 117 Abs. 1 LMG NRW). Eine Fach- oder Zweckmäßigkeitsaufsicht würde demgegenüber der erstrebten Begrenzung staatlicher Einflüsse zuwiderlaufen.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Vgl. Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des JMStV, 2008, S. 192; Hesse, Die Organisation privaten Rundfunks in der Bundesrepublik, DÖV 1986, 177, 187.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich bestehen auch im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz der Zuständigkeits- und Verantwortungsklarheit vor. Wie bereits ausgeführt, ist zweifelsfrei klargestellt, dass die Aufgabenwahrnehmung im Außenverhältnis nicht der KJM, sondern der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt zugerechnet wird.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Für die ZAK vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2020 ‑ 6 C 6.19 -, juris, Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">III. In materieller Hinsicht zieht die Antragstellerin die Beurteilung des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht durchgreifend in Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">1. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Bescheid unter den Ziffern 1 und 2, soweit sie Gegenstand des vorliegenden Eilverfahrens sind, hinreichend bestimmt ist.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Inhaltlich hinreichende Bestimmtheit im Sinne von § 37 Abs. 1 VwVfG NRW setzt voraus, dass für den Adressaten des Verwaltungsakts die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach richten kann. Etwaige Unklarheiten sind unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots unschädlich, sofern sie sich im Wege der Auslegung des Verwaltungsakts beseitigen lassen. Dabei kommt es auf den objektiven Empfängerhorizont und mithin darauf an, wie der Betroffene nach den ihm bekannten oder ohne weiteres erkennbaren Umständen den Verwaltungsakt unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen musste.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 13 ff., vom 27. Juni 2012 - 9 C 7.11 -, juris, Rn. 11, und vom 3. Dezember 2003 - 6 C 20.02 -, juris, Rn. 17, sowie Beschluss vom 6. September 2008 - 7 B 10.08 -, juris, Rn. 24.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt der streitgegenständliche Bescheid.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">a. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass nicht unklar ist, ob sich die ausgesprochene Beanstandung und Untersagung auf das gesamte Telemedienangebot der Antragstellerin oder nur auf die Teile beziehen, die aus Sicht der Antragsgegnerin gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag verstoßen. Dass sich sowohl die Beanstandung als auch die Untersagung auf den Inhalt des Angebots der Antragstellerin beziehen, der gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV verstößt, lässt sich bereits aus der Zusammenschau der Ziffern 1 und 2 erkennen. Dabei konkretisiert die Antragsgegnerin in der Begründung (vgl. S. 6 f. des Bescheids), worin die Verstöße gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m Satz 2 JMStV liegen. Damit einhergehend veranschaulicht sie, was mit „in dieser Form“ gemeint ist, indem sie auf verschiedene im Einzelnen – nur beispielhaft – benannte pornografische Inhalte eingeht und grundlegend feststellt, dass pornografische Inhalte in Telemedien nur zulässig seien, wenn von Seiten des Anbieters durch das Einrichten einer geschlossenen Benutzergruppe sichergestellt sei, dass die Inhalte nur Erwachsenen zugänglich gemacht würden (§ 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV). Danach wird für die Antragstellerin als sachkundiger Betreiberin der Website hinreichend deutlich, dass sich die Beanstandung und Untersagung auf – sämtliche – in ihrem Telemedienangebot enthaltenen pornografischen Inhalte bezieht.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">b. Vor diesem Hintergrund ist – entgegen der Auffassung der Antragstellerin – auch nicht unklar, in welchem Umfang welche konkreten Inhalte die Antragsgegnerin hat beanstanden oder künftig untersagen wollen. Die in dem Bescheid genannten Beispiele dienen lediglich zum Beleg, dass auf der Seite der Antragstellerin pornografische Inhalte enthalten sind, die gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV nur dann zulässig sind, wenn von Seiten des Anbieters sichergestellt ist, dass sie nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden (geschlossene Benutzergruppe). Dementsprechend folgt aus Ziffer 2 Satz 3 des Bescheids, dass die Antragstellerin ihre Verpflichtung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV erfüllt, wenn sie die, d. h. alle, pornografischen Inhalte von ihrem Angebot entfernt oder eine geschlossene Benutzergruppe einrichtet, durch die sichergestellt wird, dass nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhalten. Letzteres wird auf S. 9 des Bescheids dahingehend erläutert, dass der Anbieter (pornografischer Inhalte) seiner Pflicht dadurch entsprechen könne, dass er durch technische oder sonstige Mittel die Wahrnehmung des Angebots durch Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersstufe unmöglich macht oder wesentlich erschwert oder das Angebot mit einer Alterskennzeichnung versieht, die von geeigneten Jugendschutzprogrammen nach § 11 Abs. 1 und 2 JMStV ausgelesen werden können. Mit Angebot sind dabei – aus den vorstehend genannten Gründen – sämtliche pornografischen Darstellungen gemeint. Es kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Antragstellerin als Betreiberin als auch die mit dem Vollzug der Untersagungsverfügung befassten Mitarbeiter über die erforderliche Sachkunde verfügen, um auf der Grundlage des Verfügungsausspruchs und des bei Erlass des Bescheids festgestellten Angebots der Antragstellerin erkennen zu können, inwieweit es sich bei den von der Antragstellerin zukünftig gezeigten Inhalten um pornografische handelt.</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">c. Genauso wenig dringt die Antragstellerin mit ihrer weiteren Rüge durch, unklar sei, ab wann die in Ziffer 2 Satz 2 (vermeintlich) verfügte Untersagung greifen solle. Die Formulierung „Die Verbreitung des Angebots in dieser Form wird <em>zukünftig</em> untersagt“ konnte nicht dahingehend verstanden werden, dass eine Untersagung – in Zukunft – noch ergehen wird. Vielmehr war der Zusatz „zukünftig“ so zu verstehen – und wurde im Übrigen auch von der Antragstellerin selbst so verstanden –, dass die Antragsgegnerin die Verbreitung des Angebots in der beanstandeten Form für die Zukunft – d. h. ab Bescheidzustellung – untersagt hat. Für ein solches Verständnis spricht insbesondere auch, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen nach § 4 JMStV keine aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 20 Abs. 5 Satz 3 JMStV).</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">2. Mit ihrem Beschwerdevorbringen zeigt die Antragstellerin auch nicht auf, dass ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. Die Rüge der Antragstellerin, es fehle an einem „systemgerechten“ Vorgehen der Antragsgegnerin, greift nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 23,</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">zutreffend ausgeführt (Beschlussabdruck, S. 20 f.), dass das Einschreiten der Antragsgegnerin allein am Maßstab der Willkür zu messen sei. Dabei stelle sich das Einschreiten einer Behörde, die den Einsatz ihrer begrenzten Ressourcen nicht an einem Plan ausrichtet, nicht als willkürlich dar, wenn sie Anhaltspunkten für Gesetzesverstöße nachgeht und einschreitet, sobald sie im regulären Gang der Verwaltung die Überzeugung gewonnen hat, dass die Voraussetzungen für ein Einschreiten gegeben sind. Sie ist vor dem Gleichheitsgebot nicht gehalten, ein Handlungskonzept für die zeitliche Reihenfolge des Einschreitens gegen mehrere Störungen aufzustellen oder gar Störungen, für die ein Einschreiten in Betracht kommt, zu ermitteln, um dann gestuft nach der Schwere der Verstöße einzuschreiten.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe überspannt die Antragstellerin die Anforderungen an das Willkürverbot, wenn sie – ohne hinreichende Auseinandersetzung mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts – meint, das Einschreiten der Antragsgegnerin, die über kein Entschließungs-, sondern lediglich über ein Auswahlermessen hinsichtlich der „erforderlichen“ Maßnahme verfügt,</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 - 27 K 93.16 -, juris, Rn. 71, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">erfordere ein „systemgerechtes“ Vorgehen, um willkürfrei zu sein. Das Willkürverbot ist vielmehr erst dann verletzt, wenn sich ein sachlicher Grund für ein staatliches Handeln nicht finden ließe.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 -, juris, Rn. 20 f., 23; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2020 - 13 B 1696/19 -, juris, Rn. 53, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Danach ist das Einschreiten der Antragsgegnerin gegen die Antragstellerin nicht willkürlich. Sie ist aufgrund des – von der Antragstellerin schon nicht in Abrede gestellten – Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV zum Einschreiten gegen die Antragstellerin gemäß § 20 Abs. 1 und 4 JMStV verpflichtet gewesen. Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass die Antragsgegnerin qualitative Gesichtspunkte – wie Art, Dauer und Häufigkeit von Verstößen gegen das JMStV – hätte berücksichtigen müssen, übersieht sie, dass das Willkürverbot nicht bereits verletzt ist, wenn nicht die zweckmäßigste oder gerechteste Regelung getroffen wird, sondern erst, wenn schlechterdings keine sachlichen Gründe erkennbar sind. Letzteres legt die Antragstellerin nicht dar. Insbesondere macht sie schon nicht geltend, dass das von der Antragsgegnerin herangezogene Kriterium der Reichweite sachwidrig ist. Zudem legt sie auch nicht in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar, dass sie über eine geringere Reichweite verfügt, als die von ihr benannten konkurrierenden Angebote mit pornografischen Inhalten. Allein der Hinweis darauf, dass ihr Telemedienangebot in der Vergangenheit seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert wurde, genügt hierfür nicht.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen setzt sich die Antragstellerin in diesem Zusammenhang auch nicht mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinander (Beschlussabdruck, S. 22 f.), wonach die Antragsgegnerin nicht nur gegen die Antragstellerin, sondern auch gegen andere, im Einzelnen benannte Angebote mit pornografischen Inhalten vorgegangen sei.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich kann auch die Rüge der Antragstellerin, es liege ein Verstoß gegen das Herkunftslandprinzip vor, nicht zur Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts führen.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Zwar wird gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 TMG in der Fassung vom 1. April 2015 (im Folgenden: TMG a. F.) der freie Dienstleistungsverkehr von Telemedien, die in der Bundesrepublik Deutschland von Dienstanbietern geschäftsmäßig angeboten oder erbracht werden, die in einem anderen Staat innerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinien 2000/31/EG (E-Commerce-RL) und 89/552/EWG niedergelassen sind, nicht eingeschränkt. Allerdings bleibt § 3 Abs. 5 TMG a. F. nach § 3 Abs. 2 Satz 2 TMG a. F. unberührt. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMG a. F. lässt eine einzelfallbezogene Durchbrechung des Herkunftslandprinzips zu, wenn die Maßnahmen dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere im Hinblick auf die Verhütung, Ermittlung, Aufklärung, Verfolgung und Vollstreckung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, einschließlich des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen sowie die Wahrung nationaler Sicherheits- und Verteidigungsinteressen, vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient und die auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts in Betracht kommenden Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Schutzzielen stehen. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F. sind für das Verfahren zur Einleitung von Maßnahmen nach Satz 1 – mit Ausnahme von gerichtlichen Verfahren einschließlich etwaiger Vorverfahren und der Verfolgung von Straftaten einschließlich der Strafvollstreckung und von Ordnungswidrigkeiten – die in Art. 3 Abs. 4 und 5 der E-Commerce-RL vorgesehenen Konsultations- und Informationspflichten zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde zieht die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass diese Voraussetzungen für eine einzelfallbezogene Ausnahme vom Herkunftslandprinzip vorliegen, nicht durchgreifend in Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">a. Die Beschwerde legt nicht hinreichend dar, dass die streitgegenständliche Maßnahme nicht dem Schutz des – von der Antragstellerin nicht in Abrede gestellten – Schutzziels „Jugendschutz“ vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zwar offengelassen (Beschlussabdruck, S. 28), ob und gegebenenfalls wie der Gefahrbegriff in Art. 3 Abs. 4 a ii ECRL bzw. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMG a. F. allgemeingültig zu definieren ist. Es hat aber festgestellt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union seine Prüfung einer Einzelfallausnahme zum Herkunftslandprinzip nach der Zielsetzung der Maßnahme, ihrer Eignung zur Zielerreichung sowie der Frage ausrichte, ob sie über das hinausgehe, was zur Zielerreichung erforderlich sei. Im Weiteren hat es unter Bezugnahme auf verschiedene im Einzelnen benannte Studien angenommen, dass der Konsum pornografischer Inhalte durch Kinder und Jugendliche jedenfalls eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMF a. F. darstelle. Auf dieser Grundlage hat das Verwaltungsgericht dargelegt, dass Kinder und Jugendliche fast ausnahmslos Zugang zum Internet haben und in diesem Rahmen in erheblichem Umfang unzulässige Pornografie konsumieren. Ausgehend von der näher dargestellten Datengrundlage hat es weiter keinen Anlass gesehen, die Einschätzung der Antragsgegnerin zu beanstanden, wonach es hinreichend wahrscheinlich sei, dass zumindest diejenigen Kinder und Jugendlichen, die gezielt Pornografie konsumierten, jedenfalls auch das Angebot der Antragstellerin – das diese selbst als soziales Netzwerk für Erwachsene mit der weltweit größten Amateurcommunity mit gut einer halben Millionen Videos und knapp fünf Millionen Bildern bezeichne – in Anspruch nähmen. Schließlich hat es angenommen, der Einschätzung einer ernsthaften und schwerwiegenden Gefahr dürfte auch nicht entgegenstehen, dass wissenschaftlich teilweise umstritten sei, welcher tatsächliche Schaden für Kinder und Jugendliche infolge des Konsums unzulässiger Pornografie entstehen könne. In Bezug auf Gesundheitsgefahren, die gemäß § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG a. F. ebenfalls Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip begründen könnten, betone der EuGH u. a. im Kontext mit Gefahren für die sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung regelmäßig, dass ein Mitgliedstaat, wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung der Gefahren für die menschliche Gesundheit bleibe, Schutzmaßnahmen treffen könne, ohne warten zu müssen, bis der Beweis für das tatsächliche Bestehen dieser Gefahren vollständig erbracht sei. Demnach müsse weder der deutsche Gesetzgeber noch die Antragsgegnerin warten, bis nachweislich in erheblichem Umfang Schädigungen bei jungen Erwachsenen auf den Konsum unzulässiger Pornografie in ihrer Kindheit und Jugend wissenschaftlich zurückgeführt werden könnten. Zusammengefasst geht das Verwaltungsgericht also davon aus, dass die Gefahr für das mit hohem Stellenwert ausgestattete Schutzgut des Jugendschutzes mithin in der zu erwartenden Kenntnisnahme unzulässiger Pornografie durch Kinder und Jugendliche in unüberschaubarer Vielzahl (und der damit verbundenen möglichen Schäden für Kinder und Jugendliche und deren Entwicklung) besteht.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Mit dieser tragenden Erwägung und den ausführlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts dazu setzt sich die Antragstellerin nicht in der nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO gebotenen Weise auseinander. Der bloße Hinweis, das Verwaltungsgericht habe eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr nicht definiert, lässt die nötige inhaltliche Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung vermissen.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 146, Rn. 76.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Diese fehlt ebenfalls, soweit die Antragstellerin behauptet, auch die vom Verwaltungsgericht angeführten Studien und Daten könnten keine konkrete, sondern allenfalls eine abstrakte und damit keine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr begründen. Insbesondere legt die Antragstellerin ihrerseits nicht dar, dass der Konsum pornografischer Inhalte keine konkrete Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellt. Insoweit setzt sich die Antragstellerin weder mit den vom Verwaltungsgericht angeführten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union auseinander, noch legt sie selbst Studien oder sonstige Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch den Konsum pornografischer Inhalte vernünftigerweise ausgeschlossen werden kann. Dies folgt insbesondere nicht aus dem Zitat des Professors für Psychologie und Sexualwissenschaft Weller aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">https://www.waz.de/politik/landespolitik/nrws-langerkampf-gegen-sexfilm-portale-wie-youporn-oder-xhamster-id231176316.html.</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Vielmehr gibt dieser darin an, dass eine Studie aus Münster 2017 zu dem Schluss gekommen sei, dass ein Drittel der befragten 14- bis 15-Jährigen bereits online einen Hardcore-Porno gesehen habe. Zu den Folgen des Konsums pornografischer Inhalte verhält er sich im Weiteren nicht. Genauso wenig legt die Antragstellerin Nachweise oder Ähnliches für ihre durch nichts weiter substantiierte Behauptung vor, dass Jugendliche ihre Website nicht oder kaum konsumieren würden. Auch an dieser Stelle ist allein der Hinweis darauf, dass ihr Angebot seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde, unzureichend.</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">b. Anders als die Antragstellerin meint, stehen die angegriffenen Maßnahmen auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel des Jugendschutzes.</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Nach der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union decken sich die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gemäß des durch § 3 Abs. 5 TMG a. F. umgesetzten Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der E-Commerce-RL weitgehend mit denen, die für jede Beschränkung der durch die Art. 34 und 56 AEUV garantierten Grundfreiheiten gelten. Deshalb ist bei der Beurteilung der Unionsrechtmäßigkeit der in Rede stehenden innerstaatlichen Regelung die zu diesen Vorschriften des AEU-Vertrags ergangene Rechtsprechung zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 1. Oktober 2020 - C-649/18 -, juris, Rn. 64.</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Danach muss die in Rede stehende Beschränkung der durch Art. 56 AUEV garantierten Dienstleistungsfreiheit geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten (vgl. hierzu unter aa.), und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. unter bb.). Ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. unter cc.).</p> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 3. Februar 2021 - C-555/19 -, juris, Rn. 107, vom 28. Januar 2016 - C-375/14 -, juris, Rn. 37, und vom 8. September 2009 - C-42/07 -, juris, Rn. 60, sowie allgemein zur Verhältnismäßigkeitsprüfung EuGH, Urteil vom 11. Juli 1989 ‑ 265/87 -, juris, Rn. 21; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-StreinzEUVAEUVKOEuR-G-AEUV-A-56-GL-II-5-a-dd">Art. 56, Rn. 109</a>.</p> <span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">aa. Die gegenüber der Antragstellerin ausgesprochene Beanstandung und Untersagung der Verbreitung pornografischer Inhalte ohne die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe i. S. d. § 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV stellt ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Schutzziels des Jugendschutzes dar.</p> <span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">Die Eignung liegt nur dann vor, wenn durch die Maßnahme das geltend gemachte zwingende Allgemeininteresse in kohärenter und systematischer Weise erreicht wird.</p> <span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 10. März 2009 - C-169/07 -, juris, Rn. 55, und vom 30. Juni 2011 - C-212/08 -, juris, Rn. 57; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-StreinzEUVAEUVKOEuR-G-AEUV-A-56-GL-II-5-a-dd">Art. 56 AEUV, Rn. 110</a> m. w. N.; zum nationalen Recht vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 - 1 BvR 1806/98 -, juris, Rn. 41.</p> <span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Das ist hier der Fall. Die von der Antragsgegnerin geforderte Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe, durch die die Antragstellerin anders als bislang sicherstellt, das nur Erwachsene Zugang zu den pornografischen Inhalten erhalten, ist geeignet, das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, einen Zugriff von Kindern und Jugendlichen auf pornografische Inhalte zu verhindern oder zumindest zu verringern.</p> <span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 2007 - I ZR 102/05 -, juris, Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt nicht mit ihrem Vortrag durch, im Internet seien zahlreiche pornografische Angebote zugänglich, die über keinerlei Jugendschutzmaßnahmen verfügten und daher die Entwicklung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen stärker beeinträchtigen oder gefährden würden. Allein die Existenz weiterer Sachverhalte, die ein behördliches Einschreiten erfordern, kann einer Maßnahme nicht die Eignung absprechen. Eine Untersagungsverfügung kann trotz des grenzüberschreitenden Charakters des Internets und des hierdurch eintretenden möglichen Vollzugsdefizits geeignet sein, die mit dieser Maßnahme verfolgten Ziele zu erreichen.</p> <span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 - 4 K 262/11 -, juris, Rn. 78, unter Verweis auf die Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts zum Glücksspielrecht: BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 8 C 5.10 -, juris, Rn. 35.</p> <span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin – außerhalb der einmonatigen Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO – vorträgt, eine Untersagung ihr gegenüber würde zu einer Verdrängung der Nutzer in Richtung der zahlreichen anderen pornografischen Internetangebote führen, die überhaupt keine Mechanismen für den Jugendschutz vorsähen, legt sie – auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass ihr Angebot seitens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde – schon nicht dar, dass das Jugendschutzziel hierdurch nicht mehr in kohärenter und systematischer Weise erreicht wird. Da Kinder und Jugendliche gleichwohl noch auf ihr Videoportal – auch außerhalb von Suchmaschinen – zugreifen können, ist jedenfalls weiterhin nicht ausgeschlossen, dass durch die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe dieser Zugriff verringert werden kann.</p> <span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009 ‑ <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE385690901">1 BvR 1231/04</a> -, juris, Rn. 5; OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2003 - 8 B 2567/02 -, juris, Rn. 70; Bay. VGH, Beschluss vom 26. November 2020 - 7 ZB 18.708 -, juris, Rn. 23; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 14 K 4086/07 -, juris, Rn. 76; vgl. zudem auch EuGH, Urteil vom 10. Juli 1980 - C-152/78-, juris, Rn. 17, der es ausreichen lässt, dass eine Regelung dem Gesundheitsschutz – zumindest – in gewissem Umfang dient.</p> <span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">bb. Zudem sind die angegriffenen Maßnahmen auch erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Eine Maßnahme darf nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehen; das gleiche Ergebnis darf mit anderen Worten nicht durch weniger einschneidende Regelungen erreichbar sein.</p> <span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 1991 - C-288/89 -, juris, Rn. 15, m. w. N.; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56, AEUV Rn. 111; zum nationalen Recht vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE305140201">- 1 BvR 1806/98</a> -, juris, Rn. 44, m w. N.</p> <span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Ein milderes, gleich wirksames Mittel, um den Jugendschutz zu gewährleisten, steht nicht zur Verfügung. Die gegenüber der Antragstellerin ausgesprochene Beanstandung, durch die die Antragsgegnerin den Verstoß der Antragstellerin gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV förmlich festgestellt und missbilligt hat,</p> <span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 2014 ‑ 6 B 3.14 -, juris, Rn. 20; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2015 - 13 A 1215/17 -, juris, Rn. 32 m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">stellt bereits das mildeste förmliche Mittel der behördlichen Medienaufsicht dar.</p> <span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Berlin, Urteil vom 21. Mai 2019 ‑ 27 K 93.16 -, juris, Rn. 113; VG Würzburg, Urteil vom 23. Februar 2017 - W 3 K 16.1292 -, juris, Rn. 125, m. w. N.; VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 ‑ 4 K 262/11 -, juris, Rn. 76; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 14 K 4086/07 -, juris, Rn. 74.</p> <span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin musste es auch nicht bei einer Beanstandung belassen, sondern konnte diese mit der Untersagung der Verbreitung des Angebots in der beanstandeten Form verbinden, um weitergehende Verstöße der Antragstellerin gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag möglichst wirksam zu unterbinden. Indem die Antragsgegnerin der Antragstellerin die Möglichkeit eröffnet hat, ihrer Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags auch dadurch nachzukommen, dass sie die Inhalte nur einer geschlossenen Benutzergruppe zugänglich macht, weist sie zudem auf eine gegenüber der Untersagung weniger einschneidende Möglichkeit hin.</p> <span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 ‑ 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 57.</p> <span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Insbesondere hätte das Ziel Jugendschutz nicht gleich wirksam erreicht werden können durch ein Abwarten bis zur (ungewissen) Umsetzung einheitlicher Jugendschutzvorschriften in Zypern. Der Verstoß gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 JMStV hätte bis dahin weiterhin fortgedauert.</p> <span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin rügt, dass das von ihr verwendete RTA-Label ein milderes Mittel gegenüber einem Altersverifikationssystem darstelle, legt sie schon nicht dar, dass es gleichermaßen zum Jugendschutz geeignet ist wie die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe. Dies ist aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen gerade nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Andere mildere, aber gleich geeignete Maßnahmen legt die Antragstellerin schon nicht in der gebotenen Weise dar. Diese sind auch sonst nicht erkennbar. Insbesondere würde durch die – wohl ohnehin eingriffsintensivere – Verpflichtung der Antragstellerin, pornografische Inhalte generell nur zu einer bestimmten Uhrzeit anzubieten, keine geschlossene Benutzergruppe eingerichtet.</p> <span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt schließlich auch nicht mit ihrer – erneut außerhalb der Begründungsfrist angebrachten und damit nicht mehr zu berücksichtigenden – Rüge durch, ein Austausch zwischen den Beteiligten zur Erzielung einer konsensualen Lösung stelle eine mildere Maßnahme dar. Unabhängig davon, ob dies rechtlich geboten war, hat zwischen den Beteiligten am 26. März 2020 per Videokonferenz ein solcher Austausch stattgefunden, ohne dass eine einvernehmliche Lösung gefunden werden konnte. Vielmehr teilte die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 9. April 2020 ihre abweichenden rechtlichen Ansichten mit. Im Übrigen lässt die Antragstellerin, soweit sie auf die seitens der Antragsgegnerin mit ihrem Konkurrenten y. geführten Gespräche abstellt,</p> <span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">vgl. https://www.berliner-zeitung.de/news/pornos-so-will-xhamster-den-jugendschutz-verbessern-li.250381,</p> <span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">unerwähnt, dass – wie sich auch aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ergibt (Beschlussabdruck, S. 23) – gegen diesen ebenfalls eine Beanstandungs- und Untersagungsverfügung wegen des Anbietens pornografische Telemedieninhalte ergangen war.</p> <span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">cc. Schließlich stehen die Maßnahmen auch in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen.</p> <span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 11. Juli 1989 - 265/87 -, juris, Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Dies erfordert eine Abwägung zwischen dem Schweregrad der Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit und dem Grad und der Gewichtigkeit des Zielgewinns unter Einbeziehung sämtlicher relevanter Gesichtspunkte.</p> <span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV 3. Auflage 2018, Art. 56, AEUV, Rn. 115, m. w. N.; zum nationalen Recht vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Oktober 1990 - <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE211459003">1 BvR 283/85 </a>-, juris, Rn. 74 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Offen bleiben kann, ob sich dies – wie vom Verwaltungsgericht angenommen (Beschlussabdruck, S. 33 ff.) – bereits aus der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch nicht umgesetzten AVMD-Richtlinie 2018 ergibt.</p> <span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">Zur Anwendungsabgrenzung vgl. Liesching, Das Herkunftslandprinzip der E-Commerce-Richtlinie und seine Auswirkung auf die aktuelle Mediengesetzgebung in Deutschland, 2020, S. 28, abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">https://library.oapen.org/bitstream/id/375c872a-962d-44ae-a946-a47d71d12d85/CG_978-3-941159-47-1.pdf.</p> <span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">Denn auch ohne Berücksichtigung der Regelungen und Erwägungen der AVMD-Richtlinie 2018 steht die Beschränkung der Antragstellerin in ihrer Berufsfreiheit sowie ihrer Dienstleistungsfreiheit nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel des Jugendschutzes.</p> <span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">Der Schutz der Rechte des Kindes ist durch verschiedene internationale Verträge anerkannt, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, so durch den am 19. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen und am 23. März 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und durch das am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene und am 2. September 1990 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte des Kindes.</p> <span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 39, und vom 27. Juni 2006 - C-540/03 -, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">Der Schutz des Kindes wird auch durch im Rahmen der Europäischen Union ausgearbeitete Rechtstexte gewährleistet, so durch die am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1), nach deren Art. 24 Abs. 1 Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind.</p> <span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 41; zum Verfassungsrang des Kinder- und Jugendschutzes vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1990 - 1 BvR 402/87 -, juris, Rn. 33; BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 1998 - 1 B 5.98 -, juris, Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf den hohen Stellenwert des Jugendschutzes müssen die Beeinträchtigungen der Antragstellerin in ihrer durch Art. 56 f. AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit zurücktreten. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin die Verbreitung des beanstandeten Angebots nicht vollständig untersagt, sondern dessen Verbreitung nur von der Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe abhängig gemacht hat. Etwaige finanzielle Einbußen, die aus der Beschränkung der Benutzergruppe bzw. dem Vorsehen einer technischen Alterskennzeichnung folgen könnten, hier jedoch in keiner Weise dargelegt wurden, sind angesichts der herausragenden Bedeutung des Jugendschutzes hinzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">So auch VG Cottbus, Urteil vom 15. Oktober 2020 ‑ 8 K 2831/17 -, juris, Rn. 58; VG Hamburg, Urteil vom 4. Januar 2012 - 4 K 262/11 -, juris, Rn. 80; VG Minden, Urteil vom 18. August 2010 - 7 K 721/10 -, juris, Rn. 39.</p> <span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt schließlich auch nicht mit ihrem Vortrag durch, dass in anderen Mitgliedstaaten weniger strenge Vorgaben an die Einrichtung einer geschlossenen Benutzergruppe gestellt werden. Denn allein der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat für andere Schutzmodalitäten als ein anderer Mitgliedstaat entschieden hat, kann keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der in diesem Bereich erlassenen nationalen Bestimmungen haben. Vielmehr kommt den Mitgliedstaaten – nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts – ein Wertungsspielraum zu, auf welchem Niveau sie den Jugendschutz gewährleisten wollen.</p> <span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Für den Bereich des Gesundheitsschutzes vgl. EuGH, Urteile vom 1. Oktober 2020 - C-649/18 -, juris, Rn. 71, und vom 18. September 2019 - C-222/18 -, juris, Rn. 71; zum Prüfverfahren zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material vgl. zudem EuGH, Urteil vom 14. Februar 2008 - C-244/06 -, juris, Rn. 49.</p> <span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">Dass dieser vorliegend überschritten wurde, legt die Antragstellerin weder dar, noch ist dies mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen sonst erkennbar.</p> <span class="absatzRechts">203</span><p class="absatzLinks">c. Das Beschwerdevorbringen vermag auch nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts zu erschüttern, die Antragsgegnerin habe die ihr nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b E-Commerce-RL (i. V. m. § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F.) obliegenden Konsultations- und Informationspflichten erfüllt. Danach hat der Mitgliedstaat, der Maßnahmen im Anwendungsbereich der Richtlinie ergreifen möchte, zuvor</p> <span class="absatzRechts">204</span><p class="absatzLinks">-          den Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, und</p> <span class="absatzRechts">205</span><p class="absatzLinks">-          dieser hat dem nicht Folge geleistet oder die von ihm getroffenen Maßnahmen sind unzulänglich;</p> <span class="absatzRechts">206</span><p class="absatzLinks">-          die Kommission und den Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, über seine Absicht, derartige Maßnahmen zu ergreifen, unterrichtet.</p> <span class="absatzRechts">207</span><p class="absatzLinks">Die erste Voraussetzung bedeutet, dass der Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, zuvor über die Schwierigkeiten unterrichtet worden sein und die Möglichkeit gehabt haben muss, selbst eine Lösung zu finden. Die zweite Voraussetzung besagt, dass die getroffenen Maßnahmen nach Auffassung des Bestimmungsmitgliedstaats unzureichend sein müssen. Gemäß der dritten Voraussetzung ist sowohl die Kommission als auch der Herkunftsmitgliedstaat vor dem Ergreifen von Maßnahmen zu informieren. So kann die Kommission ihre Aufgaben nach Absatz 6 ausüben. In der Richtlinie ist keine Frist vorgesehen, innerhalb derer der Staat des Anbieters auf die Unterrichtung durch den Bestimmungsmitgliedstaat des Anbieters reagieren muss. Doch haben die Mitgliedstaaten dem Amtshilfe- und Auskunftsbegehren anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission nach Artikel 19 Abs. 3 der Richtlinie „so rasch wie möglich“ nachzukommen.</p> <span class="absatzRechts">208</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Zentralbank, Anwendung von Art. 3 Abs. 4 - 6 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr auf Finanzdienstleistungen, KOM(2003) 259 endg. vom 14. Mai 2003, S. 7,</p> <span class="absatzRechts">209</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">210</span><p class="absatzLinks">https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2003:0259:FIN:DE:PDF.</p> <span class="absatzRechts">211</span><p class="absatzLinks">Die Unterrichtungspflicht dient dazu, einen Eingriff eines Mitgliedstaats in die grundsätzliche Zuständigkeit des Mitgliedstaats des Sitzes des betreffenden Anbieters des Dienstes der Informationsgesellschaft zu verhindern.</p> <span class="absatzRechts">212</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - C-390/18 -, juris, Rn. 95.</p> <span class="absatzRechts">213</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der E-Commerce-RL vorgesehene Pflicht zur Unterrichtung über eine Maßnahme, die den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft beschränkt, die von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Anbieter erbracht werden, führt daher dazu, dass diese Maßnahme dem Einzelnen nicht entgegengehalten werden kann.</p> <span class="absatzRechts">214</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 ‑ C-390/18 -, juris, Rn. 96.</p> <span class="absatzRechts">215</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben, die auch das Verwaltungsgericht zu Grunde gelegt hat (Beschlussabdruck, S. 36 f.), zeigt die Antragstellerin nicht auf, dass die Antragsgegnerin ihren Konsultations- und Informationspflichten nicht nachgekommen ist. Zwar hat die Antragsgegnerin die zypriotischen Behörden nicht ausdrücklich dazu aufgefordert, Maßnahmen gegen die Antragstellerin zu ergreifen. Vielmehr hat sie „lediglich“ bei der Medienbehörde CRTA angefragt, ob es rechtliche Schritte gebe, die die CRTA einleiten könne, woraufhin die CRTA – die Annahme der Antragsgegnerin – bestätigt hat, dass sie nur für Radio und Fernsehen zuständig sei, aber keine Kompetenz für Video-Sharing Dienste habe. Nach dieser Auskunft wäre die Aufforderung an die zypriotischen Behörden, Maßnahmen zu ergreifen, in Ermangelung einer entsprechender Rechtsgrundlage allerdings von vornherein aussichtslos – und damit bloße Frömmelei – gewesen. Vor dem Hintergrund des vorstehend dargestellten Sinn und Zwecks der Unterrichtungspflicht wurden die Anforderungen des Art. 3 Abs. 4 Buchst. b E-Commerce-RL (i. V. m. § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG a. F.) durch die mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 erfolgte Information der CRTA, dass beabsichtigt sei, gegenüber der Antragstellerin formale Maßnahmen zu ergreifen, hinreichend gewahrt. Hierdurch wurde den zypriotischen Behörden die Möglichkeit eingeräumt, selbst Maßnahmen zu ergreifen. Spätestens mit der Mitteilung der CRTA vom 29. Oktober 2019 an die Antragsgegnerin, dass keine Vorbehalte gegen das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin bestünden, hat sie eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie selbst nicht beabsichtigt, Maßnahmen gegen die Antragstellerin zu ergreifen.</p> <span class="absatzRechts">216</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin beanstandet, dass die CRTA den ITS als zuständige Behörde benannt habe, setzt sie sich nicht in der gebotenen Weise mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auseinander, das davon ausgegangen ist (Beschlussabdruck, S. 39), dass die CRTA lediglich mitgeteilt habe, dass der ITS für die Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie zuständig sei. Im Übrigen berücksichtigt sie nicht, dass die Antragsgegnerin sich mit E-Mail vom 30. April 2020 an den ITS im zypriotischen Ministerium für Energie, Handel und Industrie zwecks Information über das beabsichtigte Vorgehen gegen die Antragstellerin gewandt und auch bei dieser Stelle angefragt hatte, ob Bedenken gegen ein Einschreiten durch die Antragsgegnerin bestünden. Hierdurch hat sie Zypern ein weiteres Mal die Möglichkeit eingeräumt, selbst Maßnahmen zu ergreifen, die es aufgrund der weiterhin fehlenden Rechtsgrundlage aber nicht hat ergreifen können.</p> <span class="absatzRechts">217</span><p class="absatzLinks">Ein weiteres Zuwarten bis zur Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie – wie von der Antragstellerin im Schriftsatz vom 28. Juni 2022 gefordert – war schon deshalb nicht geboten, weil der ITS weder mitgeteilt hatte, für wann die Umsetzung geplant gewesen ist, noch gebeten hatte, bis dahin von Maßnahmen abzusehen. Insoweit vermag auch nicht die Annahme der Antragstellerin, die Konsultationspflichten kämen immer erst dann zum Tragen, wenn ein Mitgliedstaat nationales Recht anzuwenden beabsichtige, das über das nationale Recht des Niederlassungsstaates hinausgehe, zu überzeugen. Vielmehr liegt der Unterrichtungspflicht der Gedanke zu Grunde, dass der Mitgliedstaat, in dem der Anbieter niedergelassen ist, überhaupt die Möglichkeit hat, eigene Maßnahmen zu ergreifen.</p> <span class="absatzRechts">218</span><p class="absatzLinks">B. Die im Hinblick auf etwaige verbleibende Unsicherheiten lediglich ergänzend vorzunehmende Folgenabwägung ergibt ebenfalls, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung von Ziffern 1 und 2 der angefochtenen Ordnungsverfügung das private Interesse der Antragstellerin, von Vollziehungsmaßnahmen vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt. Das – nicht weiter substantiierte – wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin an der unveränderten Fortsetzung der ihr – in der aktuellen Form – untersagten Tätigkeit muss hinter dem öffentlichen Interesse, die von dieser Tätigkeit ausgehenden ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren von Beeinträchtigungen für den Jugendschutz zu unterbinden, zurücktreten.</p> <span class="absatzRechts">219</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">220</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">221</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 und 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,539
ovgnrw-2022-09-07-7-a-137121
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7 A 1371/21
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:22"
"2022-10-17T11:10:05"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0907.7A1371.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die erstattungsfähig sind.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der angefochtene Bauvorbescheid vom 9.7.2020 verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Vorbescheid genüge dem Bestimmtheitsgebot gemäß § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung. Er gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, wodurch das Grundstück des Klägers in keiner Weise tangiert werde. Der Vorbescheid verletze den Kläger auch nicht in seinen sich aus dem materiellen Bauplanungsrecht ergebenden subjektiven Rechten. Eine Verletzung des Gebietsgewährleistungsanspruchs scheide aus, da das Bauvorhaben in einem (faktischen) Wohngebiet realisiert werden solle und auch die Beigeladene eine Wohnbebauung plane. Das geplante Mehrfamilienhaus sei dem Kläger gegenüber auch nicht rücksichtslos. Auch die Befürchtung des Klägers, auf dem neben seinem Grundstück verlaufenden Flurstück 856 könne sich ein öffentlicher Weg entwickeln, der die L.------straße mit der G.              Straße verbinde, begründe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das dagegen gerichtete Zulassungsvorbringen führt nicht zur Zulassung der Berufung.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1.              Die Zulassungsbegründung legt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dar.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">a)              Der Kläger zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Annahme des Verwaltungsgerichts auf, der angefochtene Bauvorbescheid verletze nicht das Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Er rügt, das Verwaltungsgericht habe sich nicht mit dem Verwaltungsvorgang und insbesondere den rechtlichen Zusammenhängen zu dem Verfahren 2 K 3161/19 auseinandergesetzt. Insbesondere werde im dortigen Vorgang eine fußläufige Verbindung zur L.------straße angesprochen. Es könne nicht beurteilt werden, ob von einer gesicherten Erschließung ausgegangen werden könne. Scheitere die Zuwegung der L 136, werde eine gleichwohl erteilte Baugenehmigung ihm die Duldung eines Notwegerechts aufzwingen können. Es sei jedenfalls nicht richtig, wenn das Verwaltungsgericht meine, der Bauvorbescheid gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, denn eine entsprechende ausdrückliche Regelung dazu enthalte der Bescheid nicht; jedenfalls gebe es keine widerspruchsfreie oder stringente Regelung. Insbesondere ergebe sich dies - anders als vom Verwaltungsgericht angenommen - nicht aus der Nebenbestimmung Nr. 5. Es sei daher durchaus möglich und tatsächlich nicht unwahrscheinlich, dass eine Erschließung über die L.------straße erfolge. Die Verbindung zwischen dem Vorhabengrundstück und der L.------straße erfolge über das Flurstück 856, bei dem es sich um eine Art Stichweg handele. Zugunsten des Baugrundstückes bestehe diesbezüglich ein durch Grunddienstbarkeit gesichertes Wegerecht. Er befürchte, dass dieses Wegerecht über § 917 BGB verbreitert und aufgeweitet werde und sich die gesamte Zuwegung als Erschließung über sein Grundstück erstrecken könne. Im Übrigen liege eine Gestattung der Trägerin der Straßenbaulast der G.              Straße nicht vor. Zudem ergebe sich die Unbestimmtheit des Vorbescheids aus der Nebenbestimmung Nr. 5, die auf das Schreiben des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen Bezug nehme. Darin werde die erforderliche straßenrechtliche Zustimmung in Aussicht gestellt. Dies sei gegenüber der Zustimmung ein „rechtliches minus“. Es sei nicht auszuschließen, dass eine Baugenehmigung erteilt werden könne, bei der eine Erschließung über die L.------straße unter teilweiser Inanspruchnahme seines Grundstücks stattfinden könne. In der Nebenbestimmung Nr. 5 werde Bezug auf „diese Zustimmung“ genommen; eine Zustimmung im Rechtssinne gebe es jedoch nicht. Im Übrigen heiße es in der Nebenbestimmung Nr. 5, dass der Landesbetrieb im Baugenehmigungsverfahren erneut zu beteiligen und der Nachweis der Einhaltung aller geforderten Nebenbestimmungen zu erbringen sei. Dies sei inhaltlich unbestimmt und widersprüchlich. Aus dem Schreiben des Berichterstatters vom 6.12.2019 im Parallelverfahren 2 K 5338/19 ergebe sich nichts anderes. Anders als vom Verwaltungsgericht angenommen, liege kein „anderes Vorhaben“ vor, wenn die Erschließung nicht über die G.              Straße erfolge; dies ergebe sich aus der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2009 - 7 A 2548/08 -.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Diese Rügen bleiben ohne Erfolg. Dem Bauvorbescheid vom 9.7.2020 mit seinen Anlagen lässt sich mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen, dass die Erschließung allein über die G.              Straße gestattet ist und das zur L.------straße hin gelegene Grundstück des Klägers in keiner Weise tangiert wird.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid vom 9.7.2020 verweist in Nebenbestimmung Nr. 2 ausdrücklich auf die als Anlage zurückgereichten Planunterlagen und macht damit auch den Lageplan V1.5 und den Vorentwurf V1.5 eines Lageplans/Geländeschnitts vom 15.4.2020 zum Bestandteil der positiven Beurteilung der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens. Diese Pläne zeigen, dass die Einfahrt zum und die Ausfahrt aus dem gesamten Vorhabenbereich ausschließlich über die G.              Straße erfolgen soll. Daran vermögen weder die tatsächliche Begehbarkeit von der L.------straße aus noch deren eventuelle Sicherung durch eine Grunddienstbarkeit etwas zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig steht der Bestimmtheit im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW entgegen, dass der Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen die Erteilung einer Zustimmung zu einer (zukünftigen) Baugenehmigung in Aussicht gestellt, aber noch nicht erteilt hat bzw. eine Baugenehmigung ohne eine solche Zustimmung erteilt wurde.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Gestattet der angegriffene Vorbescheid allein die Erschließung des Vorhabengrundstücks über eine Zuwegung zur G.              Straße, kann er für die Genehmigung eines Vorhabens mit einer Erschließung auf anderem Wege keine Grundlage bilden. Dann läge - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - ein anderes Vorhaben vor. Aus dem insoweit vom Kläger zitierten Urteil des Senats vom 30.10.2009 - 7 A 2458/08 - ergibt sich nichts anderes. Es verhält sich nicht zu der Frage, ob bei einer anderweitigen Erschließung ein anderes Vorhaben vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">b)              Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich auch nicht aus der Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht verkenne das durch die Bauordnung vorgegebene Prüfungsprogramm der Bauaufsichtsbehörde. Ein Vorbescheid könne in Ermangelung der Sachentscheidungskompetenz der Bauaufsichtsbehörde nicht bezüglich öffentlich-rechtlicher Fragen erteilt werden, die in einem anderen Verfahren abschließend zu entscheiden seien. Vorliegend bedürfe es einer straßenrechtlichen Zustimmung des Landesbetriebes Straßenbau Nordrhein-Westfalen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Damit greift der Kläger keine entscheidungserheblichen Annahmen des Verwaltungsgerichts an. Es hat weder angenommen, eine straßenrechtliche Zustimmung sei nicht erforderlich noch ist es davon ausgegangen, die Beklagte habe in dem streitgegenständlichen Bauvorbescheid über eine möglicherweise erforderliche Zustimmung der Straßenbaubehörde entschieden.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus dem Hinweis des Klägers, die Beklagte habe mit dem im Verfahren 2 K 3161/19 (7 A 1369/21) streitgegenständlichen Vorbescheid den Bau eines Einfamilienhauses mit einer Erschließung über eine Straße gestattet, deren Straßenbaulastträgerin sie nicht sei. Auf Grundlage des Vorbescheides sei die Zustimmung des Landesbetriebes Straßenbau nicht erforderlich bzw. nicht einzuholen; dies könne eine Ordnungswidrigkeit darstellen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt schon den Zusammenhang zum vorliegenden Verfahren nicht dar. Zudem ersetzen der im Verfahren 2 K 3161/19 (7 A 1369/21) angegriffene Vorbescheid vom 11.5.1994 und die Verlängerung vom 11.3.2019 ausdrücklich nicht die erforderliche Baugenehmigung und gestatten daher nicht den Bau des Vorhabens. Ebenso wenig ist dem Vorbescheid oder der Verlängerung zu entnehmen, dass eine eventuell erforderliche Zustimmung des Straßenbaulastträgers ersetzt werden sollte.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">c)              Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht aus der Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe die „teilweise anders gelagerten Sachverhalte aus den anhängigen und ebenfalls angefochtenen Parallelverfahren gleichsam über einen Kamm geschoren ohne hinreichende Differenzierung im Einzelfall“, es lägen jedoch „ganz erhebliche Spezifika vor, die sich insbesondere aus der Behandlung der Nebenbestimmungen ergeben“. In den Bescheiden heiße es, dass die Zustimmung des Straßenbaulastträgers der G.              Straße Bestandteil der Vorbescheide sei. Im Falle der Bestandskraft der Bauvorbescheide sei dies durch ihn als Betroffenen rechtlich nicht mehr überprüfbar.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit dieser Rüge verkennt der Kläger, dass dem vorliegend allein streitgegenständlichen Vorbescheid vom 9.7.2020 - wie ausgeführt - eine Ersetzung der Zustimmung des Straßenbaulastträgers nicht zu entnehmen ist.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">d)              Der Kläger beanstandet ohne Erfolg, die Nebenbestimmung Nr. 5 zum Vorbescheid vom 9.7.2020 mache die Erteilung einer Baugenehmigung in rechtswidriger Weise u. a. davon abhängig, dass die Auflagen zu Ziffer 4 aus dem Schreiben des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen vom 17.6.2020 erfüllt werde. Dazu legt der Kläger indes nicht dar, gegen welche nachbarschützende Vorschrift der Vorbescheid insoweit verstoßen sollte.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">e)               Der Kläger rügt weiter ohne Erfolg, durch die im angegriffenen Vorbescheid vorgesehene Bebauung komme es zu einer deutlich intensiveren Ausnutzung der Grundstücke im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung als dies im maßgeblichen Umgebungsbereich entlang der G.              Straße der Fall sei. Er halte insoweit die bereits in erster Instanz vorgetragenen Bedenken im Hinblick auf die bauliche Nutzung aufrecht. Es fehlt hierzu schon an der erforderlichen Darlegung zur nachbarrechtlichen Relevanz dieser Rüge.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu, dass Vorschriften, die das Maß der baulichen Nutzung regeln, grundsätzlich keinen Nachbarschutz vermitteln etwa BVerwG, Urteil vom 28.4.2004 - 4 C 12.03 -, juris.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">2.              Aus den vorstehenden Gründen weist die Rechtssache nicht die vom Kläger gesehenen besonderen rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">3.              Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine bislang weder höchstrichterlich noch obergerichtlich geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war, die sich auch in dem angestrebten Berufungsverfahren stellt und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kuhlmann in: Wysk, VwGO, Kompaktkommentar, 3. Aufl. 2020, § 124 Rn. 34, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob und bejahendenfalls dass eine Bebauungsgenehmigung bzw. ein Bauvorbescheid, der noch nicht zur Ausnutzung von Baurecht berechtigt, im Hinblick auf die [...] zitierte Automatismusrechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der Baugenehmigung gleich zu behandeln ist, mit anderen Worten, dass es auch im Falle der Erteilung eines Vorbescheides rechtlich wesentlich für den betroffenen Kläger darauf ankommt, die erteilte Bebauungsgenehmigung bzw. den erteilten Bauvorbescheid zur Abwehr rechtlicher Einschränkungen bei der Verteidigung gegen die Inanspruchnahme aus § 917 BauGB anzufechten bzw. anfechten zu müssen“.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Diese Frage war für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts indes nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung. Es hat angenommen, der Bauvorbescheid gestatte die Erschließung allein über die G.              Straße, für eine „drohende“ Erschließung über das Grundstück des Klägers - etwa über einen Notweg im Sinne des § 917 BGB - lägen daher keine Anhaltspunkte vor.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">4.              Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu der behaupteten Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Kläger rügt, die „Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln im Verfahren 2 K 5338/19 mit Urteil vom 20.04.2021“ weiche von der Entscheidung des beschließenden Senats vom 30.10.2009 - 7 A 2548/08 - ab. Damit bezieht er sich schon nicht auf das hier angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln im Verfahren 2 K 3813/20. Dass und mit welchem Rechtssatz das Verwaltungsgericht in diesem Verfahren von der genannten Entscheidung abgewichen sein sollte, ist weder dargelegt noch ersichtlich. Dies gilt auch, soweit der Kläger auf die Ausführungen der Entscheidung zu einem öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch gegen eine Baugenehmigung, die sich auf die Duldung eines Notwegerechts auswirkt, verweist. Der angefochtene Bauvorbescheid vom 9.7.2020 gestattet - wie dargelegt - nur die Erschließung über die G.              Straße. Wird das Vorhaben auf diese Weise umgesetzt, kommt es auf ein etwaiges Notwegerecht über das zur L.------straße hin gelegene Grundstück des Klägers nicht an.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">5.              Der Kläger macht ohne Erfolg einen der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangel geltend, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Soweit er eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt, legt er schon nicht dar, welche seiner Ausführungen das Verwaltungsgericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen haben sollte.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beanstandet weiter, das Verwaltungsgericht habe seinen in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zu Unrecht abgelehnt. Auch diese Rüge greift nicht durch. Der Kläger legt nicht dar, weshalb die Ablehnung des Beweisantrags mit der Begründung, die tatsächlichen Umstände, auf die er sich beziehe, könnten als wahr unterstellt werden, keine hinreichende Stütze im Prozessrecht finden sollte.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
346,511
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15 Verg 8/22
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-09-10T10:01:31"
"2022-10-17T11:10:01"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <blockquote><blockquote><p>1. Die Entscheidung der Vergabekammer Baden-Württemberg vom 13.07.2022, Az. 1 VK 23/22, wird aufgehoben. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin wird zurückgewiesen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>2. Die bei der Vergabekammer angefallenen Verfahrenskosten sowie die den Antragsgegnerinnen und der Beigeladenen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Auslagen hat die Antragstellerin zu tragen. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts durch die Antragsgegnerinnen und die Beigeladene wird für notwendig erklärt.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>3. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen sowie den Antragsgegnerinnen und der Beigeladenen die zur zweckentsprechenden Erledigung der Angelegenheit notwendigen Kosten zu erstatten.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>4. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf bis 6.000 EUR festgesetzt.</p></blockquote></blockquote><p/> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragsgegnerinnen schrieben europaweit die Beschaffung einer Software für digitales Entlassmanagement im offenen Verfahren für 3 Jahre mit einer zweimaligen Verlängerungsoption von jeweils einem Jahr aus. Die Antragstellerin und die Beigeladene gaben ein Angebot ab. Nachdem die Antragsgegnerinnen mitteilten, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin erteilen zu wollen, rügte die Beigeladene Vergabeverstöße. Diesen halfen die Antragsgegnerinnen (teilweise) ab und versetzten das Verfahren in den Stand vor Versand der Vergabeunterlagen zurück. Die Vergabeunterlagen (Stand 23.02.2022) sahen vor, dass das Angebot in deutscher Sprache abzufassen war. Der Zuschlag sollte auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt werden, wobei der Nettogesamtpreis mit 65 % und die Qualität mit 35 % in die Wertung einflossen. In den Leistungsanforderungen bestimmten die Antragsgegnerinnen zum Ausschluss führende Kriterien (A-Kriterien). Als Ausschlusskriterium war u.a. die softwaretechnische Einhaltung eines DS-GVO - Vertragsentwurfs, der Bestandteil der Vergabeunterlagen (AST 6) war, bestimmt. Dass die Daten ausschließlich in einem EWR.-Rechenzentrum verarbeitet werden, bei dem keine Subdienstleister / Konzernunternehmen in Drittstaaten ansässig sind, war als nur für die Wertung relevantes B-Kriterium ausgestaltet. Die Vergabeunterlagen (Stand 23.02.2022) sahen weiter vor, dass der Preisbestandteil „Einmalkosten für die Implementierung der Software Digitales Entlassmanagement“ nicht in die Wertung einfließt. Im zurückversetzten Verfahren gaben die Antragstellerin und die Beigeladene ein Angebot ab. Mit Schreiben vom 04.05.2022 informierten die Antragsgegnerinnen die Bieter darüber, dass beabsichtigt sei, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Mit Schreiben vom 09.05.2022 rügte die Antragstellerin, die Beigeladene sei von der Angebotswertung auszuschließen, weil sie Änderung an den Vergabeunterlagen vorgenommen habe. Deren Angebot verstoße gegen zwingende gesetzliche Vorgaben der DS-GVO, sie verarbeite personenbezogene Daten auf Servern, auf die Drittstaaten Zugriff hätten. Sie setze die A. S.à.r.l. als Unterauftragnehmerin ein. Nach der zwischen dieser und der Beigeladenen bestehenden Vereinbarung in Umsetzung von Art. 28 DS-GVO sei in den Ziff. 3 und 12.1 jeweils ein Vorbehalt vorgesehen, der es A. S.à.r.l. erlaube, die im Auftrag des Kunden verarbeiteten personenbezogenen Daten auch ohne bzw. entgegen einer Weisung des Kunden offenzulegen und in ein Drittland zu übermitteln, wenn dies notwendig sei, um Gesetze oder verbindlichen Anordnungen einer staatlichen Behörde einzuhalten (A. GDPR DATA PROCESSING ADDENDUM, AST 15: im Folgenden A. DPA). In einem SUPPLEMENTARY ADDENDUM zu dem A. DPA erkläre A., jede zu weitgehende oder unangemessene Anfrage einer staatlichen Stelle einschließlich solcher Anfragen, die im Widerspruch zum Recht der EU oder zum geltenden Recht der Mitgliedstaaten stehen, anzufechten. Hieraus ergebe sich bereits, dass A. trotz des Serverstandortes in F. davon ausgehe, einem Herausgabeverlangen der US-Behörden zu unterliegen. Die Beigeladene benenne die T. Inc. als Unterauftragnehmerin für den Versand von Transaktionsmails. Ihr, der Antragstellerin, sei aus einem anderen Vergabeverfahren bekannt, dass die Beigeladene tatsächlich die T. Ltd. einsetze. Die Beigeladene habe ein unzulässiges Unterkostenangebot abgegeben. Eine ordnungsgemäße Preisprüfung nach § 60 Abs. 2 VgV habe nicht stattgefunden. Die Preiswertung sei diskriminierend und intransparent, weil die Einmalkosten der Implementierung der Software nicht berücksichtigt worden seien. Mit weiterem Schreiben vom 12.05.2022 rügte die Antragstellerin das Vorabinformationsschreiben als unzureichend; die Angebotswertung und die Dokumentation des Vergabeverfahrens seien fehlerhaft. Nachdem die Antragsgegnerinnen den Rügen nicht abgeholfen haben, reichte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Baden-Württemberg ein, mit dem sie die bereits zuvor erhobenen Rügen wiederholte und vertiefte. Zudem machte sie geltend, dass die Beigeladene entgegen ihren Erklärungen in den Ausschreibungsunterlagen einen weiteren Unterauftragnehmer, nämlich die I., nicht benannt habe und gegen die Vorgabe verstoßen habe, dass das Angebot ausschließlich in deutscher Sprache abzugeben sei, weil die Beigeladene im Zusammenhang mit dem Einsatz der T. Inc. dem Angebot ein „transfer impact assessment“ beigelegt habe, dass offenbar in englischer Sprache abgefasst sei.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Die Antragsgegnerinnen und die Beigeladene haben die Auffassung vertreten, dass die Beigeladene, nicht auszuschließen sei. Es liege schon kein Verstoß gegen Art. 44 ff. DSV-GO vor, weil eine theoretische Zugriffsmöglichkeit des Drittstaates keine Übermittlung personenbezogener Daten darstelle. Zudem verwende die Beigeladene Standardvertragsklauseln und setze durch weitere Vereinbarungen mit A. S.à.r.l. die vom EuGH nach der Schrems II-Rechtsprechung geforderten ergänzenden Regelungen um. Ins Blaue hinein behaupte die Antragstellerin eine datenschutzrechtlich unzulässige Datenverarbeitung durch T. Inc. und fehlende Angaben zu Unterauftragnehmern (T. Inc. statt T. Ltd.; I.). Deren Benennung sei vorsorglich erfolgt; ein Auftragsbezug bestehe nicht. Soweit die Antragstellerin meine, die Beigeladene verstoße gegen zwingende Vorgaben des Leistungsverzeichnisses im Zusammenhang mit dem Einsatz von A. S.à.r.l. als Unterauftragnehmerin, weil deren Muttergesellschaft ihren Sitz in einem Drittstaat habe, könne hierauf ein Ausschluss nicht gestützt werden. Denn die Antragsgegnerinnen hätten die Vorgabe nicht als Ausschluss- sondern nur als Bewertungskriterium ausgestaltet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Die Vergabekammer hat durch den angegriffenen Beschluss den Antragsgegnerinnen aufgegeben, das Verfahren bei fortbestehender Beschaffungsabsicht in den Stand vor Angebotswertung zurückzuversetzen. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin sei teilweise unzulässig. Die Rüge der Nichtberücksichtigung der Einmalkosten für die Implementierung der Software im Rahmen der Preiswertung sei nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB präkludiert. Der Vergaberechtsverstoß sei unmittelbar aus den Vergabeunterlagen erkennbar gewesen. Die Rüge, die Angebotswertung sei fehlerhaft erfolgt, sei ins Blaue hinein erfolgt. Diesen Schluss ziehe die Antragstellerin aufgrund eines fehlerhaften Verständnisses des Vorabinformationsschreibens vom 04.05.2022. Die Antragsgegnerinnen hätten darin mitgeteilt, dass die Bewertung mittels einer „Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nach den Wertungskriterien der Ausschreibungsunterlagen“ erfolgt sei; folglich habe eine Gesamtbewertung von Preis und Leistung stattgefunden. Zudem hätten die Antragsgegnerinnen eine ordnungsgemäße Wertung vorgenommen. Die Rüge, die Beigeladene habe fehlerhafte Angaben zu dem Unterauftragnehmer T. Inc. gemacht, sei ins Blaue hinein erfolgt. Hierzu reiche es nicht, dass die Antragstellerin zur Rüge im Schreiben vom 09.05.2022 angegeben habe, diese Kenntnis habe sie aufgrund eines anderen von der Beigeladenen angestrengten Vergabenachprüfungsverfahrens mit vergleichbaren Voraussetzungen gewonnen. Sie legen nicht dar, woher sie die Kenntnis habe, denn mündliche Verhandlungen vor der Vergabekammer seien nichtöffentlich und die Endentscheidung in diesem Nachprüfungsverfahren noch nicht ergangen. Auch lege die Antragstellerin nicht dar, weshalb der Einsatz der T. Ltd. ständige Praxis der Beigeladenen sei. Ins Blaue hinein habe die Antragstellerin auch gerügt, dass die Beigeladene das Angebot nicht ausschließlich in deutscher Sprache abgefasst habe und sie entgegen ihrer Erklärung I. als Unterauftragnehmerin einsetze. Hierbei handele es sich um reine Mutmaßungen der Antragstellerin. Im Übrigen sei der Nachprüfungsantrag zulässig. Unbegründet sei die Rüge, die Antragstellerin sei unzureichend über die Gründe ihrer Nichtberücksichtigung nach § 134 Abs. 1 GWB unterrichtet worden. Durch das Rügeschreiben sei die Antragstellerin in der Lage gewesen, ihre Rechte durch Einreichen eines Nachprüfungsantrags zu wahren. Mit Ausnahme einer unzureichenden Dokumentation über die Preisaufklärung habe die Antragstellerin nicht dargelegt, wie etwaige Dokumentationsmängel sich negativ auf ihre Rechtsstellung im Verfahren ausgewirkt hätten. Die Rüge unzureichender Preisaufklärung sei aber unbegründet. Denn es könne nicht festgestellt werden, dass die Antragsgegnerinnen gegen § 60 Abs. 3 S. 1VgV verstoßen hätten. Im Hinblick auf die preisliche Nähe der Angebote der Beigeladenen und der Antragstellerin sei die Aufgreifschwelle von 20 % nicht überschritten worden. Zudem hätten die Antragsgegnerinnen die Beigeladene zur Offenlegung der Kostenkalkulation und zur Aufklärung des Unterschieds zwischen dem aktuellen und dem vor Zurückversetzung eingereichten Angebot aufgefordert. Die Erklärungen der Beigeladenen hätten zur nachvollziehbaren Überzeugung der Antragsgegnerinnen geführt, dass der angebotene Preis einer ordnungsgemäßen Vertragserfüllung nicht entgegenstehe. Zulässig und begründet sei allerdings gerügt worden, dass das Angebot der Beigeladenen nicht den Vergabeunterlagen entspreche und daher gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV vom Vergabeverfahren auszuschließen sei, weil es aufgrund des beabsichtigten Einsatzes der A. S.à.r.l. gegen Art. 44 ff. DS-GVO verstoße. Indem die Beigeladene A. S.à.r.l. als Hosting-Dienstleister einsetze und die Beauftragung von A. unter anderem auf dem A. DPA basiere, liege eine Übermittlung im Sinne von Art. 44 ff. DSV-GO vor, wobei die Vorschriften auch bei der Offenlegung von personenbezogenen Daten an einen Auftragsverarbeiter in einem Drittland anwendbar seien. Ausreichend sei, wenn eine Einstellung personenbezogener Daten auf eine Plattform erfolge, auf die von einem Drittland aus zugegriffen werden könne. Dies gelte unabhängig davon, ob der Zugriff tatsächlich erfolge und ob der Server, über den die Daten zugänglich gemacht würden, innerhalb der EU liege. Eine Zugriffsmöglichkeit etwa durch Einräumung von Zugriffsrechten berge ein latentes Risiko, dass eine unzulässige Übermittlung personenbezogener Daten stattfinde, ohne dass die hierfür in der DSV-GO normierten rechtlichen Grundlagen gegeben seien. Auch die von der Beigeladenen mit A. S.à.r.l. getroffenen Vereinbarungen führten zu keiner anderen Beurteilung. Denn die entsprechenden Bestimmungen seien generalklauselartig gestaltet und eröffneten sowohl staatlichen als auch privaten Stellen außerhalb der EU und insbesondere in den USA im Rahmen der im konkreten Fall jeweils anwendbaren vertraglichen oder gesetzlichen Ermächtigungen die Möglichkeit, in bestimmten Situationen auf bei der A. S.à.r.l. gespeicherte Daten zuzugreifen. Soweit sich A. S.à.r.l. verpflichte, zu weitgehende oder unangemessene Anfragen staatlicher Stellen einschließlich solcher Anfragen, die in Widerspruch zum Recht der EU oder zum geltenden Recht der Mitgliedstaaten stünden, anzufechten, beseitige dies das latente Risiko eines Zugriffs durch diese Stellen nicht. Das gleiche gelte für die von der Beigeladenen eingesetzte Verschlüsselungstechnik, wobei deren Ausführungen und die der Antragsgegnerinnen im Nachprüfungsverfahren ohnehin unberücksichtigt bleiben müssten, weil die diesbezüglichen Schriftsätze für die übrigen Beteiligten geschwärzt gewesen seien. Eine Angemessenheitsschwelle nach Art. 45 Abs. 1 DS-GVO gebe es nicht. Die Verwendung der Standarddatenschutzklauseln sei nicht geeignet, die Übermittlung zu legitimieren. Vielmehr bedürfe es einer Einzelfallprüfung, die vorliegend zur datenschutzrechtlichen Unzulässigkeit führe. Soweit in den Angebotsunterlagen die Anforderung an Datenschutz und IT-Sicherheit bestehe, wonach Daten ausschließlich in einem EU- bzw. EWR-Rechenzentrum verarbeitet werden dürften, sei dies nur als Bewertungskriterium ausgestaltet, so dass ein Ausschluss darauf nicht gestützt werden könne.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>Mit ihrer hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde begehrt die Beigeladene, den Beschluss der Vergabekammer aufzuheben und den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen. Sie habe die Vergabeunterlagen nicht geändert. Konkrete Tatsachen, die auf eine zukünftige Nichteinhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen hindeuteten, die sie, die Beigeladene, garantiere, lägen nicht vor. Solche hätten auch die ausführlichen Prüfungen der Antragsgegnerinnen nicht ergeben. Ihr Angebot sehe eine Datenverarbeitung ausschließlich auf einem in Deutschland stehenden Server einer deutschen GmbH vor. Sie werde nur regionale Services nutzen, die keinen Datentransfer erforderten, sodass die damit einhergehende Verarbeitung von Kundendaten ausschließlich in Europa stattfinde. Das A. DPA werde als Standarddokument allen A. Kunden zur Verfügung gestellt, komme jedoch im konkreten Fall nicht zur Anwendung. Zudem sei A. S.à.r.l. nicht befugt, einseitig die vereinbarte Region der Leistungserbringung zu ändern. Die Wahl der Leistung und Regionen obliege allein den A. Kunden. A. S.à.r.l. sei auch nicht berechtigt, die Kundendaten anders zu behandeln als unter dem bei Vertragsschluss mit dem Kunden gültigen Datenübermittlungsmechanismus. A. S.à.r.l. habe der Beigeladenen zugesichert, dass sie die Leistung dieser gegenüber in datenschutzkonformen Weise erbringen werde. Selbst das von der Vergabekammer angenommene latente Risiko einer Übermittlung personenbezogener Daten in die USA bestehe nicht, weil die von ihr eingesetzte Verschlüsselungstechnik dies nicht ermögliche. Der Cloud Act finde keine Anwendung auf die A. S.à.r.l.. Jedenfalls stelle eine theoretische Zugriffsmöglichkeit keine Datenübermittlung im Sinne des Art. 44 ff. DS-GVO dar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Sie beantragt,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="7"/>1. den Beschluss der Vergabekammer Baden-Württemberg, vom 13. Juli, Aktenzeichen<br/>1 VK 23/22, aufzuheben und den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen;</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="8"/>2. hilfsweise, die Vergabekammer zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des angerufenen Gerichts über die Sache erneut zu entscheiden;</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="9"/>3. der Beschwerdegegnerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Beschwerdeführerin aufzuerlegen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>Die Antragsgegnerinnen beantragen,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="11"/>1. den Beschluss der Vergabekammer Baden-Württemberg, vom 13. Juli, Aktenzeichen<br/>1 VK 23/22, aufzuheben und den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen;</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="12"/>2. die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerinnen der Antragstellerin und Beschwerdegegnerin aufzuerlegen;</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="13"/>3. die Hinzuziehung des anwaltlichen Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerinnen für notwendig zu erklären.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Sie hätten das Angebot der Beigeladenen werten dürfen und dieses nicht wegen unzulässiger Änderungen oder Ergänzungen der Vergabeunterlagen ausschließen müssen. Im Übrigen schließen sich die Antragsgegnerinnen der Argumentation der Beigeladenen an.</td></tr></table> <table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>Die Antragstellerin beantragt,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.</td></tr></table> <table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>Sie verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens. Aus dem Vergabeverfahren, VK Bund, Az. VK …, wisse sie, dass die Beigeladene als Unterauftragnehmerin die T. Ltd. einsetze, um sogenannte Transaktionsmails im Zusammenhang mit ihrer webbasierten Softwarelösung zu versenden. Diese habe sie jedoch nicht als Unterauftragnehmerin angegeben. Zudem setze die Beigeladene das Unternehmen I. als Unterauftragsnehmerin ein, ohne dies angegeben zu haben, was sie ebenfalls aus dem genannten Verfahren wisse. Auch hierauf sei der Ausschluss des Angebots der Beigeladenen entgegen der Auffassung der Vergabekammer zu stützen. Ihr Vortrag sei nicht ins Blaue hinein erfolgt. Zudem habe die Beigeladene, wie sie ebenfalls aus dem genannten Vergabeverfahren wisse, ein Dokument entgegen den Vorgaben der Vergabeunterlagen in englischer Sprache vorgelegt und damit geben die Vorgaben der Vergabeunterlagen verstoßen. Mit der beabsichtigten Erteilung des Zuschlags auf das Angebot der Beigeladenen würden die Antragsgegnerin gegen § 60 Abs. 3 S. 1 VgV verstoßen. Das neue Angebot der Beigeladenen mache in einzelnen Positionen nur noch 10 % des Erstangebots aus. Es sei davon auszugehen, dass das Angebot nicht auskömmlich sei. Entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerinnen seien die Erläuterungen der Beigeladenen im Schreiben vom 08.04.2022 lediglich vorgeschoben und inhaltlich unzutreffend. Entgegen der Auffassung der Vergabekammer sei deshalb auch unterhalb der Auftragsschwelle von 20 % der Preis aufzuklären gewesen. Denn die Beigeladene habe schon zum wesentlich höheren Erstangebot erklärt, die Preise an der untersten Grenze auskömmlich kalkuliert zu haben. Mit ihrer Rüge, dass es vergaberechtlich unzulässig sei, die Einmalkosten für die Implementierung der Software digitales Entlassmanagement nicht bei der Bewertung des Gesamtpreises zu berücksichtigen, sei sie nicht präkludiert. Dieser Umstand sei für sie erst mit Erhalt des Bieterinformationsschreibens erkennbar gewesen, da erst zu diesem Zeitpunkt eine vertiefte juristische Auseinandersetzung mit der Problematik der ordnungsgemäßen Preiswertung unter Einbeziehung sämtlicher relevanter Bestandteile erfolgt sei. Zudem sei das Vorabinformationsschreiben unzureichend gewesen. Die Antragsgegnerinnen hätten eine fehlerhafte Wertung vorgenommen. Den ihr zugänglich gemachten Teilen des Vergabevermerks lasse sich entnehmen, dass die Antragsgegnerinnen die Angebote nicht anhand der Kriterien Qualität und seiner Unterkriterien gewertet hätten. Entgegen den Vorgaben in den Vergabeunterlagen (Lastenheft Nr. 2.5) hätten die Antragsgegnerinnen die verifizierende Teststellung inhaltlich bewertet. Dies stelle einen Verstoß gegen § 58 VgV i.V.m. § 127 Abs. 1 S. 1 GWB dar. Das Vergabeverfahren sei unzureichend dokumentiert. In der mündlichen Verhandlung vor dem Vergabesenat hat die Antragstellerin geltend gemacht, aufgrund einer gestern angestellten Recherche festgestellt zu haben, dass die Beigeladene bei ihrer Anwendung C. einsetze, bei dem nach den Angaben von A. die Daten in die USA und ihre, der Antragstellerin, IP-Adresse in die USA übermittelt würden.</td></tr></table> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="19"/>1) Das Nachprüfungsverfahren ist statthaft, insbesondere ist der Schwellenwert nach § 106 Abs. 1 S. 1 Abs. 2 Nr. 1 GWB eingehalten. Abzustellen ist hierbei auf die ordnungsgemäße Auftragswertschätzung ungeachtet einer etwaigen Unterschreitung der einschlägigen Schwellenwerte durch die konkreten Angebote (vgl. Röwekamp in Röwekamp/Kus/ Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl. 2020, § 106 Rn. 10).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="20"/>2) Der Nachprüfungsantrag ist teilweise unzulässig.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>a) Die Rüge, dass es vergaberechtlich unzulässig sei, die Einmalkosten für die Implementierung der Software digitales Entlassmanagement nicht bei der Bewertung des Gesamtpreises zu berücksichtigen, ist gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB präkludiert, weil die Antragstellerin die Rüge nicht bis zum Ablauf der Frist zur Abgabe der Angebote, sondern erst nach Ablauf dieser Frist erhob. Zu Recht hat die Vergabekammer darauf abgestellt, dass die Antragstellerin den angeblichen Verstoß bei Aufbietung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können, weil ein durchschnittlich fachkundiger, die übliche Sorgfalt anwendender Bieter den angeblichen Vergaberechtsverstoß ohne Rechtsrat erkennen konnte (EuGH, Beschluss vom 12.03.2015, C - 538/13 - Vigilo, juris Rn. 58; Senat, Beschluss vom 19.02.2020, 15 Verg 1/20, juris Rn. 28). Abzustellen ist hierbei gerade nicht auf das konkrete antragstellende Unternehmen, sondern auf ein Unternehmen, das schon über gewisse Erfahrung in Vergabeverfahren verfügt (Senat, a.a.O.). Ein Unternehmer, der an einem EU-weiten Vergabeverfahren teilnimmt, muss zumindest den Text der einschlägigen Verfahrensordnungen zur Kenntnis nehmen; Ungereimtheiten oder Widersprüchlichkeiten der Vergabeunterlagen muss er nachgehen, auch wenn er die genaue Rechtslage nicht kennt (vgl. Summa in Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage 2016 - Stand 21.06.2021, § 160 GWB Rn. 277). Darauf, ob sich die Antragstellerin mit der Preisgestaltung in den Vergabeunterlagen erst mit Erhalt des Absageschreibens vom 04.05.2022 vertieft auseinandersetzte, kommt es insoweit nicht an.<br/>Dass die Einmalkosten für die Implementierung der Software digitales Entlassmanagement nicht bei der Preiswertung Berücksichtigung finden würden, ergab sich durch Lesen der Angaben zur Preiswertung in den Vergabeunterlagen (Stand 23.02.2022) und dem Preisblatt (Stand der 23.02.2022), in dem dies in Rot hervorgehoben wurde. Die rechtliche Wertung, ob eine solche Preisvorgabe möglicherweise intransparent und diskriminierend ist, kann jeder Bieter selbst vornehmen. Ergänzend wird auf die hierzu gemachten zutreffenden Ausführungen der Vergabekammer Bezug genommen.<br/><br/>b) Die Rüge, die Antragsgegnerinnen hätten erkennbar fehlerhaft allein auf den Preis abgestellt, obwohl nach den Vergabeunterlagen auch die Qualität gewertet werden sollte, erhob die Antragstellerin ebenso ins Blaue hinein wie die Rüge, die verifizierende Teststellung sei in die Wertung eingeflossen, obwohl dies nach 2.5. des Lastenhefts nicht vorgesehen war. Solche Anhaltspunkte ergaben sich weder aus dem der Antragstellerin im Rahmen der Akteneinsicht überlassenen teilweise geschwärzten Vergabevermerk noch aus dem Bieterinformationsschreiben. Willkürliche, aufs Geratewohl oder ins Blaue hinein aufgestellte Behauptungen sind prozessual unbeachtlich (vgl. Dicks in Ziekow/Völlink/Dicks, 4. Aufl. 2020, GWB § 160 Rn. 18).<br/><br/>Hieran gemessen sind die oben aufgeführten Beanstandungen als unzulässig zu qualifizieren. Die Behauptung, entgegen den Ausschreibungsunterlagen hätten die Antragsgegnerinnen die Teststellung in die Wertung einfließen lassen, beruht auf einem Verständnis des der Antragstellerin zur Verfügung gestellten (teilgeschwärzten) Vergabevermerks, das nicht durch Tatsachen gerechtfertigt ist. Soweit im Vergabevermerk unter Nr. 16 festgehalten wird, dass die Teststellung als „gut“ bezeichnet wird, gibt dies keinen Hinweis darauf, dass die verifizierende Teststellung in die Wertung eingeflossen ist. Eine verifizierende Teststellung dient allein dazu, nach Abschluss einer Wertung nach Aktenlage zu überprüfen, ob bestimmte Kriterien eingehalten sind. Die Verwendung des Begriffs „gut“ bedeutet nicht, dass die Teststellung Teil der Wertung und nicht im Anschluss an diese erfolgte ist. Der Begriff wurde ersichtlich unspezifisch verwendet und kommt einer Schulnotenbewertung, die die Antragsgegnerinnen insoweit nicht vorgesehen haben, nicht gleich.<br/>Keinerlei Anhaltspunkte bietet auch das Bieterinformationsschreiben an die Antragstellerin vom 04.05.2022 für eine entgegen der bekannt gemachten Wertungskriterien vorgenommene Wertung und damit für einen Verstoß nach § 58 VgV. Die Antragsgegnerinnen teilten der Antragstellerin mit, dass bei der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nach den Wertungskriterien der Ausschreibungsunterlagen deren Angebot in der Wertung des Preises nicht das wirtschaftlichste gewesen sei. In der Gesamtbewertung Preis und Leistung habe ihr Angebot auf Rang 2 gelegen. Das Schreiben verwendet „Wertungskriterien“ im Plural, gibt weiter an, dass beim Preis das Angebot der Antragstellerin nicht das wirtschaftlichste sei, erkennbar gemeint war, nicht auf Platz 1 lag, und benennt im dritten Satz die beiden Wertungskriterien (Preis und Leistung).<br/><br/>c) Wie die Vergabekammer ausgeführt hat, ist die Antragstellerin hinsichtlich der Rüge eines nicht den Anforderungen des § 134 GWB genügenden Bieterinformationsschreibens mangels Darlegung eines eventuellen Schadens durch den angeblichen Vergaberechtsverstoß nicht antragsbefugt, § 160 Abs. 2 GWB.<br/><br/>aa) Da die Antragsgegnerinnen noch keinem Angebot den Zuschlag erteilt haben, kann eine ordnungsgemäße Unterrichtung nach § 134 GWB lediglich für die Einhaltung der Rügefrist und die Substantiierung eines Vergaberechtsverstoßes von Bedeutung sein. Die Antragstellerin hat aber innerhalb der gesetzlichen Frist den Antragsgegnerinnen zahlreiche Verstöße vorgeworfen. Dass ihr weitere Verstöße aufgrund unzureichender Unterrichtung unbekannt geblieben sein könnten, ist nicht ersichtlich und hat die Antragstellerin auch nicht angedeutet.<br/><br/>bb) Die Rüge wäre zudem unbegründet.<br/>Die Mitteilung der Antragsgegnerinnen vom 04.05.2022, dass beabsichtigt sei, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen, erfüllt die Anforderungen von § 134 Abs. 1 GWB. Nach dieser Vorschrift hat ein öffentlicher Auftraggeber die Bieter, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen, (u. a.) über die Gründe der vorgesehenen Nichtberücksichtigung ihres Angebots zu informieren. Die Begründung eines Absageschreibens, dass der unterlegene Bieter nicht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben hat, kann zwar unter Umständen die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllen. Wie bereits ausgeführt, ergibt sich aus der Zusammenschau der im Informationsschreiben abgegebenen Erklärungen, dass das Angebot der Beigeladenen beim Wertungspunkt Preis günstiger war. Eine ausführliche Begründung verlangt die Vorschrift nicht.<br/><br/>d) Die Rüge einer unzureichenden Dokumentation nach § 8 VgV ist unzulässig.<br/><br/>aa) Ein Bieter kann sich nur dann auf eine fehlende oder unzureichende Dokumentation stützen, wenn sich die diesbezüglichen Mängel auf seine Rechtsstellung im Vergabeverfahren nachteilig ausgewirkt haben, die Dokumentation ist kein Selbstzweck (vgl. OLG München, Beschluss vom 02.11.2012, Verg 26/12, juris Rn. 26; OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. Januar 2007, 11 Verg 11/06, juris Rn. 43). Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die festzustellenden Dokumentationsmängel den Wertungsvorgang an sich betreffen und ohne hinreichend detaillierte und nachvollziehbare Dokumentation sowohl aus der Sicht eines Mitbieters wie der Nachprüfungsorgane nicht überprüft und nicht festgestellt werden kann, ob sich die Vergabestelle im Rahmen ihres Wertungsspielraumes bewegt und eine sachlich richtige Entscheidung getroffen hat oder sich von unsachlichen, vergaberechtsfernen Gesichtspunkten hat leiten lassen (OLG Frankfurt, a.a.O.).<br/><br/>Die Antragstellerin behauptet lediglich ins Blaue hinein, dass eine Vielzahl der für die Vergabe wesentlichen Entscheidungen und Vorgänge durch die Antragsgegnerinnen nicht ausreichend dokumentiert sei. Welche dies sind und weshalb sie dies in ihren Rechten verletzt, hat sie nicht näher dargestellt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin beim Kriterium Leistung ohnehin an erster Stelle lag, was ihr aufgrund des Bieterinformationsschreibens bekannt war. Die Möglichkeit, eventuell weitere Rechtsverletzungen feststellen zu können, die die Antragstellerin zur Begründung anführt, genügt für eine Rechtsverletzung nach § 160 Abs. 2 GWB nicht.<br/><br/>bb) Ungeachtet dessen wäre die Rüge auch unbegründet. Die Bestimmungen in § 8 VgV verlangen eine fortlaufende Dokumentation der maßgeblichen Stufen des Vergabeverfahrens und vorliegend insbesondere eine inhaltlich nachvollziehbare Wertungsentscheidung. Dieser Vorgabe sind die Antragsgegnerinnen im Rahmen der Anfertigung einer Bewertungsmatrix nachgekommen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>3) Im Übrigen ist der Nachprüfungsantrag zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table> <table style="margin-left:6pt"><tr><td>a) Die Rügen, die Beigeladene setze die T. Ltd. anstelle der als Unterauftragnehmerin angegebenen T. Inc. ein, sie habe die von der T. eingesetzte I. nicht als weitere Unterauftragnehmerin angegeben und im Zusammenhang mit dem Einsatz der T. Inc. dem Angebot ein „transfer impact assessment“ beigelegt, dass offenbar in englischer Sprache abgefasst sei, erfolgten nicht ins Blaue hinein.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="23"/>aa) Aus Gründen der Beschleunigung wie auch zur Vorbeugung gegen den Missbrauch der Rüge bzw. des Nachprüfungsverfahrens ist dem öffentlichen Auftraggeber in der Regel nicht zuzumuten, auf eine gänzlich unsubstantiierte Rüge hin in eine genaue, gegebenenfalls erneute Tatsachenermittlung einzutreten. Daher ist der Antragsteller gehalten, schon bei Prüfung der Frage, ob ein Vergaberechtsverstoß zu rügen ist, Erkenntnisquellen auszuschöpfen, die ohne großen Aufwand zur Verfügung stehen. Zudem muss er angeben, woher seine Erkenntnisse stammen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.03.2021, VII-Verg 9/21, juris Rn. 43 mwN). Dies hat die Antragstellerin schon im Rügeschreiben vom 09.05.2022 hinsichtlich des Einsatzes der T. Inc. getan. Denn sie hat dargelegt, dass sie die Erkenntnisse über deren Einsatz im Zusammenhang mit Transaktionsmails aufgrund eines Vergabeverfahrens, an dem ebenfalls sie und die Beigeladene beteiligt waren, gewonnen habe. Nachfolgend hat sie mit gleicher Begründung ihren Vortrag in Bezug auf die weitere Unterauftragnehmerin, die I., und die Vorlage eines Dokuments in englischer Sprache erweitert.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>bb) Die Rügen sind jedoch unbegründet. Das Angebot der Beigeladenen ist nicht nach §§ 53 Abs. 7, 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV wegen Änderung an den Vergabeunterlagen auszuschließen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>(1) Eine Änderung an den Vergabeunterlagen liegt immer dann vor, wenn eine unmittelbare Veränderung an dem Inhalt des auftraggeberseitig vorgegebenen Angebotsblanketts einschließlich aller seiner Bestandteile vorgenommen worden ist (vgl. Verfürth in Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, VgV, § 53 Rn. 64). Nach der Begründung des Referentenentwurfes dient § 53 Abs. 7 VgV der Vergleichbarkeit der eingereichten Informationen und soll der Gefahr vorbeugen, dass öffentliche Auftraggeber ein Angebot zuschlagen, das nicht ihren Anforderungen entspricht (Begründung des Referentenentwurfes, Seite 187). Folglich setzt eine Änderung der Vergabeunterlagen voraus, dass der Bieter Erklärungen in Bezug auf die konkret ausgeschriebene Beschaffung entgegen den Vorgaben abgibt. Um festzustellen, ob ein Bieter die Vergabeunterlagen unzulässig geändert hat, ist sein Angebot mit den in den Vergabeunterlagen genannten Anforderungen des öffentlichen Auftraggebers an die zu erbringende Leistung zu vergleichen (Dittmann in Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, VgV, § 57 Rn. 54).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="26"/>(2) Die Beigeladene hat angegeben, dass die Benennung der T. Inc. im Zusammenhang mit „Transaktionellen E-Mails und Kurznachrichten“ erfolge (vgl. AVV-Vertrag, Anl. 3). Unterauftragnehmer im Sinne der Ausschreibung ist nach § 1 Abs. 2 des AVV-Vertrages ein „beauftragter Leistungserbringer, dessen Dienstleistung und/oder Werk der Auftragnehmer zur Erbringung der in diesem Vertrag beschriebenen Leistungen gegenüber dem Auftraggeber benötigt“. Die transaktionellen, d.h. automatisch versendeten E-Mails und Kurznachrichten sind aber nicht Gegenstand der Ausschreibung. Daher geht auch die Rüge, die Beigeladene setze als weitere Unterauftragnehmerin I. ein und habe ein Dokument in englischer Sprache vorgelegt, ins Leere.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="27"/>(3) Zudem sieht § 36 Abs. 5 VgV für den Fall des Auftretens von Eignungsmängeln des Unterauftragnehmers das Recht des Auftraggebers vor, den Austausch des Unterauftragnehmers zu verlangen. Wenn schon eine mögliche Ungeeignetheit des Unterauftragnehmers nicht zum Ausschluss führen muss, dürfte für eine Falschbenennung nichts anderes gelten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="28"/>b) Das Angebot der Beigeladenen ist auch nicht auszuschließen, weil ihr Angebot von den Anforderungen der Antragsgegnerinnen an Datenschutz und IT-Sicherheit abweicht.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="29"/>aa) Der öffentliche Auftraggeber darf ohne Widerspruch zu § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Bieter seine vertraglichen Zusagen erfüllen wird (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26.08.2018, Verg 23/18, juris Rn. 71; KG, Beschluss vom 21.11.2014, Verg 22/13, juris, Rn. 36). Erst wenn sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dies zweifelhaft ist, ist der öffentliche Auftraggeber gehalten, durch Einholung ergänzender Informationen die Erfüllbarkeit des Leistungsversprechens beziehungsweise die hinreichende Leistungsfähigkeit des Bieters zu prüfen (OLG Düsseldorf, a.a.O.; KG, a.a.O.; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 16.06.201, 11 Verg 3/15, juris, Rn. 82; OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.11.2012, Verg W 10/12, juris Rn. 21).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="30"/>bb) Die Vergabeunterlagen verlangten die softwaretechnische Einhaltung des beigefügten DS-GVO-Vertragsentwurfs (4.1.1. lit. c der Vergabeunterlagen). Weiter heißt es, „die Einzelheiten ergeben sich aus dem Leistungsverzeichnis und dem Lastenheft der Vergabeunterlagen.“ Im Lastenheft heißt es unter 2.8 „Erfüllung der Anforderungen aus der DS-GVO und dem BDSG, insbesondere</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="31"/>- Erfüllung der datenschutzrechtlichen Grundsätze, Art. 5, 25 DS-GVO (insbesondere Datenminimierung, Datenschutz durch Technikgestaltung, Datenschutz durch datenschutzfreundliche Voreinstellungen)</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="32"/>- Umsetzung ausreichender technischer und organisatorischer Maßnahmen (Art. 32 DS-GVO) oder anderer geeigneter Garantien (z.B. Zertifizierung nach Art. 42 DS-GVO); Möglichkeit zur Vorortprüfung des Auftragnehmers muss gegeben sein.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="33"/>Im Lastenheft weisen die Antragsgegnerinnen darauf hin, dass die Anforderungen an die Leistungen als zum Ausschluss führende A-Kriterien und bewertungsrelevante B-Kriterien ausgestaltet sind. Danach ist allein die softwaretechnische Einhaltung des DS-GVO-Vertragsentwurfs Ausschlusskriterium (Lastenheft lfd. Nr. 19), während die DS-GVO konformen softwaretechnischen Möglichkeiten zur Berechtigungssteuerung (Lastenheft lfd. Nr. 20) und die Vorgabe, wonach die Daten ausschließlich in einem EU-/EWR-Rechenzentrum verarbeitet werden, bei dem kein Subdienstleister / Konzernunternehmen in Drittstaaten ansässig ist (Lastenheft lfd. Nr. 21), als B-Kriterien ausgestaltet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="34"/>Durch die Unterzeichnung der von den Antragsgegnerinnen vorgegebenen DS-GVO-Verträgen hat die Beigeladene erklärt, die gemachten Vorgaben einzuhalten. Sie hat zudem ihre Leistungen beim Einsatz von Dienstleistern und im Bereich von Datenschutz und IT-Sicherheit im Angebot im Einzelnen näher beschrieben und hierbei ein klares und eindeutiges Leistungsversprechen abgegeben. Sie hat in diesem Zuge zugesichert, dass personenbezogene Gesundheitsdaten ausschließlich an die A. S.à.r.l., L., übermittelt werden und auch zu ihrer Verarbeitung die EU nicht verlassen, sondern nur in Deutschland verarbeitet werden. Zudem hat die Beigeladene erklärt, dass die A. S.à.r.l., L. ihr gegenüber zugesichert habe, dass alle Daten der Beigeladenen in Deutschland verarbeitet werden und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zudem bestätigt, dass sie bis zur Angebotsverwirklichung sämtliche intern notwendigen Verträge mit A. schließen wird, die ihre Zusagen, wie sie im Angebot gemacht werden, umsetzen. Im Sinne einer solchen bindenden Zusicherung haben die Antragsgegnerinnen die Erklärungen der Beigeladenen in den Vergabeunterlagen auch verstanden. Auf dieses Leistungsversprechen dürfen die Antragsgegnerinnen vertrauen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="35"/> (1) Zweifel mussten die Antragsgegnerinnen nicht deshalb haben, weil A. Verträge im Allgemeinen unter Einbeziehung der A. DPA abschließt. Die A. DPA waren nicht Gegenstand des Angebots der Beigeladenen. Die Verträge mit A. waren nach den Vergabeunterlagen nicht vorzulegen und lagen dem Angebot auch nicht bei. Folglich bestand für die Antragsgegnerinnen keine Veranlassung, an den im Leistungsversprechen gemachten Zusicherungen zu zweifeln, weil die A. DPA möglicherweise datenschutzrechtliche Defizite aufweisen könnten, wie dies die Vergabekammer aufgezeigt hat oder weil deren Formulierung als dreiseitige Vereinbarung, in die auch die A. Inc., USA, einbezogen ist, Zweifel an der Einhaltung der DS-GVO begründen könnten. Aufgrund des im Angebot beschriebenen Leistungsversprechens und den abgegebenen Garantien in Bezug auf die konkrete Auftragsdurchführung können die Antragsgegnerinnen davon ausgehen, dass die Beigeladene sich hieran hält und ihre Verträge mit A. entsprechend gestaltet, ungeachtet etwaiger Bestimmungen in den als AGB ausgestalteten A. DPA. Die Beigeladene hat folglich dafür Sorge zu tragen, dass sie ihre Leistung entsprechend der abgegebenen Garantien umsetzt und durchführt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="36"/>(2) Anders als die Antragstellerin meint, musste nicht allein die Tatsache, dass die A. S.à.r.l ein Tochterunternehmen eines US-amerikanischen Konzerns ist, die Antragsgegnerinnen an der Erfüllbarkeit des Leistungsversprechens zweifeln lassen. Die Antragsgegnerinnen mussten nicht davon ausgehen, dass es aufgrund der Konzernbindung zu rechts- und vertragswidrigen Weisungen an das Tochterunternehmen kommen wird bzw. das europäische Tochterunternehmen durch seine Geschäftsführer gesetzeswidrigen Anweisungen der US-amerikanischen Muttergesellschaft Folge leisten wird.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="37"/>(3) Die erstmals am Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Vergabesenat von der Antragstellerin erhobene Rüge, die Beigeladene setze C. ein, wobei von A. Daten in die USA übertragen würden, auch werde die IP-Adresse in die USA übertragen, was die Beigeladene bestritten hat, ist wegen des im Vergabenachprüfungsverfahren im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit an einer raschen Auftragsvergabe geltenden Beschleunigungsgrundsatzes unbeachtlich. Weshalb die Antragstellerin dies nicht hätte früher rügen können, hat sie nicht nachvollziehbar erklärt. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Recherche besonders aufwendig war, denn es genügte eine Eingabe in die R.-APP, um diese Informationen zu erhalten, wie die Antragstellerin erklärt hat. Der behauptete Verstoß gegen die DS-GVO wegen einer Datenübermittlung in die USA war bereits Kernargument des Rügeschreibens der Antragstellerin vom 09.05.2022.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="38"/>Selbst wenn man den Vortrag als zulässig erachten würde, wird das Leistungsversprechen der Beigeladenen damit nicht in Zweifel gezogen. Denn daraus lässt sich nicht schließen, dass die Verwendung von C. und die Übermittlung der IP-Adresse in die USA Teil der den Antragsgegnerinnen angebotenen Leistung ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="39"/>(4) Da die Antragsgegnerinnen folglich nicht davon ausgehen mussten, dass die personenbezogenen Gesundheitsdaten von der Beigeladenen im Rahmen der Vertragserfüllung in ein Drittland übermittelt werden, bedurfte es der Durchführung eines Transfer Impact Assessments nicht. Dessen Fehlen stellt keine Abweichung von den Ausschreibungsbedingungen dar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="40"/>(5) Im Hinblick auf das Versprechen der Beigeladenen, dass die Daten ausschließlich in Deutschland verarbeitet werden, kommt es nicht darauf an, ob die Beigeladene begleitende organisatorische und technische Maßnahmen, insbesondere auch im Hinblick auf eine sichere Verschlüsselung, zusagte, die erforderlich sind, damit die Übermittlung von Daten in die USA im Einklang mit den Bestimmungen der DS-GVO steht.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="41"/>Allerdings weist der Senat darauf hin, dass die Vergabekammer, die einen anderen rechtlichen Ansatz wählte und für die es daher für die Einhaltung der DS-GVO unter anderem auf eine effiziente Verschlüsselungstechnik ankam, die von der Beigeladenen als geheimhaltungsbedürftig gekennzeichneten Angaben nicht hätte unberücksichtigt lassen dürfen. In Fällen, in denen eine Weitergabe von Informationen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen eines der Beteiligten unterbleiben muss, ist dem vielmehr durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung (wegen der Einzelheiten: BGH, Beschluss vom 31.01.2017, X ZB 10/16, juris) Rechnung zu tragen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="42"/>c) Die Antragsgegnerinnen haben nicht gegen ihre Aufklärungspflicht nach § 60 Abs. 1 VgV verstoßen. Sie haben, weil die Beigeladene im zurückversetzten Verfahren teilweise erheblich günstigere Preise anbot als im ursprünglichen Vergabeverfahren, die Preise aufgeklärt. Die Preisprüfung erstreckt sich darauf, ob der angebotene Gesamtpreis im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich oder unangemessen niedrig ist und zur Leistung in einem Missverhältnis steht (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.06. 2016, VII-Verg 57/15, juris). Eine darauf gerichtete Preisprüfung haben die Antragsgegnerinnen vorgenommen. Die Erklärungen der Beigeladenen und die hierzu vorgelegten Unterlagen haben die Antragsgegnerinnen als zufriedenstellend bewertet und dies in den Vergabeunterlagen nachvollziehbar dargestellt und dokumentiert. Ergänzend wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen der Vergabekammer Bezug genommen. Folglich ist das Angebot der Beigeladenen nicht nach § 60 Abs. 3 VgV von der Wertung auszuschließen.</td></tr></table> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>III.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="43"/>Über die von der Beigeladenen beantragte Frist zur Stellungnahme auf das neue Vorbringen der Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat war nicht zu befinden, weil es für die Entscheidung hierauf nicht ankam, wie ausgeführt wurde.</td></tr></table> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>IV.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="44"/>1) a) Die Antragstellerin trägt gemäß § 182 Abs. 3 S. 3 GWB die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer, weil sie unterlegen ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="45"/>b) Die zur zweckentsprechenden Verteidigung notwendigen Aufwendungen hat die Antragstellerin den Antragsgegnerinnen zu erstatten, da sie mit ihrem Nachprüfungsantrag unterlegen ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="46"/>Nach § 182 Abs. 4 S. 2 GWB entspricht es der Billigkeit, dass die Antragstellerin auch die Aufwendungen der Beigeladenen erstattet. Die Beigeladene hat sich in einem bewussten Interessengegensatz zu der unterlegenen Partei gestellt, sich aktiv mit eigenen Sach- und Rechtsüberlegungen an dem Nachprüfungsverfahren beteiligt und im Ergebnis erfolgreich eigene Anträge gestellt bzw. das Verfahren wesentlich gefördert (vgl. Glahs in: Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht, 4. Aufl. 2018, § 182 GWB, Rn. 23).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="47"/>c) Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerinnen und die Beigeladene wird für notwendig erklärt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="48"/>aa) Gemäß § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2 VwVfG sind die Kosten eines Rechtsanwalts erstattungsfähig, wenn dessen Hinzuziehung erforderlich war. Die Frage, ob es für den öffentlichen Auftraggeber notwendig war, einen Rechtsanwalt zuzuziehen, ist auf Grundlage einer differenzierenden Betrachtung nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund einer ex ante Prognose zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 26.9.2006, X ZB 14/06, juris Rn. 61; Senat, Beschluss vom 11.07.2011, 15 Verg 5/11, juris Rn. 17; Beschluss vom 10.03.2015, 15 Verg 11/14, juris Rn. 9). Gesichtspunkte wie die Einfachheit oder Komplexität des Sachverhalts, die Überschaubarkeit oder Schwierigkeit der zu beurteilenden Rechtsfragen, aber auch die Möglichkeit, aufgrund der sachlichen und personellen Ausstattung Fragen des Vergaberechts sachgerecht zu bearbeiten, können eine Rolle spielen. Konzentriert sich die Problematik eines Nachprüfungsverfahrens auf schlichte auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen einschließlich der dazugehörenden Vergaberegeln, spricht im Allgemeinen mehr dafür, dass der öffentliche Auftraggeber die erforderlichen Sach- und Rechtskenntnisse im Rahmen seines originären Aufgabenkreises selbst organisieren und aufbringen kann, es im Nachprüfungsverfahren eines anwaltlichen Beistands also nicht bedarf (Summa in Heiermann/ Zeiss/Summa, jurisPK-VergabeR, 5. Aufl. 2016, § 182 GWB, Stand: 24.11.2020, Rn. 95). Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der Auftraggeber sich in seinem näheren Aufgabenbereich die für ein Nachprüfungsverfahren notwendigen Sach- und Rechtskenntnisse grundsätzlich selbst zu verschaffen hat, während er sich für nicht einfach gelagerte Rechtsfragen, die zu den auftragsbezogenen Rechtsfragen hinzukommen, insbesondere wenn sie Bezüge zu höherrangigem Recht und Europarecht aufweisen, gegebenenfalls externen Rechtsrat einholen darf (vgl. Senat, Beschluss vom 11.07.2011, a.a.O., juris Rn. 17; Senat, Beschluss vom 10.03.2015, a.a.O., juris Rn. 9). Danach durften es die Antragsgegnerinnen für erforderlich halten, Rechtsrat einzuholen. Wenn auch die Rügen teilweise Auftragsbezug aufwiesen und daher von den Antragsgegnerinnen selbst beantwortet werden konnten, verlangte eine Vielzahl der erhobenen Rügen eine vertiefte Auseinandersetzung mit den deutschen und europäischen Bestimmungen zum Datenschutz.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="49"/>bb) Aus oben genannten Gründen sind auch die Kosten der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für die Beigeladene erforderlich.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="50"/>2) Da die Beschwerde Erfolg hat, hat die Antragstellerin gemäß §§ 175 Abs. 2, 71 S. 2 GWB die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Es entspricht zudem der Billigkeit, dass die Antragstellerin gemäß §§ 175 Abs. 2, 71 S. 1 GWB die durch die Beschwerde veranlassten Aufwendungen der Antragsgegnerinnen und der Beigeladenen trägt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="51"/>3) Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 50 Abs. 2, 39 Abs. 2 GKG.</td></tr></table> <table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table> </td></tr></table>
346,808
vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-06-11-b-9022
{ "id": 1071, "name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht", "slug": "vg-schleswig-holsteinisches", "city": 647, "state": 17, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
11 B 90/22
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-10-05T10:00:33"
"2022-10-17T11:10:46"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0906.11B90.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog ist zulässig (vgl. zur Zulässigkeit eines derartigen Abänderungsantrages: OVG Lüneburg, Beschl. v. 07.12.2011 – 8 ME 184/11 –, juris Rn. 4), aber nicht begründet. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog kann ein Beteiligter die Änderung eines Beschlusses nach § 123 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO (analog) dient nicht in der Art eines Rechtsmittelverfahrens der Überprüfung, ob die vorangegangene Entscheidung – hier also der Beschluss der Kammer vom 02.09.2022 – formell und materiell richtig ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.08.2008 – 2 VR 1.08 –, juris Rn. 5). Es dient allein der Möglichkeit, einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab für die Entscheidung über einen zulässigen Abänderungsantrag ist, ob nach der jetzigen Sach- oder Rechtslage der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.03.2011 – 8 VR 2.11 –, juris Rn. 8). Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 (analog) VwGO kann nur damit begründet werden, dass sich entscheidungserhebliche Umstände, auf denen die ursprüngliche Entscheidung beruhte, nachträglich geändert haben oder im ursprünglichen Verfahren unverschuldet nicht geltend gemacht werden konnten. Prozessrechtliche Voraussetzung für die Ausübung der dem Gericht der Hauptsache eröffneten Abänderungsbefugnis ist somit eine Änderung der maßgeblichen Umstände, auf welche die frühere Entscheidung gestützt war. Liegt eine derartige Änderung nicht vor, ist dem Gericht eine Entscheidung in der Sache grundsätzlich verwehrt, weil sie auf eine unzulässige Rechtsmittelentscheidung hinausliefe (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 24.07.2019 – 2 BvR 686/19 –, juris Rn. 36).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Bei Zugrundelegung dieser Maßgaben hat der Antragsteller keine beachtliche nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage im Verhältnis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung vom 02.09.2022 dargelegt, die eine Abänderung derselben rechtfertigen würde. Er hat auch nicht dargetan, ohne Verschulden gehindert gewesen zu sein, bereits im ursprünglichen Verfahren bestehende Umstände rechtzeitig geltend zu machen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller macht geltend, an einer Herzvergrößerung zu leiden. Aufgrund aktueller Beschwerden sei von einer Reiseunfähigkeit auszugehen. Jedenfalls könne er seine Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft machen, weil die JVA A-Stadt einen hierfür erforderlichen ärztlichen Befund nicht an ihn herausgebe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Eine nunmehr eingetretene Reiseunfähigkeit ist vom Antragsteller nicht glaubhaft gemacht worden. Aus dem vorgelegten ärztlichen Schreiben vom 05.08.2022 ist nicht erkennbar, dass der behandelnde Arzt von einer Reiseunfähigkeit des Antragstellers ausgeht. Er erklärt lediglich, dass „[i]n Abhängigkeit der Klinik ggf. kardiologisches Konsil zur weiteren Abklärung empfohlen werde“. Hieraus ergeben sich keine Anhaltspunkte, die auf eine akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes und eine damit einhergehende Reiseunfähigkeit schließen lassen. Im Übrigen ist auch nicht dargelegt, weshalb der Antragsteller das Attest ohne Verschulden nicht schon im vorausgegangenen Eilverfahren vorgelegt hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Das Gericht hat zudem die JVA A-Stadt kontaktiert. Diese erklärte, dass der Antragsteller nach ärztlicher Untersuchung am 05.09.2022 für reisefähig erklärt worden sei. Die entsprechende Bescheinigung hat die JVA A-Stadt dem Gericht kurzfristig per Fax zugesandt. Die Bescheinigung bestätigt die von der JVA zur Reisefähigkeit gemachten Angaben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Soweit der Antragsteller schließlich behauptet, die JVA A-Stadt halte einen ärztlichen Befund zurück, aus dem sich ergebe, dass der Antragsteller unverzüglich medizinische Hilfe benötige und an ein „Gerät“ angeschlossen werden müsse, führt auch dies nicht zur Begründetheit des Antrags. Auf Anfrage des Gerichts hat die JVA A-Stadt einen Ambulanzbrief der Klinik A-Stadt vom 03.09.2022 übersandt. Ob dem Antragsteller dieser Brief vorenthalten wurde, kann dahinstehen, da sich aus dem Brief jedenfalls ebenfalls nicht, wie vom Antragsteller behauptet, eine etwaige Reiseunfähigkeit ergibt. Zusammenfassend empfiehlt der behandelnde Arzt hier eine „orthopädische Vorstellung“ sowie „außerdem eine zeitnahe kardiologische Vorstellung zur erneuten Kontrolle des Perikardergusses, sowie DD der seit Jahren ungeklärten Kardiomegalie“. Auch diese Ausführungen lassen nicht den Schluss auf eine Reiseunfähigkeit zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Anhaltspunkte, dass die JVA A-Stadt einen anderen ärztlichen Befund zurückhält, sind nicht ersichtlich und auch nicht glaubhaft gemacht worden, denn jenseits der bloßen Behauptung sind keinerlei Angaben gemacht worden, die diese Aussage stützen könnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Nach alledem ist der Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,743
vg-koln-2022-09-06-7-k-712020
{ "id": 844, "name": "Verwaltungsgericht Köln", "slug": "vg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
7 K 7120/20
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-29T10:01:33"
"2022-10-17T11:10:37"
Urteil
ECLI:DE:VGK:2022:0906.7K7120.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist am 00.00.1952 geboren und begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheides.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Antrag vom 22.06.1995 stellte die Klägerin einen Antrag auf Aufnahme nach dem BVFG. In dem Antrag gab sie an, sie habe die russische Volkszugehörigkeit. In ihrem Inlandspass vom 31.08.1978 sei die russische Nationalität eingetragen, diese sei nie geändert worden. Sie habe Deutsch von Geburt an gelernt, ab 10 Jahren auch in der Schule. Ihr Vater sei Russe, ihre Mutter, die am 00.00.1926 geborene B.    M.        , geborene E.      , sei Deutsche. Ihre Großeltern mütterlicherseits, der Großvater B1.    E.      , geboren am 00.00.1900, gestorben 1963, sowie die Großmutter N.         E.      , geborene T.      , geboren am 00.00.1898, gestorben 1990, seien ebenfalls Deutsche gewesen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Dem Antrag beigefügt waren u.a. der Inlandspass der Klägerin, ausgestellt 1978, mit Eintragung der russischen Nationalität, die Geburtsurkunde der Klägerin, ausgestellt 1952, die Geburtsurkunde der Tochter der Klägerin, ausgestellt 1976, in welcher die Klägerin als Mutter mit russischer Nationalität aufgeführt ist.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 09.09.1992 erklärte die Klägerin, sie sei einverstanden, als Abkömmling in den Aufnahmebescheid ihrer Mutter einbezogen zu werden.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Einbeziehungsbescheid vom 13.12.1999 wurde die Klägerin als Abkömmling ihrer Mutter in deren Aufnahmebescheid einbezogen. Ihr Ehemann, X.        M1.        , geboren am 00.00.1995, erhielt ein Visum nach § 8 Abs. 2 BVFG als Ehegatte eines Abkömmlings.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 24.06.2000 reiste die Mutter der Klägerin ohne die Klägerin und deren Ehemann nach Deutschland ein.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Antrag vom 13.08.2019 beantragte die Klägerin die Änderung des Status als Bezugsperson. Zur Begründung führte sie aus: Die Bezugsperson, Frau B.    M.        , sei gestorben. Ihr Ehemann, X.        M1.        , sei schwer erkrankt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dem Antrag beigefügt waren u.a. der russische Inlandspass der Klägerin, ausgestellt am 08.02.2002, sowie das Arbeitsbuch der Klägerin und ihres Ehemannes.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 11.12.2019 lehnte die Beklagte die Erteilung eines Aufnahmebescheides ab. Zur Begründung führte sie aus: Dem Antrag stehe § 5 Nr. 2 c) BVFG entgegen. Der Ehegatte der Klägerin sei im November 1979 als hauptamtliches Mitglied in das Stadtkomitee des Komsomol gewählt worden, zunächst als einfacher Sekretär. Es seien Beförderungen im Juni 1980 zum 2. Sekretär sowie im Dezember 1980 zum 1. Sekretär erfolgt. Diese Position habe er bis April 1984 bekleidet. Danach sei er zum Vorsitzenden des Gewerkschaftskomitees des Trusts „N1.             “ gewählt, aus diesem Amt aber schon nach sechs Monaten wieder entlassen worden. Sowohl als hauptamtlicher 1. Sekretär der Jugendorganisation der KPdSU einer Kreisstadt als auch in seinem Amt als Vorsitzender des Gewerkschaftskomitees eines sehr großen Wirtschaftsbetriebes habe er berufliche Funktionen bekleidet, die mit weit reichenden Kontrollmöglichkeiten und Entscheidungsfunktionen zwecks Einhaltung bzw. Umsetzung der für seinen jeweiligen Tätigkeitsbereich bestehenden Vorgaben der Kontrollorgane der KPdSU verbunden und dementsprechend auch für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Systems der ehemaligen Sowjetunion für gewöhnlich bedeutsam gewesen seien. Auf Grund der Bedeutung für das kommunistische System hätten sowohl der Inhaber der beruflichen Position als auch dessen Familienangehörige den Schutz des Systems genossen und seien daher nicht von den allgemeinen gegen die deutsche Minderheit gerichteten Maßnahmen betroffen gewesen. Die Klägerin habe also mindestens im Zeitraum vom Dezember 1980 bis Oktober 1984 nicht dem üblichen Kriegsfolgenschicksal der Volksdeutschen in der Sowjetunion unterlegen. Darüber hinaus fehle ihr auch die deutsche Volkszugehörigkeit. Sie habe sich bei der erstmaligen Ausstellung ihres Inlandspasses ausdrücklich zur russischen Nationalität ihres Vaters bekannt und diese Nationalität auch später nie ändern lassen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Am 10.01.2020 erhob die Klägerin Widerspruch und führte zur Begründung aus: Der von der Beklagten angeführte Zeitraum der vermeintlichen Begünstigung der Eheleute betrage nur vier Jahre. Der Ehemann habe im Übrigen keinen Zugang zu Privilegien erhalten. Seine Nachbarin könne bezeugen, dass er bescheiden von seinem eigenen Gehalt gelebt habe. Er habe weder über einen Dienstwagen noch über ein eigenes Haus verfügt. Aus einer Archivbescheinigung ergebe sich, dass er für die Gehaltsabrechnung der Mitglieder zuständig gewesen sei. Hieraus ergäben sich keine Privilegien. Seine damaligen Aufgaben hätten in der Veranstaltung von Festen und Parties gelegen, der Ausbesserung von Straßen, der Parkverschönerung und dem Aufsammeln von Altpapier. Vorsitzender des Gewerkschaftskomitees sei er nur für sechs Monate gewesen. Bei der Klägerin liege auch kein Gegenbekenntnis vor. Sie könne ihr Bekenntnis durch einen Sprachtest belegen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Dem Widerspruch beigefügt waren u.a. eine schriftliche Aussage der Nachbarin, eine Archivbescheinigung, ausgestellt 2020, betreffend die Tätigkeit ihres Ehemannes sowie eine schriftliche Äußerung der Klägerin.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit Widerspruchsbescheid vom 26.11.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus: Das kommunistische Herrschaftssystem in der ehemaligen Sowjetunion sei durch die führende Rolle der KPdSU geprägt gewesen. Alle hauptamtlichen Funktionäre hätten eine Funktion, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Systems gewöhnlich als bedeutsam gegolten habe (BVerwG 5 C 15.00). Die Aufgabenerfüllung für den Komsomol, also die Jugendorganisation der KPdSU, sei unabhängig von der konkret ausgeübten Tätigkeit bedeutsam für die Erhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewesen. Auch auf der untersten Ebene sei die Mitarbeit für die Umsetzung des Parteiwillens wesentlich. Auch die sechsmonatige Tätigkeit als Vorsitzender der Gewerkschaft sei maßgeblich für das System gewesen (OVG NRW, 2 A 4618/99). Die Privilegierung habe von 1980 bis 1984 und damit über drei Jahre lang bestanden.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Am 28.12.2020 hat die Klägerin Klage erhoben.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und trägt ergänzend dazu vor: Die Ablehnung sei unverhältnismäßig. Sie habe keine Begünstigungen durch die Stellung ihres Ehemannes erhalten. Ihr Ehemann sei verstorben, alle Verwandten lebten in Deutschland. Sie sei auch bereit, den Status einer Einzubeziehenden zu übernehmen. Da es seit über 20 Jahren keine Nationalitätenerklärung im Inlandspass mehr gebe, habe sie auch keine Änderung vornehmen können. Da sie nie zum Sprachtest eingeladen worden sei, habe sie keinen Nachweis erbringen können.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 26.11.2020 zu verpflichten, der Klägerin einen Aufnahmebescheid zu erteilen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">              die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt sie aus: Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum fehle. Das durch die Eintragung der russischen Nationalität in ihrem ersten Inlandspass abgegebene Gegenbekenntnis habe sie bisher nicht widerrufen. Sie habe auch nicht nachgewiesen, dass sie ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen könne. Im Übrigen greife auch der Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 2 c) BVFG.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 11.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.11.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die Erteilung eines Aufnahmebescheides sind §§ 26 und 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG in der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Fassung des BVFG vom 19.06.2020 (BGBl. I S. 1328). Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich des Gesetzes die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Spätaussiedler ist gemäß § 4 Abs. 1 BVFG ein deutscher Volkszugehöriger, der im Wege des Aufnahmeverfahrens nach Deutschland übergesiedelt ist, wenn er zuvor seit dem 08.05.1945 (Nr. 1) oder nach seiner Vertreibung oder Vertreibung eines Elternteils seit dem 31.03.1952 (Nr. 2) oder seit seiner Geburt seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte, oder, wenn er vor dem 01.01.1993 geboren ist, von einer Person abstammt, die die Stichtagsvoraussetzungen nach Nr. 1 oder Nr. 2 erfüllt (Nr. 3).</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht, da sie keine deutsche Volkszugehörige ist. Die deutsche Volkszugehörigkeit der im Jahr 1952 geborenen Klägerin bestimmt sich nach § 6 Abs. 2 BVFG. Danach besitzt die deutsche Volkszugehörigkeit, wer von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt hat. Das Bekenntnis muss bestätigt werden durch den Nachweis der Fähigkeit, zum Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Klägerin nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Es fehlt bereits an einem Nachweis der Fähigkeit, zum Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können. An einem Sprachtest an einer deutschen Botschaft oder einem Konsulat hat die Klägerin nicht teilgenommen. Sie hat diesbezüglich geltend gemacht, nicht eingeladen worden zu sein. Der Sprachnachweis kann jedoch auch anderweitig, insbesondere durch die Vorlage eines B1-Zertifikats, erfüllt werden. Es obliegt nicht der Beklagten, der Klägerin die Möglichkeit eines Sprachtestes zu eröffnen. Der Hinweis der Prozessbevollmächtigten auf die Schwierigkeiten durch die Corona-Pandemie führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn seit der Beantragung im August 2019 bis zum Termin der mündlichen Verhandlung hätte es auch unter Berücksichtigung etwaiger Einschränkungen durch die Corona-Pandemie ausreichende Möglichkeiten für die Durchführung eines Sprachtests gegeben.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Es liegt auch kein Bekenntnis zum deutschen Volkstum vor.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dass die Klägerin nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat, hat sie weder vorgetragen noch bestehen hierfür irgendwelche Anhaltspunkte.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum hat die Klägerin bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete nicht abgegeben. Eine Erklärung der deutschen Nationalität in ihrem aktuellen Inlandspass liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat auch kein Bekenntnis zum deutschen Volkstum auf andere Weise abgegeben.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Sie hat in ihrem Antrag vom 22.06.1995 angegeben, russischer Volkszugehörigkeit zu sein und dass in ihrem ersten Inlandspass die russische Volkszugehörigkeit eingetragen sei. Diese Eintragung sei nie geändert worden.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Mit Eintragung der russischen Nationalität in ihren ersten Inlandspass liegt nicht nur ein wirksames, sondern auch bis in die jüngste Zeit fortgeführtes Bekenntnis zu einem anderen Volkstum vor.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der das erkennende Gericht folgt, liegt in der Angabe einer anderen als der deutschen Volkszugehörigkeit gegenüber amtlichen Stellen grundsätzlich ein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis zu einem fremden Volkstum. Dies hat zur Folge, dass objektive Merkmale und Beweisanzeichen, aus denen an sich ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum gefolgert werden könnte, ihre Wirkung verlieren. Hat sich jemand vor amtlichen Stellen ausdrücklich zu einer anderen Nationalität als der deutschen erklärt, schließt dies grundsätzlich aus, gleichzeitig ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum „auf andere Weise“ anzunehmen. Gleichwohl ist es möglich, von einer in früherer Zeit abgegebenen Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität bis zum maßgebenden Zeitpunkt durch Hinwendung zum deutschen Volkstum abzurücken. Um eine frühere Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität rückgängig zu machen, reicht es aber nicht aus, wenn eine Lebensführung, die ohne das Gegenbekenntnis die Annahme der deutschen Volkszugehörigkeit aufgrund schlüssigen Gesamtverhaltens gerechtfertigt hätte, lediglich beibehalten wurde. Vielmehr bedarf es eines darüber hinausgehenden positiven Verhaltens, aus dem sich eindeutig der Wille ergibt, nur dem deutschen Volk und keinem anderen Volkstum zuzugehören. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das innere Bewusstsein, einem bestimmten Volkstum zuzugehören, in der Regel mit der Bekenntnisfähigkeit abgeschlossen ist. Um gleichwohl einem trotz Ablegung eines Bekenntnisses zu einem bestimmten Volkstum ergriffenen Verhalten einen Bekenntnischarakter für ein anderes Volkstum beimessen zu können, bedarf es daher weiterer äußerer Tatsachen, die einen Bewusstseinswandel erkennen lassen. Damit sind bei einem ausdrücklichen Gegenbekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum auch weiterhin besondere Anforderungen an die Ernsthaftigkeit eines späteren Bekenntniswandels und dessen äußere Erkennbarkeit zu stellen.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">              Vgl. zuletzt BVerwG, Urteil vom 26.01.2021 – 1 C 5.20 - juris Rn 22 f mwN.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat allein vorgetragen, sie könne ihr Bekenntnis durch einen Sprachnachweis belegen. Zum einen liegt ein solcher Sprachnachweis nicht vor. Zum anderen genügt dies auch nicht für die Annahme eines Bekenntnisses in anderer Weise.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">              vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.2021 – 1 C 5.20 – juris Rn 22 f mwN,</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">der sich das erkennende Gericht anschließt, genügen Sprachkenntnisse allein für ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum nicht, wenn der Betroffene ein ausdrückliches Bekenntnis zu einem anderen Volkstum abgegeben hat. Liegt ein derartiges Gegenbekenntnis vor, genügt nicht ein Verhalten, das nach dem Willen des Gesetzgebers ein Bekenntnis auf andere Weise darstellen kann, sondern bedarf es eines glaubhaften Abrückens von diesem Gegenbekenntnis. Hierfür genügt der bloße Nachweis von Deutschkenntnissen nicht. Auch wenn nach aktuellem Recht ein Bekenntnis auf andere Weise durch das Erlernen der deutschen Sprache und den Nachweis von Deutschkenntnissen auf dem Niveau B 1 des GER erbracht werden kann, gilt dies nur dann, wenn nicht zugleich Anhaltspunkte vorliegen, die gegen eine Zuwendung zum deutschen Volkstum sprechen. Nach den Gesetzesmaterialien beruht § 6 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 BVFG auf der Erkenntnis, dass sich eine deutschstämmige Person auch durch das Erlernen der deutschen Sprache außerhalb der Familie mit ihrer Sprache und Kultur auseinandersetzen und zu ihrem Deutschsein bekennen kann und insbesondere die jüngere Generation der Spätaussiedlerbewerber, der die früher bestehende Möglichkeit zur Abgabe von Nationalitätenerklärungen in Inlandspässen oder anderen amtlichen Dokumenten in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie der Russischen Föderation und der Ukraine seit 1998 verwehrt ist, eine Chance erhalten sollte, ihre Zugehörigkeit zur deutschen Volksgruppe zu bekunden (BT-Drs. 17/13937 S. 5 f.). Den Gesetzesmaterialien ist indes nicht zu entnehmen, dass diese Erleichterung auch dann gelten soll, wenn aufgrund eines bei Ausstellung des ersten Inlandspasses abgegebenen Gegenbekenntnisses Zweifel an einer inneren Hinwendung zum deutschen Volkstum und deren Erkennbarkeit für die äußere Umgebung bestehen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Auch wenn mit der Neuregelung des § 6 BVFG im Allgemeinen beim Nachweis entsprechender Deutschkenntnisse ohne weitere Prüfung vermutet wird, dass dahinter subjektiv ein entsprechender Wille und das Bewusstsein stehen, ausschließlich dem deutschen Volk als national geprägter Kulturgemeinschaft anzugehören, und der Betroffene im Aussiedlungsgebiet als deutscher Volkszugehöriger wahrgenommen wurde, gilt dies nicht schlechthin, sondern nur dann, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, die gegen eine tatsächliche innere Hinwendung zum deutschen Volkstum sprechen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das innere Bewusstsein, einem bestimmten Volkstum zuzugehören, in der Regel mit der Bekenntnisfähigkeit abgeschlossen ist. Um gleichwohl einem trotz Ablegung eines Bekenntnisses zu einem bestimmten Volkstum ergriffenen Verhalten einen Bekenntnischarakter für ein anderes Volkstum beimessen zu können, bedarf es daher weiterer äußerer Tatsachen, die einen Bewusstseinswandel erkennen lassen.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 2000 - 5 C 25.99 –</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Damit sind bei einem ausdrücklichen Gegenbekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum auch weiterhin besondere Anforderungen an die Ernsthaftigkeit eines späteren Bekenntniswandels und dessen äußere Erkennbarkeit zu stellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das neue Bekenntnis - wie hier - noch nicht einmal ausdrücklich gegenüber staatlichen Stellen erklärt wird, sondern lediglich von einem bestimmten - bei isolierter Betrachtung bekenntnisneutralen - Verhalten (hier: dem außerfamiliären Erwerb von Deutschkenntnissen auf dem Niveau B 1 des GER) auf ein Bekenntnis auf andere Weise geschlossen werden soll.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen und das Vorliegen des Ausschlusstatbestandes des § 5 Abs. 2 c) BVFG kommt es demnach nicht mehr an.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p> <span class="absatzRechts">48</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p> </li> <li><span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">5.000,00 €</span></strong></p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für die Klägerin ist es angemessen, den Streitwert auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
346,694
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3 A 58/21
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-24T10:01:16"
"2022-10-17T11:10:31"
Urteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tatbestand</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Kläger begehrt die Berechtigung zum Besitz, Führen und Verwenden einer Flinte zum Schutz seiner Schafherde vor Wölfen. Er ist Berufsschäfer und Vorsitzender des Fördervereins der G. e.V. und sieht seine Existenzgrundlage durch Wolfsübergriffe auf seine Herde gefährdet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 30. August 2018 beantragte er bei der Beklagten als örtlich zuständige Waffenbehörde</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">1. die Erteilung einer waffenrechtlichen Erlaubnis zum Erwerb einer Flinte Kaliber 12 nebst Munition,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">2. die Erlaubnis, die Waffe führen zu dürfen und</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">3. die Planung von Vergrämungsmaßnahmen sowie die Berechtigung zur Entnahme der Wölfe, die sich Weidetieren auf unter 300 Metern nähern.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Er begründete den Antrag mit der zunehmenden Gefahr von Wolfsübergriffen auf seine Herde, die er anders als durch den Einsatz einer Schusswaffe nicht effektiv verhindern könne. Er müsse sein Eigentum und die ihm anvertrauten Tiere schützen. Es habe schon mehrere Wolfsübergriffe auf seine Herde, die er als Wanderschäfer an ein bis acht Standorten gleichzeitig weiden lasse, gegeben. Die geltenden Ausgleichsmaßnahmen des Landes Niedersachsen im Rahmen der sogenannten „Richtlinie Wolf“ reichten nicht aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Beklagte holte zunächst Stellungnahmen der unteren Naturschutzbehörde des H. und der Vereinigung I. e.V. ein. Die Naturschutzbehörde teilte mit, ein Abschuss von Wölfen sei verboten und strafbewehrt. Der Bauernverband erklärte, eine Bewaffnung von Schäfern erachte er nicht als geeignetes Mittel, den Konflikt zwischen Weidetierhaltern und Wölfen zu lösen. Die Vereinigung I. antwortete, die bestehenden Möglichkeiten zum Herdenschutz würden keine vollkommene Sicherheit gewährleisten, man lehne aber die Nutzung einer Waffe zu diesem Zweck ab.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Mit Bescheid vom 25. Oktober 2018 hat die Beklagte den Antrag zu 1. auf Ausstellung einer Waffenbesitzkarte, zu 2. auf Erteilung eines Waffenscheins sowie zu 3. auf eine Schießerlaubnis abgelehnt. Sie begründet diese Ablehnung in erster Linie mit dem fehlenden waffenrechtlichen Bedürfnis des Klägers für die begehrten Erlaubnisse. Das Töten von Wölfen sei nicht genehmigungsfähig, so dass waffenrechtliche Erlaubnisse hierzu nicht erteilt werden dürften. Wölfe zu töten stelle eine Straftat gemäß §§ 71a Abs. 1 Nr. 2 a), 44 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) i.V.m. Anhang IV (Eintrag „Canis lupus“) zur Richtlinie 92/43/EWG dar. Neben dem fehlenden Bedürfnis sei der Antrag auch abzulehnen, weil der Kläger eine Sachkunde nicht nachgewiesen und einen Versicherungsnachweis nicht vorgelegt habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Gegen den Bescheid hat der Kläger am 22. November 2018 Klage erhoben und sein vorgerichtliches Vorbringen wiederholt. Im weiteren gerichtlichen Verfahren hat er sein Klagebegehren um waffenrechtliche Erlaubnisse für Gummigeschosse ergänzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger erklärt, Wölfe hätten zuletzt am 26. April 2022 25 seiner Schafe gerissen. Das sei des nachts geschehen, er sei nicht zugegen gewesen. Die Flinte benötige er vornehmlich zur Vergrämung der Wölfe, um sie negativ zu konditionieren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 25. Oktober 2018 zu verpflichten,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">1. dem Kläger eine Waffenbesitzkarte auszustellen mit Eintragung der Berechtigung zum Erwerb und Besitz einer Flinte im Kaliber 12 sowie Eintragung einer Berechtigung zum Erwerb und Besitz der für diese Waffe bestimmten Munition,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">2. dem Kläger einen Waffenschein auszustellen zwecks Erlaubnis des Führens einer erlaubnispflichtigen Schusswaffe,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">3. dem Kläger eine Schießerlaubnis zu erteilen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">4. hilfsweise dem Kläger eine Waffenbesitzkarte auszustellen mit Eintragung der Berechtigung zum Erwerb und Besitz einer Flinte im Kaliber 12 sowie Eintragung zum Erwerb und Besitz der für diese Waffe bestimmten Gummigeschosse samt Erteilung einer entsprechenden Schießerlaubnis.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Sie verweist auf die Ausführungen im streitigen Bescheid und hat in der mündlichen Verhandlung ergänzt, zur Vergrämung genüge eine Schreckschusswaffe für welche ein kleiner Waffenschein erforderlich sei. Diesen habe der Kläger nicht beantragt. Ein Wolfsabschuss sei nur in den engen Grenzen des § 28b Niedersächsischen Jagdgesetzes (NJagdG) möglich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die Klage hat keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>I. Der Hauptantrag ist unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Der streitgegenständliche Bescheid vom 25. Oktober 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrten waffenrechtlichen Erlaubnisse.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Dem Kläger fehlen für die Erteilung von waffenrechtlichen Erlaubnissen wie einer Waffenbesitzkarte (§ 10 Abs. 1 WaffG), einem Waffenschein (§ 10 Abs. 4 Satz 1 WaffG) und einer Schießerlaubnis (§ 10 Abs. 5 WaffG) ein anzuerkennendes Bedürfnis (1.) und der Sachkunde- und Versicherungsnachweis (2.) (§ 4 Abs. 1 Nr. 4, 3, 5 WaffG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>1. Der Kläger hat kein gesetzlich anzuerkennendes Bedürfnis im Sinne des § 8 Nr. 1 des Waffengesetzes (WaffG) für die begehrten Erlaubnisse nachgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Der Nachweis eines Bedürfnisses ist gemäß § 8 WaffG erbracht, wenn gegenüber den Belangen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, nämlich der Pflicht des Staates, die ganz überwiegende waffenlose Mehrheit der Bevölkerung hinsichtlich der Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens vor missbräuchlichem Schusswaffengebrauch zu schützen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Nr. 1 besonders anzuerkennende persönliche oder wirtschaftliche Interessen, vor allem als Jäger, Sportschütze, Brauchtumsschütze, Waffen- oder Munitionssammler, Waffen- oder Munitionssachverständiger, gefährdete Person, als Waffenhersteller oder -händler oder als Bewachungsunternehmer, und</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Nr. 2 die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Waffen oder Munition für den beantragten Zweck</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">glaubhaft gemacht sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>a) Ein derartiges besonders anzuerkennendes persönliches oder wirtschaftliches Interesse hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Der Kläger fällt nicht unter die in § 8 Nr. 1 WaffG benannten privilegierten Nutzergruppen, denen das Gesetz dieses Bedürfnis ausdrücklich zubilligt. Er ist weder Jäger, Sportschütze, Brauchtumsschütze, Waffen- oder Munitionssammler, Waffen- oder Munitionssachverständiger, gefährdete Person, Waffenhersteller oder -händler noch Bewachungsunternehmer.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Der Kläger ist insbesondere keine gefährdete Person. Gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 WaffG ist hierfür glaubhaft zu machen, dass man wesentlich mehr als die Allgemeinheit durch Angriffe auf Leib oder Leben gefährdet ist. Diese Gefahr muss von einem Menschen ausgehen (Gade, Waffengesetz, 3. Auflage 2022, § 19 Rn. 3). Tiergefahren fallen nicht darunter. Folglich würde die Glaubhaftmachung eines Wolfsangriffs auf die Person des Klägers selbst, den Kläger nicht zur gefährdeten Person im Sinne des Waffengesetzes machen. Eine solchen Angriff hat der Kläger auch nicht vorgetragen. Eine Gefährdung des Eigentums, d.h. seiner Schafe, ist gemäß dem klaren Wortlaut der Norm nicht ausreichend, um als gefährdete Person zu gelten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Der Kläger, der eine landwirtschaftliche Tätigkeit als Tierwirt, Fachrichtung Schäferei, ausübt, ist ferner kein Bewachungsunternehmer. Ein Bedürfnis zum Erwerb, Besitz und Führen von Schusswaffen wird laut § 28 Abs. 1 Satz 1 WaffG bei einem Bewachungsunternehmer nach § 34a der Gewerbeordnung (GewO) anerkannt, wenn er glaubhaft macht, dass Bewachungsaufträge wahrgenommen werden oder werden sollen, die aus Gründen der Sicherung einer gefährdeten Person im Sinne des § 19 WaffG oder eines gefährdeten Objektes Schusswaffen erfordern. Der Kläger ist kein Bewachungsunternehmer nach § 34a GewO, weil das Hüten, die Zucht und die Verwertung von Schaffleisch sowie das Pflegen der Kulturlandschaft „J.“ schon der Sache nach keine Bewachung im Sinne des Waffengesetzes darstellt. Ungeachtet dessen fehlt dem Kläger die notwendige Erlaubnis der zuständigen Behörde zum Betrieb eines Bewachungsgewerbes nach § 34a GewO. Im Übrigen stehen die Schafe im Eigentum des Klägers, so dass er nicht beabsichtigt, das Eigentum fremder Personen zu bewachen, vgl. § 34a Abs. 1 Satz 1 GewO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Es liegt auch kein sonstiges anzuerkennendes persönliches oder wirtschaftliches Interesse vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Dem Kläger ist zwar in tatsächlicher Hinsicht zuzugestehen, dass er durch die Wolfsübergriffe in der Vergangenheit persönlich und wirtschaftlich betroffen ist. Ein Interesse des Klägers, Wölfe zum Schutz der Herde mit einer Schusswaffe zu töten oder zu verletzen, ist im Rahmen der Prüfung der waffenrechtlichen Erlaubnis nach der derzeitigen Rechtslage aber nicht anzuerkennen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Die Art „Canis lupus“ steht sowohl europarechtlich nach der Flora-Fauna-Habitat Richtlinie als auch national nach §§ 44 Abs. 1 Nr. 1, 7 Nr. 14 Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) in Verbindung mit Anhang IV der Richtlinie 92/43/EWG unter besonderem Schutz.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Derjenige, der eigenmächtig einen Wolf tötet, begeht eine naturschutzrechtliche Straftat gemäß §§ 71a Abs. 1 Nr. 2 a), 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG i.V.m. Anhang IV (Eintrag „Canis lupus“) zur Richtlinie 92/43/EWG und in den Fällen, dass er nicht der Jagdausübungsberechtigte ist, den Straftatbestand der Jagdwilderei gemäß § 292 des Strafgesetzbuches (StGB).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Ausnahmen hiervon sind nur in den engen Grenzen des § 45 Abs. 7 BNatSchG zulässig und bedürfen einer behördlichen Zulassung (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 24.11.2020 - 4 ME 199/20 -, juris Rn.11). Das Begehren des Klägers ist – dies hat er in der mündlichen Verhandlung erläutert – nicht auf den Erlass einer entsprechenden Ausnahmegenehmigung gerichtet. Für eine derartige Zulassung wäre auch nicht die Beklagte, sondern der Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz NLWKN zuständig (§ 32 Abs. 4 NAGBNatSchG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 7 ZustVO-Naturschutz).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>Die Voraussetzungen für eine derartige Zulassung liegen auch nicht vor. Der Kläger hat keine Nachweise für wiederholte Risse durch einen bestimmbaren Wolf vorgelegt (vgl. zu den Anforderungen Nds. OVG, Beschl. v. 24.11.2020 - 4 ME 199/20 -, juris Rn. 17).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Selbst wenn die Voraussetzungen für eine Entnahme eines oder mehrerer Wölfe vorliegen würde, wäre diese nicht durch den Kläger als Nutztierhalter, sondern in der Regel durch Jagdausübungsberechtigte vorzunehmen (vgl. § 45a Abs. 4 BNatSchG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Nach dem Niedersächsischen Jagdgesetz (NJagdG) besteht für den Wolf zudem keine Jagdzeit (vgl. § 2 DVO NJagdG), so dass ihm auch von Jägern ganzjährig nicht nachgestellt werden darf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich das Land Niedersachsen nach der sogenannten „Richtlinie Wolf“ (Nds. MBl. 2017, S. 1067, zuletzt geändert durch RdErl. vom 08.12.2019 (Nds. MBl. 2021, S. 1823) verpflichtet hat, den Wolf zu schützen. Im Gegenzug gewährt das Land Niedersachsen freiwillig anteilige finanzielle Ausgleichsleistungen bei Nutztierrissen und Billigkeitsleistungen von bis zu 100% des ermittelten Wertes der Tierverluste (Ziffer II 4.1.1 der „Richtlinie Wolf“) und stellt Zuschüsse zu Wolfsschutzmaßnahmen bereit (Ziffer III der Richtlinie).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Aufgrund dieser bewussten gesetzgeberischen Entscheidungen zum Schutz des Wolfes ist das Interesse des Klägers als Weidetierhalter, zum Schutz seiner Tiere einen Wolf verletzen oder töten zu dürfen, nicht anzuerkennen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Der Kläger kann sich zum Nachweis des waffenrechtlichen Bedürfnisses auch nicht auf gesetzliche Rechtfertigungsgründe stützen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>aa) Die Straftat wegen des Tötens eines Wolfes kann nicht durch Notwehr gemäß § 32 des Strafgesetzbuches (StGB) oder entschuldigenden Notstand gemäß § 35 StGB gerechtfertigt werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>Notwehr gemäß § 32 StGB setzt einen menschlichen Angriff voraus, ein entschuldigender Notstand gemäß § 35 StGB liegt nur bei Gefahren für Menschen vor. Beides ist nicht einschlägig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>bb) Ebenso wenig kann der Kläger einen rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB geltend machen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>Ein rechtfertigender Notstand liegt nur dann vor, wenn in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begangen wird, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>Vorliegend ist schon die Gegenwärtigkeit einer Gefahr nicht gegeben. Das ist nur dann der Fall, wenn die Gefahr alsbald oder in allernächster Zeit in einen Schaden umschlagen kann (Schönke/Schröder/Perron, StGB § 34 Rn. 17). Dies ist hier nicht der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger vielmehr vorbeugend waffenrechtliche Erlaubnisse, nämlich für einen erwarteten zukünftigen Angriff eines Wolfes auf seine Schafe. Ungeachtet dessen geht die zum jetzigen Zeitpunkt generell und abstrakt vorzunehmende Abwägung der widerstreitenden Interessen zulasten des Klägers aus. Das Interesse des Klägers am Schutz seines Eigentums und des Wohls seiner Schafe (Tierschutz) überwiegt nach dem Gesagten nicht wesentlich das beeinträchtigte Interesse des Gesetzgebers am Schutz der Art „Canis lupus“. Insoweit kann ein (vorbeugend) geltend gemachter Rechtfertigungsgrund keine andere Entscheidung rechtfertigen als das Waffengesetz zulässt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>cc) Auf Belange des zivilrechtlichen Besitzschutzes nach § 858 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) kann sich der Kläger ebenfalls nicht mit Erfolg berufen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Zivilrechtlicher Besitzschutz nach § 858 ff. BGB ist nicht möglich, weil Naturereignisse und von Menschen nicht veranlasstes Tierverhalten keine verbotene Eigenmacht darstellen (BeckOGK BGB, § 858 Rn. 16).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>dd) Auch ein Verteidigungsnotstand gemäß § 228 BGB, auf den sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung berufen hat, rechtfertigt nach Überzeugung der Kammer keine abweichende Entscheidung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Nach § 228 Satz 1 BGB handelt nicht widerrechtlich, wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, die Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>Ob die Norm im Wege der Rechtsfortbildung bzw. im erst recht Schluss auch für herrenlose Sachen wie den Wolf Anwendung finden kann, kann dahinstehen. Zwar braucht die Gefahr im Gegensatz zur Notwehr nicht gegenwärtig sein (Grothe, Müko, 9. Auflage 2021, § 228 BGB, Rn. 7), doch geht die erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Lasten des Klägers aus. Denn die Rechtfertigung nach § 228 BGB tritt nur unter der Bedingung ein, dass der durch die Notstandshandlung eintretende Schaden <em>nicht außer Verhältnis</em> zur abgewendeten Gefahr steht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Verletzung oder Tötung eines Wolfes durch Schusswaffen angesichts der gesetzgeberischen Wertung, die in dem Spannungsverhältnis zwischen den Interessen von Nutztierhaltern und der Wiederansiedelung und Schutz des Wolfes steht, nach den voranstehenden Ausführungen außer Verhältnis steht. Denn auch hier macht der Kläger den Rechtfertigungsgrund bloß vorbeugend geltend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>Gegen die Anwendung von Rechtfertigungsgründen wie den § 228 BGB zur Begründung des rechtmäßigen Erwerbs, Besitzes, Führens und des Schießens mit Waffen im Fall einer zukünftig erwarteten Notstandslage sprechen - die Entscheidung selbständig tragend - überdies systematische Gründe. Denn das Waffengesetz verdrängt als lex specialis insoweit die Rechtfertigungsgründe. Anderenfalls würde das Bedürfnisprinzip aufgegeben und die engen Voraussetzungen des Waffengesetzes umgangen. Es wäre nicht mehr sicherzustellen, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung waffenlos ist. Denn jedermann könnte in mehr oder weniger konkreter Erwartung eines Angriffes oder einer Verletzung seiner Rechtsgüter unter Berufung bspw. auf § 228 BGB bei der Waffenbehörde eine Waffe beantragen und erhalten. Die engen waffenrechtlichen Voraussetzungen des § 8 WaffenG würden dann nicht mehr geprüft werden können. Das würde die speziellen Wertungen des Gesetzgebers für das Gebiet des Waffenrechts aushebeln. Folglich geht das Waffengesetz den Rechtfertigungsregelungen insoweit vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p>Des Weiteren ist § 228 BGB in Fällen des Jagdnotstands (§§ 23ff. BJagdG), worunter auch Gefahren durch Raubwild zählen, nicht anwendbar (MüKo BGB, § 228 Rn. 5; BeckOGK BGB, § 228 Rn. 7; Staudinger BGB § 228 Rn. 8; Erbs/Kohlhaas/Metzger BJagdG § 26 Rn. 7; aA BeckOK BGB, § 228 Rn. 3). Der Wolf unterliegt seit kurzem dem Jagdrecht (§ 5 NJagdG in der Fassung durch G. v. 17.5.2022, Nds. GVBl. 2022, S. 315) und bei den Schafen handelt es sich um Tiere, die der grundstücksbezogenen Landwirtschaft zuzuordnen sind. Auch insoweit verdrängt § 26 BJagdG als lex specialis den Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe. Die Kammer weist der Vollständigkeit darauf hin, dass bei drohenden Personenschäden oder Schäden an Haustieren (BayObLGSt 1963, 158, 170) die jagdrechtliche Einschränkung nicht gilt. In diesen Kontext dürfte auch das vom Kläger angeführte Verfahren nach einer Wolfstötung zum Schutz eines Jagdhundes einzubetten sein (AG Potsdam, Urt. v. 21.6.2021 – 82 Ds 82/20 –, Veröffentlichung nicht bekannt).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p>Nach § 26 BJagdG darf der Eigentümer oder Nutzungsberechtigte eines Grundstücks zur Verhütung von Wildschäden das Wild weder gefährden noch verletzen, sondern nur abhalten oder verscheuchen. Dem Kläger kann im vorliegenden Fall daher über die Rechtfertigungsgründe nicht mehr gewährt werden als dem Nutzungsberechtigten (vgl. Schuck, BJagdG, 3. Aufl. 2019, § 26 Rn. 1, Düsing/Martinez/Gies/v. Bardeleben, BJagdG, 2. Aufl. 2022 § 26 Rn. 7). Wölfe dürfen zur Vermeidung von Schäden an einer Herde daher nur verscheucht werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_60">60</a></dt> <dd><p>Auch unter verfassungsrechtlichen Erwägungen folgt nicht anderes. Die Tiere des Klägers sind, anders als das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, gemäß Art. 14 des Grundgesetzes (GG) als Eigentum geschützt. Gemäß Satz 2 dieses Grundrechts werden Inhalt und Schranken durch die Gesetze bestimmt. Dies hat der Gesetzgeber aufgrund des WaffenG, BNatschG und NJagdG getan. Wenn der Gesetzgeber den Konflikt zwischen Eigentumsinteressen von Weidetierhaltern und dem Bedürfnis nach Schutz von Wölfen bewusst derart beantwortet, dass er den Wolf unter besonderen Schutz stellt und in Niedersachsen nach der sogenannten „Richtlinie Wolf“ Wertersatz für Weidetiere bietet, dann stellt das eine zulässige Schranke des Eigentumsrechts dar. Die vom Kläger überzeugend geschilderten emotionalen Auswirkungen eines Wolfsrisses für ihn und seine Familie, aber auch die möglicherweise zeitintensive Abwicklung des Wertersatzes oder die Nichtabdeckung von Folgeschäden lassen verfassungsrechtliche Bedenken nicht entstehen. Es besteht keine allgemeine, unmittelbar aus den Grundrechten abzuleitende Verpflichtung des Staates, seine Bürger vor dem Verlust von Einnahmen zu schützen, die ihm durch wildlebende Tiere entstehen können. Somit bleibt es nach der derzeitigen Rechtslage im Grundsatz Sache des Einzelnen, sich bei seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit auf die natürlichen Rahmenbedingungen und ggf. auch auf deren Änderung einzustellen (vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 6.4.2010 - 12 U 11/10 -, juris Rn. 25).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_61">61</a></dt> <dd><p>b) Darüber hinaus ist auch die Erforderlichkeit von Flinte und Munition des Kalibers 12 für den Zweck des Herdenschutzes im Sinne des § 8 Nr. 2 WaffG nicht glaubhaft gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_62">62</a></dt> <dd><p>Das Schießen und Töten eines Wolfes zum Schutz der Schafe ist objektiv nicht erforderlich. Es gilt der Grundsatz des geringsten Eingriffs, d.h. unter mehreren gleich geeigneten Abwehrmöglichkeiten ist die am wenigsten schädigende auszuwählen; der Kläger hat ggf. zunächst ein weniger eingriffsintensives Abwehrmittel auszuprobieren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_63">63</a></dt> <dd><p>Eine Glaubhaftmachung setzt voraus, dass dargestellt werden kann, dass sich die Gefährdung nicht auf andere zumutbare Weise verhindern lässt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_64">64</a></dt> <dd><p>Der Kläger konnte nicht überzeugend darstellen, dass das Töten von Wölfen – das Alleinstellungsmerkmal der begehrten Erlaubnisse gegenüber etwa einer Abschreckung mit einer bei sich geführten Schreckschusspistole (erfordert einen kleinen Waffenschein, § 10 Abs. 4 Satz 4 WaffG, keine Bedürfnisprüfung) – zum Herdenschutz erforderlich ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_65">65</a></dt> <dd><p>Ausweislich des Antrags bei der Behörde vom 30. August 2018 stellt sich der Kläger vor, beim Herannahen von Wölfen an seine Herde auf 300 Metern keine andere Wahl zu haben, als diese zu töten. Das setzt voraus, dass er in dieser Situation selbst zugegen und in Schussreichweite ist. Das ist nach den Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung bislang nicht der Fall gewesen. Zumal zu bedenken ist, dass mit einer Flinte lediglich auf eine Distanz bis zu 50 Metern geschossen werden kann und die Streuung des Schrots erheblich ist. Ein zielgenaues Schießen wie mit einer Büchse ist damit naturgemäß ausgeschlossen. Für die Kammer ist nicht hinreichend nachgewiesen, wie die Wölfe sich in diesem Szenario der Herde schon so weit genähert haben können, ohne vom anwesenden Kläger durch Rufe, Hupen oder Blendlicht verjagt worden zu sein. Dass derartige andere Abwehrmaßnahmen von vornherein erfolglos sind, hat der Kläger nicht konkret darstellen können. Er hat in diesem Zusammenhang auf internationale Erfahrungen in dem Bereich Herdenschutz vor Wölfen verwiesen. Dieser pauschale Verweis genügt nicht. Ein durch sein Triebverhalten zu allem entschlossener Wolf mag sich möglicherweise nicht anders als durch Gewalt von seiner Beute abbringen lassen, der Kläger konnte der Kammer allerdings nicht näherbringen, dass die in seiner Region umherziehenden Wölfe derart unaufhaltsam – das dürfte in erster Linie bedeuten: ausgehungert – sind. Wie der Vertreter der Beklagten ausführt, bestehen andere Möglichkeiten der Abschreckung. Diese hat der Kläger bislang nicht versucht und wegen Ortsabwesenheit auch nicht versuchen können. Die Tötung der Wölfe hat in diesen Szenarien lediglich den „Mehrwert“, dass die getöteten Wölfe nicht wiederkehren könnten, um erneut über die Herde herzufallen. Inwieweit eine negative Konditionierung durch Waffeneinsatz bezogen auf Wölfe generell herbeigeführt werden kann, ist ebenfalls nicht belegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_66">66</a></dt> <dd><p>2. Auch fehlen weitere Erteilungsvoraussetzungen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_67">67</a></dt> <dd><p>Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 WaffG ist für waffenrechtliche Erlaubnisse eine Sachkunde nachzuweisen, gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 5 WaffG eine Versicherungsbescheinigung für Personen- und Sachschäden. Beides hat der Kläger nicht vorlegen können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_68">68</a></dt> <dd><p>Auch aus diesem Grund ist die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_69">69</a></dt> <dd><p>II. Der erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens gestellte Hilfsantrag des Klägers, ihm hilfsweise die Benutzung einer Flinte mit Gummigeschossen zu gestatten, ist unzulässig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_70">70</a></dt> <dd><p>Dem Antrag fehlt schon ein Rechtsschutzbedürfnis, da der Kläger einen entsprechenden Antrag bei der Beklagten noch nicht gestellt hat und diese noch nicht mit der Sache befasst war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_71">71</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_72">72</a></dt> <dd><p>Gründe für die Zulassung der Berufung gemäß § 124 a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO durch das Verwaltungsgericht liegen nicht vor.</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007156&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,678
ovgnrw-2022-09-06-22-d-5322ak
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
22 D 53/22.AK
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-23T10:01:13"
"2022-10-17T11:10:28"
Urteil
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0906.22D53.22AK.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Zurückstellungsbescheid des Beklagten vom 31. Januar 2022 wird aufgehoben.</p> <p>Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin jeweils zur Hälfte. Im Übrigen findet ein Kostenausgleich nicht statt.</p> <p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte und die Beigeladene dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i. H. v. 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i. H. v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p> <p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin wendet sich gegen die auf Antrag der Beigeladenen erfolgte Zurückstellung ihres immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsantrags für die Errichtung und den Betrieb von drei Windenergieanlagen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragte unter dem 7. Mai 2021, eingegangen beim Beklagten am 10. Mai 2021, die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von drei Windenergieanlagen (WEA) des Typs Nordex N163/5.x mit jeweils einer Nabenhöhe von 164 m, einem Rotordurchmesser von 163 m und einer Leistung von 5,7 MW auf den Grundstücken Gemarkung S.              , Flur 5, Flurstücke 13 (WEA 1) und 8 (WEA 2) sowie Gemarkung N.        -Land, Flur 13, Flurstück 239 (WEA 3). Die UTM-Koordinaten lauten: ….</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 25. August 2021 legte der Fachbereich Planung und Bauordnung der Beigeladenen eine Verwaltungsvorlage (VO/10/178) vor, nach der der Rat der Beigeladenen auf die planerische Steuerung der Windenergie nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB verzichten und keinen Beschluss zur Einleitung eines Flächennutzungsplanverfahrens fassen solle. Für die Erarbeitung einer erforderlichen, grundlegend neuen Potenzialanalyse wäre die Hinzuziehung eines externen Gutachters „unabdingbar“ (Seite 5 der Vorlage). Zugleich solle der Rat damit auf eine Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 BauGB von die Windenergie betreffenden Bauvorhaben verzichten.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 1. September 2021 übersandte der Beklagte der Beigeladenen die Antragsunterlagen aus dem immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren unter anderem mit der Bitte um Vorlage ihrer Stellungahme zum gemeindlichen Einvernehmen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Daraufhin beschloss der Bezirksausschuss S.              der Beigeladenen am 13. September 2021, dem Rat zu empfehlen, in die planerische Steuerung der Windenergie nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB einzusteigen und bei der Genehmigungsbehörde eine Zurückstellung des Vorhabens nach § 15 BauGB zu beantragen. Der Ausschuss für Stadtentwicklung der Beigeladenen empfahl am 16. September 2021 ebenfalls eine solche planerische Steuerung. Der Rat der Beigeladenen beschloss am 23. September 2021 die Einleitung des Verfahrens zur 93. Änderung ihres Flächennutzungsplans. Ziel der Flächennutzungsplanänderung sei es, Konzentrationszonen für die Errichtung von Windenergieanlagen im Stadtgebiet mit der Folge der Ausschlusswirkung für Windenergieanlagen an anderer Stelle darzustellen. Die Errichtung von Windenergieanlagen solle im Stadtgebiet räumlich gesteuert werden, so dass diese Anlagen außerhalb der Konzentrationszonen nicht zulässig seien. Der Planungsraum erstrecke sich auf den gesamten Außenbereich des Stadtgebiets. Ferner beschloss der Rat der Beigeladenen am 23. September 2021, das gemeindliche Einvernehmen zu dem beantragten Vorhaben mit Blick auf § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB zu versagen sowie bei der Genehmigungsbehörde eine Zurückstellung des Vorhabens zu beantragen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Aufstellungsbeschluss der Beigeladenen „zur 93. Änderung des Flächennutzungsplanes der Kreis- und Hochschulstadt N.        zur Ausweisung von Windvorrangflächen als Konzentrationszonen für die Errichtung von Windenergieanlagen im N1.         Stadtgebiet mit der Folge der Ausschlusswirkung an anderer Stelle gem. § 35 Abs. 3 BauGB“ wurde am 5. Oktober 2021 im Amtsblatt der Beigeladenen bekanntgemacht.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 19. Oktober 2021 beantragte die Beigeladene bei dem Beklagten die Zurückstellung des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsantrags der Klägerin nach § 15 Abs. 3 BauGB unter Hinweis auf den Aufstellungsbeschluss zur 93. Änderung ihres Flächennutzungsplans. Zudem versagte die Beigeladene unter dem 20. Oktober 2021 das gemeindliche Einvernehmen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Nach Anhörung der Klägerin am 14. Dezember 2021 erließ der Beklagte unter dem 31. Januar 2022 den von der Beigeladenen begehrten Zurückstellungsbescheid und stellte unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Entscheidung über das von der Klägerin unter dem 7. Mai 2021 beantragte Vorhaben bis zum 30. November 2022 zurück. Zur Begründung führte er aus: Die Voraussetzungen für eine Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 BauGB lägen vor. Die Beigeladene habe am 23. September 2021 die Aufstellung der 93. Änderung ihres Flächennutzungsplans „zur Ausweisung von Windvorrangflächen als Konzentrationszonen für die Errichtung von Windenergieanlagen“ beschlossen. Es sei auch zu befürchten, dass die Durchführung dieser Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert würde. Die Beigeladene habe ihre Planung hinreichend konkretisiert. Zwar eigne sich der Bereich nördlich von S.              nach dem momentanen Kenntnisstand grundsätzlich für die Ansiedlung von Windenergieanlagen. Eine genaue Abgrenzung könne jedoch erst erfolgen, wenn alle mit dem Vorhaben in Verbindung stehenden Aspekte berücksichtigt bzw. beleuchtet worden seien. Hierzu zählten etwa visuelle und akustische Beeinträchtigungen der in der Nähe befindlichen Ortschaften sowie die Frage der Inanspruchnahme von Waldflächen. Der Antrag der Beigeladenen auf Zurückstellung sei zudem fristgerecht gestellt worden. Auch sei hinsichtlich der Länge der Zurückstellung bis zum 30. November 2022 der von der Beigeladenen verfolgte Zweck des Abschlusses des Planverfahrens bei realistischem Verlauf berücksichtigt worden.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat dagegen am 17. Februar 2022 Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 11. Mai 2022 hat der 7. Senat des erkennenden Gerichts unter dem Aktenzeichen 7 B 241/22.AK dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stattgegeben und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin trägt vor: Es fehle schon an einer hinreichenden Konkretisierung der Planungsabsichten. Die eine Konzentrationszone für Windenergieanlagen ausweisende 42. Änderung des Flächennutzungsplans sei bereits 2004 bekanntgemacht worden und habe lediglich eine Konzentrationszone von circa 20 ha ausgewiesen. In den Jahren 2014 und 2018 seien Potenzialflächenanalysen vorgelegt worden, die aber zu keinen weiteren planungsrechtlichen Schritten geführt hätten. Die Unwirksamkeit der 42. Änderung ihres Flächennutzungsplans sei der Beigeladenen spätestens nach den Urteilen des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 25. Juni 2019 zu den Aktenzeichen 4 K 3158/18, 4 K 3157/18, 4 K 21/18, 4 K 750/19 und 4 K 5074/18 bzw. nach dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. August 2020 mit dem Aktenzeichen 8 A 3144/19 bekannt gewesen. Gleichwohl seien in der Folge keine Schritte zur Änderung des Flächennutzungsplans eingeleitet worden. Auch sei den Vorlagen der Verwaltung an die politischen Gremien die eindeutige Empfehlung zu entnehmen, auf eine planerische Steuerung der Windenergie nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB zukünftig vollständig zu verzichten und keinen Aufstellungsbeschluss zur Änderung des Flächennutzungsplans zu fassen. Die Entscheidung des Rates der Beigeladenen, dieser Empfehlung der Verwaltung nicht zu folgen, sondern ein Verfahren zur 93. Änderung des Flächennutzungsplans einzuleiten, sei nicht von einem ernsthaften Planungswillen geprägt gewesen. Das Protokoll der Ratssitzung veranschauliche, dass es nicht um die Entwicklung von Vorstellungen zu einer zukünftigen Flächennutzungsplanung, sondern um die Verhinderung weiterer Windenergieprojekte gegangen sei. So seien keine konkreten Vorgaben an die Verwaltung zur weiteren Vorgehensweise formuliert worden und es habe keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Potenzialflächenanalysen 2014 und 2018 stattgefunden. Auch bestehe kein Sicherungsbedürfnis zugunsten der Beigeladenen, da sie nicht in der Lage sei, das Flächennutzungsplanverfahren innerhalb der Zurückstellungsfrist zu Ende zu führen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die Planungsabsichten der Beigeladenen durch das Vorhaben der Klägerin vereitelt oder erheblich beeinträchtigt werden könnten. Die streitigen Vorhabenstandorte lägen innerhalb der im Rahmen der Potenzialflächenanalyse 2018 ermittelten Potenzialfläche. Die Beigeladene habe im Rahmen ihres Zurückstellungsantrags selbst ausgeführt, dass der Vorhabenbereich von W.              grundsätzlich für die Nutzung der Windkraft durch Windenergieanlagen geeignet sei. Dass eine Neubewertung der Potenzialfläche erforderlich sein könnte, sei nicht nachvollziehbar. Dem stattgebenden Eilbeschluss vom 11. Mai 2022 träten weder der Beklagte noch die Beigeladene mit konkreten, auf den entscheidungserheblichen Sachverhalt bezogenen Gründen entgegen. Auch der weitere Verlauf des Planungsverfahrens bestätige den fehlenden ernsthaften Planungswillen. Detaillierte Angaben zu der angeblich nunmehr angegangenen Aufgabenbewältigung fehlten nach wie vor. Dass es der Beigeladenen nur um eine Verzögerung gehe, zeige sich auch daran, dass sie eine Außenbereichssatzung erlassen habe, um dem Vorhaben die 1.000 m-Abstandsregelung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB-AG NRW zumindest teilweise entgegenzuhalten. Zudem sei nunmehr die Neufassung von § 2 EEG zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">den Zurückstellungsbescheid des Beklagten vom 31. Januar 2022 aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Er wiederholt im Wesentlichen die Begründung seines Zurückstellungsbescheides. Ergänzend trägt er mit Schriftsatz vom 1. Juli 2022 vor: Die erforderliche Konkretisierung habe zum maßgeblichen Zeitpunkt vorgelegen. Das Verfahren zur Änderung des Flächennutzungsplans sei zielstrebig betrieben worden. Inzwischen seien städtische Mitarbeiter mit der Aufgabe betraut worden und es stehe die Beauftragung von Gutachtern unmittelbar bevor. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides - also vier Monate nach dem Aufstellungsbeschluss - hätten Zwischenergebnisse noch nicht verlangt werden können.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beigeladene beantragt,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Sie trägt vor: Das Planungsziel sei mit dem Aufstellungsbeschluss in dem erforderlichen Mindestmaß konkretisiert worden. Weitere konkrete Angaben - etwa zur Größe und Lage geeigneter Potenzialflächen - hätten von ihr zu diesem Zeitpunkt nicht verlangt werden können. Aus der Antwort der Verwaltung vom 6. Dezember 2021 auf die Anfrage der Ratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen gehe hervor, dass seinerzeit ein bis zwei Mitarbeiter der Verwaltung mit der Aufgabe der Änderung des Flächennutzungsplanes betraut worden seien und zudem die Beauftragung diverser Fachbüros angestanden habe. Darüber hinaus sei die Beigeladene auch nach dem Erlass des angefochtenen Zurückstellungsbescheides nicht untätig geblieben. Ferner sei zum Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung nicht absehbar gewesen, dass das in Rede stehende Vorhaben innerhalb einer Konzentrationsfläche liegen werde. Es handele sich nicht um eine Verhinderungsplanung. Der Beigeladenen könne auch keine angebliche längere Untätigkeit im Hinblick auf die Aufstellung eines Flächennutzungsplans vorgehalten werden. Sie habe einen konkreten Zeitplan für das Verfahren zur 93. Änderung des Flächennutzungsplans vorgelegt.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens und des zugehörigen Eilverfahrens 7 B 241/22.AK sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Beigeladenen Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Senat ist nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a VwGO erstinstanzlich zuständig. In der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts ist geklärt, dass davon auch Streitigkeiten über eine Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 BauGB - wie hier - erfasst sind.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 19. August 2022 - 22 B 705/22.AK -, juris Rn. 4 f., und vom 20. Juli 2021 - 8 B 1088/21.AK -, BauR 2021, 1945 = juris Rn. 4 ff., sowie Urteil vom 1. Dezember 2021 - 7 D 84/21.AK -, ZNER 2022, 177 = juris Rn. 19 f.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist begründet. Der Zurückstellungsbescheid des Beklagten vom 31. Januar 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen der für die Zurückstellung allein in Betracht kommenden Rechtsgrundlage des § 15 Abs. 3 BauGB liegen nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB hat die Baugenehmigungsbehörde auf Antrag der Gemeinde die Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB für einen Zeitraum bis zu längstens einem Jahr nach Zustellung der Zurückstellung des Baugesuchs auszusetzen, wenn die Gemeinde beschlossen hat, einen Flächennutzungsplan aufzustellen, zu ändern oder zu ergänzen, mit dem die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB erreicht werden sollen, und zu befürchten ist, dass die Durchführung der Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde. Gemäß § 15 Abs. 3 Satz 3 BauGB ist der Antrag der Gemeinde nach Satz 1 nur innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Gemeinde in einem Verwaltungsverfahren von dem Bauvorhaben förmlich Kenntnis erhalten hat, zulässig.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Danach liegen die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 BauGB hier deshalb nicht vor, weil nicht zu befürchten ist, dass durch das Vorhaben der Klägerin die Durchführung der Planung der Beigeladenen (93. Änderung des Flächennutzungsplans) unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Befürchtung, dass die Flächennutzungsplanung mit dem Ziel der Ausweisung von Konzentrationszonen für Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB mit der Wirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde, besteht, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das zur Genehmigung gestellte Vorhaben der gemeindlichen Planung ‑ nach dem jeweiligen Stand des Planungsverfahrens und gemessen an der Planungskonzeption und den Planzielen - widerspricht. Dabei sind die Besonderheiten der in Rede stehenden Planungen zu berücksichtigen. Konzentrationsflächenplanungen zielen konzeptionell neben der positiven Vorrangwirkung der Darstellungen von Konzentrationsflächen auch auf die den übrigen Außenbereich betreffende Ausschlusswirkung nach § 35 Abs. 3 BauGB. Die planerische Entscheidung für die Wirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB setzt die Entwicklung eines schlüssigen Gesamtkonzepts voraus, das sich auf den gesamten Außenbereich bezieht. Das Maß der mit Blick auf eine Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 BauGB erforderlichen Konkretisierung der zu sichernden Planung ist unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände zu bestimmen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. Oktober 2021 - 7 B 781/21.AK -, juris Rn. 13 ff., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">§ 15 Abs. 3 BauGB ist ein Sicherungsinstrument für eine im Werden befindliche Konzentrationszonenplanung und soll den Schutz der Planungshoheit der Gemeinde verbessern. Plansicherungsinstrumente wie Veränderungssperren oder Zurückstellungen können und dürfen dabei nur eine bestimmte Planung, nicht aber allgemein die Planungsmöglichkeit der Gemeinde oder den Planungsprozess als solchen schützen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 19. Februar 2004 ‑ 4 CN 16.03 -, BVerwGE 120, 138 = juris Rn. 30; OVG NRW, Urteil vom 16. April 2021 - 2 D 106/20.NE -, ZfBR 2021, 774 = juris Rn. 43; OVG S.-H., Urteil vom 17. Februar 2011 - 1 KN 12/10 -, juris Rn. 19; Stock, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Kommentar, Stand Februar 2019, § 14 Rn. 46, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Da sich Zurückstellungsentscheidungen nach § 15 Abs. 3 BauGB zu Lasten der betroffenen Grundeigentümer auswirken, dürfen sie nur unter bestimmten Voraussetzungen und für bestimmte Zeiträume erteilt werden, um das nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentumsgrundrecht nicht unverhältnismäßig zu beschränken.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. Dezember 2021 - 8 B 1541/21.AK -, BauR 2022, 467 = juris Rn. 25.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB ist zunächst und grundsätzlich derjenige des Erlasses des Zurückstellungsbescheides als letzter behördlicher Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 20. Juli 2021 - 8 B 1088/21.AK -, BauR 2021, 1945 = juris Rn. 19 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Ob eine Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB im Einzelfall auch dann aus nach diesem Zeitpunkt liegenden Gründen rechtswidrig werden kann, wenn die Planung nachträglich aufgegeben oder nicht mehr ernsthaft betrieben wird,</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">vgl. in diesem Zusammenhang OVG NRW, Urteile vom 13. September 2021 - 2 D 134/20.NE -, juris Rn. 54 ff., und vom 11. April 2016 - 2 D 30/15.NE -, juris Rn. 52,</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">ist hier nicht zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Es war nach den genannten Maßgaben jedenfalls nicht zu befürchten, dass das Vorhaben der Klägerin die Durchführung einer Planung der Beigeladenen im Sinne des § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB unmöglich macht oder wesentlich erschwert, weil es bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides an einer hierfür erforderlichen hinreichend konkreten Planung fehlte.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die durch den Aufstellungsbeschluss des Rates der Beigeladenen vom 23. September 2021 eingeleitete Planung zur 93. Änderung des Flächennutzungsplans hat im Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides vom 31. Januar 2022 nicht das erforderliche Mindestmaß an Konkretisierung erreicht. Der Aufstellungsbeschluss beruht auf der Verwaltungsvorlage VO/10/178 des Fachbereichs „Planung und Bauordnung“ vom 25. August 2021, die selbst noch keine näheren Angaben zu einem Gesamtkonzept enthält, sondern vielmehr ausdrücklich - auch vor dem Hintergrund der bisher in den Jahren 2012 bis 2018 (erfolglos) angestoßenen Planungen (vgl. dort Seite 5) - davon abrät, in ein (erneutes) Verfahren zur planerischen Steuerung der Windenergie mittels Flächennutzungsplanung einzutreten. Erst im Rahmen der Beratungen in den Gremien (13. September 2021: Bezirksausschuss S.              ; 16. September 2021: Ausschuss für Stadtentwicklung; 23. September 2021: Rat der Beigeladenen) bildete sich der (politische) Wille zugunsten eines Aufstellungsbeschlusses. Die Beratungsunterlagen spiegeln allerdings lediglich den allgemeinen Austausch zu der durch die Verwaltungsvorlage VO/10/178 aufgeworfenen Frage wider, ob das Instrument eines sachlichen Teilflächennutzungsplans „Windenergie“ im Gebiet der Beigeladenen verzichtbar ist, und lassen planerische Vorstellungen zum Inhalt oder auch nur zum Verfahren der Inhaltsfindung einer gewünschten Planung nicht einmal in Ansätzen erkennen. Hierbei haben sich die Stimmen gegen einen Verzicht in der Ratssitzung vom 23. September 2021 durchgesetzt („Jetzt stehe man davor, dass man eine Mehrheit finde und versuche das Heft des Handelns wieder zu erlangen.“; „Mit dem Aufstellungsbeschluss könne man ein Zeichen setzen, dass der Rat noch nicht resigniere und sich für die Erhaltung des Landschaftsbildes einsetze.“; „Die Entscheidungen über Windenergieanlagen dürfe man nicht ausschließlich den Verwaltungen überlassen, die über emissionsrechtliche Rahmenbedingungen befänden. Daher sei die Aufstellung eines FNPs und eine Beteiligung der Bürger wichtig.“). Auch die Ergebnisse der Potenzialanalysen in den Jahren von 2012 bis 2018 wurden im Zuge des Aufstellungsbeschlusses nicht näher in den Blick genommen.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Ob die Beratungsunterlagen mit den jeweiligen Diskussionsbeiträgen sogar darauf schließen lassen, dass die Beigeladene letztlich eine auf reine Verhinderung oder Verzögerung ausgerichtete und damit nicht sicherungsfähige Planung betreiben wollte, bedarf hier keiner Entscheidung. Einzelne Wortbeiträge könnten insoweit jedenfalls eine Indizwirkung besitzen („Aber egal ob man es für richtig oder falsch halte, man gewinne Zeit, wenn man in ein FNP-Änderungsverfahren einsteige und könne die vorliegenden Anträge zunächst einmal zurückstellen.“).</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der in dem Antrag der Beigeladenen auf Zurückstellung vom 19. Oktober 2021 enthaltene Hinweis darauf, dass die 93. Änderung ihres Flächennutzungsplans „grundsätzlich auf die bereits bestehende Potenzialanalyse der Kreis- und Hochschulstadt N.        aufbauen“ solle, beinhaltet keine hinreichende inhaltliche Konkretisierung der Planung. Dieser Hinweis ist vom Ratsbeschluss so schon nicht gedeckt und widerspricht auch der Verwaltungsvorlage, wonach für einen Neustart festgehalten wird, die „Analyse müsste aber grundlegend neu bearbeitet werden“ (Seite 5 der Vorlage). Soweit ferner ausgeführt wird, dass sich der Bereich östlich von W1.             , wo das Vorhaben liege, zwar grundsätzlich für die Nutzung durch Windenergieanlagen eigne, eine genaue Abgrenzung jedoch erst später erfolgen könne, ist ebenso wenig erkennbar, dass diese Überlegungen - die auf visuelle und akustische Beeinträchtigungen in der Nähe befindlicher Ortschaften und den Schutz des Landschaftsbilds im Bereich von Waldflächen abstellen - Teil eines hinreichend konkreten planerischen Gesamtkonzepts der Beigeladenen sind bzw. waren. Im Übrigen fehlt es dazu auch an jeglicher Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass das Vorhaben - wie die Klägerin in der Antragsbegründung vom 29. März 2022 im dazugehörigen Eilverfahren mit dem Aktenzeichen 7 B 241/22.AK aufgezeigt hat - innerhalb einer in der letzten Potenzialanalyse aus dem Jahr 2018 ermittelten Potenzialfläche für die Windenergienutzung verwirklicht werden soll.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus den Antworten der Verwaltung der Beigeladenen vom 6. Dezember 2021 auf die Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom selben Tage, die im Rahmen der Ratssitzung der Beigeladenen vom 9. Dezember 2021 behandelt wurden. Diese Antworten beinhalten im Wesentlichen Absichtserklärungen, die die allgemeine Beschreibung der „nächsten Schritte“ („Prüfung und ggf. Erarbeitung von Außenbereichssatzungen“, „Zusammentragung der Planungsgrundlagen und der sukzessiven Beauftragung der Fachbüros“), das Erfordernis der Beauftragung externer Büros sowie die vorgesehene Betrauung von „1-2“ Mitarbeitern im Fachbereich mit der Bearbeitung betreffen. Eine hinreichende inhaltliche Konkretisierung der Planung ist dem ebenfalls nicht zu entnehmen. Aus diesen Ausführungen ergibt sich im Übrigen zugleich, dass die Beigeladene auch fast zwei Monate nach Beantragung der Zurückstellung des Vorhabens der Klägerin noch keine nennenswerten (Verfahrens-)Schritte zur Konkretisierung ihres allgemeinen Planungswunsches unternommen hatte. Vor allem sind keine Schritte zur „unabdingbaren“ Beauftragung eines Fachbüros für die Planung eingeleitet worden. Dies ist auch deshalb hervorzuheben, weil ausweislich des von der Beigeladenen im Rahmen ihres Antrags auf Zurückstellung vom 19. Oktober 2021 vorgelegten Zeitplans eigentlich schon seit November 2021 an der Überarbeitung der Potenzialanalyse gearbeitet werden sollte. Bis zur Entscheidung über die Zurückstellung vom 31. Januar 2022 hatte sich insoweit auch nichts geändert.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides vom 31. Januar 2022 fehlende Erfüllung der Anforderungen des § 15 Abs. 3 BauGB - eine sicherungsfähige Planung - wird auch durch den weiteren Verlauf der Bauleitplanung bestätigt. Danach liegt eine solche bis heute offenbar nicht vor. Die Beigeladene hat mit ihrem Schriftsatz vom 22. Juni 2022 lediglich darauf hingewiesen, dass sie „nicht untätig geblieben“ sei und „intensiv an der Datenrecherche als Grundlage für eine Potenzialanalyse gearbeitet“ habe, wobei im Anschluss eine Aufzählung der abstrakten Kriterien wie „Abgrenzung des Außenbereichs“, „Abgrenzung der bebauten Siedlungsflächen“ oder „Bahnflächen“ folgt. Die Erforderlichkeit einer zeitaufwändigen Recherche für diese Daten ist nicht zu erkennen, nachdem solche Daten schon aufgrund der Potenzialanalyse 2018 („Windkraftpotenzialanalyse der Kreis- und Hochschulstadt N.        - Fassung 2018 -“, Stand: April 2018) vorliegen müssten. Anhaltspunkte für eine grundlegende Veränderung des vorhandenen Datenmaterials sind nicht ersichtlich. Weitere Daten wie etwa für den Waldbestand und die Kalamitätsflächen wurden auch neun Monate nach dem Aufstellungsbeschluss vom 23. September 2021 noch nicht erhoben. Zudem führt die Beigeladene aus, „für die im nächsten Schritt anstehende Bewertung der ermittelten Flächen“ wolle sie „externen Sachverstand hinzuziehen“. Damit ist auch nicht erkennbar, dass die Beigeladene die bereits in der Ratssitzung am 9. Dezember 2021 angekündigte und ausdrücklich „unabdingbare“ Beauftragung externer Fachbüros inzwischen vorgenommen hätte. Das wurde noch in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage bestätigt. Hervorzuheben ist dabei, dass die Beigeladene nach ihrem eigenen und im Schriftsatz vom 22. Juni 2022 noch einmal bestätigten, allerdings zu diesem Zeitpunkt tatsächlich offensichtlich nicht mehr einzuhaltenden Zeitplan (dort Seiten 14 f.) bereits bis Ende August 2022 - also gut zwei Monate später - die Überarbeitung der Potenzialanalyse und die Erarbeitung eines Vorentwurfs abgeschlossen haben wollte. Zu diesem Abschluss ist es - wie zu erwarten - nicht gekommen. Im Übrigen verweist die Klägerin in diesem Zusammenhang zu Recht auf die parallelen, aber deutlich ambitionierter vorangetriebenen Bemühungen der Beigeladenen um den Erlass einer Außenbereichssatzung für den Bereich „M.-----ringhausen “. Diese Außenbereichssatzung nach § 35 Abs. 6 BauGB ist nach dem Aufstellungsbeschluss vom 10. Februar 2022 mit der Bekanntmachung im Amtsblatt der Beigeladenen am 15. Juni 2022 in Kraft getreten und konnte somit - anders als deren Flächennutzungsplanung nach §§ 5 Abs. 2b, 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB - zügig verabschiedet werden. Ausweislich der Begründung zu dieser vom Rat am 9. Juni 2022 beschlossenen Satzung zielt diese auf die Aktivierung der 1.000 m-Abstandsregelung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB-AG NRW und könnte auch gegen das hier in Rede stehende Vorhaben ins Feld geführt werden.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Ob der angegriffene Zurückstellungsbescheid auch deshalb rechtswidrig ist, weil bereits nach dem von der Beigeladenen vorgelegten Zeitplan ein Abschluss der Planung bis zum Ablauf der Zurückstellungsfrist offensichtlich nicht in Betracht kam, der Beklagte aber ausdrücklich im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Ermessens,</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 4. November 2020 - 8 B 1344/20 -, BauR 2021, 525 = juris Rn. 33,</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">hiervon ausgegangen ist, bedurfte angesichts dessen hier keiner abschließenden Entscheidung. Ebenso wenig hatte der Senat über die Frage zu befinden, ob eine Zurückstellung aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ausscheidet, wenn - wie hier - der Zeitplan der planenden Gemeinde von vornherein darauf angelegt ist, dass die Planung innerhalb des Zurückstellungszeitraums nicht abgeschlossen sein wird und es damit einer Verlängerung der Zurückstellung gemäß § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB bedarf, an die im Vergleich zur erstmaligen Zurückstellung nach der gesetzlichen Konzeption erhöhte Anforderungen zu stellen sind.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu näher OVG NRW, Beschluss vom 19. August 2022 - 22 B 705/22.AK -, juris.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Dies erscheint mit Blick auf die berechtigten Eigentums- oder Betriebsinteressen der Betroffenen jedenfalls nicht unbedenklich. Die in der mündlichen Verhandlung geäußerte Auffassung der Beigeladenen, der Zeitverlust sei zu vernachlässigen und von der Klägerin hinzunehmen, liegt insoweit ersichtlich neben der Sache und entspricht insbesondere nicht der gesetzlichen Konzeption, nach der im Regelfall über einen (vollständigen) immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsantrag innerhalb von sieben Monaten zu entscheiden ist (vgl. § 10 Abs. 6a BImSchG). Mit Blick auf die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung weist der Senat in diesem Zusammenhang klarstellend darauf hin, dass diese Frist spätestens seit Zugang des Beschlusses vom 11. Mai 2022 - 7 B 241/22.AK - beim Beklagten läuft.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Der Zurückstellungsbescheid des Beklagten vom 31. Januar 2022 verletzt die Klägerin auch in ihren Rechten, da er auf Aussetzung des von ihr betriebenen immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens gerichtet ist.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO und §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision ergibt sich aus § 132 Abs. 2 VwGO; Zulassungsgründe sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p>
346,656
vg-munster-2022-09-06-2-k-131920
{ "id": 846, "name": "Verwaltungsgericht Münster", "slug": "vg-munster", "city": 471, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
2 K 1319/20
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-22T10:01:40"
"2022-10-17T11:10:25"
Grundurteil
ECLI:DE:VGMS:2022:0906.2K1319.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig sind.</p> <p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des beitreibbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wendet sich gegen die Eintragung eines in seinem Eigentum stehenden Gebäudes in die Denkmalliste der Beklagten.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Er ist Eigentümer des Grundstücks Gemarkung E.      -Stadt, G.    --, G1.         --- (D.          Straße --, ----- E.      ). Das G1.         --- ist zur D.          Straße hin mit einem freistehenden eingeschossigen Wohngebäude mit pfannengedecktem Satteldach bebaut. Dieses wurde im Jahr 19-- nach einem Brand am Standort, in der Konstruktionsweise (Mischbauweise) und Kubatur des schon seit 1863 bestehenden Vorgängerbaus errichtet. Anfang des 20. Jahrhunderts verkaufte der ursprüngliche Eigentümer das Grundstück an den jüdischen Viehhändler T.     und auch in der Folge blieb das Grundstück im jüdischen Eigentum. Erst im Jahr 1942 ging das Grundstück zunächst in das Eigentum der Beklagten über.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Anlässlich eines Bauantrages des Klägers bat die Beklagten den Beigeladenen mit Schreiben vom 6. Oktober 2016 um Stellungnahme, ob es sich bei dem Objekt um ein Denkmal nach § 3 DSchG NRW handele.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dies bejahte der Beigeladene im Rahmen seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 6. Februar 2017. Zur Begründung führte er aus: Das Wohnhaus, das von 19-- bis 19-- als sogenanntes „-----haus“ genutzt worden sei, sei bedeutend für die Geschichte der Menschen. Seine Erhaltung und Nutzung liege aus wissenschaftlichen, insbesondere ortshistorischen Gründen im öffentlichen Interesse. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme im Jahr 1933 hätten 72 Juden in E.      gelebt. Bis zum 31.12.1938 sei die jüdische Gemeinde auf 44 Mitglieder geschrumpft. Diese hätten im Juni 1939 ins „-----haus“ an der D.          Straße umziehen müssen. Am 31. Dezember 1939 seien noch 20 Personen in dem Haus untergebracht gewesen. Im Mai 1941 hätten noch 10 Personen im „-----haus“ gelebt. Vom Denkmalumfang seien das Wohnhaus in seiner Kubatur, die Straßenfassade sowie die Binnenstruktur, die bauzeitliche wandfeste Ausstattung und der als Nutz- und Ziergarten angelegte Freiraum umfasst.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Nach Anhörung des Klägers trug die Beklagte das Objekt wie vom Beigeladenen vorgeschlagen am 18. September 2017 in die Denkmalliste ein und gab dies dem Kläger mit Bescheid vom selben Tag bekannt. Hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem Verwaltungsgericht Münster (2 K 6326/17). Im Rahmen eines Erörterungstermins äußerte das Gericht Zweifel an dem Umfang der Unterschutzstellung, woraufhin die Beklagte die Unterschutzstellung vom 18. September 2017 mit Bescheid vom 29. November 2019 aufhob und das Klageverfahren von den Beteiligten für erledigt erklärt wurde.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 29. November 2019 ordnete die Beklagte an, dass das ,,Wohnhaus D.          Straße --", E.      -Stadt, G.    --, G1.         --- als Baudenkmal vorläufig als eingetragen gelte. Der Umfang des Denkmals beziehe sich auf die Kubatur des Wohnhauses und die Straßenfassade. Auch hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem entscheidenden Gericht (2 K 3238/19). Dieses Verfahren ist durch Beschluss vom 21. Januar 2022 eingestellt worden, nachdem der Kläger und die Beklagte das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Unter dem 11. Dezember 2019 erteilte der Beigeladene sein Benehmen zur Eintragung des Wohnhauses D.          Straße -- in dem reduzierten Umfang.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Daraufhin hörte die Beklagte den Kläger am 13. Januar 2020 zur beabsichtigen endgültigen Unterschutzstellung an.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Hierzu nahm die Prozessbevollmächtigte des Klägers unter dem 12. Februar 2020 im Wesentlichen wie folgt Stellung: Es fehle an der geschichtlichen Bedeutung des Objekts. Die ortsgeschichtlichen Gründe an der Erhaltung des Gebäudes – die in der Nutzung des Gebäudes im Nationalsozialismus begründet würden – seien an dem aus dem Jahr 1914 stammende Gebäude nicht ablesbar. Die von der Beklagten angenommene Anzahl der in dem „-----aus“ untergebrachten Personen beruhe lediglich auf Sekundärquellen von --------------, der selbst im Konjunktiv formuliere, dass dort etwa 30 Juden untergebracht gewesen sein könnten und diese Vermutung nicht belege. Mithin greife das Argument, die Kubatur des Gebäudes zeige die beengten Lebensverhältnisse der dort untergebrachten Juden, nicht durch. Im Übrigen seien -----häuser nicht grundsätzlich Denkmäler, wie der Umgang des Beigeladenen mit anderen -----häusern zeige. Ferner sei das Objekt nicht denkmalwürdig.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Beigeladene erklärte in seinem Schreiben vom 11. Mai 2020, dass er nach fachlicher Überprüfung an seiner Auffassung, dass es sich bei dem Objekt um ein Denkmal handele, festhalte. Zur Begründung verwies er auf seine Ausführungen in seiner Stellungnahme vom 28. April 2020 im Verfahren 2 K 3238/19. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese Stellungnahme Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Daraufhin trug die Beklage das Wohnhaus D.          Straße -- hinsichtlich seiner Kubatur und der zur D.          Straße zugewandten Fassade am 14. Mai 2020 in seine Denkmalliste ein und gab dies dem Kläger mit Bescheid vom selben Tage bekannt. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Das Wohnhaus sei aufgrund seiner spezifischen Nutzung als „-----haus“ in den Jahren 1939 bis 1942 bedeutend für die Geschichte der Menschen in E.      . Als historischer Ort der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung Dülmens dokumentiere das Gebäude sowohl das Leben und Leiden der ------- Juden als auch die Untaten des antisemitischen Regimes. Hier zeige sich insbesondere an der Lage inmitten der städtischen Gemeinschaft und der Gebäudekubatur mit der Unterbringung von rund 30 Personen in der überbelegten Wohnung der menschenunwürdige Umgang des antisemitischen Regimes mit Juden. Der straßenseitigen Fassade komme besondere Bedeutung zu, da sie dokumentiere, dass die jüdische Bevölkerung in einem bestehenden und vor allem damals im jüdischen Besitz befindlichen Gebäude zusammengezogen worden sei und damit die nationalsozialistische Praxis, jüdische Immobilien umzunutzen, um dort die wohnraumenteigneten Juden der Stadt/ Gemeinde vor ihrer Deportation zu konzentrieren. Die Erhaltung und Nutzung des „-----hauses“ liege aufgrund seiner ortsgeschichtlichen Bedeutung im Interesse der Allgemeinheit. Hier manifestierten sich baulich-räumlich die Verbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen Bevölkerung auf lokaler Ebene. Trotz aller Veränderungen sei es ein authentischer Ort, der für die historische Beschäftigung mit der Geschichte ------- insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus sowie für wissenschaftliche Untersuchungen zur jüdischen Geschichte in E.      eine zentrale Rolle spiele.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Hiergegen hat der Kläger am 19. Juni 2020 Klage erhoben.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt und vertieft er seine Ausführungen aus den Verwaltungsverfahren: Die Beklagte habe den Sachverhalt nicht hinreichend ermittelt. Sie sei zunächst unter Berufung auf einen Aufsatz von ----------- davon ausgegangen, dass die gesamte jüdische Bevölkerung – mithin 44 Personen – in das Gebäude zwangsumgesiedelt worden seien. Nunmehr stütze sie die Eintragung auf die Ausführungen von ---------, der davon ausgehe, dass in dem „-----haus“ anfänglich etwa 30 Personen untergebracht worden seien. Die Beklagte habe also widersprüchliche Sekundärquellen zur Begründung der Denkmaleigenschaft herangezogen. Dies werde den Anforderungen an die Beurteilung der Voraussetzungen des § 2 DSchG nicht gerecht. Das von der Beklagten im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Verzeichnis der „evakuieren Juden aus dem Bereich der Staatspolizei Münster nach Riga vom 10. Dezember 1941 werde von der weiteren von der Beklagten überreichten Anlage in Frage gestellt. Die Anzahl der untergebrachten Personen sei auch nicht unerheblich, da die Beklagte den Denkmalwert zum maßgeblichen Zeitpunkt der Eintragung in die Denkmalliste gerade aus der Überbelegung des Wohnhauses heraus begründe. Eine solche liege selbst bei einer unterstellten Belegung mit zehn Juden in dem Haus mit einer Wohnfläche von 293 m² jedoch nicht vor. Die Quellenlage gebe eine Einordnung als „-----haus“ nicht her. Da die beweisbelastete Beklagte das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht nachweisen könne, komme eine Unterschutzstellung nicht in Betracht. Ferner sei das Objekt aufgrund der vielfältigen Änderungen nicht denkmalgeeignet, da es nicht mehr einer vergangenen Epoche zugeordnet werden könne. Es fehle an der geschichtlichen Bedeutung des Objekts. Denn ein menschenunwürdiger Umgang mit den -------- Juden mit Blick auf eine Überbelegung sei nicht hinreichend belegt. Das 1915 errichtete Gebäude lasse keine Rückschlüsse auf seine Nutzung im Nationalsozialismus zu. Ein Aussagewert im Sinne einer Dokumentation des Lebens bestimmter Zeitepochen komme dem Wohnhaus nicht zu. Insofern sei zu berücksichtigen, dass im Jahr 2016 ein „-----haus“ in -----------mit der Begründung, dass es an Spuren jüdischen Lebens mangele, nicht unter Schutz gestellt habe. Ein etwaiger Aussagewert sei jedenfalls mit Blick auf die zahlreichen baulichen Veränderungen entfallen. So sei die innere Aufteilung des Wohnhauses mehrfach durchgreifend verändert worden. Die Ostseite des Daches sei mit einer Schleppgaube versehen und die Dachgauben seien in den 1970er Jahren erweitert worden. Zudem sei die Außenfassade im Dachbereich auf der Rückfront und an den Giebelseiten mit einem Wärmeverbundsystem verkleidet worden. Die Fenster seien durch Kunststofffenster ersetzt worden. Es fehle auch an der wissenschaftlichen Bedeutung des Objekts. Es könne nicht Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein, da mit Blick auf die erheblichen Veränderungen an dem Gebäude und mangels hinreichender Sachverhaltsaufklärung keine Rückschlüsse auf die Lebensverhältnisse der --------- Juden gezogen werden könnten. Auch einem großen Kreis von Sachverständigen dränge sich seine Denkmalwürdigkeit nicht auf. Soweit die Beklagte die Unterschutzstellung der straßenseitigen Fassade damit begründe, dass Juden in der Mitte der Gesellschaft interniert worden seien, handele es sich um eine nachgeschobene Begründung, die sich aus der Begründung der Eintragung nicht ergebe.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">die Eintragung des Gebäudes D.          Straße  in E.      in die Denkmalliste der Beklagten und den hierzu ergangenen Eintragungsbescheid vom 14. Mai 2020 aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">              die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus: Sie sei bereits im Rahmen der angefochtenen Eintragung und dem Eintragungsbescheid davon ausgegangen, dass sich die Bewohnerzahlen des Hauses im Laufe der Zeit von 1939 bis 1941 verändert hätten. Belegt sei aus Primärquellen, das vor ihrer Deportation zehn Personen zur gleichen Zeit im Objekt gelebt hätten. Bereits diese abgesicherten Belegzahlen genügten, um die Überbelegung des Wohnhauses nachzuweisen. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass das Wohnhaus nicht als Mehr- sondern Einfamilienhaus ausgestaltet gewesen sei. Die Familie ----- sei gezwungen worden, ihr Wohnhaus mit sieben weiteren Personen zu teilen. Unabhängig davon sei jedoch davon auszugehen, dass zuvor tatsächlich ca. 30 Personen dort gelebt haben. Die insofern vorliegenden Sekundärquellen seien mit Blick auf die weitgehende Zerstörung von Primärquellen als ausreichend anzusehen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass --------- Zeitzeuge und studierter Historiker gewesen sei. Mit Blick auf die gesicherte Erkenntnis, dass 1933 jedenfalls 61 Juden in E.      lebten, erscheine seine Schätzung von 30 Personen zutreffend. Die unter Schutz gestellte Kubatur und Fassade seien durch die baulichen Veränderungen nicht beeinträchtigt worden, sodass das Objekt seinen Denkmalwert nicht verloren habe. Die Bedeutung eines Objekts müsse sich nicht schon auf den ersten Blick und erst recht nicht aus laienhafter Sicht erschließen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Beigeladene stellt keinen Antrag.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Er schließt sich den Ausführungen der Beklagten an. Ergänzend weist er darauf hin, dass es in der Natur des nationalsozialistischen Unrechts liege, dass es sich nicht über ein Lagerwesen definiere, sondern auch in den Alltag vor Ort hineingereicht und hier die vorgefundenen Gegebenheiten für seine völkischen Ziele nutzbar gemacht habe. Dies sei vorliegend durch die Umfunktionierung eines aus anderer Zeit stammenden Wohnhauses hin zur Konzentration von Personen bestimmter Glaubensrichtung gegen ihren Willen. Vor diesem Hintergrund liege ein wissenschaftlicher Grund zur Erhaltung vor. Es bedürfe insoweit keiner restlosen Ausforschung der durch das Objekt vermittelten historischen Bezüge. Es solle vielmehr für weitere Forschung gesichert werden und nachfolgenden Generationen als Quelle hierfür zur Verfügung stehen. Dabei könne nie ausgeschlossen werden, dass durch nachzeitige aufkommende Forschungsmethoden oder das Auffinden zum Zeitpunkt der Eintragung unbekannter Quellen hier eine genauere Erkenntnis zum/am/über das Objekt möglich werden wird/kann. Der Themenkomplex „----- bzw. -----häuser“ sei nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Insofern legt er den Aufsatz „Leben in den Breslauer Judenhäusern“ von -------- vor. Dass vorliegend mit Sekundärquellen gearbeitet wurde, mache die erarbeiteten Ergebnisse nicht weniger tragfähig. Insofern werde darauf hingewiesen, dass grundsätzlich keine prozessualen Bedenken in Bezug auf das Beweismittel des Zeugen bestehen, der ebenfalls eine Sekundärquelle darstelle. Im Übrigen sei der herangezogene Autor historisch geschult. Widersprüche oder denklogische Brüche innerhalb der Quellen seien dem Beigeladenen nicht bekannt geworden. Es liege hier ein einzigartiger Bezug zwischen dem nationalsozialistischen Unrecht und der Ortsgeschichte der Beklagten vor. Diese Zeugniskraft sei individuell und könne nicht durch die Existenz eines anderen „-----hauses“ kompensiert werden. Die von dem Kläger angeführten Vergleichsobjekte könne die Beklagte schon mangels örtlicher Zuständigkeit nicht eintragen. Im Übrigen komme der Beklagten kein Ermessen hinsichtlich einer Unterschutzstellung zu. Die von dem Kläger vorgetragenen Aspekte zur Denkmalgeeignetheit und Denkmalwürdigkeit seien ohne Belang, da es nach dem Willen des Gesetzgebers keine solchen ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale neben der notwendigen Merkmale des § 2 Abs. 1 DSchG NRW.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte in dem vorliegenden Verfahren sowie den Verfahren 2 K 6326/17 und 2 K 3238/19 und der jeweils beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Eintragung des Wohnhauses D.          Straße -- in E.      in die Denkmalliste der Beklagten und deren Eintragungsbescheid vom 14. Mai 2020 sind rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten (Vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Eintragung in die Denkmalliste der Beklagten richtet sich gem. §§ 43 Abs. 2, 44 Denkmalschutzgesetz Nordrhein-Westfalen vom 22. April 2022 (GV NRW S. 662, nachfolgend: DSchG NRW 2022) nach dem nordrhein-westfälischem Denkmalschutzgesetz in der Fassung vom 11. März 1980, zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 15. November 2016 (GV NRW S. 934, nachfolgend: DSchG NRW). Die vorliegend im Streit stehende Eintragung findet ihre gesetzliche Grundlage in § 3 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 und 2 S. 1 DSchG NRW und ist formell (1.) und materiell (2.) rechtmäßig erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">1. Die Eintragung ist formell rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Insbesondere greift der vom Kläger erhobene Einwand mangelhafter Sachverhaltsaufklärung und damit eines Verstoßes gegen § 24 Abs. 1 und 2 VwVfG NW nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Der in § 24 VwVfG normierte Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet die Behörde, den für das Verwaltungsverfahren maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen umfassend und ohne Bindung an das jeweilige Beteiligtenvorbringen objektiv zu ermitteln. Art und Umfang der Ermittlungen bestimmt deshalb innerhalb der vom Gegenstand des Verfahrens gezogenen Grenzen primär die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Behörde muss sämtliche entscheidungserhebliche Tatsachen und Umstände soweit aufklären, dass die Voraussetzungen für den Abschluss des Verwaltungsverfahrens zu ihrer Überzeugung vorliegen, also Entscheidungsreife gegeben ist. Der Rahmen wird abgesteckt durch den Verfahrensgegenstand und die rechtliche Beurteilung, die die Behörde dem Fall nach dem jeweiligen Fachrecht zugrunde legt. Die Intensität der Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhaltes wird durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt. So darf die Behörde ihre Ermittlungsbemühungen nach pflichtgemäßen Ermessen auf das im jeweiligen Einzelfall gebotene zumutbare Maß an sachlichem und zeitlichem Aufwand beschränken. Die Amtsermittlungspflicht findet entsprechend dort seine Grenze, wo weitere Bemühungen der Behörde im Verhältnis zum Erfolg nicht mehr vertretbar und zumutbar wären.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ritter in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl., § 24 VwVfG (Stand: 07.04.2021), Rn. 11 ff.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Unter Anwendung dieser Grundsätze sind die Beklagte und der Beigeladene ihrer Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung ausreichend nachgekommen. Sie haben die Geschichte des Wohnhauses D.          Straße -- insbesondere in den Jahren 1939 bis 1941 unter Berücksichtigung der ihnen zur Verfügung stehenden Quellen recherchiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das Wohnhaus in dieser Zeit als sogenanntes „-----haus“ fungiert hat, in dem die jüdische Bevölkerung ------- zusammengezogen wurde, um im Anschluss deportiert zu werden. Dass sie sich hierbei im Wesentlichen auf Sekundärliteratur von --------- berufen, ist nicht zu beanstanden. Denn die Primärquellen zu diesem Thema sind in großen Teilen vernichtet worden. Die noch existente Primärquelle „Liste der am 10.12.1941 von der Staatspolizeileitstelle Münster nach Riga deportierten Juden“ bestätigt die Ergebnisse des I.     C.      , wonach im Mai/ Juni 1941 noch zehn Personen im  „-----haus“  an der D.          Straße aufhielten (vgl. ------ Heimtatblätter, 1993, Heft 3/4, S. 3).</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung des Klägers ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die Deportationsliste erst im gerichtlichen Verfahren vorgelegt hat. Denn das Nachschieben von Gründen ist grundsätzlich im Rahmen des materiellen Rechts und des Verwaltungsprozessrechts zulässig. Das Verwaltungsgericht hat gem. dem Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO den Sachverhalt in dem zur Sachentscheidung erforderlichen Umfang aufzuklären und unter Berücksichtigung aller rechtlichen Gesichtspunkte selbst über den Klagantrag zu entscheiden. Deren Vorliegen haben die Gerichte unabhängig von der Rechtsauffassung der Beteiligten selbständig und in eigener Verantwortung zu prüfen. Entscheidend ist bei gebundenen Entscheidungen die Übereinstimmung der getroffenen Regelung mit den gesetzlichen Voraussetzungen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schemmer in: BeckOK, VwVfG, Stand 01.07.2022, § 46, Rn. 35</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Dass der Beklagten bzw. dem Beigeladenen weitergehende Ermittlungen möglich gewesen wären, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger der Auffassung ist, dass die von der Beklagten und Beigeladenen ins Feld geführten Quellen den von ihr zugrunde gelegten Sachverhalt und in der Folge ihre rechtliche Einschätzung nicht tragen, ergibt sich daraus keine mangelhafte Sachverhaltsermittlung.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">2. Gegen die Unterschutzstellungsverfügung ist auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nichts zu erinnern. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage sind vorliegend erfüllt. Gemäß § 3 Abs. 1 DSchG NRW sind Denkmäler in die Denkmalliste einzutragen. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 DSchG NRW sind Denkmäler Sachen, Mehrheiten von Sachen und Teile von Sachen, an deren Erhaltung und Nutzung ein öffentliches Interesse besteht. Ein öffentliches Interesse besteht nach Satz 2 der genannten Vorschrift, wenn die Sachen bedeutend für die Geschichte des Menschen, für Städte und Siedlungen oder für die Entwicklung der Arbeits- und Produktionsverhältnisse sind und für die Erhaltung und Nutzung künstlerische, wissenschaftliche, volkskundlichen oder städtebauliche Gründe vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach der gesetzlichen Regelung ist die Denkmaleigenschaft, welche die Behörde zur Eintragung in die Denkmalliste verpflichtet und ihr insoweit nicht etwa ein Ermessen einräumt, bereits dann gegeben, wenn jeweils nur eines der einzelnen Merkmale, die in den beiden in § 2 Abs. 1 Satz 1 DSchG NRW angeführten Gruppen von Tatbestandsmerkmalen enthalten sind, erfüllt ist, das heißt auch wenn die in Rede stehende Sache „bedeutend“ nur unter einem der angeführten Aspekte ist und für seine Erhaltung und Nutzung nur einer der angeführten Gründe vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 1990 – 7 A 429/88 –, juris Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Für die Einordnung eines Objektes als Baudenkmal kommt es somit darauf an, dass die zuständige Untere Denkmalbehörde – ggf. im Zusammenwirken mit dem Beigeladenen (§ 22 Abs. 2 DSchG NRW) – den Denkmalwert anhand von Tatsachen ermittelt und diesen wenigstens einer der Bedeutungskategorien und mindestens einer der Erhaltungskategorien des § 2 Abs. 1 Satz 2 DSchG NRW zuordnet. Eine pauschale Erklärung genügt nicht; vielmehr ist es erforderlich darzulegen, welche Teile des denkmalwerten Objektes wofür Zeugnis ablegen und welche Aussagen ihnen jeweils zugesprochen werden sollen. Nur in Kenntnis dieser an Tatsachen festzumachenden Bewertungen lässt sich letztlich rechtsfest ermessen, ob und inwieweit eine Veränderung der baulichen Substanz eines Denkmals dessen Aussagewert nachteilig berührt.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">              Vgl. OVG NRW, Urteil vom 02. März 2018 – 10 A 2580/16 –, juris Rn. 45.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesem Bewertungsmaßstab handelt es sich bei dem Wohnhaus D.          Straße -- in E.      um ein Denkmal. Es ist bedeutend für die Geschichte des Menschen (dazu a.) und es liegen wissenschaftliche Gründe für seine Erhaltung und Nutzung vor (dazu b.).</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">a. Den einzelnen Merkmalen, aus denen sich die Bedeutung des Objektes ergeben soll, ist die Kategorie des Geschichtlichen gemeinsam. Die Bedeutung des Objekts folgt aus seinem Wert für die Dokumentation früherer Bauweisen und der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die in dem Gebäude und seiner Bauweise zum Ausdruck kommen. Das Objekt muss in besonderem Maße geeignet sein, geschichtliche Entwicklungen aufzuzeigen und zu erforschen.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12.09.2006 - 10 A 1541/05 -, BauR 2007, 363.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dabei sollen nicht nur museumswürdige Objekte oder klassische Denkmäler Schutz genießen, sondern auch solche Objekte, die unterhalb dieser Schwelle in besonderer Weise einen geschichtlichen Bezug aufweisen. Nicht zu verlangen ist, dass es sich um ein einzigartiges oder qualitativ hervorragendes Objekt handelt und sich daher die Bedeutung auch jedem durchschnittlichen Betrachter unmittelbar aufdrängt. Das Tatbestandsmerkmal "bedeutend" hat in diesem Sinne vor allem die Funktion, aus dem Bereich des Denkmalschutzes solche Gegenstände auszuschließen, die zwar einen historischen oder städtebaulichen Bezug haben, jedoch deshalb nicht von Bedeutung sind, weil es sich um Massenprodukte handelt, oder weil die Sache wegen zu weitgreifender Veränderungen keinen geschichtlichen Aussagewert mehr hat.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.02.2008 - 10 A 4484/06 -, juris.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Bedeutung für die Geschichte des Menschen hat ein Objekt dann, wenn es einen Aussagewert für das Leben bestimmter Zeitepochen sowie für die politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse und Geschehensabläufe hat. Diese Bedeutung kann aus allen Zweigen der Geschichte hergeleitet werden, etwa aus der politischen Geschichte, der Militär-, Religions-, Wirtschafts-, Geistes-, Technik-, Kunst- oder Sozialgeschichte,</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. April 2004 - 8 A 687/01 -, juris Rn. 51, m.w.N; Urteil vom 2. April 1998 - 10 A 6950/95 -, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urteile vom 28. Januar 2021 - 28 K 823/18 -, juris Rn. 84 und vom 30. Januar 2020 - 28 K 7833/19 -, juris Rn. 30.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Nach den Stellungnahmen des Beigeladenen, dessen Amt für Denkmalpflege die Rolle unparteilicher, fachlich weisungsungebundener Gutachter zugewiesen ist (vgl. § 22 Abs. 4 Halbsatz 1 DSchG NRW) und von denen sachkundige Stellungnahmen zur Schutzwürdigkeit von Baudenkmälern erwartet werden können, ist das Gebäude in seiner Kubatur sowie mit seiner straßenseitigen Fassade bedeutend. Eine tragfähige Grundlage für denkmalfachliche Feststellungen bieten solche Stellungnahmen nur dann nicht, wenn sie widersprüchlich oder unschlüssig sind oder von falschen Voraussetzungen ausgehen.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2016 – 10 A 660/15 –, juris, Rn. 7 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Dies ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Der Beigeladene hat in seinen Stellungnahmen den historischen Hintergrund sowie die Baugeschichte des Wohnhauses hinreichend aufgearbeitet. Danach habe der ursprüngliche Eigentümer I1.        N.     im Jahr 1913 das heute überkommene Gebäude errichtet, nachdem der eingeschossige in Mischbauweise errichtete Vorgängerbau niedergebrannt war. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt habe N.     das Gebäude an den jüdischen Viehhändler T.     veräußert, der es an seine Schwester S.    H.           vererbte, die es im Jahr 1939 an den jüdischen Gewerbetreibenden Q.    verkaufte. Bis zum Zeitpunkt der Novemberpogrome 1938 sei der jüdische Haus- und Grundbesitz in E.      in fremde Hände übergegangen. Nur das Haus an der D.          Straße -- habe sich noch im Eigentum des jüdischen I2.    Q.    befunden. Dies stelle eine Seltenheit dar. Ab 1939 habe das Wohnhaus als sogenanntes „-----haus“ gedient. Nach den Novemberpogromen seien die Nationalsozialisten unter Berufung auf die „Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens“ dazu übergegangen, die verbliebenen Juden auch räumlich von der übrigen Bevölkerung zu trennen. So sei auch in E.      die verbliebene jüdische Bevölkerung zur vollständigen Isolation und Vorbereitung der Deportation im „-----haus“ an der D.          Straße konzentriert worden. Die jüdische Gemeinde der Beklagten sei der Machtergreifung bis zum 31. Dezember 1938 auf 44 Mitglieder geschrumpft. Diese hätten im Juni 1939 ins „-----haus“ an der D.          Straße umziehen müssen. Am 31. Dezember 1939 seien noch 20 Personen in dem Haus untergebracht gewesen. Im Mai 1941 hätten noch 10 Personen im „------haus“ gelebt. Im April 1942 seien die letzten zwei Bewohner – I2.    und Sara Q.    – nach Riga deportiert worden. Im Anschluss sei das Eigentum an dem Wohnhaus auf die Beklagte übergegangen, die es in den 1950er Jahren an die Familie des Klägers veräußert habe.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Erhebliche Widersprüche, Unschlüssigkeiten oder falsche Feststellungen sind in den Ausführungen des Beigeladenen und in der Folge der Beklagten nicht zu erkennen. Dass sich sie sich im Wesentlichen auf Sekundärliteratur berufen, ist nicht zu beanstanden. Denn die Primärquellen zu diesem Thema sind in großen Teilen vernichtet worden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der zitierten Quelle I3.     C.      um einen Zeitzeugen und studierten Historiker gehandelt hat, von dem eine zutreffende Einschätzung erwartet werden kann. Diese Beurteilung wird durch den Umstand gestützt, dass seine Angaben, wonach sich im Mai/ Juni 1941 noch zehn Personen im „-----haus“ an der D.          Straße aufhielten (vgl. ------ Heimtatblätter, 1993, Heft 3/4, S. 3), von der noch existenten Primärquelle „Liste der am 10.12.1941 von der Staatspolizeileitstelle N1.       nach Riga deportierten Juden“ bestätigt werden. Anhaltspunkte dafür, dass seine übrigen Einschätzungen an der Wirklichkeit vorbei gehen könnten, sind nicht ersichtlich. Soweit der Kläger insofern rügt, dass die Beklagte und der Beigeladene unter Bezugnahme auf Sekundärquellen zunächst davon ausgegangen seien, dass sich in dem „-----haus“ 44 Personen aufgehalten hätten und später von 30 Personen die Rede gewesen sei, lässt sich dies daraus erklären, dass die jüdische Gemeinde Dülmens am 31. Dezember 1938 44 Mitglieder aufwies, der Bezug des „-----hauses“ jedoch erst im Juni 1939 erfolgte. Die sinkenden Zahlen der jüdischen Bevölkerung in E.      in den Jahren 1933 bis 1941 greift C.      bereits in der Festschrift aus dem Jahr 1961 auf. Dies steht in keinem Widerspruch zu seinen weiteren Publikationen. Dass sich die Bewohnerzahlen im Laufe der Zeit durch Wegzug, Tod und Deportation verändert haben, liegt in der Natur der Sache. Dies haben auch der Beigeladene und die Beklagte im Rahmen des Eintragungsverfahrens zugrunde gelegt. Eine andere Beurteilung folgt auch nicht aus den von dem Kläger vorgelegten Zeitungsartikeln. Vielmehr bestätigt der Artikel „Von E.      über Riga in den Tod“ vom 30. November 1990 die Feststellungen von C.      und aus der Deportationsliste. Über die Situation des Hauses an der D.          Straße vor der Deportation im Jahr 1941 verhält er sich nicht. Ob die für den Artikel „Die beiden letzten Juden in E.      “ interviewten Zeitzeugen von einem „-----haus“ berichtet haben, ist unklar. Sie werden zwar in dem Artikel insofern nicht zitiert. Dies erklärt sich aber ohne weiteres aus dem Thema des Interviews, nämlich dem Leben der Eheleute Q.    nach der Deportation ihrer Tochter D1.         und der übrigen noch in E.      lebenden jüdischen Personen. Im Übrigen ordnet auch dieser Zeitungsartikel das Haus an der D.          Straße als „-----haus“ ein. Soweit der Kläger anmerkt, dass auf den Meldekarten der aus dem Objekt heraus deportierten Juden teilweise noch andere Wohnsitze aufgeführt werden, erklärt sich dies dadurch, dass dort noch der Wohnort vor der Zwangseinweisung aufgeführt wurde. Dass diese Personen in das Haus an der D.          Straße -- (heute --) eingewiesen worden waren, ergibt sich nachweislich aus der Deportationsliste.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat unter Berücksichtigung des Vorbingens der Beteiligten keinen Zweifel, dass die gesamte jüdische Bevölkerung in den Jahren 1939 bis 1942 und damit anfänglich ca. 30 Personen in dem Wohnhaus D.          Straße -- zusammengezogen wurde.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der Beigeladene und die Beklagte haben auch die ortsgeschichtliche Bedeutung des Wohnhauses D.          Straße -- in E.      schlüssig dargelegt: Das Haus sei aufgrund seiner spezifischen Nutzung als „-----haus“ in den Jahren 1939 bis 1942 bedeutend für die Geschichte der Menschen in E.      . Als historischer Ort der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung -------dokumentiere das Gebäude sowohl das Leben und Leiden der -------- Juden als auch die Untaten des antisemitischen Regimes. Der nationalsozialistische Vernichtungsapparat erschließe sich an authentischen historischen Orten auf lokaler Ebene wie dem streitgegenständlichen Wohnhaus. Hier zeige sich insbesondere an der Lage inmitten der städtischen Gemeinschaft und der Gebäudekubatur mit der Unterbringung von rund 30 Personen in der überbelegten Wohnung der menschunwürdige Umgang des antisemitischen Regimes mit Juden. Der überlieferten Fassade komme Denkmalwert zu, da durch sie dokumentiert werde, dass die jüdische Bevölkerung ab 1939 in einem bestehenden und vor allem damals im jüdischen Besitz befindlichen Gebäude zusammengezogen wurde. Die Umnutzung jüdischer Immobilien zur Zwangseinweisung der wohnraumenteigneten Juden und damit ihre Konzentration vor der Deportation sei übliches Vorgehen gewesen. Die überlieferte Straßenfassade des Wohnhauses D.          Straße -- in E.      dokumentiere damit die gängige sozialsozialistische  Praxis, jüdische Immobilien umzunutzen, um dort die wohnraumenteigneten Juden der Gemeinde vor ihrer Deportation zu konzentrieren. Bei dem ehemaligen ------haus D.          Straße -- handele es sich um den letzten überlieferten, zentralen Ort jüdischen Lebens in E.      . An diesem manifestierten sich baulich-räumlich die Verbrechen des Nationalsozialismus an der jüdischen Bevölkerung auf lokaler Ebene.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Dieser Bewertung schließt sich das Gericht an.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung des Klägers sind an dem Wohnhaus in seiner Kubatur und Lage der Umgang des nationalsozialistischen Regimes mit den -------- Juden und ihre Lebensumstände – insbesondere in der Zeit von 1938 bis 1942 – ablesbar. Dabei kommt es auf die genaue Anzahl der dort eingewiesenen Juden nicht an. Selbst wenn dort in der gesamten Zeit von 1939 bis 1941 „nur“ zehn Personen aus unterschiedlichen Familien gegen ihren Willen gemeinsam untergebracht worden sind, kann anhand der Kubatur und Lage des Wohnhauses ihr Leben in beengten Verhältnissen und der unmenschliche Umgang der Nationalsozialisten mit der jüdischen Bevölkerung veranschaulicht werden. In dem Zusammenhang kommt es nicht nur auf den mathematisch zur Verfügung stehenden Raum an. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, dass es sich um ein Einfamilienhaus handelte, das nicht für die Unterbringung mehrerer Familien ausgestattet war und die dort lebenden Menschen aufgrund der nationalsozialistischen Gesetzgebung entrechtet und ausgegrenzt wurden. Jedoch ist das Gericht – wie oben ausgeführt - anhand der vorliegenden Quellen davon überzeugt, dass sich anfänglich circa 30 Personen in dem Wohnhaus aufhalten mussten und somit auch rein mathematisch eine räumliche Enge gegeben war. Die Lage des Hauses inmitten der städtischen Gemeinschaft macht zudem deutlich, dass der Umgang mit den jüdischen Mitbürgern der -------- Bevölkerung nicht verborgen geblieben sein kann. Die straßenseitige Fassade dokumentiert, dass die jüdische Bevölkerung in einem bestehenden Gebäude zusammengezogen wurde. Diese Erwägung findet sich bereits in dem Eintragungsbescheid, sodass die Rüge des Klägers, die Beklagte habe in unzulässiger Weise Gründe nachgeschoben, ins Leere geht. Mit Blick auf seine Nutzung „-----haus“ ist das Objekt in besonderem Maße geeignet, den Umgang der Nationalsozialisten mit der jüdischen Bevölkerung aufzuzeigen und zu erforschen. Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf die Ausführungen von G2.    M.    in dem Aufsatz „Leben in den ----------- ------häusern“ die Auffassung vertritt, bei dem Objekt handele es sich nicht um ein „-----haus“ folgt das Gericht dem nicht. Die von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung aus dem Aufsatz herausgefilterten Kriterien für das Vorliegen eines „-----hauses“ sind nicht allgemeingültig und auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Denn in dem Artikel werden ausdrücklich die „--------- -----häuser“ beleuchtet, also die ----häuser in der Stadt mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde. G2.    M.    selbst weist ausdrücklich darauf hin, dass die Situation in den verschiedenen Städten und damit die Zahl, Lage und Art der „-----häuser“ sehr unterschiedlich war (vgl. Bl. 107, Abs. 1 der Schriftenreihe Jüdisches Leben in Deutschland, Bl. 108 der Gerichtsakte). Insofern kann weder aus dem Fehlen eines Listeneintrages noch aus dem Umstand, dass es sich nicht um ein unattraktives Gebäude am Stadtrand handelte, geschlossen werden, dass das streitgegenständlichen Objekt kein „-----haus“ war. Gleiches gilt für den Umstand, dass unbekannt ist, ob das Haus durch ein Papier- oder Pappstern gekennzeichnet war. Maßgeblich ist vielmehr die hier vorliegende zwangsweise Einweisung der jüdischen Bevölkerung in das Objekt. Dabei ist ohne Belang, ob der Zwang zu einer Umsiedlung oder zur Aufnahme weiterer Juden in der eigenen Wohnung führte (so auch G2.    M.    in ihrem Aufsatz, s. S. 107, Abs. 2 der Schriftenreihe Jüdisches Leben in Deutschland, Bl. 108 der Gerichtsakte).</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den von dem Kläger ins Feld geführten baulichen Veränderungen. Die für den Denkmalwert erforderliche besondere Bedeutung einer Sache entfällt wegen baulicher Veränderungen nur dann, wenn sie insgesamt auf Dauer ihre ursprüngliche Identität verloren hat, was nicht der Fall ist, wenn sie nach den Veränderungen mit ihrem historischen Dokumentationswert und mit den ihren Denkmalwert begründenden Merkmalen im Wesentlichen noch vorhanden ist und die ihr als Denkmal zugedachte Funktion, Aussagen über bestimmte Vorgänge oder Zustände geschichtlicher Art zu dokumentieren, noch erfüllen kann.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Februar 2017 - 10 A 2568/15 -, juris Rn. 8 und Urteil vom 12. September 2006 - 10 A 1541/05 -, juris Rn. 59.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Es entspricht gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung, dass eine historische Bausubstanz im Laufe der Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte mit seinen Reparatur- und Sanierungsmaßnahmen „durch die Zeit“ geht. Eine Denkmaleigenschaft entfällt regelmäßig nicht schon dann, wenn im Laufe der Zeit Teile des Denkmalobjektes im Zuge üblicher Erhaltungsmaßnahmen ausgetauscht werden. Selbst wenn dies über Generationen hinweg dazu führt, dass der überwiegende Teil der Originalsubstanz nach und nach durch Material aus der Zeit der jeweiligen Erhaltungsmaßnahmen ersetzt wird, fällt die Denkmaleigenschaft nicht weg. Denn ein derartiges Gebäude ist auf den fortwährenden Austausch abgängiger Bestandteile angelegt.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urt. v. 4. Mai 2009 – 10 A 699/07 -, juris, Rn. 33; Beschl. v. 29. November 2016 – 10 A 660/15 -, juris, Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben haben die baulichen Veränderungen keinen Einfluss auf den Denkmalwert des Wohnhauses D.          Straße --. In Bezug auf die Kubatur sind keine Veränderungen vorgenommen worden. An der unter Schutz gestellten straßenseitigen Fassade sind zwar Kunststofffenster eingebaut worden. Jedoch ist es nicht so, dass moderne Materialien bei der Renovierung von Baudenkmälern generell keine Verwendung finden dürften. Die gesetzlich geforderte sinnvolle Nutzung von Baudenkmälern kann auch die Verwendung solcher Materialien jedenfalls dann gestatten, wenn ihr Einsatz für den jeweiligen Denkmalwert keine besondere Bedeutung hat und die konkrete Ausführung auf das Erscheinungsbild des Denkmals angemessen Rücksicht nimmt.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urt. v. 20. März 2018 – 10 A 2580/16 -, juris Rn. 50.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">b. Für die Erhaltung und Nutzung des Gebäudes liegen auch wissenschaftliche Gründe für seine Erhaltung vor. So führt der Beigeladene in seiner fachlichen Stellungnahme bzw. seiner Klageerwiderung überzeugend aus: Es handele sich um einen Vermittlungsort, der Ortsgeschichte greifbar und begreifbar mache. Über das lokale wissenschaftliche Interesse hinaus könne das ------haus auch für die allgemeine Beschäftigung mit dem Phänomen ------ bzw. ------haus als Mittel nationalsozialistischer Vernichtungspolitik von Bedeutung für die Geschichtshistoriografie sein. Nicht nur augenscheinliche Orte, sondern gerade die inmitten der städtischen Gemeinschaft gelegenen Orte von Ausgrenzung und Isolationen – wie die -----häuser – verdeutlichten die Verbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen Bevölkerung. Für die Vermittlung der deutschen Geschichte an kommende Generationen bedürfe es der authentischen Orte an denen sich die historischen Ereignisse heute noch ablesen bzw. erläutern lassen. Die -----häuser spielten im Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung eine zentrale Rolle. Es bedürfe insoweit keiner restlosen Ausforschung der durch das Objekt vermittelten historischen Bezüge. Es solle vielmehr für weitere Forschung gesichert werden und nachfolgenden Generationen als Quelle hierfür zur Verfügung stehen. Dabei könne nie ausgeschlossen werden, dass durch nachzeitige aufkommende Forschungsmethoden oder das Auffinden zum Zeitpunkt der Eintragung unbekannter Quellen hier eine genauere Erkenntnis zum/am/über das Objekt möglich werden wird/kann. Dem schließt sich das Gericht an.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">3. Mit Blick darauf, dass es sich bei der Eintragung eines Denkmals in die Denkmalliste nach § 3 DSchG NRW um eine gebundene Entscheidung handelt, ist – unabhängig von der Frage der örtlichen Zuständigkeit – für eine Selbstbindung der Beklagten und einen darauf gestützten Anspruch auf Gleichbehandlung kein Raum. Insofern sind die Ausführungen des Klägers zum I4.    C1.        in C2.   P.          ohne Belang.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nach §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO nicht erstattungsfähig. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
346,605
vghbw-2022-09-06-12-s-136522
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12 S 1365/22
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-17T10:01:51"
"2022-10-17T11:10:16"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. Mai 2022 - 9 K 1919/22 - wird verworfen.</p><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens.</p><p/> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>I. Der im Juni 2017 geborene Antragsteller wendet sich mit seiner Beschwerde gegen einen mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.05.2022, mit dem sein Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, ihm einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung im Umfang von sechs Stunden werktäglich ab sofort nachzuweisen, als unzulässig abgelehnt worden ist. Das Verwaltungsgericht war zu der Auffassung gelangt, der Antrag sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil die Eltern des Antragstellers nach ihrer Kündigung des vorherigen Betreuungsplatzes des Antragstellers im November 2021 weder gegenüber dem Antragsgegner noch gegenüber der Stadt P. ihren Bedarf für einen Betreuungsplatz angemeldet hätten. Ohne vorherigen Antrag bei der Behörde bestehe in der Regel kein Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Der Antragsteller habe auch nicht davon ausgehen können, dass dem Antragsgegner aufgrund der vorherigen Anmeldungen der Bedarf bereits bekannt gewesen sei. Gründe, die ausnahmsweise zur Bejahung des Rechtsschutzbedürfnisses auch ohne vorherigen Antrag bei der Behörde sprechen würden, seien nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Das Verfahren des Antragstellers wurde bei dem Verwaltungsgericht in Papierform geführt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Gegen den seinem Verfahrensbevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis am 20.05.2022 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 31.05.2022 Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung wurde einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Die über das besondere elektronische Anwaltspostfach (§ 31a BRAO) eingereichte und mit einer unter dem Text angefügten Namenswiedergabe des Verfahrensbevollmächtigten versehene Beschwerde ist am 01.06.2022 bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart eingegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Schreiben vom 13.06.2022, per Post am 20.06.2022 bei dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg eingegangen, hat das Verwaltungsgericht den Ausdruck des elektronischen Rechtsverkehrs zur Beschwerde (bestehend aus dem Eingangsblatt, dem Inhalt der Dokumente [Beschwerdeschrift vom 31.05.2022] und dem Transfervermerk) vorgelegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit Eingangsverfügung der Senatsvorsitzenden vom 21.06.2022 wurde der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers auf § 146 Abs. 4 VwGO hingewiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Mit an das Verwaltungsgericht Stuttgart adressiertem (und das erstinstanzliche Aktenzeichen angebenden) Schriftsatz vom 13.06.2022, bei diesem Gericht über das besondere elektronische Anwaltspostfach am 14.06.2022 um 15:08 Uhr eingegangen, hat der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers die Beschwerde begründet. Die nicht qualifiziert elektronisch signierte Beschwerdebegründung enthält unter dem Dokumententext eine Namenswiedergabe des Verfahrensbevollmächtigen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit Schreiben vom 15.06.2022, eingegangen am 24.06.2022, hat das Verwaltungsgericht Stuttgart dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einen Ausdruck zum elektronischen Rechtsverkehr zur Beschwerdebegründung (bestehend aus dem Eingangsblatt, dem Dokumenteninhalt [Begründungsschriftsatz vom 13.06.2022 nebst Anlagen] sowie dem Transfervermerk) vorgelegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Mit Verfügung des Senats vom 27.06.2022 wurde der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers auf Bedenken hinsichtlich der Wahrung der Beschwerdebegründungsfrist hingewiesen. Es wurde auf § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO und unter anderem auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 16.02.2022 - OVG 10 S 42/21 -, juris Rn. 6, Bezug genommen und ausgeführt, dass ein rechtzeitiger Eingang bei dem Verwaltungsgericht zur Fristwahrung nicht genüge.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Mit Schriftsatz vom 30.06.2022, bei dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg am selben Tag eingegangen, hat der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers unter Bezugnahme auf die Eingangsverfügung des Senats vom 21.06.2022 „die eingereichte Beschwerdebegründung“ um einen ausdrücklichen Beschwerdeantrag „ergänzt“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Mit Schreiben vom 04.07.2022 ist der Antragsgegner der Beschwerde entgegengetreten. Die Beschwerde genüge mehrfach nicht den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 1 bis 3 VwGO. Die Beschwerde sei verspätet begründet worden. Sie sei nicht innerhalb der Monatsfrist zum Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg gelangt. Sie sei auch nicht bei dem Verwaltungsgerichtshof, sondern bei dem Verwaltungsgericht eingereicht worden. Die Beschwerdebegründung vom 14.06.2022 enthalte zudem entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO keinen Antrag. Der Schriftsatz vom 30.06.2022 sei verspätet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Mit Schriftsatz vom 07.07.2022 hat der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers zur gerichtlichen Verfügung vom 27.06.2022 Stellung genommen. Es sei davon auszugehen, dass die Beschwerdebegründungsfrist eingehalten sei. Die Begründung sei zwar am 14.06.2022 bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart eingegangen. Es handele sich dabei jedoch nicht um einen ähnlich gelagerten Fall wie in dem vom Senat angeführten Fall des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg. Dort sei die Beschwerdebegründung zwar auch bei einem unzuständigen Gericht eingereicht worden, allerdings sei dort hinzugekommen, dass die Begründung erst am letzten Tag der gesetzten Frist eingegangen sei. Somit habe für das unzuständige Gericht keine Möglichkeit bestanden, den Schriftsatz fristwahrend an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Hier jedoch sei die Begründung schon am 14.06.2022 eingegangen, also sechs Tage vor dem Fristablauf. Gemäß einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehe insbesondere in Fällen, in denen das unzuständige Gericht bereits mit der Sache befasst gewesen sei, eine Fürsorgepflicht des Gerichts. Diese Fürsorgepflicht bestehe entweder darin, die Partei rechtzeitig zu informieren, dass die Beschwerde bei dem falschen Gericht eingelegt worden sei, oder aber darin, für eine fristwahrende Weiterleitung des Schriftsatzes zu sorgen. Vorliegend sei eine fristwahrende Weiterleitung nicht erfolgt. Grundsätzlich müsste nach Einführung der elektronischen Akte in Baden-Württemberg und der Möglichkeit der sicheren Übermittlung von Schriftsätzen auf elektronischem Wege davon auszugehen sein, dass eine fristwahrende Weiterleitung innerhalb von sechs Tagen möglich sein sollte. Zudem habe der Senat unter dem 21.06.2022 auf § 146 Abs. 4 VwGO hingewiesen. Dies sei schon nach Ablauf der Frist erfolgt. Damit habe eine fristwahrende Einreichung der Beschwerdebegründung nicht mehr erreicht werden können. Die Ergänzung der Beschwerdebegründung sei dann als Reaktion auf den Hinweis des Senats auch direkt an den Verwaltungsgerichtshof gesendet worden. Hinzu komme, dass vor Erhalt der gerichtlichen Verfügung vom 21.06.2022 kein Aktenzeichen des Verwaltungsgerichtshofs bekannt gewesen sei, sodass eine Zuordnung vor Ort nicht möglich gewesen wäre. In anderen Fällen erfolge der Hinweis auf das Aktenzeichen durch das nächsthöhere Gericht so pünktlich, dass eine fristwahrende Einreichung der Beschwerdebegründung möglich sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts und des Senats sowie auf die vom Antragsgegner vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>II. Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Sie ist gemäß § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO als unzulässig zu verwerfen, weil die Beschwerdebegründungsfrist nicht gewahrt und dem Antragsteller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO ist die Beschwerde gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80, 80a und 123 VwGO) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie - wie hier - nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, gemäß § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO bei dem Oberverwaltungsgericht (hier gemäß § 184 VwGO, § 1 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg) einzureichen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Hiernach ist die Beschwerdebegründungsfrist, über die in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Beschlusses zutreffend belehrt und auf die auch in der Eingangsverfügung der Senatsvorsitzenden vom 21.06.2022 hingewiesen worden ist, nicht gewahrt. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses wurde der angefochtene Beschluss dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers am 20.05.2022 zugestellt. Demzufolge lief die Beschwerdebegründungsfrist mit Ablauf des 20.06.2022 ab (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO i.V.m. § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Innerhalb dieser Frist ist eine Beschwerdebegründung bei dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg nicht eingegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die Begründungsfrist ist auch nicht durch die an das Verwaltungsgericht Stuttgart adressierte Beschwerdebegründung vom 13.06.2022 gewahrt. Zwar ist diese dort am 14.06.2022 und mithin noch innerhalb der Frist eingegangen. Ein fristgerechter Eingang bei dem erstinstanzlichen Gericht genügt ausweislich des klaren Wortlauts des § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO aber nicht (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.02.2022 - OVG 10 S 42/21 -, juris Rn. 6; Happ in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 146 Rn. 20; Rudisile in: Schoch/Schneider, VwGO, § 146 Rn. 13b <Stand: 05/2018>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dem Antragsteller nicht zu gewähren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm nach § 60 Abs. 1 VwGO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Verschuldet ist eine Fristversäumung, wenn der Beteiligte nicht die Sorgfalt hat walten lassen, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den gesamten Umständen zuzumuten ist (BVerwG, Beschluss vom 21.12.2021 - 9 B 19.21 -, juris Rn. 12). Nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO steht dabei das Verschulden des Prozessbevollmächtigten dem Verschulden des Beteiligten gleich. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Nach diesem Maßstab ist dem Antragsteller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren, da die Beschwerdebegründungsfrist von dem Bevollmächtigten des Antragstellers nicht unverschuldet versäumt worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Das Fristversäumnis beruht auf einer vom Bevollmächtigten des Antragsstellers verschuldeten Einreichung der Beschwerdebegründung bei einem unzuständigen Gericht. Angesichts der eindeutigen Regelung in § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO und den Ausführungen in der dem angefochtenen Beschluss beigefügten Rechtsmittelbelehrung war es offenkundig, dass die Beschwerdebegründung - sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist - bei dem Verwaltungsgerichtshof und nicht bei dem Verwaltungsgericht einzureichen war. Bei einer rechtlich geschuldeten Durchsicht seines Schriftsatzes nebst Ausgangskontrolle hätte es dem Bevollmächtigten des Antragstellers auffallen müssen, dass der Schriftsatz an das unzuständige Gericht adressiert und gesendet worden war (zu den anwaltlichen Sorgfaltspflichten bei der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs vgl. auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 31.03.2022 - 11 ZB 22.39 -, juris Rn. 4; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.02.2022 - 2 A 2940/21 -, juris Rn. 6). Ein Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts ist regelmäßig nicht unverschuldet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.10.2021 - 8 C 4.21 -, juris Rn. 16; BSG, Beschluss vom 18.11.2020 - B 1 KR 1/20 B -, juris Rn. 17; BAG, Beschluss vom 05.06.2020 - 10 AZN 53/20 -, juris Rn. 37). Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend ausnahmsweise eine andere Beurteilung geboten sein könnte, sind weder vorgebracht worden noch sonst ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Ursächlichkeit des dem Antragsteller zuzurechnenden Verschuldens seines Verfahrensbevollmächtigten für das Fristversäumnis ist auch nicht deshalb entfallen, weil das Verwaltungsgericht Stuttgart die bei ihm am 14.06.2022 und mithin sechs Tage vor dem Fristablauf eingegangene Beschwerdebegründung fristwahrend an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hätte weiterleiten müssen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Aus der auf dem Gebot eines fairen Verfahrens beruhenden Fürsorgepflicht des erstinstanzlichen Gerichts für die Prozessbeteiligten folgt, dass es fristgebundene Schriftsätze des Rechtsmittelverfahrens, die bei ihm eingereicht werden, im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterleiten muss. Die Weiterleitung hat ohne schuldhaftes Zögern zu erfolgen. Allerdings braucht das unzuständige Gericht den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten nicht die Verantwortung für die Einhaltung der Formalien abzunehmen. Mit der Formulierung „ordentlicher Geschäftsgang“ ist deshalb gemeint, dass die Vorinstanz zu Eilmaßnahmen rechtlich nicht verpflichtet ist. So muss sie weder den Beteiligten, der seinen Schriftsatz irrtümlich bei ihr eingereicht hat, durch Telefonat oder Telefax auf diesen Irrtum hinweisen, noch muss sie den Schriftsatz selbst etwa per Telefax an das Rechtsmittelgericht weiterleiten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.12.2021 - 9 B 19.21 -, juris Rn. 18). Geht der Schriftsatz so zeitig bei dem mit der Sache befasst gewesenen Gericht ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden kann, darf die Partei nicht nur darauf vertrauen, dass der Schriftsatz überhaupt weitergeleitet wird, sondern auch darauf, dass er noch fristgerecht bei dem Rechtsmittelgericht eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, so ist der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unabhängig davon zu gewähren, auf welchen Gründen die fehlerhafte Einreichung beruht. Mit dem Übergang des Schriftsatzes in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Gerichts wirkt sich ein etwaiges Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.06.1995 - 1 BvR 166/93 -, juris Rn. 48).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Dies zugrunde gelegt, ist das Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers nicht durch ein in der Sphäre des Verwaltungsgerichts Stuttgart liegendes Verschulden überlagert worden. Zwar traf das Verwaltungsgericht als mit der Sache vorbefasstem Gericht nach dem dargestellten Maßstab grundsätzlich die Verpflichtung, fristgebundene Schriftsätze des Rechtsmittelverfahrens, die bei ihm eingereicht werden, im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Dies führt hier aber nicht zu einem für den Antragsteller günstigeren Ergebnis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Dem Verwaltungsgericht kann zunächst eine verspätete Weiterleitung der (ausgedruckten) Beschwerdebegründung per Post nicht vorgeworfen werden. Eine postalische Weiterleitung des Schriftsatzes durch das Verwaltungsgericht war vorliegend nicht veranlasst. Seit Inkrafttreten des mit dem Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013 (ERVGerFöG; BGBl. I 2013, 3786) in die Verwaltungsgerichtsordnung eingefügten § 55d VwGO am 01.01.2022 (vgl. Art. 26 Abs. 7 und Art. 5 Nr. 4 ERVGerFöG) ist eine - bis zum 31.12.2021 noch formwahrend möglich gewesene - postalische Weiterleitung einer anwaltlichen Beschwerdebegründung nicht mehr geeignet, eine Beschwerdebegründung im Sinne von § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO zu bewirken. Denn bezogen auf den maßgeblichen Zugang bei dem nach § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO zuständigen Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg fehlt es bei einem Eingang der Beschwerdebegründung lediglich in Schriftform im Sinne des § 126 Abs. 1 BGB an den Voraussetzungen des § 55d Satz 1 VwGO. Nach § 55d Satz 1 VwGO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die - wie hier - durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Nach § 55a Abs. 3 Satz 1 VwGO muss das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Diese Voraussetzungen liegen bei einer postalischen Übersendung des (ausgedruckten) Dokuments von Gericht zu Gericht nicht vor. Auch ein Ausnahmefall nach § 55d Satz 3 und 4 VwGO ist nicht gegeben. Auf die Einhaltung der elektronischen Form kann nicht verzichtet werden (vgl. zu alledem auch OLG Bamberg, Beschluss vom 02.05.2022 - 2 UF 16/22 -, juris Rn. 20 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Ungeachtet vorstehender Ausführungen führt auch der Umstand, dass das Vorlageschreiben des Verwaltungsgerichts vom 15.06.2022 (einen Tag nach Eingang der Beschwerdebegründung beim Verwaltungsgericht) datiert, nicht zu einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Denn ausgehend vom Datum 15.06.2022 hätte es einem ordentlichen Geschäftsgang auf jeden Fall noch entsprochen, die Beschwerdebegründung - da es sich bei dem 16.06.2022 in Baden-Württemberg um einen gesetzlichen Feiertag (Fronleichnam) handelte - am Freitag, 17.06.2022, bei der Post aufzugeben. Dann aber hätte mit einem Eingang der (ausgedruckten) Beschwerdebegründung bei dem Verwaltungsgerichtshof frühestens am folgenden Werktag (Samstag, 18.06.2022) oder am Montag, 20.06.2022, gerechnet werden können (vgl. zu den Postlaufzeiten § 2 Nr. 3 Satz 1 Post-Universaldienstleistungsverordnung [PUDLV] vom 15.12.1999). Bei dem Verwaltungsgerichtshof hätte das Schreiben mit der Beschwerdebegründung zunächst von der Poststelle zur Geschäftsstelle und von dort zur zuständigen Berichterstatterin gelangen müssen, damit von dieser die Entscheidung hätte getroffen werden können, wie hinsichtlich der (nun wieder eingescannten) Beschwerdebegründung weiter zu verfahren ist. Die entsprechende Verfügung hätte sodann an die Geschäftsstelle übermittelt und ausgeführt werden müssen. Unter Berücksichtigung dieser Abläufe wäre ein dann wohl erfolgter Hinweis des Senats darauf, dass die hier in Papierform eingegangene Beschwerdebegründung den Formanforderungen nicht genügt und die Beschwerdebegründung zudem bei dem unzuständigen Gericht eingereicht worden ist, im ordentlichen Geschäftsgang frühestens am 21.06.2022 - nach Fristablauf - zu erwarten gewesen, sodass ein Verschulden des Gerichts (gleichgültig, ob Verwaltungsgericht oder Verwaltungsgerichtshof) in diesem Vorgang nicht zu erkennen ist. Angesichts dessen wirkt es sich auch nicht mehr aus, dass die Beschwerdebegründung tatsächlich erst am 24.06.2022 bei dem Verwaltungsgerichtshof eingegangen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Dem Verwaltungsgericht kann ferner nicht in einer den Antragsteller vom Verschuldensvorwurf entlastenden Weise angelastet werden, dass es die an das Verwaltungsgericht Stuttgart adressierte und bei ihm vom Verfahrensbevollmächtigen des Antragstellers über das besondere elektronische Anwaltspostfach eingereichte Beschwerdebegründung nicht elektronisch an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg weitergeleitet hat. Dabei kann offen bleiben, ob eine Weiterleitung eines - wie hier - über das besondere elektronische Anwaltspostfach eingereichten, lediglich - einfach - (vgl. Ulrich in: Schoch/Schneider, VwGO, § 55a Rn. 86 <Stand: 02/2022>) signierten, nicht aber qualifiziert elektronisch signierten Dokuments überhaupt geeignet wäre, eine formwirksame Beschwerdebegründung zu bewirken. Dies könnte deshalb fraglich sein, weil ein elektronisches Dokument, das aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach versandt wird und - wie hier - nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht ist, wenn die das Dokument signierende und damit verantwortende Person mit der des tatsächlichen Versenders übereinstimmt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.10.2021 - 8 C 4.21 -, juris Rn. 4; BSG, Beschluss vom 18.11.2020 - B 1 KR 1/20 B -, juris Rn. 11; BAG, Beschluss vom 05.06.2020 - 10 AZN 53/20 -, juris Rn. 14). Hintergrund dieser Rechtsprechung ist der Gedanke, dass die Authentizität und Integrität der Daten gewährleistet sein sollen (vgl. BSG, Beschluss vom 18.11.2020 - B 1 KR 1/20 B -, juris Rn. 13 f.; BVerwG, Beschluss vom 12.10.2021 - 8 C 4.21 -, juris Rn. 5; BAG, Beschluss vom 05.06.2020 - 10 AZN 53/20 -, juris Rn. 18). Ob dieser Zweck auch dann als gewahrt angesehen werden kann, wenn ein nur einfach signiertes Dokument von einem Gericht an ein anderes Gericht elektronisch weitergeleitet wird und die mit Blick auf das besondere elektronische Anwaltspostfach notwendigen Angaben - wie hier aus dem Ausdruck zum elektronischen Rechtsverkehr - ersichtlich sind (zur Wirksamkeitsproblematik vgl. etwa auch VG Halle, Urteil vom 15.11.2015 - 5 A 235/21 -, juris Rn. 27, sowie Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 18.08.2022 - 102 VA 68/22 -, juris Rn. 24), kann vorliegend dahinstehen. Denn für eine Überlagerung des Verschuldensvorwurfs des Antragstellers durch einen solchen des Verwaltungsgerichts fehlt es nach dem dargestellten Maßstab jedenfalls daran, dass eine elektronische Weiterleitung eines bei dem Verwaltungsgericht über das besondere elektronische Anwaltspostfach eingegangenen, an dieses Gericht adressierten Schriftsatzes zumindest hinsichtlich solcher Akten, die - wie hier - bei dem Verwaltungsgericht noch als Papierakten geführt wurden, in Baden-Württemberg nicht dem ordentlichen Geschäftsgang des Verwaltungsgerichts entspricht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Entsprechend § 1 Satz 1 der Verordnung des Justizministeriums zur elektronischen Aktenführung bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften vom 29.03.2016 (GBl. 2016, 265; eAktVO) wurde das mit hier streitgegenständlichem Beschluss vom 12.05.2022 bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart abgeschlossene Verfahren des Antragstellers dort als Papierakte geführt. Denn nach dieser Vorschrift werden bei den in der Anlage zu dieser Verordnung bezeichneten Gerichten und Staatsanwaltschaften die Akten in den genannten Verfahren ab dem angegebenen Zeitpunkt elektronisch geführt. Ausweislich V. der Anlage zu § 1 eAktVO werden bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart (erst) seit dem 01.06.2022 alle Verfahren (ohne - hier nicht vorliegende - Verfahren über die Vergabe von Studienplätzen - Numerus-Clausus-Sachen -, Disziplinarsachen, Personalvertretungssachen) elektronisch geführt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Die Beschwerdebegründung des Antragstellers vom 13.06.2022 war (neben der Angabe des erstinstanzlichen Aktenzeichens) an das Verwaltungsgericht Stuttgart - und nicht etwa an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - adressiert. Dementsprechend war der Schriftsatz vor einer weiteren Bearbeitung vom Gericht zur Akte zu nehmen. Dies hatte nach § 1 Satz 3 eAktVO in Papierform zu geschehen. Denn nach § 1 Satz 3 eAktVO werden Akten, die zum angegebenen Zeitpunkt (dem im Sinne des § 1 Satz 1 eAktVO) bei dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft - wie hier - bereits in Papierform angelegt sind, im Ganzen in Papierform geführt, sofern nicht in der Anlage für Akten in - hier nicht vorliegenden - Verfahren nach § 151 Nummer 4 und § 271 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die in Papierform angelegt wurden, ab dem in der Anlage bestimmten Zeitpunkt die Weiterführung in elektronischer Form angeordnet wird (Hybridaktenführung). Erst nach diesem Verfahrensschritt war die (Papier-)Akte sodann mit der Beschwerdebegründung dem/der zuständigen Berichterstatter/in vorzulegen, damit diese(r) entscheiden konnte, wie nun damit weiter zu verfahren war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Der Senat verkennt nicht, dass eine von einem Rechtsanwalt fälschlicherweise an das Verwaltungsgericht adressierte und gesendete Beschwerdebegründung auch dann, wenn sie dort über das besondere elektronische Anwaltspostfach eingereicht wird, nicht mehr formwirksam im ordentlichen Geschäftsgang an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg weitergeleitet werden kann, wenn das Verfahren dort in Papierform geführt wurde. Dies ist indes Folge der dargestellten gesetzlichen Bestimmungen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Das Vorbringen des Antragstellers zum Vorgehen des Senats rechtfertigt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gleichfalls nicht. Dem Senat ist kein zur Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist führendes Verschulden anzulasten. Zum einen bestand am Tag des Eingangs der Beschwerdeschrift vom 31.05.2022 bei dem Verwaltungsgerichtshof am 20.06.2022 noch kein Anlass, auf die Notwendigkeit der Einreichung der Beschwerdebegründung bei dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hinzuweisen. Denn an diesem Tag war die Beschwerdebegründungsfrist noch nicht abgelaufen und es steht einem Rechtsschutzsuchenden frei, Fristen bis zuletzt auszuschöpfen. Zum anderen ergab sich bei Eingang der Beschwerde bei dem Verwaltungsgerichtshof auch aufgrund der dem angefochtenen Beschluss angefügten Rechtsmittelbelehrung keine Notwendigkeit für einen entsprechenden Hinweis. Denn in dieser ist ausdrücklich ausgeführt, dass die Beschwerde innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen ist und dass die Begründung, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einzureichen ist. Gründe für einen entsprechenden Hinweis boten sich dem Senat vielmehr erst, nachdem das Verwaltungsgericht die bei ihm eingereichte Beschwerdebegründung vorgelegt hat. Erst aus diesen Unterlagen wurde ersichtlich, dass der Antragsteller die Beschwerdebegründung bei dem unzuständigen Gericht eingereicht hat. Im Zeitpunkt des Eingangs dieser Unterlagen bei dem Verwaltungsgerichtshof - am 24.06.2022 - war die Beschwerdebegründungsfrist aber schon abgelaufen, sodass ein Hinweis das bereits eingetretene Fristversäumnis nicht mehr hätte verhindern können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Soweit der Antragsteller schließlich geltend macht, dass in anderen Fällen der Hinweis auf das Aktenzeichen durch das nächsthöhere Gericht so pünktlich erfolge, dass eine fristwahrende Einreichung der Beschwerdebegründung möglich sei, verfängt auch dies nicht. Die Beschwerde ging bei dem Verwaltungsgerichtshof erst am 20.06.2022 - dem letzten Tag der Beschwerdebegründungsfrist - ein. Ein Hinweis auf das Aktenzeichen konnte daher im ordentlichen Geschäftsgang frühestens am folgenden Tag - nach Fristablauf - erwartet werden, was hier im Übrigen auch erfolgt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
346,545
ovgnrw-2022-09-06-6-e-64022
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
6 E 640/22
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:28"
"2022-10-17T11:10:06"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0906.6E640.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird verworfen.</p> <p>Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Das Oberverwaltungsgericht entscheidet gemäß §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 6 Satz 1 GKG über die Beschwerde durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin. Zwar hat im erstinstanzlichen Verfahren nicht ein Einzelrichter</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">gemäß § 6 VwGO entschieden, sondern die Berichterstatterin gemäß § 87a Abs. 1 Nr. 4 VwGO im Rahmen eines Beschlusses nach Abgabe übereinstimmender Hauptsacheerledigungserklärungen. Es entspricht jedoch dem Sinn des Gesetzes, dass auch in einer solchen Konstellation ein Einzelrichter über die Beschwerde entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 23.10.2018 ‑ 13 E 737/18 -, juris Rn. 1, 16.8.2017 - 18 E 594/17 -, juris Rn. 1, 27.8.2008 - 16 E 1126/08 -, juris Rn. 1; OVG Bremen, Beschluss vom 23.12.2015 - 1 S 288/15 -, NVwZ-RR 2016, 440 = juris Rn. 5; VGH Hessen, Beschluss vom 12.2.2008 - 8 E 284/08 -, LKRZ 2008, 217 = juris Rn. 2; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 2.6.2006 - 9 S 1148/06 -, NVwZ-RR 2006, 648 = juris Rn. 2 ff.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für die Übertragung der Entscheidung im Beschwerdeverfahren an den Senat nach § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG liegen nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die von der Klägerin erhobene Streitwertbeschwerde, für die gemäß den §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 5 Satz 1 GKG kein Vertretungszwang besteht, ist unzulässig.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin ist nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat den Streitwert nach § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,00 Euro festgesetzt. Die Klägerin hält die Festsetzung des Streitwerts durch das Verwaltungsgericht für unzutreffend und begehrt eine Heraufsetzung des Streitwerts auf 57.204,00 Euro. Dafür fehlt ihr jedoch das Rechtsschutzbedürfnis, denn durch die Festsetzung eines niedrigeren als von ihr für zutreffend gehaltenen Streitwerts wird ein Verfahrensbeteiligter in der Regel nicht beschwert.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Eine Streitwertbeschwerde, die auf die Heraufsetzung des vom Verwaltungsgericht festgesetzten Streitwerts abzielt, kann nur von einem Prozessbevollmächtigten eines Beteiligten aus eigenem Recht gemäß § 32 Abs. 2 RVG, § 68 Abs. 1 GKG begehrt werden. Denn nur insoweit besteht für die Beschwerde ein Rechtsschutzbedürfnis, da der Prozessbevollmächtigte damit eine Erhöhung seiner Rechtsanwaltsvergütung, die sich gemäß Anlage 2 zu § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG u. a. nach der Höhe des Gegenstands- bzw. gemäß § 32 Abs. 1 RVG des Streitwerts bemisst, bewirken kann.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin selbst hat von der begehrten Erhöhung des Streitwerts hingegen, wie sie in ihrem Beschwerdeschriftsatz selbst annimmt, keinen Vorteil. Da die Kostenlast in dem in der Hauptsache erledigten Verfahren den Beteiligten jeweils hälftig auferlegt worden ist, hätte sie im Falle der Heraufsetzung des Streitwerts höhere Kosten zu tragen. Somit kann sie durch Einlegung einer auf Erhöhung des Streitwerts gerichteten Streitwertbeschwerde ihre eigene Rechtsposition nicht verbessern. Ein schutzwürdiges Beschwerdebegehren kann regelmäßig auch nicht darin bestehen, den Prozessgegner mit höheren Kosten zu belasten. Gründe, die ausnahmsweise eine abweichende Betrachtung rechtfertigen könnten, hat die Klägerin weder dargetan noch sind solche sonst ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sächs. OVG, Beschluss vom 12.5.2016 - 3 E 47/16 -, juris Rn. 3 ff. m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 9.3.2016 - 6 E 118/16 -, juris Rn. 1; Laube in: BeckOK Kostenrecht, GKG, 38. Ed. 1.7.2022, § 68 Rn. 52 ff.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (vgl. § 68 Abs. 3 GKG).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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{ "id": 646, "name": "Amtsgericht Dorsten", "slug": "ag-dorsten", "city": 406, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Amtsgericht" }
16 M 361/22
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-13T10:01:15"
"2022-10-17T11:10:02"
Beschluss
ECLI:DE:AGRE2:2022:0906.16M361.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag des Gläubigers auf Erlass eines Haftbefehls vom 09.05.2022 wird zurückgewiesen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration: underline;">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 09.05.2022 übermittelte der Gläubiger, ein Landesamt für Bezüge und Versorgung, der Gerichtsvollzieherverteilerstelle beim Amtsgericht Dorsten einen Zwangsvollstreckungsantrag mit Antrag auf Abnahme der Vermögensauskunft einschließlich Haftbefehlsantrag aus einem besonderen Behördenpostfach (beBPo). Der Zwangsvollstreckungsantrag ging am 11.05.2022 beim zuständigen Gerichtsvollzieher ein. Er enthält den Antrag als pdf und damit einen maschinenschriftlichen Namenszug am Ende des Dokuments sowie ein eingescanntes schriftliches Siegel. Eine qualifiziert elektronische Signatur oder ein elektronisches Siegel wurden nicht verwendet. Der Gerichtsvollzieher lud den Schuldner unter dem 01.06.2022 zum Termin zur Abgabe der Vermögensauskunft für den 28.06.2022 und stellte die Ladung am 07.06.2022 persönlich zu. Im Termin erschien niemand. Daraufhin leitete der Gerichtsvollzieher den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls unter dem 28.06.2022 an das Vollstreckungsgericht weiter.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen der §§ 802g, 802c ZPO liegen nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Zwangsvollstreckungsantrag einschließlich des bedingten Antrags auf Erlass eines Haftbefehls vom 09.05.2022 ist seitens des Gläubigers nicht formgerecht, da nicht qualifiziert elektronisch signiert oder mit einem elektronischen Siegel mit denselben Attributen versehen, gestellt worden.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Zwar ist der Zwangsvollstreckungsantrag grundsätzlich unter Beachtung der Regelungen über die Einreichung von Anträgen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs gem. §§ 130a ff. ZPO übermittelt worden, da er via beBPo und damit auf einem sicheren Übermittlungsweg übersandt wurde, der - was die bloßen formellen Übermittlungsvoraussetzungen anbelangt - keiner qualifiziert elektronischen Signatur bedarf.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Eine zusätzliche qualifiziert elektronische Signatur bedarf es nach Auffassung des hiesigen Vollstreckungsgerichts jedoch gleichwohl deshalb, weil der Antrag titelersetzend im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Beschl. v. 18.12.2014 - I ZB 27/14 -, BeckRS 2015, 09433, Rn. 16, ist. Im Einzelnen heißt es dort wie folgt: Da der Zwangsvollstreckungsantrag die alleinige Voraussetzung für die Anordnung von staatlichem Zwang bis hin zu einer Freiheitsentziehung und damit die einzige Urkunde ist, die der Gerichtsvollzieher und das Vollstreckungsgericht vom Gläubiger erhalten, dürfen keine Zweifel an seiner Echtheit bestehen. Ein lediglich maschinell erstellter und nicht unterschriebener Antrag kann dies nicht sicherstellen. Es ist deshalb ein unterschriebener und mit dem Dienstsiegel versehener Vollstreckungsauftrag erforderlich. Nur dadurch wird gewährleistet, dass aus dem Schriftstück die Person erkennbar wird, die für seinen Inhalt die Verantwortung übernimmt. Dabei genügt die Wiedergabe des Namens des Verfassers in Maschinenschrift, wenn er mit einem Beglaubigungsvermerk versehen ist.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Diese Maßgaben sind auch auf den vorliegenden Fall anwendbar, in dem keine Gerichtskasse, sondern vielmehr ein Landesamt für Bezüge und Versorgung einen Vollstreckungsantrag einschließlich Haftantrag stellt: Zunächst ist eine Haftanordnung grundsätzlich dem Richter vorbehalten. Dieser Richtervorbehalt gewährleistet, dass eine unabhängige und neutrale Instanz selbst noch einmal umfassend prüft und entscheidet, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für einen solch starken Grundrechtseingriff tatsächlich gegeben sind, d.h. insbesondere ob die ersuchende Behörde den materiell-rechtlichen Tatbestand ordnungsgemäß festgestellt hat. Mit den oben dargestellten Erwägungen des Bundesgerichtshofs kann ein solcher Vertrauenstatbestand in Ermangelung eines separaten dafür Gewähr bietenden Titels nur dadurch gesetzt werden, dass auf Seiten der ersuchenden Behörde eine konkrete Person durch voll überprüfbare Zeichnung die Verantwortung hierfür übernimmt. Ob es sich bei der ersuchenden Behörde um die ZZJ oder aber ein Landesamt für Bezüge und Versorgung handelt, die beide nach JBeitrG und damit letztlich nach ZPO vollstrecken, kann aus Sicht des hiesigen Vollstreckungsgerichts keinen Unterschied machen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs können die vorgenannten Prämissen - anders als der Gläubiger meint - nun nicht schlichtweg als überholt außer Acht gelassen werden, da die genannte Rechtsprechung im Kontext einer Übermittlung in Papierform ergangen ist. Vielmehr müssen sie auf die neue Situation übertragen und fortgeschrieben werden, was nach Auffassung des hiesigen Vollstreckungsgerichts dazu führt, dass zur Erfüllung des aufgestellten qualifizierten materiell-rechtlichen Schriftformerfordernisses nunmehr die Anbringung einer qualifiziert elektronischen Signatur (oder in Ansehung von § 12 Abs. 3 VDG eines elektronischen Siegels mit denselben Attributen) erforderlich ist:</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zunächst ist es zwar zutreffend, dass im Rahmen elektronischer Antragstellung die Einreichung von Anträgen via EGVP und qualifiziert elektronischer Signatur durch die Nutzung eines sog. sicheren Übermittlungsweges - wie das auch im vorliegenden Fall genutzte beBPo - ersetzt werden kann, § 130a Abs. 3 und 4 Nr. 3 ZPO. Diese Gleichstellung von qualifiziert elektronischer Signatur und sicherem Übermittlungsweg  hat der Gesetzgeber jedoch ausdrücklich nur im Regelungsbereich formell ordnungsgemäßer Antragseinreichung vorgenommen, d.h. im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Dokument überhaupt wirksam bei Gericht eingereicht wurde. Die Frage, wie in materiell-rechtlicher Hinsicht zum Zwecke der Schaffung eines besonderen materiell-rechtlichen Vertrauenstatbestandes die bisherige Unterschrift mit Dienstsiegel ersetzt wird, wird hierdurch gerade nicht geregelt. Zwar ließe sich grundsätzlich die Überlegung anstellen, ob man die im formellen Zivilprozessrecht im Regelungskomplex der Antragseinreichung getroffene Gleichstellung von qualifiziert elektronischer Signatur und sicherem Übermittlungsweg nicht möglicherweise auch auf die hier in Rede stehende materiell-rechtliche Fragestellung eines ausreichenden Vertrauenstatbestandes übertragen wollte. Dagegen sprechen aus Sicht des hiesigen Vollstreckungsgerichts jedoch die folgenden Erwägungen:</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zunächst gibt es bereits eine materiell-rechtliche Regelung betreffend die hier in Rede stehende Fragestellung einer Ersetzung der Schriftform im elektronischen Rechtsverkehr - und zwar § 126a BGB. Danach kann die Schriftform durch Hinzufügen des Namens und Anbringen einer qualifiziert elektronischen Signatur ersetzt werden. Aufgrund der qualifiziert elektronischen Signatur ist das Dokument in gleicher Weise wie bei der Unterschrift technisch sicher auf genau eine natürliche Person rückführbar (Identitäts- bzw. Authentizitätsfunktion).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Bei der bloßen Nutzung eines sicheren Übermittlungsweges wie des beBPo ist gerade dies nicht der Fall: Zwar kann das beBPo nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens (§ 7 ERVV) ebenfalls nur unter Verwendung eines Zertifikats und Zertifikatspasswortes genutzt werden (§ 8 Abs. 2 ERVV). Dieses ist jedoch ausschließlich behörden- und nicht personengebunden, d.h. es gibt ein Zertifikat und ein Passwort für die gesamte Behörde, auf das alle von der Behörde bestimmten Mitarbeiter gleichermaßen Zugriff haben. Die Zuordnung zu einer speziellen natürlichen Person ist damit technisch sicher gerade nicht möglich, da jede berechtigte Person irgendeinen Namen bzw. eine eingescannte Unterschrift (und auch ein eingescanntes schriftliches Siegel) auf das Dokument zu setzen und dieses zu versenden imstande ist. Damit ist die Identitäts- bzw. Authentizitätsfunktion bei Nutzung des beBPo ohne qualifiziert elektronische Signatur lediglich bezogen auf die Behörde mit derjenigen von Unterschrift und Siegel gleichwertig, nicht jedoch bezogen auf die konkret handelnde Person. Mit anderen Worten vermag die Übermittlung per beBPo aufgrund des Identifizierungsverfahrens und der Zertifikats- sowie Passwortvergabe gem. §§ 7, 8 ERVV durchaus das frühere schriftliche Siegel zu ersetzen und die sichere Herkunft des Antrags von genau der Behörde zu garantieren. Einen überprüfbaren Herkunftsnachweis bezogen auf genau die natürliche Person, die mit maschinenschriftlichem Namenszug oder eingescannter Unterschrift aus dem Dokument selbst hervorgeht, vermag die Übermittlung per beBPo aber gerade nicht zu gewähren.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Wollte man sich gleichwohl - entgegen dem Wortlaut von § 126a BGB - für eine Übertragung der Gleichstellung von sicherem Übermittlungsweg und qualifiziert elektronischer Signatur aus dem Regelungsbereich, wie überhaupt (irgendein)ein elektronisches Dokument einzureichen ist, auf die davon deutlich zu unterscheidende Fragestellung aussprechen, wie im elektronischen Rechtsverkehr ein einem Titel vergleichbarer Vertrauenstatbestand geschaffen werden kann, so müsste man also dieses Weniger an Identitäts- bzw. Authentizitätsfunktion sowie an Warnfunktion und damit auch insgesamt das Weniger an Sicherheit billigend in Kauf nehmen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ganz davon abgesehen, dass man bei via beA eingereichten Schriftsätzen, die zum Beispiel gleichzeitig eine Wohnungskündigung beinhalten, auch zusätzlich eine qualifiziert elektronische Signatur fordert, besteht aus Sicht des Gerichts hierfür allerdings bereits deshalb kein Grund, weil ein vergleichbarer Sicherheitsstandard durch das Nutzen einer qualifiziert elektronischen Signatur ohne weiteres herstellt werden kann, was im elektronischen Rechtsverkehr künftig ohnehin zum Standard gehören wird.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus hat aber auch sowohl der Gesetzgeber als auch der Bundesgerichtshof - jedenfalls bezogen auf Haftanträge - bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wegen der Grundrechtsrelevanz von Freiheitsentziehungsmaßnahmen in diesem Bereich auch im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs gerade keine Abstriche bei der Abwehr von Missbrauchsgefahren gemacht werden dürfen: So reicht zum Beispiel bei der Beantragung eines Haftbefehls gerade nicht die Versicherung der Bevollmächtigung durch ein Inkassounternehmen, sondern es muss weiterhin die Originalvollmacht vorgelegt werden, § 753a S. 2 ZPO. Ebenso soll nach Bundesgerichtshof, Beschl. vom 23.09.2021 - I ZB 9/21 -, NJW-RR 2021, 1651 (1653), beim Erlass eines Haftbefehls wegen der Grundrechtsrelevanz einer Freiheitsentziehungsmaßnahme der Missbrauchsgefahr in besonderem Maß entgegengewirkt werden und deshalb nicht nur der Vollstreckungsbescheid als pdf, sondern vielmehr stets die Vorlage der vollstreckbaren Ausfertigung des Vollstreckungsbescheides - ungeachtet der damit verbundenen Verfahrensverlängerung - verlangt werden können. Mit anderen Worten hat der Bundesgerichtshof in dieser neuesten Rechtsprechung gerade in Ansehung von Sinn und Zweck des elektronischen Rechtsverkehrs, nämlich der grundsätzlichen Vereinfachung und Beschleunigung auch des Zwangsvollstreckungsverfahrens, ganz bewusst an den bisherigen Grundsätzen der Vorlage einer vollstreckbaren Ausfertigung des Vollstreckungstitels zur Gewährleistung der vollen Überprüfbarkeit durch das Vollstreckungsgericht festgehalten. Die bloße Versicherung des § 754a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 ZPO und elektronische Übersendung reichen dem Bundesgerichtshof auch bei geringfügigen Forderungen bis 5.000,- Euro im Grundrechts-sensiblen Bereich der Freiheitsentziehung gerade nicht aus. Nicht zuletzt dieser Fingerzeig führt dazu, dass das hiesige Gericht auch bei der Fragestellung, auf welche Weise Titelersetzung im elektronischen Rechtsverkehr erfolgen kann, davon abgesehen hat, von den bisherigen Leitlinien höchstrichterlicher Rechtsprechung abzuweichen, und stattdessen den - hier nicht erfüllten - höchsten Sicherheitsstandard der qualifiziert elektronischen Signatur zur Titelersetzung fordert.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Indem der Gläubiger den Zwangsvollstreckungsantrag samt Antrag auf Erlass eines Haftbefehls ohne qualifiziert elektronische Signatur (oder elektronisches Siegel) und damit materiell-rechtlich nicht formgerecht eingereicht hat, ist auf das unentschuldigte Ausbleiben des Schuldners im Termin auch kein Haftbefehl zu erlassen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Abschließend sei noch angemerkt, dass auch eine gleichzeitige (hand-)schriftliche Einreichung des Haftantrags neben elektronischer Einreichung per beBPo ohne qualifiziert elektronische Signatur bzw. elektronischem Siegel, d.h. so wie er bisher eingereicht wurde, aus Sicht des hiesigen Vollstreckungsgerichts der gesetzgeberischen Intention widersprechen dürfte, die der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs bzw. der seit dem 01.01.2022 bestehenden aktiven Nutzungspflicht zugrunde liegt. Würde man ein solches "Hybrid-Modell" als insgesamt formgerechte Einreichung betrachten, so wäre die aktive Nutzungspflicht zum elektronischen Rechtsverkehr ad absurdum geführt, da es bei einer solchen Sichtweise künftig trotz technischer Möglichkeit einer rein elektronischen Antragstellung und damit insgesamt einer elektronischen Aktenführung gleichwohl immer auch noch einer Papierakte bedürfte. Nach der gesetzgeberischen Intention sollen vielmehr nur solche Titel noch (hand-)schriftlich eingereicht werden können, die ausschließlich in dieser Form existieren und daher technisch schlichtweg nicht elektronisch eingereicht werden können. So liegt der Fall hier aber gerade nicht.</p>
346,517
ovgni-2022-09-06-4-la-9121
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4 LA 91/21
"2022-09-06T00:00:00"
"2022-09-13T10:01:02"
"2022-10-17T11:10:02"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichterin der 1. Kammer - vom 15. März 2021 wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antrag der Klägerin, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Der von ihr geltend gemachten Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist nicht ausreichend dargelegt im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG bzw. liegt nicht vor. Auch der außerdem geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u.v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15 -; GK-AsylG, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 78 AsylG Rn. 15 ff. m.w.N.). Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erfordert daher, dass eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u. v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15-; GK-AsylG, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.). Im Rahmen dieser Darlegung ist eine konkrete und im Einzelnen begründete Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geboten (Senatsbeschl. v. 9.8.2018 - 4 LA 140/18 - m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Die Klägerin möchte als erste grundsätzlich bedeutsame Frage die Tatsachenfrage geklärt wissen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">„ob LGBT*-Personen, insb. trans*idente Frauen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der LGBT*-Personen oder der der trans*identen Weiblichkeiten oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung/Geschlechtsidentität durch nichtstaatliche Akteur*innen wie die namibische Bevölkerung ausgesetzt sind und gegen die sie zu schützen der namibische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage ist bzw. gegen die kein interner Schutz zur Verfügung steht.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil eine Gruppenverfolgung von Transfrauen, Transgender oder Transsexuellen in Namibia abgelehnt. Dabei ist es unter Verweis auf die höchstrichterliche Rechtsprechung (BVerwG, Urt. v. 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, juris Rn. 18 u. Urt. v. 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 -, juris Rn. 20) zutreffend davon ausgegangen, dass die Annahme einer Gruppenverfolgung eine bestimmte Verfolgungsdichte voraussetzt. Es ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Nach Auswertung zahlreicher Erkenntnismittel – u.a. USDOS, Namibia Human Rights Report 2019 vom 11. März 2020; Freedom House, Freedom in the World 2020 - Namibia vom 4. März 2020; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Namibia, 12. März 2019; HRC, Report of the Working Group on the Universal Periodic Review vom 14. Juni 2016; UN Committee against torture, Concluding observations on the second periodic report of Namibia* vom 1. Februar 2017; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Namibia: Sexual orientation and gender identity and expression, November 2018; The Other Foundation, canaries in the coal mines: An analysis of spaces for LGBTI activism in Namibia, Country Report 2017; Southern Africa Litigation Centre, Laws and Policies Affecting Transgender Persons in Southern Africa, Abschnitt Transgender Rights in Namibia, Juli 2016 – ist das Verwaltungsgericht zu dem Schluss gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Transfrauen, Transgendern oder LGBTI-Personen im Allgemeinen mangels Eingriffsdichte anhand der in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismittel in Namibia nicht festzustellen ist (S. 29 des Urteils).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der Klägerin ist es nicht gelungen, diese Bewertung des Verwaltungsgerichts anhand neuerer Erkenntnismittel in Frage zu stellen. Zwar hat die Klägerin auf zahlreiche Erkenntnismittel verwiesen, die teilweise nicht vom Verwaltungsgericht angeführt worden sind (u.a. Tobias Sauer, Hoffnung für die queere Community in Namibia, Das Rechtssystem atmet immer noch den Geist der Kolonialzeit – Sex zwischen Männern, „Sodomie“ genannt, ist in Namibia strafbar. Aber es geht voran, in: MannschaftMagazin v. 17.4.2019; ILGA, State-sponsored Homophobia, Dez. 2020; Werner Menges, Govt stickst o stance on same-sex marriage, in: Namibian, 3.10.2019; Southern Africa, Trans Diverse Situational Analysis, Accountability to reduce barriers to accessing health-care, 2016; NewEraLive, Namibian queer queen breaks the silence against queerphobia, 17.1.2020), teilweise aktueller als die vom Verwaltungsgericht verwendeten sind (USDOS, Namibia Human Rights Report 2020 vom 30.3.2021; Bericht des Beauftragten für Menschenrechte vor dem Menschenrechtsrat, 18.2.2021, A/HRC/WG.6/38/NAM/3). Allerdings hat die Klägerin nicht aufgezeigt, inwiefern diese Erkenntnismittel die Annahme stützen, dass eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung ausreichende Verfolgungsdichte von „LGBT*-Personen“, insb. „trans*identen Frauen“, gegeben ist. Den von der Klägerin vorgelegten Berichten lässt sich entnehmen, dass homosexuelle, transsexuelle und transidente Personen in Namibia heterosexuellen Personen nicht gleichgestellt und im gesellschaftlichen Leben zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Auch wird von Polizeigewalt berichtet. Allerdings kann den von der Klägerin angeführten Berichten nicht die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte entnommen werden. Denn entweder handelt es sich um Schilderungen einzelner Diskriminierungserfahrungen, wie etwa die Aufforderung, ein Taxi wieder zu verlassen, nachdem die Identität als Transfrau wahrgenommen wurde, oder um Berichte systemisch vorkommender Übergriffe, die aber dennoch weder derart häufig noch intensiv sind, dass daraus für jede „LGBT*-Person“ bzw. „trans*idente“ Frau nicht nur auf die Möglichkeit, sondern auf die für eine Gruppenverfolgung erforderliche aktuelle Gefahr eigener asylrechtsrelevanter Verfolgung wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit geschlossen werden kann. Eine solche aktuelle Gefahr ist insbesondere nicht angesichts der von der Klägerin behaupteten „50% Gewalterfahrungen durch Polizeibeamte“ anzunehmen. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass eine 50%-Quote der Erfahrung staatlicher Gewaltanwendung wegen einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit für die Annahme einer Gruppenverfolgung ausreichen würde, lässt sich dem von der Klägerin zum Beleg ihrer Behauptung angeführten Erkenntnismittel (Southern Africa, Trans Diverse Situational Analysis, Accountability to reduce barriers to accessing health-care, 2016, https://accountability.international/wp-content/uploads/2019/02/Trans-SIT-Analysis.pdf) eine derartige Quote für Namibia nicht entnehmen. Die Untersuchung betrifft mehrere afrikanische Länder (Simbabwe, Sambia, Swasiland, Namibia und Botswana). Die von der Klägerin vorgelegte Seite 57 der Studie (Anlage 10 des Schriftsatzes vom 19. April 2021) enthält u.a. folgende Aussagen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">„49% (n=156) stated that police officers have harassed them, and sadly 31% reported that they had been physically assaulted by police officers (n=90). Worse still is that 17% or 56 people reported being sexually assaulted by police officers. 23% or 76 people report being held in a police cell because of their being trans diverse or GNC. 31% (n=95) have been denied law enforcement services on the basis on being trans diverse or GNC. Appallingly not only are the police responsible for not protecting trans diverse people, but assaulting and sexually assaulting trans diverse people, and also denying them medical attention when necessary (20%; n=60) and the necessary documentation to access medical attention (17%; n=49). Clearly, the third most important place to begin with any improvement in rights for trans diverse people is to begin to work with the police.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Eine Differenzierung zwischen den Ländern, auf die sich die Studie erstreckt, fehlt. Auf S. 50 der Studie findet sich die Angabe, dass 114 Personen aus Namibia teilgenommen haben. Ob es sich hierbei überhaupt um eine repräsentative Anzahl handelt, darf angesichts von über 2,3 Millionen Einwohnern in Namibia (Stand 2016, https://de.wikipedia.org/wiki/Namibia#Entwicklung) bezweifelt werden. Werte von 50% und mehr werden im Übrigen bei keinem der abgefragten Kriterien erreicht. Den höchsten Wert erreicht das Kriterium der Belästigung (harassment) durch die Polizei mit 49%. Bloße Belästigung stellt aber offensichtlich keine asylrechtsrelevante Verfolgungshandlung dar. Die anderen Prozentwerte lassen nicht auf die für eine Gruppenverfolgung notwendige Verfolgungsdichte schließen, zumal angesichts der angegebenen Werte davon ausgegangen werden kann, dass bei der Befragung der Studienteilnehmer Mehrfachnennungen möglich waren. Zwar weisen die Studienergebnisse auf eine gewisse Häufigkeit polizeilicher Übergriffe auch oberhalb der bloßen Belästigung hin. Dies genügt indessen nicht, um die aktuelle Gefahr asylrechtsrelevanter Verfolgung allein wegen der Zugehörigkeit zur Gruppe der „LGBT*-Personen“ bzw. „trans*identer“ Frauen für alle Angehörigen dieser Gruppe in Namibia anzunehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Für ebenfalls grundsätzlich bedeutsam hält die Klägerin die weiteren Fragen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„1. ob eine Menschenrechtsverletzung im Sinne des §3a AsylG oder Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK vorliegt, wenn eine Personenstandsänderung im Herkunftsland für eine Person trotz Transgeschlechtlichkeit nicht erreichbar ist,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">2. ob die für eine begehrte geschlechtliche Personenstandsänderung vorausgesetzte geschlechtsangleichende Operation eine Menschenrechtsverletzung im Sinne des § 3a AsylG oder Art. 3 EMRK darstellt.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Der ersten der beiden Fragen kommt deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie nicht allgemein fallübergreifend geklärt werden kann. Dies gilt auch, wenn man die Frage – wie von der Klägerin gemäß ihren weiteren Ausführungen auch beabsichtigt – nicht auf jedes erdenkliche Herkunftsland, sondern allein auf die Situation in Namibia bezieht. Aus dem sowohl vom Verwaltungsgericht als auch von der Klägerin angeführten Erkenntnismittel Southern Africa Litigation Centre, Laws and Policies Affecting Transgender Persons in Southern Africa, Abschnitt Transgender Rights in Namibia, Juli 2016, Seite 33 f. (https://www.southernafricalitigationcentre.org/wp-content/uploads/2017/08/Transgender-Rights-Booklet.pdf) geht hervor, dass eine geschlechtliche Personenstandsänderung nach Section 7B of the Births, Marriages and Deaths Registration Act 81 of 1963 unter folgenden Voraussetzungen vorgenommen werden kann:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">„The Secretary may on the recommendation of the Secretary of Health, alter in the birth register of any person who has undergone a change of sex, the description of the sex of such person and may for this purpose call for such medical reports and institute such investigations as he may deem necessary.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Über Anträge auf geschlechtliche Personenstandsänderung wird also auf Antrag einzelfallbasiert entschieden. Der Bericht des Southern Africa Litigation Centre legt außerdem nahe, dass Anträge insbesondere dann erfolgreich sind, wenn der medizinische Nachweis über eine geschlechtsangleichende Operation erbracht werden konnte. Auf Seite 34 heißt es:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">„The Births, Marriages and Deaths Registration Act does not define, change of sexʹ. The Legal Assistance Centre in Namibia (LAC) reported in 2015 that applications in terms of section 7B are done on a case-by-case basis and are not problematic – as long as a person can provide medical reports of their sex change.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Danach kann eine Personenstandsänderung in Namibia immer dann unproblematisch durchgesetzt werden, wenn eine geschlechtsangleichende Operation durchgeführt worden ist. Ob auch andere Methoden – etwa eine rein hormonelle Geschlechtsangleichung – ebenfalls als „change of sex“ anerkannt werden, lässt sich dem angeführten Erkenntnismittel nicht entnehmen, ist aber auch nicht auszuschließen. Ob eine transgeschlechtliche Person willens ist und über ausreichende finanzielle Mittel und Kontakte verfügt, um einen in den Augen der namibischen Behörden ausreichenden „change of sex“ durchzuführen und damit eine Personenstandsänderung durchzusetzen, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls, die keiner allgemeinen Klärung zugänglich ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Die zweite der beiden Fragen, ob die für eine begehrte geschlechtliche Personenstandsänderung vorausgesetzte geschlechtsangleichende Operation eine Menschenrechtsverletzung im Sinne des § 3a AsylG oder Art. 3 EMRK darstellt, ist für das vorliegende Verfahren nicht entscheidungserheblich und damit nicht klärungsbedürftig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 ff. AsylG – wie auch des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG und eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG – setzt voraus, dass dem Asylsuchenden eine Rechtsgutverletzung von erheblichem Gewicht bei der Rückkehr in das Herkunftsland konkret droht. Der faktische Zwang zur Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation als Voraussetzung einer begehrten geschlechtlichen Personenstandsänderung würde die Klägerin allerdings bei ihrer Rückkehr nach Namibia nicht konkret mit einer erheblichen Rechtsgutverletzung bedrohen, weil sie selbst diese Operation gerade wünscht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 11.1.2011 - 1 BvR 3295/07 -, BVerfGE 128, 109 Rn. 71 ff.) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urt. v. 6.4.2017 – 79885/12, 52471/13, 52596/13- A.P., Garçon u. Nicot./.Frankreich, NJOZ 2018, 1672, Rn. 131 f.) ist anerkannt, dass eine Verpflichtung zur operativen Geschlechtsangleichung nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Sterilität als Voraussetzung für die staatliche Anerkennung der Geschlechtsidentität von Trans-Personen eine Verletzung der Grundrechte auf sexuelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) bzw. eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK darstellt. Die Grund- bzw. Menschenrechtsverletzung liegt dabei darin, dass die geschlechtsangleichende Operation die unbedingte Voraussetzung für die personenstandsrechtliche Anerkennung darstellt (BVerfG, a.a.O., Rn. 71) bzw. dass die Anerkennung der Geschlechtsidentität von Transgendern von einer nicht gewünschten Operation oder Behandlung abhängig gemacht wird (EGMR, a.a.O, Rn. 131). In Fällen, in denen die geschlechtsangleichende Operation von der betroffenen Person indessen gerade erwünscht ist und angestrebt wird, vermag der Senat nicht zu erkennen, inwiefern eine solche Anforderung eine transgeschlechtliche Person erheblich in ihren Grund- und Menschenrechten verletzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts und dem Vortrag der Klägerin im Gerichtsverfahren ergibt sich eindeutig, dass es dem Wunsch der Klägerin entspricht, eine operative Geschlechtsangleichung durchzuführen. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil festgestellt, dass die Klägerin sich für eine Einreise nach Deutschland mit einem Visum entschieden habe, um in ein Land zu gelangen, in dem Geschlechtsangleichungen und zugehörige Behandlungen von der Krankenkasse abgedeckt werden können. Diese Feststellung hat der Senat seiner Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag zugrunde zu legen, da sie nicht mit Verfahrensrügen erfolgreich angegriffen worden ist. Sie steht auch im Einklang mit den eigenen Angaben der Klägerin während des gesamten gerichtlichen Verfahrens. So hat die Klägerin in ihrer Anhörung während der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts am 15. März 2021 ausgesagt, dass ihr die Transition sehr wichtig sei; dabei gehe es um die Einnahme von Hormonen und auch eine geschlechtsangleichende Operation. Im Bericht über die psychotherapeutische Behandlung der Klägerin vom 30. Dezember 2019, den die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren dem Gericht vorgelegt hat, steht, sie befürchte, dass man ihr die „Transition“ ausreden könne, weil sie psychisch krank und damit womöglich nicht zurechnungsfähig sei, was natürlich nicht der Fall sei. Da es den ausdrücklichen Wunsch der Klägerin darstellt, sich einer operativen und hormonellen Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, ist eine erhebliche Verletzung ihrer Grund- und Menschenrechte selbst dann nicht zu befürchten, wenn eine geschlechtliche Personenstandsänderung in Namibia eine operative Geschlechtsumwandlung unbedingt erfordern sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Überdies hat die Klägerin nicht ausreichend dargelegt, dass eine operative Geschlechtsumwandlung unbedingte Voraussetzung für eine geschlechtliche Personenstandsänderung nach namibischem Recht ist. Wie bereits aufgezeigt, wird über Anträge auf Personenstandsänderung nach Section 7B of the Births, Marriages and Deaths Registration Act 81 of 1963 einzelfallbezogen entschieden. Dabei werden Anträge regelmäßig dann bewilligt, wenn der Betroffene den Nachweis über die Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation erbringen kann. Dem von der Klägerin zu diesem Punkt vorgelegten Erkenntnismittel Southern Africa Litigation Centre, Laws and Policies Affecting Transgender Persons in Southern Africa, Abschnitt Transgender Rights in Namibia, Juli 2016, Seite 33 f. kann indessen nicht entnommen werden, dass es völlig ausgeschlossen ist, eine Personenstandsänderung auch ohne geschlechtsangleichende Operation durchzusetzen. Die erforderliche Voraussetzung „change of sex“ ist nicht abschließend definiert. Möglicherweise können auch andere Formen der Geschlechtsumwandlung, etwa die ausschließliche Durchführung einer Hormontherapie, im Einzelfall als ausreichender Beleg für einen „change of sex“ angesehen werden. Dafür sprechen insbesondere die vom Verwaltungsgericht herausgearbeiteten gesellschaftlichen Fortschritte der Anerkennung von Trans-Personen in Namibia, deren punktuelle Existenz auch die Klägerin nicht in Abrede stellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Der von der Klägerin geltend gemachte Gehörsverstoß (§§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor. Das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll es sicherstellen, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und mangelnder Berücksichtigung des Sachvortrags eines Beteiligten haben (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 18.2.2021 - 1 B 9.21 -, juris Rn. 4 m.w.N.). Der Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs ist das Verwaltungsgericht nachgekommen, indem es sich mit dem Vorbringen der Klägerin im Klageverfahren auseinandergesetzt und dieses umfassend gewürdigt hat. Dass es Teile des Vorbringens der Klägerin für unglaubhaft gehalten und die Gefährdungslage bei einer Rückkehr in das Herkunftsland anders als die Klägerin beurteilt hat, stellt keinen Gehörsverstoß dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007006&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,879
vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-05-8-a-9819
{ "id": 1071, "name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht", "slug": "vg-schleswig-holsteinisches", "city": 647, "state": 17, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
8 A 98/19
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-10-11T10:00:30"
"2022-10-17T11:10:57"
Urteil
ECLI:DE:VGSH:2022:0905.8A98.19.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Die Klage wird abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung abzuwenden durch Zahlung einer Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages, wenn nicht zuvor der Beklagte Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tatbestand<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Beteiligten streiten über einen Bauvorbescheid.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks … in …, Flur …, Flurstück … der Gemarkung …. Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. 1 vom 10.06.1971 idF der Neuaufstellung vom 02.02.2022. Der Bebauungsplan sieht für das Grundstück u.a. eine eingeschossige Bauweise vor. Das Grundstück hat eine Größe von 1.066 qm und ist mit einem eingeschossigen Wohnhaus bebaut.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Der Kläger plant die Neuerrichtung eines Gebäudes mit 2 bzw. 3 Vollgeschossen und stellte unter 29.08.2018 einen Antrag auf Erteilung eines Baubescheides. Dazu stellte er sechs Einzelfragen, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird (vgl. Bl. 7 der Beiakte A).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 16.11.2018 abgelehnt. Zur Begründung heißt es, dass das Vorhabengrundstück im Geltungsbereich des B-Plans Nr. 1 der Beigeladenen liege. Das Bauvorhaben sei nur zulässig, wenn es den Festsetzungen des Bebauungsplanes entspreche. Dies sei aber nicht der Fall. Der in dem Antrag dargestellte Bereich überschreite das im Bebauungsplan festgesetzte Baufenster in nordwestlicher- und südöstlicher Errichtung. Die festgesetzte Geschossflächenzahl (GFZ) von 0,2 lasse auf dem 1.165 qm großen Grundstück eine maximale Bebauung mit 233 qm zu. Auch dies stelle einen geringfügigen Widerspruch zum Bebauungsplan dar. Die Errichtung von 2 Vollgeschossen stehe im Widerspruch zu der festgesetzten eingeschossigen Bauweise. Die Errichtung eines Gebäudes mit einer GFZ von 0,4 stehe im Widerspruch zu der festgesetzten GFZ von 0,2. Die Errichtung von 3 Vollgeschossen stehe im Widerspruch zu der festgesetzten eingeschossigen Bauweise. Auch die Errichtung eines Gebäudes mit einer GFZ von 0,6 stehe im Widerspruch zum B-Plan.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Dagegen legte der Kläger unter dem 01.12.2018 Widerspruch ein. Zur Begründung machte er geltend, dass die ausgewiesenen Festsetzungen des B-Plans Nr. 21 funktionslos geworden seien. Die Gebäude am … und … würden eine mindestens 2-3-geschossige Bauweisen aufweisen. Sofern man dies anders sehen sollte, habe er jedenfalls einen Anspruch auf die Erteilung einer Befreiungsgenehmigung nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. Die Grundzüge der Planung würden nicht berührt, weil die Umgebung keine heterogene Gebäudestruktur aufweise und die Zahl der Vollgeschosse divergiere. Das Gebiet sei in den letzten Jahren nachverdichtet worden. Erweiterungen der Bestandsgebäude seien zugelassen worden. Die Beschränkung der Zahl der Vollgeschosse im Plangebiet entspreche weder der tatsächlichen Situation vor Ort noch dem Bestreben der Beigeladenen, mehr Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die Ablehnung des Bauvorbescheides sei auch ermessensfehlerhaft. Der Beklagte habe sich nicht hinreichend mit den Belangen des Klägers auseinandergesetzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2019 zurück. Darin heißt es, dass das Vorhaben gegen Festsetzungen des B-Plans verstoße. Auch eine Befreiung von den Festsetzungen des B-Plans komme nicht in Betracht. Eine nicht beabsichtigte Härte liege nicht vor. Auch eine Befreiung aus städtebaulichen Gründen komme nicht in Betracht. Die Festsetzungen eines B-Planes seien grundsätzlich strickt verbindlich. Ein atypischer Sonderfall liege nicht vor. Die Grundzüge der Planung würden berührt werden. Dies sei immer dann der Fall, wenn die Befreiung aus Gründen begehrt werde, die in gleicher Weise eine Vielzahl anderer von der Festsetzung betroffene Eigentümer anführen könnten. Dies sei hier der Fall. Der B-Plan sei auch nicht funktionslos. Das Vorhaben verstoße nicht nur gegen die festgesetzte eingeschossige Bauweise, sondern auch gegen das Maß und das festgelegte Baufenster. Soweit der Kläger einzelne Häuser nenne, sei darauf hinzuweisen, dass Gebäude mit den Hausnummern … und … im … nicht existierten. Für ... sei eine zweigeschossige Bauweise im B-Plan vorgesehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Dagegen hat der Kläger am 06.05.2019 Klage erhoben. Er trägt vor, dass das alte Bestandsgebäude abgerissen werden solle. Das neue Gebäude solle 2 Vollgeschosse aufweisen. Daraus ergebe sich eine Erweiterung der GFZ auf 0,4. Dem Vorhaben könne der B-Plan nicht entgegengehalten werden. Dieser sei funktionslos geworden. Rund um das Vorhaben des Klägers sei eine einheitliche Gebäudestruktur nicht vorhanden. Unter den insgesamt 22 Gebäuden im Geltungsbereich des B-Plans seien massive Abweichungen von der festgelegten Zahl der Vollgeschosse gegeben. Insofern richte sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 BauGB. Danach würde sich das geplante Vorhaben einfügen. Im Übrigen habe er einen Anspruch auf die Erteilung einer Befreiungsgenehmigung. Die Voraussetzungen einer Atypik seien nicht erforderlich. Der Beklagte vermische den Ausnahmetatbestand des § 31 Abs. 2 Nr. 3 mit dem der Nr. 2 BauGB. Es seien auch umfangreiche Abweichungen von der Begrenzung der Geschossfläche gewährt worden. Die Ablehnung des Bauvorbescheides sei auch ermessensfehlerhaft. Der Beklagte gehe gar nicht darauf ein, welche planerische Konzeption die Beschränkung der Zahl der Vollgeschosse bzw. der Begrenzung des Maßes der bebaubaren Grundstücksfläche zur Grunde liege. Es finde keine Abwägung mit den Interessen des Klägers statt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">den Ablehnungsbescheid vom 16.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den begehrten Bauvorbescheid zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Der Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Er erwidert, dass bereits im B-Plan kein einheitliches Maß für die Anzahl der zulässigen Vollgeschosse festgesetzt sei. Vielmehr reiche die Spannbreite von einem Vollgeschoss (wie auf dem klägerischen Grundstück, aber auch auf den angrenzenden Grundstücken  und im Bad ...) bis zu 9 zulässigen Vollgeschossen (auf dem Grundstück zur Dünenbarke 5). Es entspreche auch nicht den Tatsachen, dass umfangreich von der Möglichkeit der Befreiung Gebrauch gemacht worden sei. Zwar gebe es im Geltungsbereich des Bebauungsplans Gebäude mit unterschiedlicher Anzahl von Vollgeschossen. Dies sei aber im B-Plan so vorgesehen. Von der planerischen Grundkonzeption der Gemeinde sei nicht abgewichen worden. Außerdem sei die Art der Nutzung unzulässig. Der B-Plan sehe das Gebiet als „Sondergebiet Kur“ fest. Nach den textlichen Festsetzungen seien zulässig: „Betriebe des Beherbergungsgewerbes (Hotels, Pensionen), Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäude, Anlagen für kulturelle- und gesundheitliche Zwecke, Schank- und Speisewirtschaften und Einzelhandelsbetriebe“. Ein Ferienhaus sei danach nicht zulässig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die Beigeladene trägt vor, dass sämtliche von dem Kläger angeführten Gebäude den Festsetzungen des B-Plans Nr. 1 entsprechen. Beantragte Befreiungen von den Festsetzungen des B-Plans Nr. 1 seien bislang nicht zugestimmt worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Der erkennende Einzelrichter hat am 16.06.2022 einen Ortstermin durchgeführt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Entscheidungsgründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Es konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten darauf verzichtet haben (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf die Erteilung des von ihm beantragten Bauvorbescheides (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Gemäß § 66 LBO kann zu einzelnen Fragen eines Bauvorhabens ein Vorbescheid erteilt werden. Dieser ist zu erteilen, wenn keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die im bauaufsichtlichen Verfahren zu prüfen sind, entgegenstehen (vgl. § 73 Abs. 1 LBO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des B-Plans Nr. 1 der Beigeladenen in der Fassung der Neuaufstellung vom 02.02.2022. Dieser B-Plan sieht für das Vorhabengrundstück (Grundstück Nr. 12) eine eingeschossige Bauweise mit einer GRZ von 0,2 und einer GFZ von 0,3 vor. Die beantragte und in den Mittelpunkt gestellte zweigeschossige Bauweise widerspricht diesen Festsetzungen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Dieser Bebauungsplan ist auch nicht funktionslos geworden, sondern mit den hier maßgeblichen Festsetzungen gerade neu gefasst worden. Der Umstand, dass in der näheren Umgebung auch zwei- oder dreigeschossige Gebäude bzw. sogar ein Hotel mit neun Vollgeschossen vorhanden sind, steht nicht im Widerspruch zu den Festsetzungen des B-Plans. Ganz im Gegenteil: Der B-Plan setzt für die einzelnen Grundstücke im Geltungsbereich eine unterschiedliche Anzahl von Vollgeschossen fest. Insofern entsprechen sämtliche vom Kläger genannten Grundstücke dem B-Plan. Die Festsetzung über die eingeschossige Bauweise im Bereich des klägerischen Grundstücks ist auch nicht etwa willkürlich und damit abwägungsfehlerhaft zu Stande gekommen. Vielmehr orientiert sich der B-Plan an dem vorhandenen Bestand. Im nordöstlichen Bereich des B-Plans ist eine eingeschossige Bauweise vorhanden (vgl. die Grundstücke 9, 10, 11 und 13). Diese hier vorhandene eingeschossige Bauweise sollte durch den B-Plan festgeschrieben werden. Das Vorhabengrundstück Nr. 12 befindet sich in diesem Bereich mit den genannten Grundstücken. Es entspricht der planerischen Konzeption des Satzungsgebers, es in diesem Bereich bei einer eingeschossigen Bauweise zu belassen. Dies ist nicht zu beanstanden. Insofern hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB, weil die Grundzüge der Planung berührt werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Zur weiteren Begründung wird auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide Bezug genommen. Das erkennende Gericht folgt der Begründung und stellt dies hiermit fest (§ 117 Abs. 5 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, weil sie keinen Antrag gestellt und deshalb nicht am Kostenrisiko teilgenommen hat (vgl. §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO iVm §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,819
lg-wuppertal-2022-09-05-2-o-2920
{ "id": 818, "name": "Landgericht Wuppertal", "slug": "lg-wuppertal", "city": 509, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
2  O 29/20
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-10-05T10:02:05"
"2022-10-17T11:10:48"
Urteil
ECLI:DE:LGW:2022:0905.2.160O29.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger. Hiervon ausgenommen sind die Kosten der Nebenintervention. Diese trägt seine Streithelferin selbst.</p> <p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung jeweils Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begehrt von den Beklagten Schadensersatz für ein auf sein Fahrzeug umgekipptes Baustellenverkehrsschild.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 23.04.2019 kippte ein im Eigentum der Streithelferin des Klägers stehendes Baustellenverkehrsschild auf das Dach des Fahrzeugs des Klägers (Bl. 46). Hierdurch entstand ihm ein Schaden in Höhe von 2.847,25 Euro.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Dem ging Folgendes voraus:</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">In der Zeit vom 29.04.2019 bis zum 30.04.2019 sollten im Auftrag der Beklagten zu 2), der städtischen xx AG, Straßenbauarbeiten in der V-Straße stattfinden. Hierzu sollten vorher Verkehrsschilder in den zuführenden Straßen, u.a. am späteren Schadensort, aufgestellt werden. Die Beklagte zu 2) hatte mit den im vorgenannten Zeitraum genehmigten Bauarbeiten die Beklagte zu 3) beauftragt und dieser gegenüber am 23.04.2019 um 13:07 Uhr mittels PC-Fax die verkehrsrechtliche Anordnung zur Sicherung der Arbeitsstelle gemäß § 45 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 6 StVO einschließlich des Verkehrszeichenplans vom 06.03.2019 erlassen und deren sofortige Vollziehung angeordnet (Bl. 115, 166ff.). Weil die Beklagte zu 3) nicht genügend eigene Schilder im Bestand hatte, hatte sie aufgrund eines bestehenden Rahmenvertrages mit der Streithelferin des Klägers, der früheren Beklagten zu 1), bereits vorher mit dieser vereinbart, dass diese ihr welche zur Verfügung stellt (Bl. 165). Durch Email vom 01.04.2019 hatte die Beklagte zu 3) mit der Streithelferin vereinbart, dass diese die bei ihr zu leihenden Verkehrsbeschilderungen vorher am Rand der aus dem beigefügten Plan erkennbaren Beschilderungsstellen abstellen möge, sie, die Beklagte zu 3), werde sich die benötigten Schilder dann später vom Straßenrand in die Baustelle ziehen (Bl. 220f., 223). Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Streithelferin des Klägers die von ihr gestellten Schilder häufig schon vor Nutzungsbeginn anliefert und mit um 90 Grad gedrehten Fußbeschwerungen am Rand der Straße aufstellt (Bl. 170).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat zunächst seine jetzige Streithelferin als frühere Beklagte zu 1) vor dem Amtsgericht auf Schadensersatz in dem hier beantragten Umfang in Anspruch genommen. Während des laufenden Verfahrens gegen seine jetzige Streithelferin hat der Kläger durch Schreiben vom 19.11.2019 die jetzige Beklagte zu 2) fruchtlos zur Zahlung des hier zum Gegenstand seines Antrags zu 1) gemachten Schadensersatzbetrages bis zum 27.11.2019 aufgefordert. Unter dem 27.11.2019 hat der Kläger seine Klage vor dem Amtsgericht auf Beklagtenseite um die xx AG als (vorherige und jetzige) Beklagte zu 2) erweitert. Nach Rücknahme der Klage gegen die Beklagte zu 1) vor dem Amtsgericht durch Schriftsatz vom 09.12.2019 (Bl. 107) hat das Amtsgericht das Verfahren wegen eines möglichen Amtshaftungsanspruchs durch Beschluss vom 02.01.2020 an das Landgericht verwiesen (Bl. 122). Vor dem Landgericht hat der Kläger seine Klage durch Schriftsatz vom 27.01.2020 nochmals gegen den Beklagten zu 3) erweitert (Bl. 134) und hiernach durch Schriftsatz vom 04.08.2020 der vormals Beklagten zu 1) den Streit verkündet (Bl. 186). Diese ist durch Schriftsatz vom 17.09.2020 dem Rechtsstreit auf Seiten des Klägers beigetreten (Bl. 220).</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">die Beklagten 2) und 3) als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 2.847,25 Euro (Antrag 1) sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 334,75 Euro (Antrag 2), jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, zu zahlen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten beantragen,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) bestreitet mit Nichtwissen, dass das streitgegenständliche Sackgassenschild am 23.04.2019 auf das Fahrzeug des Klägers gefallen ist.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat den Geschäftsführer der Streithelferin des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 07.11.2019 persönlich als Partei angehört. Zum Inhalt seiner Angaben wird auf das Protokoll der dortigen mündlichen Verhandlung (Bl. 51ff.), für den weiteren Sach- und Streitstand auf den Inhalt der Gerichtsakte nebst Anlagen verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Schadensersatzanspruches des Klägers gegen die hier Beklagten sind nicht gegeben.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">In Betracht kommt allenfalls ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte zu 2) aus § 839 Abs. 1 BGB, wobei gegenüber der Beklagten zu 3) dann das Haftungsprivileg aus Art. 34 GG zum Verlust ihrer Passivlegitimation führen würde (vgl. BGH, Urteil v. 06.06.2019 – III ZR 124/18, Rn. 10). Die Voraussetzungen für einen solchen Anspruch liegen jedoch nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Zutreffend ist zwar, dass die Beklagte zu 3) im vorliegenden Fall als Verwaltungshelferin der Beklagten zu 2) tätig geworden ist, weil sie von der Letztgenannten ohne Einräumung eines eigenen Entscheidungsspielraums zur Aufstellung von Verkehrszeichen zur Herbeiführung der Wirksamkeit der entsprechenden, diese Verkehrszeichen anordnenden Verkehrsregelung i.S.d. § 45 Abs. 2 StVO verpflichtet wurde (vgl. BGH, Urteil v. 06.06.2019 – III ZR 124/18, Rn. 6), so dass jedenfalls die Beklagte zu 2) dem Grunde nach aus § 839 Abs. 1 BGB für Schäden haftet, die die Mitarbeiter der Beklagten zu 3) einem Dritten hierbei zufügen (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 11); allerdings ist der Schaden des Klägers im vorliegenden Fall nicht durch ein Handeln der Beklagten zu 3) in Ausübung des so anvertrauten öffentlichen Amtes entstanden (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 14), sondern durch eine schlichte Vor- und Zuarbeit seiner Streithelferin vor dem Beginn der der Beklagten zu 3) übertragenen Verkehrsregelung (1.). Eine Zurechnung der von ihr verursachten Schäden kommt vorliegend nicht in Betracht (2.).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">1.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Aus dem unstreitigen Parteivorbringen sowie den zur Akte gereichten Urkunden und Lichtbildern ergibt sich, dass die Streithelferin die Schilder wie mit der Beklagten zu 3) vereinbart kurz vor dem Schadensereignis am 23.04.2020 am Rand der T2 ab- und nicht etwa aufgestellt hat. Aus den zur Akte gereichten Fotos (Bl. 46) ergibt sich, dass das auf das Dach des Klägerfahrzeugs gekippte Verkehrsschild im Eigentum der Streithelferin stand und sachwidrig sturzgefährdend um 90 Grad verdreht montiert war. Der Geschäftsführer der Streithelferin hat im Termin beim Amtsgericht als zuvor in dieser Sache Beklagter ausgesagt, es sei unstreitig, dass das Schild zum Zeitpunkt des Umfallens sachwidrig mit querstehenden Füßen beschwert gewesen sei (Bl. 52). Ordnungsgemäß wäre eine um 90 Grad veränderte Drehung. Unbestritten ist ebenfalls der Inhalt des als Anlage des Schriftsatzes des Klägervertreters vom 27.11.2019 zur Akte gereichten Schreibens von der Versicherung seiner Streithelferin vom 17.06.2019, aus dem hervorgeht, dass am Schadentag starker Sturm herrschte (Bl. 104).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Hiernach steht zur Überzeugung der Kammer in einer wertenden Gesamtschau aller Umstände fest, dass die Streithelferin des Klägers den Letztverursachungsbeitrag für den durch das Fallen des Schilds auf sein Fahrzeug eingetretenen Schaden gesetzt hat (§ 286 ZPO). Dass nach der Anlieferung der Schilder am 23.04.2019 ein Mitarbeiter der jetzt Beklagten noch in derselben Nacht in Eigeninitiative die Schilder bewegt hat, wird vom Kläger nicht behauptet. Die vom Geschäftsführer der Streithelferin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht dargestellte Gefahrerhöhung durch den verdrehten Schwerpunkt am Fuß des Schildes bei einem Sturm ist dagegen denklogisch plausibel und überzeugend, weil sich durch die Verdrehung des auf dem Bild erkennbaren Fuß die Gefahr des Umkippens schon logisch erhöht, wenn die durch das Schild als Windfang denkmögliche Kraftrichtung parallel zur langen Seite des Standfußes verläuft (§ 286 ZPO). Die Streithelferin wusste auch um dieses Problem, und sie hat die Schilder auch unstreitig ausgeliefert und am Rand aufgestellt. Ob mit dem in der Nacht dann aufgezogenen Sturm zu rechnen war, muss hier nicht entschieden werden.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Soweit der Geschäftsführer der Streithelferin vor dem Amtsgericht vorgebracht hat, er gehe davon aus, dass das Schild von seiner Seite aus richtig aufgestellt und erst später von jemand anderem verdreht worden sei, hält die Kammer dies nicht für überzeugend, wenn er damit die Verdrehung des Standfußes meint, weil das Verkehrsschild hierfür hätte vom Fuß abmontiert und hiernach um 90 Grad verdreht wieder zusammengesteckt werden müssen, damit die auf den zur Akte gereichten Bildern erkennbare Gefahrerhöhung überhaupt eintritt. Dass sich etwa ein Betrunkener diese Mühe macht, hält das Gericht für sehr unwahrscheinlich, zumal aufgrund des Unwetters in der Nacht von Dienstag, den 23.04.2019, auf Mittwoch, den 24.04.2019, ohnehin wenig Menschen auf der Straße unterwegs gewesen sein dürften. Denkbar wäre allenfalls, dass das Schild als „Biertrinkerstreich“ selbst verstellt worden ist; dies allein führt allerdings, soweit es korrekt am Fuß montiert ist, nicht zu derjenigen erkenn- und vermeidbaren Gefahrerhöhung durch die Verdrehung der langen Seite des Fußes in die Windfangrichtung des Verkehrsschildes hinein, die auf dem zur Akte gereichten Bild vom Schaden aber erkennbar ist (Bl. 46).</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die durch diese Gefahrerhöhung der Mitarbeiter der Streithelferin zur Überzeugung des Gerichts verursachte Beschädigung des Klägerfahrzeugs ist den Beklagten nicht zuzurechnen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Streithelferin des Klägers agierte nicht als Verwaltungshelferin. Ob sich das Handeln einer Person als Ausübung eines ihr anvertrauten öffentlichen Amtes darstellt, bestimmt sich danach, ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn der Betreffende tätig wird, hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen ist und ob zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil v. 14.05.2009 – III ZR 86/08, BGHZ 181, 65 Rn. 10, m.w.N.). Hiernach können auch Mitarbeiter eines privaten Unternehmens Amtsträger im haftungsrechtlichen Sinne sein. Dies kommt neben den Fällen der Beleihung eines Privatunternehmens mit hoheitlichen Aufgaben auch dann in Betracht, wenn Private als Verwaltungshelfer bei der Erledigung hoheitlicher Aufgaben tätig werden (BGHZ 121, 161, 164 ff.). Dafür ist erforderlich, dass ein innerer Zusammenhang und eine engere Beziehung zwischen der Betätigung des Privaten und der hoheitlichen Aufgabe bestehen, wobei die öffentliche Hand in so weitgehendem Maße auf die Durchführung der Arbeiten Einfluss nimmt, dass der Private gleichsam als bloßes „Werkzeug" oder „Erfüllungsgehilfe" des Hoheitsträgers handelt und dieser die Tätigkeit des Privaten deshalb wie eine eigene gegen sich gelten lassen muss (vgl. BGH, Urteil v. 09.10.2014 – III ZR 68/14 m.w.N.). Je stärker der hoheitliche Charakter der Aufgabe in den Vordergrund tritt, je enger die Verbindung zwischen der übertragenen Tätigkeit und der von der öffentlichen Hand zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe und je begrenzter  der Entscheidungsspielraum des Privaten ist, desto näher liegt es, ihn als Beamten im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Voraussetzungen ist die Streithelferin des Klägers nicht als Verwaltungshelferin anzusehen. Die Streithelferin ist nicht unmittelbar zur Ausübung der übertragenen Verkehrsregelung tätig geworden, sondern sie hat auf der Grundlage eines bestehenden Rahmenvertrages mit der Beklagten zu 3) die Mittel hierfür zur Verfügung gestellt, und diese hat sie vor dem Beginn des Zeitraumes, für den die Verkehrsregelung von der Beklagten zu 2) vorgegeben und übertragen war, angeliefert. Zum Zeitpunkt des Eintritts des Schadens gab es – dies ist zwischen den Parteien unstreitig – an dem Schadensort noch gar keine Baustelle, die hätte abgesichert und deren Umgebungsverkehr hätte (abweichend als bisher) geregelt werden müssen. Entsprechend gab es zu dem Zeitpunkt weder Verkehrssicherungs- noch Verkehrsregelungspflichten, die die Beklagten durch eine fehlende oder mangelhafte Absicherung hätten verletzen können. Die Tätigkeit der Streithelferin steht damit sachlich lediglich in einem mittelbaren Zusammenhang mit den übertragenen Hoheitsaufgaben der Beklagten zu 3), und in zeitlicher Hinsicht in gar keinem. Schäden, die in dieser, hier zu bewertenden Situation durch die Verletzung der während einer solchen Tätigkeit zu beachtenden Sorgfaltspflichten entstehen, können der Allgemeinheit nach der Rechtsauffassung der Kammer nicht angelastet werden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Mangels eines Anspruchs in der Hauptsache bleibt für einen Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten (Antrag zu 2) kein Raum.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Hiervon ausgenommen ist die Entscheidung über die (außergerichtlichen) Kosten der Streithelferin. Diese folgt aus § 101 Abs. 1, 2. Halbsatz ZPO.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt im Hinblick auf die beantragte Gesamtschuldnerhaftung aus den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO (vgl. <em>Herget</em> in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 708, Rn. 13).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird festgesetzt auf 2.847,25 Euro.</p>
346,788
lagham-2022-09-05-14-ta-17922
{ "id": 794, "name": "Landesarbeitsgericht Hamm", "slug": "lagham", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Arbeitsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
14 Ta 179/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:27"
"2022-10-17T11:10:44"
Beschluss
ECLI:DE:LAGHAM:2022:0905.14TA179.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Hamm vom 31. Mai 2022 (3 Ca 1493/21) aufgehoben.</p> <p>Das Verfahren wird zur erneuten Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers an das Arbeitsgericht zurückverwiesen.</p> <p>Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><img height="132" width="114" src="14_Ta_179_22_Beschluss_20220905_0.png" alt="Landeswappen_alt_urt" /></p> <span class="absatzRechts">2</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>14 Ta 179/22</p> <p>3 Ca 1493/21</p> <p>Arbeitsgericht Hamm</p> </td> <td></td> <td></td> </tr> <tr><td colspan="3"><p><strong>Landesarbeitsgericht Hamm</strong></p> <p><strong>Beschluss</strong></p> <p>In dem Beschwerdeverfahren</p> </td> </tr> </tbody> </table> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">hat die 14. Kammer des Landesarbeitsgerichts Hamm</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Henssen</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">ohne mündliche Verhandlung am 5. September 2022</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">beschlossen:</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Hamm vom 31. Mai 2022 (3 Ca 1493/21) aufgehoben.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren wird zur erneuten Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers an das Arbeitsgericht zurückverwiesen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">I. Der Kläger erhob unter dem 30. Dezember 2021 eine Kündigungsschutzklage. Zugleich beantragte er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, was er wie folgt begründete:</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><em>Der Kläger ist aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht der Lage, für die Kosten des Verfahrens aufzukommen, entsprechende verhält sich beigefügte Erklärung nebst Belegen.</em></p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers unter Verwendung des amtlichen Vordrucks nebst Belegen war nicht beigefügt. Ein Hinweis des Arbeitsgerichts hierauf erfolgte während des gesamten Verfahrens nicht.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Im Termin vom 11. Mai 2022 schlossen die Parteien einen bestandskräftigen Vergleich über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, mit dem zugleich ein weiteres vor einer anderen Kammer des Arbeitsgerichts später anhängig gewordenes Verfahren über Zahlungsansprüche miterledigt wurde. In diesem Verfahren (4 Ca 267/22) hatte der Kläger ebenfalls Prozesskostenhilfe beantragt und zunächst zur Begründung auf die Erklärung nebst Belegen in einem weiteren Verfahren verwiesen, das unter dem Aktenzeichen 3 Ca 1401/21 in der Kammer anhängig war, welche die hier angefochtene Entscheidung erlassen hat. Später (am 30. März 2022) hatte er eine aktuelle Erklärung nebst Belegen in dem Verfahren vor der 4. Kammer eingereicht, welche sodann unter dem 25. April 2022 Prozesskostenhilfe bewilligte.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Verfahren wies das Arbeitsgericht mit Beschluss vom 31. Mai 2022 unter Hinweis auf die fehlende Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers zurück. Gegen die am 1. Juni 2022 zugestellte Entscheidung legte der Kläger am 7. Juni 2022 sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung verwies er auf das Verfahren 4 Ca 267/22 und allgemein auf weitere vorher in der erkennenden Kammer anhängig gewesenen Verfahren und vertrat die Ansicht, dass er eine neue Erklärung nicht habe vorlegen müssen, weil das Gericht auf die Vorverfahren habe zugreifen können. Das Arbeitsgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und dies damit begründet, die Bezugnahme auf einen im Parallelverfahren eingereichten Vordruck sei nur zulässig, wenn dieser in Kopie beigefügt werde mit der Erklärung, dass sich an den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nichts geändert habe.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">II. Die gemäß § 46 Abs. 2 Satz 3, § 78 Satz 1 ZPO, § 127 Abs. 2 Satz 2 und 3, §§ 567 ff. ZPO zulässige sofortige Beschwerde des Klägers ist begründet und führt zur Zurückverweisung des Bewilligungsverfahrens an das Arbeitsgericht. Zwar hat der Kläger bis zur Beendigung des Rechtsstreits keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt. Dies steht einer – rückwirkenden – Bewilligung nicht entgegen, weil das Arbeitsgericht seine Hinweispflicht verletzt hat und davon auszugehen ist, dass bei rechtzeitiger Erteilung eines Hinweises der Kläger noch vor Beendigung des Verfahrens die Erklärung zu den Akten gereicht hätte. Dazu hat das Arbeitsgericht zunächst die aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers aufzuklären.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">1. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass eine Prozesskostenhilfebewilligung ausgeschlossen ist, wenn bis zur Beendigung der Instanz ein bewilligungsfähiger Antrag nicht vorgelegt wird. Dazu gehört gemäß § 117 Abs. 2 und 4 ZPO zwingend die Verwendung des amtlichen Vordrucks für die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (vgl. BVerfG 8. November 2018 – 1 BvR 1020/17 – juris, Rn. 1; 27. Oktober 2017 – 1 BvR 1746/16 – juris, Rn. 3; BAG 3. Dezember 2003 – 2 AZB 19/03 – juris, Rn. 10; BGH 29. November 2012 – III ZA 32/12 – juris, Rn. 3 f.; BFH 19. Oktober 2017 – X S 9/17 (PKH) – juris, Rn. 13 f.; LAG Hamm 24. Juni 2019 – 14 Ta 204/19 – juris, Rn. 6). Dies gilt insbesondere nach den zum 1. Januar 2014 in Kraft getretenen Änderungen des Prozesskostenhilferechts und der danach bestehenden Belehrungspflicht im Formular über die Verpflichtungen, welche einer Prozesskostenhilfe beantragenden Partei nach § 120a Abs. 2 ZPO obliegen (vgl. Sächsisches OVG 16. November 2018 – 3 D 71/18 – juris, Rn. 4; LAG Hamm, aaO.).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Bis zum Abschluss des am 11. Mai 2022 vereinbarten bestandskräftigen gerichtlichen Vergleichs lag eine solche Erklärung des Klägers nicht vor. Das steht grundsätzlich einer rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Beendigung des Rechtsstreits entgegen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">2. Das Arbeitsgericht hat jedoch seine Hinweispflicht verletzt, als es den Kläger nicht darauf hinwies, dass entgegen der Begründung in der Klageschrift die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht beigefügt war.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">a) Das Gebot der Rechtsschutzgleichheit von bemittelten und unbemittelten Parteien erfordert es bei der Ablehnung eines Prozesskostenhilfeantrags, dass hinsichtlich der richterlichen Hinweispflichten ein ebenso strenger Maßstab anzulegen ist wie in einem Hauptsacheverfahren (vgl. BVerfG 12. November 2007 – 1 BVR 48/05 – juris, Rn. 17). Verbleibende Ungewissheiten bezüglich des Vortrags eines Antragstellers können und müssen im Prozesskostenhilfeverfahren durch diesbezügliche Hinweise ausgeräumt werden, wenn dies für die Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung ausschlaggebend ist. Das Arbeitsgericht ist verpflichtet, vor einer Entscheidung, mit der es Prozesskostenhilfe zurückweist, auf Mängel der Klagebegründung, die eine Erfolgsaussicht in Frage stellen oder eine Mutwilligkeit der Klageerhebung begründen können, zeitnah hinzuweisen, statt zunächst einen Antrag unbearbeitet zu lassen und erst kurz vor bzw. nach Instanzbeendigung das Prozesskostenhilfegesuch aus diesem Grund abzulehnen (vgl. BVerfG, 12. November 2007, aaO.; LAG Hamm 21. Juni 2011 – 5 Ta 334/11 – juris, Rn. 10; 17. Juni 2013 – 14 Ta 77/13 – juris, Rn. 12).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">b) Gleiches gilt für etwaige Mängel bei der Darlegung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Nach Eingang eines Prozesskostenhilfegesuchs darf das Arbeitsgericht nicht bis zur Instanz- bzw. Verfahrensbeendigung warten und dann den Prozesskostenhilfeantrag wegen Unvollständigkeit des Vordrucks und/oder der Unterlagen zurückweisen. Es muss vielmehr so rechtzeitig unter Fristsetzung auf die Mängel des Gesuchs hinweisen, dass diese vor dem (nächsten) Termin, der je nach dem Zeitpunkt der Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags bzw. der Unterlagen der Güte-oder Kammertermin sein kann, und damit vor der (möglichen) Instanz- oder Verfahrensbeendigung behoben werden können. Die Behebung von Mängeln der Antragstellung nach Instanzbeendigung kann nicht zu Lasten der PKH-Partei gehen, wenn das Arbeitsgericht auf vorhandene Mängel überhaupt nicht hingewiesen und/oder keine Frist zur Beseitigung derselben gesetzt hat (vgl. LAG Hamm 8. November 2001 – 4 Ta 708/01 – juris, Rn. 15; 8. Oktober 2007 – 18 Ta 509/07 – juris, Rn. 15; 17. Juni 2013 – 14 Ta 77/13 – juris, Rn. 13).</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">c) Bei der fehlenden Erklärung des Klägers über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse handelt es sich um einen Mangel. Dieser war seit Eingang der Klageschrift vom 30. Dezember 2021, welche auch den Prozesskostenhilfeantrag enthielt, bekannt. Ein Hinweis auf diesen Mangel des Antrages durch das Arbeitsgericht ist weder dem PKH-Beiheft noch der Hauptakte zu entnehmen. Das PKH-Beiheft enthält vor Erlass der angefochtenen Entscheidung lediglich den Antrag, das Protokoll der Sitzung vom 11. Mai 2022 sowie den Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers auf Festsetzung der Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts vom 17. Mai 2022. Gerichtlicherseits sind dem PKH-Beiheft lediglich ein das Wort „Gesehen“ enthaltender Vermerk der Vertreterin der Vorsitzenden vom 3. Januar 2022 sowie interne Bearbeitungsvermerke des Sachbearbeiters und der Rechtspflegerin im Rahmen der Vorprüfung vom 13. bzw. 19. Mai 2022 vor Erlass der angefochtenen Entscheidung zu entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">d) Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, ein Arbeitsgericht sei weder nach § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO verpflichtet, vor einer Instanzbeendigung (im dort entschiedenen Fall durch Feststellung des Zustandekommens eines Vergleichs) auf das Fehlen der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hinzuweisen, noch lasse sich eine entsprechende Hinweispflicht aus § 139 ZPO herleiten (vgl. BAG 31. Juli 2017 – 9 AZB 32/17 – juris, Rn.6), ist unzutreffend, ihr ist nicht zu folgen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">aa) Zur Begründung seiner Auffassung verweist das Bundesarbeitsgericht darauf, einem Rechtsanwalt müsse die Notwendigkeit der Einreichung der formularmäßigen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bekannt sein. Es sei für eine fehlende Hinweispflicht nicht zusätzlich erforderlich, dass er ankündige, die Erklärung nachreichen zu wollen. Zudem stehe es der anwaltlich vertretenen Partei frei, einen Vergleich zunächst abzulehnen und weiterhin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu verlangen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">bb) Soweit eine Hinweispflicht aus § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO verneint wird, ist dem entgegenzuhalten, dass die Setzung einer Frist nach dieser Vorschrift es stets erfordert, die Angaben und Belege und damit die Mängel zu konkretisieren, welche innerhalb der gesetzten Frist von der Partei zu beheben sind. Ein allgemeiner Hinweis auf Mängel genügt nicht (vgl. LAG Hamm 17. Juni 2013 – 14 Ta 77/13 – juris, Rn. 15 ff.; LAG Schleswig-Holstein 18. Dezember 2015 – 3 Ta 142/15 – juris, Rn. 15 ff.). Dies gilt auch für den Mangel, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse fehlt, wenn das Gericht sich entschließt, unter Setzung einer Frist nach § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO die Partei aufzufordern, diesen zu beheben.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Allerdings begründet diese Vorschrift keine allgemeine Hinweispflicht, auf Mängel des Prozesskostenhilfegesuchs hinzuweisen (vgl. LAG Baden-Württemberg 27. Februar 2017 – 14 Ta 18/16 – juris, Rn. 16). Nur dann, wenn eine Fristsetzung erfolgen soll, ist das Gericht zur Konkretisierung der innerhalb der Frist zu behebenden Mängel verpflichtet.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">cc) § 139 ZPO gilt aufgrund seiner Stellung in den allgemeinen Vorschriften für alle Verfahren und Rechtszüge der ZPO, in und außerhalb der mündlichen Verhandlung, im Partei- wie im Anwaltsprozess (vgl. BeckOK ZPO/Vorwerk/Wolf, 45. Edition, Stand 1. Juli 2022, § 139 ZPO Rn. 11; Musielak/Voit/Stadler, 19. Auflage, 2022, § 139 ZPO Rn. 3; MüKoZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 139 ZPO Rn. 4 f.; jeweils m. w. N.). Dementsprechend gilt er auch im Verfahren über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Eine Einschränkung der richterlichen Hinweispflichten allein auf den Bereich der Erfolgsaussicht lässt sich damit nicht vereinbaren. Das verpflichtet das Gericht nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO bei Mängeln in der Darlegung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hierauf hinzuweisen, bevor es eine Entscheidung zulasten der Partei treffen kann.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">dd) Es ist unerheblich, dass einem Rechtsanwalt die Notwendigkeit der Einreichung der formularmäßigen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bekannt sein muss. Dies schließt, wenn diese Erklärung fehlt, eine Hinweispflicht nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">(1) Die Reichweite einer Hinweispflicht nach § 139 ZPO bei anwaltlich vertretenen Parteien ist umstritten. Einerseits wird vertreten, die richterliche Hinweispflicht bestehe prinzipiell ohne Einschränkung auch bei anwaltlicher Vertretung (vgl. MüKoZPO/Fritsche, aaO., § 139 ZPO Rn. 5); andererseits soll eine verhaltenere Aufklärung durch das Gericht geboten sein (so Musielak/Voit/Stadler, aaO., § 139 ZPO Rn. 6). Insoweit gilt allgemein, dass eine Hinweispflicht grundsätzlich in Prozessen, in denen die Partei durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten wird, jedenfalls dann besteht, wenn der Rechtsanwalt die Rechtslage ersichtlich falsch beurteilt hat oder darauf vertrauen konnte, dass sein schriftsätzliches Vorbringen ausreichend sei. Etwas anderes gilt hinsichtlich solcher Anforderungen an den Sachvortrag, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf rechnen musste (vgl. BGH 5. Juni 2003 – I ZR 234/00 – juris, Rn. 28).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das Gericht kann daher die unterschiedlichen Erwartungen, die sich an die juristischen Kenntnisse und Fertigkeiten von Laien und Rechtskundigen richten, in seine Prüfung einbeziehen, ob Aufklärungsmaßnahmen oder Hinweise erforderlich sind oder nicht (vgl. BeckOK ZPO/Vorwerk/Wolf, aaO., § 139 ZPO Rn. 3.1). Die bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzende Rechtskunde kann und wird deshalb häufig dazu führen, dass für das Gericht nicht erkennbar ist, wenn der Anwalt die Rechtslage verkennt (vgl. BeckOK ZPO/von Selle, aaO., § 139 ZPO Rn. 17). Die Prozessleitung hängt jedoch nicht davon ab, ob den Anwalt ein Verschulden trifft (vgl. BeckOK ZPO/von Selle, aaO.); anders als § 233 ZPO ist § 139 ZPO nicht nach dem Verschuldensprinzip konstruiert (vgl. MüKoZPO/Fritsche, aaO., § 139 ZPO Rn. 5; ebenso Musielak/Voit/Stadler, aaO., § 139 ZPO Rn. 22).</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">(2) Zwar hat ein Rechtsanwalt grundsätzlich als gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter zu wissen, dass die Bewilligung von Prozesskostenhilfe es erfordert, eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen dem Antrag beizufügen, damit über diesen – positiv – entschieden werden kann. Daraus allein lässt sich jedoch nicht eine fehlende Hinweispflicht ableiten. Denn zu beurteilen ist der Mangel, der in der Nichterfüllung dieser Anforderung besteht. Ein solcher Mangel kann auch einem gewissenhaften Prozessbevollmächtigten unterlaufen und im konkreten Einzelfall möglicherweise auch vorwerfbar sein. Das entbindet das Gericht nicht davon, auf den Mangel gemäß § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO hinzuweisen, bevor es darauf eine ablehnende Entscheidung stützt. Denn es kommt nicht auf ein Verschulden an. Das Gericht ist trotzdem verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Partei sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklärt, insbesondere ungenügenden Angaben – hier aufgrund des fehlenden Erklärungsvordrucks – ergänzt.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">(3) Zudem verpflichtet der aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgende Anspruch des Rechtsuchenden auf ein faires Verfahren das Gericht zur Rücksichtnahme auf die Parteien. Das Gebot der Rücksichtnahme gilt im Prozesskostenhilfeverfahren in besonderem Maße. Dementsprechend ist es in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass das Gericht einen Antrag auf Prozesskostenhilfe nicht wegen unterlassener Einreichung des in § 117 Abs. 4 ZPO vorgeschriebenen Vordrucks ablehnen darf, wenn es die Partei nicht zuvor erfolglos auf die Unvollständigkeit ihres Antrags hingewiesen und ihr eine Frist gesetzt hat, innerhalb welcher der Vordruck einzureichen ist (vgl. BGH 27. August 2019 – VI ZB 32/18 – juris, Rn. 14 ff.; Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Auflage, 2022, § 117 ZPO Rn.27; jeweils m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Zwar ist es zutreffend, dass die vorstehend zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs (27. August 2019 – VI ZB 32/18 – juris) den Fall der Antragstellung durch eine „rechtsunkundige“ Partei betrifft. Die allgemeinen Grundsätze einer Rücksichtnahme im Prozesskostenhilfeverfahren sowie die daraus folgende Hinweispflicht vor einer ablehnenden Entscheidung sind aber ausweislich der Begründung ohne Beschränkung auf diesen Fall formuliert (vgl. BGH aaO., Rn. 14 ff.). Dementsprechend kann aus der anwaltlichen Vertretung keine Einschränkung der Hinweispflicht abgeleitet werden.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">ee) Darüber hinaus handelt es sich–  jedenfalls nach teilweise vertretener Auffassung im Prozesskostenhilferecht – um eine von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeitsvoraussetzung der ordnungsgemäßen Antragstellung (vgl. Gottschalk/Schneider, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 10. Auflage 2022, Rn. 107 f. m. w. N. auch zur Gegenauffassung, u. a. LAG Hamm 20. November 2002 – 4 Ta 96/02 – juris, Rn. 8), so dass auf Bedenken gemäß § 139 Abs. 3 ZPO hinzuweisen ist (vgl. BeckOK ZPO/von Selle, aaO., § 139 ZPO Rn 42.1).</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">ff) Unabhängig davon, ob die Beifügung des Erklärung Zulässigkeitsvoraussetzung des Prozesskostenhilfeantrags ist oder nicht, bleibt ein Hinweis erforderlich, wenn diese fehlt (a. A. LAG Baden-Württemberg 27. Februar 2017 – 14 Ta 18/16 – juris, Rn. 23). Etwas anderes gilt nur dann, wenn in der Begründung des Antrags angekündigt wird, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nachgereicht wird. In diesem Fall ist der Partei (und ihrem Anwalt) die Notwendigkeit bekannt, dass der amtliche Vordruck nebst Belegen noch einzureichen ist (vgl. BAG 5. Dezember 2012 – 3 AZB 40/12 – juris, Rn. 13), d. h. es besteht Kenntnis von dem Mangel der Antragstellung. In allen anderen Fällen ist genau dies unklar, so dass Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dieser Mangel schlicht übersehen worden ist. Dies zu klären, dient die Hinweispflicht des § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Das gilt erst recht in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Antrag die Erklärung enthält, der Vordruck nebst Belegen sei beigefügt (vgl. LAG Rheinland-Pfalz 24. Juli 2015 – 2 Ta 101/15 – juris, Rn. 2; LAG Köln 7. März 2014 – 1 Ta 37/14 – juris, Rn. 7; LAG Hamm 27. Mai 2013 – 5 Ta 157/13 – juris, Rn. 10). Das verpflichtet zusätzlich nach § 139 Abs. 2 ZPO zu einem Hinweis, weil die Partei vertreten durch ihren Anwalt erkennbar übersehen hat, dass die Beifügung unterblieben ist.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">gg) Die Meinung, eine Hinweispflicht würde gegen die Verpflichtung zur Neutralität verstoßen und würde zudem eine genauere Buchführung des Gerichts als die der Partei in eigener Angelegenheit voraussetzen (so LAG Baden-Württemberg 27. Februar 2017 – 14 Ta 18/16 – juris, Rn. 24; 3. April 2012 – 12 Ta 28/11 – juris, Rn. 19 f.) ist weder in den genannten Entscheidungen begründet worden noch sachlich nachvollziehbar. Zum einen geht es nicht um Buchführung, sondern um eine ordnungsgemäße Bearbeitung des Prozesskostenhilfeantrages durch das Gericht. Zum anderen wird die Verpflichtung zur Neutralität gegenüber dem Gegner der die Prozesskostenhilfe beantragenden Partei nicht durch sachlich gebotene Hinweise im Bewilligungsverfahren verletzt.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">hh) Die Möglichkeit der Partei, einen Vergleich erst dann abzuschließen, wenn die Prozesskostenhilfe bewilligt wurde, lässt eine Hinweispflicht nicht entfallen. Gerade in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem über Monate hinweg eine sachliche Bearbeitung des Prozesskostenhilfeantrages gerichtlicherseits nicht erfolgt, besteht kein Anlass für die Partei, aufgrund der aus ihrer Sicht mangels gegenteiligen Hinweises lediglich hypothetischen Möglichkeit einer mangelhaften Antragstellung und daher bestehender Gefahr einer Zurückweisung des Prozesskostenhilfegesuchs auf den Vergleichsabschluss zu verzichten.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">e) Bei einem rechtzeitig erteilten Hinweis, der bei einer unmittelbar durchgeführten Bearbeitung des Prozesskostenhilfeantrages noch vor dem erstmals für den 2. Februar 2022 anberaumten und schließlich nach mehrfacher Verlegung am 30. März 2022 durchgeführten Gütetermin hätte ergehen können, ist davon auszugehen, dass der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter spätestens bis zu diesem Zeitpunkt entweder eine neue Erklärung vorgelegt oder unter Bezugnahme auf die in dem zuvor vor der erkennenden Kammer anhängigen bzw. anhängig gewesenen Verfahren 3 Ca 1401/21 vorgelegte Erklärung seinen aktuellen Antrag begründet hätte (wie in dem nachfolgenden Verfahren 4 Ca 267/22). Ob die Vorlage einer Kopie der dort abgegebenen Erklärung erforderlich gewesen wäre (so generell LAG Schleswig-Holstein 4. Juni 2013 – 5 Ta 82/13 – juris, Rn. 12), ist zweifelhaft, da anders als die von diesem Gericht in Bezug genommenen Entscheidungen es weder um ein Hindernis in Bezug auf eine andere zeitnah innerhalb bestimmter Frist zu treffende Entscheidung geht (so bei BGH 9. Februar 2005 – XII ZB 118/04 – juris, Rn. 12) noch um den ausdrücklich einer Bezugnahme auf vorher eingereichte Unterlagen entgegenstehenden richterlichen Hinweis (so in OLG Frankfurt 17. Juni 2010 – 5 WF 131/10 – juris, Rn. 6). In einem Kündigungsschutzverfahren bestehen hinreichende zeitliche Möglichkeiten, durch Hinweise Mängel der Antragstellung aufzuklären.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">3. Das Arbeitsgericht wird nunmehr die aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nach Zurückverweisung unter Anforderung einer neuen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst aktuellen Belegen aufzuklären haben. Hinsichtlich der Erfolgsaussicht wird es dabei unter Berücksichtigung allgemeiner Grundsätze (vgl. dazu LAG Hamm 22 Juli 2013 – 14 Ta 138/13 – juris) auf einen Zeitpunkt vor Abschluss des Verfahrens abzustellen haben.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">4. Gründe für eine Zulassung der Rechtsbeschwerde bestehen nicht. Der Kläger ist nicht beschwert, für die Staatskasse besteht kein Beschwerderecht nach § 127 Abs. 3 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Henssen</p>
346,679
olgk-2022-09-05-15-u-16222
{ "id": 822, "name": "Oberlandesgericht Köln", "slug": "olgk", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
15 U 162/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-23T10:01:13"
"2022-10-17T11:10:29"
Beschluss
ECLI:DE:OLGK:2022:0905.15U162.22.00
<h2>Tenor</h2> <ul class="ol"><li><p>1. Der Senat weist darauf hin, dass beabsichtigt ist, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 11.03.2022 – 17 O 15/21 – unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages vom 25.07.2022 als unzulässig zu verwerfen.</p> </li> </ul> <ul class="ol"><li><p>2. Der Kläger erhält Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses.</p> </li> </ul><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Parteien streiten vorliegend über Unterlassungsansprüche und Abmahnkosten wegen einer Äußerung in einem sog. Netzwerk. Das Landgericht Dortmund hat mit Urteil vom 11. März 2022 die Klage abgewiesen. Gegen das dem Klägervertreter am 06. April 2022 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, die er an das Oberlandesgericht Hamm gerichtet und dort am 27. April 2022 per beA eingereicht hat. Am 29. April 2022 hat der Vorsitzende des dortigen Zivilsenats dessen Zuständigkeit geprüft, ausweislich eines „Zuständigkeitsformulars“ auf Bl. 15 d. Senatshefts bejaht und die Senatsbesetzung niedergelegt. Die Berufungsschrift ist sodann mit Verfügung vom gleichen Tag der Beklagten zugestellt worden. Auf Fristverlängerungsantrag des Klägervertreters vom 30. Mai 2022 ist die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß bis zum 04. Juli 2022 verlängert worden. Am 04. Juli 2022 hat der Kläger die Berufungsbegründung eingereicht, auf die wegen der weiteren Einzelheiten und der Berufungsanträge Bezug genommen wird (Bl. 82 ff. d. Senatshefts). Mit Verfügung vom 12. Juli 2022 (Bl. 95 ff. d. Senatshefts), dem Klägervertreter zugestellt am 14. Juli 2022, hat der Berichterstatter – dem die Sache erstmals vorgelegt worden war – sodann unter Verweis auf eine entsprechende Beratung im Senat darauf hingewiesen, dass das Oberlandesgericht Hamm mit Blick auf die Konzentrationsverordnung über Ansprüche aus Veröffentlichungen (GV.NRW.2021 S. 1156) nicht zuständig sei und man eine Verwerfung der Berufung beabsichtige. Zu Ansprüchen aus Veröffentlichungen i.S. des § 119a Abs. 1 Nr. 5 GVG gehörten - wozu Fundstellen angegeben wurden - auch die hier in Rede stehenden Veröffentlichungen in einer öffentlich zugänglichen A-Gruppe im Internet. Da die Berufungsfrist bereits am 06. Mai 2022 abgelaufen sei, werde die Frist nicht durch Rechtsmitteleinlegung beim zuständigen Oberlandesgericht Köln gewahrt werden können. Mit Schriftsatz vom 21. Juli  2022 (Bl. 103 ff. d. Senatshefts) hat der Klägervertreter dahingehend argumentiert, dass es hier nicht nur um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung infolge der „Veröffentlichung“ gehe, sondern auch um gerade durch die im Stadtgebiet nach der Veröffentlichung des Artikels entstandene Diskussion. Zudem sei für den Begriff der Anhängigkeit i.S.d. Übergangregelung in § 2 der Konzentrationsverordnung auf den Zeitpunkt der Klageeinreichung in erster Instanz abzustellen; dort sei das OLG Hamm aber noch zuständiges Berufungsgericht gewesen. Jedenfalls habe der Senat auch seine Fürsorgepflichten verletzt, weil bei einem gebotenen Hinweis direkt bei Eingang der Berufung eine Verweisung nach Köln bzw. eine Berufungseinlegung dort noch problemlos in der noch laufenden Berufungsfrist möglich gewesen sei. Auf weitere Nachfrage des Senats vom 22. Juli 2022 (Bl. 109 f. d. Senatshefts), ob mit den Ausführungen „hilfsweise ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Berufungsfrist beantragt und insoweit (ebenfalls hilfsweise) Verweisung an das OLG Köln beantragt werden soll“ hat der Kläger unter dem 25. Juli 2022 (Bl. 117 ff. d. Senatshefts) entsprechende Anträge gestellt. Zu Internetveröffentlichungen verhalte sich die Gesetzbegründung (BT-Drs 19/13828, 22) nicht eindeutig und die Frage sei jedenfalls nicht höchstrichterlich geklärt (vgl. BGH v. 12.04.2010 – V ZB 224/09, juris Rn.12). Jedenfalls würde sich ein etwaiges Verschulden aufgrund der fehlerhaften Vorgehensweise des Senats nicht auswirken, da der Senat durch den verspäteten gerichtlichen Hinweis gegen seine Fürsorgepflicht verstoßen habe. Der Senat sei zwar nicht verpflichtet, bei Einlegung der Berufungsschrift eine vollständige Prüfung der Zuständigkeit vorzunehmen, da kein Fall der „offensichtlichen“ Unzuständigkeit vorgelegen habe, aber man habe frühzeitig erkannte bzw. erkennbare Bedenken dennoch mitzuteilen, die sich hier aus dem der Berufungsschrift beigefügten erstinstanzlichen Urteil ergeben hätten. Mit Beschluss vom 12. August 2022 (Bl. 127 ff. d. Senatshefts) hat sich das Oberlandesgericht Hamm für unzuständig erklärt und die Sache auf den Hilfsantrag dann entsprechend § 281 ZPO an das Oberlandesgericht Köln verwiesen, welches über den hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden habe. Wegen der Einzelheiten der Begründung des Beschlusses wird auf Bl. 127 ff. d. Senatshefts Bezug genommen. Die Akte ist daraufhin am 22. August  2022 beim Oberlandesgericht Köln eingegangen (Bl. 135/198 d. Senatshefts).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist unzulässig, da sie entgegen § 517 und § 519 Abs. 1 ZPO nicht innerhalb eines Monats seit Zustellung des angefochtenen Urteils beim Berufungsgericht eingelegt worden ist.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> Zuständiges Berufungsgericht ist – wie das Oberlandesgericht Hamm im Verweisungsbeschluss von 12. August 2022 (Bl. 127 ff. d. Senatshefts) und in dem vorausgegangenen Hinweis vom 12. Juli 2022 (Bl. 93 ff. d.A.) zutreffend ausgeführt hat, worauf hier Bezug genommen wird  - nach § 1 der Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit zur Entscheidung über Berufungen und Beschwerden in Streitigkeiten über Ansprüche aus Veröffentlichungen durch Druckerzeugnisse, Bild- und Tonträger jeder Art, insbesondere in Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen vom 1. Oktober 2021 (GV.NRW.2021 S. 1156) das Oberlandesgericht Köln.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong> Ein Ausnahmefall, in dem die Berufungsfrist wegen Unklarheiten bei den maßgeblichen Begrifflichkeiten schon aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes und des Gebots der Klarheit des Rechtsmittelzuges auch durch Anrufung eines unzuständigen Berufungsgerichts gewahrt werden kann (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2020 - V ZB 45/20, NJW-RR 2021, 140 Rn. 5), liegt hier nicht vor. Denn durch die Konzentrations-Verordnung über Ansprüche aus Veröffentlichungen, deren § 1 dieselben Streitigkeiten erfasst wie § 119a Abs. 1 Nr. 5 GVG, § 72a Abs. 1 Nr. 5 GVG und § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a ZPO ist die Zuständigkeitsfrage eindeutig und sicher geklärt (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 21. Juli 2022 - 15 U 99/22, n.v.). Dies gilt auch in Bezug auf – wie hier - Veröffentlichungen im Internet und/oder sozialen Netzwerken (vgl. dazu etwa nur OLG Nürnberg, Beschluss vom 11. März 2021 - 1 AR 631/21, NJW-RR 2021, 571 Rn. 11 ff.; BeckOK-GVG/<em>Feldmann</em>, Ed. 15, § 72a Rn. 16a zu § 72a Abs. 1 Nr. 5 GVG sowie OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Juli 2016 – 18 WF 183/15, NJW-RR 2016, 1158 Rn. 15; Musielak/Voit/<em>Wittschier</em>, ZPO, 19. Aufl. 2021, § 348 Rn. 7 zu § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a ZPO; siehe allgemein auch <em>Fölsch</em>, NJW 2020, 801, 802; <em>Jürgens</em>, NJW 2020, 1846, 1847 und speziell zur Landesverordnung OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09. Juni 2022 - 16 W 15/22, openJur 2022, 14813). Soweit der Kläger auf die Gesetzesbegründung bei BT-Drs 19/13828, S. 22 Bezug nimmt, sind auch dort schon <em>„andere – auch digitale – Medien“</em> angesprochen. Dass die Rechtslage insofern sicher und eindeutig ist, hat der Senat zuletzt auch in seinen Hinweisen vom 25. August 2022 - 15 U 159/22 – und vom 05. August  2022 - 15 U 33/22 ebenso bereits betont.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Grund kann die in der Rechtsprechung anerkannte Ausnahme etwa für sog. Kartellsachen (BGH, Beschluss vom 17. Juli 2018 - EnZB 53/17, BeckRS 2017, 150663 Rn. 18 ff.) bzw. Urhebersachen (BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019 – I ZB 30/18, GRUR-RR 2020, 95 Rn. 16), bei denen schon die fristgerechte Anrufung des nach § 119 GVG allgemein zuständigen Berufungsgerichts ausreichen soll, welches analog § 281 ZPO an das zuständige Berufungsgericht zu verweisen hat, nicht auf den vorliegenden Bereich übertragen werden. Wenn - wie hier der Fall - die gesetzliche Regelung zur Zuständigkeit für das Rechtsmittelverfahren eindeutig ist, kann die Berufung auch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes fristwahrend eben nur bei dem nach der Zuständigkeitskonzentration zuständigen Gericht eingereicht werden (vgl. etwa nur BGH, Beschluss vom 17. Juli 2018 - EnZB 53/17, BeckRS 2017, 150663 Rn. 21 unter Berufung auf BGH, Urteil vom 9. Dezember 1999 - III ZR 73/99, NJW 2000, 1574, 1576 zu der nordrheinwestfälischen Regelung, mit der die Berufungszuständigkeit in Baulandsachen beim Oberlandesgericht Hamm konzentriert worden ist, wobei dort in erster Instanz eine Kammer für Baulandsachen des örtlich zuständigen Landgerichts entschieden hatte). Vorliegend waren erstinstanzlich zudem eindeutig sowohl beim  zunächst angerufenen Landgericht Köln (28. Zivilkammer) als – nach der Verweisung - auch beim Landgericht Dortmund (17. Zivilkammer) jeweils die nach den Geschäftsverteilungsplänen für sog. Veröffentlichungsstreitigkeiten zuständigen Zivilkammern befasst, so dass auch insofern die Sachlage nicht missverständlich war.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Die Konzentrations-Verordnung ist auch intertemporär eindeutig anwendbar. Denn zwar verbleibt es nach § 2 der Verordnung für Verfahren, die vor ihrem Inkrafttreten anhängig geworden sind, bei der bisherigen Zuständigkeit. Da die Konzentrations-Verordnung schon nach ihrer Überschrift und auch nach ihrem § 1 ausschließlich die Zuständigkeit für Berufungs- und Beschwerdeverfahren regelt, kann der Begriff „Verfahren“ in § 2 aber aus systematischen Gründen nur so verstanden werden, dass er vor dem Inkrafttreten anhängig gewordene Rechtsmittelverfahren meint. Dafür sprechen auch Sinn- und Zweck der Vorschrift. Ebenso wie durch § 40a Abs. 2 EGGVG sollte lediglich eine gerichtsinterne Umverteilung bereits anhängiger Verfahren vermieden werden (vgl. BT-Drs. 18/11437, S. 46;  <em>Mayer</em>, in: Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 72a Rn. 12, § 119a Rn.  2). Daher kann es allein auf den Eingang beim Berufungsgericht ankommen (vgl. auch bereits Hinweisverfügung des Senats vom 05. August 2022 – 15 U 33/22).</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><strong>c)</strong> Aus dem Verweisungsbeschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. August 2022 ergibt sich nichts anderes. Mit diesem Beschluss ist nicht entschieden, dass die Berufungsfrist bereits durch Anrufung des unzuständigen Oberlandesgerichts Hamm gewahrt werden konnte (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14. August 2015 - 32 SA 37/15, NJW 2016, 172 Rn. 28 f.; zum Verhältnis Abgabe und Verweisung auch BGH Beschluss vom 26. November 2020 – V ZB 151/19, juris), zumal in dem Beschluss auch klar und eindeutig auf die nunmehr vom hiesigen Senat zu entscheidende Wiedereinsetzungsfrage verwiesen wird.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong> Der mit der Aktenweiterleitung hier am 22. August 2022 eingegangene Wiedereinsetzungsantrag ist ohne Aussicht auf Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong> Die zweiwöchige Wiedereinsetzungsfrist aus § 234 Abs. 1 S. 1 ZPO ist abgelaufen. Sie beginnt nach § 234 Abs. 2 ZPO mit dem Wegfall des Hindernisses, hier also schon am 14. Juli 2022 mit Zugang des Hinweises des Oberlandesgerichts Hamm auf die Zuständigkeitsproblematik. Ein sorgfältiger Anwalt hätte hier entweder unverzüglich Berufung beim zuständigen Oberlandesgericht Köln unter Stellung eines Wiedereinsetzungsantrages eingereicht oder zumindest mit Einreichung eines Wiedereinsetzungs- und Verweisungsantrages dafür gesorgt, dass das Oberlandesgericht Hamm die Akte innerhalb dieser Frist an das Oberlandesgericht Köln weiterleitet.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Doch selbst wenn man dies hier außer Acht lässt oder wegen des weniger klaren Hinweises des Oberlandesgerichts Hamm vom 22. Juli 2022 (noch innerhalb der laufenden Fristen) und der dann recht langen Verzögerungen bei der Verweisungsentscheidung und der Aktenweiterleitung nach Köln über eine etwaige Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist nachdenken würde, hat der Antrag jedenfalls in der Sache keinen Erfolg:</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>aa)</strong> Denn die ursprüngliche Anrufung des unzuständigen Oberlandesgerichts Hamms ist schuldhaft erfolgt (§ 85 Abs. 2 ZPO). Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, dass ein Rechtsanwalt in denjenigen Bereichen, in denen er etwa wegen § 13a GVG mit landesrechtlichen Zuständigkeitsverordnungen rechnen muss, das Rechtsmittelgericht sorgfältig – etwa in Vorschriftendatenbanken - ermitteln muss und hier auch strenge Anforderungen gelten; ein Rechtsirrtum ist regelmäßig nicht unverschuldet (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2014 – V ZB 172/13, juris Rn. 9 ff.; BGH, Beschluss vom 12. April 2010 – V ZB 224/09, juris Rn. 9, 12 ff.; <em>Schultzky</em>, MDR 2020,1, 2; Zöller/<em>Lückemann</em>, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 13a GVG Rn. 3). Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen ist der Gesetzgeber hierbei – insbesondere im Anwaltsprozess - nicht gehalten, Rechtsmittelbelehrungen in allen Fällen zwingend vorzugeben (BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1995 – 1 BvR 166/93, juris Rn. 29 ff.). Die in NRW vorgenommenen (zahlreichen) Zuständigkeitskonzentrationen waren zudem teils selbst der Tagespresse zu entnehmen; sie finden sich zudem veröffentlicht bei https://www.justiz.nrw.de/BS/recht_a_z/Z/Zust_ndigkeitskonzentrationen/index.php mit pdf-listen für die jeweiligen Instanzen unter Angabe der Fundstellen für die Einzelregelungen, die dann wiederum allesamt im Internet abrufbar sind. Dass (und wie?) der Klägervertreter sich vor der Rechtsmitteleinlegung überhaupt (welche?) Gedanken über die Möglichkeit einer entsprechenden Konzentrationsverordnung gemacht haben will, ist jedoch im Wiedereinsetzungsantrag nicht einmal angedeutet, geschweige denn glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>bb)</strong> Die Klägerseite kann sich dann nicht darauf stützen, dass sich das Verschulden des Anwalts hier nicht mehr ausgewirkt habe, weil das Oberlandesgericht richterliche Fürsorgepflichten versäumt hat und so die - hier recht frühzeitig eingelegte - Berufung noch fristgerecht an das zuständige Oberlandesgericht Köln hätte weiterleiten können und müssen bzw. mit einem frühzeitigen Hinweis die Klägerseite selbst zu einer – zeitlich u.U. noch rechtzeitig möglichen – Berufungseinlegung in Köln hätte anhalten können.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich sind solche Fälle zwar denkbar. Indes beschränkt sich die Verpflichtung der unzuständigen Gerichte zum eiligen „Gegensteuern“ auf Fälle, in denen entweder das Gericht seine Unzuständigkeit selbst bereits positiv erkannt hat oder zumindest greifbare Zweifel hatte und diese aktenkundig gemacht hat (wie im Fall BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – VIII ZB 20/09, NJW 2011, 683 Rn. 22 ff.) oder aber die Unzuständigkeit des angerufenen Rechtsmittelgerichts – bei Verneinung einer grundsätzlichen Prüfungspflicht der Gerichte – sogar „ohne Weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ bei der Bearbeitung im ordentlichen Geschäftsgang zu erkennen war (BGH a.a.O., Rn. 20; BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2015 – V ZB 103/14, juris Rz.10) und auch innerhalb dieser Zeit dann noch mit einer Weiterleitung zu rechnen war (allg. dazu BGH, Beschluss vom 27. Juli 2000 – III ZB 28/00, juris). Dass hier eine „Offensichtlichkeit“ gegeben sein soll, stellt der Klägervertreter im Schriftsatz vom 25. Juli 2022 sogar selbst in Abrede (Bl. 118 d. Senatshefts). Der Senat teilt diese Einschätzung. Dass der Vorsitzende des Zivilsenats bei seiner formularmäßigen Vorprüfung am 29. April 2021 (Bl. 15 d. Senatshefts) offenbar nur die gerichtsinterne Zuständigkeit des Senats und die senatsinterne Besetzung geprüft hat und dabei die Konzentrationsverordnung nicht bedacht zu haben scheint, ändert nichts an der Verfristung des Rechtsmittels und den fehlenden Aussichten des Wiedereinsetzungsantrages. Denn die Anforderungen an die gerichtliche Prüfungs- und Fürsorgepflicht dürfen nicht überspannt werden, weil man sonst die Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten ihrer eigenen Verantwortung für die Einhaltung der Rechtsmittelfristen entheben und die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens einseitig zu deren Gunsten verschieben würde (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – VIII ZB 20/09, NJW 2011, 683  Rn. 18). Hätte der Senatsvorsitzende zu diesem frühen Zeitpunkt die Akte aber im normalen Geschäftsgang eigentlich gar nicht näher prüfen müssen, können etwaige Ungenauigkeiten bei der - erkennbar nur vorläufigen - Bejahung der Senatszuständigkeit in einer ersten „Sichtprüfung“ allein noch nicht zur Anwendung der hier diskutierten Ausnahmefallgruppen führen. Es geht gerade nicht um einen eindeutigen Fall einer Fehladressierung an ein sachlich bereits vorbefasstes Gericht (dazu etwa BGH, Beschluss vom 15. Juni 2004 – VI ZB 75/03, juris Rn. 9; BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1995 – 1 BvR 166/93, juris Rn. 46) oder eine Adressierung an eine unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zuständige Stelle (BVerfG, Beschluss vom 2. September 2002 – 1 BvR 476/01, BStBl. II 2002, 835), zumal das Oberlandesgericht Hamm in anderen Fragen eben durchaus zuständiges Berufungsgericht für das Landgericht Dortmund ist.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Kläger erhält Gelegenheit, zu den vorstehend erteilten Hinweisen innerhalb der im Tenor bestimmten Frist Stellung zu nehmen bzw. Sachvortrag nach § 236 Abs. 2 S. 1 a,E, glaubhaft zu machen. Die eingeräumte Frist kann nur unter den Voraussetzungen des § 224 Abs. 2 ZPO oder mit Zustimmung des Gegners verlängert werden. Auf die Möglichkeit einer <span style="text-decoration:underline">kostensparenden</span> Rücknahme der Berufung (Nr. 1220, 1222 KV GKG) wird ausdrücklich hingewiesen.</p>
346,665
vg-hannover-2022-09-05-4-b-228822
{ "id": 615, "name": "Verwaltungsgericht Hannover", "slug": "vg-hannover", "city": 325, "state": 11, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
4 B 2288/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-23T10:00:52"
"2022-10-17T11:10:27"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 100.000,00 EURO festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin begehrt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Zwangsgeldfestsetzung sowie eine weitere Zwangsgeldandrohung der Antragsgegnerin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin, eine Wohnungseigentümergemeinschaft, ist Eigentümerin des Grundstücks mit der postalischen Anschrift D. Straße E. in F. (Flurstück G., Flur H., Gemarkung I.). Das Grundstück ist mit einem 12-geschossigen Wohngebäude bebaut, welches aus 48 Einheiten besteht. Die Höhe des Gebäudes beträgt von der Geländeoberfläche bis zur Fußbodenoberkante des höchstgelegenen Aufenthaltsraums ungefähr 31 m. In der Baugenehmigung zur Errichtung des Gebäudes vom 02.08.1972 wird auf die Einhaltung der gültigen Hochhausrichtlinie (HHR) vom 15.03.1958 hingewiesen. Nach Punkt 5 Satz 1 der HHR müssen tragende Bauteile feuerbeständig sein. Konkrete Regelungen zu Außenwandbekleidungen und Dämmungen trifft die HHR nicht. Erst seit 1981 müssen Außenwandbekleidungen aus nichtbrennbaren Materialien bestehen. Nach Punkt 3.4 der Muster-Hochhaus-Richtlinie (MHHR) von 2008 müssen Außenwandbekleidungen aus nichtbrennbaren Baustoffen bestehen. Bei der derzeitigen Fassade des Gebäudes handelt es sich um eine sog. hinterlüftete Fassade aus Faserzementplatten. Auf den tragenden Betonwänden sind zusätzlich Holzwolleleichtbauplatten (HWL) als Dämmung angebracht. Holzwolleleichtbauplatten entsprechen nicht der Baustoffklasse A2 (nichtbrennbar).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Mit Bescheid vom 08.07.2019 traf die Antragsgegnerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung u.a. folgende Regelungen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">1. Bis zum 31.12.2019 ist die brennbare Fassadenkonstruktion im Bereich des Treppenraumes am Wohngebäude zu entfernen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">2. Für den Fall, dass der Anordnung unter Punkt 1 nicht Folge geleistet wird, drohe ich ein Zwangsgeld in Höhe von 50.000 Euro an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">3. Bis zum 30.06.2020 ist die übrige brennbare Fassadenkonstruktion am Wohngebäude zu entfernen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">4. Für den Fall, dass der Anordnung unter Punkt 3 nicht Folge geleistet wird, drohe ich ein Zwangsgeld in Höhe von 50.000 Euro an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Der Bescheid wurde der Antragstellerin am 10.07.2019 zugestellt. Unter dem 12.08.2019 legte die Antragstellerin Widerspruch gegen den Bescheid ein. Unter dem 19.08.2019 stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des von ihr eingelegten Widerspruchs beim Verwaltungsgericht Hannover (4 B 3818/19).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Eine im Auftrag der Antragstellerin erstellte Kostenschätzung für die Fassadensanierung vom 14.10.2019 prognostiziert Gesamtkosten in Höhe von rund 2,3 Mio Euro für die Bauwerkskonstruktion, Abbrucharbeiten und Nebenkosten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>In der mündlichen Verhandlung über den Eilantrag am 26.11.2019 änderte die Antragsgegnerin den Bescheid vom 08.07.2019 wie folgt ab:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">1. Die Antragstellerin wird verpflichtet, bis zum 31.03.2020 ein in Kooperation mit der J. erstelltes Brandschutzkonzept eines von der IHK anerkannten Brandschutzsachverständigen vorzulegen, welche Maßnahmen für den Bestand des Gebäudes D. Straße E. zu ergreifen sind. Kommt das Brandschutzkonzept zu dem Ergebnis, dass eine effektive Brandbekämpfung möglich sei, ist das Konzept innerhalb von sechs Monaten umzusetzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">2. Für den Fall, dass das Brandschutzkonzept in der Kooperation mit K. und der L. keine effektive Möglichkeit aufzeigt, die Gefahr für Leib und Leben zu beseitigen oder nicht vorgelegt wird, gelten die Anordnungen des Bescheides vom 08.07.2019 in der Form, dass die Fristen jeweils um ein Jahr verlängert werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Der Rechtsstreit wurde daraufhin in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Gegen den Bescheid vom 08.07.2019 in Gestalt der Abänderungserklärung gemäß dem Protokoll der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts Hannover zu Az. 4 B 3818/19 vom 26.11.2019 legte die Antragstellerin unter dem 27.11.2019 Widerspruch ein. Über diesen Widerspruch wurde bisher noch nicht entschieden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin beschloss auf der 55. Eigentümerversammlung am 22.10.2020 einstimmig, die Sanierung der Fassaden nach dem Modell des Effizienzhauses 85 durchzuführen. Ebenso beschloss sie, den Architekten M. mit der Umsetzung der Arbeiten zu beauftragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>In der Eigentümerversammlung vom 29.09.2021 beschloss die Antragstellerin, dass im Rahmen eines Umlaufverfahrens mit einfacher Mehrheit die erforderliche Finanzierung zur Sanierung der Fassade beschlossen werden solle.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Der entsprechende Umlaufbeschluss vom 18.11.2021 lautet wie folgt:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">„Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer hat mehrheitlich entschieden, dass die Finanzierung der Gesamtbaumaßnahme durch Umlage (Sonderumlage/n) der Kosten auf die einzelnen Eigentümer nach Miteigentumsanteilen durchgeführt wird. Jeder Eigentümer hat somit für die Finanzierung seines Anteils zu sorgen. Die Beiträge gehen auch aus dem allen Wohnungseigentümern vorliegenden Schreiben/Aufstellung der Kostenübersicht der Firma die Energieingenieure hervor.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Dieser Umlaufbeschluss erfuhr wegen einer Änderung einer Vergaberichtlinie für die Förderung durch den Umlaufbeschluss vom 23.12.2021 eine Korrektur.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Auf die Anfechtung durch eine Miteigentümerin der Antragstellerin erklärte das Amtsgericht N. die beiden Umlaufbeschlüsse vom 18.11.2021 und vom 23.11.2021 (im Wesentlichen aus formellen Gründen) in seinem Urteil vom 05.07.2022 (21 C 50/21) für ungültig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Bereits mit Bescheid vom 24.05.2022 setzte die Antragsgegnerin ein Zwangsgeld in Höhe von 100.000 Euro fest und drohte ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von jeweils 100.000 Euro an, falls die Antragstellerin den Anordnungen der Ziffern 1 und 3 des Bescheids vom 08.07.2019 in der Fassung der Änderungserklärung vom 26.11.2019 bis zum 31.08.2022 nicht nachkommt und einen entsprechenden Nachweis der Beauftragung und des Beginns der angeordneten Maßnahmen der Antragsgegnerin nicht vorlegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Gegen den Bescheid vom 24.05.2022 legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 31.5.2022 Widerspruch ein. Über diesen wurde bislang noch nicht entschieden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin hat am 31.05.2022 beim Verwaltungsgericht Hannover einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Sie ist der Ansicht, die Festsetzung eines Zwangsgeldes sei rechtswidrig, da ein Vollstreckungshindernis bestehe. Die Umsetzung der Anordnungen der Antragsgegnerin sei derzeit mangels bestandskräftigem Beschluss der Wohnungseigentümergemeinschaft für die Antragstellerin rechtlich unmöglich. Nach § 20 Abs. 1 WEG könne die Antragstellerin die beabsichtigten Baumaßnahmen nur vornehmen, sofern ein bestandskräftiger Beschluss der Wohnungseigentümergemeinschaft vorliegt. Baumaßnahmen, die nicht durch einen solchen Beschluss legitimiert sind, könnten von jedem Miteigentümer durch zivilrechtliche Unterlassungsverfügungen verhindert werden. Ohne einen entsprechenden Beschluss könne die Antragstellerin die Anordnungen der Antragsgegnerin nur dann ausführen, sofern Duldungsverfügungen gegenüber den einzelnen Miteigentümern vorlägen. Dass die Antragsgegnerin keine Duldungsverfügungen erlassen habe, stelle somit ein Vollstreckungshindernis dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Ferner sei die Festsetzung des Zwangsgelds unverhältnismäßig. Das Zwangsgeld sei kein geeignetes Zwangsmittel, denn es führe dazu, dass der Antragstellerin Kapital entzogen werde, welches zur Finanzierung der Baumaßnahme erforderlich sei. Vielmehr sei ein Zwangsgeld kontraproduktiv, da ein Teil der Eigentümer bereits Schwierigkeiten habe, die erforderlichen Summen für die Baumaßnahmen aufzubringen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Mai 2022 über die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 100.000 € und die Androhung eines weiteren Zwangsgeldes anzuordnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Die Antragsgegnerin beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Sie ist der Auffassung, dass Duldungsverfügungen gegenüber den einzelnen Teileigentümern der Wohnanlage lediglich dann erforderlich seien, wenn Dritte die Durchführung von angeordneten Maßnahmen verhindern könnten. Duldungsverfügungen gegenüber einzelnen Miteigentümern der Antragstellerin seien nicht zielführend. Erneute Rechtsmittel gegen etwaige Duldungsverfügungen würden die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen weiter verschieben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Das festgesetzte Zwangsmittel stelle ferner das mildeste Mittel zur Abwendung der Gefahr für Leib und Leben der Bewohner des Gebäudes dar. Wegen der bestehenden Brandgefahr sei es zwingend erforderlich, die Maßnahmen zeitnah umzusetzen. Fehlende Beschlüsse nach dem WEG dürften nicht dazu führen, dass die Anordnungen nicht umgesetzt werden und Fristen wiederholt verlängert werden müssten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Der auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des gegen den Bescheid vom 24.05.2022 eingelegten Widerspruchs gerichtete Antrag ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO zulässig, da Rechtsbehelfe gegen die Festsetzung und Androhung von Zwangsmitteln gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 64 Abs. 4 Satz 1 NPOG keine aufschiebende Wirkung haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Der Antrag ist jedoch unbegründet. Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist dann begründet, wenn im Rahmen einer Abwägung das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das öffentliche Interesse an der Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts überwiegt. Dies beurteilt sich maßgeblich nach den Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs (BVerwG, Beschl. v. 16.09.2014 – 7 VR 1/14 –, Rn. 10, juris). Das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage bzw. ihres Widerspruchs überwiegt in der Regel, wenn sich im Rahmen einer summarischen Prüfung ergibt, dass der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Sollte sich der Verwaltungsakt hingegen als offensichtlich rechtmäßig erweisen, so tritt das Interesse der Antragstellerin regelmäßig zurück (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.02.1997 – 3 M 856/97 –, NVwZ 1997, 407, 407).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Nach summarischer Prüfung der Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs fällt die Interessenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus, denn der Bescheid vom 24.05.2022 ist aller Voraussicht nach sowohl in Hinblick auf die Festsetzung des Zwangsgelds (1.) als auch in Hinblick auf die Androhung eines gesteigerten Zwangsgelds (2.) rechtmäßig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>1. Die Festsetzung des Zwangsgeldes in Höhe von insgesamt 100.000 Euro dürfte sich als rechtmäßig erweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Rechtsgrundlage für die Festsetzung des Zwangsgeldes ist § 70 NVwVG i.V.m. §§ 64 Abs. 1, 65 Abs. 1 Nr. 2, 67 Abs. 1 Satz 1, 70 Abs. 1, 3, 5 NPOG. Danach kann zur Vollstreckung eines wirksamen Verwaltungsakts, der auf eine Handlung gerichtet ist, ein Zwangsgeld festgesetzt werden, wenn ein gegen den Verwaltungsakt gerichteter Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat. Zudem muss das Zwangsgeld zuvor angedroht und eine angemessene Frist zur Erfüllung der Verpflichtung gesetzt worden sein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>Der Bescheid vom 08.07.2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26.11.2019 stellt eine wirksame Grundverfügung dar, der auf die Vornahme einer Handlung gerichtet ist, denn der Antragstellerin wurde u.a. aufgegeben, die brennbare Fassadenkonstruktion am Wohngebäude zu entfernen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Der gegen den Bescheid vom 08.07.2019 in der Fassung vom 26.11.2019 eingelegte Widerspruch vom 27.11.2019 entfaltet gemäß § 70 NVwVG i.V.m. § 64 Abs. 1 Alt. 2 NPOG keine aufschiebende Wirkung, da die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet wurde. Zwar ordnet Ziffer 8 des Bescheids vom 08.07.2019 naturgemäß ausdrücklich nur die sofortige Vollziehung sämtlicher Anordnungen des Bescheids vom 08.07.2019 an und nicht auch der (zeitlich nachfolgenden) Ergänzung des Bescheids durch die Erklärungen im Termin zur mündlichen Verhandlung am 26.11.2019. Jedoch ergibt eine Auslegung des am 26.11.2019 abgeänderten Bescheids, dass die im ursprünglichen Bescheid in Ziff. 8 angeordnete sofortige Vollziehung auch für den abgeänderten Bescheid Geltung entfaltet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Hierfür spricht zum einen der Wortlaut der abgeänderten Verfügung (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.11.2019, Bl. 16 d.A.). Denn es ist ausdrücklich und vollumfänglich festgelegt worden, dass „die Anordnungen des Bescheides vom 08.07.2019“ gelten und lediglich die Fristen verlängert werden. Zum anderen spricht für diese Auslegung das Verhalten der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 26.11.2019. Denn im Anschluss an die Abänderung des Bescheids erklärte die Antragstellerin den Verzicht darauf, einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die geänderte Verfügung zu richten (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.11.2019, Bl. 16 d.A.). Wären die Beteiligten davon ausgegangen, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung im ursprünglichen Bescheid nicht für die abgeänderte Verfügung gelten solle, wäre die zu Protokoll gegebene Erklärung sinnlos gewesen, da ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen der dann bestehenden aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO bereits unzulässig gewesen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Das Zwangsgeld wurde gemäß § 70 NVwVG i.V.m. § 70 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 NPOG schriftlich und in bestimmter Höhe angedroht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Der Antragstellerin wurde nach § 70 NVwVG i.V.m. § 70 Abs. 1 Satz 2 NPOG eine angemessene Frist zur Erfüllung der Verpflichtung gesetzt. Angemessen ist eine Frist immer dann, wenn sie das behördliche Interesse an der Schleunigkeit der Ausführung berücksichtigt und zugleich dem Betroffenen die nach der allgemeinen Lebenserfahrung erforderliche Zeit gibt, seiner Pflicht nachzukommen (OVG Berlin, Beschl. v. 11.09.2014 – 10 S 8.13 –, Rn. 4, juris). Die von der Antragsgegnerin gesetzte Frist erfüllt diese Voraussetzungen. Die in Anordnung zu Ziffer 1 des Bescheids gesetzte Frist berücksichtigt zum einen das Interesse der Antragsgegnerin, eine im Brandfall sichere Rettung durch das Treppenhaus als Fluchtweg zu ermöglichen, um die in der brennbaren Fassadenkonstruktion liegende Gefahr für Leib und Leben der Bewohner und Bewohnerinnen des Wohngebäudes in der D. Straße E. schnellstmöglich zu beseitigen. Zum anderen wird durch die Fristsetzung bis zum 31.12.2020 dem Umstand Rechnung getragen, dass der Antragstellerin als Wohnungseigentümergemeinschaft für interne Abstimmungen und ggf. Beschlussfassung nach der Lebenserfahrung ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um die Anordnung umsetzen zu können. Die großzügiger gewählte Frist hinsichtlich der Anordnung zu Ziffer 3 des Bescheids erfüllt die Voraussetzungen ebenfalls. Denn dadurch wird der Antragstellerin die erforderliche Zeit gewährt, um der umfangreicheren Entfernung der übrigen Fassadenkonstruktion nachkommen zu können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin hat die ihr auferlegten Handlungspflichten nicht innerhalb der gesetzten Fristen erfüllt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>Als alleinige Adressatin des Bescheids vom 08.07.2019 in der Fassung vom 26.11.2019 ist sie auch richtige Vollstreckungsschuldnerin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>Die Festsetzung des Zwangsgeldes ist zudem verhältnismäßig. Insbesondere ist die Höhe des festgesetzten Zwangsgeldes, die dem angedrohten Betrag entspricht, nicht zu beanstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>Keinen Erfolg hat darüber hinaus das Argument der Antragstellerin, dass die Zwangsgeldfestsetzung unverhältnismäßig ist, weil das Zwangsgeld ungeeignet erscheint.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>Ob ein Zwangsgeld als Zwangsmittel zur Durchsetzung der zu vollstreckenden Grundverfügung geeignet ist, ist eine Frage der Zwangsgeldandrohung. Denn die Auswahl des zur Durchsetzung der Grundverfügung geeigneten und erforderlichen Zwangsmittels erfolgt auf der Stufe der Zwangsmittelandrohung (OVG Lüneburg, Beschl. v. 02.02.2015 – 4 LA 245/13 –, Rn. 14, juris). Die Zwangsmittelandrohung regelt bereits den Einsatz des bestimmten Zwangsmittels, sie trifft die Auswahl zwischen mehreren in Betracht kommenden Zwangsmitteln und enthält auch die Entscheidung, dass das ausgewählte Zwangsmittel eingesetzt werden darf, wenn der Adressat der Verfügung dem Handlungsgebot nicht nachkommt (OVG Lüneburg, Beschl. v. 02.02.2015 – 4 LA 245/13 –, Rn. 14, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>Einwendungen gegen eine Vollstreckungsmaßnahme sind grundsätzlich mit einem Rechtsmittel gegen diese Vollstreckungsmaßnahme geltend zu machen. Wird die Vollstreckungsmaßnahme bestandskräftig, so ist die Geltendmachung einer diesen Akt betreffenden Einwendung im weiteren Vollstreckungsverfahren grundsätzlich ausgeschlossen (OVG Lüneburg, Beschl. v. 02.02.2015 – 4 LA 245/13 –, Rn. 14, juris; VGH Kassel, Beschl. v. 04.10.1995 – 4 TG 2043/95 –, NVwZ-RR 1996, 715, 716). Dies gilt auch für den Fall, dass die wirksame Zwangsmittelandrohung sofort vollziehbar ist und der vorläufige Rechtsschutz gegen sie entweder nicht oder erfolglos gesucht worden ist (OVG Lüneburg, Beschl. v. 11.02.2000 – 1 L 4549/99 –, Rn. 11, juris; VGH Kassel, Beschl. v. 04.10.1995 – 4 TG 2043/95 –, NVwZ-RR 1996, 715, 716; OVG Münster, Beschl. v. 02.12.2019 – 10 B 1344/19 –, Rn. 6, juris). Einwendungen, die mit prozessualen Mitteln im prozessual zulässigen Umfang gegen die Zwangsgeldandrohung hätten geltend gemacht werden können, sind im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Zwangsgeldfestsetzung grundsätzlich ausgeschlossen (OVG Lüneburg, Beschl. v. 11.02.2000 – 1 L 4549/99 –, Rn. 11, juris; VGH Kassel, Beschl. v. 04.10.1995 – 4 TG 2043/95 –, NVwZ-RR 1996, 715, 716).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>Danach kann die Antragstellerin den Einwand, das Zwangsgeld sei nicht geeignet und deshalb unverhältnismäßig, nicht mehr mit Erfolg im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die Zwangsgeldfestsetzung erheben. Denn die Androhung der Zwangsgelder erfolgte mit Bescheid vom 08.07.2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26.11.2019. Sie ist von Gesetzes wegen sofort vollziehbar, da Rechtsbehelfe gegen Zwangsmittelandrohungen gemäß § 64 Abs. 4 Satz 1 NPOG keine aufschiebende Wirkung haben. Zwar stellte die Antragstellerin einen Eilantrag gegen den Bescheid vom 08.07.2019. Ob die Antragstellerin damit auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Androhung der Zwangsgelder in Ziffer 2 und 4 des Bescheides beantragt hat, kann dahingestellt bleiben. Denn zum einen wurden in diesem Verfahren keine Einwendungen gegen die Geeignetheit des Zwangsgeldes erhoben. Und zum anderen blieb das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der Beseitigung der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids vom 08.07.2019 in der Fassung vom 26.11.2019 erfolglos, da das Eilverfahren am 26.11.2019 durch übereinstimmende Erledigungserklärung beendet wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>Schließlich liegt entgegen der Ansicht der Antragstellerin kein Vollstreckungshindernis vor. Insbesondere wird von der Antragstellerin dadurch nichts rechtlich Unmögliches verlangt, dass keine Duldungsverfügungen gegenüber ihren Mitgliedern erlassen worden sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Ein Vollstreckungshindernis, das die Befolgung der behördlichen Anordnung rechtlich unmöglich macht, ist nach allgemeinem Verwaltungsvollstreckungsrecht u.a. dann gegeben, wenn der Vollstreckungsschuldner einer ihm obliegenden Pflicht nicht nachkommen kann, ohne in die zivilrechtlichen Rechte Dritter einzugreifen (OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.01.2016 – 15 MF 21/15 –, Rn. 36, juris; OVG Koblenz, Urt. v. 25.11.2009 – 8 A 10502/09 –, Rn. 18, juris). Sofern eine baurechtliche Verfügung zwangsweise durchgesetzt werden soll, müssen Dritte, die den Adressaten der Verfügung aufgrund eines Rechtsverhältnisses an deren Ausführung hindern können, der Ausführung entweder zustimmen oder durch entsprechende Anordnung zur Duldung verpflichtet werden (Mann in: Große-Suchsdorf, Niedersächsische Bauordnung, 10. Auflage 2020, NBauO § 79 Rn. 89). Eine Duldungsverfügung ist immer dann erforderlich, wenn ein Dritter den Adressaten einer bauaufsichtlichen Anordnung an ihrer Befolgung hindern kann, weil ihm obligatorische oder dingliche Rechte an der baulichen Anlage zustehen (Mann in: Große-Suchsdorf, Niedersächsische Bauordnung, 10. Auflage 2020, NBauO § 79 Rn. 91; OVG Lüneburg, Urt. v. 11.02.1985 – 6 A 95/82-, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>Trotz des fehlenden Beschlusses über die Finanzierung der Maßnahmen, die in Ziffer 1 und 3 des Bescheids vom 08.07.2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26.11.2019 angeordnet worden sind, bedarf es zur Vollziehung dieser Anordnungen keiner Duldungsverfügung gegenüber den Mitgliedern der Antragstellerin. Denn die einzelnen Mitglieder können im Hinblick auf die Fassadenkonstruktion am Gebäude keine dinglichen oder obligatorischen Rechte geltend machen. Ihnen stehen insbesondere keine sich aus Eigentums- oder Besitzrechten ergebenden Abwehransprüche zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Die (ggf. gerichtliche) Geltendmachung von Ansprüchen im Hinblick auf bauliche Veränderungen am Gemeinschaftseigentum ist nur durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer selbst möglich. Dies folgt aus der seit dem 01.12.2020 geltenden Regelung in § 9a Abs. 2 Alt. 1 WEG. Nach § 9a Abs. 2 Alt. 1 WEG übt die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte der Wohnungseigentümer aus. Die gesetzliche Befugnis bezieht sich auf alle Rechte der Wohnungseigentümer, die aus dem Miteigentum am gemeinschaftlichen Eigentum fließen (BT-Drs. 19/18791, 47; Wicke in: Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 81. Auflage 2022, WEG, § 9a Rn. 7). Erfasst sind insbesondere Ansprüche aus § 1004 BGB wegen der Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums (BT-Drs. 19/18791, 47), auf Eigentumsverletzung beruhende schuldrechtliche Ansprüche sowie Besitzschutzansprüche aus §§ 861ff. BGB (Wicke in: Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 81. Auflage 2022, WEG, § 9a Rn. 7). Sofern die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer für einen Anspruch nach § 9a Abs. 2 Alt. 1 WEG ausübungsbefugt ist, übt allein sie diesen Anspruch für die Wohnungseigentümer aus. Die Ausübungsbefugnis der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer schließt die individuelle Ausübung dieser Rechte durch die einzelnen Wohnungseigentümer aus (LG Frankfurt a. M., Urt. v. 28.01.2021 – 2-13 S 155/19 –, NJW 2021, 643, 643f.; Hügel in: Hau/Poseck, BeckOK Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Edition 01.05.2022, WEG § 9a Rn. 29). Dies hat zur Folge, dass insbesondere privatrechtliche Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche bei einer Störung oder Beeinträchtigung des Gemeinschaftseigentums nur von der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ausgeübt und geltend gemacht werden können (LG Frankfurt a. M., Urt. v. 11.2.2021 – 2/13 S 46/20 –, NZM 2021, 239, 240; VGH München, Beschl. v. 24.07.2014 – 15 CS 14.949, BeckRS 2014, 55292 Rn. 19; Hügel in: Hau/Poseck, BeckOK Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Edition 01.05.2022, WEG § 20 Rn. 31). Wird die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nicht tätig, kann der einzelne Eigentümer lediglich im Innenverhältnis einen Anspruch auf ordnungsmäßige Verwaltung nach § 18 Abs. 2 WEG gegen die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer geltend machen (Hügel in: Hau/Poseck, BeckOK Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Edition 01.05.2022, WEG § 9a Rn. 29).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>Danach ist allein die Antragstellerin befugt, etwaige privatrechtliche Ansprüche wie den Anspruch auf Beseitigung oder Unterlassung von Beeinträchtigungen durch bauliche Veränderungen an der Fassade gemäß § 1004 BGB oder besitzschutzrechtliche Ansprüche gemäß §§ 861f. BGB auszuüben. Die einzelnen Mitglieder der Antragstellerin können diese Rechte nicht geltend machen, da es sich bei der angeordneten baulichen Veränderung an der Fassade um eine Beeinträchtigung des Gemeinschaftseigentums handelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>Gemeinschaftliches Eigentum im Sinne des WEG sind gemäß § 1 Abs. 5 WEG das Grundstück und das Gebäude, soweit sie nicht im Sondereigentum oder im Eigentum eines Dritten stehen. Sondereigentum ist in § 3 Abs. 1 Satz 1 WEG definiert als Eigentum an einer bestimmten Wohnung oder an nicht zu Wohnzwecken dienenden Räumen in einem auf dem Grundstück errichteten oder zu errichtenden Gebäude. Nach § 5 Abs. 2 WEG sind Teile des Gebäudes, die für dessen Bestand oder Sicherheit erforderlich sind, nicht Gegenstand des Sondereigentums, selbst wenn sie sich im Bereich der im Sondereigentum stehenden Räume oder Teile des Grundstücks befinden. Danach gehören neben den konstruktiv notwendigen Teilen des Gebäudes auch alle Anlagen und Einrichtungen zum Gemeinschaftseigentum, die funktional dem Bestand oder der Sicherheit des Gebäudes dienen und hierfür erforderlich sind (Armbrüster in: Bärmann, Wohnungseigentümergesetz, 12. Auflage 2013, § 5 Rn. 31ff.). Für die Erforderlichkeit ist die Verkehrsanschauung maßgeblich. Sofern bereits eine öffentlich-rechtliche Pflicht zur Ausstattung des Gebäudes mit bestimmten Einrichtungen oder Anlagen besteht, wird hierdurch die Erforderlichkeit bestimmt (Armbrüster in: Bärmann, Wohnungseigentümergesetz, 12. Auflage 2013, § 5 Rn. 34). Einrichtungen, die dem Brandschutz des Gebäudes dienen und gesetzlich vorgeschrieben sind, sind für die Sicherheit des Gebäudes erforderliche Teile (OLG München, Beschl. v. 13.08.2007 – 34 Wx 75/07 –, NZM 2008, 493, 494; Armbrüster in: Bärmann, Wohnungseigentümergesetz, 12. Auflage 2013, § 5 Rn. 34; Hügel in: Hau/Poseck, BeckOK Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Edition 01.05.2022, WEG § 5 Rn. 15).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>Danach steht die Fassadenkonstruktion vorliegend im Gemeinschaftseigentum, da sie einen für die Sicherheit des Gebäudes erforderlichen Teil darstellt. Der Außenwandbekleidung kommt eine Schutzfunktion vor Brandgefahren zu, was sich u.a. aus Punkt 3.4 der Muster-Hochhaus-Richtlinie (MHHR) von 2008 ergibt. Denn danach ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Außenwandbekleidung aus nichtbrennbaren Baustoffen beschaffen sein muss, um Fassadenbrände, welche von der Feuerwehr nicht wirksam bekämpft werden können, zu vermeiden (vgl. Punkt 3.4. der MHHR-Erläuterung – Fachkommission Bauaufsicht Fassung 18. April 2008, abgerufen am 18.08.2022 unter https://www.pruefsv.de/upload/files/Gesetze%20und%20Verordnungen/Musterwelt/MHHR_2008_04.pdf).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p>Dem steht auch nicht entgegen, dass bei formaler Betrachtung die Mitglieder der Antragstellerin Inhaber der Miteigentumsrechte sind und diese vorliegend betroffen sein könnten (vgl. LG Frankfurt a. M., Urt. v. 28.01.2021 – 2-13 S 155/19 –, NJW 2021, 643, 643). Denn mangels einer Befugnis zur Ausübung ihrer Miteigentumsrechte können sie die sich hieraus ergebenden Ansprüche nicht (gerichtlich) durchsetzen und die Antragstellerin an der Durchführung der baulichen Maßnahmen nicht hindern. Gesonderter Duldungsverfügungen gegenüber einzelnen Miteigentümern bedarf es deshalb nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p>Entgegen der Ansicht der Antragstellerin liegt auch nicht deshalb ein Vollstreckungshindernis vor, weil kein bestandskräftiger Beschluss nach § 20 Abs. 1 WEG existiert. Zwar bedarf es nach § 20 Abs. 1 WEG grundsätzlich für jede bauliche Veränderung, d.h. für jede Maßnahme, die über die ordnungsgemäße Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums hinausgeht, eines Beschlusses der Wohnungseigentümer. Jedoch kommt es aus vollstreckungsrechtlicher Sicht nicht auf die Beschlussfassung an. Die Antragstellerin kann auch ohne einen gefassten Beschluss den Anordnungen nachkommen. Denn sie ist als Wohnungseigentümergemeinschaft nach § 9a Abs. 2 Alt. 1 WEG befugt, bauliche Maßnahmen an der Fassadenkonstruktion als Teil des gemeinschaftlichen Eigentums vorzunehmen. Die Wahrnehmungsbefugnis, die § 9a Abs. 2 Alt. 1 WEG verleiht, wird im Außenverhältnis nicht durch Bindungen des Innenverhältnisses eingeschränkt. Setzt sich die Wohnungseigentümergemeinschaft im Außenverhältnis über die Bindungen und Vorgaben im Innenverhältnis hinweg, so ist die vorgenommene Handlung gleichwohl wirksam (Lafontaine in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Auflage 2022, WEG, § 9a Rn. 194). Etwaige (Schadensersatz-)Ansprüche innerhalb der Wohnungseigentümergemeinschaft bleiben auf der Vollstreckungsebene unberücksichtigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_60">60</a></dt> <dd><p>Ferner hätte ein fehlender Beschluss nach § 20 Abs. 1 WEG lediglich zur Folge, dass ein Anspruch auf Beseitigung der vorgenommenen baulichen Maßnahme bestünde (Hügel in: Hau/Poseck, BeckOK Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Edition 01.05.2022, WEG § 20 Rn. 7; Wicke in: Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 81. Auflage 2022, WEG, § 20 Rn. 24f.). Entsprechende Beseitigungsansprüche können vorliegend jedoch gemäß § 9a Abs. 2 WEG ausschließlich von der Antragstellerin selbst und nicht von den einzelnen Mitgliedern der Wohnungseigentümergemeinschaft geltend gemacht werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_61">61</a></dt> <dd><p>2. Die Androhung eines weiteren (gesteigerten) Zwangsgeldes in Höhe von insgesamt 200.000 Euro ist ebenfalls aller Voraussicht nach rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 70 NVwVG i.V.m. §§ 64 Abs. 1, 65 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 67 Abs. 1, 70 Abs. 1, 3, 5 NPOG. Danach ist ein Zwangsgeld zur Durchsetzung eines Verwaltungsakts möglichst schriftlich und in bestimmter Höhe anzudrohen sowie eine angemessene Frist zur Erfüllung der Verpflichtung zu setzen. Dabei kann die Androhung eines weiteren, gegebenenfalls erhöhten Zwangsgeldes mit der Festsetzung des Zwangsgeldes verbunden werden (OVG Lüneburg, Beschl. v. 07.10.1996 – 1 M 5433/96 –, Rn. 7, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_62">62</a></dt> <dd><p>Diese Voraussetzungen liegen vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_63">63</a></dt> <dd><p>Die Antragsgegnerin drohte im Bescheid vom 24.05.2022 schriftlich ein Zwangsgeld in Höhe von jeweils 100.000 Euro für den Fall an, dass den Anordnungen zu Ziffer 1 und 3 des Bescheids vom 08.07.2019 in der Fassung vom 26.11.2019 nicht bis zum 31.08.2022 nachgekommen wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_64">64</a></dt> <dd><p>Die Kammer hat nach summarischer Prüfung auch keine Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit der Frist. Die der Antragstellerin gesetzte Frist trägt sowohl dem Interesse der Antragsgegnerin an der Dringlichkeit des Vollzugs als auch den Möglichkeiten der Antragstellerin, die Anordnung zu befolgen, in ausreichendem Maße Rechnung. Zwar fällt die im Bescheid vom 24.05.2022 gesetzte Frist deutlich kürzer aus als die im Bescheid vom 08.07.2019 in der Fassung vom 26.11.2019 gesetzte Frist. Jedoch ergibt sich durch Auslegung in entsprechender Anwendung von §§ 133, 157 BGB, dass die Antragstellerin innerhalb der im Bescheid vom 24.05.2022 gesetzten Frist lediglich die Beauftragung und den Beginn der Maßnahmen nachweisen muss, nicht aber die vollständige Entfernung der Fassadenkonstruktion. Für diese Auslegung spricht, dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin (nur) dazu aufgefordert hat, einen Nachweis über die Beauftragung und den Beginn der angeordneten Maßnahmen vorzulegen. Die Vorlage eines Nachweises über die vollständige Entfernung der Fassadenkonstruktion ist hingegen nicht angeordnet worden. Daraus ergibt sich bei verständiger Würdigung, dass die Antragstellerin die Fassadenkonstruktion bis zum 31.08.2022 nicht vollständig entfernt haben muss. Dadurch wird ihr nach der allgemeinen Lebenserfahrung ausreichend Zeit eingeräumt, die Beauftragung und den Beginn der Maßnahmen bis zum 31.08.2022 umzusetzen. Gleichzeitig wird das Interesse der Antragsgegnerin an der zeitnahen Umsetzung der Maßnahmen berücksichtigt, um die Gefahr für Leib und Leben der Bewohner und Bewohnerinnen zu beseitigen. Diesem Interesse kommt vorliegend ein starkes Gewicht zu, da bereits zwei gesetzte Fristen erfolglos verstrichen sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_65">65</a></dt> <dd><p>Schließlich ist die erneute Zwangsgeldandrohung auch verhältnismäßig, insbesondere geeignet zur Erfüllung des Zwecks.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_66">66</a></dt> <dd><p>Die Androhung eines Zwangsmittels ist bereits dann geeignet, wenn es bei objektiver Betrachtung dazu beiträgt, dass der Betroffene sich pflichtgemäß verhält (Tillmanns in: Sadler/Tillmans, Verwaltungsvollstreckungsgesetz Verwaltungszustellungsgesetz, 10. Auflage 2020, VwVG § 9 Rn. 42). Dabei ist nicht entscheidend, ob das Zwangsgeld beigetrieben werden kann, d.h. ob der Pflichtige in der Lage ist, den angedrohten Betrag aufzubringen. Vielmehr ist alleine maßgeblich, ob das angedrohte Zwangsmittel dazu beitragen wird, dass der Wille des Pflichtigen gebeugt wird (Tillmanns in: Sadler/Tillmans, Verwaltungsvollstreckungsgesetz Verwaltungszustellungsgesetz, 10. Auflage 2020, VwVG § 9 Rn. 42). Ein Zwangsgeld ist nur dann ungeeignet, wenn es keine Wirkung im Hinblick auf den angestrebten Zweck entfaltet (VG Cottbus, Urt. v. 13.01.2022 – 3 K 974/21 –, Rn. 17, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_67">67</a></dt> <dd><p>Danach ist die Androhung des weiteren Zwangsgeldes geeignet. Mit der Zwangsgeldandrohung bezweckt die Antragsgegnerin, dass die Antragstellerin mit der Umsetzung der ihr gegenüber angeordneten Maßnahmen beginnt und hierüber einen Nachweis erbringt. Dass sich die Antragstellerin von der Zwangsgeldandrohung nicht unbeeindruckt zeigt, belegt der Umstand, dass die Antragstellerin im einstweiligen Rechtsschutz auch gegen die Androhung eines weiteren Zwangsgeldes vorgeht, da sie ein Zwangsgeld grundsätzlich für kontraproduktiv hält. Bei objektiver Betrachtung der Gesamtumstände des Einzelfalls, insbesondere der von der Antragstellerin vorgetragenen finanziell angespannten Situation, ist davon auszugehen, dass das angedrohte Zwangsgeld dazu beitragen wird, dass die Antragstellerin wegen der drohenden zusätzlichen finanziellen Belastung den Anordnungen in Ziffer 1 und 3 des Bescheids vom 08.07.2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26.11.2019 Folge leisten wird. Dadurch kommt dem angedrohten Zwangsgeld bei objektiver Betrachtung durchaus Wirkung hinsichtlich der Durchsetzung der Anordnungen zu. Insbesondere kann die Antragstellerin nicht damit durchdringen, dass ihr durch die Androhung eines weiteren Zwangsgeldes Kapital für die auferlegten Baumaßnahmen entzogen werden würde. Dieser Umstand muss hinsichtlich der Geeignetheit des Zwangsmittels unberücksichtigt bleiben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_68">68</a></dt> <dd><p>Auch bestehen im Hinblick auf die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes keine Bedenken. Die Höhe des Zwangsgeldes muss in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung des Erfolgs stehen (VG Hannover, Beschl. v. 02.03.2009 – 10 B 740/09 –, Rn. 26, juris). Bei der Bemessung ist nach § 70 NVwVG i.V.m. § 67 Abs. 1 Satz 2 NPOG auch das wirtschaftliche Interesse des Betroffenen an der Nichtbefolgung des Verwaltungsakts zu berücksichtigen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_69">69</a></dt> <dd><p>Zwar schöpft die Antragsgegnerin den Rahmen der Zwangsgeldhöhe nach § 67 Abs. 1 Satz 1 NPOG n.F. vollständig aus. Jedoch ist dies angesichts der mit dem Bescheid vom 08.07.2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26.11.2019 verfolgten Zielsetzung, der Beseitigung einer konkreten Gefahr für Leib und Leben der Bewohner und Bewohnerinnen des Wohngebäudes, und der Erheblichkeit der Verstöße gegen die Anordnungen durch die Antragstellerin nicht zu beanstanden. Aufgrund der brennbaren Fassadenkonstruktion besteht ein dringendes Bedürfnis an der Erfüllung der Handlungspflicht. Ferner ist die Antragstellerin bisher noch keiner der ihr in Ziffer 1 und 3 des Bescheids vom 08.07.2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26.11.2019 aufgegebenen Handlungspflichten nachgekommen. Für die Angemessenheit des Zwangsgeldes spricht zudem, dass das angedrohte Zwangsgeld deutlich hinter den voraussichtlich anfallenden Kosten für die Entfernung und Erneuerung der Fassadenkonstruktion und damit dem wirtschaftlichen Interesse der Antragstellerin an der Nichtbefolgung zurückbleibt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_70">70</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin hat als Unterlegene gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_71">71</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Hinsichtlich der Festsetzung des Zwangsgeldes orientiert sich die Höhe des Streitwerts an Ziff. 12c) der Streitwertannahmen der mit Bau- und Immissionsschutzsachen befassten Senate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für ab dem 01.06.2021 eingegangene Verfahren, wonach ein Streitwert von 100.000 Euro anzusetzen war. Im Hinblick auf die Androhung des Zwangsgeldes war nach Ziff. 12b) der vorgenannten Streitwertannahmen die Hälfte des angedrohten Zwangsgelds von 200.000 Euro, also ein Streitwert von 100.000 Euro anzusetzen. Nach Ziff. 12d) der Streitwertannahmen sind die Streitwerte zu kombinieren und nach Ziff. 17b) für das vorliegende Eilverfahren zu halbieren.</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007140&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,591
ovgnrw-2022-09-05-19-e-32222
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 E 322/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:02"
"2022-10-17T11:10:13"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0905.19E322.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der angefochtene Beschluss wird geändert.</p> <p>Der Klägerin wird für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt U.     aus E.     beigeordnet.</p> <p>Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren zu Unrecht abgelehnt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin erfüllt die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Sie ist nach der vorgelegten Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage, die Verfahrenskosten zu tragen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klage bietet auch die von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorausgesetzte hinreichende Aussicht auf Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffes einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance indes nur eine entfernte ist. Soweit Tatsachen im Streit stehen und Ermittlungen erforderlich sind, ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Zugleich dürfen schwierige oder ungeklärte Rechtsfragen nicht schon im Verfahren der Bewilligung von Prozesskostenhilfe „durchentschieden“ werden, weil das Prozesskostenhilfeverfahren den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern erst zugänglich machen soll.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 22. März 2021 ‑ 2 BvR 353/21 -, juris, Rn. 5, vom 22. August 2018 ‑ 2 BvR 2647/17 ‑, NVwZ-RR 2018, 873, juris, Rn. 14, vom 4. August 2016 ‑ 1 BvR 380/16 ‑, juris, Rn. 12, und vom 30. April 2007 ‑ 1 BvR 1323/05 ‑, NVwZ-RR 2007, 569, juris, Rn. 23; OVG NRW, Beschlüsse vom 15. Dezember 2020 - 19 E 85/20 -, juris, Rn. 4, und vom 6. November 2020 - 19 E 776/20 -, juris, Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Daran gemessen steht der Klägerin die begehrte Prozesskostenhilfe zu. Die Erfolgsaussichten ihrer Klage gegen den Kostenfestsetzungsbescheid der Beklagten vom 9. September 2021 sind nach Aktenlage zumindest offen. Es spricht viel dafür, dass der Kostenforderung keine rechtmäßige Ersatzvornahme zugrunde liegt, weil es unabhängig vom Zeitpunkt des Zugangs der Ordnungsverfügung vom 23. März 2021 jedenfalls an der nach § 64 VwVG NRW erforderlichen Festsetzung des Zwangsmittels fehlte und die Erdbestattung des verstorbenen Ehemanns der Klägerin nicht im Sinn des § 55 Abs. 2 VwVG NRW zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig war.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 BestG NRW müssen Erdbestattungen oder Einäscherungen innerhalb von zehn Tagen durchgeführt werden. Bei einer Feuerbestattung endet die gegenwärtige Gefahr im Sinn dieser Vorschrift mit der Einäscherung des Leichnams und der Aufnahme der Aschenreste in eine Urne. Hat die Ordnungsbehörde beides vollzogen, ist die Urnenbeisetzung wegen des Wegfalls hygienischer Gründe nicht mehr so eilbedürftig, dass die Ordnungsbehörde sie dem Bestattungspflichtigen gegenüber nicht auch im gestreckten Vollstreckungsverfahren nach § 55 Abs. 1 VwVG NRW durchsetzen könnte.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Dezember 2017 ‑ 19 E 111/17 -, juris, Rn. 9, und vom 1. Juli 2015 - 19 A 2635/11 -, juris, Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Behörde muss sich bei der Ersatzvornahme für eine Feuerbestattung entscheiden, wenn diese kostengünstiger als eine Erdbestattung ist und eine anderslautende Willensbekundung des Verstorbenen oder der Angehörigen nicht vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Juli 2009 ‑ 19 A 448/07 -, juris, Rn. 69.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass eine Einäscherung nicht dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entsprochen hätte oder eine Erdbestattung aus anderen Gründen notwendig gewesen wäre. Vielmehr verstieß die Erdbestattung nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auch gegen das bestattungsrechtliche Subsidiaritätsprinzip aus § 8 Abs. 1 Satz 2 BestG NRW, weil der Klägerin damit die Möglichkeit genommen wurde, selbst über die Art und den Ort der Beisetzung zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 4 ff.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten erfolgt nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 2 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.</p>
346,590
ovgnrw-2022-09-05-6-a-230620
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6 A 2306/20
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:02"
"2022-10-17T11:10:13"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0905.6A2306.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die Klägerin stützt ihn auf die Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 4 VwGO. Keiner dieser Zulassungsgründe ist gegeben.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Das Antragsvorbringen weckt zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.10.2020 - 2 BvR 2426/17 -, NVwZ 2021, 325 = juris Rn. 34 m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 - 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542 = juris Rn. 9.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Dabei ist innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in substantiierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn das Gericht schon auf Grund des Antragsvorbringens in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung nicht dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Klage sei unzulässig, weil die Klägerin nicht klagebefugt sei. Ihr fehle eine subjektive Rechtsposition, aufgrund derer sie eine erneute Entscheidung über ihre Bewerbung für das Nachersatzverfahren für die Spezialeinheiten der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen begehren könne. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts könne sich ein Beamter bei einer Auswahl unter Bewerbern um einen im Wege der ämtergleichen Umsetzung zu besetzenden Dienstposten (Umsetzungskonkurrenz) nicht auf die Verfahrensgarantien eines Bewerbungsverfahrensanspruchs aus Art. 33 Abs. 2 GG berufen. Ein solcher Fall liege vor, da der streitgegenständliche Dienstposten einer Funktion im Mobilen Einsatzkommando (MEK) im Rahmen einer reinen, ämtergleichen Umsetzung zu besetzen sei. Mit der Stellenbesetzung sei keine zeitgleiche Beförderung verbunden. Es handele sich auch nicht um eine Dienstpostenbesetzung, dem Statusrelevanz zukomme. Bei dem Dienstposten stehe für keinen der Konkurrenten die Vergabe eines höherwertigen Statusamtes oder eine dies vorwegnehmende bzw. in sonstiger Weise förderliche Entscheidung in Rede. Es handele sich um eine innerorganisationsrechtliche Maßnahme, die allein im öffentlichen Interesse an einer möglichst optimalen Aufgabenerfüllung und Stellenbesetzung getroffen werde und die Individualsphäre des Beamten regelmäßig nicht berühre. Dass eine spätere Bewerbung um ein nach A 12 oder A 13 bewertetes Beförderungsamt innerhalb des MEK nur möglich sei, wenn zuvor der streitgegenständliche Dienstposten beim MEK durchlaufen worden sei, führe ebenfalls nicht zur Annahme, es handele sich bei dem streitgegenständlichen Dienstposten um einen Beförderungsdienstposten oder dieser sei als in sonstiger Weise förderlich anzusehen. Einen Anspruch innerhalb einer beamtenrechtlichen Laufbahn eine Beförderung zu einem bestimmten Dienstposten erlangen zu können, vermittele die grundrechtlich geschützte Rechtsposition aus Art. 33 Abs. 2 GG nicht. Das Durchlaufen der streitgegenständlichen Funktion beim MEK sei auch keine laufbahnrechtliche Voraussetzung für eine Beförderung ins nächsthöhere Statusamt der Laufbahn der Klägerin.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das gegen diese näher erläuterten Feststellungen gerichtete Zulassungsvorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">1. Die Klägerin wendet ein, das Verwaltungsgericht habe das Vorliegen einer Klagebefugnis zu Unrecht verneint. Denn es handele sich bei dem streitgegenständlichen Dienstposten um einen förderlichen Dienstposten. Die Förderlichkeit des Dienstpostens ergebe sich daraus, dass eine (erfolgreiche) Bewerbung auf ein nach A 12 oder A 13 bewertetes Beförderungsamt innerhalb des MEK nur bei einer, durch den begehrten Dienstposten zu erreichenden, zweijährigen Vorerfahrung im Bereich der Sondereinheiten möglich sei. Mit der Vergabe des begehrten Dienstpostens werde daher eine Vorentscheidung darüber getroffen, welcher Beamte sich später auf einen Beförderungsdienstposten bei den Spezialeinheiten bewerben könne, sodass die Entscheidung über die Besetzung des streitgegenständlichen Dienstpostens den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG unterliegen müsse. Die an personalwirtschaftlichen Gründen ausgerichtete Auswahlentscheidung sei vor diesem Hintergrund unzulässig und verletze sie in ihrem Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit diesem Vorbringen dringt die Klägerin nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, der Klägerin fehle die für eine zulässige Klage erforderliche Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO, also eine subjektive Rechtsposition, aufgrund der sie eine erneute Entscheidung über ihre Bewerbung für das Nachersatzverfahren für die Spezialeinheiten der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen begehren könnte.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 42 Abs. 2 VwGO muss ein Kläger</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">geltend machen können, durch den angefochtenen Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines begehrten Verwaltungsakts in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies gilt entsprechend bei einem mit einer Leistungsklage zu verfolgenden sonstigen Verwaltungshandeln, wie es hier mit der von der Klägerin begehrten erneuten Entscheidung über ihre Bewerbung für den streitbefangenen Dienstposten in Rede steht. Die Klagebefugnis ist gegeben, wenn unter Zugrundelegung des Klagevorbringens eine Verletzung des geltend gemachten Rechts möglich erscheint. Daran fehlt es, wenn die von der Klägerin geltend gemachte Rechtsposition offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise besteht oder ihr zustehen kann.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.11.2015 - 2 A 6.13 -, BVerwGE 153, 246 = juris Rn. 15 m. w. N; OVG NRW, Urteil vom 30.11.2017 - 6 A 2314/15 -, juris Rn. 48.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt kann sich die Klägerin zur Begründung einer subjektiven Rechtsposition nicht auf Art. 33 Abs. 2 GG berufen. Denn der Besetzungsentscheidung über die streitgegenständliche Funktion innerhalb des MEK kommt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargestellt hat, keine Statusrelevanz zu. Eine solche liegt nur vor, wenn es sich um einen Beförderungsdienstposten oder eine vorgelagerte Auswahlentscheidung handeln würde, in der durch die Besetzung des Dienstpostens eine zwingende Voraussetzung für die nachfolgende Beförderung vermittelt und die Auswahl für die Ämtervergabe damit vorweggenommen oder vorbestimmt wird,</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 3.12.2014 - 2 A 3.13 -, BVerwGE 151, 14 = juris Rn. 15 m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">oder der Dienstposten für den mit der Ausschreibung angesprochenen Bewerberkreis in sonstiger Weise als förderlich anzusehen ist. Letzteres ist der Fall, wenn der Dienstherr dies in einer speziellen Ausschreibung erkennen lässt oder in ständiger Verwaltungspraxis die Wahrnehmung von mit dem Dienstposten verbundenen Funktionen im Rahmen späterer Beförderungsentscheidungen besonders berücksichtigt oder sogar voraussetzt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 7.12.2016 ‑ 1 WDS-VR 4.16 -, juris Rn. 31 f.; OVG NRW, Urteile vom 30.11.2017 - 6 A 2314/15 -, juris Rn. 58 f., und 29.6.2017 - 6 A 1615/15 -, juris Rn. 41, sowie Beschluss vom 9.6.2016 - 6 A 501/15 -, juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dabei ist jedoch eine hinreichend enge Beziehung zwischen der Besetzung des Dienstpostens und den nachfolgenden Beförderungsentscheidungen im Sinne einer Vorprägung bzw. qualifizierten Vorwirkung erforderlich. Die Wahrnehmung des Dienstpostens muss maßgebliche Bedeutung für das weitere berufliche Fortkommen haben. Die Eröffnung lediglich einer ungewissen Chance auf Beförderung reicht mithin für die Annahme einer Statusrelevanz der Dienstpostenbesetzung nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22.9.2021 - 1 W-VR 7/21 -, ZBR 2022, 31 = juris Rn. 31, vom 25.2.2021 ‑ 1 WB 15/20 -, juris Rn. 30, vom 26.11.2020 - 1 WB 8/20 -, juris Rn. 22 sowie vom 30.1.2014 - 1 WB 1/13 -, DokBer 2014, 163 = juris Rn. 32; OVG NRW, Urteile vom 9.7.2021 - 1 A 24/18 -, juris Rn. 56, 30.11.2017 - 6 A 2314/15 -, juris Rn. 62 und vom 29.6.2017 - 6 A 1615/15 -, juris Rn. 43, sowie Beschluss vom 9.6.2016 - 6 A 501/15 -, juris Rn. 16; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.12.2019 - 4 S 2980/19 -, IÖD 2020, 44 = juris Rn. 13.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran handelt es sich bei der Besetzung des streitbefangenen Dienstpostens um eine reine ämtergleiche Umsetzung bzw. Versetzung, die nicht dem Anwendungsbereich des Art. 33 Abs. 2 GG unterfällt. Bei ihr steht für keinen der Konkurrenten die Vergabe eines höherwertigen Statusamtes oder eine dies vorwegnehmende bzw. in sonstiger Weise förderliche Entscheidung in Rede. Die Ausschreibung vom 1.6.2018 hat - auch nach dem Vorbringen der Klägerin - keinen Beförderungsdienstposten zum Gegenstand oder einen solchen bei dem eine Beförderung nach Bewährung auf der Stelle erfolgen soll. Vielmehr ist für eine (spätere) - für die Bewerber des streitgegenständlichen Dienstpostens jedoch nicht konkret in Aussicht stehende - Beförderung auch nach den von der Klägerin vorgelegten Ausschreibungen eine an Art. 33 Abs. 2 GG orientierte Auswahlentscheidung erforderlich. Vor diesem Hintergrund ergibt sich aus der Vergabe des begehrten Dienstpostens gerade keine, wie die Klägerin geltend macht, qualifizierte Vorwirkung bzw. teilweise Vorwegnahme der Beförderungsentscheidung für einen nach A 12 und A 13 bewerteten Dienstposten oder eine Situation, in der die Beförderungsdienstposten innerhalb der Sondereinheiten ohne Beachtung des Leistungsgrundsatzes vergeben werden.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land hat sich in der Ausschreibung ferner nicht darauf festgelegt, dass die Verwendung auf dem Dienstposten als förderlich anzusehen ist. Es besteht auch sonst kein Anhaltspunkt dafür, dass die Wahrnehmung des Dienstpostens nach der Praxis des beklagten Landes von maßgeblicher Bedeutung für das weitere berufliche Fortkommen sein könnte.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Dem steht aus den vom Verwaltungsgericht bereits dargestellten Gründen nicht der Einwand der Klägerin entgegen, dass für eine Beförderung im Bereich der Sondereinheiten eine zweijährige Verwendung innerhalb dieser erforderlich sei und diese Beförderungsvoraussetzung auf dem angestrebten Dienstposten erlangt werden könne. Daraus folgt insbesondere nicht, dass für ihr berufliches Fortkommen eine entsprechend Verwendung erforderlich ist. Die Verwendung in der Sondereinheit stellt keine Voraussetzung für eine Beförderung in das nächsthöhere Statusamt der Laufbahn der Klägerin dar. Vielmehr ist es der Klägerin unbenommen, sich auf Beförderungsdienstposten außerhalb der Sondereinheiten zu bewerben. Damit ist der durch Art. 33 Abs. 2 GG gewährleistete Zugang zu allen öffentlichen Ämtern entgegen dem Vorbringen der Klägerin gewahrt. Denn das öffentliche Amt im Sinne des § 33 Abs. 2 GG ist nur das Statusamt und nicht das konkret-funktionelle Amt.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Weimar, Beschluss vom 10.8.2016 - 1 E 289/16 We -, ThürVBl 2017, 201 = juris Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Daher vermittelt Art. 33 Abs. 2 GG, wie das Verwaltungsgericht treffend ausgeführt hat, gerade keinen Anspruch, innerhalb einer beamtenrechtlichen Laufbahn eine Beförderung zu einem bestimmten Dienstposten erlangen zu können. Gegen die Annahme, der begehrte Dienstposten sei maßgeblich für das berufliche Fortkommen der Klägerin spricht zudem, dass eine Beförderung der Klägerin innerhalb der Sondereinheiten auch bei einer dortigen Verwendung letztlich nur eine ungewisse Chance auf eine Beförderung eröffnet, die nach dem Vorstehenden jedoch nicht von Ar. 33 Abs. 2 GG geschützt ist.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund bedurfte es auch keiner an Eignung, Leistung und Befähigung der Bewerber orientierte Auswahlentscheidung für die Vergabe der Funktion im MEK. Es ist insoweit jedoch auch nicht zu beanstanden, dass das beklagte Land für die Umsetzung auf den Dienstposten in der Sondereinheit aufgrund der dortigen Aufgabenwahrnehmung, die mit besonderen Belastungen verbunden ist, bestimmte Fähigkeiten und körperliche Konstitutionen der Umsetzungsbewerber voraussetzt. Der Dienstherr überschreitet nicht das ihm zustehende (weite) organisatorische und personalwirtschaftliche Ermessen, wenn er im Rahmen der bloßen Umsetzungs- bzw. Versetzungsentscheidung neben anderen Aspekten - wie hier - auch leistungs- und eignungsbezogene Gesichtspunkte berücksichtigt. Damit ist insbesondere keine freiwillige Unterwerfung unter die Maßgaben des Art. 33 Abs. 2 GG verbunden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.6.2016 - 6 A 501/15 -, juris Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Aus der Ausschreibung geht vielmehr eindeutig hervor, dass die Auswahl durch den aufnehmenden Standort nach personalwirtschaftlichen Erwägungen erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">2. Fehl geht der Einwand der Klägerin, die Klage hätte nicht als unzulässig abgewiesen werden dürfen, weil sie die Förderlichkeit des Dienstpostens geltend gemacht habe und daher jedenfalls die für die Annahme einer Klagebefugnis ausreichende Möglichkeit einer Rechtsverletzung bestehe. Die Frage, ob ein förderlicher Dienstposten tatsächlich vorliege, sei - so die Klägerin - eine Frage der Begründetheit.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Nach der dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung reicht allein die Geltendmachung einer Rechtsverletzung für das Vorliegen der Klagebefugnis nicht aus. Das Bestehen der geltend gemachten Rechtsposition muss darüber hinaus jedenfalls auch möglich sein.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 19.11.2015 - 2 A 6.13 -, BVerwGE 153, 246 = juris Rn. 15 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Dies ist im Streitfall hingegen nicht gegeben. Denn eine Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs der Klägerin nach Art. 33 Abs. 2 GG liegt nach dem Vorstehenden offensichtlich nicht vor und begründet damit die Unzulässigkeit der Klage. Unabhängig davon zeigt die Klägerin durch diesen Einwand aber auch keine Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung auf. Für die Zulassung der Berufung reicht es nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 - 7 AV 4.03 -, DVBl 2004, 838 = juris Rn. 9; OVG Hamburg, Beschluss vom 30.9.2004 - 1 Bf 162/04 -, juris Rn. 21; Bay. VGH, Beschlüsse vom 6.11.2003 - 22 ZB 03.2602 -, NVwZ-RR 2004, 223 = juris Rn. 6 sowie vom 19.3.2013 - 20 ZB 12.1881 -, juris Rn. 2; BGH, Beschluss vom 23.5.2019 - AnwZ (Brfg) 15/19 -, NJW-RR 2019, 1391 = juris Rn. 4; Roth in: BeckOK, VwGO, 1.7.2022, § 124 Rn. 25; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 102a; a. A. Hess. VGH, Beschluss vom 24.4.2001 ‑ 8 UZ 1816/00 -, NJW 2001, 3722 = juris Rn. 6.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dies ist nicht der Fall. Denn selbst wenn das Urteil zu Unrecht mit der Unzulässigkeit der Klage begründet worden wäre, ist aus den vorstehenden Gründen ohne weiteres erkennbar, dass der mit der Klage geltend gemachte Anspruch nicht besteht und die Klage daher selbst bei der Annahme ihrer Zulässigkeit zutreffend (als unbegründet) abgewiesen worden wäre bzw. im Berufungsverfahren ebenfalls abgewiesen werden müsste. Es ist entgegen dem Vorbringen der Klägerin auch nichts dafür ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht einen abweichenden Rechtsstandpunkt eingenommen hätte, wenn es die Förderlichkeit des Dienstpostens im Rahmen der Begründetheit der Klage zu beurteilen gehabt hätte.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">II. Die Berufung ist auch nicht wegen Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) zuzulassen. Dies erfordert, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder eines anderen der in der Vorschrift aufgeführten Gerichte aufgestellten ebensolchen (abstrakten) Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Die nach Auffassung des Klägers divergierenden Rechtssätze müssen einander gegenübergestellt und die entscheidungstragende Abweichung muss hierauf bezogen konkret herausgearbeitet werden. Das bloße Aufzeigen einer vermeintlich fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die ein divergenzfähiges Gericht aufgestellt hat, genügt den Darlegungsanforderungen einer Divergenzrüge nicht.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 30.5.2017 - 10 BN 4.16 -, juris Rn. 13 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zudem ist eine Abweichung nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nur erheblich, wenn das verwaltungsgerichtliche Urteil auf ihr beruht. Das bedeutet, es muss mindestens die Möglichkeit bestehen, dass das Verwaltungsgericht ohne die Abweichung zu einem für den Rechtsmittelführer sachlich günstigeren Ergebnis gekommen wäre; ausgehend von den Tatsachenfeststellungen und der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts darf sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Abweichung und Ergebnis nicht ausschließen lassen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 181 f.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Eine Zulassung der Berufung wegen Divergenz kann überdies abgelehnt werden, wenn die gerügte Abweichung - ausgehend von der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - für die Entscheidung im Berufungsverfahren erkennbar nicht entscheidungserheblich wäre, wenn sich also das Urteil des Verwaltungsgerichts aus anderen Gründen als richtig erweist.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. entsprechend für § 144 Abs. 4 VwGO BVerwG, Beschlüsse vom 13.6.1977 - IV B 13.77 -, BVerwGE 54, 99 = juris Rn. 8 ff., vom 6.10.1988 - 7 B 202.87 -, juris Rn. 6, vom 20.7.2016 - 2 B 18.16 -, juris Rn. 14; OVG NRW, Beschlüsse vom 5.11.1991 - 22 A 3120/91.A -, NWVBl 1992, 183 = juris Rn. 10, und vom 30.4.1992 - 16 A 857/92.A -, juris Rn. 3; OVG Berlin, Beschluss vom 14.4.2004 - 8 N 49.02 -, juris Rn. 3; OVG Lüneburg, Beschluss vom 7.3.2018 ‑ 11 LA 43/17 - NdsRpfl 2018, 174 = juris Rn. 25; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 26.3.2021 ‑ 5 LA 12/20 -, GewArch 2021, 236 = juris Rn. 17; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 181 f.; Happ in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 44.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Danach ist die Berufung nicht aufgrund der geltend gemachten Divergenz zuzulassen. Denn die verwaltungsgerichtliche Entscheidung, die Klage abzuweisen, erweist sich nach dem Vorstehenden jedenfalls im Ergebnis als zutreffend. Der Klägerin hat keinen aus Art. 33 Abs. 2 GG resultierenden Anspruch auf eine erneute Entscheidung über ihre Bewerbung für das Nachersatzverfahren für die Spezialeinheiten bei der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen, da es sich, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, bei der ausgeschriebenen Funktion innerhalb der MEK um keinen förderlichen Dienstposten handelt und Art. 33 Abs. 2 GG mithin nicht berührt wird. Die Klage wäre daher nach der zutreffenden Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts gleichfalls (als unbegründet) abgewiesen worden bzw. im Berufungsverfahren abzuweisen, wenn ihre Zulässigkeit entsprechend des von der Klägerin angeführten Beschlusses des Wehrdienstsenats vom 7.12.2016 - 1 WDS-VR 4/16 - angenommen werden müsste. Vor diesem Hintergrund bedarf keiner Erörterung mehr, ob dem Erfolg der Divergenzrüge darüber hinaus entgegenstehen würde, dass der für das öffentliche Dienstrecht zuständige Senat des Bundesverwaltungsgerichts an seiner Rechtsprechung zur fehlenden Klagebefugnis bei einer ämtergleichen Stellenbesetzung auch nach der Entscheidung des Wehrdienstsenats festgehalten hat,</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">vgl. Beschluss vom 12.7.2018 - 2 B 13.18 -, juris Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Rosarius</p>
346,579
vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-05-6-b-1922
{ "id": 1071, "name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht", "slug": "vg-schleswig-holsteinisches", "city": 647, "state": 17, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
6 B 19/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-16T10:00:34"
"2022-10-17T11:10:12"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0905.6B19.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 29.4.2022 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.4.2022 wird hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 wiederhergestellt und in Bezug auf die Ziffer 3 angeordnet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird auf 7.500 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antrag,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 29.4.2022 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.4.2022 wiederherzustellen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>hat Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Antrag ist zulässig, insbesondere hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 der Ordnungsverfügung vom 14.4.2022 statthaft als Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO, da die Antragsgegnerin nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 14.4.2022 angeordnet hat. Gegen die Androhung eines Zwangsgeldes in Ziffer 3 ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO statthaft, da die aufschiebende Wirkung bereits kraft Gesetzes entfällt, vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 248 LVwG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Der Antrag ist auch begründet. Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2.3.2016 – 1 B 1375/15 –, juris Rn. 9; OVG Schleswig, Beschluss vom 6.8.1991 – 4 M 109/91 –, juris Rn. 5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen, da das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Zwar begegnet die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung entgegen der Ansicht des Antragstellers keinen formellen Bedenken. Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in Fällen des Absatzes 2 Nr. 4 das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich zu begründen. Die Begründung muss auf den Einzelfall bezogen und nicht lediglich formelhaft sein. Erforderlich ist eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses dafür, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurücktreten muss, zunächst von dem Verwaltungsakt nicht betroffen zu werden (vgl. <em>Schenke</em> in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 27. Auflage 2021, § 80 Rn. 85f., m. w. N.; <em>Schoch</em> in: Schoch/Schneider, Verwaltungsgerichtsordnung: VwGO, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 80 Rn. 247). Eine diesen Anforderungen genügende Begründung enthält die Ordnungsverfügung vom 14.4.2022. So stützt sich die Antragsgegnerin auf eine von der Kleinfeuerungsanlage ausgehende Rauchgasbelästigung für die Nachbarschaft sowie auf die beim Verbrennen von Holzscheiten freigesetzten gesundheitsgefährdenden Schadstoffe, welche über die Schornsteine in das Wohnumfeld gelangen würden. Diese Begründung lässt erkennen, dass sich die Antragsgegnerin des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst war. Das Bestehen einer Gefahr im Verzug ist entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht erforderlich. Entsprechende Ausführungen dazu sind in der Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung demnach nicht notwendig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache erweist sich der Bescheid vom 14.4.2022 als rechtswidrig. Rechtsgrundlage für die in Ziffer 1 des Bescheides vom 14.4.2022 angeordnete Erhöhung der Austrittsöffnung ist § 24 Satz 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG. Nach § 24 Satz 1 BImSchG kann die zuständige Behörde im Einzelfall die zur Durchführung des § 22 und der auf dieses Gesetz gestützten Rechtsverordnungen erforderlichen Anordnungen treffen. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist jedoch das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzung der schädlichen Umwelteinwirkungen schon nicht hinreichend ersichtlich. Schädliche Umwelteinwirkungen sind nach § 3 Abs. 1 BImSchG Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Immissionen im Sinne dieses Gesetzes sind auf Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter einwirkenden Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen, Licht, Wärme, Strahlen und ähnliche Umwelteinwirkungen, vgl. § 3 Abs. 2 BImSchG. Diese Immissionen müssen geeignet sein, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen herbeizuführen. Das bedeutet, schädliche Umwelteinwirkungen setzen voraus, dass die Immissionen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu Beeinträchtigungen führen, die ihrerseits als erheblich einzustufen sind (vgl. Jarass, BImSchG Kommentar, 13. Auflage 2020, § 3 Rn. 44 ff.). Die Betreiberpflichten des § 22 Abs. 1 BImSchG dienen dabei dem Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne der Gefahrenabwehr. Sie zielen demgegenüber nicht auf Maßnahmen der Gefahrenvorsorge. Eine Anordnung nach § 24 Satz 1 BImschG, die der Durchsetzung der Betreiberpflichten nach § 22 Abs. 1 BImSchG dient, hat deshalb zur Voraussetzung, dass konkret schädliche Umwelteinwirkungen vorliegen. Eine weitergehende Vorsorgepflicht kann im Wege einer auf §§ 22, 24 BImSchG gestützten Anordnung nicht durchgesetzt werden. Potentiell schädliche Umwelteinwirkungen, d.h. lediglich abstrakte Gefahrenlagen, reichen für solche Maßnahmen nicht aus (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 14.4.2015 – 1 A 214/13 –, juris Rn. 51).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Dass dieser Definition entsprechende schädliche Umwelteinwirkungen vorliegen, lässt sich weder dem Bescheid vom 14.4.2022 noch dem Verwaltungsvorgang entnehmen. Es fehlt insoweit an einer konkreten behördlichen Feststellung dazu, ob es durch den Betrieb der Kleinfeuerungsanlage in Kombination mit dem derzeit vorhandenen Schornstein zur Entwicklung von schädlichen Umwelteinwirkungen gekommen ist (vgl. dazu auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.2.2010 – 10 A 1013/08 –, juris Rn. 28).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die Antragsgegnerin hat schon den zur Beurteilung der tatbestandlichen Voraussetzungen notwendigen maßgeblichen Sachverhalt nicht in ausreichender Weise ermittelt. Die Behörde ist im Verwaltungsverfahren nach § 83 Abs. 1 LVwG verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Dabei muss sie alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch für die Beteiligten günstigen Umstände berücksichtigen, vgl. § 83 Abs. 2 LVwG und alle vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer Aufklärung ausschöpfen, die geeignet erscheinen, die für die Entscheidung notwendige Überzeugung zu gewinnen. Dazu stehen ihr insbesondere die in § 84 LVwG genannten Beweismittel zur Verfügung. Die Aufzählung ist jedoch nicht abschließend. Ob die Behörde den Sachverhalt selbst ermittelt, sich im Wege der Amtshilfe anderer Behörden bedient, Sachverständige hinzuzieht oder zu anderen Erkenntnismitteln greift, steht in ihrem Ermessen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen. In jedem Fall muss sie sich jedoch ein eigenes Urteil auch über die Ermittlungsbeiträge anderer bilden und dieser der Entscheidung zugrunde legen. Liegen Beweismittel vor, sind diese zu würdigen und dann zu entscheiden, ob die Rechtsfolge angeordnet werden kann oder nicht. Ist ein Beweis nicht erbracht, so ist von der Nichtexistenz der zweifelhaften Tatsache auszugehen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.2.2010 – 10 A 1013/08 –, juris Rn. 30 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Unter Anwendung dieser Grundsätze ist die Antragsgegnerin ihrer, auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurückzuführenden Pflicht zu umfassenden Sachverhaltsaufklärung mit der alleinigen Berücksichtigung der Nachbarbeschwerden und der vom Antragsteller eingeholten Auskunft des Bezirksschornsteinfegers nicht ausreichend nachgekommen. Diese bieten keine ausreichende Tatsachengrundlage für die Annahme schädlicher Umwelteinwirkungen. Aufgrund der Nachbarbeschwerden liegt zwar ein Besorgnispotential vor. Dieses hat sich jedoch nicht dergestalt verdichtet, dass von einem unsachgemäßen Betrieb der Feuerungsanlage ausgegangen werden konnte. Da der Bezirksschornsteinfeger feststellte, dass der Betrieb der Anlage ordnungsgemäß erfolgte und ausschließlich Beschwerden eines benachbarten Ehepaares vorlagen, fehlen objektive Anhaltspunkte für einen immissionsschutzrechtlichen Verstoß (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.2.2010 – 10 A 1013/08 –, juris Rn. 30 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Zum Vorliegen etwaiger schädlicher Umwelteinwirkungen trifft die Antragsgegnerin keine Ausführungen in der Ordnungsverfügung, sondern stützt ihr Einschreiten vielmehr auf einen etwaigen Verstoß der Kleinfeuerungsanlage gegen die 1.BImSchV.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die Annahme schädlicher Umwelteinwirkungen oder behördliche Ermittlungen zu deren Vorliegen können auch nicht aus dem Verwaltungsvorgang entnommen werden. Dieser enthält diesbezüglich nur die zahlreichen und wiederholten Beschwerden der Eheleute .... In diversen E-Mails führen sie aus, unter einer Rauchgasbelästigung durch die Kleinfeuerungsanlage des Antragstellers zu leiden. Es komme zu permanentem Rauch- und Räuchergeruch. Die in dem Rauch enthaltenden Geruchs- und Schadstoffe wie Asche, Ruß und Metallverbindungen würden das physische Wohlbefinden der in der Bahnhofstraße 17 lebenden Menschen beeinträchtigen. Zudem falle ein metallischer Geschmack im Mund auf. Beschwerden anderer, namentlich nicht benannter Nachbarn werden lediglich von den Eheleuten ... vorgebracht. Andere Anhaltspunkte oder Ermittlungen hinsichtlich einer etwaigen Rauchgasbelästigung enthält die Akte nicht. Insbesondere hat die Antragsgegnerin im Rahmen der Ortstermine am 20.5.2021 beim Antragsteller und am 17.2.2022 bei den Eheleuten ... keine eigenen Feststellungen zu etwaigen schädlichen Umwelteinwirkungen getroffen. Dort wurden jeweils lediglich die Örtlichkeiten in Augenschein genommen. Ermittlungen zu schädlichen Umwelteinwirkungen wurden nicht durchgeführt, obgleich der Ortstermin bei den Eheleuten ... am 18.2.2022, mithin mitten in der Heizperiode und zu einer Tageszeit stattfand, zu der die behaupteten Rauchbelästigungen auftreten sollen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Es mangelt in diesem Zusammenhang weiter an Erkenntnissen hinsichtlich der Art, Intensität und Häufigkeit etwaiger Rauchbelästigungen am Einwirkungsort und es nicht ersichtlich, welcher Art und welchen Ausmaßes die Einwirkungen sein könnten. Was die Art der Einwirkung angeht, so kommt es bei Luftverunreinigungen etwa auf die chemischen Elemente bzw. Verbindungen, die Toxizität oder den Aggregatzustand an (vgl. Jarass, BImSchG Kommentar, 13. Auflage 2020, § 3 Rn. 58). Hierzu enthalten weder Bescheid noch Verwaltungsvorgang Informationen. Insbesondere hat eine (fachliche bzw. gutachterliche) Messung der behaupteten Beeinträchtigungen bzw. des Rauches nicht stattgefunden. Hinsichtlich der Häufigkeit etwaiger Rauchbelästigungen tragen die Eheleute ... im Schreiben vom 29.11.2021 vor, dass ein Betrieb der Kleinfeuerungsanlage ungefähr von Oktober bis März/April des Folgejahres jeweils von vormittags bis spät abends, etwa 22 Uhr, stattfinde. Der Antragsteller hingegen führt aus, ein dauerhafter Betrieb entspreche nicht der Realität. Obwohl insoweit divergierende Angaben der Beteiligten vorlagen, hat die Antragsgegnerin keine Maßnahmen zur Aufklärung veranlasst.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Auch der Bezirksschornsteinfeger ..., der die Feuerungsanlage des Antragstellers am 5.5.2021 in Augenschein nahm, stellte lediglich fest, dass zum Zeitpunkt der Abnahme alle Bauvorschriften eingehalten worden sein. Die Anlage weist nach seiner Prüfung keine technischen oder baulichen Mängel auf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Weiterhin hat die Antragsgegnerin unberücksichtigt gelassen, dass die Kleinfeuerungsanlage durch den Antragsteller stets im Einklang mit den geltenden Vorschriften betrieben wurde und der von der Antragsgegnerin monierte Verstoß hinsichtlich der Höhe der Austrittsöffnung erst durch den Neubau auf dem Nachbargrundstück herbeigeführt wurde. Ebenfalls unbeachtet blieb, dass die Baugenehmigung des Mehrfamilienhauses in der X-Straße Nr. X noch Gegenstand eines anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (2 A 304/20) ist und sie daher nicht in Bestandskraft erwachsen ist bzw. noch keine abschließende, rechtskräftige Entscheidung vorliegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus hat die Antragsgegnerin auch ihr Ermessen nicht beanstandungsfrei ausgeübt. Nach § 114 Satz 1 VwGO beschränkt sich die gerichtliche Überprüfung der Ermessensausübung lediglich darauf, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Anordnung unverhältnismäßig. Es wurden mildere, gleich geeignete Mittel nicht in Betracht gezogen. So wurde nicht erwogen, die Anlage mittels Filter oder anderer Hilfsmittel zu modifizieren oder den Antragsteller jedenfalls von einem Teil der Kosten zu befreien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Zudem ist die Maßnahme vor dem Hintergrund, dass die Wohnbebauung in der X-Straße Nr. X erst nach der beanstandungsfreien Abnahme der Kleinfeuerungsanlage entstanden ist, nicht angemessen. Es gilt hierbei, dass heranrückende Wohnbebauung einem bestehenden emittierenden Betrieb gegenüber das Gebot der Rücksichtnahme verletzt, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist dann der Fall, wenn der Betrieb durch die hinzutretende Bebauung mit nachträglichen Auflagen rechnen muss (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom – 1 LB 141/16 –, juris Rn. 23, m.w.N.). Der Antragsteller wird hier durch die heranrückende Wohnbebauung in seiner Nutzung der Kleinfeuerungsanlage erheblich beeinträchtigt. Die Anordnung in Ziffer 1 des Bescheides vom 14.4.2022 führt zu beachtlichen Umbaumaßnahmen, die mit hohen wirtschaftlichen Nachteilen verbunden ist. Ohne die neu errichtete, angrenzende Wohnbebauung wäre diese Maßnahme nicht erforderlich, da die Kleinfeuerungsanlage des Antragstellers ausweislich der Feststellungen des Bezirksschornsteinfegers den technischen und baulichen Vorschriften im Übrigen genügt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Dem folgend sind auch die Erfolgsaussichten des Widerspruchs gegen die Ziffern 2 und 3 der Verfügung vom 14.4.2022 gegeben. Der auf § 25 Abs. 1 BImSchG gestützten Untersagung sowie der Zwangsgeldandrohung fehlt es infolge der obigen Ausführungen an einer vollziehbaren behördlichen Anordnung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, § 63 Abs. 2 GKG. Der Streitwert beträgt ausgehend von Ziff. 19.2 und 2.2.2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. <em>Hug</em> in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 27. Auflage 2021, Anh § 164) 15.000 €. Dieser ist der ständigen Rechtsprechung der Kammer folgend für das einstweilige Rechtsschutzverfahren zu halbieren, was einen Streitwert von 7.500 € ergibt.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,569
olgce-2022-09-05-6-w-10022
{ "id": 603, "name": "Oberlandesgericht Celle", "slug": "olgce", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
6 W 100/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-15T10:01:07"
"2022-10-17T11:10:10"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Auf die Beschwerde wird der Ausschließungsbeschluss des Amtsgerichts vom 2. Juni 2022 einschließlich des diesem zugrunde liegenden Aufgebots vom 19. Januar 2022 aufgehoben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Amtsgericht hat das Aufgebotsverfahren erneut durchzuführen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Beteiligte zu 2 ist Rechtsanwältin und vom Amtsgericht zur Nachlassverwalterin bestimmt worden. Mit Schreiben an das Amtsgericht vom</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>15. November 2021 hat sie einen Antrag auf Aufgebot der Nachlassgläubiger und Erlass eines Ausschlussbeschlusses gestellt. Dem Antrag ist als Anlage 2 ein „Gläubigerverzeichnis bekannter Gläubiger“ beigefügt. Unter der laufenden Nummer 10 ist die Beteiligte zu 1 mit einem Betrag von 18.978,79 € aufgeführt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Unter dem 19. Januar 2022 hat das Amtsgericht das Aufgebot zum Zwecke der Ausschließung von Nachlassgläubigern erlassen. Darin heißt es:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„In der Aufgebotssache</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">(…)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">hat die Antragstellerin als Nachlassverwalterin das Aufgebot zum Zwecke der Ausschließung von Nachlassgläubigern hinsichtlich des Nachlasses des (…) beantragt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Gläubiger des vorbezeichneten Nachlasses werden gemäß §§ 434, 458, 459 FamFG aufgefordert,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">spätestens bis zum 12.04.2022</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">ihre Rechte als Nachlassgläubiger anzumelden, da sie andernfalls von den Erben Befriedigung nur insoweit verlangen können, als sich nach Befriedigung der nicht ausgeschlossenen Gläubiger noch ein Überschuss ergibt. Das Recht, vor den Verbindlichkeiten aus Pflichtteilsrechten, Vermächtnisse und Auflagen berücksichtigt zu werden, bleibt unberührt.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Das Aufgebot wurde öffentlich bekannt gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Unter dem 2. Juni 2022 erfolgte der Ausschließungsbeschluss. Die Beteiligte zu 1 ist in der Aufstellung der Gläubiger, die ihre Rechte angemeldet haben, nicht enthalten. Der Beschluss wurde der Beteiligten zu 1 unter dem 11. Juni 2022 zugestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde der Beteiligten zu 1, erhoben mit Anwaltsschriftsatz vom 4. Juli 2022. Nach Kenntnis von der Aufforderung zur Forderungsanmeldung habe sich eine Mitarbeiterin der Beteiligten zu 1 mit der Antragstellerin, der Beteiligten zu 2, telefonisch in Verbindung gesetzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Mit Beschluss vom 22. Juli 2022 hat das Amtsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen. Eine Forderungsanmeldung der Beteiligten zu 1 sei bei Gericht nicht eingegangen. Adressat der Anmeldung sei das Gericht, welches das Aufgebot erlassen habe. Eine Anmeldung der Forderung an anderer Stelle und auch bei der Beteiligten zu 2 genüge nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde ist gemäß § 58 FamFG statthaft (s. BT-Drucks. 16/6308 S. 295 re. Sp.) und zulässig. Sie ist auch begründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>1. Allerdings verkennt die Beteiligte zu 1, worauf bereits das Amtsgericht insoweit zutreffend hingewiesen hat, dass die Anmeldung bei der Nachlassverwalterin ungenügend ist, sondern zwingend gegenüber dem Gericht zu erfolgen hat, § 434 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 FamFG (s. a. Keidel-Zimmermann, FamFG, 20. Aufl., § 438 Rn. 2 und § 459 Rn. 1).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>2. Es kommt darauf aber letztlich nicht an, weil das Aufgebot an einem schweren Verfahrensmangel leidet, der zur Aufhebung des Ausschließungsbeschlusses und weiter dazu führt, dass das Aufgebotsverfahren erneut durchzuführen ist (s. a. OLG Frankfurt, 20 W 360/16, Beschluss vom 6. März 2018; OLG Braunschweig,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>3 W 68/21, Beschluss vom 26. Januar 2022, juris). Dass das Aufgebot mit zu überprüfen ist, ergibt sich schon daraus, dass das Aufgebot selbst als bloße Zwischenentscheidung nicht selbstständig anfechtbar ist, § 58 Abs. 2 FamFG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Den zwingend notwendigen Mindestinhalt des Aufgebots („In das Aufgebot ist insbesondere aufzunehmen…“) bestimmt § 434 Abs. 2 Satz 2 FamFG. Dort geht es in Nr. 2 nicht nur, wie die Legaldefinition am Ende von Nr. 2 glauben machen könnte, um den Anmeldezeitpunkt. Dabei ist freilich einzuräumen, dass jedenfalls in erheblichen Teilen der Kommentarliteratur tatsächlich nur auf den Zeitpunkt und nicht auf den Adressaten als Inhalt von Nr. 2 eingegangen wird (so noch Keidel-Zimmermann, a. a.O., 19. Aufl., § 434 Rn. 11 (anders in der 20. Aufl.), ebenso MüKo-Dörndorfer, FamFG, 3. Aufl., § 434 Rn. 18; Bumiller-Harders-Schwamb,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>FamFG, 12. Aufl., § 434 Rn. 5; Haußleiter, FamFG, 2. Aufl., § 434 Rn. 6). Zum Mindestinhalt gehört vielmehr auch die Bestimmung des zutreffenden Adressaten der Anmeldung; in das Aufgebot ist zwingend auch aufzunehmen die Aufforderung, die Ansprüche und Rechte „bei dem Gericht“ anzumelden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Dieser Teil des Aufgebots ist nicht entbehrlich. Die Neuregelung des Aufgebotsverfahrens im FamFG sollte die Rechtsmittelmöglichkeiten verbessern</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>(BT-Drucks. a.a.O.). Das Gegenteil geschieht, wenn den Betroffenen ungeachtet der weitreichenden Wirkung des Ausschließungsbeschlusses nicht klargemacht wird, dass die Anmeldung zwingend gegenüber dem Gericht stattfinden muss. Gerade der vorliegende Fall zeigt, dass Gläubiger geneigt sein können, eine Anmeldung gegenüber dem Antragsteller, hier der Nachlassverwalterin, als ausreichend anzusehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Die Formulierung im Aufgebot des Amtsgerichts ist ungenügend, weil dort lediglich auf § 434 FamFG, dessen Inhalt aber nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann, Bezug genommen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Ein Blick in den Bundesanzeiger hat dem Senat dabei die Erkenntnis verschafft, dass es bei den Amtsgerichten keine einheitliche Praxis gibt. Meist wird der Adressat genannt, mitunter sogar mit der Anschrift des Gerichts. Andere Gerichte „verzichten“ auf die Angabe des Gerichts als Adressaten, was insbesondere deswegen bedenklich erscheinen muss, weil insoweit meist Textbausteine zum Einsatz gelangen dürften mit der Folge, dass dann in allen Aufgebotsverfahren sich derselbe Mangel wiederholen dürfte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>3. Das Amtsgericht wird das Aufgebotsverfahren zu wiederholen haben. Soweit Gläubiger ihre Forderungen im Aufgebotsverfahren bereits angemeldet haben, bedarf es schon aus Gründen des Vertrauensschutzes keiner neuerlichen Anmeldung (ebenso OLG Frankfurt, a.a.O.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>III.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Für die erfolgreiche Beschwerde fallen Gerichtskosten nicht an (§ 25 Abs. 1 GNotKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE269102022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,568
olgce-2022-09-05-2-ar-ausl-8522
{ "id": 603, "name": "Oberlandesgericht Celle", "slug": "olgce", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
2 AR (Ausl) 85/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-15T10:01:05"
"2022-10-17T11:10:10"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div><dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>Der Senat ist nicht zu einer Entscheidung berufen.</strong></p></dd> </dl></div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die r. Justizbehörden betreiben auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls des Gerichts in Tirgu Bujor vom 09.11.2021 (Aktenzeichen 1114/316/2017) die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Ausweislich des Europäischen Haftbefehls wurde der Verfolgte durch Urteil des Gerichts in Tirgu Bujor vom 22.09.2021 (Az. 145/2021) wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Die Verurteilung ist seit dem 19.10.2021 rechtskräftig. Die Freiheitsstrafe ist noch vollständig zu verbüßen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Der Verfolgte war auf der Grundlage des o.g Europäischen Haftbefehls bereits in dem von der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg unter dem Az. 230 Ausl 167/21 geführten Auslieferungsverfahren und in Vollziehung der vom Oberlandesgericht Bamberg (Az. 1 Ausl AR 49/21) mit Beschluss vom 29.11.2021 angeordneten förmlichen Auslieferungshaft vorübergehend inhaftiert. Mit Beschluss vom 17.02.2022 hatte das Oberlandesgericht Bamberg die Auslieferung des Verfolgten an die rumänischen Justizbehörden zur Vollstreckung der in dem Europäischen Haftbefehl aufgeführten Freiheitsstrafe für unzulässig erklärt und die Anordnung der Auslieferungshaft aufgehoben. Zur Begründung hatte das Gericht im Wesentlichen angeführt, dass die dem Europäischen Haftbefehl zugrundeliegende Verurteilung in Abwesenheit des Verfolgten erfolgt sei und die Voraussetzungen für eine nach § 83 Abs. 2-4 IRG ausnahmsweise Zulässigkeit seiner Auslieferung an die rumänischen Justizbehörden nicht gegeben gewesen seien. Die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg hatte in ihrer nachfolgenden Entschließung vom 18.02.2022 die Auslieferung des Verfolgten abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Europäische Haftbefehl des Gerichts in Tirgu Bujor vom 09.11.2021 (Aktenzeichen 1114/316/2017) und die Ausschreibung des Verfolgten im Schengener Informationssystem blieben nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg vom 17.02.2022 unverändert aufrechterhalten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Am 23.03.2022 wurde der Verfolgte aufgrund der fortbestehenden SIS-Ausschreibung in H. im Landkreis H. erneut von der Polizei vorläufig festgenommen. Bei seiner Anhörung am Folgetag vor dem Amtsgericht Holzminden hat der Verfolgte lediglich erklärt, er sei seit dem 20.10.2021 unter seiner Wohnanschrift in B. P. amtlich gemeldet. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Celle hat das Amtsgericht vom Erlass einer Festhalteanordnung nach § 22 Abs. 3 S. 2 IRG abgesehen. Seitdem befindet sich der Verfolgte auf freiem Fuß.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Auf das Ersuchen der Generalstaatsanwaltschaft Celle vom 11.04.2022 um eine Zusicherung der Einhaltung der Vorgaben des RB-EuHB 2009/299/JI vom 26.02.2009 für die ausnahmsweise Zulässigkeit der Auslieferung eines Verfolgten haben die rumänischen Justizbehörden in einer E-Mail vom 18.04.2022 lediglich den Inhalt der gesetzlichen Bestimmungen in Art. 466 Abs. 2 der r. Strafprozessordnung mitgeteilt. Eine ergänzende Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft Celle über das Europäische Justizielle Netz haben die r. Justizbehörden unbeantwortet gelassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Generalstaatsanwaltschaft Celle beantragt nunmehr, die Auslieferung des Verfolgten an die r. Justizbehörden für unzulässig zu erklären, da die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zulässigkeit seiner Auslieferung nach § 83 Abs. 2-4 IRG weiterhin nicht erfüllt seien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Der Senat ist zu einer Entscheidung nicht berufen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Für eine gemäß § 29 Abs. 1 IRG zu treffende erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten an die r. Justizbehörden ist das Oberlandesgericht Bamberg örtlich zuständig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Gemäß § 14 Abs. 1 IRG liegt die örtliche Zuständigkeit in Auslieferungsverfahren bei dem Oberlandesgericht und der Generalstaatsanwaltschaft, in deren Bezirk der Verfolgte zum Zwecke der Auslieferung ergriffen oder, falls eine Ergreifung nicht erfolgt, zuerst ermittelt wird. Vorliegend erfolgte die erstmalige Ermittlung sowie die Ergreifung des Verfolgten im Zuge des Erlasses des Auslieferungshaftbefehls des Oberlandesgerichts Bamberg vom 17.02.2022. Die hierdurch begründete örtliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Bamberg ist nicht durch den späteren Aufenthalt des Verfolgten sowie seine erneute vorläufige Festnahme am 23.03.2022 im Bezirk des Oberlandesgerichts Celle entfallen. Denn eine einmal bestehende örtliche Zuständigkeit dauert bis zum Ende des Auslieferungsverfahrens an und wird durch Änderungen des Aufenthalts des Verfolgten grundsätzlich nicht berührt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 02.06.2020 – Ausl 301 AR 66/20 –, juris, mwN). Insoweit stellt das Wort „zuerst“ in § 14 Abs. 1 IRG klar, dass sich ein einmal begründeter Gerichtsstand nicht durch erneute Ermittlung des Verfolgten in einem anderen Bezirk ändert (vgl. Schierholt in Schomburg/Lagodny, IRG, 6. Aufl. 2020, § 14 Rd. 4 mwN). Eine zeitlich zuerst begründete örtliche gerichtliche Zuständigkeit bleibt daher auch erhalten, wenn später Umstände eintreten, welche eine andere gerichtliche Zuständigkeit zu begründen geeignet sind. So ist eine Änderung der örtlichen Zuständigkeit von der obergerichtlichen Rechtsprechung für Fälle verneint worden, in denen ein zum Zwecke der Auslieferung zur Strafverfolgung erlassener Europäische Haftbefehl durch den ersuchenden Staat zurückgenommen und zeitgleich oder später ein neuer Europäischer Haftbefehl erlassen wird, sofern beide Europäische Haftbefehle den gleichen Sachverhalt zum Gegenstand haben (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 27.02.2020 – 2 Ausl 18/20 –, juris; OLG Karlsruhe, aaO). Im vorliegenden Fall besteht der Europäische Haftbefehl des Gerichts in Tirgu Bujor vom 09.11.2021 (Az. 1114/316/2017), der bereits Gegenstand der o.g. Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg vom 17.02.2022 über die Unzulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten an die rumänischen Justizbehörden war, unverändert fort. Das in dem Europäischen Haftbefehl formulierte Auslieferungsersuchen der rumänischen Justizbehörden hat sich nach Auffassung des Senats durch die vorgenannte Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg nicht erledigt. In der Folge ist das Oberlandesgericht Bamberg für die im Hinblick auf das fortbestehende Auslieferungsersuchen zu treffenden gerichtlichen Entscheidungen weiterhin zuständig. In Ansehung der o.g. Grundsätze ändert hieran nichts, dass der Verfolgte zwischenzeitlich im Bezirk des Oberlandesgerichts Celle ermittelt und erneut vorläufig festgenommen wurde. Gerade auch in Fallkonstellationen der vorliegenden Art würde ein Wechsel der gerichtlichen Zuständigkeit dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 14 Abs. 1 IRG zuwiderlaufen, durch eine Festlegung auf das zunächst mit der Sache befasste Oberlandesgericht auch aus außenpolitischen Gründen negative Zuständigkeitskonflikte zu vermeiden und auf diese Weise die Vereinfachung, Beschleunigung und Kontinuität des Auslieferungsverfahrens zu gewährleisten (vgl. OLG Karlsruhe, aaO, unter Hinweis auf BT-Drs. 9/1338, S. 48). Anderenfalls würden, wenn der Verfolgte erneut seinen Aufenthaltsort wechseln würde, zahlreiche verschiedene Oberlandesgerichte mit demselben Auslieferungsersuchen befasst werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE269252022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,566
olgce-2022-09-05-9-w-7322
{ "id": 603, "name": "Oberlandesgericht Celle", "slug": "olgce", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
9 W 73/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-15T10:01:01"
"2022-10-17T11:10:09"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div><dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der ein Zwangsgeld verhängende Beschluss des Amtsgerichts – Registergerichts – Walsrode vom 23. Juni 2022 und der zugrundeliegende Androhungsbeschluss vom 10. Mai 2022 werden auf die Rechtsmittel des Beschwerdeführers aus Rechtsgründen aufgehoben.</p></dd> </dl></div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Betroffene ist eine 2009 ausweislich des memorandum of association vom Beschwerdeführer als Alleingesellschafter und einziges Organ errichtete private<br>limited by shares (im Folgenden: Limited) mit satzungsmäßigem Sitz und Eintragung im Companies House im Vereinigten Königreich. Die Gesellschaft hat ihren Verwaltungssitz zum frühest möglichen Zeitpunkt nach Gründung unter Errichtung einer deutschen Zweigniederlassung nach Deutschland verlegt (Bl. 166 f. d.A.) und ist mit der Zweigniederlassung seit April 2009 im deutschen Handelsregister (unter zweimaliger Verlegung des Sitzes der Zweigniederlassung) eingetragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Das Registergericht hat dem Beschwerdeführer in seiner Rolle als „Inhaber“ der Betroffenen mit Beschluss vom 10. Mai 2022 unter Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von € 1.500,- aufgegeben, entsprechend § 31 Abs. 2 HGB das Erlöschen der Zweigniederlassung in der Form des § 12 Abs. 1 HGB wegen Aufgabe des Gewerbebetriebes zum Handelsregister anzumelden (Bl. 68 d.A.). Dagegen hat der Beschwerdeführer unter dem 14. Mai 2022 Einspruch erhoben (Bl. 70 ff. d.A.). Diesen hat das Registergericht mit dem angefochtenen Beschluss vom 23. Juni 2022 (Bl. 79 f. d.A.) als offensichtlich unbegründet verworfen und zugleich das angedrohte Zwangsgeld festgesetzt. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit umfänglichen, teils schwer verständlichen Ausführungen vom 30. Juni 2022 (Bl. 81 ff. d.A.), die das Registergericht als Beschwerde behandelt und mit Nichtabhilfebeschluss vom 15. August 2022 (Bl. 125 f. d.A.) dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde ist statthaft und in zulässiger Weise erhoben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Sie bringt indes nichts argumentativ Durchgreifendes gegen die Beschlüsse betreffend Androhung und Verhängung des Zwangsgeldes vor. Sie hat dennoch im Ergebnis Erfolg, weil im Streitfall von Amts wegen zu beachtende Rechtsgründe der Zwangsgeldverhängung entgegenstehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Ungeachtet der Frage, ob das Registergericht mit Recht auf eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers verzichtet hat, die hier unentschieden bleiben kann, unterliegt die angefochtene Entscheidung im Streitfall der Aufhebung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>1.) Mit Recht geht das Registergericht in seinem Nichtabhilfebeschluss davon aus, dass die im Streitfall betroffene (Zweigniederlassung einer) Limited englischen Rechts, deren tatsächlicher Verwaltungssitz allein im Inland liegt, aufgrund des Brexit und des Verstreichens aller Übergangsfristen am 31. Dezember 2020 (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 2021 – II ZB 25/17 –, juris Rn. 4; OLG München, Urteil vom 5. August 2021 – 29 U 2411/21 Kart –, juris Rn. 12) in dem Sinne nicht mehr existiert, dass sie ihre Rechtsfähigkeit verloren hat. Ein in diesem Sinne nicht mehr existenter, seiner Rechtsfähigkeit verlustiger Rechtsträger hat keine für ihn handlungsfähigen Organe mehr; folglich konnte dem Beschwerdeführer mit Beschluss vom 10. Mai 2022 auch nicht in irgendeiner Rolle in Bezug auf die Limited, zu deren HRB-Handelsregisterzeichen der Beschluss ergangen ist, aufgegeben werden, noch eine Anmeldung des vom Registergericht für erforderlich erachteten Inhalts für eben diese nicht mehr rechtsfähige Limited vorzunehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>2.) Soweit der Nichtabhilfebeschluss vom 15. August 2022 (Bl. 125 d.A.) dies dadurch argumentativ zu retten sucht, dass derartige Unternehmen nunmehr als einzelkaufmännische Unternehmen zu behandeln seien und der Beschwerdeführer demgemäß wie ein Einzelkaufmann zur Anmeldung verpflichtet sei, verfängt das nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>a) Zum einen steht im Streitfall bisher – ungeachtet der Gründung durch den Beschwerdeführer allein – nicht abschließend fest, dass die Zweigniederlassung zu einem einzelkaufmännischen Unternehmen geworden ist. Das Registergericht selbst hat in seinem Anschreiben vom 7. August 2021 (Bl. 39 d.A.) bezüglich der Zweigniederlassung sowohl den Beschwerdeführer als auch eine Frau L. A. angeschrieben, so dass sich die Limited bei Verlust ihrer Rechtsfähigkeit auch zur OHG gewandelt haben könnte (vgl. zu den Rechtsverhältnissen sog. Rest- und Spaltgesellschaften BGH, Beschluss vom 22. November 2016 – II ZB 19/15 –, juris, passim). In diesem Fall könnten aber nur der Beschwerdeführer und Frau<br>A. gemeinsam bezüglich einer solchen Personengesellschaft Anmeldungen vornehmen, § 108 HGB. In derartigen Konstellationen wäre es verfehlt, nur eine Person mit einem Zwangsgeld für eine Anmeldung zu belegen, die der Herangezogene nicht alleine vornehmen könnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>b) Zum anderen fehlt es im Streitfall der Zwangsgeldandrohung und auch dem nachgehenden hier angefochtenen Zwangsgeldbeschluss an einer ordnungsgemäßen Beschlusspräzisierung, die das unter Zwangsgeldandrohung verlangte Verhalten so präzise und nachvollziehbar beschreibt, dass der Herangezogene dem ohne Weiteres nachkommen und das Beschwerdegericht ggfs. die Erfüllung des Geforderten prüfen könnte. Die Androhung lässt hier unter Hinzunahme des Nichtabhilfebeschlusses im Unklaren, bzgl. welchen im Register verzeichneten handlungsfähigen Rechtsträgers eine Anmeldung vorgenommen werden muss. Wollte das Registergericht den Beschwerdeführer als Einzelkaufmann zur Anmeldung der Aufgabe des Gewerbes verpflichtet sehen, stünde dem entgegen, dass er als solcher nicht eingetragen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>III.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE269122022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,557
vghbw-2022-09-05-1-s-189022
{ "id": 161, "name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg", "slug": "vghbw", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
1 S 1890/22
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:44"
"2022-10-17T11:10:08"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p/><p>Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 12. August 2022 - 9 K 2176/22 - wird zurückgewiesen.</p><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p><p>Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Herr … mit letztem Wohnsitz in der … in … R… verstarb am 01.08.2022 in einem Pflegeheim in K… . Der Antragsteller, der von Beruf Bestatter ist, holte Herrn … nach einem Anruf von Herrn …, der ein Freund des Verstorbenen war, aus dem Pflegeheim ab und brachte ihn in eine Kühlzelle in seinem Haus in R… . Nachdem die Antragsgegnerin, die Stadt K…, eine Bestattung von Herrn … ablehnte, überführte der Antragsteller Herrn … in eine Tiefkühleinrichtung im Krematorium B…-… .</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Den Antrag vom 12.08.2022, mit dem der Antragsteller von der Antragsgegnerin begehrt hat, die Bestattung von Herrn …x zu veranlassen, hat das Verwaltungsgericht Freiburg mit Beschluss vom 12.08.2022 - 9 K 2176/22 -, dem Antragsteller zugestellt am 12.08.2022, abgelehnt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Am 23.08.2022 hat Antragsteller gegen den Beschluss vom 12.08.2022 Beschwerde erhoben. Er trägt im Wesentlichen vor, dass die Antragsgegnerin für die Bestattung des Antragstellers zuständig sei, weil dieser sich vor seinem Tod zuletzt in K… aufgehalten habe. Für die Zuständigkeit sei nicht der Wohnsitz, sondern der letzte tatsächliche Aufenthalt des Verstorbenen maßgeblich. Ihm stehe ein Anspruch gegen die Antragsgegnerin aus § 31 Abs. 2 BestattG zu. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg sowie daraus, dass § 31 Abs. 2 BestattG eine Vorschrift des materiellen Polizeirechts und die polizeiliche Generalklausel drittschützend sei. Zudem sei das Ermessen der Antragsgegnerin auf Null reduziert, sodass er einen Anspruch auf polizeiliches Einschreiten habe. Es gebe keine bestattungspflichtigen Personen und er habe von Herrn … auch keinen Bestattungsauftrag erhalten. Es werde zudem bestritten, dass Herr … vorsorgebevollmächtigt gewesen sei. Zudem wäre eine Vollmacht mit dem Tod des Herrn …-… erloschen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Der Antragsteller beantragt - sachdienlich ausgelegt -,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="5"/>den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 12. August 2022 - 9 K 2176/22 - zu ändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Bestattung des am 25.08.1967 geborenen und am 01.08.2022 in K… verstorbenen Herrn … zu veranlassen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Die Antragsgegnerin beantragt - sachdienlich ausgelegt -,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="7"/>die Beschwerde zurückzuweisen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>Sie trägt im Wesentlichen vor, dass Herr … Vorsorgebevollmächtigter des Verstorbenen gewesen sei. § 31 Abs. 2 BestattG begründe keine subjektiven Rechte. § 31 Abs. 2 BestattG sei eine Vorschrift des materiellen Polizeirechts und diene der Abwehr einer polizeilichen Gefahr, die daraus resultiere, dass ein Verstorbener möglicherweise unbestattet bleibe. Die örtliche Zuständigkeit richte sich nach Polizeirecht. Gemäß § 113 PolG beschränke sich die Zuständigkeit der Polizeibehörden auf ihren Dienstbezirk. Örtlich zuständig sei die Polizeibehörde, in deren Dienstbezirk eine polizeiliche Aufgabe wahrzunehmen sei. Der Verstorbene befinde sich in B… . Dort sei die polizeiliche Gefahr abzuwehren. Dies müsse anhand der polizeirechtlichen Generalklausel und nicht anhand von § 31 Abs. 2 BestattG beurteilt werden. Im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin sei durch die Beauftragung des Antragstellers nie ein polizeirechtswidriger Zustand eingetreten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>Dem Senat liegt die Akte des Verwaltungsgerichts sowie der Antragsgegnerin vor.</td></tr></table> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), geben dem Senat keinen Anlass, über den Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abweichend vom Verwaltungsgericht zu entscheiden. Dabei entscheidet der Senat vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist, weil der Antragsteller seine Beschwerde schon mit ihrer Erhebung am 23.08.2022 sowie ergänzend auf die Erwiderung der Antragsgegnerin am 02.09.2022 begründet hat und nach fernmündlicher Abklärung eine weitere Stellungnahme des Antragstellers nicht zu erwarten ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, hinsichtlich des am 01.08.2022 verstorbenen und derzeit in der Kühlkammer des Krematoriums B…-… befindlichen … … die Bestattung nach § 31 Abs. 2 BestattG anzuordnen, im Ergebnis zu Recht abgelehnt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="12"/>Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass die Antragsgegnerin für die begehrte Bestattung nicht zuständig sei, weil sich der Verstorbene in der Kühlkammer des Krematoriums B… befinde und zur Beseitigung des dortigen polizeirechtswidrigen Zustandes nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 LVwVfG, § 36 Abs. 4 BestattVO die Stadt B… zuständig sei. Unabhängig hiervon sei der Antragsteller auch nicht antragsbefugt im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO, weil § 31 Abs. 2 BestattG keine subjektiv-öffentlichen Rechte einräume.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>Der Vortrag des Antragstellers vermag die Ausführungen des Verwaltungsgerichts im Ergebnis nicht in Frage zu stellen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO, sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Verhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO, sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch vorliegen. Deren tatsächliche Voraussetzungen müssen zwar nicht zur Überzeugung des Gerichts feststehen, aber hinreichend wahrscheinlich („glaubhaft“) sein (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ein Anordnungsgrund besteht, wenn eine vorläufige gerichtliche Entscheidung erforderlich ist, weil ein Verweis auf das Hauptsacheverfahren aus besonderen Gründen nicht zumutbar ist. Ein Anordnungsanspruch liegt vor, wenn der Antragsteller in der Hauptsache bei summarischer Prüfung voraussichtlich Erfolg haben wird.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der Antragsteller hat jedenfalls keinen Anordnungsanspruch gegenüber dem richtigen Antragsgegner glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>Dem Antragsteller steht entgegen seinem diesbezüglichen Vortrags (Schriftsatz des Antragstellers v. 23.08.2022, S. 3 und v. 02.09.2022, S. 1 bis 2) kein subjektiv-öffentliches Recht auf eine Bestattung des Verstorbenen gemäß § 31 Abs. 2 BestattG zu. Der Senat hat hierzu schon ausgeführt, dass § 31 Abs. 1 BestattG eine öffentlich-rechtliche Pflicht der Angehörigen, für die Bestattung des Verstorbenen zu sorgen, begründet. Sie bietet darüber hinaus eine Rechtsgrundlage für die zuständige Behörde, Bestattungsanordnungen gegenüber den Angehörigen zu treffen oder die Bestattung selbst zu veranlassen. § 31 BestattG enthält jedoch keine Rechtsgrundlage für Ansprüche in dem umgekehrten Verhältnis der Angehörigen gegenüber dem Träger der zuständigen Behörde (vgl. Senat, Beschl. v. 10.11.2016 - 1 S 1663/16 -, juris Rn. 29). Damit ergibt sich aus § 31 Abs. 2 BestattG keine Rechtsgrundlage für Ansprüche von Angehörigen und erst Recht kein Anspruch von weiteren Dritten wie dem Antragsteller, schon weil der Bestatter - anders als die Angehörigen - in § 31 BestattG nicht genannt wird. Die Rechtsprechung des Senats befindet sich damit auch im Einklang mit der vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Urt. v. 27.07.2017 - I ZR 162/15 -, juris Rn. 35), nach der der Grund für die Bestattungspflicht neben sittlichen Erwägungen in der Abwehr von Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung liegt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>Auf die polizeiliche Generalklausel kommt es hier nicht an, weil § 31 Abs. 2 BestattG in seinem Anwendungsbereich eine lex specialis zur polizeilichen Generalklausel darstellt und solange anzuwenden ist, bis tatsächlich rechtzeitig und ausreichend für die Bestattung des Verstorbenen gesorgt ist. Denn erst dann ist die Gefahr, für die § 31 BestattG eine aufeinander abgestimmte Regelung bereithält, gebannt (vgl. Seeger, Bestattungsrecht Baden-Württemberg, 2. Aufl. 1984, § 31, S. 98). Von einer tatsächlich rechtzeitigen und ausreichenden Sorge für die Bestattung des Verstorbenen kann hier nicht ausgegangen werden, weil sich der Verstorbene momentan in eine Tiefkühleinrichtung im Krematorium B… befindet und eine hinreichend konkretisierte Bestattung desselben bislang nicht feststeht.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>Soweit der Antragsteller im Übrigen geltend macht, dass die Antragsgegnerin für die Bestattung des Verstorbenen zuständig sei, weil der Verstorbene vor seinem Tod seinen gewöhnlichen Aufenthalt in K… gehabt habe und dort auch der Anlass für die begehrte Handlung hervorgetreten sei (vgl. Schriftsatz des Antragstellers v. 23.08.2022, S. 2 und v. 02.09.2022, S. 2), geht dies fehl. Denn die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach § 31 Abs. 2 BestattG, § 36 Abs. 4 BestattVO und § 113 Abs. 1 PolG. Hiernach sind die Ortspolizeibehörden örtlich zuständig. Danach beschränkt sich die örtliche Zuständigkeit der Polizeibehörden auf ihren Dienstbezirk. Örtlich zuständig ist die Polizeibehörde, in deren Dienstbezirk eine polizeiliche Aufgabe wahrzunehmen ist. Zuständig ist damit die Polizeibehörde, in deren Dienstbezirk der Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung droht oder in deren Dienstbezirk sich die Gefahrenquelle befindet (vgl. Senat, Beschl. 18.05.2017 - 1 S 1193/16 -, juris Ls. 4; Schatz in: Möstl/Trunit, BeckOK, Polizeirecht Baden-Württemberg, 25. Aufl., § 113 Rn. 3; Faiß/Ruf, Bestattungsrecht Baden-Württemberg, § 31 BestattG, S. 96 bis 97 gehen zwar davon aus, dass die Ortspolizeibehörde örtlich zuständig ist, in deren Bereich der Todesfall eingetreten ist. Dies betrifft jedoch ersichtlich nur den Fall, in dem sich der Verstorbene fortwährend in der Sterbeortgemeinde befindet.). Da im vorliegenden Fall die Gefahr vom Verstorbenen ausgeht und sich die möglichen Gesundheitsgefahren, die von ihm begründet werden, auch dort realisieren werden, wo sich der Verstorbene aktuell befindet, ist B… die zuständige Ortspolizeibehörde.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>Nach alledem kann der Senat es - ebenso wie das Verwaltungsgericht - offenlassen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BestattG im Übrigen erfüllt sind.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table> <table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table> </td></tr></table>
346,520
lg-koln-2022-09-05-14-s-921
{ "id": 812, "name": "Landgericht Köln", "slug": "lg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
14 S 9/21
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-13T10:01:16"
"2022-10-17T11:10:02"
Urteil
ECLI:DE:LGK:2022:0905.14S9.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Berufung die Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 06.12.2021 wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.</p> <p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p> <p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Wegen des Sachverhalts wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen. Danach verlangt die Klägerin, die H, von der Beklagten Schadensersatz im Wege der Lizenzanalogie. Die Beklagte betrieb zum streitgegenständlichen Zeitraum 01.04.2019 — 31.07.2019 am Standort X, B-straße 00 einen Geschäftsbetrieb, der auf die gewerbliche Überlassung von Wohnraum an wechselnde Bewohner gerichtet ist. Gäste bzw. Mieter können in 66 von der Beklagten bereit gestellten Wohneinheiten leben bzw. übernachten. Die Räumlichkeiten sind vollständig ausgestattet mit Küche, Ess- und Wohnbereich sowie Badezimmer. Es handelt sich um Ein-bzw. Zweizimmerwohnungen bzw. —wohneinheiten mit bis zu 45 Quadratmeter Fläche. In den Wohneinheiten befindet sich jeweils ein Fernseher. Die Beklagte stellt darüber hinaus auch ein Antennenkabel zur Verfügung. Klarstellend ist das Urteil des Amtsgerichts dahingehend zu ergänzen, dass das von der Beklagten gewerblich genutzte Gebäude über eine zentrale Verteileranlage verfügt, mit der das Signal an die einzelnen Wohneinheiten weitergeleitet wird.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Wegen der Einzelheiten wird auf das am 06.12.2021 verkündete Urteil des Amtsgerichts Köln (Bl. 349 ff. der Akte) Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit der Berufung begehrt die Beklagte die Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils und verfolgt ihr Begehren der Klageabweisung weiter. Zur Begründung trägt sie vor, dass das Amtsgericht unzutreffender Weise von einer öffentlichen Wiedergabe ausgegangen sei. Es habe außerdem Sachvortrag und Beweisangebote rechtsfehlerhaft unberücksichtigt gelassen, nämlich zu dem Umstand, dass die Mieter der Beklagten mehrere Monate bis einige Jahre bei der Beklagten wohnen und dort ihren allgemeinen Lebensmittelpunkt begründen. Der Betrieb der Beklagten sei nicht mit einem Hotel vergleichbar. Vielmehr sei der Fall gleichermaßen zu beurteilen wie das Objekt im Rechtsstreit „Ramses“ (BGH, Urteil vom 17.09.2015 – I ZR 228/14, NJW 2016, 807). Dies ergebe sich schon daraus, dass die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Gästen in Hotels bundesweit in Deutschland (im Jahr 2017)  2,1 bzw. (im Jahr 2018) 2,6 Tage betragen habe.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hätte die Beklagte vor seinem Urteil darauf hinweisen müssen, dass die erstinstanzlich vorgelegten Mietverträge nicht ausreichen, um den Vortrag der Beklagten zur mehrmonatigen Belegung durch ihre Gäste zu belegen. Es habe hierzu auch Zeugenbeweisangebote übergangen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Köln vom 6.12.2021 (Aktenzeichen: 137 C 498/20) die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Sie weist darauf hin, dass sich aus den klägerseits vorgelegten Mietverträgen eine Mietdauer zwischen 14 Tagen und sechs Monaten, im Schnitt drei Monate, ergebe und nicht wie von der Klägerin behauptet, durchschnittlich ca. sechs Monate. Der Vortrag zur durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von Gästen in Hotels wird als verspätet gerügt. Die öffentliche Bewerbung der Wohneinheiten der Beklagten und der ständige Wechsel der Mieter zeigten, dass der Zugang zu den Wohneinheiten lediglich durch die Kapazität begrenzt sei und grundsätzlich jedermann offenstehe. Die hier zu bewertende Kurzzeitmiete sei nicht mit der Fallgestaltung einer Wohnungseigentümergemeinschaft im Fall „Ramses“ (a.a.O.) vergleichbar.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, hat aber in der Sache keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Schadensersatzanspruch gemäß § 97 Abs. 2 UrhG, da die Beklagte urheberrechtlich geschützte Inhalte, insbesondere Rundfunksendungen, widerrechtlich im Wege der Kabelweitersendung gem. §§ 15 Abs. 2 S. 1 und 2 Nr. 3, 20, 20b Abs. 1 S. 1 UrhG öffentlich wiedergegeben hat, hinsichtlich derer die Urheberrechte von der Klägerin wahrgenommen werden.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">1. Die Klägerin ist aktivlegitimiert. Hierzu wird zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts verwiesen. Die Klägerin nimmt die dort bezeichneten Rechte wahr. Zu Gunsten der Klägerin spricht eine tatsächliche Vermutung ihrer Wahrnehmungsbefugnis für die Aufführungsrechte an in- und ausländischer Tanz- und Unterhaltungsmusik und für die so genannten mechanischen Rechte (vgl. BGH, Urteil vom 13.06.1985 – I ZR 35/83 – H-Vermutung II). Diese Vermutung hat die Beklagte nicht widerlegt.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">2. Das Amtsgericht hat mit Recht angenommen, dass die im Streitfall maßgebliche Verwertungshandlung eine öffentliche Wiedergabe im Sinne von § 15 Abs. 2 S. 1 und 2 Nr. 3, §§ 20, 20b Abs. 1 S. 1 UrhG darstellt.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Bei dem hier maßgeblichen Recht zur Kabelweitersendung handelt es sich um einen besonderen Fall des Senderechts und damit um einen besonderen Fall der öffentlichen Wiedergabe. Die Wiedergabe ist nach § 15 Abs. 3 S. 1 UrhG öffentlich, wenn sie für eine Mehrzahl von Mitgliedern der Öffentlichkeit bestimmt ist. Zur Öffentlichkeit gehört nach § 15 Abs. 3 S. 2 UrhG jeder, der nicht mit demjenigen, der das Werk verwertet, oder mit den anderen Personen, denen das Werk in unkörperlicher Form wahrnehmbar oder zugänglich gemacht wird, durch persönliche Beziehungen verbunden ist. Der Begriff der öffentlichen Wiedergabe ist in Übereinstimmung mit der für Urheber geltenden Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG sowie mit den für Leistungsschutzberechtigte geltenden Bestimmungen des Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115/EG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auszulegen (vgl. BGH, Urteil vom 18.06.2020 – I ZR 171/19, ZUM 2021, 65 – Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen).</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Überträgt – wie im hiesigen Fall – der Betreiber eines Gewerbebetriebes zur Vermietung von möblierten Wohnungen zur zeitlich auf wenige Monate befristeten Inanspruchnahme unbestimmter Personen zuvor von ihm empfangene Hör- und Fernsehfunksignale im Sinne von § 20b Abs. 1 UrhG zeitgleich, unverändert und vollständig durch technische Mittel wie Kabel an die angeschlossenen Empfangsgeräte in 66 Wohneinheiten weiter, sind die Voraussetzungen der öffentlichen Wiedergabe erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Begriff der »öffentlichen Wiedergabe« gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115/EG hat zwei Tatbestandsmerkmale, nämlich eine Handlung der Wiedergabe und die Öffentlichkeit dieser Wiedergabe. Ferner erfordert dieser Begriff eine individuelle Beurteilung. Im Rahmen einer derartigen Beurteilung sind eine Reihe weiterer Kriterien zu berücksichtigen, die unselbstständig und miteinander verflochten sind. Da diese Kriterien im jeweiligen Einzelfall in sehr unterschiedlichem Maß vorliegen können, sind sie einzeln und in ihrem Zusammenwirken mit den anderen Kriterien anzuwenden (BGH, ZUM 2021, 65, Rn. 14 – Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen, m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">a) Die Weiterleitung von Rundfunksendungen durch eine Verteileranlage zu in Wohnungen aufgestellten Fernsehgeräten stellt eine Handlung der Wiedergabe dar.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Eine „Wiedergabe“ setzt voraus, dass der Nutzer in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens – also absichtlich und gezielt – tätig wird, um Dritten einen Zugang zum geschützten Werk zu verschaffen, den diese ohne sein Tätigwerden nicht hätten. Dabei reicht es aus, wenn Dritte einen Zugang zum geschützten Werk haben, ohne dass es darauf ankommt, ob sie diesen nutzen (BGH, ZUM 2021, 65, Rn. 17 – Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen). So liegt der Fall hier wie es das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat. Die Beklagte erbringt mit der Weiterleitung der Rundfunksendungen absichtlich und gezielt einen Service für ihre Kunden bzw. Mieter und erspart ihnen damit eigene Anstrengungen, um Rundfunksignale zur eigenen Nutzung zu organisieren. Dass vorliegend eine Verteileranlage vorhanden ist und von der Beklagten genutzt wird, ist zwischen den Parteien nicht streitig.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">b) Die Wiedergabe war auch öffentlich.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Begriff der Öffentlichkeit ist nur bei einer unbestimmten Zahl potenzieller Adressaten und recht vielen Personen erfüllt. Um eine „unbestimmte Zahl potenzieller Adressaten“ handelt es sich, wenn die Wiedergabe für Personen allgemein erfolgt, also nicht auf besondere Personen beschränkt ist, die einer privaten Gruppe angehören. Mit dem Kriterium „recht viele Personen“ ist gemeint, dass der Begriff der Öffentlichkeit eine bestimmte Mindestschwelle enthält und eine allzu kleine oder gar unbedeutende Mehrzahl betroffener Personen ausschließt. Zur Bestimmung dieser Zahl von Personen ist die kumulative Wirkung zu beachten, die sich aus der Zugänglichmachung der Werke bei den potenziellen Adressaten ergibt. Dabei kommt es darauf an, wie viele Personen gleichzeitig und nacheinander Zugang zu demselben Werk haben (BGH, ZUM 2021, 65, Rn. 23 – Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen, m.w.N. aus der Rspr. des EuGH und BGH).</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Eine Wiedergabe beschränkt sich hingegen auf „besondere Personen“ und erfolgt nicht gegenüber „Personen allgemein“, wenn sie für einen begrenzten Personenkreis vorgenommen wird. Daran fehlt es jedoch, wenn – wie bei Gästen eines Hotels – der Zugang zur angebotenen Dienstleistung des Hotels grundsätzlich auf einer persönlichen Entscheidung jedes einzelnen Gastes beruht und lediglich durch die Aufnahmekapazität des fraglichen Hotels begrenzt wird. Gleich liegt der Fall etwa bei Ferienwohnungen, selbst wenn dort unterstellter Weise vornehmlich Stammgäste einkehren (BGH, ZUM 2021, 65, Rn. 25 – Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen, m.w.N. aus der Rspr. des EuGH und BGH). „Besondere Personen“ hat der BGH hingegen angenommen, wenn diese in ihrer Eigenschaft als Bewohner einer Wohnanlage mit 343 Wohneinheiten von anderen Personenkreisen abgegrenzt sind und der Zugang zu den Wohnungen einer Wohnanlage grundsätzlich nur ihren Bewohnern offen steht (BGH NJW 2016, 807, Rn. 63 – Ramses). Im dortigen Fall hat der BGH eine „private Gruppe“ angenommen, weil Sendesignale von einer Wohnungseigentümergemeinschaft ausschließlich in die Wohnungen der dieser Gemeinschaft angehörenden Wohnungseigentümer übermittelt wurden. Bei einer wertenden Betrachtung unterscheide sich der Empfang mittels einer gemeinsamen Satellitenschüssel und die Weiterleitung über ein Kabelnetz in die einzelnen Wohnungen nicht von der Fallgestaltung, dass jeder einzelne Eigentümer für seine eigene Wohnung eine gesonderte Antenne installiert und die empfangenen Sendesignale über Kabel an die Empfangsgeräte in seiner Wohnung weiterleitet. Im Ergebnis leiteten die einzelnen Eigentümer die Sendungen nur an sich selbst weiter (BGH NJW 2016, 807, Rn. 67 – Ramses).</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Kriterien ist vorliegend die notwendige Öffentlichkeit gegeben, was das Amtsgericht zutreffend herausgearbeitet hat. Zu Recht hat das Amtsgericht den Fokus darauf gelegt, dass die Beklagte eine kostenpflichtige Dienstleistung erbringt und der Zugang zu ihrem Geschäftsgebäude im Rahmen der Kapazität jedermann freisteht. Es hat auch zutreffend angenommen, dass der hiesige Fall nicht mit der beim BGH-Urteil „Ramses“ gegenständlichen Wohnungseigentümergemeinschaft vergleichbar ist. Auch ist es nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht der konkreten Mietdauer der Kunden der Beklagten keine entscheidende Bedeutung zugemessen hat.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Bei den Kunden der Beklagten handelt es sich um eine unbestimmte Zahl potenzieller Adressaten. Es handelt sich hingegen nicht um besondere Personen, die einer privaten Gruppe angehören. Dabei ist der hiesige Fall schon deshalb nicht mit der Fallgestaltung beim Fall „Ramses“ vergleichbar, weil die Bewohner des Geschäftsgebäudes der Beklagten keine Wohnungseigentümer sind und dementsprechend keine vergleichbare Zugangsbarriere für „Personen allgemein“ besteht. Die Beklagte streitet es im Ergebnis auch selbst nicht ab, dass sie bei freier Kapazität mit jedermann ein Vertragsverhältnis eingehen würde. Dies folgt schon aus der unbestrittenen Bewerbung des Angebots der Beklagten als „Alternative zum Hotel“. Dies folgt auch aus der Vorlage der ausgewählten Mietverträge (Anlage 1 zum Schriftsatz vom 16.05.2021, Bl. 267 GA), die beinahe ausschließlich mit Handelsunternehmen geschlossen worden sind. Hier zeigt sich bereits, dass anders als etwa bei einem Wohnungseigentümer, der mit einer bestimmten Person einen Wohnraummietvertrag schließt, nicht die Person des Mieters im Vordergrund steht. Vielmehr erscheint es so, dass die Beklagte vornehmlich ein Interesse an der höchstmöglichen Auslastung zu ihren Standardtarifen hat. Damit steht die Dienstleistung der Beklagten aber derjenigen eines Hotels oder einer Ferienanlage näher, was eine Gleichbehandlung aufdrängt.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass die vom BGH beim Fall „Ramses“ vorgenommene wertende Betrachtung hier nicht anwendbar ist. Denn es liegt fern, dass die Beklagte es dulden würde, dass jeder Kurzzeitmieter etwa eigene Satellitenanlagen installiert. So liegt hier auch im Ergebnis nicht nur die Vermeidung einer solchen unsinnigen Installation einer Vielzahl von Einzelanlagen der einzelnen Wohnungseigentümer vor, sondern um eine zentrale Dienstleistung der Beklagten an ihre Gäste.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Auch die Dauer oder mehrmalige Inanspruchnahme der Leistungen steht der Annahme der Öffentlichkeit nicht entgegen. So ist kein maßgeblicher Unterschied zu den im BGH-Urteil „Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen“ behandelten Stammgästen zu erkennen. Auch hier ergibt sich aus den beispielhaft vorgelegten Mietverträgen, dass sich nicht nur langjährige Kunden bei der Beklagten einmieten. Die Beklagte verkennt dabei, dass es nicht maßgeblich ist, dass einzelne Kunden lange Zeit bei ihr wohnen – dies mag schließlich in so manchem Hotel auch der Fall sein –, sondern es entscheidend darauf ankommt, dass manche Kunden nur ca. 2 Wochen gastieren (vgl. etwa die Rechnung an die Q D vom 22.02.2021, Bl. 275 GA).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Außerdem handelt es sich bei den 66 Wohneinheiten selbst bei Belegung mit nur einer einzigen Person nicht um eine allzu kleine oder gar unbedeutende Mehrzahl betroffener Personen. So ist wiederum auf den Fall des BGH „Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen“ zu verweisen, bei dem das Erfordernis der „recht vielen Personen“ bereits bei mit je zwei Personen belegten acht Ferienwohnungen angenommen worden ist. Auch hier vermag der Verweis der Beklagten auf den Fall „Ramses“ nicht zu überzeugen, weil dort das Kriterium der „recht vielen Personen“ nicht streitentscheidend war.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Schließlich liegt auch ein „neues Publikum vor“ (zu diesem Erfordernis und dem Vorliegen bei einer zentralen Verteileranlage siehe BGH, ZUM 2021, 65, Rn. 34 ff. – Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen, m.w.N.). Die Kunden der Beklagten sind nicht als das Publikum anzusehen, an das die ursprüngliche öffentliche Wiedergabe gerichtet war. Dabei sind zwar die unstreitig von der Beklagten verfolgten Erwerbszwecke nicht von entscheidender Bedeutung, können aber indiziell für die öffentliche Wiedergabe sprechen, etwa weil hierdurch ein Wettbewerbsvorteil verschafft wird (BGH, ZUM 2021, 65, Rn. 37 – Rundfunkübertragung in Ferienwohnungen; EuGH ZUM 2016, 744 Rn. 63 – Reha Training/H).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Aus den vorstehenden Erwägungen folgt auch, dass das Amtsgericht weder eine Hinweispflicht verletzt hat, noch Vortrag oder Beweismittel übergangen hätte. Wie aufgezeigt ist der entsprechende Vortrag der Beklagten zur Mietdauer ihrer Kunden rechtlich unerheblich.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">c) Die Ausführungen des Amtsgerichts zu Rechtswidrigkeit, Verschulden und Berechnung des lizenzanalogen Schadensersatzes sind zutreffend und bedürfen keiner Ergänzung.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">3. Dasselbe gilt für die Entscheidung über die Nebenforderungen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">III.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">IV.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Revision war nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen von § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben. Wie ausführlich dargelegt sind durch die Rechtsprechung des BGH und des EuGH die rechtlichen Grundsätze zur öffentlichen Zugänglichmachung im Bereich der gewerblichen Wohnraumüberlassung einerseits und der davon zu unterscheidenden Situation einer Wohnungseigentümergemeinschaft geklärt. Die Entscheidung beruht demnach auf der tatrichterlichen Anwendung gesetzlicher und höchstrichterlich geklärter Rechtsgrundsätze in einem Einzelfall unter Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten des konkreten Sachverhalts. Die Kammer erkennt deshalb keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Soweit die Beklagte ihr Angebot als innovativ und deshalb grundsätzlich klärungsbedürftig ansieht, kann die Kammer diese Ansicht nicht teilen. Demnach erfordern auch weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird auf 991,80 EUR festgesetzt.</p>
346,496
vg-minden-2022-09-05-12-l-59922a
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12 L 599/22.A
"2022-09-05T00:00:00"
"2022-09-09T10:01:15"
"2022-10-17T11:09:58"
Beschluss
ECLI:DE:VGMI:2022:0905.12L599.22A.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</p> <p>Die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 12 K 2197/22.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2022 enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Gründe:</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">A. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechts-anwalt E.     , M.     , ist abzulehnen, weil die Antragsteller trotz Aufforderung des Gerichts keine Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (§§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 117 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 ZPO) vorgelegt haben.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">B. Der am 1. August 2022 gestellte Antrag,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 12 K 2197/22.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2022 enthaltene Abschiebungsanordnung anzuordnen,</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">ist zulässig und begründet. Die im Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragsteller aus.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1. Für die vorzunehmende Interessenabwägung gelten die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO anwendbaren allgemeinen Grundsätze. Dementsprechend ist das Interesse der Antragsteller an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung gegen das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten der Klage maßgeblich zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Dagegen setzt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage anders als in Fällen der Unzulässigkeit des Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AsylG oder der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags nicht voraus, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen (§ 36 Abs. 1 und 4 Satz 1 AsylG). Im Gegensatz zu § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG enthält § 34a Abs. 2 AsylG keine entsprechende Einschränkung. Ein Antrag, § 34a Abs. 2 AsylG entsprechend zu fassen, fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Trier, Beschluss vom 18. September 2013- 5 L 1234/13.TR -, juris Rn. 5 ff. mit ausführlicher Darstellung des Ablaufs des Gesetzgebungsverfahrens; VG Darmstadt, Beschluss vom 9. Mai 2014 - 4 L 491/14.DA.A -, juris Rn. 2.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">2. Nach derzeitigem Sach- und Streitstand ist offen, ob die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG bestimmt, dass dann, wenn ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat oder - wie hier - in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat anordnet, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist nach derzeitigem Sach- und Streitstand offen. Zwar ist Polen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31, sog. Dublin III-VO) für das Asylverfahren der Antragsteller zuständig (a). Diese Zuständigkeit ist zwischenzeitlich nicht auf die Antragsgegnerin übergegangen (b). Es bedarf aber der Aufklärung in der Hauptsache, ob die Antragsteller im Falle ihrer Überstellung nach Polen aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (GrCh) ausgesetzt sein werden (c).</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">a) Polen ist für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller zuständig.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO 604/2013 sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden. Welcher Mitgliedstaat dies ist, bestimmt sich (vorrangig) nach den Kriterien der Art. 8 bis 15 VO 604/2013 und zwar in der Rangfolge ihrer Nummerierung (Art. 7 Abs. 1 VO 604/2013). Lässt sich anhand dieser Kriterien nicht bestimmen, welcher Mitgliedsstaat zuständig ist, so ist der erste Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">In einem Wiederaufnahmeverfahren, wie es nach Art. 23 VO 604/2013 auch im Fall der Antragsteller einschlägig ist, wird die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats jedoch - anders als im Aufnahmeverfahren - nicht anhand der Kriterien in Art. 8 bis 15 VO 604/2013 geprüft. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">- vgl. dessen Urteil vom 2. April 2019, C-582/17, Celex-Nr. 62017CJ0582 -</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">ist vielmehr entscheidend, dass der um Wiederaufnahme ersuchte Mitgliedstaat die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 VO 604/2013 bzw. des Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) bis d) VO 604/2013 erfüllt, was hier der Fall ist. Die Zuständigkeit Polens folgt aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) oder c) VO 604/2013. Danach ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, (u.a.) einen Antragsteller, der entweder während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, wieder aufzunehmen. Eine solche Lage ist hier gegeben:</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Antragsteller haben in Polen unzweifelhaft Anträge auf internationalen Schutz gestellt, was sich jedenfalls daraus ergibt, dass für sie in Bezug auf Polen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 vorliegen. Diese Treffer bestehen aus der Länderkennung PL für Polen und einer Zahlenkombination. Die Ziffer unmittelbar nach der Länderkennung - im vorliegenden Fall eine 1 - gibt den Grund für die Abnahme von Fingerabdrücken an, wobei eine 1 für „Asylbewerber“ und damit für die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz und eine 2 für „illegale Einreise“ ohne Stellung eines solchen Antrags steht. Diese Anträge haben die Antragsteller, wie sich aus den Recherchen des Bundesamtes in der Eurodac-Datenbank ergibt, am 12. August 2021 gestellt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Im Anschluss an diese Asylantragstellung in Polen haben die Antragsteller dieses Land verlassen, ohne dass eine Entscheidung ergangen wäre. Die Antragsteller haben nichts über eine ihnen gegenüber in Polen bekanntgegebene Asylentscheidung berichtet. Polen ist dementsprechend - wie es in seinem Schreiben vom 16. Mai 2022 selbst ausführt - gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) VO 604/2013 zur Wiederaufnahme der Antragsteller verpflichtet.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">b) Die Pflicht Polens die Antragsteller gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) VO 604/2013 wiederaufzunehmen ist nicht wegen Verstreichens der maßgeblichen Ersuchens- und Überstellungsfristen erloschen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">aa) Die in der VO 604/2013 vorgesehene Frist, innerhalb welcher der als zuständig ermittelte Mitgliedstaat (hier Polen) um Wiederaufnahme des betreffenden Ausländers zu ersuchen ist, ist gewahrt. Nach der vorliegend einschlägigen Bestimmung des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 ist das Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung zu stellen. Vorliegend erfolgte der Eurodac-Treffer am 22. März 2022. Das Bundesamt hat am 5. Mai 2022 die polnischen Behörden um Wiederaufnahme der Antragsteller gebeten, sodass die Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 in jedem Fall gewahrt ist.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die sich aus Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 ergebende Frist überschreitet in diesem Fall auch nicht die Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013, wonach das Wiederaufnahmegesuch innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 VO 604/2013 gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten ist, wenn sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System stützt. Auch dann, wenn ein Eurodac-Treffer erzielt wurde und somit ein Fall des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 gegeben ist, ist es nicht möglich, ein Wiederaufnahmegesuch nach Ablauf der Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013, d.h. mehr als drei Monate nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz, wirksam zu unterbreiten, auch wenn dies weniger als zwei Monate nach Erhalt einer Eurodac-Treffermeldung geschieht.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/16 -, juris Rn. 63 ff.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Ein Antrag auf internationalen Schutz ist dabei nicht erst mit der förmlichen Antragstellung beim Bundesamt, sondern bereits dann gestellt, wenn der Behörde, die für die Bestimmung des für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaates zuständig ist, ein Schriftstück zugegangen ist, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Drittstaatsangehöriger um internationalen Schutz ersucht hat.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/17 -, juris Rn. 79 ff.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Zwar ist dieser Zeitpunkt in der beigezogenen Bundesamtsakte nicht dokumentiert. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass ein „Schriftstück, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Drittstaatsangehöriger um internationalen Schutz ersucht hat“, in Bezug auf die Antragsteller nicht vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet an das Bundesamt gelangt sein kann. Ausgehend von dem danach frühestmöglichen Zeitpunkt der Erstellung und Weiterleitung des besagten Schriftstückes an das Bundesamt, dem 22. März 2022, hat das Bundesamt weniger als drei Monate gebraucht, um die polnischen Behörden um Wiederaufnahme der Antragsteller zu bitten. Das betreffende Gesuch ist - wie ausgeführt - bereits am 5. Mai 2022 und somit in jedem Falle fristgerecht bei den polnischen Behörden eingegangen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">bb) Ebenso wenig ist die sechsmonatige Frist für die Überstellung der Antragsteller in den zuständigen Mitgliedstaat (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013) mit der Folge überschritten, dass die Zuständigkeit für die Durchführung ihres Asylverfahrens gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013 auf die Antragsgegnerin übergegangen wäre.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Gemäß Art. 29 Abs. 1 VO 604/2013 erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald sie praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Die polnischen Behörden haben dem Gesuch des Bundesamtes am 16. Mai 2022 (mithin binnen der 2-Wochenfrist des Art. 25 Abs. 1 VO 604/2013) zugestimmt. Ausgehend hiervon ist die sechsmonatige Überstellungfrist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung unzweifelhaft noch nicht verstrichen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">c) Der Überstellung der Antragsteller nach Polen steht aber entgegen, dass nach derzeitigem Sach- und Streitstand offen ist, ob sie im Falle ihrer Überstellung dorthin aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCh ausgesetzt sein werden (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 liegen vor, wenn das erkennende Gericht zu der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gelangt, dass ein Antragsteller wegen systemischer Schwachstellen, also strukturell bedingter, größerer Funktionsstörungen, im konkret zu entscheidenden Fall in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, das heißt überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 (juris Rn. 9) zur Rechtslage nach der Verordnung 343/2003.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dabei ist es für die Anwendung von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta gleichgültig, ob das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betreffenden Person zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss besteht.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris, Rn. 88.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist das zuständige Gericht verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Derartige Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 der EU-Grundrechtecharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris, Rn. 87 ff., und vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. -, juris, Rn. 87 ff., und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 -, juris, Rn. 39.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC kann auch in einer Inhaftierung eines Asylbewerbers liegen. Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind. Die Beurteilung des Vorliegens eines Mindestmaßes an Schwere ist der Natur der Sache nach relativ. Sie hängt von allen Umständen des Falles ab, wie der Dauer der Behandlung, ihren physischen und mentalen Auswirkungen und in einigen Fällen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Rufen die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit Gefühle der Willkür und die damit oft verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und der Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person hervor, verstoßen sie gegen Art. 3 EMRK.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. EGMR, Urteile vom 21 . Januar 2011 - 30696/09 - M.S. S./Belgien u. Griechenland, HUDOC Rn. 221, vom 10. Januar 2012 - 42525/07 und 60800/08 - Ananyev u.a./RussIand, HUDOC Rn. 141, und vom 20. Oktober 2016 - 7334/13 - Mursic/Kroatien, HUDOC Rn. 99.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Vorgaben ist nach aktuellem Kenntnisstand offen, ob den Antragstellern im Falle ihrer Überstellung nach Polen eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im eben beschriebenen Sinne droht.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">In Polen werden neben erwachsenen Asylbewerbern auch Kinder aus einer Reihe von Gründen (z.B. Identitätsabklärung, Fluchtgefahr, Sicherheitsgründe) inhaftiert. Im Jahr 2021 waren hiervon 567 Kinder betroffen (davon waren 486 in Begleitung ihrer Eltern, bei 81 handelte es sich um unbegleitete Minderjährige). Die Verweildauer in einem Haftzentrum beträgt zwischen 52 Tagen und 5 Monaten (letzteres im sogenannten rigorosen Haftzentrum). Die Inhaftierung von Kindern wird automatisch angeordnet, ohne individuelle Bewertung ihrer Situation und Bedürfnisse. Auch hören die Gerichte die Kinder nicht an. Medizinische und psychologische Untersuchungen finden nicht statt, stattdessen stützten sich die Gerichte auf die von den Grenzschutzbeamten vorgelegten Dokumente. Laut NGOs herrschen in den Haftzentren keine kindgerechten Unterbringungsbedingungen. Die Familien werden in Zentren untergebracht, in denen früher nur Männer untergebracht waren. In der Praxis bedeutet dies, dass die Infrastruktur nicht an die Bedürfnisse von Minderjährigen angepasst ist. Zudem sehen die Haftzentren wie Gefängnisse aus. Die Kinder gehen nicht in reguläre Schulen. Schulen in der Nähe einiger Haftanstalten entsenden Lehrer in die Haftanstalten, wo die Kinder dann in speziell geschaffenen Unterrichtsräumen unterrichtet werden. Während der COVID-19 Pandemie mussten die Kinder - genauso wie polnische Schüler - online am Unterricht teilnehmen, was viele Probleme verursachte, da die Eltern keine Unterstützung bei der Erklärung der Aufgaben von der Schule erhielten.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Auch äußerte der Menschenrechtskommissar im Januar 2022 in einem Schreiben an die Präsidenten der Regionalgerichte (Prezesów Sądów Okręgowych) unter anderem seine Besorgnis über die Inhaftierung von Familien mit Kindern. Er betonte, dass keines der Haftzentren ein geeigneter Ort für Kinder sei. Ihm zufolge könne die Inhaftierung negative und irreversible Auswirkungen auf die Entwicklung und den psychophysischen Zustand eines Kindes haben, insbesondere bei einer traumatischen Migrationserfahrung, da diese Einrichtungen keine geeigneten Orte für Kinder seien. Der Kommissar wies auch darauf hin, dass keine der Haftanstalten die ordnungsgemäße Umsetzung des verfassungsmäßigen Rechts der Kinder auf Bildung garantiert, da der Inhalt und die Form der didaktischen und pädagogischen Aktivitäten nur einen kleinen Umfang des Unterrichtsprogramms umsetzen.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (aida): Country Report: Poland: update 2021, S. 88 ff.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Aus den vorliegenden Erkenntnissen ergibt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit, ob eine Inhaftierung zu den oben beschriebenen Haftbedingungen auch Asylbewerbern die - wie hier die Antragsteller - im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen (zurück)überstellt werden, droht. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Aufklärung in der Hauptsache, ob auch Antragsteller mit minderjährigen Kindern, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen (zurück)überstellt werden, inhaftiert werden und wenn ja, welche Bedingungen dann in den Haftzentren für diese Gruppe der Antragsteller genau gelten.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">3. Die bei offenen Erfolgsaussichten der Klage vorzunehmende Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten der Antragsteller aus. Ihr privates Suspensivinteresse überwiegt angesichts der Schwere der ihnen infolge der Überstellung möglicherweise drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK das öffentliche Vollzugsinteresse. Dahinter hat das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache zurückzutreten. Zudem ist eine spätere Überstellung nach Polen - für den Fall, dass sich die Abschiebungsanordnung als rechtmäßig erweisen sollte - ohne Weiteres und wesentlich einfacher möglich als eine Rückholung der Antragsteller, sollten sie jetzt überstellt werden, sich später aber die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung herausstellen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
346,920
olgham-2022-09-02-11-u-12621
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11 U 126/21
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:34"
"2022-10-17T11:11:04"
Urteil
ECLI:DE:OLGHAM:2022:0902.11U126.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Berufung des Klägers gegen das am 05.07.2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p> <p>Dieses und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>A.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>B.</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche stehen diesem unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt zu.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">I. Soweit der Kläger mit den Berufungsanträgen zu 3) und 4) die Unterlassung von Äußerungen begehrt, welche der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 14.12.2020 vor dem Landgericht Bielefeld in dieser Sache getätigt haben soll, ist die Klage bereits unzulässig, da ihr das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">1. Nach der gefestigten Rechtsprechung besteht für Ehrschutzklagen gegen Äußerungen, die der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung in einem Gerichtsverfahren oder dessen Vorbereitung dienen, in aller Regel kein Rechtsschutzbedürfnis. Das Ausgangsverfahren soll nicht durch eine Beschneidung der Äußerungsfreiheit der daran Beteiligten beeinträchtigt werden. Die Parteien müssen in einem Gerichtsverfahren grundsätzlich alles vortragen dürfen, was sie zur Wahrung ihrer Rechte für erforderlich halten, auch wenn hierdurch die Ehre eines anderen berührt wird. Ob das Vorbringen wahr und erheblich ist, soll allein in dem Ausgangsverfahren geprüft werden. Der von der ehrkränkenden Äußerung Betroffene kann deswegen weder Unterlassungs- noch Widerrufsansprüche geltend machen (BGH, Urteil vom 28.02.2012 – VI ZR 79/11, juris Rn. 7). Dies trägt dem Recht der Parteien auf wirkungsvollen gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie dem Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 Rechnung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.12.2008 – 1 BvR 1404/04, juris Rn. 17). Die Rechte des Betroffenen werden hinreichend dadurch gewahrt, dass ihm bereits im Ausgangsverfahren prozessual wie materiell-rechtlich ausreichende Rechtsgarantien zum Schutz seiner Interessen bereitstehen; er kann schon in diesem Verfahren die Behauptung des Prozessgegners zur Nachprüfung durch das Gericht stellen (vgl. BGH, Urteil vom 28.02.2012 – VI ZR 79/11, juris Rn. 7 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der angestrebte Schutz der Äußerungsfreiheit in einem gerichtlichen Verfahren kann auch nicht dadurch „umgangen“ werden, dass Unterlassungsansprüche wegen einzelner Äußerungen im Wege der Klageerweiterung in das Ausgangsverfahren „eingeführt“ werden. In Bezug auf das Ausgangsverfahren stellen diese Anträge selbständige Streitgegenstände dar, die in rechtlicher Hinsicht einer selbständigen Prüfung ihrer Zulässigkeit und Begründetheit unterliegen. Das aus rechtsstaatlichen Gründen grundsätzlich fehlende Rechtsschutzinteresse dieser Klagen entsteht nicht dadurch, dass sie von einer Partei mit dem Ausgangsverfahren verbunden werden. Denn auch in diesem Fall würden sie die Rechtsverfolgung des Gegners im Ausgangsverfahren beeinträchtigen und ihm die Äußerungsfreiheit beschneiden, wenn er sich nicht dem Risiko eines Unterlassungsurteils in dem weiteren (verbundenen) Verfahren aussetzen will. Für den noch laufenden Ausgangsprozess wäre das auch deswegen nachteilig, weil es für die Entscheidung eines Zivilprozesses regelmäßig auf den Sach- und Streitstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. Eine Ausnahme von dem dargestellten Grundsatz gilt allenfalls dann, wenn die beanstandeten Äußerungen in keinerlei Zusammenhang zur Rechtsverfolgung des Äußernden stehen, erkennbar falsch sind oder eine unzulässige Schmähung darstellen (BGH, Urteil vom 11.12.2007 – VI ZR 14/07, juris Rn. 14 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier allerdings nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist zunächst davon auszugehen, dass die Aussagen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 14.12.2020 im Zusammenhang mit dessen Rechtsverteidigung standen. Zwar ist der genaue Wortlaut der Äußerungen zwischen den Parteien streitig und auch nicht protokolliert. Die Angaben des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 14.06.2021 vor dem Landgericht Bielefeld, wie sie dem Sitzungsprotokoll zu entnehmen sind, lassen aber erkennen, dass es dem Beklagten darum ging, die Belastung zu verdeutlichen, die er – wie auch die anderen Mitglieder des E-Mail-Verteilers – sich aufgrund der durch den Kläger und dessen Bruder angestrengten Zivilprozesse ausgesetzt sahen. Dieses Vorbringen konnte der Beklagte als dienlich für seine Rechtsverteidigung erachten, da es im Rahmen der Beurteilung der Widerrechtlichkeit eines etwaigen Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers – insbesondere im Hinblick auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen – von Bedeutung sein konnte. Damit ist ein hinreichender Zusammenhang zur Rechtsverteidigung des Beklagten gegeben.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dass die – inhaltlich streitigen – Aussagen des Beklagten des Weiteren erkennbar falsch sind, liegt ebenso fern wie die Annahme einer unzulässigen Schmähung.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man den vom Kläger behaupteten Inhalt der Äußerungen zu Grunde legt, handelt es sich nicht um Äußerungen, die bereits auf der Hand liegend falsch waren. Der Hinweis auf die „Gleichstellung mit Mördern“ wie dem „A-Mörder“ hatte einen sprachlichen Bezug zu einem strafrechtlichen Beschwerdeschreiben des Klägers, wie der Beklagte dem Landgericht glaubhaft geschildert hat. Der weitere Hinweis auf ein „Gegen-die-Wand-Fahren“ von Menschen, die sich in psychiatrische Behandlung ergeben müssten, stand nach den nachvollziehbaren Angaben des Beklagten im Zusammenhang mit der Schilderung einer vom Kläger ebenfalls verklagten Person über dessen psychische Belastungen aufgrund des geführten Rechtsstreits.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">An einer Schmähung fehlt es bei diesen Äußerungen bereits deshalb, weil ihr sachlicher Gehalt unverkennbar ist und zudem ein Zusammenhang mit den für den Rechtsstreit wesentlichen Fragen und damit der Rechtsverteidigung des Beklagten bestand, insbesondere dem Druck und der Belastung, der sich der Beklagte aufgrund des gegen ihn angestrengten Zivilprozesses und der auf Veranlassung des Klägers zu seinem Nachteil eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt sah.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">II. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">1. Der Kläger kann nicht die mit dem Berufungsantrag zu 1) begehrte Unterlassung der Herstellung oder Verbreitung des als Anlage K 1 vorgelegten Schriftstücks (Blatt 8 ff. der Akte) verlangen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">a) Ein solcher Anspruch folgt nicht aus § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">aa) Eine etwaige Verletzung der Rechte des Klägers durch das von diesem beanstandete Schriftstück wäre dem Beklagten allerdings zuzurechnen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der konkrete Umfang der Mitwirkung des Beklagten an der Erstellung des Schriftstücks kann dahinstehen. Denn der Beklagte hat das Dokument in der vom Kläger vorgelegten Fassung per E-Mail an die Mitglieder des E-Mail-Verteilers versandt, ohne dessen Inhalt in Frage zu stellen. Störer ist neben dem Verfasser einer Erklärung auch, wer fremde Erklärungen an andere weiterleitet, wenn er diese nicht als ungeprüfte Behauptungen Dritter kennzeichnet, sondern sich den Inhalt der Äußerung erkennbar zu eigen macht (<em>Rixecker</em>, in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2021, Anhang zu § 12 Rn. 305). Indem der Beklagte – wie er selbst einräumt – jedenfalls Teile des Dokuments erstellt bzw. aktualisiert hat, hat er durch dessen Weiterleitung, ohne den Inhalt in Frage zu stellen, sich denselben zu eigen gemacht. Auch stellt die Weiterleitung selbst eine Verbreitung dar, die für eine Inanspruchnahme als Störer ausreichend ist. Denn der Beklagte ist nicht lediglich als technischer sondern als intellektueller Verbreiter tätig geworden, da er mit dem Inhalt des Dokuments befasst war.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">bb) Erstellung und Verbreitung des Dokuments stellen allerdings keine widerrechtliche Verletzung des hier allein ein als verletztes Rechtsgut in Betracht kommenden aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als offenes Rahmenrecht entspricht es, dass seine Reichweite nicht absolut festgelegt ist, sondern erst durch eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Belange bestimmt werden muss, wobei die besonderen Umstände des Einzelfalls sowie die betroffenen Grundrechte und Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention interpretationsleitend zu berücksichtigen sind (BGH, Urteil vom 20.12.2011 – VI ZR 261/10, juris Rn. 12). So sind als Schutzgüter des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt die Privatsphäre, Geheimsphäre und Intimsphäre, die persönliche Ehre, das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person, das Recht am eigenen Bild und am gesprochenen Wort und unter bestimmten Umständen das Recht, von der Unterschiebung nicht getaner Äußerungen verschont zu bleiben. Diese Ausformungen des verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechts müssen entsprechend beachtet werden, wenn es sich um gerichtliche Entscheidungen über kollidierende Interessen nach den Vorschriften des Privatrechts handelt (BGH, Urteil vom 26.11.2019 – VI ZR 20/19, juris Rn. 13; BGH, Urteil vom 05.11.2013 – VI ZR 304/12, juris Rn. 10 jeweils m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">(1) Soweit der Kläger die Verbreitung seiner persönlichen Daten unter der Bezeichnung „Steckbrief“ (Seite 3 des Schriftstücks) beanstandet, kommt eine Verletzung des Rechts des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">(a) Unter diesem Aspekt ist der Rechtsgutsträger vor dem Eindringen und Ausforschen des privaten und persönlichen Lebensumfeldes geschützt, das er als geschütztes „Reservat“ und privaten Rückzugsraum nur zu öffnen braucht, wenn er dies will und das er auch nur demjenigen gegenüber zu öffnen braucht, den er dafür selbst frei ausgewählt hat. Ferner gewährt das allgemeine Persönlichkeitsrecht unter diesem Aspekt das Recht, exklusiv selbst über die eigene Darstellung der Person in der Öffentlichkeit zu entscheiden. Dies bezieht sich insbesondere auf die Offenlegung solcher persönlicher Lebenssachverhalte, durch die der Betroffene der Öffentlichkeit preisgegeben wird. Hier steht kraft des Persönlichkeitsrechts allein dem Betroffenen die Befugnis zu, darüber zu befinden, ob, wann und innerhalb welcher Grenzen seine personenbezogenen Daten in die Öffentlichkeit gebracht werden (BGH, Urteil vom 20.12.1994 – VI ZR 108/94, juris Rn. 19).</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Das so konturierte Recht auf „Privatheit“ lässt sich in mehrere Schutzzonen unterschiedlicher Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit aufgliedern: Danach lagern sich um den unantastbaren Persönlichkeitskern (Intimsphäre) zunächst die Privatsphäre, in die aufgrund überwiegender Interessen der Allgemeinheit eingegriffen werden darf, die Sozialsphäre, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Mensch in Kontakt mit der Öffentlichkeit tritt und in die unter weniger strengen Anforderungen eingegriffen werden darf und schließlich die Öffentlichkeitssphäre, für die kein Schutz gewährleistet wird (vgl. BGH, Urteil vom 20.12.2011 – VI ZR 261/10, juris Rn. 13 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Durch die Verwendung der Daten zur Person des Klägers ist hier das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen, da die auf Seite 3 des Schriftstücks enthaltenen Angaben (Name, Geburtsdatum, Anschrift und Beruf) den Kläger insoweit beschreiben. Diese Angaben sind – wie das Landgericht ausgeführt hat – der Sozialsphäre des Klägers zuzuordnen, nicht aber seiner Privatsphäre. Die Sozialsphäre betrifft den Bereich, in dem sich die persönliche Entfaltung von vornherein im Kontakt mit der Umwelt vollzieht, also insbesondere das berufliche und politische Wirken des Individuums. Demgegenüber umfasst die Privatsphäre sowohl in räumlicher als auch in thematischer Hinsicht den Bereich, zu dem andere grundsätzlich nur Zugang haben, soweit er ihnen gestattet wird. Dies betrifft in thematischer Hinsicht Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als „privat“ eingestuft werden, etwa weil ihre öffentliche Erörterung als unschicklich gilt, das Bekanntwerden als peinlich empfunden wird oder nachteilige Reaktionen in der Umwelt auslöst (BGH, Urteil vom 20.12.2011 – VI ZR 261/10, juris Rn. 16). Nach dieser Maßgabe sind die auf Seite 3 des Schriftstücks enthaltenen Angaben zur Person des Klägers seiner Sozialsphäre zuzuordnen, da sie in erster Linie seiner Identifizierung dienen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">(b) Es fehlt aber an der Rechtswidrigkeit der Rechtsverletzung.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Dass der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen ist, indiziert – im Gegensatz zur Verletzung eines absoluten Rechts im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB – noch nicht die Rechtswidrigkeit der Verletzung. Vielmehr ist eine Interessenabwägung vorzunehmen und die Rechtswidrigkeit positiv festzustellen. An dieser fehlt es, wenn der Störer berechtigte Interessen wahrnimmt, deren Gewicht den Interessen des Betroffenen an seiner immateriellen Integrität überlegen ist. Die Abwägung geht hier zu Lasten des Klägers.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Abwägung ist unter anderem von Bedeutung, wie die entsprechenden Informationen gewonnen wurden. Denn es macht einen Unterschied, ob Daten heimlich oder durch Täuschung erlangt wurden oder der Betroffene sie selbst öffentlich gemacht oder jedenfalls dazu beigetragen hat, dass sie öffentlich werden (vgl. BGH, Urteil vom 19.10.2004 – VI ZR 292/03, juris Rn. 21). Es ist aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die – nach Angaben des Klägers im Senatstermin inhaltlich zutreffenden – Angaben zu seiner Person auf Seite 3 des Schriftstücks in einer zu beanstandenden Art und Weise erlangt worden wären. Es liegt vielmehr nahe, dass die Daten zur Person des Klägers den gerichtlichen Schriftstücken zu entnehmen sind, die dem Beklagten und den weiteren Mitgliedern des E-Mail-Verteilers anlässlich der geführten Zivilprozesse übermittelt wurden sowie aus Dokumenten, welche der Beklagte anlässlich des auf Strafanzeige des Klägers gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahrens zur Kenntnis genommen hat.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Daten zur Person des Klägers nur an einen überschaubaren Adressatenkreises von etwa zehn Personen übermittelt wurden, denen – da sie ebenfalls in Rechtsstreitigkeiten mit dem Kläger bzw. dessen Bruder verstrickt waren – der Kläger ohnehin bereits bekannt war. Es steht nicht fest – und wird vom Kläger auch nicht konkret behauptet – dass das Schriftstück noch anderen Personen oder gar durch Veröffentlichung im Internet einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Auch bestand der Zweck der Übermittlung der Daten nicht darin, diese einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Vielmehr ging es dem Beklagten und den weiteren Mitgliedern des E-Mail-Verteilers um den Austausch von Erfahrungen hinsichtlich der vom Kläger bzw. dessen Bruder angestrengten Rechtsstreitigkeiten. Dieser Wunsch nach Informationen und Erfahrungsaustausch stellt ein berechtigtes Interesse dar und ist durch die in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verbriefte Meinungsfreiheit geschützt.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Zudem müssen wahre Aussagen in der Regel hingenommen werden, selbst wenn sie – was hier nicht der Fall ist – für den Betroffenen nachteilig sind; Äußerungen im Rahmen der Sozialsphäre sind nur im Falle schwerwiegender Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht mit negativen Sanktionen zu verknüpfen, wenn etwa Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung oder Prangerwirkung zu besorgen sind (BGH, Urteil vom 20.12.2011 – VI ZR 261/10, juris Rn. 20). Eine Prangerwirkung erfordert, dass ein beanstandungswürdiges Verhalten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wird und sich dies schwerwiegend auf Ansehen und Persönlichkeitsentfaltung des Betroffenen auswirkt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.02.2010 – 1 BvR 2477/08, juris Rn. 25).</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier aber nicht der Fall. Insbesondere folgt eine derartige Wirkung nicht aus der Verknüpfung der persönlichen Daten des Klägers mit einem ihm zugeschriebenen Verhalten in dem Schriftstück, da es bereits an der Bekanntmachung gegenüber einer breiten Öffentlichkeit fehlt. Eine schwerwiegende Auswirkung auf Ansehen und Persönlichkeitsentfaltung des Klägers ist zudem weder nachvollziehbar dargetan noch sonst ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Eine Prangerwirkung folgt insbesondere nicht aus dem Umstand, dass Seite 3 des Schriftstücks mit den Daten zur Person des Klägers als „Steckbrief“ überschrieben ist. Soweit der Kläger vorbringt, bei einem Steckbrief handele es sich um ein durch Gerichte oder Staatsanwaltschaften erlassenes öffentliches Ersuchen um Festnahme einer zu verhaftenden kriminellen Person, die flüchtig sei oder sich verborgen halte, ändert dies hieran nichts. Denn der Begriff „Steckbrief“ ist auszulegen, um den objektiven Sinngehalt, der sich aus dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums ergibt, zu ermitteln. Betrachtet man den Kontext, in dem der Begriff im vorliegenden Fall verwendet wird, liegt die verengte Interpretation des Klägers fern; der Begriff ist vielmehr offener zu sehen. So wird etwa an keiner Stelle des Schriftstücks der Eindruck erweckt, das Dokument stamme von einer staatlichen (Strafverfolgungs-) Behörde. Das – lediglich einem kleinen Personenkreis bekannt gemachte – Dokument bezweckt auch ersichtlich nicht die Verfolgung des Klägers, sondern lediglich seine Identifizierung.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">(2) Soweit der Kläger rügt, er werde in dem Schriftstück der Begehung von Straftaten, insbesondere des Prozessbetruges und der Urkundenfälschung verdächtigt, kommt eine Verletzung der Ehre des Klägers als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht (§ 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 185 ff. StGB).</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">(a) Geschützt vor der Äußerung von Missachtung oder Nichtachtung ist der Ruf, das Ansehen einer Person in den Augen anderer, ihre soziale Geltung oder äußere Ehre. Verletzungen des Rechts der persönlichen Ehre liegen vor, wenn der Einzelne beschimpft, verächtlich gemacht oder herabgewürdigt wird, wenn ihm Eigenschaften zugesprochen werden, die andere als tadelnswert betrachten. Eine solche Herabsetzung erfolgt etwa, wenn der Betroffene eines strafrechtlich sanktionierten oder moralisch verwerflichen Verhaltens bezichtigt wird oder wenn ihm menschliche oder berufliche Unzulänglichkeiten vorgeworfen werden. Wird eine entsprechende Äußerung getätigt und stellt diese eine Tatsachenbehauptung dar, so hat der Äußernde gemäß der über § 823 Abs. 2 BGB in das Zivilrecht transformierten Beweisregel des § 186 StGB die Wahrheit der von ihm aufgestellten Behauptung nachzuweisen (BGH, Urteil vom 17.12.2013 – VI ZR 211/12, juris Rn. 24; BGH, Urteil vom 17.11.1992 – VI ZR 344/91, juris Rn. 14).</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Tatsachenbehauptung ist vom Werturteil abzugrenzen. Tatsachenbehauptungen sind durch die objektive Beziehung zwischen Äußerung und Wirklichkeit charakterisiert. Demgegenüber werden Werturteil und Meinungsäußerung durch die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage geprägt. Wesentlich für die Einstufung als Tatsachenbehauptung ist danach, ob die Aussage einer Überprüfung auf ihre Richtigkeit mit Mitteln des Beweises zugänglich ist. Dies scheidet bei Werturteilen und Meinungsäußerungen aus, weil sie durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet sind und sich deshalb nicht als wahr oder unwahr erweisen lassen. Sofern eine Äußerung, in der Tatsachen und Meinungen sich vermengen, durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meines geprägt ist, wird sie als Meinung vom Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Trennung der wertenden und der tatsächlichen Gehalte den Sinn der Äußerung aufhöbe oder verfälschte. Würde in einem solchen Fall das tatsächliche Element als ausschlaggebend angesehen, so könnte der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit wesentlich verkürzt werden (BGH, Urteil vom 16.12.2014 – VI ZR 39/14, juris Rn. 8 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die zutreffende Einstufung einer Äußerung als Wertung oder Tatsachenbehauptung setzt die Erfassung ihres Sinns voraus. Bei der Sinndeutung ist die Äußerung stets in dem Zusammenhang zu beurteilen, in dem sie gefallen ist. Sie darf nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden (BGH, Urteil vom 16.12.2014 – VI ZR 39/14, juris Rn. 9 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">(aa) Nach den vorbeschriebenen Grundsätzen ist die auf Seite 1 des vom Kläger beanstandeten Schriftstücks als Überschrift verwendete Formulierung <em>„Fall Gebrüder B. und C. D. – Prozessbetrug?“</em> nicht als Tatsachenbehauptung einzustufen, sondern als Meinungsäußerung.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Enthält eine Äußerung einen rechtlichen Fachbegriff, so deutet dies darauf hin, dass sie als Rechtsauffassung und damit als Meinungsäußerung einzustufen ist (BGH, Urteil vom 16.11.2004 – VI ZR 298/03, juris Rn. 24 m. w. N.). Der Vorwurf, jemand habe betrogen, ist allerdings dann dem Beweis zugänglich, wenn er Vorgänge beschreibt, die eine durch Täuschung bewirkte Vermögensschädigung im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB bedeuten. Er gibt eine Meinung preis, wenn er lediglich schlagwortartig eine Enttäuschung, hintergangen worden zu sein, kennzeichnet (<em>Rixecker</em>, in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2021, Anhang zu § 12 Rn. 220).</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Nach der Gestaltung von Seite 1 des Dokuments wird der Begriff „Prozessbetrug“ in einer Überschrift verwendet, mit der – im Kontext des Gesamtdokuments – die Frage aufgeworfen wird, ob ein solcher vorliegt. Insbesondere das verwendete Fragezeichen macht deutlich, dass es sich bei der Überschrift gerade nicht um eine eindeutige Feststellung handelt, sondern um eine Frage. Fragen sind allerdings keine Aussagen, deren Wahrheit oder Unwahrheit bewiesen werden kann. Sie sind auch keine Stellungnahmen, Beurteilungen oder Einschätzungen. Eine wirkliche Frage zielt ab auf eine Auskunft über tatsächliche Umstände oder Meinungen. Daher kann sie aber auch als besonders subtile Form der Rufschädigung dienen. Fragen erlauben, Informationsbedürfnisse vorzustellen, Interesse für behauptete Missstände und mögliches Fehlverhalten zu wecken. Damit können sie aber zugleich den Verdacht eines ernsthaften Informationsbedürfnisses, Missstandes oder Fehlverhaltens erzeugen und den Fragesteller dennoch als Aufklärer auftreten lassen. Da eine Frage nicht als wahr oder unwahr eingestuft werden kann, ist sie grundsätzlich einem Werturteil gleichzustellen (BVerfG, Beschluss vom 09.10.1991 – 1 BvR 221/90, juris Rn. 44). Allerdings gibt es Fragen, die einer Behauptung gleichkommen. Für eine Abgrenzung ist entscheidend, ob eine Frage auf Antwort angelegt und für verschiedene Antworten offen ist. Fragen, die sich in ihrer Stellung erschöpfen, weil sie erkennen lassen, die Antwort schon zu kennen (rhetorische Fragen), bedürfen hingegen keines Schutzes (BGH, Urteil vom 09.12.2003 – VI ZR 38/03, juris Rn. 19). Fragen, die ehrenrührige Umstände voraussetzen oder in den Raum stellen, gehen dem Recht der persönlichen Ehre vor, wenn der Fragende Anhaltspunkte zum Nachforschen besitzt.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen ist die auf Seite 1 des Schriftstücks aufgeworfene Frage nach einem Prozessbetrug als echte, einem Werturteil gleichzustellende Frage einzustufen. Denn im Kontext mit dem weiteren Inhalt des Dokuments ergibt sich, dass der oder die Verfasser Anhaltspunkte für einen Prozessbetrug haben. Sie nehmen an, dass es sich beim Kläger um einen sogenannten „Abbruchjäger“ handeln könnte, dessen Handeln allein aufgrund der Zahl der von ihm angestrengten Rechtsstreitigkeiten rechtsmissbräuchlich sei. Auch erschöpft sich die Aussage in dem Schriftstück nicht in der bloßen Frage nach einem Prozessbetrug. So folgen dem Deckblatt eine Reihe von „Rechercheergebnissen“ der Verfasser, die ihrerseits nicht nur eine Antwort auf die gestellte Frage nahelegen. Vielmehr lässt nach der Gestaltung des Dokuments die gestellte Frage nach einem möglichen Prozessbetrug dem Leser die Antwort offen und ist damit als Meinungsäußerung zu werten.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Aber auch unabhängig von der Einstufung der Äußerung als echte Frage handelt es sich bei der beanstandeten Formulierung um eine Meinungsäußerung und nicht um eine Tatsachenbehauptung. Denn eine Einstufung des Verhaltens des Klägers als Prozessbetrug ist in ihrem wesentlichen Kern keine auf ihre Richtigkeit überprüfbare und substantiierte Aussage, sondern lediglich eine pauschale subjektive Bewertung des Verhaltens des Klägers. Auch die Verwendung des Begriffs „Prozessbetrug“ deutet für den Durchschnittsadressaten der Äußerung nicht in entscheidender Weise auf einen ausreichend konkreten Sachverhalt hin, der die Tatbestandsmerkmale des § 263 StGB in der besonderen Variante des Prozessbetrugs erfüllen würde. Der Begriff „Betrug“ wird nicht im fachspezifischen, sondern in einem alltagssprachlichen Sinn verwendet, um die Praktiken des Klägers einzuordnen (vgl. BGH, Urteil vom 16.12.2014 – VI ZR 39/14, juris Rn. 10; BGH, Urteil vom 29.01.2002 – VI ZR 20/01, juris Rn. 26). Der Vorwurf des Prozessbetrugs kann als Tatsachenbehauptung einzustufen sein, sofern ein konkreter Sachverhalt dargelegt wird, der sich unter den Tatbestand subsumieren lässt und einer Überprüfung mit den Mitteln des Beweises zugänglich ist (OLG Celle, Urteil vom 01.11.2001 – 13 U 70/01, juris Rn. 8). Ein derartiger Sachverhalt ergibt sich allerdings aus dem Schriftstück gerade nicht. Insbesondere lässt sich ihm schon nicht entnehmen, inwieweit es durch den Kläger zu einer Täuschung eines Gerichts in einem vom Kläger angestrengten Verfahren gekommen sein soll. Vielmehr deutet die Formulierung darauf hin, dass die Autoren des Berichts sich durch das Verhalten des Klägers im untechnischen Sinne betrogen fühlen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Für eine Meinungsäußerung spricht zudem, dass für einen unbefangenen Leser des Dokuments nicht ohne weiteres erkennbar ist, bezüglich welcher konkreten Person die Frage nach einem etwaigen Prozessbetrug gestellt werden soll. Insoweit kommen neben dem Kläger auch dessen Bruder und der ebenfalls genannte Rechtsanwalt in Betracht, der den Kläger und dessen Bruder in den gerichtlichen Verfahren vertreten hat.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">(bb) Auch hinsichtlich der Verwendung des Begriffes „Urkundenfälschung“ auf Seite 27 des Dokuments liegt eine Meinungsäußerung vor.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Auf den Seiten 24 bis 27 des Schriftstücks wird anhand zweier Schreiben mit ähnlichem Aussehen und Inhalt, von denen eines den Kläger und das andere dessen Bruder als Absender ausweist, dargelegt, aus welchen Gründen die Verfasser des Dokuments annehmen, beide Schreiben seien durch dieselbe Person unterzeichnet. Dies wird neben ähnlichen Formulierungen in den Schreiben an gewissen Ähnlichkeiten der auf den Schreiben befindlichen Unterschriften festgemacht. Aber auch die Einstufung dieses Sachverhalts als Urkundenfälschung ist keine auf ihre Richtigkeit überprüfbare und substantiierte Aussage, sondern lediglich eine pauschale subjektive Bewertung. Denn selbst für den Fall, dass beide Unterschriften derselben Person zuzuordnen sein sollten, würde dies nicht den Schluss auf eine Urkundenfälschung im Sinne von § 267 Abs. 1 StGB zulassen. Stellt nämlich jemand eine Urkunde unter dem Namen eines anderen aus, so handelt es sich hierbei nicht zwangsläufig um eine falsche Urkunde. Ist nämlich der Aussteller zur rechtlichen Vertretung des Namensträgers berechtigt und stellt die Urkunde in dem Willen aus, den Namensträger zu vertreten, so handelt es sich nicht um eine unechte Urkunde, sofern auch der Namensträger den Willen hat, sich bei der Ausstellung der Urkunde vertreten zu lassen (BGH, Beschluss vom 21.03.1985 – 1 StR 520/84, juris Rn. 10). Darüber hinaus kann aber auch der aus der Ähnlichkeit der Unterschriften gewonnene Schluss anhand des weiteren Inhalts des Schriftstücks nicht auf seine Wahrhaftigkeit überprüft werden, da er auf der Einschätzung der Verfasser beruht, die in Grenzen zwar nachvollziehbar erscheint, letztlich aber nur von einem Schriftsachverständigen beantwortet werden kann.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Schließlich wird der Begriff der Urkundenfälschung auch nicht allein mit Blick auf den Kläger erhoben. Vielmehr wird die Frage aufgeworfen, ob der Kläger oder sein Bruder die Unterschriften geleistet hätten und sodann darauf hingewiesen, dass die „Indizien“ für den Kläger sprächen. Auch bei dieser Wertung handelt es sich um eine Meinungsäußerung und nicht um eine Tatsachenbehauptung.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">(b) Die vorbeschriebenen Meinungsäußerungen stellen ebenfalls keinen rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers dar.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Auch bei Werturteilen besteht keine Vermutung zugunsten der freien Rede. Stets ist im konkreten Einzelfall abzuwägen, ob die Meinungsfreiheit oder das Persönlichkeitsrecht überwiegt. Subjektive Meinungen dürfen grundsätzlich auch überspitzt, abwertend, übersteigert, provokativ, ironisch oder polemisch geäußert werden. Im Rahmen dieser Abwägung sind verschiedene Kriterien zu berücksichtigen, wie Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung, Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten sowie der ehrverletzende Gehalt einer Äußerung (BVerfG, Beschluss vom 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, juris Rn. 30). Nicht gedeckt von der Meinungsfreiheit sind in jedem Falle Äußerungen, die die Menschenwürde verletzen oder sich als Schmähkritik oder Formalbeleidigung darstellen (<em>Specht-Riemenschneider</em>, in: Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, BeckOGK BGB, Stand 01.07.2022, § 823 Rn. 1475).</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe besteht kein Anlass zu der Annahme einer widerrechtlichen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers. Vielmehr überwiegt die durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Meinungsfreiheit des Beklagten das Interesse des Klägers, weshalb eine Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Beklagten nicht festzustellen ist.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist wiederum zu berücksichtigen, dass die vom Kläger beanstandeten Äußerungen nur gegenüber einem sehr kleinen Personenkreis von etwa zehn Personen getätigt wurden, nicht aber in der Öffentlichkeit. Auch waren die Mitglieder des E-Mail-Verteilers selbst in der Weise betroffen, dass sie vom Kläger oder dessen Bruder nach dem Abbruch einer eBay-Auktion zivilrechtlich in Anspruch genommen wurden. Die Weiterleitung des vom Kläger beanstandeten Dokuments diente ersichtlich dem Erfahrungsaustausch im Hinblick auf erfolgversprechende Vorgehensweisen gegen das Verhalten des Klägers, welches von den Verfassern des Dokuments als rechtlich zweifelhaft empfunden wurde. Den Empfängern des Dokuments waren die darin enthaltenen Informationen aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit ohnehin zum Teil bereits bekannt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Weiter ist nicht ersichtlich, dass die in dem Dokument enthaltenen Informationen in zu beanstandender Art und Weise beschafft wurden. Es handelt sich vielmehr um Informationen, die den Mitgliedern des E-Mail-Verteilers aufgrund ihrer Inanspruchnahme durch den Kläger und dessen Bruder vorlagen und sich insbesondere aus den im Rahmen verschiedener Prozesse gewechselten Schriftstücken ergaben.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist auch nicht ersichtlich oder vom Kläger vorgetragen, dass ihm durch die getätigten Äußerungen weitergehende Nachteile erwachsen sind.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">b) Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch folgt auch nicht aus Art. 17 Abs. 1 der VO (EU) 2016/679 (im Folgenden: DS-GVO).</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">aa) Allerdings findet die DS-GVO auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">(1) Der zeitliche Anwendungsbereich der DS-GVO ist eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Gemäß Art. 99 Abs. 2 UAbs. 1 DS-GVO gilt diese ab dem 25.05.2018. Der Beklagte hat im Senatstermin erklärt, er habe das streitgegenständliche Dokument zuletzt im Juni 2018 an Mitglieder des E-Mail-Verteilers weitergeleitet. Darüber hinaus ist der vom Kläger geltend gemachte Unterlassungsanspruch in die Zukunft gerichtet und muss daher im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gegeben sein, sodass auch aus diesem Grund der zeitliche Anwendungsbereich der DS-GVO eröffnet ist.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">(2) Auch in sachlicher Hinsicht ist der Anwendungsbereich der DS-GVO eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Gemäß Art. 2 Abs. 1 DS-GVO gilt diese für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Die in dem streitgegenständlichen Schriftstück enthaltenen Angaben zur Person des Klägers (Name, Geburtsdatum, Anschrift und Beruf) sind personenbezogene Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 1 DS-GVO. Die Erstellung des streitgegenständlichen Schriftstücks mit diesen Daten stellt auch eine Verarbeitung im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DS-GVO dar. Auch handelt es sich bei dem elektronischen Dokument um ein Dateisystem im Sinne von Art. 4 Nr. 6 DS-GVO.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Anwendung der DS-GVO auch nicht gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. c DS-GVO ausgeschlossen. Danach findet die Verordnung keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten. Das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Ausnahmevorschrift ist durch den Beklagten darzulegen, für den diese Ausnahme günstig ist. Zwar mögen die Voraussetzungen der Ausnahme – wie der Beklagte meint – in seiner Person vorliegen. Die Unanwendbarkeit der DS-GVO erfordert allerdings, dass die Verarbeitung für sämtliche Empfänger des Dokuments eine persönliche Tätigkeit darstellt. Dass dies der Fall ist, ist aber vom Beklagten schon nicht vorgetragen.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">bb) Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Unterlassung ist auch von der Rechtsfolge des Art. 17 Abs. 1 DS-GVO erfasst.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Gemäß Art. 17 Abs. 1 DS-GVO kann unter gewissen Voraussetzungen die unverzügliche Löschung personenbezogener Daten verlangt werden. Nach der Rechtsprechung des BGH, welcher der Senat folgt, gewährt Art. 17 Abs. 1 DS-GVO aber auch einen Unterlassungsanspruch (BGH, Urteil vom 12.10.2021 – VI ZR 488/19, juris Rn. 10).</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">cc) Allerdings liegen die Voraussetzungen für einen Unterlassungsanspruch nach Art. 17 Abs. 1 DS-GVO nicht vor. Keiner der dort genannten Löschungs- bzw. Unterlassungsgründe greift durch, insbesondere nicht die unter den Buchst. c und d genannten.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">(1) Der Unterlassungsgrund des Art. 17 Abs. 1 Buchst. d DS-GVO liegt nicht vor, weil die vom Kläger beanstandete Datenverarbeitung nicht unrechtmäßig ist.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 DS-GVO ist die Verarbeitung personenbezogener Daten nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. a bis f DS-GVO genannten Bedingungen erfüllt ist. Vorliegend hat der Kläger weder in die Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten im streitgegenständlichen Schriftstück eingewilligt (Buchst. a), noch sind die in Buchstaben b bis e genannten Voraussetzungen gegeben.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Rechtmäßig ist die vom Kläger bekämpfte Verarbeitung seiner Daten in dem vom Beklagten verbreiteten elektronischen Dokument nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. f DS-GVO mithin nur dann, wenn die Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen des Beklagten oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten des Klägers als betroffener Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen. Die Datenverarbeitung ist danach unter drei kumulativen Voraussetzungen zulässig: erstens muss von dem Beklagten oder von den übrigen Mitgliedern des E-Mail-Verteilers als Dritten ein berechtigtes Interesse wahrgenommen werden; zweitens muss die Verarbeitung der personenbezogenen Daten zur Verwirklichung des berechtigten Interesses erforderlich sein und drittens dürfen die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der Klägerin nicht überwiegen (vgl. BGH, Urteil vom 12.10.2021 – VI ZR 488/19, juris Rn. 24).</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die drei genannten Voraussetzungen einer rechtmäßigen Datenverarbeitung sind erfüllt. Wie bereits unter II. 1. a) ausgeführt, hatten der Beklagte und die übrigen Mitglieder des E-Mail-Verteilers ein berechtigtes Interesse daran, Informationen und Erfahrungen über die mit dem Kläger oder seinem Bruder geführten Zivilprozesse aus dem Anlass abgebrochener ebay-Auktionen auszutauschen. Die Verarbeitung der personenbezogenen Daten aus der Sozialsphäre des Klägers war zur Verwirklichung dieses Interesses erforderlich, um den Kläger für die Teilnehmer des Austausches sicher zu identifizieren. Schließlich überwiegen die Interessen und Grundrechte des Klägers nicht gegenüber den von den Teilnehmern des E-Mail-Verteilers verfolgten berechtigten Interessen.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die gebotene Gesamtabwägung führt im vorliegenden Fall dazu, dass sich die Verarbeitung insgesamt als rechtmäßig erweist.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich im Rahmen der Abwägung sind (allein) die Unionsgrundrechte, da sich der Anspruch nach Art. 17 Abs. 1 DS-GVO nach dem unionsweit abschließend vereinheitlichten Datenschutzrecht beurteilt (BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, juris Rn. 42 ff.; BGH, Urteil vom 27.07.2020 – VI ZR 405/18, juris Rn. 25). Auf Seiten des Klägers ist dessen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GRCh) in die Abwägung einzustellen, während auf Seiten des Beklagten dessen Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 11 Abs. 1 GRCh zu berücksichtigen ist. Wie die Grundrechte des Grundgesetzes gewährleisten auch die Grundrechte der Charta Schutz nicht nur im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten. Eine Lehre der „mittelbaren Drittwirkung“, wie sie das deutsche Recht kennt, wird der Auslegung des Unionsrechts dabei zwar nicht zugrunde gelegt. Im Ergebnis kommt den Unionsgrundrechten für das Verhältnis zwischen Privaten jedoch eine ähnliche Wirkung zu. Die Grundrechte der Charta können einzelfallbezogen in das Privatrecht hineinwirken (BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, juris Rn. 96 f.; BGH, Urteil vom 27.07.2020 – VI ZR 405/18, juris Rn. 25).</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Schutzbereich und Wirkungen der vorgenannten europäischen Grundrechte sind in Bezug auf den vorliegenden Zivilrechtsstreit mit den ihnen entsprechenden Grundrechten des Grundgesetzes, auf Seiten des Klägers dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, auf Seiten des Beklagten dem Recht auf freie Meinungsäußerung gem. Art. 5 Abs. 1 GG, vergleichbar. Die Unionsgrundrechte bilden zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent (BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 276/17, juris Rn. 59) und werden auch von der Rechtsprechung in Fällen gleichgelagerter Fragestellungen auch als einheitlicher Prüfungsmaßstab formuliert (vgl. etwa BGH, Urteil vom 27.02.2018 – VI ZR 489/16, juris Rn. 51). Die hier auf der Grundlage der GRCh gebotene Gesamtabwägung entspricht nach der Auffassung des Senats damit derjenigen, die bereits im Rahmen der Prüfung einer Verletzung seines Persönlichkeitsrechts anzustellen war und geht aus den oben dargestellten Gründen zu Gunsten des Beklagten aus.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">(2) Auch der Unterlassungsgrund des Art. 17 Abs. 1 Buchst. c DS-GVO ist nicht gegeben. Denn für die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers, der er widersprochen hat, liegen jedenfalls vorrangige berechtigte Gründe der Mitglieder des E-Mail-Verteilers im Sinne des Art. 17 Abs.1 Buchst. c Halbsatz 1 DS-GVO vor. Die auch insoweit gebotene Gesamtabwägung führt zu keinem anderen Ergebnis als die zu Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. f DS-GVO und zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht vorgenommene Abwägung.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">(3) Von einer Darstellung der weiteren Unterlassungsgründe des Art. 17 Abs. 1 DS-GVO kann abgesehen werden.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Art. 17 Abs. 1 DS-GVO findet gemäß Art. 17 Abs. 3 Buchst. a DS-GVO keine Anwendung, weil die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers zudem zur Ausübung des Rechts der Mitglieder des E-Mail-Verteilers auf freie Meinungsäußerung erforderlich ist.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Mit der Ausnahmeregelung des Art. 17 Abs. 3 Buchst. a DS-GVO wird der Rechtsprechung des EuGH Rechnung getragen, wonach der Schutz von personenbezogenen Daten betroffener Personen im Sinne der DS-GVO stets in einen angemessenen Ausgleich mit den Grundrechten und Interessen des Verantwortlichen zu bringen ist, wozu insbesondere das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 11 Abs. 1 GRCh gehört (<em>Kamann/Braun</em>, in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, 2. Auflage 2018, Art. 17 Rn. 56 m. w. N.). Insoweit schafft der Begriff der „Erforderlichkeit“ in Art. 17 Abs. 3 Buchst. a DS-GVO Raum für eine Abwägungsentscheidung im Einzelfall, ohne zugleich konkrete Abwägungskriterien aufzustellen, sodass sich eine Orientierung an der zentralen Abwägungsklausel in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. f DS-GVO anbietet (OLG Frankfurt, Urteil vom 06.09.2018 – 16 U 193/17, juris Rn. 67; <em>Worms</em>, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, 40. Edition, Stand 01.11.2021, Art. 17 DS-GVO Rn. 81). Danach ist eine Datenverarbeitung rechtmäßig, wenn sie zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen erforderlich ist, sofern nicht Interessen oder Grundrechte und Freiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die insoweit wiederum gebotene Gesamtabwägung entspricht im vorliegenden Fall derjenigen zu Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. f DS-GVO und führt auch an dieser Stelle dazu, dass sich die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers aus den bereits dargestellten Gründen insgesamt als rechtmäßig erweist.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">2. Der Kläger kann auch nicht die mit dem Berufungsantrag zu 2) begehrte Unterlassung der Behauptung beanspruchen, der Kläger wäre noch nie präsent bei Gericht gewesen.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Eine Verletzung der Ehre des Klägers als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kommt hier bereits nicht in Betracht (§ 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 185 ff. StGB). Denn zur Überzeugung des Senats kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass die vom Kläger beanstandete Äußerung überhaupt wahrheitswidrig ist. Im Senatstermin hat der Kläger auf Befragen des Senats erklärt, dass es sich bei den im Schriftsatz des Beklagten vom 11.01.2021 aufgeführten Rechtsstreitigkeiten gegen Frau E, Frau F, Herrn G, Herrn H, Herrn I und Herrn J um solche Verfahren handele, die er selbst – und nicht sein Bruder – geführt habe. Lediglich hinsichtlich des Verfahrens gegen Herrn L war sich der Kläger nicht sicher. Auf Befragen des Senats, an welchen Verfahren der Kläger persönlich an der Verhandlung teilgenommen habe, hat er lediglich bekundet, an den Berufungsverhandlungen in den Verfahren gegen Herrn H und Herrn J persönlich teilgenommen zu haben. Daraus ergibt sich allerdings nicht, dass die vom Kläger beanstandete Behauptung in dem vom Beklagten verbreiteten Dokument falsch ist. Das streitgegenständliche Dokument weist als Datum den 25.04.2018 auf. Der Beklagte hat vor dem Senat erklärt, er habe das Dokument letztmalig im Juni 2018 an Mitglieder des E-Mail-Verteilers versandt. Es ist nicht ersichtlich, dass die vom Kläger benannten Berufungsverhandlungen zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden hatten. Nach dem unwidersprochenen Vortrag des Beklagten im Schriftsatz vom 11.01.2021 endeten die Verfahren gegen Herrn H und Herrn J in erster Instanz jeweils durch im März 2019 verkündete Urteile. Berufungsverhandlungen in diesen Verfahren konnten daher bis Juni 2018 noch gar nicht stattgefunden haben.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">3. Nachdem der Kläger die mit dem Berufungsantrag zu 1) begehrte Unterlassung nicht verlangen kann, steht ihm auch ein Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nicht zu.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks"><strong>C.</strong></p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.</p>
346,905
olgham-2022-09-02-11-u-18521
{ "id": 821, "name": "Oberlandesgericht Hamm", "slug": "olgham", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
11 U 185/21
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:17"
"2022-10-17T11:11:02"
Urteil
ECLI:DE:OLGHAM:2022:0902.11U185.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Berufung des Klägers wird das am 04.10.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn teilweise abgeändert.</p> <p>Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 975,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.01.2020 zu zahlen.</p> <p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p> <p>Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen werden gegeneinander aufgehoben.</p> <p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Berufung hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1. Die Beklagte haftet dem Kläger gemäß § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 S. 1 GG für die Hälfte des ihm anlässlich des Regenereignisses vom 15.10.2019 entstandenen Schadens, da der Einlaufbereich des Seitengrabens in die Rohrleitung nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprochen hat und dies für die Überschwemmung des klägerischen Grundstücks mitursächlich war.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a) Die Beklagte hat durch ihre Mitarbeiter eine gegenüber dem Kläger bestehende Amtspflicht zur Verhinderung von Überschwemmungen verletzt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">aa) Der Anwendungsbereich von § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 S. 1 GG ist eröffnet. Denn die mit Planung, Herstellung und Betrieb der Entwässerungsanlagen auf dem Gebiet der Beklagten befassten Mitarbeiter haben bei dieser Tätigkeit ein öffentliches Amt im Sinne von Art. 34 S. 1 GG ausgeübt. Ein solches übt jeder aus, der mit öffentlicher Gewalt ausgestattet ist, unabhängig davon, ob ihm staatsrechtliche Beamteneigenschaft zukommt (BGH, Urteil vom 14.10.2004 - III ZR 169/04, juris Rn. 13, sogenannter haftungsrechtlicher Beamtenbegriff). Nach dieser Maßgabe sind die bezeichneten Mitarbeiter der Beklagten als Beamte im haftungsrechtlichen Sinne einzustufen. Denn die Sammlung und Beseitigung der Abwässer in einer Gemeinde ist eine öffentliche Einrichtung und obliegt der Gemeinde als hoheitliche Aufgabe. Für Fehler bei Planung, Herstellung und Betrieb einer solchen Anlage haftet die Gemeinde daher nach Amtshaftungsgrundsätzen (BGH, Urteil vom 11.12.1997 – III ZR 52/97, juris Rn. 7). Auch unter dem Gesichtspunkt des Hochwasserschutzes und der Verkehrssicherung ist die Gemeinde verpflichtet, Wohngrundstücke im Rahmen des Zumutbaren vor den Gefahren zu schützen, die durch Überschwemmungen auftreten können, wenn etwa ein Graben oder ein Rohrdurchlass unter einem Feldweg anfallendes Wasser nicht mehr fasst und es dadurch zur Überschwemmung anliegender bebauter Grundstücke kommt (BGH, Urteil vom 18.02.1999 – III ZR 272/96, juris Rn. 12; BGH, Urteil vom 11.10.1990 – III ZR 134/88, juris Rn. 11).</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">bb) Die Beklagte hat diese ihr obliegende Amtspflicht auch verletzt.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">(1) Keine Amtspflichtverletzung der Beklagten ist allerdings darin zu sehen, dass der Seitengraben und die anschließende Rohrleitung im Zeitpunkt des Regenereignisses nicht hinreichend dimensioniert und damit grundsätzlich nicht in der Lage gewesen sein sollen, das von der durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen A als Einzugsgebiet A 1 bezeichneten Fläche abfließende Oberflächenwasser aufzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich hat die Gemeinde ein ausreichend dimensioniertes Abwassersystem zu errichten und zu unterhalten, um den Schutz der Anlieger vor Hochwasserschäden in ausreichendem Maße zu gewährleisten. Allerdings ist eine Gemeinde nicht verpflichtet, eine Regenwasserkanalisation einzurichten und zu unterhalten, die alle denkbaren Niederschlagsmengen bewältigen kann. Denn bereits aus wirtschaftlichen Gründen sind die Gemeinden gezwungen, das Fassungsvermögen einer Regenwasserkanalisation nicht so groß zu bemessen, dass es auch für ganz selten auftretende, außergewöhnlich heftige Regenfälle ausreicht (BGH, Urteil vom 30.09.1982 – III ZR 110/81, juris Rn. 9). Insbesondere eine Dimensionierung im Hinblick auf katastrophenartige Unwetter, wie sie erfahrungsgemäß nur in sehr großen Zeitabständen vorkommen, ist nicht erforderlich (BGH, Urteil vom 11.07.1991 – III ZR 177/90, juris Rn. 18; BGH, Urteil vom 05.10.1989 – III ZR 66/88, juris Rn. 11 f.).</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach den durch das Landgericht getroffenen Feststellungen, die gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vom Senat zugrunde zu legen sind, waren im vorliegenden Fall der Seitengraben und die anschließende Rohrleitung ausreichend dimensioniert, um das anlässlich des streitgegenständlichen Regenereignisses vom Einzugsgebiet A 1 in den Seitengraben fließende Oberflächenwasser abzuführen. Diese Fähigkeit war auch nicht durch den Bewuchs im Seitengraben derart eingeschränkt, dass das Oberflächenwasser nicht vollständig hätte aufgenommen werden können, wie der Kläger noch in erster Instanz geltend gemacht hat. Diese auf der Einschätzung des Sachverständigen A beruhende Feststellung des Landgerichts greift der Kläger mit der Berufung auch nicht an.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">(2) Eine Amtspflichtverletzung ist allerdings darin zu erblicken, dass die Beklagte den Einlauf vom Seitengraben in die Rohrleitung nicht entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik ausgeführt hat.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Hiervon ist der Senat überzeugt aufgrund des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen A und der ergänzenden mündlichen Erläuterung dieses Gutachtens durch den Sachverständigen vor dem Senat. Danach weist das unmittelbar am Einlauf der Rohrleitung angebrachte Einlaufgitter, wie es durch das Lichtbild auf Seite 8 des schriftlichen Sachverständigengutachtens vom 06.07.2021 dokumentiert ist, aus hydraulischer Sicht eine Vielzahl von Mängeln auf. Insbesondere ist der Einlaufbereich unbefestigt und ein Notüberlauf in die Rohrleitung von oben unmöglich. Ferner hält der Einlaufrechen keinen Abstand von den Rohrkanten und weist eine geringere Breite auf als der Seitengraben. Diese Feststellungen des Sachverständigen sind nicht zu beanstanden. Seine Folgerungen und Wertungen sind verständlich, plausibel und stehen im Einklang mit Denkgesetzen und Erfahrungssätzen. Erhebliche Einwendungen gegen die Ausführungen des Sachverständigen sind weder vorgebracht noch sonst ersichtlich. Zur Veranschaulichung eines den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechenden Einlaufrostes hat der Sachverständige bereits anlässlich der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung vom 04.10.2021 vor dem Landgericht Lichtbilder zweier Modelle vorgelegt.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung der Einschätzung des Sachverständigen in diesem Punkt uneingeschränkt an. Die Gestaltung des Einlaufgitters war im vorliegenden Fall ungeeignet, um bei starkem Regen eine Verlegung des Einlaufgitters und in der Folge ein Heraustreten des aufgenommenen Oberflächenwassers aus dem Seitengraben zu verhindern. Der Senat teilt insoweit die Einschätzung des Sachverständigen, wonach bereits geringe Mengen von Laub und/oder Ästen im Sohlebereich des Einlaufs zu einer Verlegung des Gitters mit anschließendem Aufstauen des Wassers vor dem Gitter und einem entsprechenden Leistungsrückgang bis hin zur vollständigen Verlegung des Gitters führen können. Im Rahmen der mündlichen Erläuterung vor dem Senat hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass ein den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechendes Einlaufgitter unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten geplant und ausgeführt werden müsse. Insbesondere sei ein Notüberlauf erforderlich, der einen Einlauf in die Rohrleitung von oben ermögliche und sich nicht so schnell verlege wie ein seitlicher Zufluss, gegen den das Wasser Schwemmmaterial drücke. Dieser müsse oberhalb der oberen Kante des Rohres und zugleich unterhalb der Oberkante des Seitengrabens liegen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Bei Montage eines solchen Einlaufgitters wäre das vom Einzugsgebiet A 1 abfließende Oberflächenwasser vollständig durch die Rohrleitung abgeleitet worden. Zwar wäre das Einspülen von Schlamm in die Rohrleitung nicht verhindert worden. Dies hätte sich allerdings nicht negativ ausgewirkt, da der Schlamm in die Rohrleitung eingespült und mitgezogen worden wäre. Die Rohrleitung wäre ausreichend dimensioniert gewesen, das Oberflächenwasser nebst eingespültem Schlamm abzuführen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Beklagten dient der Seitengraben auch nicht lediglich der Entwässerung des Wirtschaftsweges, sondern auch der Entwässerung der an diesen angrenzenden landwirtschaftlichen Fläche (Einzugsgebiet A 1). Die gegenteilige Auffassung der Beklagten lässt sich nicht mit deren Verpflichtung zum Schutz vor Hochwasserschäden in Einklang bringen. Grundsätzlich darf sich die Planung und Erstellung einer für ein Baugebiet notwendigen Entwässerungsmaßnahme nicht auf dessen Grenzen beschränken. Bei Planung und Dimensionierung eines Entwässerungssystems ist entscheidend auf die tatsächlichen Verhältnisse, namentlich in abwasserwirtschaftlicher und abwassertechnischer sowie topographischer Hinsicht, abzustellen. Es muss daher von der Gesamtmenge des im Baugebiet abzuführenden Wassers ausgegangen werden. Hierzu gehört auch das aus den außerhalb des Baugebiets gelegenen Flächen herrührende Niederschlagswasser, dass angesichts der örtlichen Gegebenheiten zwangsläufig auf das Baugebiet zufließt, sich mit dem dort anfallenden Oberflächenwasser untrennbar vermischt und daher insgesamt so zu beseitigen ist, dass die Bewohner des Baugebiets mit ihrem Eigentum keinen Schaden nehmen (BGH, Urteil vom 18.02.1999 – III ZR 272/96, juris Rn. 16).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">cc) Diese verletzte Amtspflicht bestand gegenüber dem Kläger.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Denn die Pflicht zur Abwehr von Hochwassergefahren ist mit Rücksicht auf die konkrete Gefährdung von Leben, Gesundheit, Eigentum und sonstigen Rechten und Rechtsgüter einzelner Bürger auch als drittgerichtet anzusehen (BGH, Urteil vom 05.06.2008 – III ZR 137/07, juris Rn. 9).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">b) Der unterbliebene Einbau eines fachgerechten Einlaufgitters ist auch für den vom Kläger geltend gemachten Schaden in Gestalt einer Überschwemmung seines Grundstücks kausal geworden.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Insoweit kommt es maßgeblich darauf an, welchen Verlauf die Dinge bei pflichtgemäßem Verhalten des Amtsträgers genommen hätten und wie sich in diesem Fall die Vermögenslage des Verletzten darstellen würde (BGH, Urteil vom 14.06.2016 – III ZR 265/15, juris Rn. 29 m. w. N.), wobei die Darlegungs- und Beweislast dem Kläger als Anspruchsteller obliegt (vgl. BGH, Urteil vom 22.07.2004 – III ZR 154/03, juris Rn. 9). Besteht die Amtspflichtverletzung – wie hier – in einem Unterlassen, nämlich dem unterbliebenen Einbau eines den allgemein anerkannten Regeln der Technik genügenden Einlaufgitters, kommt dem Geschädigten § 287 ZPO nicht zugute; eine Kausalität liegt nur dann vor, wenn der Schaden bei pflichtgemäßem Handeln der Beklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben oder nur in geringerem Umfang eingetreten wäre (vgl. BGH, Urteil vom 27.01.1994 – III ZR 109/92, juris Rn. 33; Senatsurteil vom 29.09.2021 – 11 U 54/16, juris Rn. 29; Senatsurteil vom 13.03.2013 – 11 U 198/10, juris Rn. 35; Senatsurteil vom 26.05.2010 – 11 U 129/08, juris Rn. 43).</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Senat geht nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der unterbliebene Einbau eines fachgerechten Einlaufgitters zur Überschwemmung des klägerischen Grundstücks beigetragen hat. Der Seitengraben und die anschließende Rohrleitung waren zunächst so dimensioniert, dass sie – mit einem fachgerechten Einlaufgitter versehen – das gesamte Oberflächenwasser des streitgegenständlichen Regenereignisses hätten abführen können. Tatsächlich kam es als Folge der Verlegung des unzureichend gestalteten Einlaufgitters zu einem Übertreten von Oberflächenwasser aus dem Seitengraben, welches wiederum auf das klägerische Grundstück gelangte. Hiervon ist aufgrund der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme auszugehen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich sind insoweit die vom Kläger am Tag nach dem Regenereignis gefertigten Lichtbilder, die den Zustand nach dem Regenereignis dokumentieren, was auch der Vertreter der Beklagten im Senatstermin bestätigt hat, sowie die Erläuterungen des Sachverständigen, der zudem im Rahmen der Gutachtenerstattung selbst vor Ort war und daher die örtlichen Verhältnisse sicher beurteilen kann.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Bereits aufgrund der vom Kläger gefertigten Lichtbilder, von denen ein Teil im Anhang 2 des Gutachtens des Sachverständigen abgedruckt ist, ist davon auszugehen, dass Wasser aus dem Seitengraben herausgetreten und anschließend über den Wirtschaftsweg, den alten Friedhof und den auf derselben Grünfläche befindlichen Spielplatz in die Hofeinfahrt des Klägers gelangt ist. Insbesondere auf dem Lichtbild Nr. 3 im Anhang 2 zum schriftlichen Gutachten ist der Einlaufbereich in die Rohrleitung zu sehen, wobei die Rohröffnung selbst nicht zu erkennen ist, da sich vor dieser Laub, Gräser und anderes Material befindet. Bereits dieses Lichtbild macht deutlich, dass eine (jedenfalls teilweise) Verlegung des Einlaufs in die Rohrleitung infolge des Regens erfolgt ist. Auch der Sachverständige hat bestätigt, dass es im Bereich des Einlaufs in die Rohrleitung eine Störung gegeben hat, auch wenn er nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermochte, ob der Einlauf vollständig verlegt war und dies auch nicht auf dem vorgenannten Lichtbild zu erkennen ist. Für ein Heraustreten von Wasser aus dem Seitengraben und dessen Überlauf spricht ferner das Lichtbild Nr. 4 im Anhang 2 des Gutachtens, auf dem das unterhalb des Einlaufs in die Rohrleitung an den Wirtschaftsweg grenzende Grundstück des Zeugen B zu erkennen ist. Der in dessen Vorgarten ausgebrachte Rindenmulch ist im an den Wirtschaftsweg grenzenden Bereich teilweise nicht mehr vorhanden; stattdessen ist die darunter verlegte Folie auf dem Bild deutlich zu erkennen. Insoweit haben der Kläger und der Sachverständige im Senatstermin angegeben, dass der Rindenmulch teilweise weggespült worden sei. Auch dies spricht dafür, dass Wasser aufgrund der jedenfalls teilweise verlegten Rohrleitung aus dem Seitengraben hinausgetreten und sodann über den Wirtschaftsweg Richtung Friedhof und Spielplatz geflossen ist und hierbei auch einen Teil des Rindenmulchs weggespült hat.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Senat ist schließlich davon überzeugt, dass nicht allein vom Einzugsgebiet A 2 stammendes Oberflächenwasser in die Hofeinfahrt des klägerischen Grundstücks gelangt ist, sondern gerade auch solches vom Einzugsgebiet A 1. Der Sachverständige hat insoweit nachvollziehbar erläutert, das Oberflächenwasser von beiden Einzugsgebieten über die Grünfläche bzw. die Straße geflossen ist und sich am tiefsten Geländepunkt in der klägerischen Hofeinfahrt gesammelt hat. Der Sachverständige hat ferner dargelegt, das Oberflächenwasser, welches über die Straße geflossen sei, auch nicht durch dort vorhandene Gullys aufgenommen worden ist, da dies aufgrund der Menge des Niederschlags unmöglich war.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Damit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass vom Einzugsgebiet A 1 stammendes Oberflächenwasser für den beim Kläger entstandenen Schaden jedenfalls mitursächlich ist. Diese Mitursächlichkeit genügt für die Annahme einer haftungsbegründenden Kausalität. Denn im Sinne der Kausalitätslehre sind alle im Bereich adäquater Kausalität und des Schutzbereichs der Norm liegenden Bedingungen gleichwertig, weshalb ein Schädiger der Schadenszurechnung nicht entgegenhalten kann, dass außer der von ihm gesetzten Ursache noch andere, außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegende Gründe, zum Schaden geführt haben, gleich, ob jede Ursache für sich allein oder nur einige oder alle gemeinsam den Schaden herbeigeführt haben. Im Kausalbereich findet auch keine wertende Abwägung von Verursachungsanteilen statt (BGH, Urteil vom 10.05.1990 – IX ZR 113/89, juris Rn. 22).</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">c) Es steht nicht fest, dass der Schaden auch bei Einbau eines fachgerechten Einlaufgitters durch die Beklagte eingetreten wäre.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Mit ihrem diesbezüglichen Einwand, der Schaden beim Kläger wäre auch eingetreten, wenn man eine vermeintliche Pflichtverletzung der Beklagten im Hinblick auf die Beschaffenheit des Einlaufgitters hinwegdenke (Einwand des hypothetischen Kausalverlaufs bei rechtmäßigem Alternativverhalten), dringt die Beklagte nicht durch. Dieser Einwand betrifft die Frage, ob die auf der Pflichtverletzung beruhende Folge dem Schädiger billigerweise auch zugerechnet werden kann (BGH, Urteil vom 07.02.2012 – VI ZR 63/11, juris Rn. 13; BGH, Urteil vom 17.10.2002 – IX ZR 3/01, juris Rn. 12). Die Beweislast dafür, dass der Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre, trifft dabei den Schädiger (BGH, Urteil vom 25.11.1992 – VIII ZR 170/91, juris Rn. 16; BGH, Urteil vom 26.06.1990 – X ZR 19/89, juris Rn. 23). Diesen Beweis hat die Beklagte nicht zu führen vermocht. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 04.10.2021 vor dem Landgericht hat der Sachverständige zwar bekundet, die Verschlammung auf dem klägerischen Grundstück hätte auch ausschließlich aus dem Oberflächenwasser vom Einzugsgebiet A 2 stammen können. Auf entsprechendes Befragen im Senatstermin hat der Sachverständige indes erklärt, dies zwar für möglich zu halten, aber nicht sicher sagen zu können, dass dies der Fall gewesen wäre, so dass der der Beklagten obliegende Beweis zur Überzeugung des Senats nicht geführt ist.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">d) Die Haftung der Beklagten ist nicht durch höhere Gewalt ausgeschlossen.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Ausschluss setzt voraus, dass das Schadensereignis mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann. Hierfür reicht es nicht aus, dass die Gemeinde einen ganz außergewöhnlichen Starkregen vorträgt; sie muss ferner darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass sie alle technisch möglichen und mit wirtschaftlich zumutbarem Aufwand realisierbaren Sicherungsmaßnahmen ergriffen hat, um zu verhindern, dass infolge des Überstaus des Seitengrabens Nachbargrundstücke überschwemmt werden oder dass sich der Schaden auch bei derartigen Maßnahmen ereignet hätte (vgl. BGH, Urteil vom 19.01.2006 – III ZR 121/05, juris Rn. 8; Senatsurteil vom 29.09.2021 – 11 U 54/16, juris Rn. 32; Senatsurteil vom 23.07.2010 – 11 U 145/08, juris Rn. 28). Die Beklagte hat aber schon nicht vorgetragen, dass und aus welchem Grund es ihr nicht zumutbar gewesen sein soll, im Einlaufbereich der Rohrleitung ein den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechendes Überlaufgitter zu montieren, wie es der Sachverständige beschrieben hat. Auch steht nicht fest, dass es allein durch den Zufluss von Oberflächenwasser aus dem Einzugsgebiet A 2 bei dem Kläger zu demselben Schaden gekommen wäre.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">e) Die Verletzung der Amtspflicht erfolgte auch schuldhaft.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Beklagten ist jedenfalls Fahrlässigkeit im Sinne von § 276 Abs. 2 BGB vorzuwerfen. Bei Beachtung der verkehrsüblichen Sorgfalt wäre der Beklagten bzw. ihren hiermit betrauten Mitarbeitern aufgefallen, dass die Ausführung des Einlaufgitters im Falle eines Starkregenereignisses zu einer Verlegung desselben führen musste und in der Folge Oberflächenwasser aus dem Graben nicht mehr in die Rohrleitung weitergeleitet, sondern aus dem Graben heraustreten und anschließend wild abfließen würde. Es ist davon auszugehen, dass die Beklagte über hinreichend qualifizierte Mitarbeiter verfügt, die zu einer entsprechenden Beurteilung in der Lage gewesen wären; jedenfalls aber hätte die Beklagte fachkundigen Rat in Anspruch nehmen müssen, um diesen Planungsfehler zu vermeiden (vgl. Senatsurteil vom 29.09.2021 – 11 U 54/16, juris Rn. 28; Senatsurteil vom 13.03.2013 – 11 U 198/10, juris Rn. 33).</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">f) Der Kläger vermag auch nicht auf andere Weise im Sinne von § 839 Abs. 1 S. 2 BGB Ersatz zu erlangen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Eine anderweitige Ersatzmöglichkeit ist weder erkennbar noch von der Beklagten aufgezeigt.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">g) Der Kläger kann von der Beklagten Ersatz der Hälfte des von ihm geltend gemachten Nettobetrages, mithin 975,00 Euro, beanspruchen.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Bei der Frage, ob durch eine Amtspflichtverletzung ein Vermögensschaden entstanden ist, handelt es sich im Rahmen von § 839 BGB um eine Beurteilung der haftungsausfüllenden Kausalität, bei der dem Geschädigten die Beweiserleichterungen von § 287 ZPO zugutekommen (BGH, Urteil vom 06.04.1995 – III ZR 183/94, juris Rn. 20)</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">aa) Im Rahmen von § 287 ZPO schätzt der Senat den der Beklagten zuzurechnenden Schaden auf die Hälfte des dem Kläger insgesamt entstandenen Schadens.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Nach Anhörung des Sachverständigen geht der Senat davon aus, dass für den dem Kläger entstandenen Schaden nicht allein das vom Einzugsgebiet A 1 auf das klägerische Grundstück gelangte Oberflächenwasser verantwortlich war, sondern daneben auch Oberflächenwasser vom Einzugsgebiet A 2, wobei der Senat den Anteil beider Ursachen am eingetretenen Schaden auf je 50 Prozent schätzt. Der Sachverständige hat im Senatstermin nachvollziehbar erläutert, dass trotz der unterschiedlichen Größe beider Einzugsgebiete von ihnen jeweils in etwa dieselbe Menge an Oberflächenwasser abgeflossen und auch in etwa zeitgleich im Bereich der Grünfläche mit dem alten Friedhof und dem Spielplatz angekommen ist. Das Mengenverhältnis des aus beiden Einzugsgebieten abgeflossenen Oberflächenwassers hat der Sachverständige mit etwa eins zu eins angegeben und erklärt, dass eine genauere Angabe nicht möglich sei. Der Senat schließt sich der Beurteilung des Sachverständigen an, die eine ausreichende Grundlage für die hier gemäß § 287 ZPO vorzunehmende Schadensschätzung ist.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">bb) In der Höhe ist der vom Kläger geltend gemachte Betrag nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat einen inhaltlich plausiblen Kostenvoranschlag eines lokalen Handwerksbetriebs vorgelegt, der als Grundlage für eine Schätzung im Sinne von § 287 ZPO geeignet ist. Die darin in Ansatz gebrachten Arbeiten, Mengen und Einzelpreise erscheinen dem Senat angemessen. Insbesondere vermag der Senat nachzuvollziehen, dass die neuerliche Verlegung einer Folie zum Schutz vor Wurzeln und Unkraut zur Beseitigung des Schadens erforderlich ist. Dass eine derartige Folie zuvor vorhanden war, steht trotz des Bestreitens der Beklagten zur Überzeugung des Senats fest. Im Rahmen des Senatstermins wurden die vom Beklagten angefertigten und durch den Sachverständigen auf einer CD zur Akte gereichten Lichtbilder (Blatt 146 der Akte) in Augenschein genommen. Auf zwei Lichtbildern, welche die Hofeinfahrt des klägerischen Grundstücks nach dem Unwetter zeigen, sind Teile dieser Folie deutlich erkennbar. Der Senat geht weiter davon aus, dass diese Folie zu ersetzen ist. Denn bei lebensnaher Betrachtung ist der verunreinigte Kies auf einer Fläche von 120 m², wie sie aus dem Kostenvoranschlag hervorgeht, nicht von Hand, sondern durch einen Bagger aufzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass hierbei die bereits vorhandene Folie beschädigt werden und ihren Zweck nicht mehr erfüllen würde. Es ist daher sachgerecht, die Folie im Rahmen der Wiederherstellung zu erneuern.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">cc) Ein Abzug neu für alt hat nicht zu erfolgen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Maßgebliche Voraussetzung für die Notwendigkeit eines solchen Abzugs ist, ob die neue bzw. reparierte Sache gerade für den Geschädigten einen höheren Wert hat (BGH, Urteil vom 25.10.1996 – V ZR 158/95, juris Rn. 9; <em>Oetker</em>, in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2022, § 249 Rn. 349). Hieran fehlt es, wenn der ersetzte Gegenstand nicht zu einer messbaren Vermögensmehrung beim Geschädigten führt. Nach dieser Maßgabe kommt hier ein Abzug neu für alt nicht in Betracht. Nach den Angaben des Klägers im Senatstermin wurde die durch zufließendes Oberflächenwasser verschmutzte Hofeinfahrt, im Jahr 2006 oder 2007 hergestellt, sodass sich im Zeitpunkt des Regenereignisses am 15.10.2019 ein Alter von zumindest etwa zwölf Jahren ergibt. Allerdings stellt sich die Hofeinfahrt bzw. deren Belag lediglich als Teil des gesamten klägerischen Grundstücks dar. Zwar mögen eine lose aufliegende Wurzelschutzfolie und der darauf befindliche Kies kein wesentlicher Bestandteil des klägerischen Grundstücks im Sinne von § 94 Abs. 1 S. 1 BGB sein. Im Rahmen einer schadensrechtlichen Betrachtung ist jedoch das klägerische Grundstück als Gesamtheit zu sehen, sodass ein Abzug neu für alt nur in Betracht kommt, sofern die Erneuerung der Hoffläche bzw. des Belags auch zu einer messbaren Wertsteigerung des klägerischen Grundstücks insgesamt führt. Inwieweit eine Erneuerung von Wurzelschutzfolie und Kiesbelag zu einer messbaren Vermögensmehrung im Hinblick auf das Hausgrundstück des Klägers führen sollte, ist indes nicht erkennbar und auch von der Beklagten nicht dargetan. Insbesondere erhöht eine Erneuerung der Hofeinfahrt nicht die Nutzungsdauer des aufstehenden Hauses.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">2. Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1 S. 1 und 2, 286 Abs. 1 S. 1 und 2 BGB.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Entgegen dem Klageantrag kann der Kläger Zinsen erst seit Rechtshängigkeit beanspruchen, mithin unter Beachtung des Rechtsgedankens von § 187 Abs. 1 BGB ab dem auf die Zustellung der Klageschrift am 24.01.2020 folgenden Tag. Ein weitergehender Zinsanspruch ist vom Kläger nicht schlüssig dargetan.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.</p>
346,897
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{ "id": 160, "name": "Verwaltungsgericht Stuttgart", "slug": "vg-stuttgart", "city": 90, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
DL 23 K 1960/22
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-10-12T10:01:32"
"2022-10-17T11:11:00"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Antragsteller begehrt im Wege eines „Antrag[s] auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO“, die auf Grundlage des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.05.2021 – DL 23 K 2685/21 – durchgeführte Durchsuchung seiner Wohnung am 20.05.2021 in der A-Straße xx in B für rechtswidrig zu erklären sowie die Herausgabe der dabei beschlagnahmten Gegenstände anzuordnen. Mit dem genannten Beschluss vom 20.05.2021 hatte das Verwaltungsgericht – soweit hier relevant – die Durchsuchung der Wohnung des Antragstellers im C-Weg xx in D, einschließlich zugehöriger Neben- und Kellerräume sowie der von ihm genutzten Fahrzeuge und der Person des Antragstellers sowie der ihm gehörenden Sachen angeordnet (Ziffer 1), die Beschlagnahme von Gegenständen, die als Beweismittel dienen können und vom Gewahrsamsinhaber nicht freiwillig herausgegeben werden, angeordnet (Ziffer 2) und die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung bis zum 20.08.2021 befristet (Ziffer 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Anträge, über die nach § 7 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 AGVwGO der Berichterstatter zu entscheiden hat, bleiben ohne Erfolg. Sie sind bereits unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>I. Der Antrag des Antragstellers, die Durchsuchung in seiner Wohnung in der A-Straße … in B für rechtswidrig zu erklären, ist unstatthaft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>1. Soweit sich der Antragsteller mit diesem Antrag (auch) unmittelbar gegen den Durchsuchungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.05.2021 wenden sollte – was er nicht ausdrücklich erklärt, was aber angesichts seines Vorbringens zu seiner im Durchsuchungsbeschluss falsch bezeichneten Wohnanschrift zumindest denkbar erscheint – wäre hierfür auch nach dem Vollzug der Durchsuchung allein das Rechtsmittel der Beschwerde gemäß § 2 LDG i.V.m. § 146 Abs. 1 VwGO statthaft (vgl. nur VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.05.2022 – DL 16 S 510/22 –, n.v. und Beschluss vom 16.03.2009 – DB 16 S 57/09 –, juris Rn. 2; Bayerischer VGH, Beschluss vom 28.04.2014 – 16b DC 12.2380 –, juris Rn. 2 zu § 27 BDG; Düsselberg, in: von Alberti u.a., Disziplinarrecht Baden-Württemberg, 1. Aufl. 2021, § 17 LDG Rn. 12; s. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.10.2020 – 1 S 2679/19 –, juris Rn. 64 zur Überprüfung einer in einem vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahren ergangenen richterlichen Durchsuchungsanordnung).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>2. Soweit es dem Antragsteller dagegen mit seinem Antrag um die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Art und Weise der Durchführung der Durchsuchung am 20.05.2021 geht, hätte er eine Feststellungsklage nach § 2 LDG i.V.m. § 43 Abs. 1 VwGO erheben müssen. Der gestellte Antrag nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO ist unstatthaft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>a) Nach § 2 LDG finden, soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, das Landesverwaltungsverfahrensgesetz und, sofern das Verwaltungsgericht in dem Verfahren mitwirkt, die Verwaltungsgerichtsordnung und die zu ihrer Ausführung ergangenen Rechtsvorschriften Anwendung. Gemäß § 17 Abs. 1 LDG gelten für die Sicherstellung und Herausgabe von Gegenständen, die als Beweismittel für die Ermittlungen von Bedeutung sein können, sowie für Beschlagnahmen und Durchsuchungen § 33 Abs. 2 bis 4, § 36 Abs. 2 Satz 1, § 94 Abs. 1 und 2, §§ 95 bis 97, § 98 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 sowie Abs. 4, § 102, § 103 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, § 104, § 105 Abs. 2 und 3 sowie §§ 106 bis 110 der Strafprozessordnung entsprechend. § 98 StPO regelt das Verfahren bei der Beschlagnahme. Nach § 98 Abs. 2 Satz 1 StPO soll der Beamte, der einen Gegenstand ohne gerichtliche Anordnung beschlagnahmt hat, binnen drei Tagen die gerichtliche Bestätigung beantragen, wenn bei der Beschlagnahme weder der davon Betroffene noch ein erwachsener Angehöriger anwesend war oder wenn der Betroffene und im Falle seiner Abwesenheit ein erwachsener Angehöriger des Betroffenen gegen die Beschlagnahme ausdrücklichen Widerspruch erhoben hat. Gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO kann der Betroffene jederzeit die gerichtliche Entscheidung beantragen. Über seinen Wortlaut hinaus wird der Rechtsbehelf des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO in der strafgerichtlichen Rechtsprechung auch auf die nachträgliche gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit bereits durch Vollzug erledigter Eingriffsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen und die Feststellung der Rechtmäßigkeit der Art und Weise der Durchführung einer erledigten richterlichen oder nichtrichterlichen Maßnahme entsprechend angewandt (vgl. nur BGH, Beschluss vom 16.10.2020 – 1 ARs 3/20 –, juris Rn. 16). Zudem unterliegt die Rechtmäßigkeit der Art und Weise des Vollzuges einer richterlich angeordneten Durchsuchungsmaßnahme nach ständiger strafgerichtlicher Rechtsprechung der gerichtlichen Überprüfung gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO analog (BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – StB 17/22 –, juris Rn.19 m.w.N.; siehe dazu auch BVerfG, Beschluss vom 13.03.2018 – 2 BvR 2990/14 –, juris Rn. 20). Hintergrund dieser Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO durch den Bundesgerichtshof (vgl. grundlegend BGH, Beschluss vom 07.12.1998 – 5 AR (VS) 2/98 –, BGHSt 44, 265-275 und Beschluss vom 25.08.1999 – 5 AR (VS) 1/99 –, BGHSt 45, 183-187) war, dass das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 30.04.1997 – 2 BvR 817/90 – die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG durch die Strafgerichte auch in Fällen tiefgreifender, jedoch nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe im Zusammenhang mit vollzogenen richterlichen Durchsuchungsanordnungen eingefordert hatte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>b) Ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 17 Abs. 1 LDG i.V.m. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO in direkter Anwendung ist vorliegend schon deshalb unstatthaft, weil der Antragsteller mit seinem ersten Antrag nicht – wie in § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgesehen – die Überprüfung einer Beschlagnahmemaßnahme begehrt, sondern die Überprüfung einer Durchsuchungsmaßnahme.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>c) Eine analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 VwGO kommt im Rahmen des § 17 Abs. 1 LDG ebenfalls nicht in Betracht (ebenso zur analogen Anwendbarkeit des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO im Vereinsrecht VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.04.2019 – 1 S 982/18 –, juris Rn. 16 f.; a.A. offenbar zu § 29 HmbDG Hamburgisches OVG, Beschluss vom 03.07.2012 – 12 Bf 58/12.F –, juris Rn. 22 und zu § 27 Abs. 1 BDG VG Ansbach, Beschluss vom 28.03.2011 – AN 6a DA 10.02112 –, juris Rn. 17 f. – jew. ohne weitere Begründung).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>aa) Ihr steht bereits entgegen, dass § 17 Abs. 1 LDG zwar eine entsprechende Anwendbarkeit des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO in direkter Anwendung vorsieht, sich jedoch nicht auf eine analoge Anwendung des Rechtsbehelfs nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO erstreckt. Die Auslegung des § 17 Abs. 1 LDG ergibt, dass die Verweisung auf § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht über dessen Wortlaut hinaus auch die Überprüfung von Durchsuchungsmaßnahmen im Sinne der §§ 102, 103 StPO ermöglichen soll.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Bereits anhand des Wortlauts des § 17 Abs. 1 LDG, der nur ganz bestimmte Vorschriften der Strafprozessordnung für entsprechend anwendbar erklärt, ist davon auszugehen, dass sich die Verweisung nur auf die strafprozessualen Maßnahmen bzw. Eingriffsgrundlagen und – mit Ausnahme des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO in direkter Anwendung – nicht auch auf strafprozessuale Rechtsbehelfe bezieht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Diese Einschätzung wird durch die historische Auslegung bestätigt. Aus der Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 1 LDG geht hervor, dass auf die Sicherstellung und die Pflicht zur Herausgabe von Beweisgegenständen sowie für Beschlagnahmen und Durchsuchungen die besonderen Vorschriften der Strafprozessordnung entsprechend Anwendung finden sollen, weil Beweismittel dem unmittelbaren Zugriff des Dienstherrn entzogen sein könnten. Für den Fall, dass ein Beweisgegenstand nicht freiwillig herausgegeben werde, sollten wie bisher (§ 54 Satz 2 LDO) Beschlagnahmen und Durchsuchungen möglich sein (LT-Drs. 14/2996, S. 76). Diese Ausführungen deuten bereits klar darauf hin, dass es dem Gesetzgeber mit dem Verweis in § 17 Abs. 1 LDG ganz maßgeblich um die Nutzung der strafprozessualen Eingriffsbefugnisse im Disziplinarverfahren ging und nicht um die Inbezugnahme der strafprozessualen Rechtsbehelfe und Rechtsmittel. Dass der Gesetzgeber stattdessen grundsätzlich die Rechtsbehelfe der Verwaltungsgerichtsordnung zur Überprüfung von strafprozessual begründeten Eingriffsmaßnahmen der Disziplinarbehörde vorsehen wollte, zeigt seine Begründung zu § 17 Abs. 2 Satz 2 LDG, wonach der Betroffene die Möglichkeit habe, die Rechtmäßigkeit der durch die Disziplinarbehörde durchgeführten Eilmaßnahme (Beschlagnahme oder Durchsuchung) nach allgemeinen Regeln, ggf. im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) vom Verwaltungsgericht überprüfen zu lassen (LT-Drs. 14/2996, S. 76). Es ist allein schon deshalb nicht ersichtlich, warum für die Überprüfung einer richterlich angeordneten Durchsuchungsmaßnahme demgegenüber der strafprozessuale Rechtsbehelf des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO analog zur Anwendung kommen sollte. Hiergegen spricht im Übrigen auch, dass der Gesetzgeber das Disziplinarrecht ausweislich der Gesetzesbegründung von der bisherigen Bindung an das Strafprozessrecht so weit wie möglich lösen und in ein Verwaltungsverfahren mit sich gegebenenfalls anschließendem, gebührenpflichtigem Streitverfahren vor dem Verwaltungsgericht überführen wollte (LT-Drs. 14/2996, S. 1). Die weiteren Implikationen dieser Absicht lässt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zu § 2 LDG erkennen. Dort heißt es, dass durch die Anwendung der Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts das Disziplinarverfahren weitgehend vom Strafverfahrensrecht gelöst werden solle. Auf die Bestimmungen der Strafprozessordnung solle nur noch insoweit verwiesen werden, als auf sie nicht verzichtet werden könne. Für den Fall der Mitwirkung des Verwaltungsgerichts im behördlichen Disziplinarverfahren (§ 16 Abs. 3 LDG: richterliche Vernehmungen; § 17 Abs. 2 LDG: Anordnung von Beschlagnahmen oder Durchsuchungen, § 37 Abs. 3 LDG: gerichtliche Fristsetzung zum Abschluss des Verfahrens) seien die Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung und des Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung ergänzend anzuwenden. Das Gericht solle auch in diesen Fällen grundsätzlich nach den im gerichtlichen Verfahren geltenden Bestimmungen vorgehen können. Die Anwendung von Vorschriften der Strafprozessordnung sei nur noch an wenigen Stellen des Gesetzentwurfs vorgesehen. Insoweit fehle es im Verwaltungsverfahrens- und -prozessrecht entweder an entsprechenden Vorschriften (so u.a. bei § 17 Abs. 1 über Beschlagnahmen und Durchsuchungen), oder die Vorschriften der Strafprozessordnung seien feiner ausdifferenziert. An der Verweisung auf die Vorschriften der Strafprozessordnung solle daher festgehalten werden. Aus Gründen der Rechtsklarheit und zur Erleichterung der Handhabung in der Praxis solle jedoch auf noch im Anhörungsentwurf vorgesehene allgemeine Verweisungen in die Strafprozessordnung verzichtet und stattdessen stets auf bestimmte Vorschriften der Strafprozessordnung verwiesen werden (LT-Drs. 14/2996, S. 57 f.). Diese Ausführungen in der Gesetzesbegründung lassen keine Zweifel daran, dass der Gesetzgeber mit den einzelnen und sehr beschränkten Verweisungen auf die Strafprozessordnung gerade in § 17 Abs. 1 LDG die Nutzung der strafprozessualen Eingriffsmaßnahmen für das Disziplinarverfahren vor Augen hatte und er den Rechtsschutz gegen diese Maßnahmen – soweit nicht ausdrücklich anders geregelt – mit den Rechtsbehelfen der Verwaltungsgerichtsordnung gewährleisten wollte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Mit dieser Feststellung steht auch die systematische Auslegung des § 17 Abs. 1 LDG in Einklang. In Teil 1 des Landesdisziplinargesetzes unter Allgemeine Bestimmungen ist in § 2 LDG als allgemeiner Grundsatz die Anwendung des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes und, sofern das Verwaltungsgericht – wie in den Fällen des § 17 Abs. 2 Satz 1 LDG – in dem Verfahren mitwirkt, die Anwendung der Verwaltungsgerichtsordnung sowie die zur ihrer Ausführung ergangenen Rechtsvorschriften festgeschrieben, soweit das Landesdisziplinargesetz nicht ausdrücklich etwas anderes regelt. Eine ausdrückliche Regelung zu Rechtsbehelfen gegen die Art und Weise der Durchführung einer richterlich angeordneten Durchsuchung findet sich im Landesdisziplinargesetz gerade nicht, weshalb der allgemeine Grundsatz zur Anwendung zu bringen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Schließlich führt auch die Betrachtung des Sinn und Zwecks des § 17 Abs. 1 LDG, der nach dem Vorstehenden in der Nutzbarmachung der strafprozessualen Eingriffsbefugnisse im Disziplinarverfahren besteht, zu keinem anderen Ergebnis. Denn dieser erfordert gerade nicht notwendigerweise auch eine Überprüfung der Eingriffsmaßnahme mit einem strafprozessualen Rechtsbehelf.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>bb) Ungeachtet der fehlenden Inbezugnahme des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO durch § 17 Abs. 1 LDG für den Fall der Überprüfung von Durchsuchungsmaßnahmen fehlt es auch an den Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO im Disziplinarverfahren. So ist schon keine planwidrige Regelungslücke im Landesdisziplinargesetz bzw. in der Verwaltungsgerichtsordnung, auf die das Landesdisziplinargesetz in § 2 LDG bei gerichtlicher Mitwirkung im Disziplinarverfahren grundsätzlich verweist, erkennbar, die durch eine analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO geschlossen werden müsste.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Art und Weise der Vollziehung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung kann zwar nicht im Wege der Beschwerde nach § 2 LDG i.V.m. § 146 Abs. 1 VwGO erfolgen, weil sich die Beschwerde per se nur gegen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung richten kann, nicht aber gegen Art und Weise des Vollzugs derselben. Denn Beschwerdegegenstand ist nach § 146 VwGO allein die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts (vgl. zu § 27 BDG Bayerischer VGH, Beschluss vom 28.04.2014 – 16b DC 12.2380 –, juris Rn. 3 m.w.N. und zu § 4 VereinsG VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.10.2020 – 1 S 2679/19 –, juris Rn. 64; a.A. Weiß, in: ders., Disziplinarrecht des Bundes und der Länder, Bd. II, Lfg. 3/22, § 27 BDG Rn. 59m).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die Verwaltungsgerichtsordnung hält jedoch insbesondere mit der Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO bzw. mit der Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (ggf. in analoger Anwendung) Rechtsbehelfe bereit, die effektiven Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG auch in Fällen tiefgreifender, ggf. nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe im Zusammenhang mit vollzogenen richterlichen oder nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnungen gewährleisten (vgl. zum Ganzen – jeweils im vereinsrechtlichen Kontext – auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.10.2020 – 1 S 2679/19 –, juris Rn. 65; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 9. Februar 2009 – 11 OB 417/08 –, juris Rn. 3, VG Düsseldorf, Urteil vom 24.03.2021 – 18 K 6241/18 –, juris Rn. 38 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>II. Der Antrag des Antragstellers, die Herausgabe der am 20.05.2021 beschlagnahmten Gegenstände anzuordnen, ist ebenfalls unzulässig. Es fehlt dem Antragsteller insoweit das Rechtsschutzbedürfnis, weil der Antrag seine Rechtsstellung auch im Erfolgsfall nicht verbessern könnte. Der Anordnung der Herausgabe der beschlagnahmten Gegenstände – des insoweit allein in Betracht kommenden Mobiltelefons xx – stehen im Entscheidungszeitpunkt die Wirkungen des Beschlagnahmebeschlusses des Amtsgerichts Stuttgart – Ermittlungsrichter – vom 10.12.2021 entgegen, mit dem das Amtsgericht nach §§ 94, 98 Abs. 1, 111b, 111c, 111j, 162 Abs. 1 StPO gemäß § 33 Abs. 4 StPO die Beschlagnahme des genannten Mobiltelefons des Antragstellers angeordnet hat, weil es für das Strafverfahren als Beweismittel von Bedeutung sein könne. Damit wurde hinsichtlich des Mobiltelefons ein amtliches Herrschaftsverhältnis des Antragsgegners begründet, das ihn zur amtlichen Inobhutnahme berechtigt. Die Beschlagnahmewirkung endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens oder mit der Aufhebung der Beschlagnahme (vgl. nur Hartmann, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 98 StPO Rn. 11). Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass das Strafverfahren gegen den Antragsteller zwischenzeitlich abgeschlossen ist oder dass die Beschlagnahme aufgehoben worden wäre.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Solange die Wirkungen einer im Strafverfahren angeordneten Beschlagnahme eines Gegenstands andauern, ist es dem Verwaltungsgericht verwehrt, auf Grundlage des Landesdisziplinargesetzes die Freigabe dieses Gegenstands anzuordnen oder die Beschlagnahme aufzuheben. Unter anderem die §§ 13 und 14 LDG bringen eindeutig zum Ausdruck, dass der Landesdisziplinargesetzgeber den strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Beamten Vorrang gegenüber den disziplinarrechtlichen Ermittlungen einräumen wollte. So kann das Disziplinarverfahren nach § 13 Abs. 1 Satz 1 LDG sogar ausgesetzt werden, wenn in einem anderen gesetzlich geregelten Verfahren eine Frage zu entscheiden ist, die für die Entscheidung im Disziplinarverfahren von wesentlicher Bedeutung ist. Auch sind die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 LDG im Disziplinarverfahren, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat, bindend. Insoweit sind disziplinarrechtliche Ermittlungen im Sinne des § 12 LDG nicht erforderlich und dürfen nicht durchgeführt werden (LT-Drs. 14/2996, S. 70; Stehle, in: von Alberti u.a., Disziplinarrecht Baden-Württemberg, 1. Aufl. 2021, § 12 LDG Rn. 3). Nach Auffassung des Gesetzgebers regeln neben § 14 Abs. 1 Satz 1 LDG auch § 34 LDG und § 40 Abs. 2 Nr. 1 LDG den Vorrang des Straf- oder Bußgeldverfahrens gegenüber dem Disziplinarverfahren (LT-Drs. 14/2996, S. 70). Dieser Vorrang dient nach dem Willen des Gesetzgebers dem Zweck, widersprüchliche Entscheidungen im Disziplinarverfahren einerseits und in anderen gesetzlich geregelten Verfahren andererseits zu vermeiden und dadurch zugleich die disziplinarrechtlichen Ermittlungen zu entlasten und zu beschleunigen (vgl. LT-Drs. 14/2996, S. 70, 72). Diesem Zweck und dem Vorrang des Strafverfahrens widerspräche es grundlegend, wenn das Verwaltungsgericht auf Grundlage des Landesdisziplinargesetzes eine im Strafverfahren angeordnete Ermittlungsmaßnahme, gegen die ihrerseits Rechtsschutzmöglichkeiten nach der Strafprozessordnung bestehen, aufheben oder auch nur abändern könnte. Vor diesem Hintergrund bliebe der Antrag mangels Rechtsschutzbedürfnis auch dann ohne Erfolg, wenn man ihn entsprechend § 88 VwGO als Antrag auf gerichtliche Bestätigung der Beschlagnahme nach § 17 Abs. 1 LDG i.V.m. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO auslegen würde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Mangels einer entsprechenden Gebührenziffer im Gebührenverzeichnis nach dem Landesdisziplinargesetz (Anlage zu § 22 AGVwGO) sind Gerichtsgebühren für das Verfahren nicht zu erheben.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
346,766
olgk-2022-09-02-20-u-26621
{ "id": 822, "name": "Oberlandesgericht Köln", "slug": "olgk", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
20 U 266/21
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:47"
"2022-10-17T11:10:41"
Urteil
ECLI:DE:OLGK:2022:0902.20U266.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Berufung des Klägers gegen das am 27.10.2021 verkündete Urteil der 21. Zivilkammer des Landgerichts Bonn – 41 O 17/21 – wird die angefochtene Entscheidung unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:</p> <p>1.</p> <p>Es wird festgestellt, dass folgende Erhöhung der monatlichen Prämie in der zwischen dem Kläger und der Beklagten bestehenden Kranken-/ Pflegeversicherung mit der Versicherungsnummer X1 unwirksam war:</p> <p>im Tarif A die Erhöhung zum 01.01.2017 in Höhe von 66,00 € bis zum 31.12.2019.</p> <p>2.</p> <p>Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.584,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.01.2021 zu zahlen.</p> <p>3.</p> <p>Es wird festgestellt, dass die Beklagte dem Kläger zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet ist, die sie bis zum 19.01.2021 aus dem Prämienanteil gezogen hat, den der Kläger auf die unter 1. aufgeführte Beitragserhöhung bis zum 31.12.2019 gezahlt hat.</p> <p>4.</p> <p>Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 249,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.01.2021 für die außergerichtliche anwaltliche Rechtsverfolgung zu zahlen.</p> <p>5.</p> <p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p> <p>Die Kosten des landgerichtlichen Verfahrens haben der Kläger zu 78% und die Beklagte zu 22% zu tragen. Die Kosten des Berufungsverfahrens entfallen auf den Kläger zu 33% und auf die Beklagte zu 67%.</p> <p>Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p> <p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Berufung des Klägers hat weitgehend Erfolg. Lediglich hinsichtlich der begehrten Feststellung, nicht zur Zahlung des Erhöhungsbetrages verpflichtet zu sein, und hinsichtlich eines Teils der Nebenforderungen bleibt sie ohne Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Berufungsantrag zu 1) hat Erfolg, soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass im Tarif A die Erhöhung zum 01.01.2017 in Höhe von 66,00 € unwirksam war. Ohne Erfolg bleibt der Berufungsantrag zu 1) indes, soweit der Kläger auch die Feststellung begehrt, nicht zur Zahlung dieses Erhöhungsbetrages verpflichtet gewesen zu sein, weil für diese Feststellung kein rechtliches Interesse gegeben ist.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der auf die Feststellung der Unwirksamkeit der Erhöhung im Tarif A zum 01.01.2017 gerichtete Antrag ist zulässig.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger greift die erstinstanzlich noch streitige Erhöhung in demselben Tarif zum 01.01.2020 nicht mehr an, so dass nunmehr von deren Wirksamkeit auszugehen ist und ein Anspruch der Beklagten auf Zahlung der Prämie in der durch diese Anpassung festgesetzten neuen Gesamthöhe ab dem 01.01.2020 in dem Tarif A bestand (vgl. BGH, Urteil vom 16.12.2020 – IV ZR 294/19 –, juris-Rz. 55 f.). Dass die Beitragserhöhung zum 01.01.2017 gegenwärtig oder zukünftig noch Auswirkungen haben kann, ist damit nicht ersichtlich. Die vom Kläger begehrte Feststellung der Unwirksamkeit der Prämienerhöhung zum 01.01.2017 ist jedoch als entsprechend auszulegende Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO zulässig, weil die Frage der Wirksamkeit der Beitragsanpassung eine Vorfrage für den Leistungsantrag ist (vgl. hierzu BGH Urteil vom 16.12.2020, Az. IV ZR 294/19; BGH, Urteil vom 19.12.2018, Az. IV ZR 255/17 –, juris).</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zwar ist für eine Zwischenfeststellung dann kein Raum, wenn durch die Entscheidung über die Hauptklage die Rechtsbeziehungen, die sich aus dem streitigen Rechtsverhältnis ergeben können, mit Rechtskraftwirkung erschöpfend klargestellt werden. Die Zwischenfeststellungsklage ist jedoch zulässig, wenn mit der Klage mehrere selbständige Ansprüche aus dem Rechtsverhältnis verfolgt werden, mögen sie auch in ihrer Gesamtheit die Ansprüche erschöpfen, die sich aus ihm überhaupt ergeben können (vgl. nur BGH, Urteil vom 27.11.1998 – V ZR 180/97 –, juris-Rz. 8 m.w.N.). Denn hier besteht die Möglichkeit von Teilurteilen, so dass die Zwischenfeststellung grundlegende Bedeutung für ein etwaiges Schlussurteil haben kann. Dies ist hier mit dem auf die Rückzahlung auf die Prämienanpassungen geleisteter Prämienanteile gerichteten Antrag und dem Antrag auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Herausgabe von Nutzungen der Fall.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Soweit der Berufungsantrag zu 1) auf die Feststellung gerichtet ist, dass der Kläger nicht zur Zahlung des Erhöhungsbetrages verpflichtet gewesen war, fehlt es an dem erforderlichen rechtlichen Interesse des Klägers an dieser von ihm begehrten zusätzlichen Feststellung, weil sich Entsprechendes – auch ohne einen solchen Ausspruch – im Falle der Feststellung der Unwirksamkeit der Beitragsanpassung unmittelbar aus der festgestellten Unwirksamkeit ergibt.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Beitragserhöhung im Tarif A zum 01.01.2017 in Höhe von 66,00 € war aus formellen Gründen unwirksam.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich gilt: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteil vom 16.12.2020 – IV ZR 294/19 –, zitiert nach juris) erfordert die Mitteilung der maßgeblichen Gründe für die Neufestsetzung der Prämie nach § 203 Abs. 5 VVG die Angabe der Rechnungsgrundlage, deren nicht nur vorübergehende Veränderung die Neufestsetzung nach § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG veranlasst hat. Der Versicherer muss dabei zwar nicht mitteilen, in welcher Höhe sich diese Rechnungsgrundlage verändert hat. Er hat auch nicht die Veränderung weiterer Faktoren, welche die Prämienhöhe beeinflusst haben, wie z.B. des Rechnungszinses, anzugeben. Der Versicherungsnehmer muss den Mitteilungen aber mit der gebotenen Klarheit entnehmen können, dass eine Veränderung der genannten Rechnungsgrundlagen über dem geltenden Schwellenwert die konkrete Beitragserhöhung ausgelöst hat (vgl. BGH, Urteil vom 09.02.2022 – IV ZR 337/20 –, juris-Rz. 30 f.; BGH, Urteil vom 21.07.2021 – IV ZR 191/20 –, juris-Rz. 26; BGH, Urteil vom 20.10.2021 – IV ZR 148/20 –, zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 17.11.2021 – IV ZR 113/20 –, zitiert nach juris).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dem Versicherungsnehmer muss daher auch verdeutlicht werden, dass es einen vorab festgelegten Schwellenwert für eine Veränderung der betreffenden Rechnungsgrundlage gibt, dessen Überschreitung die konkret in Rede stehende Prämienanpassung ausgelöst hat (vgl. Senatsurteil vom 13.05.2022 – 20 U 198/21 –, juris-Rz. 29; so auch OLG Celle, Urteil vom 13.01.2022 – 8 U 134/21 – zitiert nach juris). Damit muss auch ein Bezug gerade zur konkret erfolgten Beitragserhöhung im Tarif des Versicherungsnehmers deutlich werden. Der Senat sieht sich hierbei – auch nach Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Auffassung der Beklagten und einiger anderer Oberlandesgerichte – im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. insbesondere BGH, Urteil vom 22.06.2022 – IV ZR 253/20 –, juris-Rz. 24 ff.; BGH, Urteil vom 09.02.2022 – IV ZR 337/20 –, juris-Rz. 29 ff.; BGH, Urteil vom 21.07.2021 – IV ZR 191/20 –, juris-Rz. 26), die die Mitteilung der Überschreitung des (gesetzlichen oder vertraglichen) Schwellenwerts als erforderlich bezeichnet. Die gegenteilige Auffassung ist nach Auffassung des Senats nicht mit den durch den Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätzen vereinbar, der etwa im Urteil vom 21.07.2021 – IV ZR 191/20 – ausdrücklich ausführt (juris-Rz. 26, Hervorhebung durch den Senat):</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">„Nach der aus Rechtsgründen nicht zu beanstandenden Beurteilung des Berufungsgerichts konnte ein Versicherungsnehmer den Mitteilungen nicht mit der gebotenen Klarheit entnehmen, dass eine Veränderung der Rechnungsgrundlage Versicherungsleistungen über dem geltenden Schwellenwert die konkrete Beitragserhöhung ausgelöst hat. Die Schreiben vom November 2011 und Februar 2013 enthalten keinen Hinweis auf die Veränderung einer der beiden Rechnungsgrundlagen. Aber auch für die Schreiben vom Februar 2016 und 2017 ist die Annahme des Berufungsgerichts, es fehle an einem eindeutigen Hinweis darauf, welche geänderte Rechnungsgrundlage für die konkrete Prämienerhöhung maßgeblich gewesen sei, im Ergebnis aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht entnimmt diesen Schreiben nur die Erwähnung gestiegener Gesundheitskosten. Das bewertet es rechtsfehlerfrei dahingehend, daraus ergebe sich nicht, <strong>dass es einen vorab festgelegten Schwellenwert für eine Veränderung der Leistungsausgaben gibt, dessen Überschreitung die hier in Rede stehende Prämienanpassung ausgelöst hat</strong>. Für dieses Ergebnis kam es nicht darauf an, dass das Berufungsgericht - insoweit abweichend von den zuvor zutreffend bestimmten Anforderungen an die Begründung einer Prämienanpassung - darüber hinaus auch das Fehlen der Angabe beanstandet hat, ob der gesetzliche oder ein in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen festgelegter Schwellenwert überschritten wurde.“</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Entsprechend heißt es in einem weiteren Urteil des Bundesgerichtshofs vom 09.02.2022 – IV ZR 337/20 – (juris-Rz. 30 f.; Hervorhebungen durch den Senat):</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">„Die Erklärung im Anschreiben vom November 2014, die Prämienanpassung sei durch gestiegene medizinische Kosten ausgelöst worden, kann entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht den Begründungsanforderungen des § 203 Abs. 5 VVG genügen. <strong>Aus dem allgemeinen Hinweis auf den Kostenanstieg ist nicht ersichtlich</strong>, dass ein Vergleich der kalkulierten mit den erforderlichen Versicherungsleistungen <strong>eine Veränderung</strong> dieser Rechnungsgrundlage <strong>über dem geltenden Schwellenwert</strong> ergeben und dies die Prämienanpassung ausgelöst hat. Die fehlenden Angaben ergeben sich auch nicht aus den beiliegenden Informationen zur Beitragsanpassung, die das Berufungsgericht nicht in den Blick genommen hat. Diese beschreiben nur in allgemein gehaltener Form die jährliche Durchführung der Prämienüberprüfung, ohne das Ergebnis der aktuellen Überprüfung mitzuteilen. Der Versicherungsnehmer muss daraus nicht den Schluss ziehen, dass die beschriebenen gesetzlichen Voraussetzungen einer Prämienerhöhung in diesem Fall eingetreten sind.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">(2) Im Ergebnis zutreffend hat das Berufungsgericht dagegen angenommen, dass die Mitteilung der Prämienanpassung zum 1. Januar 2017 den Anforderungen des § 203 Abs. 5 VVG genügt. Zwar ergibt sich dies noch nicht aus dem Anschreiben vom November 2016, auf das das Berufungsgericht seine Annahme einer ausreichenden Begründung stützt, obwohl dieses inhaltlich im Wesentlichen dem - wie gesehen unzureichenden - Anschreiben vom November 2014 entspricht. Die nach § 203 Abs. 5 VVG erforderlichen Angaben sind aber in den anliegenden Informationen zur Beitragsanpassung enthalten. Da keine weiteren Feststellungen zum Inhalt der Mitteilung zu erwarten sind, kann der Senat diese Frage selbst beantworten. Die Prämienanpassung wird dort damit begründet, dass eine solche bei einer <strong>bestimmten Abweichung</strong> der erforderlichen von den kalkulierten "Leistungsausgaben", d.h. den Versicherungsleistungen, erforderlich werde und dass dies zum 1. Januar 2017 <strong>in den gekennzeichneten Tarifen</strong> erfolgen müsse. Dem kann der Versicherungsnehmer mit hinreichender Klarheit als Ergebnis der Überprüfung <strong>für den konkreten Tarif entnehmen, dass für diesen eine solche Abweichung eingetreten ist</strong>.“</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Auch in dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20.10.2021 – IV ZR 148/20 – (juris-Rz. 30) kommt dies zum Ausdruck. Dort heißt es (Hervorhebungen durch den Senat):</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">„Nach § 203 Abs. 5 VVG müssen nicht alle Gründe der Beitragserhöhung genannt werden, sondern nur die für die Prämienanpassung entscheidenden Umstände (vgl. Senatsurteil vom 16. Dezember 2020 - IV ZR 294/19, BGHZ 228, 56 Rn. 29). In diesem Sinne <strong>entscheidend ist nur, ob eine Veränderung der erforderlichen gegenüber den kalkulierten Versicherungsleistungen oder Sterbewahrscheinlichkeiten die</strong> in § 155 Abs. 3 und 4 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) oder in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen <strong>geregelten Schwellenwerte überschreitet oder nicht</strong> (Senatsurteil vom 16. Dezember 2020 aaO). Dagegen ist es ohne Bedeutung, ob die über den Schwellenwert hinausreichende Veränderung in Gestalt einer Steigerung oder einer Verringerung eingetreten ist. Die Überprüfung der Prämie wird unabhängig von diesem Umstand ausgelöst, sobald der Schwellenwert überschritten wird. Da die Mitteilungspflicht nicht den Zweck hat, dem Versicherungsnehmer eine Plausibilitätskontrolle der Prämienanpassung zu ermöglichen (vgl. Senatsurteil vom 16. Dezember 2020 aaO Rn. 36), ist ein Hinweis des Versicherers darauf, in welche Richtung sich die maßgebliche Rechnungsgrundlage verändert hat, auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zur Information des Versicherungsnehmers erforderlich.“</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der redaktionelle Leitsatz zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21.07.2021 – IV ZR 191/20 – der Fachzeitschrift NJW-RR 2021, 1260 fasst die nach diesem Urteil erforderlichen Angaben im Mitteilungsschreiben nach Auffassung des Senats zutreffend zusammen:</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">„Die Mitteilung der maßgeblichen Gründe für die Prämienfestsetzung erfordert die Angabe der Rechnungsgrundlage, deren nicht nur vorübergehende Veränderung die Neufestsetzung (veranlasst) hat, sowie die, dass die Veränderung den maßgeblichen Schwellenwert überschritten hat. Die Angabe des Schwellenwerts selbst oder eine Angabe zur Höhe der Überschreitung ist jedoch nicht erforderlich.“</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Diese Anforderungen werden auch durch die Ausführungen in dem jüngst ergangenen Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22.06.2022 – IV ZR 253/20 –, zitiert nach: juris) bestätigt, in dem es heißt (juris-Rz. 24, 25, Hervorhebung durch den Senat):</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">„Nach der im Ergebnis aus Rechtsgründen nicht zu beanstandenden Beurteilung des Berufungsgerichts konnte ein Versicherungsnehmer den Mitteilungen nicht mit der gebotenen Klarheit entnehmen, dass eine Veränderung der Rechnungsgrundlage Versicherungsleistungen über dem geltenden Schwellenwert die konkreten Beitragserhöhungen ausgelöst hat. Die Schreiben aus November 2009 und 2010 sowie Februar 2013 enthalten keine Angaben dazu, welche der beiden Rechnungsgrundlagen sich verändert habe. Aber auch für das Schreiben vom Februar 2017 ist die Annahme des Berufungsgerichts, es fehle an einem eindeutigen Hinweis darauf, welche geänderte Rechnungsgrundlage für die konkrete Prämienerhöhung maßgeblich gewesen sei, nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht entnimmt diesen Schreiben nur die Erwähnung gestiegener Gesundheitskosten; <strong>dass im Schreiben</strong> vom November 2010 stattdessen <strong>der</strong> auch in § 203 Abs. 2 Satz 3 VVG enthaltene <strong>Begriff "Versicherungsleistungen" verwendet wird, ist ohne Bedeutung für die tragenden Erwägungen des Berufungsgerichts. Das bewertet es rechtsfehlerfrei dahingehend, daraus ergebe sich nicht, dass es einen vorab festgelegten Schwellenwert für eine Veränderung der Leistungsausgaben gibt, dessen Überschreitung die hier in Rede stehende Prämienanpassung ausgelöst hat.</strong> Für dieses Ergebnis kam es bezüglich aller vier Schreiben nicht darauf an, dass das Berufungsgericht - insoweit abweichend von den zuvor zutreffend bestimmten Anforderungen an die Begründung einer Prämienanpassung - darüber hinaus auch das Fehlen der Angabe beanstandet hat, ob der gesetzliche oder ein in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen festgelegter Schwellenwert überschritten wurde.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks"><strong>Soweit das Berufungsgericht die Angabe vermisst, welche konkreten Tarife von diesen Veränderungen betroffen seien, bezieht sich dies auf die Überschreitung einer bestimmten Rechnungsgrundlage im festgelegten Umfang als Voraussetzung der Prämienanpassung, und nicht auf die Frage, in welchem Tarif die Beklagte eine Prämienanpassung vorgenommen hat.</strong> Entgegen der Ansicht der Revision ist es daher nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die beigefügten Nachträge zum Versicherungsschein, in denen für jeden Tarif die jeweilige Prämienerhöhung aufgeführt war, nicht als ausreichende Mitteilung angesehen hat.“</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Senat vermag nicht die Sichtweise zu teilen, der Hinweis auf einen vorher festgelegten Schwellenwert verschaffe dem Versicherungsnehmer keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Denn erst durch einen solchen Hinweis wird dem Versicherungsnehmer vor Augen geführt, dass die Frage, ob die Abweichung einen eine Prämienüberprüfung erforderlich machenden Umfang erreicht, nicht im Ermessen des Versicherers oder des von ihm beauftragten Treuhänders steht, sondern objektiv zu bemessen ist und daher auch – wenn auch nicht vom Versicherungsnehmer selbst – kontrolliert werden könnte.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Den genannten Anforderungen genügt die Anpassungsmitteilung aus November 2016, bestehend aus einem Mitteilungsschreiben und einem Informationsblatt „Wichtige Hinweise zu Ihrer Kranken- und Pflegeversicherung“ (Anlagenkonvolut B2, Bl. 199 ff. LGA) nicht.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">In dem als Schreiben gestalteten Nachtrag zum Versicherungsschein vom 21.11.2016 (Anlagenkonvolut B2, Bl. 199 f. LGA) heißt es auszugsweise:</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">(…)</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Leistungen und Beiträge müssen sich stets die Waage halten. Um das sicher zu stellen, sind alle Versicherer gesetzlich dazu verpflichtet, einmal im Jahr die kalkulierten mit den tatsächlich ausgezahlten Leistungen zu vergleichen. Dieser Vergleich hat ergeben, dass die Beiträge verschiedener Tarife angepasst werden müssen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Weitere Informationen zur Beitragsanpassung finden Sie im beiliegenden Merkblatt.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">(…)</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Dem Schreiben lässt sich nicht entnehmen, dass es  einen vorab festgelegten Schwellenwert für eine Veränderung der Leistungsausgaben gibt, dessen Überschreitung die streitgegenständliche Prämienanpassung ausgelöst hat.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">In dem beigefügten Beiblatt „Wichtige Hinweise zu Ihrer Kranken- und Pflegeversicherung“ (Anlagenkonvolut B2, Bl. 203 f. LGA) heißt es u.a.:</p> <span class="absatzRechts">42</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Was sind die rechtlichen Grundlagen für eine Beitragsanpassung?</p> </td> <td><p>Die rechtlichen Grundlagen für die Beitragsänderungen ergeben sich u.a. aus § 203 Abs. 2 Versicherungsvertragsgesetz (VVG), § 155 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) und § 8b Abs. 1.1 der Musterbedingungen 2009 des Verbandes der Privaten Krankenversicherung (MB/KK09 bzw. MB/KT09).</p> </td> </tr> <tr><td><p>Weshalb müssen die Beiträge angepasst werden?</p> </td> <td><p>Um für ein ständiges Gleichgewicht zwischen Beiträgen und Leistungen zu sorgen, ist im Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) vorgeschrieben, jährlich die tatsächlich erforderlichen mit den kalkulierten Leistungen zu vergleichen. Weichen die Werte in einem bestimmten, gesetzlich festgelegten Umfang voneinander ab, müssen die Beiträge angepasst werden. Dabei sind wir verpflichtet, neben den Leistungsausgaben auch alle anderen Rechnungsgrundlagen zu aktualisieren. Übrigens: Ohne die Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders ist eine Beitragsanpassung nicht möglich.</p> </td> </tr> </tbody> </table> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Aus den „Wichtigen Hinweisen“ wird zwar hinreichend klar, dass es einer Veränderung in einem bestimmten gesetzlich festgelegten Umfang – also der Überschreitung eines vorab gesetzlich festgelegten Schwellenwerts – bedarf. Es fehlt es aber an dem erforderlichen konkreten Bezug zu dem Tarif des Klägers. Davon, dass der Versicherungsnehmer den Rückschluss ziehen muss, dass die in dem Beiblatt erwähnte Abweichung auch für den im Nachtrag genannten Tarif überschritten sei, weil die Beklagte sonst wohl die Anpassung nicht vornehmen würde bzw. nicht vornehmen dürfte, kann nicht ausgegangen werden, weil ein solcher Rückschluss nicht auf der Hand liegt. Deshalb genügt die allgemein gehaltene Mitteilung in dem Beiblatt nach Maßgabe der dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – vergleichbar mit der bloßen Wiedergabe des Gesetzestextes – den Anforderungen von § 203 Abs. 5 VVG nicht. So hat der Bundesgerichtshof im Urteil vom 09.02.2022 – IV ZR 337/20 – (juris-Rz. 30) ausdrücklich ausgeführt, dass die Ausführungen in den dort zugrundeliegenden beiliegenden Informationen nur in allgemein gehaltener Form die jährliche Durchführung der Prämienüberprüfung beschrieben, ohne das Ergebnis der aktuellen Überprüfung mitzuteilen, und der Versicherungsnehmer daraus nicht den Schluss ziehen müsse, dass die beschriebenen gesetzlichen Voraussetzungen einer Prämienerhöhung in diesem Fall – also im konkreten Tarif des Klägers – eingetreten sind. Der Bundesgerichtshof hat sodann gerade keine Gesamtschau aus dem Mitteilungsschreiben und den beiliegenden Information vorgenommen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Eine andere Betrachtung veranlassen auch die von der Beklagten mit der Berufungserwiderung als Anlagen B14-1, B14-2 und B14-3 (Bl. 95 ff. GA) vorgelegten Entscheidungen bzw. Hinweise anderer Oberlandesgerichte nicht.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Soweit das OLG Hamm in seinem Beschluss vom 01.12.2021– 20 U 285/21 – (Anlage B14-1, Bl. 95 ff. GA) die Anpassung der Beklagten zum 01.01.2017 für formell wirksam erachtet hat, verlangt das OLG Hamm in dem Beschluss – anders als der Senat – weder die Mitteilung, dass ein vorab festgelegter Schwellenwert überschritten sein muss, noch einen konkreten Bezug zu den einzelnen Tarifen. Dass sich ein Bezug zum Tarif des Versicherungsnehmers für diesen erkennen lassen muss, ergibt sich indes – wie bereits ausgeführt worden ist – aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unter diesem Gesichtspunkt erfolgt in jenem Beschluss nicht.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Aus dem Hinweisschreiben des OLG Koblenz vom 27.12.2021 – 10 U 1559/21 – (Anlage B14-1, Bl. 102 f. GA) lässt sich bereits nicht entnehmen, welche Anpassungsmitteilung mit welchen Inhalten dort zugrunde liegt.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Das OLG München hat in seinem Urteil vom 17.12.2021 – 25 U 5627/21 – (Anlage B14-1, Bl. 104 ff. GA) keine Ausführungen zu einer Beitragsanpassung zum 01.01.2017 gemacht. Anders als der Senat prüft das OLG München in der Entscheidung nicht, ob in dem Mitteilungsschreiben (zu einer anderen Beitragsanpassung) auch darüber informiert werde, ob es einen vorab festgelegten Schwellenwert gibt, der überschritten worden ist. Soweit es auf dann auf „Wichtige Informationen“ Bezug nimmt, die den hier vorliegenden vergleichbar sind, verlangt es keinen Bezug zu der konkreten Tariferhöhung, weil es diesen bereits durch das Mitteilungsschreiben selbst für hergestellt sieht, wovon jedoch – wie ausgeführt – nicht ausgegangen werden kann.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Das OLG Stuttgart verhält sich in seiner Hinweisverfügung vom 07.01.2022 – 7 U 349/21 – (Anlage B14-2, Bl. 112 ff. GA) nicht zu einer zum 01.01.2017 erfolgten Beitragsanpassung. Soweit es zur dortigen Beitragsanpassung in grundsätzlicher Hinsicht ausführt, es reiche die Mitteilung aus, dass die Ausgaben für Versicherungsleistungen gestiegen seien, während es zur Sicherung des mit § 203 Abs. 5 VVG verfolgten Informationszwecks nicht erforderlich sei, dem Versicherungsnehmer die Rechtsgrundlage des geltenden Schwellenwerts oder die genaue Höhe der Veränderung der Rechnungsgrundlage mitzuteilen, entspricht dies im Wesentlichen der Auffassung, dass die Angabe, dass es einen vorab festgelegten Schwellenwert gibt, der überschritten sein muss, nicht erforderlich sei. Denn auch so werde dem Versicherungsnehmer im konkreten Einzelfall in ausreichender Weise gezeigt, was der Anlass für die konkrete Prämienanpassung gewesen sei. Maßgeblicher Zweck der Erhöhungsmitteilung sei letztlich nur die Klarstellung des Anlasses der Beitragsanpassung. Dies vermag nicht zu überzeugen. Es wird nicht deutlich, weshalb das OLG Stuttgart davon ausgeht, auch ohne die Angabe, dass eine Veränderung der Versicherungsleistungen über einen vorab festgelegten Schwellenwert hinaus die Prämienanpassung ausgelöst habe – wie dies von Gesetzes wegen erforderlich ist –, werde für den Versicherungsnehmer deutlich, was Anlass der Beitragsanpassung sei.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Das OLG Dresden vertritt in seinem Beschluss vom 19.01.2022 – 6 U 2309/21 – (Anlage B14-3, Bl. 114 ff. GA) die Auffassung, dass eine auf die konkrete Prämienanpassung bezogene Begründung erforderlich sei, in der anzugeben sei, bei welcher Berechnungsgrundlage (Versicherungsleistungen oder Sterbewahrscheinlichkeit) die nicht nur vorübergehende Veränderung, welche die Prämienanpassung ausgelöst habe, eingetreten sei. Sodann hält es die Mitteilung nebst Merkblatt und Nachtrag – wohl in der Zusammenschau – für ausreichend, ohne sich näher damit auseinanderzusetzen, wodurch der Bezug zwischen den Erläuterungen im Merkblatt und dem konkreten Tarif des Versicherungsnehmers hergestellt wird.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">c)</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Eine Heilung der formellen Unwirksamkeit durch die nachgeholten Angaben in der Klageerwiderung kommt nicht in Betracht. In dem streitgegenständlichen Tarif A ist zum 01.01.2020 eine weitere Beitragsanpassung erfolgt, die erstinstanzlich noch streitgegenständlich war, deren Unwirksamkeit der Kläger mit der Berufung jedoch nicht mehr geltend macht, so dass von deren Wirksamkeit auszugehen ist. Ab dem 01.01.2020 bestand mithin aus anderen Gründen als durch Nachbegründung, die erst zeitlich später erfolgt ist, ein wirksamer Rechtsgrund für die Beitragszahlung in diesem Tarif.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Diese wirksame Folgeanpassung zum 01.01.2020 führt dazu, dass die Feststellung der Unwirksamkeit der Beitragserhöhung zum 01.01.2017 auf den Zeitraum bis zum 31.12.2019 zu begrenzen war.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">2.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Der Berufungsantrag zu 2) ist begründet. Dem Kläger steht der von ihm begehrte Zahlungsanspruch  in Höhe von 1.584,00 € betreffend die Rückzahlung der im Zeitraum vom 01.01.2017 bis 01.12.2018 auf die streitgegenständliche Beitragserhöhung geleisteten Prämienanteile nebst Prozesszinsen zu.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der Unwirksamkeit der Prämienanpassung im Tarif A zum 01.01.2017 kann der Kläger die Rückzahlung der auf die Erhöhung in der von ihm geltend gemachten Zeit vom 01.01.2017 bis 01.12.2018 geleisteten Prämienanteile gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. BGB beanspruchen. Der Anspruch berechnet sich wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">24 Monate x 66,00 € = 1.584,00 €.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Ein Leistungsverweigerungsrecht gemäß § 214 Abs. 1 BGB steht der Beklagten bezüglich der in der Berufung noch streitgegenständlichen Zahlungsansprüche nicht zu. Die von ihr erhobene Einrede der Verjährung bleibt insoweit ohne Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die für auf Bereicherungsrecht (§ 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. BGB) gegründete Ansprüche des Klägers geltende regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB begann gemäß § 199 Abs. 1 BGB jeweils mit dem Schluss des Jahres, in dem die ohne Rechtsgrund geleisteten Prämienanteile gezahlt wurden. Mit der Zahlung des jeweiligen nicht geschuldeten Prämienanteils entstand der korrespondierende Rückzahlungsanspruch. Damit begann für die im Jahr 2017 gezahlten Prämienanteile die Verjährung am 31.12.2017 zu laufen. Verjährung konnte mithin frühestens mit Ablauf des 31.12.2020 eintreten.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die Verjährungsfrist wurde durch die Klageerhebung (§ 253 ZPO) im vorliegenden Verfahren vor ihrem Ablauf gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist am 09.12.2020 (Bl. 1 LGA) beim Landgericht eingegangen. Dass die Zustellung der Klage ausweislich der in der Gerichtsakte des Landgerichts vorhandenen Postzustellungsurkunde (Bl. 135 f. LGA) erst am 19.01.2021 erfolgte, steht der Hemmung nicht entgegen. Der für die Hemmung maßgebliche Zeitpunkt wurde vorliegend gemäß § 167 ZPO wegen einer „demnächst“ erfolgten Zustellung der Klage auf den Zeitpunkt des Klageeingangs bei Gericht vorverlegt.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Ob eine Zustellung "demnächst" im Sinne von § 167 ZPO erfolgt ist, beurteilt sich nach dem Sinn und Zweck dieser Regelung. Danach soll die Partei bei der Zustellung von Amts wegen vor Nachteilen durch Zustellungsverzögerungen innerhalb des gerichtlichen Geschäftsbetriebs bewahrt werden. Dagegen sind der Partei die Verzögerungen zuzurechnen, die sie oder ihr Prozessbevollmächtigter bei gewissenhafter Prozessführung hätte vermeiden können. Eine Zustellung "demnächst" nach Eingang des Antrags oder der Erklärung bedeutet daher eine Zustellung innerhalb einer nach den Umständen angemessenen, selbst längeren Frist, wenn die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter unter Berücksichtigung der Gesamtsituation alles Zumutbare für die alsbaldige Zustellung getan hat. Dabei sind dem Zustellungsveranlasser zuzurechnende Verzögerungen von bis zu 14 Tagen regelmäßig "geringfügig" und deshalb hinzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 03.09.2015 – III ZR 66/14 –, zitiert nach: juris-Rz. 15).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat keine nicht mehr nur geringfügige Verzögerung der Zustellung zurechenbar selbst verursacht. Nach Eingang der Klage bei Gericht ist am 11.12.2020 (Bl. II Kostenheft, LGA), einem Freitag, die Kostenvorschussanforderung erstellt worden. Der Kostenvorschuss ging am 07.01.2021, mithin weniger als 4 Wochen nach dem 11.12.2020, bei Gericht ein (Bl. VI Kostenheft, LGA). Unter Berücksichtigung dessen, dass der Partei für die Erledigung der Einzahlung ein angemessener Zeitraum zuzugestehen ist (BGH, Urteil vom 29.09.2017 – V ZR 103/16 –, juris-Rz. 9: mindestens eine Woche), der Kläger durch einen Rechtsanwalt vertreten wird, der ihm die Vorschussanforderung erst einmal zuleiten musste, und zwischen Vorschussanforderung und Eingang der Zahlung die Weihnachtsfeiertage und der Jahreswechsel lagen, ist eine beachtliche dem Kläger zurechenbare Verzögerung nicht eingetreten.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Der weitere Zeitablauf ab Zahlungseingang bis zur Zustellung der Klage, die ausweislich der Postzustellungsurkunde (Bl. 135 f. LGA) am 19.01.2021 erfolgte, lag in der Sphäre des Gerichts begründet. Die Einleitungsverfügung datiert vom 14.01.2021 (Bl. 126 f. LGA).</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">c)</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger steht ein Anspruch auf Verzinsung ab dem 20.01.2021 gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB zu. Die Klagezustellung erfolgte am 19.01.2021.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">3.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Der Berufungsantrag zu 3) hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg, im Übrigen ist er unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist aus §§ 812, 818 Abs. 1 BGB zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet, die von ihr in der Zeit bis zum 19.01.2021 aus den vom Kläger auf die streitgegenständliche Prämienerhöhung gezahlten Prämienanteile gezogen worden sind. Die Feststellung dieser Verpflichtung kann der Kläger grundsätzlich verlangen. Die zeitliche Beschränkung auf dem 19.01.2021 folgt daraus, dass die herauszugebenden Nutzungen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Urteil vom 16.12.2020 – IV ZR 294/19 –, juris-Rz. 58), der der Senat folgt, auf die Zeit vor Eintritt der Verzinsungspflicht für die Hauptforderung beschränkt ist.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Ein Anspruch auf Verzinsung bezüglich der gezogenen Nutzungen, für die eine Herausgabepflicht der Beklagten festgestellt wird, besteht nicht (vgl. BGH, Urteil vom 16.12.2020 – IV ZR 294/19 –, juris-Rz. 59).</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">4.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Der Berufungsantrag zu 4) ist teilweise begründet.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger steht ein Zahlungsanspruch in Höhe von 249,40 € aus § 280 BGB zu.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">In der unberechtigten Geltendmachung nicht geschuldeter Erhöhungsbeträge aus der unwirksamen Prämienanpassung bei der Beitragsabrechnung liegt eine zum Schadensersatz verpflichtende Pflichtverletzung seitens der Beklagten, deren Verschulden nach  § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB vermutet wird (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 09.02.2022 – IV ZR 259/20, juris-Rz. 20).</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat in der Klageschrift vorgetragen, mit anwaltlichem Schreiben vom 24.11.2020 die Unwirksamkeit der – erstinstanzlich streitgegenständlichen – Prämienerhöhungen geltend gemacht und die Beklagte unter Setzung einer angemessenen Frist zur Rückzahlung der auf diese Erhöhungen gezahlten Prämienanteile aufgefordert zu haben. Da die Beklagte diesem Vortrag nicht entgegen getreten ist, gilt er als unstreitig.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg bleibt der Einwand der Beklagten, dass der Versuch einer außergerichtlichen Interessenwahrnehmung erkennbar sinnlos gewesen sei, weil die Beklagte vorgerichtlich auf zahlreiche vergleichbare Schreiben nie eingegangen und es nie zu außergerichtlichen Einigungen gekommen sei, was die Prozessbevollmächtigten des Klägers gewusst hätten.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich umfasst der dem Geschädigten zustehende Schadensersatzanspruch auch den Ersatz der durch das Schadensereignis erforderlich gewordenen Rechtsverfolgungskosten, § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB. Der Schädiger hat jedoch nicht schlechthin alle durch das Schadensereignis adäquat verursachten Rechtsanwaltskosten zu ersetzen, sondern nur solche, die aus der maßgebenden Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf seine spezielle Situation zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig waren (vgl. BGH, Urteil vom 28.05.2013, XI ZR 148/11, juris-Rz. 35). Eine solche Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit ist vorliegend gegeben. Der Kläger hat nach seinem Vortrag mit dem vorgerichtlichen Rechtsanwaltsschreiben nicht (nur) den Versuch einer gütlichen Einigung unternommen, sondern auch die Beklagte unter Setzung einer angemessenen Frist zur Rückzahlung der auf diese Erhöhungen gezahlten Prämienanteile aufgefordert. Selbst wenn die Beklagte in sämtlichen Fällen zuvor nie auf vorgerichtliche Aufforderungen eingegangen war, war nicht auszuschließen, dass sie in diesem Fall – möglicherweise in Ansehung bisheriger gegen sie ergangener gerichtlicher Entscheidungen – anders reagieren würde. Ohne außergerichtliche Aufforderung und bei sofortiger Klage liefe der Versicherungsnehmer Gefahr, dass der Versicherer die Ansprüche in einem Prozess sofort anerkennt und er, der Versicherungsnehmer, die Kosten tragen muss, auch wenn er in der Sache obsiegt. Ungeachtet dessen ist es für den Senat – aus der maßgeblichen Perspektive des konkreten Versicherungsnehmers – unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit eine nachvollziehbare Entscheidung, einem Vertragspartner, mit dem man eine langfristige Vertragsbeziehung hat und weiterhin haben will, zunächst außergerichtlich die Möglichkeit zu geben, sich mit den gegen ihn erhobenen Forderungen auseinanderzusetzen und darauf zu reagieren. Die vorgerichtliche Beauftragung seiner Prozessbevollmächtigten war im Übrigen auch angesichts der für den Kläger nicht ohne weiteres überschaubaren versicherungsrechtlichen Natur des Falls zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Zu ersetzen sind von der Beklagten jedoch nur vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltskosten in Höhe von 249,40 €.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Als Gegenstandswert ist die Höhe der berechtigten Forderung von 1.584,00 € zugrunde zu legen. Die Klageabweisung bezüglich der anderen drei Erhöhungen und der diesbezüglichen Rückzahlungsansprüche ist in Rechtskraft erwachsen.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Der Senat erachtet lediglich den Ansatz der Regelgebühr (1,3 Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG) nebst Post- und Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV RVG) sowie Mehrwertsteuer (Nr. 7008 VV RVG) als gerechtfertigt. Eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr von 1,3 hinaus kann nur gefordert werden, wenn eine Tätigkeit umfangreich und schwierig und daher „überdurchschnittlich“ war (vgl. BGH, Urteil vom 13.01.2011 – IX ZR 110/10 –, juris-Rz. 16; BGH, Urteil vom 11.07.2012 – VIII ZR 323/11 –, juris-Rz. 8). Ob eine Rechtssache als (wenigstens) durchschnittlich anzusehen ist, bestimmt sich gemäß § 14 Abs. 1 RVG im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. Die Tätigkeit der Rechtsanwälte des Klägers war nach diesen Kriterien jedenfalls nicht überdurchschnittlich aufwändig. Der vorliegende Sachverhalt ist weder in tatsächlicher noch rechtlicher Hinsicht außergewöhnlich, sondern entspricht vergleichbaren Sachverhalten, die – gerichtsbekannt – von den Prozessbevollmächtigten des Klägers im Zusammenhang mit der Wirksamkeit von Änderungsmitteilungen hinsichtlich Beitragsanpassungen in der privaten Krankenversicherung regelmäßig bearbeitet werden. Angesichts dieser gerichtsbekannten Tätigkeit der klägerischen Prozessbevollmächtigten in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle erfordert hier auch die anwaltliche Tätigkeit keinen überdurchschnittlichen Einsatz. Damit ist ein höherer Ansatz als 1,3 für die Geschäftsgebühr nicht gerechtfertigt.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon errechnen sich die von der Beklagten zu ersetzenden Anwaltskosten, die im Jahr 2020 entstanden sind, so dass die damalige Gebührenhöhe (1 Gebühr: 150,00 €) maßgeblich ist, wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">1,3 Geschäftsgebühr                                                         195,00 €</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Post- und Telekommunikationspauschale                20,00 €</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">16 % USt.                                                                                    <span style="text-decoration:underline">  34,40 €</span></p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Insgesamt                                                                                     249,40 €</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">c)</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Verzinsung dieser Forderung ab Rechtshängigkeit, mithin ab dem 20.01.2021, aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB zu.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">5.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Die Kostentscheidungen für das erstinstanzliche Verfahren und die Berufungsinstanz folgen aus § 92 Abs. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Zu Lasten des Klägers war bei der Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens zu berücksichtigen, dass er vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten geltend gemacht hat, die die Beklagte ihm zum überwiegenden Teil nicht schuldet.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Zwar handelt es sich bei vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten regelmäßig um Nebenforderungen, die bei der Festsetzung des Streitwerts und auch – im Grundsatz – bei der Bemessung der Kostenquote außer Ansatz zu belassen sind. Abweichendes gilt indes in Streitfällen, in denen die Nebenforderungen – wie hier die vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten – wirtschaftlich eine in Relation zur Hauptforderung erhebliche Position darstellen (z.B. BGH NJW 1988, 2173, 2175; OLG Frankfurt, Urteil vom 08.05.2019 – 17 U 197/18 –, juris-Rz. 42; OLG Koblenz, Urteil vom 30.06.2020 – 3 U 123/20 –, juris-Rz. 68; Zöller/<em>Herget</em>, ZPO, 34. Aufl., 2022, § 92 Rz. 3 und 11; Anders/Gehle/<em>Gehle</em>, ZPO, 80. Aufl. 2022, § 92 Rz. 29 jeweils m. w. N.). Auch wenn im Einzelfall zweifelhaft sein mag, ab wann eine Nebenforderung in diesem Sinne als wirtschaftlich erheblich angesehen werden muss, ist dies jedenfalls dann anzunehmen, wenn die fragliche Nebenforderung mehr als 10 % des fiktiven Streitwertes ausmacht.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall ist jedoch zu beachten, dass es sich bei den geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten von 1.154,20 € zwar in erster Instanz vollständig, im Berufungsverfahren jedoch noch im Umfang von 550,42 € um Nebenforderungen handelt.  Die Geltendmachung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten erhöht als Nebenforderung den Streitwert nur insoweit nicht, soweit er neben der Hauptforderung geltend gemacht wird, für deren Verfolgung Rechtsanwaltskosten angefallen sein sollen; soweit die Hauptforderung nicht Prozessgegenstand ist, handelt es sich bei dem geltend gemachten Anspruch auf Ersatz von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten hingegen nicht mehr um eine Nebenforderung, weil es ohne Hauptforderung keine Nebenforderung gibt (BGH, Beschluss vom 07.07.2020 – VI ZB 66/19 –, juris-Rz. 6 sowie Beschluss vom 20.05.2014 – VI ZB 49/12 –, juris-Rz. 5 f.; Zöller/<em>Herget</em>, ZPO, 34. Aufl., 2022, § 4 Rz. 13). Das hat der BGH auch explizit für die auch hier gegebene Konstellation entschieden, wonach die geltend gemachten vorprozessualen Anwaltskosten im Berufungsverfahren als Streitwert erhöhender Hauptanspruch zu berücksichtigen sind, soweit dem Kläger die zugrunde liegende Hauptforderung in erster Instanz aberkannt worden ist und er sein Begehren mit der Berufung insoweit nicht weiterverfolgt (BGH, Beschluss vom 26.03.2013 – VI ZB 53/12 –, juris-Rz. 5 f.)</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall verfolgt der Kläger seine Hauptforderung im Berufungsverfahren nur noch teilweise weiter, macht aber weiter die gesamten vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten geltend, so dass diese nun nicht mehr insgesamt als Nebenforderung angesehen werden können. Nach der Berechnung des Klägers entfallen auf die im Berufungsverfahren allein noch streitgegenständliche Beitragsanpassung im Tarif A zum 01.01.2017 vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten ausgehend von einem Gegenstandswert in Höhe von 4.356,00 € (1.584,00 € +  2.772,00 € [42 x 66,00 €], weil er erkennbar für die Feststellung den vorgenannten Betrag in den Gegenstandswert mit eingerechnet hat), so dass sich ausgehend von der von ihm in Ansatz gebrachten 1,5 Geschäftsgebühr (1 Gebühr: 303,00 €) zzgl. Post-und Telekommunikationspauschale und 16% USt eine Forderung in Höhe von 550,42 € errechnet. Insoweit handelt es sich (auch) im Berufungsverfahren um eine den Streitwert nicht erhöhende Nebenforderung. Bei dem Differenzbetrag in Höhe von 603,78 €, der sich zu der vom Kläger mit dem Berufungsantrag zu 4) geltend gemachten Forderung (1.154,20 €) ergibt, handelt es sich im Berufungsverfahren nunmehr um eine – streitwerterhöhende –  Hauptforderung.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">c)</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Für die zweitinstanzliche Kostenquote bedeutet das Folgendes: Die vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten, die im Berufungsverfahren in Höhe von 550,42 € als Nebenforderung anzusehen sind, entsprechen gerundet 20% des fiktiven Streitwertes, der sich ausgehend vom Ansatz des Zahlungsantrags (1.584,00 €) sowie der teilweise als Neben-, teilweise als Hauptforderung geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten (1.154,20 €) auf 2.738,20 € berechnet. Das Unterliegen mit Rechtsanwaltskosten in Höhe von 904,80 € (1.154,20 € abzügl. berechtigt geltend gemachter 249,40 €) entspricht gerundet 33% des fiktiven Streitwerts. Bei einer wirtschaftlichen Bedeutung der Nebenforderung solchen Ausmaßes ist es angemessen, dies bei der Kostenquote zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">d)</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Diese Erwägung gilt entsprechend für die Verteilung der Kosten des landgerichtlichen Verfahrens, in dem die vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten insgesamt als Nebenforderung anzusehen sind, gerundet 14% des fiktiven Streitwertes entsprechen, der sich für das landgerichtliche Verfahren ausgehend von dem vom Landgericht zutreffend festgesetzten Streitwert (7.294,22 €) unter Hinzurechnung der als Nebenforderung geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten (1.154,20 €) auf 8.448,42 € beläuft; das Unterliegen mit Rechtsanwaltskosten in Höhe von 904,80 € entspricht dort gerundet 11% des fiktiven Streitwerts.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">6.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Gründe, die Revision zuzulassen (§ 543 Abs. 2 ZPO), sind nicht gegeben.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Streitwert für das Berufungsverfahren:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Berufungsantrag zu 2):              1.584,00 €</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Berufungsantrag zu 4):              <span style="text-decoration:underline">   603,78 €</span> (vgl. Ziffer 5 der Entscheidungsgründe)</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks"><strong>gesamt:                                          2.187,78 €</strong></p>
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vg-stuttgart-2022-09-02-a-16-k-360322
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A 16 K 3603/22
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-29T10:01:41"
"2022-10-17T11:10:38"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 05.07.2022 gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29.06.2022 wird angeordnet.</p><p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> <table><tr><td>I.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragsteller wenden sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) im Bescheid vom 28.06.2022 angeordnete Abschiebung nach Kroatien im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Antragsteller sind afghanische Staatsangehörige und bis auf den Antragsteller zu 6., der in Athen geboren wurde, jeweils in Kabul geboren. Die Antragsteller zu 1. und 2. sind die Eltern der minderjährigen Antragsteller zu 3. bis 6.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Die Antragsteller reisten im Februar 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 18.03.2022 förmliche Asylanträge. Nach einer durchgeführten EURODAC-Anfrage erlangte das Bundesamt Erkenntnisse über eine Asylantragstellung in Griechenland, Kroatien und Slowenien. Nach Angabe der Antragsteller seien ihre Asylanträge in Griechenland abgelehnt worden, in Kroatien und Slowenien hätten sie jeweils Fingerabdrücke abgegeben. Das Bundesamt stellte daraufhin am 29.04.2022 Wiederaufnahmegesuche an Slowenien und Kroatien, wobei Slowenien dieses mit Schreiben vom 06.05.2022 unter Hinweis auf die Zuständigkeit Kroatiens ablehnte und Kroatien dem Wiederaufnahmegesuch mit Schreiben vom 12.05.2022 zustimmte. Die kroatischen Behörden wiesen in dem Schreiben darauf hin, dass das Asylverfahren mit Entscheidung vom 18.03.2022 eingestellt worden und diese Entscheidung seit dem 11.04.2022 bestandskräftig sei.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Bescheid vom 28.06.2022 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen. Weiter ordnete es die Abschiebung nach Kroatien an und verfügte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG, welches auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet wurde.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Hiergegen haben die Antragsteller am 05.07.2022 Klage erhoben (Az. - A 16 K 3602/22 -) und den vorliegenden Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Sie tragen vor, Kroatien sei für ihr Asylverfahren nicht zuständig, da sie von 2017 bis 2019 in Griechenland gelebt hätten. Einer Abschiebung nach Kroatien stünden aber auch außergewöhnliche, humanitäre Gründe entgegen, weil den Antragstellern in Kroatien eine menschenunwürdige Behandlung drohe, der sie als Familie mit mehreren minderjährigen Kindern besonders schutzlos ausgeliefert wären. Die Antragsteller seien bereits ohne Rechtsgrundlage von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben worden, wobei die Kinder von der kroatischen Polizei geschlagen worden seien. Weiter seien sie ohne Rechtsgrundlage inhaftiert und menschenunwürdig untergebracht worden. Aufgrund der bereits erfolgten rechtswidrigen Abschiebung sei davon auszugehen, dass die ordnungsgemäße Durchführung eines rechtsstaatlichen Mindeststandards genügenden Asylverfahrens in Kroatien nicht gewährleistet ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Antragsteller beantragen,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="7"/>die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Antragsgegnerin beantragt,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>den Antrag abzulehnen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Die Antragsgegnerin bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Dem Gericht liegen die Verwaltungsakten des Bundesamts vor, auf welche ebenso wie auf die Gerichtsakten - auch des Hauptsacheverfahrens - wegen des weiteren Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten verwiesen wird.</td></tr></table> <table><tr><td>II.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Die Berichterstatterin entscheidet über den Antrag gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG als Einzelrichterin.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) und hat auch in der Sache Erfolg.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage im Fall des hier einschlägigen gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob die Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten oder die, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Nach diesen Maßgaben überwiegt im vorliegenden Fall das private Interesse der Antragsteller gegenüber dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts. Nach summarischer Prüfung dürfte die Klage gegen die Abschiebungsanordnung voraussichtlich Erfolg haben, da diese rechtswidrig sein dürfte.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die Abschiebungsanordnung nach Kroatien wurde vom Bundesamt auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützt. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) zuständig ist. Art. 3 Abs. 1 der Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedsstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitel III der Dublin III-VO als zuständiger Mitgliedsstaat bestimmt wird. Diese Kriterien finden in der in Kapitel III der Dublin III-VO genannten Reihenfolge Anwendung, Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Bei Anwendung dieser Kriterien ist Kroatien für die Durchführung des Asylverfahrens nach Art. 18 Abs. 1 lit. d, Art. 23 ff. Dublin III-VO zuständig. Die EURODAC-Abfrage am 02.03.2022 hat ergeben, dass die Antragsteller am 29.12.2021 in Kroatien Asylanträge gestellt haben. Daraus folgt auch die Pflicht Kroatiens zur Wiederaufnahme der Antragsteller nach Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-Verordnung.Danach ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wiederaufzunehmen. Auch die durch die Stellung des Eilantrags am 05.07.2022 unterbrochene Überstellungsfrist von sechs Monaten (Art. 29 Dublin III-VO) ist eingehalten. Die Regelungen des Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 ff. Dublin III-VO gelten ungeachtet dessen, dass die Antragsteller auch in Griechenland und Slowenien Asylanträge gestellt haben (vgl. EuGH, Urteil vom 25.01.2018 - C-360/16 -, juris). Kroatien hat dem Wiederaufnahmegesuch form- und fristgerecht zugestimmt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Bundesrepublik Deutschland dürfte aber nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständig geworden sein. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO sieht vor, dass der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fortsetzt, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 GRCh mit sich bringen. Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat (vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 - und vom 06.06.2014 - 10 B 35.14 -, jeweils juris; im Anschluss an EuGH, Urteil vom 10.12.2013 - C-394/12 – (Abdullahi), juris Rn. 60 und 62). Im Rahmen des gemeinsamen Europäischen Asylsystems gilt nach dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich die Vermutung, dass Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte nach Art. 6 Abs. 1 EUV entsprechend behandelt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C 411/10 und C-493/10 -, juris).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 85, und vom 21.12.2011 - C-411/10, C-493/10 -, juris Rn. 86 ff.; BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris Rn. 6). Dabei ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, Urt. v. 19.3.2019, C-163/17, juris Rn. 88).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Hier bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsteller bei einer Überstellung nach Kroatien von einer Zurückweisung im Sinne eines „Refoulements“, also einer Rückführung ohne Prüfung des Asylbegehrens, betroffen sein werden.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>In allen Fällen einer Abschiebung eines Asylbewerbers aus einem Konventionsstaat in einen dritten Durchgangstaat ohne Prüfung des Asylantrags in der Sache muss der abschiebende Staat sorgfältig prüfen, ob tatsächlich Gefahr besteht, dass dem Asylbewerber im aufnehmenden Drittstaat der Zugang zu einem angemessenen Asylverfahren, das ihn vor Zurückweisung („Refoulement“) schützt, verweigert wird, wobei es nicht darauf ankommt, ob der aufnehmende Drittstaat EU- oder Konventionsstaat ist. Wenn sich ergibt, dass die insoweit bestehenden Garantien unzureichend sind, verpflichtet Art. 3 EMRK, den Asylbewerber nicht in den Drittstaat abzuschieben (EGMR, Urteil vom 21.11.2019 – 47287/15 (Ilias u. Ahmed/Ungarn), beck-online Rn. 134, NVwZ 2020, 937).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Ein Antragsteller, der vor Verlassen des Landes Kroatien seinen Asylantrag explizit zurückgezogen bzw. eine Zurückweisung erhalten hat, wird – entgegen den Vorgaben der Dublin III-VO – im kroatischen Asylverfahren als Folgeantragsteller behandelt (Asylum Information Database (AIDA), Country Report Croatia, Update 2021, S. 47; European Council for Refugees and Exiles (ECRE), Balkan route reversed, 15.12.2016, S. 30). Diese nationalen Vorschriften stellen einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 2 der Dublin III-VO dar. Danach müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein Antragsteller, der seinen Antrag vor Entscheidung in der Sache in erster Instanz zurückgezogen hat, berechtigt ist zu beantragen, das die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wird, oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht als Folgeantrag behandelt wird.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Durch die Behandlung als Folgeantragsteller besteht die Gefahr, dass Antragsteller keine Anhörung mehr erhalten und wesentliche Verfahrensgarantien, die sie vor einem „Refoulement“ schützen sollen, für sie nicht greifen. Denn bei Folgeanträgen muss das kroatische „Asylum Department“ innerhalb von 15 Tagen über die Zulässigkeit des Folgeantrags entscheiden. Eine Anhörung erhalten die Antragsteller nur, wenn die Behörde ihren Folgeantrag als zulässig bewertet. Tut sie dies (fälschlicherweise) nicht, laufen die Antragsteller Gefahr, keinen Schutz vor Zurückweisung („Refoulement“) zu erhalten (vgl. ECRE, Balkan route reversed, 15.12.2016, S. 30-31).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Nach der Auskunft der kroatischen Behörden vom 12.05.2022 wurde das Asylverfahren der Antragsteller eingestellt und die Entscheidung bestandskräftig. Dadurch besteht die Gefahr, dass ihr Asylbegehren als Folgeantrag gewertet wird und den Antragstellern in Kroatien der Zugang zu einer materiellen Prüfung ihres Asylbegehrens verwehrt wird.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass auch Anhaltspunkte für systemische Mängel des kroatischen Asylverfahrens aufgrund der gehäuften Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit sogenannten „Push-Backs“, d.h. dem gewaltsamen Abdrängen von Asylbewerbern über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, sowie auf Kettenabschiebungen bestehen (vgl. hierzu auch VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 - und Beschluss vom 25.02.2022 - 2 B 27/22 -, jeweils juris).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Aus diesem Grund haben auch andere Mitgliedstaaten bereits Überstellungen nach Kroatien mit Blick auf die Möglichkeit der Verletzung von Art. 3 EGrCh ausgesetzt. Laut eines CPT-Reports waren dies Italien (2019), Slowenien (2020) und die Schweiz (2020), in denen jeweils auch Gerichtsentscheidungen die Überstellungen untersagten (Council of Europe, Report tot he Croatian Government on the visit to Croatia carried out by the European Commettee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment from 10 to 14 August 2020 (CPT-Report 2020), S. 16). Das CPT wies Kroatien in diesem Report auch ausdrücklich darauf hin, dass das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung nach Artikel 3 EMRK die Verpflichtung beinhaltet, eine Person nicht in ein Land zu überstellen, in dem es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er/sie tatsächlich Gefahr läuft, gefoltert oder misshandelt zu werden (CPT-Report 2020, S. 16).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Im Jahr 2021 wurden 9114 Personen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zurückgedrängt, unter ihnen auch vulnerable Personen wie Familien mit Kindern. Eine beachtliche Anzahl dieser Personen sei Opfer von Kettenabschiebungen geworden (AIDA, Country Report Croatia, Update 2021, S. 24). Im Januar und Februar 2021 wurden 547 Personen von Kroatien zurückgedrängt, davon 45 im Wege einer Kettenabschiebung. 40 dieser Personen berichteten von Kettenabschiebungen aus Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina, weitere fünf Personen von Kettenabschiebungen aus Italien über Slowenien und Kroatien nach Bosnien-Herzegowina (Danish Refugee Council (DRC), Border Monitoring Bimonthly Snapshot, S. 2). Die betroffenen Personen berichteten unter anderem davon, dass ihre Wiederaufnahmedokumente, die die slowenische Polizei ihnen übergeben hatte, von der kroatischen Polizei vor ihren Augen zerrissen worden seien. All ihre Habseligkeiten, darunter auch Schuhe und Jacken, seien verbrannt, das Geld von der Polizei eingesteckt worden (DRC, Border Monitoring Bimonthly Snapshot, S. 4). Auch Kettenabschiebungen von Österreich über Slowenien und Kroatien nach Bosnien-Herzegowina sind hinreichend belegt. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark stellte hierzu fest:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="29"/>„Aus dem geschilderten Verfahrensablauf – keine Frage was die Personen in Österreich wollten – negieren des Wortes „Asyl“, Zurückweisung, weil keine Ausweispapiere vorhanden waren (Zeugenaussage Insp. O vom 02. März 2021) – kommt das Gericht zum Schluss, dass „Push-Backs“ in Österreich teilweise methodisch Anwendung finden. Der Umstand, dass die slowenische Polizei die Zurückgewiesenen offensichtlich ohne nähere Befragung übernimmt, lässt sich in der darauffolgenden Kettenabschiebung nach Kroatien und letztendlich nach Bosnien und Herzegowina begründen.“ (LVwG Steiermark, Urteil vom 01.07.2021 – LVwG 20.3-2725/2020-86).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Auch im CPT-Report werden gravierende Menschenrechtsverletzungen an der kroatischen Grenze festgestellt. Nach dem Report beklagten verschiedene Personen schwere Misshandlungen durch die Polizisten, während sie festgenommen und anschließend zurück über die Grenze gebracht worden seien. Unter anderem habe die Polizei knapp an ihnen vorbeigeschossen, während sie auf dem Boden gelegen hätten, oder sie seien mit gefesselten Händen in einen Fluss geworfen worden. Manche seien gezwungen worden, ohne Schuhe und nur mit Unterwäsche am Körper, manchmal ganz nackt, durch den Wald über die Grenze zu laufen (CPT Report 2020, S. 14).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Diese menschenrechtswidrigen Praktiken durch Polizeibeamte wurden auch bestätigt durch einen anonymen Beschwerdebrief von kroatischen Polizisten des Grenzschutzes an die kroatische Ombudsfrau, in dem die Polizeibeamten schilderten, dass sie von ihren Vorgesetzen angewiesen seien, jede Person ohne Papiere zurückzuschicken, keine Spuren zu hinterlassen, deren Geld zu nehmen, Mobiltelefone zu zerstören und die Flüchtlinge gewaltsam nach Bosnien zurückzuschicken (Border Violence Monitoring Network,https://www.borderviolence.eu/complaint-by-croatian-police-officers-who-are-being-urged-to-act-unlawfully/, besucht am 01.09.2022).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Frage, ob diese schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen seitens des kroatischen Staates auch Dublin-Rückkehrer (zum Zeitpunkt ihrer Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss) betreffen, kann hier aber zunächst offen bleiben.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</td></tr></table> <table><tr><td/></tr></table> </td></tr></table>
346,657
awghnrw-2022-09-02-1-agh-622
{ "id": 753, "name": "Anwaltsgerichtshof NRW", "slug": "awghnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 AGH 6/22
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-22T10:01:41"
"2022-10-17T11:10:25"
Beschluss
ECLI:DE:AWGHNRW:2022:0902.1AGH6.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Das Ablehnungsgesuch des Klägers gegen Rechtsanwalt A wird zurückgewiesen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat unter dem 07.03.2022 vor dem erkennenden Senat Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 03.02.2022 erhoben, durch den ihm aus Gründen des § 14 Abs.2 Nr.7 BRAO die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft widerrufen worden ist. Mit Verfügung des Vorsitzenden vom 21.03.2022 ist Rechtsanwalt A als Berichterstatter in dieser Sache bestimmt worden, ferner ist Termin zur mündlichen Verhandlung für den 24.06.2022 anberaumt worden. Die vom Kläger mit der Klage angekündigte Klagebegründung ist bis zum Terminstag nicht zu den Akten gereicht worden. Mit Schriftsatz vom 21.06.2022 hat der Kläger unter Bezugnahme auf ein ärztliches Attest vom 21.06.2022 beantragt, aufgrund einer akuten Erkrankung den Verhandlungstermin zu verlegen. Er hat geltend gemacht, an dem Senatstermin vom 24.06.2022 zwingend teilnehmen zu wollen. Das ärztliche Attest vom 21.06.2022 wies den Kläger voraussichtlich bis zum 01.07.2022 aufgrund einer orthopädischen Erkrankung als dienst- und verhandlungsunfähig aus, da sein Urteilsvermögen aufgrund der notwendigen Medikation eingeschränkt sein könnte. Der Berichterstatter hat dem Kläger unter dem 22.06.2022 aufgegeben, ein ergänzendes qualifiziertes Attest vorzulegen. Darauf hat der Kläger mit Schriftsatz vom 23.06.2022 eine ärztliche Bescheinigung überreicht, aus der hervorgeht, dass der Kläger unter einer Lumboischialgie mit starken Schmerzen leide, die mit der Gabe von Novamin, Dexamethason und Tilidin behandelt werde. Der Berichterstatter hat dem Kläger unter Bezugnahme auf die ärztliche Bescheinigung vom 23.06.2022 im Wege telefonischer Rücksprache mit dessen Verfahrensbevollmächtigten aufgegeben, bis zum 24.06.2022, 9.00 Uhr zu erläutern, weshalb der Kläger um Terminsaufhebung bitte. Zur Begründung hat der Berichterstatter ausgeführt, der Kläger habe seine Klage bislang nicht begründet, er sei anwaltlich vertreten und sein persönliches Erscheinen sei nicht angeordnet worden. Hierzu hat der Berichterstatter erläutert, eine Übersendung der schriftlich verfassten Verfügung vom 23.06.2022 per beA sei ihm aufgrund in seinem Büro aufgetretener technischer Probleme nicht möglich gewesen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit an den Anwaltsgerichtshof gerichteten Schriftsatz vom 23.06.2022 lehnt der Kläger den Berichterstatter, Rechtsanwalt A, wegen der Besorgnis der Befangenheit ab.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt er aus, es sei schon zweifelhaft, ob der Berichterstatter Bedenken gegen Inhalt und Richtigkeit des ärztlichen Attests vom 21.06.2022 hätte äußern dürfen, denn andere Gerichte hätten den Inhalt des Attests zur Begründung von Terminsverlegungsanträgen ausreichen lassen. Jedenfalls aber hätten an dem Inhalt der ärztlichen Bescheinigung vom 23.06.2022 keine Zweifel bestehen dürfen. Soweit der Berichterstatter nach Vorlage der Bescheinigung vom 23.06.2022 den Verhandlungstermin vom 24.06.2022 nicht auf „Biegen und Brechen“ habe aufrechterhalten können, habe er zur weiteren Begründung auf die fehlende Klagebegründung verwiesen, die jedoch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung hätte nachgeholt werden können. Der Berichterstatter habe in dem Telefonat vom 23.06.2022 keine vernünftigen und nachvollziehbaren Gründe benennen können, weshalb er nicht dafür Sorge trage, dass der Termin aufgehoben werde. Ohnehin sei zweifelhaft, ob der Berichterstatter befugt sei, allein über den Antrag auf Terminsaufhebung zu entscheiden und Erklärungen für das erkennende Gericht abzugeben. Ein Beschluss des Senats über die Übertragung von Befugnissen auf den Berichterstatter liege nicht vor. Aufgrund der nachhaltigen Weigerung des Berichterstatters, den Termin zu verlegen, verstärke sich die Besorgnis, dass der Berichterstatter ein vorgefasstes Ergebnis zum Ausgang des Rechtsstreits habe und er nicht mehr die notwendige Neutralität aufweise. Hinzu komme, dass der Berichterstatter regelmäßig über sein besonderes Rechtsanwaltsfach Auflagen des Gerichts versende. Damit dokumentiere er, dass er nicht hinreichend zwischen seiner originären Tätigkeit als Rechtsanwalt und potentieller Konkurrent sowie als Berichterstatter des erkennenden Gerichts differenziere.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Berichterstatter hat zu dem Ablehnungsgesuch Stellung genommen. Auf den Inhalt der Erklärung wird verwiesen. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das gegen Rechtsanwalt A als Berichterstatter gerichtete Ablehnungsgesuch des Klägers vom 23.06.2022 ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Gem. §§ 54 Abs.1 VwGO, 42 Abs.2 ZPO kann ein Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit setzt nicht voraus, dass der Richter tatsächlich befangen, voreingenommen oder parteiisch ist. Vielmehr müssen vom Standpunkt eines Beteiligten aus gesehen hinreichend objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, an der Unparteilichkeit zu zweifeln. Die rein subjektive Besorgnis, für die bei Würdigung der für eine Befangenheit in Betracht kommenden Tatsachen vernünftigerweise kein Grund ersichtlich ist, reicht nicht aus, um ein Ablehnungsgesuch zu rechtfertigen. Die Ablehnung ist daher nur begründet, wenn ein Beteiligter die auf objektiv feststellbaren Tatsachen beruhende, subjektiv vernünftigerweise mögliche Besorgnis hegt, der Richter werde in der Sache nicht unparteiisch, unvoreingenommen oder unbefangen entscheiden (Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl., § 54 Rn.10; Zöller/Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 42 Rn.8 f; Weyland/Kilimann, BRAO, 10. Aufl., § 112c Rn.178).</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begründet sein Ablehnungsgesucht im Wesentlichen mit zwei Aspekten: Er zweifelt an der Unvoreingenommenheit des Berichterstatters aufgrund der von ihm gesehenen fehlenden Differenzierung zwischen dessen originärer Tätigkeit als Rechtsanwalt und Beisitzer des erkennenden Gerichts sowie wegen einer Überschreitung der Kompetenzen des abgelehnten Richters in seiner Funktion als Berichterstatter.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1. Dass der abgelehnte Berichterstatter nicht ausreichend zwischen seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar und seinem Amt als ehrenamtlicher Richter des Anwaltsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen differenziert, ist nicht ersichtlich. Soweit der Berichterstatter über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach Verfügungen in Verfahren des Anwaltsgerichtshofs versendet, verwendet der Berichterstatter – wie aus der Verfügung des Berichterstatters vom 16.05.2022 ersichtlich ist - den Briefkopf des Anwaltsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen. Dort sind Postanschrift, Telefon- und Fax-Nummer des Anwaltsgerichtshofs und der Geschäftsstelle angegeben, die Unterzeichnung erfolgt nicht etwa unter Bezugnahme auf die Tätigkeit des Berichterstatters als Rechtsanwalt und Notar, sondern als Berichterstatter des erkennenden Gerichts.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">2. Ferner ist nicht ersichtlich, dass das Verhalten des abgelehnten Berichterstatters im Zuge der Terminsvorbereitung vom Standpunkt eines objektiven und vernünftigen Beobachters die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen könnte.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">a)  Insbesondere hat der abgelehnte Berichterstatter der Entscheidungszuständigkeit des Vorsitzenden bzw. des Senats aus §§ 173 Abs.1 VwGO, 227 Abs.4 ZPO nicht vorgegriffen. Er hat weder mündlich noch schriftlich über den Terminsverlegungsantrag des Klägers entschieden. Es gibt auch keinen objektiven Anhaltspunkt dafür, dass der Berichterstatter dem Kläger suggeriert hätte, er würde in seiner Funktion als Berichterstatter den Terminsverlegungsantrag ablehnen wollen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">b)  Soweit Rechtsanwalt A mit den Verfügungen vom 22.06.2022 und 23.06.2022 dem Kläger aufgegeben hat, zu den Umständen seines Terminsverlegungsantrags ergänzend vorzutragen und die Tatsachen zu belegen, die der Kläger als Begründung für seinen Antrag vom 21.06.2022 anführt, wäre diese Verfügung gem. §§ 173 Abs.1 VwGO, 227 Abs.2 ZPO zwar durch den Vorsitzenden zu treffen gewesen. Das Vorgehen des Berichterstatters begründet dennoch nicht die Besorgnis der Befangenheit. Das Ablehnungsverfahren ist kein Instrument der Fehlerkontrolle, deswegen ist ein verfahrensfehlerhaftes Vorgehen grundsätzlich kein Ablehnungsgrund (vgl. BGH, Beschl. v. 12.10.2011, V ZR 8/19, Tz.7 u.9, juris; Zöller/Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 42 Rn.28). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Handhabung des Gesetzes im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist (BGH, a.a.O., Tz.7). Hiervon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Berichterstatter hat weder am 22.06.2022 noch am 23.06.2022 Aktivitäten entfaltet, die die Grenzen der richterlichen Aufklärungspflicht überschreiten und die vom Senatsvorsitzenden nicht in gleicher Weise hätten getroffenen werden können. Unabhängig von der Verfügungszuständigkeit waren die vom Berichterstatter gehaltenen Nachfragen vom 22.06.2022 und 23.06.2022 sachlich gerechtfertigt, weil nur erhebliche Gründe eine Terminsverlegung vor Aufruf der Sache durch den Vorsitzenden oder eine Vertagung des Termins durch Senatsbeschluss rechtfertigen können, §§ 173 Abs.1 VwGO, 227 Abs.1 u. 4 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">aa)  In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob andere Gerichte das mit dem Terminsverlegungsantrag überreichte ärztliche Attest vom 21.06.2022 haben ausreichen lassen. Denn andere Gerichte hatten nicht über ein auf § 14 Abs.2 Nr. 7 BRAO beruhendes Verfahren zu entscheiden, in dem der Kläger persönlich betroffen ist. Angesichts des Verfahrensgegenstandes und des Stands des Verfahrens, insbesondere wegen der ausstehenden Klagebegründung, war es in der Sache nicht zu beanstanden, dass der Berichterstatter mit Verfügung vom 22.06.2022 um die Übersendung eines aussagekräftigen ärztlichen Attests gebeten hat.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">bb)  Auch die Auflage des Berichterstatters vom 23.06.2022, der Kläger möge ausdrücklich zu dem Erfordernis der persönlichen Terminswahrnehmung vortragen, ist sachlich nicht zu beanstanden. Der angefragte Vortrag ist im Falle der Verhinderung eines anwaltlich vertretenen Beteiligten Voraussetzung dafür, einen erheblichen Grund für die beantragte Terminsverlegung geltend machen zu können (BVerwG, Urt. v. 30.08.1982, 9 C 1/81, Tz.11, 12, juris; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl., § 102 Rn.6).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Soweit der Berichterstatter in der Verfügung vom 23.06.2022 überdies mitgeteilt hat, er könne bisher keinen erheblichen Grund für die beantragte Terminsverlegung erkennen, begründet auch dies nicht die Besorgnis der Befangenheit. Der Verfügung vom 23.06.2022 kann allenfalls entnommen werden, dass der Berichterstatter nach damaligem Sachstand für die Aufrechterhaltung des Termins votieren würde, aber weder, dass dies die endgültige und unverrückbare Rechtsauffassung des Berichterstatters war, denn sonst wäre die nachgelassene Stellungnahmefrist überflüssig gewesen, noch, dass der Vorsitzende oder der Senat dem Votum des Berichterstatters folgen würden. Die Äußerung einer vorläufigen Rechtsmeinung stellt keinen Ablehnungsgrund dar (vgl. Zöller, ZPO, § 42 Rn.26; vgl. Weyland/Kilimann, BRAO, 10. Aufl., § 112c Rn.198).3.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Diese Entscheidung ergeht unanfechtbar, §§ 112c Abs.1 BRAO, 146 Abs.2 VwGO.</p>
346,637
vg-dusseldorf-2022-09-02-6-l-45022
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6 L 450/22
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-21T10:01:41"
"2022-10-17T11:10:22"
Beschluss
ECLI:DE:VGD:2022:0902.6L450.22.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Der Antrag wird abgelehnt.</strong></p> <p><strong>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <p><strong>Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der sinngemäß gestellte Antrag des Antragstellers,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die er benötigt, um in seinem Betrieb Abgasuntersuchungen durchzuführen, die zur Verleihung der TÜV-Plakette erforderlich sind,</strong></p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg. Der Antrag ist jedenfalls unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, insbesondere ein solches dauernder Art, erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der zu regelnde Anspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) vom jeweiligen Antragsteller glaubhaft gemacht werden (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 und § 294 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 27. März 2021 – 16 B 67/21 −, n.v., vom 28. Januar 2020 – 16 B 1057/19 −, n.v. sowie vom 11. Januar 2018 – 16 B 1465/17 –, juris, Rn. 2 ff.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Es spricht nach Aktenlage Überwiegendes dafür, dass es bereits an einem Anordnungsanspruch des Antragstellers fehlt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> Dem Antragsteller steht der geltend gemachte Anspruch auf Aushändigung der notwendigen „Unterlagen“ zur Durchführung von Abgasuntersuchungen voraussichtlich nicht zu.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Insoweit kann dahinstehen, ob die vom Antragsteller begehrte Verpflichtung zur Lieferung von – nicht näher konkretisierten − „Unterlagen“ bereits zu unbestimmt ist, da auf dieser Grundlage bereits kein Tenor mit vollstreckbarem Inhalt formuliert werden kann. Zwar kann der Antragsbegründung insoweit entnommen werden, dass der Antragsteller augenscheinlich die Herausgabe von „Abgabuntersuchungsplaketten“ bzw. „ASU-Bescheinigungen“ anstrebt. Der Herausgabe von Abgasuntersuchungsplaketten steht jedoch bereits entgegen, dass derartige „AU-Plaketten“ seit dem Jahr 2010 nicht mehr zugeteilt werden. Vielmehr ist die Abgasuntersuchung seitdem integraler Bestandteil der Hauptuntersuchung, vgl. auch Nr. 1.2.1.1 der Anlage VIII sowie Nr. 1 und 6.8.2 der Anlage VIIIa zur StVZO.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch BT-Drs. 843/11, S. 59 und BR-Drs. 925/05, S. 71 f.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der geltend gemachte Anspruch auf Aushändigung der notwendigen „Unterlagen“ zur Durchführung von Abgasuntersuchungen scheidet jedenfalls bereits deshalb aus, da die Kraftfahrzeugwerkstatt des Antragstellers nach Aktenlage nicht zur Durchführung von Abgasuntersuchungen berechtigt ist. Denn dies setzt gemäß § 29 Abs 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, Abs. 9 StVZO i.V.m. Nr. 3.1.1.1 und Nr. 4.1 der Anlage VIII, Nr. 1 der Anlage VIIIc zur StVZO sowie Nr. 2.4 der Anlage VIIId die Anerkennung der jeweiligen Kraftfahrzeugwerkstatt voraus. Gemäß Nr. 2.4 der Anlage VIIId zur StVZO dürfen Untersuchungen für Abgase (AU) (nur) durch anerkannte Kraftfahrzeugwerkstätten in den im Anerkennungsbescheid bezeichneten Betriebsstätten oder Zweigstellen durchgeführt werden. Dem liegt zugrunde, dass die für die Durchführung der Untersuchungen der Abgase verantwortliche Person der Kraftfahrzeugwerkstatt eine öffentlich-rechtliche Aufgabe wahrnimmt und dabei hoheitlich tätig wird. Zur Erfüllung dieser Aufgabe ist ihr deshalb die Rechtsstellung eines öffentlich-rechtlich Beliehenen eingeräumt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Hessen, Beschluss vom 22. April 2010 – 7 A 1520/09.Z –, juris, Rn. 9; BR-Drs. 925/05, S. 81.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Anerkennung von Kraftfahrzeugwerkstätten zur Durchführung von Untersuchungen der Abgase obliegt gemäß Nr. 1.1 Satz 1 der Anlage VIIIc zur StVZO der zuständigen obersten Landesbehörde oder den von ihr bestimmten oder nach Landesrecht zuständigen Stellen (Anerkennungsstellen). Diese können gemäß Nr. 1.1 Satz 2 der Anlage VIIIc zur StVZO die Befugnis auf die örtlich und fachlich zuständigen Kraftfahrzeuginnungen übertragen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kraftfahrzeugwerkstatt des Antragstellers ist nach Aktenlage nicht für die Durchführung von Abgasuntersuchungen anerkannt. Zwar wurde der Kraftfahrzeugwerkstatt „N.     Z.        “ ursprünglich mit Bescheid vom 30. Oktober 2002 die Anerkennung zur Durchführung von Abgasuntersuchungen erteilt (Bl. 28 und 35 der Verwaltungsvorgänge). Sodann wurde diese Anerkennung nach Aktenlage jedoch mit Bescheid vom 6. August 2007 bestandskräftig widerrufen, nachdem der Antragsteller seinen Betrieb aufgelöst hatte (Bl. 26 der Verwaltungsvorgänge). Anhaltspunkte dafür, dass einer vom Antragsteller geführten Kraftfahrzeugwerkstatt nach dem Widerruf vom 6. August 2007 erneut die Anerkennung zur Durchführung von Abgasuntersuchungen erteilt wurde, sind weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen. Im Gegenteil: Nach Aktenlage wurde der Antragsteller nach dem Widerruf vom 6. August 2017 zunächst für die Kraftfahrzeugwerkstatt seiner Ehefrau, Frau T.     Z.        , tätig. Für letztere wurde nach Aktenlage kein Antrag auf Anerkennung zur Durchführung von Abgasuntersuchungen gestellt. Gleiches gilt hinsichtlich der Kraftfahrzeugwerkstatt „C.     Fahrzeugtechnik“, unter der der Antragsteller ausweislich der vorgelegten Unterlagen (vgl. Bl. 51, 54 und 59 der Gerichtsakte) mittlerweile firmiert.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch https://www.xxx-xxxxx.de/impressum/, zuletzt abgerufen am 2. September 2022.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller verschiedene Prüfungsnachweise über Schulungen zur Durchführung von Abgasuntersuchungen (vgl. Bl. 51, 60 ff. der Gerichtsakte sowie 16 ff. der Verwaltungsvorgänge) bzw. gar das Prüfprotokoll sowie die Rechnung über eine durchgeführte Abgasuntersuchung am 6. Dezember 2021 (Bl. 59 und 64 der Gerichtsakte) vorgelegt hat, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Die faktische Durchführung von Abgasuntersuchungen – nach dem erfolgten Widerruf im Jahr 2007 − lässt nicht den Schluss zu, dass die vom Antragsteller geführte Kraftfahrzeugwerkstatt auch (wieder) anerkannt, mithin zu entsprechenden Untersuchungen berechtigt ist bzw. war. Die Schulungsnachweise lassen bereits deshalb nicht auf die Anerkennung schließen, da sie gemäß Nr. 2.6 der Anlage VIIIc zur StVZO notwendige Voraussetzungen für die Erteilung der Anerkennung sind. Schließlich belegt auch der Umstand, dass der Antragsteller im Jahr 2009 einen Antrag auf Durchführung des Diesel-OBD-Verfahrens gestellt hat und hierbei eine AU-Kontrollnummer angegeben hat (vgl. Bl. 19 ff. der Verwaltungsvorgänge), nicht die Anerkennung der Kraftfahrzeugwerkstatt. Der Antragsteller hat – bezeichnenderweise – auch keine gültige Anerkennungsurkunde, sondern lediglich die Urkunde der – bereits widerrufenen – Anerkennung vom 30. Oktober 2002 (Bl. 59 der Gerichtsakte) vorgelegt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass die Antragsgegnerin die vom Antragsteller geführte Kraftfahrzeugwerkstatt nach summarischer Prüfung trotz des bestandskräftigen Widerrufes vom 6. August 2017 wohl irrtümlich weiterhin als zur Durchführung von Abgasuntersuchungen anerkannte Kraftfahrzeugwerkstatt ansah − wofür insbesondere die Fertigung und Lieferung eines „AU-Stempels“ im Jahr 2009 (Bl. 22 der Verwaltungsvorgänge) sowie das Schreiben vom 2. August 2021 (Bl. 14 f. der Verwaltungsvorgänge) sprechen −, rechtfertigt ebenfalls keine andere Bewertung. Weder ist hierdurch die jeweilige Kraftfahrzeugwerkstatt des Antragstellers anerkannt worden – hierfür fehlt es schon an einer förmlichen Beleihung −, noch lässt sich hieraus ein Vertrauenstatbestand herleiten. Insbesondere lässt dies nicht den Schluss zu, dass der illegale Zustand auch künftig hingenommen bzw. fortgesetzt wird.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Mai 2022 – 2 A 1946/21 –, juris, Rn. 14 (Duldung von Prostitution) und vom 14. März 2022 – 2 B 190/22 –, juris, Rn. 12 f. m.w.N. (Duldung von baurechtswidrigen Zustände).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Ist die Kraftfahrzeugwerkstatt des Antragstellers nicht zur Durchführung von Abgasuntersuchungen berechtigt, besteht denknotwendig auch kein Anspruch, dass die hierfür notwendigen „Unterlagen“ (weiterhin) herausgegeben werden.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong> Selbst wenn man den Antrag des Antragstellers gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO sachdienlich dahingehend auslegen sollte, dass er die vorläufige Anerkennung zur Durchführung von Abgasuntersuchungen einstweilen bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache begehrt, hätte sein Antrag keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen, dass es bereits an einem entsprechenden Antrag gegenüber der Antragsgegnerin fehlen dürfte, liegen die Voraussetzungen für die Anerkennung nach § 29 Abs 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, Abs. 9 StVZO i.V.m. Nr. 3.1.1.1 der Anlage VIII i.V.m. Anlage VIIIc zur StVZO nach Aktenlage nicht vor. Denn die Anerkennung von Kraftfahrzeugwerkstätten zur Durchführung von Untersuchungen der Abgase wird gemäß Nr. 2.4.2.2 der Anlage VIIIc zur StVZO nur erteilt, wenn verantwortliche Personen eine Meisterprüfung im Kraftfahrzeugmechaniker-Handwerk, Kraftfahrzeugelektriker-Handwerk oder Kraftfahrzeugtechniker-Handwerk, Schwerpunkt Fahrzeugsystemtechnik, erfolgreich bestanden haben.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller erfüllt die vorgenannten Voraussetzungen nach Aktenlage nicht. Denn er hat bislang keine der vorgenannten Meisterprüfungen, sondern lediglich eine Meisterprüfung im Bereich Karosserie- und Fahrzeugbauerhandwerk nachgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass dem Antragsteller nach Aktenlage am 24. Juli 2001 eine Ausübungsberechtigung nach § 7a HwO erteilt wurde, dürfte – ungeachtet der Frage, ob diese überhaupt noch wirksam ist − keine andere Bewertung rechtfertigen. Denn eine solche Ausübungsberechtigung hat lediglich zur Folge, dass ein anderes zulassungspflichtiges Handwerk (vgl. Anlage A der HwO) betrieben werden darf, ohne dass die betreffende Person den entsprechenden Meistertitel besitzt. Die Ausübungsberechtigung berechtigt nicht, den entsprechenden Meistertitel zu führen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Mainz, Urteil vom 16. Februar 2009 – 6 K 678/08.MZ –, juris, Rn. 22 zur Ausnahmebewilligung nach § 9 Abs. 1 HwO.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Eine Meisterprüfung im Sinne von Nr. 2.4.2.2 der Anlage VIIIc zur StVZO wurde nach Aktenlage nicht bestanden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die vorgenannte Vorschrift ist auch nicht dahingehend auszulegen oder analog anzuwenden, dass verantwortliche Personen mit einer Ausübungsberechtigung nach § 7a HwO Personen gleich zu stellen sind, die erfolgreich eine Meisterprüfung bestanden haben.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Hessen, Beschluss vom 22. April 2010 – 7 A 1520/09.Z –, juris, Rn. 31 ff. zu § 8 Abs. 1 Satz 1 HwO.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Denn der Verordnungsgeber hat an die für die Durchführung der Untersuchungen verantwortlichen Personen bewusst besonders hohe Anforderungen hinsichtlich ihrer persönlichen Zuverlässigkeit und fachlichen Qualifikation gestellt, da mit der Abgasuntersuchung eine hoheitliche Aufgabe übertragen wird. Die Sicherstellung einer solch hohen Zuverlässigkeit wurde deshalb an den am weitest reichenden Ausbildungsnachweis, nämlich die bestandene Meisterprüfung, geknüpft.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Hessen, Beschluss vom 22. April 2010 – 7 A 1520/09.Z –, juris, Rn. 18 ff.; BR-Drs. 925/05, S. 81.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Diese Einschränkung ist vom weitreichenden Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers gedeckt und begegnet daher – entgegen der Ansicht des Antragstellers − keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Erfordernis der Meisterprüfung ist insbesondere als verhältnismäßige Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit anzusehen. Die Freiheit der Berufswahl wird nicht berührt.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Hessen, Beschluss vom 22. April 2010 – 7 A 1520/09.Z –, juris, Rn. 7 ff.; zum Vermessungsingenieur: BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1986 − 1 BvL 26/83 – juris.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 2. August 2021 die Akkreditierung der Kraftfahrzeugwerkstatt des Antragstellers irrtümlich auf der Grundlage von „Nr. 2.3.2.2“ statt Nr. 2.4.2.2 der Anlage VIIIc zur StVZO abgelehnt hat, rechtfertigt dies bereits deshalb keine andere Bewertung, da es um einen offenkundigen Schreibfehler handelt.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Die Bedeutung der Sache wird im Hauptsacheverfahren mit dem Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG angesetzt. In Verfahren betreffend die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ermäßigt sich der danach zu berücksichtigende Betrag von 5.000,00 Euro aufgrund der Vorläufigkeit der Entscheidung um die Hälfte.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">(1)       Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">(2)       Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
346,594
ovgnrw-2022-09-02-6-b-69522
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
6 B 695/22
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:04"
"2022-10-17T11:10:14"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0902.6B695.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den (sinngemäß gestellten) Antrag abgelehnt, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, einen der bei dem Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung L.    zu besetzenden Dienstposten im Rahmen des Besetzungsverfahrens 2022 - Stellenausschreibung vom 3.1.2022, Az. 1464-2021/0126 - mit einem/einer anderen Bewerber/Bewerberin zu besetzen, bis über die Bewerbung der Antragstellerin unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden worden ist. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Antragstellerin habe weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Zwar könne auch im Fall der Dienstpostenkonkurrenz ein Anordnungsgrund bestehen, wenn es sich um einen sog. Beförderungsdienstposten handele, dessen Übertragung der Erprobung für eine spätere Beförderung diene und so die Auswahl für die Beförderungsämter auf die Auswahl unter den Bewerbern um den Beförderungsdienstposten vorverlagert werde, oder ein rechtswidrig ausgewählter Bewerber auf dem Dienstposten einen erheblichen Erfahrungs- und Bewährungsvorsprung sammeln könne, der bei einer nochmaligen Auswahlentscheidung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen wäre. Diese Voraussetzungen lägen jedoch nur dann vor, wenn die Vergabe dieses Dienstpostens eine Vorauswahl zwischen den Bewerbern für die Vergabe eines Statusamts darstelle. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn überhaupt die Möglichkeit einer zukünftigen Konkurrenz um eine Beförderung zwischen dem für den Dienstposten ausgewählten Bewerber und dem Rechtsschutz suchenden Bewerber bestehe. Nur wenn die Verwendung auf dem in Rede stehenden Dienstposten dem ausgewählten Bewerber gerade im Verhältnis zum Rechtssuchenden zukünftig einen Vorteil vermitteln könnte, sei es gerechtfertigt, mit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Besetzung des Dienstpostens zu unterbinden. Gerade dies sei jedoch vorliegend nicht der Fall. Es sei hinsichtlich des streitgegenständlichen Dienstpostens nicht ersichtlich, dass in naher Zukunft eine korrelierende Beförderungsentscheidung anstehe, so dass eine Vorgreiflichkeit der Dienstpostenvergabe nicht zu besorgen sei. Im Hinblick auf die spätere Vergabe eines höheren Statusamtes sei auch kein Bewährungsvorsprung aufgrund der Dienstpostenvergabe absehbar. Im Übrigen seien bestimmte Bewerber für die in Rede stehenden Dienstposten noch nicht ausgewählt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zunächst führt die Rüge nicht zum Erfolg der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe den Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es die von ihr beantragte Vorlage von Akten im richterlichen Hinweis vom 23.5.2022 als nicht erforderlich angesehen und ihr, ohne ihr eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen, kurze Zeit später den angegriffenen Beschluss zugestellt habe. Das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 146 Abs. 4 VwGO kann grundsätzlich nicht mit der Behauptung von Verfahrensfehlern des Verwaltungsgerichts begründet werden. Denn es eröffnet im Rahmen der durch § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO gezogenen Grenzen eine umfassende Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht als zweite Tatsacheninstanz, so dass ein etwaiger erstinstanzlicher Gehörsverstoß durch die nachholende Berücksichtigung des Vorbringens im Beschwerdeverfahren geheilt werden könnte.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. BayVGH, Beschlüsse vom 22.3.2022 - 6 CE 22.305 -, juris Rn. 26, und vom 8.2.2021 - 6 CS 21.111 -, juris Rn. 8; OVG NRW, Beschlüsse vom 9.2.2021 - 6 B 1240/20 -, DRiZ 2021, 466 = juris Rn. 72, und vom 22.8.2018 - 1 B 1024/18 -, juris Rn. 9 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen besteht kein Anhalt dafür, dass der Antragsgegner Aktenbestandteile bzw. sonstige Unterlagen nicht vorgelegt hat, die für das vorliegende Verfahren von Relevanz sein könnten.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die (Ergebnis-)Richtigkeit der selbstständig tragenden Annahme des Verwaltungsgerichts, es fehle an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, stellt die Beschwerde nicht durchgreifend in Frage. Die Antragstellerin hat auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht, dass ihr im vorliegenden Fall einer reinen Dienstpostenkonkurrenz ein wesentlicher Nachteil oder gar ein Rechtsverlust durch die Besetzung der streitbefangenen Stellen mit den zwischenzeitlich ausgewählten bzw. für eine Zuführung an das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung L.    zum 1.2.2023 vorgesehenen Bewerbern und Bewerberinnen</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">droht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Streitbefangen sind den Statusämtern der Besoldungsgruppen A 9 bis A 13 zugeordnete „gebündelte“ Dienstposten, die sich für Beamte in jedem dieser statusrechtlichen Ämter entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht als höherwertig darstellen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 9.5.2019 - 2 C 1.18 -, BVerwGE 165, 305 = juris Rn. 54, vom 25.9.2014 - 2 C 16.13 - BVerwGE 150, 216  = juris Rn. 27, vom 30.6.2011 - 2 C 19.10 -, BVerwGE 140, 83 = juris Rn. 30, und vom 25.1.2007 - 2 A 2.06 -, juris Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Dies gilt mithin auch für die Antragstellerin, die ein Statusamt der Besoldungsgruppe A 12 innehat, und die für eine Zuführung an das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung L.    zum 1.2.2023 vorgesehenen Bewerber, die Statusämter der Besoldungsgruppen A 9, A 10 oder A 11 innehaben. Diese wurden bzw. sollen unter Beibehaltung ihres aktuellen Statusamtes zum 1.2.2023 für neun Monate an das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung L.    mit dem Ziel der Versetzung abgeordnet werden.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Bei einer damit nur gegebenen Konkurrenz um nicht höherwertige Dienstposten fehlt es für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in der Regel an dem erforderlichen Anordnungsgrund, weil die Stellenbesetzung jederzeit rückgängig gemacht werden kann, ohne dass ihr eine Vorwirkung für eine spätere Vergabe eines höheren Statusamtes zukommt. Dass aufgrund der besonderen Gegebenheiten des Streitfalls hier Abweichendes zu gelten hätte, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg weist die Beschwerde darauf hin, der Einsatz als Prüfer in einem Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung eröffne nach Nr. 7.3.1 der mit Wirkung vom 1.1.2020 in Kraft getretenen „Richtlinien für die Beurteilung und Beförderung der Beamtinnen und Beamten der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen“, im Folgenden: BuBR 2020, den Konkurrenten die Möglichkeit der Zuerkennung der „Beförderungseignung nach BesGr. A 13 BA“. Die Zuerkennung der „Beförderungseignung nach BesGr. A 13 BA“ setzt zunächst einmal voraus, dass der Beamte ein Statusamt der Besoldungsgruppe A 12 innehat und überdies in einer auf dieses Statusamt bezogenen Beurteilung mindestens das Gesamturteil „drei Punkte im oberen Bereich“ erreicht hat (vgl. Nr. 7.1 und 7.2 BuBR 2020). Bereits die erstgenannte Voraussetzung erfüllen die für die Zuführung zum Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung zum 1.2.2023 vorgesehenen Bewerber, die, wie dargestellt, sämtlich ein niedrigeres Statusamt innehaben, nicht.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ein Anordnungsgrund lässt sich auch nicht damit begründen, der Einsatz als Prüferin in einem Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung eröffne der Antragstellerin die Chance auf die Zuerkennung der „Beförderungseignung nach BesGr. A 13 BA“. Der Vortrag ist schon in Anbetracht ihres Antragsbegehrens, das allein auf die Freihaltung eines Dienstpostens bis zur erneuten Entscheidung über ihre Bewerbung gerichtet ist, unerheblich. Abgesehen davon unterliegt es Zweifeln, dass allein die Vorenthaltung einer solchen Möglichkeit (für die Dauer des Hauptsacheverfahrens) einen hinreichend gewichtigen Nachteil für die Annahme eines Anordnungsgrundes darstellt.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin einwendet, die ausgewählten Bewerber könnten auf den Dienstposten im Hinblick auf das möglicherweise neu durchzuführende Auswahlverfahren einen Erfahrungsvorsprung erlangen, kann auf sich beruhen, inwieweit ein solcher Einwand in der gegebenen Konstellation überhaupt geeignet sein kann, einen Anordnungsgrund zu begründen. Denn dafür, dass diese auf den streitbefangenen Dienstposten einen relevanten Erfahrungsvorsprung im Verhältnis zur Antragstellerin, die bereits ein höheres Statusamt als diese innehat, gewinnen könnten, gibt das Beschwerdevorbringen schon nichts her. Es stellt umfänglich dar (vgl. IV.5. der Beschwerdebegründung), dass die Antragstellerin entgegen der Einschätzung des Antragsgegners über die für die Tätigkeit als Prüferin beim Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung erforderlichen Steuerrechtskenntnisse verfügt. Dies zugrunde gelegt, kann dahinstehen, ob, wie die Beschwerde geltend macht, die ausgewählten Bewerber gegebenenfalls vorhandene Defizite hinsichtlich der Steuerrechtskenntnisse, die für die Tätigkeit als Prüfer im Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung erforderlich sind, durch ihre dortige Tätigkeit beseitigen können.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">In diesem Zusammenhang greift auch das Vorbringen nicht durch, die Mitbewerber könnten auf dem Dienstposten einen Erfahrungs- bzw. Bewährungsvorsprung erlangen, der sich in nachfolgenden Beurteilungen niederschlagen und ihnen die Zuerkennung der Beförderungseignung vermitteln könne, was ihnen bei späteren Beförderungsentscheidungen zum Vorteil gereichen könne. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf obergerichtliche Rechtsprechung zutreffend ausgeführt, dass es nur dann gerechtfertigt ist, die Besetzung des in Rede stehenden Dienstpostens mit einem konkurrierenden Bewerber zu untersagen, wenn die Verwendung auf dem Dienstposten dem ausgewählten Bewerber gerade im Verhältnis zum Rechtsschutz suchenden Bewerber einen Vorteil vermitteln könnte. Dass der Einsatz auf dem Dienstposten dem ausgewählten Konkurrenten generell bei seinem beruflichen Fortkommen oder auch bei denkbaren späteren, jetzt aber noch in keiner Weise absehbaren Beförderungsentscheidungen günstig sein könnte, reicht nicht aus, um die Stellenbesetzung zu untersagen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Fehl geht der Hinweis, in die Betrachtung sei auch einzubeziehen, dass einer der ausgewählten Mitbewerber ggfs. noch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens in ein Amt der Besoldungsgruppe A 13 befördert werden könnte. Für eine derartige Beförderung besteht kein Anhalt; das Vorbringen bewegt sich im Bereich reiner Spekulation. Das gilt in besonderer Weise, weil die ausgewählten Bewerber - wie erwähnt - Statusämter der Besoldungsgruppen A9, A 10 oder A 11 innehaben, so dass ihrer Beförderung unmittelbar in ein Amt der Besoldungsgruppe A 13 das Verbot der Sprungbeförderung (§ 19 Abs. 4 LBG NRW) entgegenstünde.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Schließlich folgt der Senat nicht der Ansicht der Antragstellerin, ein Anordnungsgrund sei im Fall der Dienstpostenkonkurrenz auch dann gegeben, wenn bereits im Eilverfahren bei summarischer Prüfung offen zutage trete, dass mit der getroffenen Auswahlentscheidung eine objektiv willkürliche Bevorzugung des Mitbewerbers zu Lasten des unterliegenden Bewerbers verbunden und damit offensichtlich sei, dass der Dienstherr die ihn aus Art. 33 Abs. 2 GG gegenüber dem unterliegenden Bewerber treffenden Pflichten bereits im Vorfeld einer Beförderungsentscheidung verletzt habe. Der Auffassung ist entgegenzuhalten, dass die Frage der Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs - auch im Falle ihrer Offensichtlichkeit - eine solche des Anordnungsanspruchs ist, und überdies nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO die begehrte Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheinen muss. Zudem stützen die hierfür angeführten Entscheidungen den wiedergegebenen Rechtsstandpunkt allenfalls eingeschränkt. So hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 21.1.2005 - 3 CE 04.2899 - den Anordnungsgrund nicht mit der genannten Erwägung begründet, sondern lediglich seine Rechtsprechung zur Berücksichtigung eines Bewährungsvorsprungs - dem maßgeblichen Gesichtspunkt - jedenfalls für die Konstellation der objektiv willkürlichen Bevorzugung des Mitbewerbers geändert (vgl. juris Rn. 27). Dem Beschluss des 1. Senats des OVG NRW vom 15.11.2002 - 1 B 1554/02 - ist der angeführte Rechtssatz nicht zu entnehmen. Im Übrigen ist nicht dargelegt, dass die entsprechenden Voraussetzungen - eine objektiv willkürliche Bevorzugung eines Mitbewerbers und/oder eine offensichtliche Verletzung des Bewerbungsanspruchs der Antragstellerin - im Streitfall gegeben sind. Wenn auch das Auswahlverfahren Rechtsbedenken nicht von Vornherein vollständig entzogen sein mag, bedürfte dies doch näherer Überprüfung.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p>
346,593
ovgnrw-2022-09-02-6-b-69422
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
6 B 694/22
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:03"
"2022-10-17T11:10:14"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0902.6B694.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den (sinngemäß gestellten) Antrag abgelehnt, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, einen der bei dem Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung C.    noch freien und zu besetzenden Dienstposten der einschlägigen Laufbahn im Rahmen des Besetzungsverfahrens 2021 mit einem/einer anderen Bewerber/Bewerberin zu besetzen, bis über die Bewerbung der Antragstellerin unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden worden ist. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Antragstellerin habe weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund scheide schon deshalb aus, weil das Stellenbesetzungsverfahren 2021 bereits zum 1.2.2022 abgeschlossen sei, und sei auch deshalb nicht gegeben, weil vorliegend allein die Besetzung eines Dienstpostens streitgegenständlich sei. Zwar könne auch im Fall der Dienstpostenkonkurrenz ein Anordnungsgrund bestehen, wenn es sich um einen sog. Beförderungsdienstposten handele, dessen Übertragung der Erprobung für eine spätere Beförderung diene und so die Auswahl für die Beförderungsämter auf die Auswahl unter den Bewerbern um den Beförderungsdienstposten vorverlagert werde, oder ein rechtswidrig ausgewählter Bewerber auf dem Dienstposten einen erheblichen Erfahrungs- und Bewährungsvorsprung sammeln könne, der bei einer nochmaligen Auswahlentscheidung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen wäre. Diese Voraussetzungen lägen jedoch nur dann vor, wenn die Vergabe dieses Dienstpostens eine Vorauswahl zwischen den Bewerbern für die Vergabe eines Statusamts darstelle. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn überhaupt die Möglichkeit einer zukünftigen Konkurrenz um eine Beförderung zwischen dem für den Dienstposten ausgewählten Bewerber und dem Rechtsschutz suchenden Bewerber bestehe. Nur wenn die Verwendung auf dem in Rede stehenden Dienstposten dem ausgewählten Bewerber gerade im Verhältnis zum Rechtssuchenden zukünftig einen Vorteil vermitteln könnte, sei es gerechtfertigt, mit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Besetzung des Dienstpostens zu unterbinden. Gerade dies sei jedoch vorliegend nicht der Fall. Es sei hinsichtlich des streitgegenständlichen Dienstpostens nicht ersichtlich, dass in naher Zukunft eine korrelierende Beförderungsentscheidung anstehe, so dass eine Vorgreiflichkeit der Dienstpostenvergabe nicht zu besorgen sei. Im Hinblick auf die spätere Vergabe eines höheren Statusamtes sei auch kein Bewährungsvorsprung aufgrund der Dienstpostenvergabe absehbar.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zunächst führt die Rüge nicht zum Erfolg der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe den Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es die von ihr beantragte Vorlage von Akten im richterlichen Hinweis vom 23.5.2022 als nicht erforderlich angesehen und ihr, ohne ihr eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen, kurze Zeit später den angegriffenen Beschluss zugestellt habe. Das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 146 Abs. 4 VwGO kann grundsätzlich nicht mit der Behauptung von Verfahrensfehlern des Verwaltungsgerichts begründet werden. Denn es eröffnet im Rahmen der durch § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO gezogenen Grenzen eine umfassende Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht als zweite Tatsacheninstanz, so dass ein etwaiger erstinstanzlicher Gehörsverstoß durch die nachholende Berücksichtigung des Vorbringens im Beschwerdeverfahren geheilt werden könnte.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. BayVGH, Beschlüsse vom 22.3.2022 - 6 CE 22.305 -, juris Rn. 26, und vom 8.2.2021 - 6 CS 21.111 -, juris Rn. 8; OVG NRW, Beschlüsse vom 9.2.2021 - 6 B 1240/20 -, DRiZ 2021, 466 = juris Rn. 72, und vom 22.8.2018 - 1 B 1024/18 -, juris Rn. 9 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen besteht kein Anhalt dafür, dass der Antragsgegner Aktenbestandteile bzw. sonstige Unterlagen nicht vorgelegt hat, die für das vorliegende Verfahren von Relevanz sein könnten.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die (Ergebnis-)Richtigkeit der selbstständig tragenden Annahme des Verwaltungsgerichts, es fehle an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, weil vorliegend allein die Besetzung eines Dienstpostens streitgegenständlich sei, stellt die Beschwerde nicht durchgreifend in Frage. Die Antragstellerin hat auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht, dass ihr im vorliegenden Fall einer reinen Dienstpostenkonkurrenz ein wesentlicher Nachteil oder gar ein Rechtsverlust durch die Besetzung der streitbefangenen Stellen mit den ausgewählten Bewerbern und Bewerberinnen</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">droht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Streitbefangen sind den Statusämtern der Besoldungsgruppen A 9 bis A 13 zugeordnete „gebündelte“ Dienstposten, die sich für Beamte in jedem dieser statusrechtlichen Ämter entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht als höherwertig darstellen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 9.5.2019 - 2 C 1.18 -, BVerwGE 165, 305 = juris Rn. 54, vom 25.9.2014 - 2 C 16.13 - BVerwGE 150, 216 = juris Rn. 27, vom 30.6.2011 - 2 C 19.10 -, BVerwGE 140, 83 = juris Rn. 30, und vom 25.1.2007 - 2 A 2.06 -, juris Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Dies gilt mithin auch für die Antragstellerin, die ein Statusamt der Besoldungsgruppe A 12 innehat, und die ausgewählten Bewerber, die sämtlich ein Statusamt der Besoldungsgruppe A 11 innehaben. Diese wurden unter Beibehaltung ihres aktuellen Statusamtes zum 1.2.2022 für neun Monate an das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung C.    mit dem Ziel der Versetzung abgeordnet.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Bei einer damit nur gegebenen Konkurrenz um nicht höherwertige Dienstposten fehlt es für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in der Regel an dem erforderlichen Anordnungsgrund, weil die Stellenbesetzung jederzeit rückgängig gemacht werden kann, ohne dass ihr eine Vorwirkung für eine spätere Vergabe eines höheren Statusamtes zukommt. Dass aufgrund der besonderen Gegebenheiten des Streitfalls hier Abweichendes zu gelten hätte, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg weist die Beschwerde darauf hin, der Einsatz als Prüfer in einem Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung eröffne nach Nr. 7.3.1 der mit Wirkung vom 1.1.2020 in Kraft getretenen „Richtlinien für die Beurteilung und Beförderung der Beamtinnen und Beamten der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen“, im Folgenden: BuBR 2020, den Konkurrenten die Möglichkeit der Zuerkennung der „Beförderungseignung nach BesGr. A 13 BA“. Die Zuerkennung der „Beförderungseignung nach BesGr. A 13 BA“ setzt zunächst einmal voraus, dass der Beamte ein Statusamt der Besoldungsgruppe A 12 innehat und überdies in einer auf dieses Statusamt bezogenen Beurteilung mindestens das Gesamturteil „drei Punkte im oberen Bereich“ erreicht hat (vgl. Nr. 7.1 und 7.2 BuBR 2020). Bereits die erstgenannte Voraussetzung erfüllen die für die Zuführung zum Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung zum 1.2.2022 ausgewählten Bewerber, die - wie dargestellt - sämtlich ein niedrigeres Statusamt innehaben, nicht.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ein Anordnungsgrund lässt sich auch nicht damit begründen, der Einsatz als Prüferin in einem Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung eröffne der Antragstellerin die Chance auf die Zuerkennung der „Beförderungseignung nach BesGr. A 13 BA“. Der Vortrag ist schon in Anbetracht ihres Antragsbegehrens, das allein auf die Freihaltung eines Dienstpostens bis zur erneuten Entscheidung über ihre Bewerbung gerichtet ist, unerheblich. Abgesehen davon unterliegt es Zweifeln, dass allein die Vorenthaltung einer solchen Möglichkeit (für die Dauer des Hauptsacheverfahrens) einen hinreichend gewichtigen Nachteil für die Annahme eines Anordnungsgrundes darstellt.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin einwendet, die ausgewählten Bewerber könnten auf den Dienstposten im Hinblick auf das möglicherweise neu durchzuführende Auswahlverfahren einen Erfahrungsvorsprung erlangen, kann auf sich beruhen, inwieweit ein solcher Einwand in der gegebenen Konstellation überhaupt geeignet sein kann, einen Anordnungsgrund zu begründen. Denn dafür, dass diese auf den streitbefangenen Dienstposten einen relevanten Erfahrungsvorsprung im Verhältnis zur Antragstellerin, die bereits ein höheres Statusamt als diese innehat, gewinnen könnten, gibt das Beschwerdevorbringen schon nichts her. Es stellt umfänglich dar (vgl. IV.5. der Beschwerdebegründung), dass die Antragstellerin entgegen der Einschätzung des Antragsgegners über die für die Tätigkeit als Prüferin beim Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung erforderlichen Steuerrechtskenntnisse verfügt. Dies zugrunde gelegt, kann dahinstehen, ob, wie die Beschwerde geltend macht, die ausgewählten Bewerber gegebenenfalls vorhandene Defizite hinsichtlich der Steuerrechtskenntnisse, die für die Tätigkeit als Prüfer im Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung erforderlich sind, durch ihre dortige Tätigkeit beseitigen können.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">In diesem Zusammenhang greift auch das Vorbringen nicht durch, die Mitbewerber könnten auf dem Dienstposten einen Erfahrungs- bzw. Bewährungsvorsprung erlangen, der sich in nachfolgenden Beurteilungen niederschlagen und ihnen die Zuerkennung der Beförderungseignung vermitteln könne, was ihnen bei späteren Beförderungsentscheidungen zum Vorteil gereichen könne. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf obergerichtliche Rechtsprechung zutreffend ausgeführt, dass es nur dann gerechtfertigt ist, die Besetzung des in Rede stehenden Dienstpostens mit einem konkurrierenden Bewerber zu untersagen, wenn die Verwendung auf dem Dienstposten dem ausgewählten Bewerber gerade im Verhältnis zum Rechtsschutz suchenden Bewerber einen Vorteil vermitteln könnte. Dass der Einsatz auf dem Dienstposten dem ausgewählten Konkurrenten generell bei seinem beruflichen Fortkommen oder auch bei denkbaren späteren, jetzt aber noch in keiner Weise absehbaren Beförderungsentscheidungen günstig sein könnte, reicht nicht aus, um die Stellenbesetzung zu untersagen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Fehl geht der Hinweis, in die Betrachtung sei auch einzubeziehen, dass einer der ausgewählten Mitbewerber ggfs. noch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens in ein Amt der Besoldungsgruppe A 13 befördert werden könnte. Für eine derartige Beförderung besteht kein Anhalt; das Vorbringen bewegt sich im Bereich reiner Spekulation. Das gilt in besonderer Weise, weil die ausgewählten Bewerber - wie erwähnt - sämtlich ein Statusamt der Besoldungsgruppe A 11 innehaben, so dass ihrer Beförderung unmittelbar in ein Amt der Besoldungsgruppe A 13 das Verbot der Sprungbeförderung (§ 19 Abs. 4 LBG NRW) entgegenstünde.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Schließlich folgt der Senat nicht der Ansicht der Antragstellerin, ein Anordnungsgrund sei im Fall der Dienstpostenkonkurrenz auch dann gegeben, wenn bereits im Eilverfahren bei summarischer Prüfung offen zutage trete, dass mit der getroffenen Auswahlentscheidung eine objektiv willkürliche Bevorzugung des Mitbewerbers zu Lasten des unterliegenden Bewerbers verbunden und damit offensichtlich sei, dass der Dienstherr die ihn aus Art. 33 Abs. 2 GG gegenüber dem unterliegenden Bewerber treffenden Pflichten bereits im Vorfeld einer Beförderungsentscheidung verletzt habe. Der Auffassung ist entgegenzuhalten, dass die Frage der Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs - auch im Falle ihrer Offensichtlichkeit - eine solche des Anordnungsanspruchs ist, und überdies nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO die begehrte Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheinen muss. Zudem stützen die hierfür angeführten Entscheidungen den wiedergegebenen Rechtsstandpunkt allenfalls eingeschränkt. So hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 21.1.2005 - 3 CE 04.2899 - den Anordnungsgrund nicht mit der genannten Erwägung begründet, sondern lediglich seine Rechtsprechung zur Berücksichtigung eines Bewährungsvorsprungs - dem maßgeblichen Gesichtspunkt - jedenfalls für die Konstellation der objektiv willkürlichen Bevorzugung des Mitbewerbers geändert (vgl. juris Rn. 27). Dem Beschluss des 1. Senats des OVG NRW vom 15.11.2002 - 1 B 1554/02 - ist der angeführte Rechtssatz nicht zu entnehmen. Im Übrigen ist nicht dargelegt, dass die entsprechenden Voraussetzungen - eine objektiv willkürliche Bevorzugung eines Mitbewerbers und/oder eine offensichtliche Verletzung des Bewerbungsanspruchs der Antragstellerin - im Streitfall gegeben sind. Wenn auch das Auswahlverfahren Rechtsbedenken nicht von Vornherein vollständig entzogen sein mag, bedürfte dies doch näherer Überprüfung.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund hat die Antragstellerin auch hinsichtlich des im Beschwerdeverfahren noch gestellten Antrags, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die ab dem 1.2.2022 im Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung C.    auf Grund einer Abordnung tätigen Mitbewerber dorthin zu versetzen, keine Umstände glaubhaft gemacht, die einen Anordnungsgrund begründen. Dahinstehen kann somit, ob darin eine Antragsänderung i. S. d. § 91 Abs. 1 VwGO liegt und diese im Beschwerdeverfahren zulässig ist oder ob das erstinstanzliche Antragsbegehren den im Beschwerdeverfahren nunmehr gestellten Antrag mitumfasst.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p>
346,592
ovgnrw-2022-09-02-8-a-157419
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8 A 1574/19
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:03"
"2022-10-17T11:10:14"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0902.8A1574.19.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Instanzen auf 35.700,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, dazu I.). Die Rechtssache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf (dazu II.). Der ebenfalls geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schon nicht hinreichend dargelegt (dazu III.). Auch eine Divergenz von der übergeordneten Rechtsprechung (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) ist nicht dargelegt (dazu IV.).</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">I. Aus der Antragsbegründung ergeben sich keine ernstlichen Zweifel daran, dass das Verwaltungsgericht die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen hat.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und Inbetriebnahme einer Putenmastanlage gerichtete Klage als unbegründet angesehen. Das Vorhaben solle im bauplanungsrechtlichen Außenbereich verwirklicht werden. Die Voraussetzungen für die Annahme einer hier allein in Betracht kommenden Privilegierung des Vorhabens nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB lägen in Bezug auf die Klägerin und ihren Genehmigungsantrag nicht vor. Diese sei nicht Inhaberin eines landwirtschaftlichen Betriebs, dem das Vorhaben dienen müsse. Inhaber des landwirtschaftlichen Betriebs, dem das Vorhaben zugeordnet sei, sei vielmehr der Mitgesellschafter Dr. von T.             . Die Klägerin sei deshalb nicht aktivlegitimiert.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Seine Sachverhaltswürdigung, dass die Klägerin nicht Inhaberin eines nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB privilegierten landwirtschaftlichen Betriebs sei, dem die geplante Putenmastanlage in dienender Funktion zugeordnet sein könne, hat das Verwaltungsgericht nicht allein auf den Umstand gestützt, dass Herr Dr. von T.             Eigentümer der Vorhabenfläche ist, sondern vielmehr auf den Inhalt des Gesellschaftsvertrags, wonach Zweck der Gesellschaft - der B.     GbR - die gemeinschaftliche Bewirtschaftung der von den drei Vertragspartnern in die Gesellschaft eingebrachten, aber jeweils in deren Eigentum verbliebenen Ackerflächen ist. Ferner hat es auf den Gesellschafterbeschluss vom 28. Oktober 2010 abgestellt, wonach die Gesellschafter auf ihren Eigentumsflächen in eigener Verantwortung ihren Standort/ihre Hofstelle weiterentwickeln dürfen, und schließlich auf die von Herrn Dr. von T.             und den übrigen Gesellschaftern im Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren abgegebenen Erklärungen, nicht zuletzt die Aussage des Herrn Dr. von T.             in der mündlichen Verhandlung, dass es sich bei der Putenmast um ein „eigenes Projekt“ handele, das ausschließlich zu seinen Lasten und zu seinem Vorteil geführt werde.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Richtigkeit dieser Erwägungen stellt das Antragsvorbringen weder hinsichtlich der zugrunde zu legenden rechtlichen Maßstäbe (dazu 1.) noch bezogen auf die einzelfallbezogene Sachverhaltswürdigung (dazu 2.) durchgreifend in Frage.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1. Die Klägerin zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden bauplanungsrechtlichen Privilegierung von Außenbereichsvorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB in entscheidungserheblicher Hinsicht falsch ausgelegt haben könnte.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">a) Nach dieser Vorschrift - wie schon nach der Vorgängerregelung in § 35 Abs. 1 Nr. 1 BBauG - ist ein Vorhaben im Außenbereich nur zulässig, wenn öffentliche Belange nicht entgegenstehen, die ausreichende Erschließung gesichert ist und wenn es einem land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb dient und nur einen untergeordneten Teil der Betriebsfläche einnimmt. Dabei ist die hier in Rede stehende Tierhaltung nach § 201 BauGB nur dann Landwirtschaft im Sinne des Baugesetzbuchs, wenn das Futter überwiegend auf den zum landwirtschaftlichen Betrieb gehörenden, landwirtschaftlich genutzten Flächen erzeugt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">§ 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB ist Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, den Außenbereich einer Gemeinde grundsätzlich von Bebauung freizuhalten. Aus dem Schutzzweck der Vorschrift schließt das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung, dass diese die Errichtung dauerhafter Bauten zugunsten land- und forstwirtschaftlicher Betätigung nur dann privilegiert, wenn der Betrieb das Merkmal der „Nachhaltigkeit“ erfüllt und es sich um eine auf die Dauer lebensfähige Planung handelt; dies lasse in aller Regel eine landwirtschaftliche Betätigung allein auf gepachtetem Grund und Boden aus der Privilegierung ausscheiden, weil eine nur schuldrechtliche Beziehung privatrechtlich weniger verlässlich sei und andererseits bei ihr - insbesondere auch einvernehmliche - Änderungen der Rechtslage einer bodenrechtlichen Kontrolle entzogen seien. Diese Anforderungen gelten auch für die Verwirklichung eines neuen Betriebsstandorts, wenn der Vorhabenträger andernorts bereits auf eigenem Grund einen Hauptbetrieb unterhält. Fehlt es an dem Merkmal der Nachhaltigkeit, liegt bezogen auf den geplanten Standort kein Betrieb im Sinne der bauplanungsrechtlichen Privilegierungsnorm vor.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 1972 - IV C 9.70 -, juris Rn. 23 ff., zu § 35 Abs. 1 Nr. 1 BBauG unter Hinweis auf § 19 BBauG.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ein landwirtschaftlicher Betrieb ist danach durch eine spezifische betriebliche Organisation gekennzeichnet; erforderlich ist eine nachhaltige Bewirtschaftung, nämlich ein auf Dauer gedachtes und auf Dauer lebensfähiges Unternehmen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 11. April 1986 - 4 C 67.82 ‑, juris Rn. 14, vom 16. Mai 1991 - 4 C 2.89 -, juris Rn. 11, und vom 16. Dezember 2004 - 4 C 7.04 -, juris Rn. 10, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Aus diesen Vorgaben folgt ohne weiteres, dass eine Gesellschaft ohne zivilrechtlich in gesicherter Weise zugeordnete Eigentumsflächen, deren Gesellschafter das Recht haben, die in die Gesellschaft „eingebrachten“, aber in ihrem Eigentum verbliebenen Flächen nach eigenen Vorstellungen, auf eigene Rechnung und für eigene Projekte zu nutzen, kein landwirtschaftlicher Betrieb sein kann. Vielmehr handelt es sich dann um eine bloße Kooperation landwirtschaftlicher Betriebe.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Februar 2022, § 35 Rn. 30b, 33.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Eine solche Gesellschaft kann nach Maßgabe der gesellschaftsrechtlichen und vertraglichen Regelung jederzeit aufgekündigt werden kann, wenn ihr - nach eigenen Angaben der Klägerin hier: steuerlicher - Vertragszweck entfallen sein oder dies (zumindest einem der Gesellschafter) aus sonstigen Gründen sinnvoll erscheinen sollte.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Da die Sicherung einer dauerhaften Verfügbarkeit der landwirtschaftlichen Flächen ebenfalls zur Definition des Betriebsbegriffs zählt, ist klar, dass eine Fläche nicht zugleich zu verschiedenen Betrieben gehören kann.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Februar 2022, § 35 Rn. 30.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dies gilt nicht zuletzt auch mit Blick auf die Voraussetzungen des § 201 BauGB, wonach Tierhaltung zur Landwirtschaft im Sinne dieses Gesetzes nur zählt, soweit das Futter überwiegend auf den zum landwirtschaftlichen Betrieb gehörenden, landwirtschaftlich genutzten Flächen erzeugt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">b) Die gegen die Auslegung des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB durch das Verwaltungsgericht gerichteten Bedenken der Klägerin greifen nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">aa) Ohne Erfolg bleibt die Rüge der Klägerin, das Verwaltungsgericht sei von einem zu engen Begriff des (landwirtschaftlichen) Betriebs ausgegangen. Ihrer Auffassung nach sei vielmehr eine ganzheitliche Betrachtungsweise geboten. Der in diesem Zusammenhang erfolgte Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 1957 - III ZR 141/55 - ist indessen unbehelflich. Das genannte Urteil betrifft die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein enteignungsgleicher Eingriff in einen eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zu einem Entschädigungsanspruch führen kann. Mit der Privilegierung eines im Außenbereich geplanten landwirtschaftlichen Betriebs hat das Urteil des Bundesgerichtshofs nichts zu tun. Entsprechendes gilt für die angeführte Kommentarstelle, die sich auf § 90 BauGB und damit ebenfalls auf das Entschädigungsrecht bezieht. Aus den von der Klägerin zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts folgt nichts anderes. So betrifft etwa der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 1987 - 4 B 230 und 231.87 - den Begriff des „kleinen Betriebs des Beherbergungsgewerbes“ im Sinne von § 3 Abs. 3 BauNVO a. F.; die Urteile vom 17. Februar 2011 - 4 C 9.10 - und vom 16. Dezember 1993 - 4 C 19.92 - betreffen gewerbliche Betriebe i. S. d. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 6 BauGB. Die zitierte Passage aus dem Urteil des Senats vom 1. Dezember 2011 - 8 D 58/08.AK - (juris Rn. 327) verhält sich zu dem Begriff des Betreibers im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Argumentation der Klägerin scheint von der Annahme auszugehen, dass es gleichsam einen allgemeinen, in verschiedenen rechtlichen Zusammenhängen identisch auszulegenden Begriff des Betriebs gebe. Das trifft indessen nicht zu. Bei der Auslegung einer Norm sind entsprechend allgemeinen Grundsätzen neben deren Wortlaut insbesondere der jeweilige systematische Regelungszusammenhang sowie der erkennbare Sinn und Zweck und - das so gefundene Auslegungsergebnis gegebenenfalls bestätigend - die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 16. Februar 1983 - 2 BvE 1/83 u.a. -, juris Rn. 104 ff., insbes. Rn. 124 f.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon sind die Voraussetzungen des bei den zahlreichen Baurechtsnovellen stets unverändert gebliebenen Privilegierungstatbestands nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB in der höchstrichterlichen Rechtsprechung - wie vorstehend ausgeführt - seit langem geklärt. Rechtsprechung, die sich auf den Begriff des Betriebs i. S. v. § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB bezieht und aus der sich ergibt, dass eine bloße zivilvertragliche Kooperation zwischen eigenständigen landwirtschaftlichen Betrieben die Voraussetzungen der hier maßgeblichen Begriffsdefinition erfüllt, zeigt die Antragsbegründung nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">bb) Ferner meint die Klägerin, dass das zur Genehmigung gestellte und nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB zu beurteilende Vorhaben auch einem fremden Betrieb dienen könne.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Auch dies trifft nicht zu. Auch insoweit ist nicht allein der Wortlaut der Vorschrift, sondern sind auch deren erkennbarer Regelungszweck und der Regelungszusammenhang in den Blick zu nehmen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. März 1973 - IV C 49.71 - kann sich die Klägerin daher für ihre Rechtsauffassung nicht stützen. Das Urteil betrifft die Frage, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung oder Bebauungsgenehmigung bestehen kann, wenn der Antragsteller weder Eigentümer noch in vergleichbarer Weise am Grundstück berechtigt ist, sowie die Frage, was daraus folgt, wenn eine Genehmigung wegen bestehender privatrechtlicher Hindernisse nutzlos wäre. Darum geht es hier nicht. Die Entscheidung verhält sich nicht zu den hier maßgeblichen Vorschriften.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin berücksichtigt im Übrigen nicht, dass § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB eine Tierhaltung wie die hier geplante Putenmastanlage im Außenbereich nur dann privilegiert, wenn es sich um einen landwirtschaftlichen Betrieb im Sinne des Baugesetzbuchs handelt, und dass die Privilegierung i. S. d. § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nur möglich ist, wenn eine überwiegend eigene Futtergrundlage in örtlicher Nähe zum Betrieb gegeben ist.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 6. Januar 1997 - 4 B 256.96 -, juris Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Eine Tierhaltung ohne eigene Futtergrundlage fällt nicht unter den Begriff der Landwirtschaft.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1991 - 4 B 124.90 -, juris Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Das Futter muss danach auf den zu dem konkreten, nicht zu (irgend-) einem landwirtschaftlichen Betrieb gehörenden Flächen erzeugt werden können. Bereits aus dem Wortlaut des § 201 BauGB ergibt sich deshalb ohne weiteres, dass ein Vorhaben i. S. v. § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nicht von einem anderen als dem Inhaber des landwirtschaftlichen Betriebs zur Genehmigung gestellt werden kann, weil es anderenfalls an der nötigen Zuordnung der Flächen zu dem privilegierten Betrieb fehlen würde.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Aus dem Erfordernis der Nachhaltigkeit, durch das die dauerhafte Errichtung eines Bauvorhabens mit dem ebenfalls auf Dauer angelegten landwirtschaftlichen Betrieb verknüpft ist, sowie aus der zur Vermeidung von Missbrauch geregelten zwingenden Voraussetzung für die Zulassung eines Vorhabens im Rahmen eines landwirtschaftlichen Betriebs, dass dieses Vorhaben „diesem Betrieb dient“,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1967 - IV C 41.65 ‑, juris Rn. 14 (zu einem Wohnbauvorhaben),</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">folgt ebenfalls ohne weiteres, dass ein Vorhaben, das einem fremden landwirtschaftlichen Betrieb dient, bauplanungsrechtlich im Außenbereich nicht privilegiert ist. Nur durch die konkrete funktionale Verknüpfung von Betrieb, dessen eigenen Flächen und dem Vorhaben ist auf Dauer sichergestellt, dass die Voraussetzungen des Privilegierungstatbestands zugunsten eines landwirtschaftlichen Tierhaltungsbetriebs im konkreten Fall erfüllt sind.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Der Hinweis der Klägerin auf die Regelung in § 52 Abs. 2 BImSchG, in der neben dem Eigentümer auch der Betreiber im Zusammenhang mit der behördlichen Anlagenüberwachung genannt wird, führt nicht weiter. Die Vorschrift betrifft die immissionsschutzbehördliche Anlagenüberwachung und hat mit der Privilegierung landwirtschaftlicher Vorhaben im Außenbereich nichts zu tun.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Soweit sich die Klägerin auf die Kommentierung von Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr zu § 35 BauGB beruft, wonach es für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nicht entscheidend darauf ankomme, wer Eigentümer des Grundstücks sei, auf dem das privilegierte Vorhaben durchgeführt werden solle, zitiert sie unvollständig. Dort (§ 35 BauGB Rn. 18) ist nämlich ausdrücklich ausgeführt, dass ein Vorhaben die Privilegierung für einen landwirtschaftlichen Betrieb zwar auch erfüllen könne, wenn der Bauherr nicht Eigentümer des Grundstücks oder Eigentümer sämtlicher Betriebsflächen sei; dies bedürfe dann allerdings in der Regel für einen längeren Zeitraum abgeschlossener Nutzungsverträge, z. B. Pachtverträge, zugunsten einer hinreichend gesicherten Nutzbarkeit für den landwirtschaftlichen Betrieb. Genau daran fehlt es hier aber. Die Gesellschafter und nicht die Klägerin sind Eigentümer ihrer in die Gesellschaft „eingebrachten“ Flächen, auch ist nichts dafür vorgetragen oder sonst erkennbar, dass der Klägerin dauerhafte Nutzungsrechte im Gesellschaftsvertrag eingeräumt wären.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Auf § 2 der 9. BImSchV kann die Klägerin ihre Auffassung ebenfalls nicht stützen. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist zwar verfahrensrechtlich nicht erforderlich, dass derjenige, der eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung beantragt, die geplante Anlage auch später selbst betreibt. Hier geht es aber um die allein materiell-rechtlich zu beurteilende Frage, wem die in § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB geregelte Privilegierung eines Außenbereichsvorhabens zustehen kann.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">2. Mit der eingehend begründeten einzelfallbezogenen Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts setzt sich die Antragsbegründung nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend auseinander. Die Klägerin erfüllt offenkundig nicht die Voraussetzungen, die an einen landwirtschaftlichen Betrieb i. S. v. § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB zu stellen sind.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die diesbezüglichen Ausführungen in der Antragsbegründung gehen weitgehend an der entscheidungserheblichen Frage vorbei, ob die klagende Gesellschaft bürgerlichen Rechts ein nachhaltiges, auf Dauer angelegtes und organisatorisch verfestigtes Unternehmen und mithin selbst Inhaberin eines (einheitlichen) landwirtschaftlichen Betriebs oder „nur“ eine Kooperation von weiterhin selbstständigen, sich lediglich gegenseitig unterstützenden landwirtschaftlichen Betrieben ist.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Das Erfordernis einer Nachhaltigkeit des Betriebs und das daraus abgeleitete Erfordernis einer spezifischen betrieblichen Organisation konzediert die Klägerin zwar. Der Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts setzt sie aber nichts Substantielles entgegen. Sie wiederholt der Sache nach lediglich ihren bisherigen Vortrag. Weshalb sie meint, dass die Gesellschafter ihre Flächen nicht eigenverantwortlich bewirtschaften könnten, obwohl sich aus dem Vortrag des Gesellschafters Dr. von T.             in der mündlichen Verhandlung genau das Gegenteil ergibt, erschließt sich nicht. Umstände, die auf eine dauerhafte und ähnlich einer dinglichen Sicherung oder jedenfalls einem langfristigen Pachtvertag rechtlich gesicherte Verfügungsbefugnis allein der Klägerin über die Eigentumsflächen der Gesellschafter schließen lassen, ergeben sich auch aus der Zulassungsbegründung nicht. Sie sind auch den Vereinbarungen der Gesellschafter - nicht zuletzt in Bezug auf die Vertragslaufzeit und die Kündigungsmöglichkeiten - nicht ansatzweise zu entnehmen. Vor allem aber haben die Gesellschafter die Letztentscheidungsbefugnis über die Nutzung ihrer Eigentumsflächen für eigene Projekte behalten. Das schließt eine Organisation, bei der die klagende Gesellschaft eigenverantwortlich und für die nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erforderliche zeitliche Perspektive „auf Generationen“, d. h. jedenfalls für einen überschaubaren und einer verlässlichen Planung noch zugänglichen Zeitraum,</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2004 - 4 C 7.04 -, juris Rn. 11,</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">über die Flächennutzung und die betrieblichen Aktivitäten entscheidet, aus.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Der Sache nach räumt die Klägerin auf Seite 26 der Antragsbegründung selbst ein, dass der Betrieb, dem das Vorhaben dienen soll, die Hofstelle Burg S.         ist. Deren Betreiber ist aber eindeutig Dr. von T.             , der mit seinen Mitgesellschaftern lediglich bei der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung kooperiert, letztlich jedoch allein den bestimmenden Einfluss auf die von ihm eingebrachten Flächen behalten hat. In diesem Sinne ist auch eindeutig die Betriebsbeschreibung des ursprünglichen Genehmigungsantrags abgefasst, wonach das Vorhaben eine Erweiterung des landwirtschaftlichen Betriebs von Herrn Dr. T.             darstellen soll.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">3. Da die Klägerin bereits nicht Inhaberin eines landwirtschaftlichen Betriebs i. S. d. § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB ist und demgemäß die aus dieser Vorschrift folgende Rechtsposition schon deshalb nicht für sich in Anspruch nehmen kann, kommt es auf die weiteren Erwägungen der Klägerin dazu, ob die Entfernung zwischen der Burg S.         und dem Vorhabenstandort der Annahme eines räumlich-funktionalen Zusammenhangs entgegensteht, nicht an. Zu der von der Klägerin weiter in der Antragsbegründung angesprochenen Genehmigungsfähigkeit von alternativ in Betracht zu ziehenden Standorten mit Blick auf Stickstoffdepositionen und den Denkmalschutz hat das Verwaltungsgericht keine entscheidungserheblichen Ausführungen gemacht. Insoweit kann keine Rede davon sein, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen „verkannt“ habe (vgl. S. 29 der Antragsbegründung). Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich auch insoweit nicht.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">II. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Besondere Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO sind nicht gegeben, weil der Rechtsstreit nach dem Vorstehenden keine Sach- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu diesem Maßstab: OVG NRW, Beschlüsse vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17 -, juris Rn. 43 f., und vom 22. März 2021 - 8 A 3518/19 -, juris Rn. 67.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Der von der Klägerin angeführte Begründungsaufwand weist hier nicht auf besondere Schwierigkeiten. Das Urteil hat (einschließlich Rubrum und Streitwertsetzung nebst Rechtsmittelbelehrung) einen Gesamtumfang von 13,5 Seiten. Auf die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB entfallen weniger als fünf Seiten. Ein Hinweis auf das Vorliegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten ergibt sich daraus nicht. Der Begründungsaufwand liegt keinesfalls über dem Durchschnitt in immissionsschutzrechtlichen Verfahren.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">III. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist nicht dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache setzt voraus, dass eine bestimmte, obergerichtlich oder höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärte und für die Berufungsentscheidung erhebliche Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art herausgearbeitet und formuliert wird; außerdem muss angegeben werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll. Darzulegen sind also die konkrete Frage, ihre Klärungsbedürftigkeit, ihre Klärungsfähigkeit und ihre allgemeine Bedeutung. Im Hinblick auf die Klärungsfähigkeit sind unter anderem Angaben zur Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage in einem Berufungsverfahren erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2021 - 8 A 3518/19 -, juris Rn. 70.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">An diesen Voraussetzungen fehlt es vorliegend.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Frage,</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">„ob ein räumlich-funktionaler Zusammenhang zu einem konkreten Betriebsstandort für das Tatbestandsmerkmal des ‚Dienens‘ im Sinne von § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB überhaupt erforderlich ist“,</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">ist eine Entscheidungserheblichkeit nicht dargelegt. Die Urteilsgründe enthalten auf Seite 11 insoweit lediglich einen ausdrücklich als vorsorglich, mithin nicht entscheidungstragend gekennzeichneten Hinweis.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Auch die sich daran anschließenden Fragen,</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">„ob eine Nähe des Vorhabens zu den Betriebsflächen ausreicht“ und</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">„nicht dann davon abgewichen werden kann, wenn sich ein näherer Standort als nicht genehmigungsbedürftig“ [gemeint ist wohl: ‚nicht genehmigungsfähig‘] erwiese“,</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">sind ebenfalls unerheblich, weil das verwaltungsgerichtliche Urteil darauf nicht abgestellt hat.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die ferner in Bezug auf § 35 Abs.1 Nr. 1 BauGB aufgeworfenen Fragen,</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">„wie dieses Merkmal bei Betriebsneugründungen anzuwenden ist“, und,</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">„ob das Erfordernis des Dienens durch Gründung eines neuen Betriebsstandorts und damit eines weiteren Schwerpunkts des betrieblichen Ablaufs hergestellt werden kann“,</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">stellen sich - wie die Klägerin selbst ausführt -, wenn Herr Dr. von T.             der Inhaber des landwirtschaftlichen Betriebs ist. Dies gilt nach den vorstehenden Ausführungen aber allenfalls dann, wenn er auch selbst - und nicht wie hier: die Klägerin - als Vorhabenträger in Bezug auf den Putenmaststall auftritt. Ungeachtet dessen lassen die Ausführungen der Klägerin auch insoweit eine Darlegung der Klärungsbedürftigkeit mit Blick auf die bereits vorliegende umfangreiche Rechtsprechung vermissen.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">IV. Die Berufung ist schließlich nicht wegen der von der Klägerin auf Seite 37 der Antragsbegründung beiläufig geltend gemachten Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Eine die Berufung eröffnende Abweichung im Sinne dieser Vorschrift ist nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nur dann hinreichend bezeichnet, wenn ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechtssatz dargelegt wird, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2017 - 8 A 2915/15 -, juris Rn. 55 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG. Die Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung erfolgt in Anwendung von § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Dabei orientiert sich der Senat an Nr. 19.1.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Auf das Anhörungsschreiben vom 18. August 2022 wird Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,504
olgd-2022-09-02-4-u-8121
{ "id": 820, "name": "Oberlandesgericht Düsseldorf", "slug": "olgd", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
4 U 81/21
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-10T10:01:23"
"2022-10-17T11:09:59"
Urteil
ECLI:DE:OLGD:2022:0902.4U81.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Berufung des Klägers gegen das am 25.03.2021 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal wird kostenpflichtig zurückgewiesen.</p> <p>Das Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Zwangsvollstreckung der Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des insgesamt vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn die Beklagte nicht vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p> <p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht einen Anspruch auf Auszahlung der Erlebensfallleistung einer bei der Beklagten abgeschlossenen Lebensversicherung geltend. Versicherungsnehmerin war die Tante des Klägers, die am 17.01.1926 geborene A. B. I. Sp.. Diese beantragte am 26.04.2001 den Abschluss der Lebensversicherung. Versicherte Person war der Kläger, von dessen Konto auch die Versicherungsbeiträge abgebucht werden sollten (und wurden). Ferner war der Kläger auch als widerruflich Bezugsberechtigter für den Erlebensfall angegeben, während die Versicherungsnehmerin für den Todesfall bezugsberechtigt sein sollte. Außerdem stand im Antrag, dass der Kläger im Todesfall der Versicherungsnehmerin während der Vertragslaufzeit an deren Stelle treten solle. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anlage K1, Bl. 7 f. GA, verwiesen. Die Lebensversicherung wurde unter dem 28.05.2001 policiert (Anlage K2, Bl. 9 ff. GA). Von der in § 10 AVB vorgesehenen Möglichkeit, ein unwiderrufliches Bezugsrecht zu bestimmen, machte die Versicherungsnehmerin keinen Gebrauch. Die Versicherung hatte eine Laufzeit von 15 Jahren bis zum 31.05.2016.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 23.03.2016 schrieb die Beklagte der Versicherungsnehmerin folgendes (Anlage B1, Bl. 74 GA):</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">              „Sehr geehrte Frau Sp.,              bei einer Überprüfung haben wir festgestellt, dass uns zu diesem Vertrag keine aktuelle Bankver-              bindung vorliegt. Um die Auszahlung der Versicherungsleistung pünktlich an Sie anweisen zu können,               teilen Sie uns bitte kurzfristig Ihre Bankverbindung mit.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">              Senden Sie uns bitte daher anliegende Erklärung vervollständigt zurück."</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Versicherungsnehmerin übersandte darauf unter dem 02.04.2016 folgende Rückantwort (Anlage K9, Bl. 36 GA = Anlage B2, Bl. 75 GA):</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">„Auszahlung von Versicherungsleistungen</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Versicherungsnummer: …</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Bitte zahlen Sie die Versicherungsleistung auf folgende Bankverbindung:</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Kontoinhaber:              …Bankinstitut:                …BIC*:                          …IBAN*:                        …*finden Sie auf Ihrem Kontoauszug oder der EC-Karte; die deutsche IBAN ist immer 22 Stellen lang.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Falls es sich bei dem Konto nicht um Ihr eigenes Konto handelt, benötigen wir außer dem Namen des Kontoinhabers auch dessen Anschrift. Bitte beachten Sie diesbezüglich folgenden Hinweis:</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Erfolgt die Auszahlung der Versicherungsleistung nicht an den Versicherungsnehmer, stellt dies einen erbschafts- oder schenkungssteuerpflichtigen Tatbestand dar. Unsere Gesellschaft in diesen Fällen eine Anzeigepflicht gegenüber den Finanzbehörden. Diese Anzeigepflicht besteht immer, wenn der Auszahlungsbetrag die Bagatellgrenze von 5.000,00 EUR übersteigt.“</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zum Ablauf der Lebensversicherung am 01.06.2016 zahlte die Beklagte auf das von der Versicherungsnehmerin angegebene Konto einen Betrag in Höhe von 75.894,32 Euro; diese leitete das Geld nicht an den Kläger weiter.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am 23.10.2018 verstarb die Versicherungsnehmerin, was der Kläger der Beklagten mitteilte. Diese schrieb darauf unter dem 07.05.2019, dass aufgrund des Erlöschens des Vertrags infolge der Auszahlung am 01.06.2016 keine weiteren Ansprüche bestünden (Anlage K3, Bl. 25 GA). Nach Anwaltsschreiben vom 30.10.2019 (Anlage K4, Bl. 26 f. GA) teilte die Beklagte mit, dass die Versicherungsnehmerin lediglich im Antrag Verfügungen gemacht habe und danach keine Änderungen vorgenommen worden seien (Anlage K6, Bl. 29 GA). Im vom Kläger unter dem 30.12.2019 (Anlage K8, Bl. 32 f. GA) eingeleiteten Verfahren vor dem Ombudsmann für Versicherungen teilte die Beklagte indes unter dem 02.03.2020 mit, dass in dem Schreiben der Versicherungsnehmerin vom 02.04.2016 ein konkludenter Widerruf der Bezugsberechtigung des Klägers liege (Anlage K9, Bl. 34 ff. GA). Trotz Anwaltsschreibens vom 27.03.2020 (Anlage K10, Bl. 37 f. GA) half der Ombudsmann für Versicherungen der Beschwerde unter dem 20.04.2020 nicht ab (Anlage B3, Bl. 76 f. GA).</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat die Ansicht vertreten, sein Bezugsrecht sei nicht durch die Versicherungsnehmerin widerrufen worden. In der Formularerklärung vom 02.04.2016 befinde sich kein Hinweis auf einen solchen Widerruf. Die Versicherungsnehmerin habe sich angesichts des lange zurückliegenden Vertragsabschlusses auch keine Gedanken über einen Widerruf gemacht, sondern schlicht ihre Kontoverbindung mitgeteilt und mitteilen wollen, wie es auch im Anschreiben vom 23.03.2016 erbeten worden sei; auch in diesem Anschreiben sei von dem Bezugsrecht ja keine Rede gewesen. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Hinweis auf etwaige Steuerpflichten dazu führe, ein eigenes Konto anzugeben, und dass die Versicherungsnehmerin nicht die Auszahlung an eine andere Person als sich selbst oder den Kläger verlangt habe.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat sich weiter auf den Standpunkt gestellt, dass die Versicherungsnehmerin wirksam das Bezugsrecht des Klägers widerrufen habe. Dies sei auch konkludent möglich und ergebe sich aus ihrer Auszahlungsanweisung.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen erstinstanzlichen Vortrags und der von den Parteien vor dem Landgericht gestellten Anträge wird gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Landgerichts Wuppertal vom 25.03.2021 (Bl. 173 ff. GA) und die in den Entscheidungsgründen enthaltenen tatsächlichen Feststellungen Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch gegen die Beklagte, weil er bei Beendigung der Versicherung nicht mehr bezugsberechtigt gewesen sei. Vielmehr sei die Versicherungsnehmerin selbst aufgrund ihrer Mitteilung vom 02.04.2016 bezugsberechtigt gewesen, da sie die ursprüngliche und lediglich widerrufliche Bezugsberechtigung des Klägers damit wirksam widerrufen habe. Solches sei rechtlich ohne weiteres und auch konkludent möglich gewesen; insbesondere sei die Erklärung der Versicherungsnehmerin hinreichend deutlich gewesen und habe klar erkennen lassen, in welcher Weise die Bezugsberechtigung geändert werden solle. Denn die Versicherungsnehmerin habe auf Aufforderung der Beklagten unmissverständlich und ausdrücklich angegeben, an wen die Versicherungsleistung ausgezahlt werden solle und dabei entgegen dem ursprünglichen Vertrag vermerkt, dass eine Auszahlung an sie und nicht direkt an den Kläger erfolgen solle; hätte sie eine Auszahlung an den Kläger gewollt, hätte sie dies durch Nennung der Kontoverbindung des Klägers vermerkt. Der Zeitraum seit Abschluss des Vertrages spreche nicht dafür, dass sich die Klägerin bei der Bezugsrechtsänderung keine Gedanken gemacht habe, da sie im Gegenteil dann auf den bestehenden Vertrag, die bestehende Kontoverbindung oder den ehemals Bezugsberechtigten hätte verweisen können. Durch den Hinweis auf etwaige steuerliche Folgen habe der Versicherungsnehmerin auch vor Augen gestanden, dass sie die Wahl gehabt habe, an wen die Leistung ausgezahlt werden solle. Auch das spätere Verhalten der Versicherungsnehmerin spreche für einen Widerruf des Bezugsrechts, da sie das Geld widerspruchslos an sich genommen und behalten habe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Schreiben der Beklagten vom 23.03.2016 und dem Umstand, dass die Versicherungsnehmerin nicht ausdrücklich darauf hingewiesen worden sei, dass eine andere Kontoverbindung als im Vertrag zugleich eine Änderung der Bezugsberechtigung sei. Denn es stehe der Beklagten aus Gründen der Rechtssicherheit frei, sich vor der Auszahlung zu erkundigen, wohin das Geld fließen solle. Aus der Erklärung der Versicherungsnehmerin sei hinreichend deutlich der Wille zum Ausdruck gekommen, das Bezugsrecht zu ändern. Schutz- oder Informationspflichten gegenüber dem Kläger bestünden nicht. Etwas anderes folge auch nicht aus der Entscheidung des OLG Köln vom 20.12.2000 (5 U 116/00), da eine andere Fallgestaltung zugrunde gelegen habe.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Mit seiner gegen das landgerichtliche Urteil gerichteten form- und fristgerechten Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen. Wegen der Einzelheiten der Rechtsmittelbegründung wird auf die Berufungsbegründung vom 25.06.2021 (Bl. 205 ff. GA) Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt, unter Abänderung des am 25.03.2021 verkündeten Urteils des Landgerichts Wuppertal, Aktenzeichen 4 O 288/20,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">die Beklagte zu verurteilen, an ihn 75.894,32 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.12.2019 zu zahlen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Auch die Beklagte wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der Kläger hat weder Umstände vorgetragen, aus denen sich eine Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt, noch konkrete Anhaltspunkte bezeichnet, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Solche sind auch sonst nicht ersichtlich.</p> <h2><strong>1.</strong>                                                                                                                                                                                              </h2> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Zutreffend hat das Landgericht festgestellt, dass der Kläger aus der streitgegenständlichen Lebensversicherung nicht mehr bezugsberechtigt war.</p> <h3><strong>a)</strong>                                                                                                                                                                                                                </h3> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der rechtlichen Grundsätze verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts, die insoweit vom Kläger auch nicht angegriffen werden.</p> <h3><strong>b)</strong>                                                                                                                                                                                                                </h3> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat diese rechtlichen Grundsätze zutreffend angewandt und die Erklärung der Versicherungsnehmerin vom 02.04.2016 rechtsfehlerfrei ausgelegt. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die Ausführungen im landgerichtlichen Urteil. Die Angriffe des Klägers in seiner Berufungsbegründung führen zu keinem anderen Ergebnis.</p> <h4><strong>aa)</strong>                    </h4> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger darauf abstellt, dass im Antragsformular vom 26.04.2001 nicht vorgesehen war, ein unwiderrufliches Bezugsrecht zu bestimmen, ändert dies nichts daran, dass es eine solche Möglichkeit gemäß § 10 AVB gab und sie gerade nicht genutzt wurde – aus welchen Gründen auch immer. Der Kläger hatte damit von vorneherein versicherungsvertraglich lediglich eine sehr ungesicherte Rechtsposition und trug das Risiko, dass sein lediglich widerruflich bestehendes Bezugsrecht jederzeit, ohne seine Mitwirkung und auch ohne seine Kenntnis widerrufen wird.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Daran ändert auch nichts, dass der Versicherungsvertrag im Todesfall der Versicherungsnehmerin auf den Kläger übergehen sollte. Zwar mag die Rechtsposition des Klägers dadurch gestärkt gewesen sein – dies sollte aber offensichtlich erst mit dem Todesfall der Versicherungsnehmerin gelten, während die Versicherungsnehmerin zu Lebzeiten versicherungsvertraglich uneingeschränkt blieb. Gleiches gilt hinsichtlich des Umstands, dass die Versicherungsbeiträge vom Kläger gezahlt wurden. Auch dies ändert nichts daran, dass der Kläger in versicherungsvertraglicher Hinsicht den Handlungen der Versicherungsnehmerin ausgeliefert war, da er sich lediglich ein widerrufliches Bezugsrecht einräumen ließ. Etwaige Folgen im zugrundeliegenden Verhältnis zwischen Versicherungsnehmerin und Kläger sind nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger der Auffassung ist, dass die besondere Rechtsnachfolgeregelung nur dann sinnvoll sei, wenn dadurch zugleich die Verfügungsbefugnisse der Versicherungsnehmerin ausgeschlossen seien, ist dies nicht zutreffend: Abgesehen davon, dass – wie ausgeführt – solches gerade nicht vereinbart wurde, obwohl es nach den Bedingungen möglich gewesen wäre, führt die Rechtsnachfolgeregelung nur dazu, dass die Fortsetzung des Versicherungsvertrages <span style="text-decoration:underline">nach</span> dem Tod der Versicherungsnehmerin allein vom Willen des Klägers und nicht der Erbengemeinschaft abhängig sein sollte und nach dem Tod der Versicherungsnehmerin allein der Kläger über die Bezugsberechtigung hätte entscheiden können. Dies ist durchaus ein sinnvoller Regelungsgehalt für die Zeit nach dem Tod der Versicherungsnehmerin.</p> <h4><strong>bb)</strong>                    </h4> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">An sich zutreffend ist der Hinweis des Klägers darauf, dass im Antragsformular nicht vorgesehen war, eine Kontoverbindung für den bzw. die Bezugsberechtigten anzugeben. Dennoch hat das Landgericht zutreffend ausgeführt, dass die Zahlungsanweisung der Versicherungsnehmerin vom 02.04.2016 der ursprünglichen Anweisung im Versicherungsantrag entgegen steht: Während ursprünglich eine Zahlung an den Kläger im Erlebensfall vorgesehen war, hat die Versicherungsnehmerin nunmehr ausdrücklich erklärt, dass die Versicherungsleistung an sie gezahlt werden solle. Der Wortlaut der Erklärung vom 02.04.2016 ist eindeutig und lässt keinen Raum für Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Schreiben der Beklagten vom 23.03.2016. Zwar bat die Beklagte mit diesem Schreiben nicht ausdrücklich darum, den oder die Bezugsberechtigten für den Versicherungsfall zu benennen, sondern um Mitteilung einer Bankverbindung. Indes greift die Sichtweise des Klägers zu kurz, dass die Beklagte lediglich um Mitteilung der aktuellen Bankverbindung der Versicherungsnehmerin gebeten habe. Dies war gerade nicht der Fall. Denn es ging der Beklagten um Mitteilung der Bankverbindung ausschließlich für die Auszahlung der Versicherungsleistung, wie sie auch ausdrücklich in dem Schreiben ausgeführt hat. Die Versicherungsnehmerin wusste daher sowohl aufgrund der eindeutigen und ausdrücklichen Formulierung in der Anweisung vom 02.04.2016 als auch aufgrund der ausdrücklichen Bitte im Schreiben vom 23.03.2016, dass sie die Bankverbindung für die Auszahlung der Versicherungsleistung angab. Damit wusste – und wollte – sie, dass die Versicherungsleistung nunmehr an sie selbst und eben nicht an den Kläger ausgezahlt werden würde. Dass die Versicherungsnehmerin zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wusste, dass ursprünglich der Kläger bezugsberechtigt war, behauptet der Kläger schon selber nicht. Solches ist hier auch nicht anzunehmen, da es immerhin um einen nicht alltäglichen Vertrag mit einem hohen Finanzvolumen ging. Der Vortrag des Klägers, es widerspreche jeder Lebenserfahrung anzunehmen, dass ein Adressat eines solchen Schreibens vor einer Beantwortung prüft, welche Abreden in Bezug auf das Bezugsrecht getroffen waren, ist nicht zutreffend. Vielmehr ist angesichts der weitreichenden Folgen gerade anzunehmen, dass sich ein Versicherungsnehmer Gedanken macht, wie und an wen die Versicherungsleistung zu erbringen sein wird, wenn er vom Versicherer – wie hier – ausdrücklich mit dieser Frage konfrontiert wird. Ohnehin wäre ein solches positives Änderungsbewusstsein schon nicht erforderlich, da allein der Wille maßgeblich ist, den (nunmehrigen) Bezugsberechtigten ab dem Erklärungszeitpunkt zu bestimmen; der damit gegebenenfalls verbundene gleichzeitige Widerruf des vorbestehenden Bezugsrechts ist dann konkludent zwingend miterklärte Folge dieser Bezugsrechtsbestimmung.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Ob die Versicherungsnehmerin das Bezugsrecht ohne das Schreiben der Beklagten möglicherweise nicht geändert hätte, steht nicht fest. Vielmehr spricht der Umstand, dass die Versicherungsnehmerin das Geld nicht nur widerspruchslos angenommen, sondern dann auch behalten hat, deutlich dafür, dass sich die Versicherungsnehmerin seinerzeit bewusst und gewollt dafür entschieden hat, die Erlebensfallleistung selber zu vereinnahmen.</p> <h4><strong>cc)</strong>                     </h4> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung des Klägers ist das unter dem 02.04.2016 unterschriebene Formular eindeutig zu verstehen, und zwar auch im Lichte des Schreibens der Beklagten vom 23.03.2016. Ausdrücklich und eindeutig ist die Rede davon, dass die Auszahlung der Versicherungsleistung bestimmt und dafür die Bankverbindung angegeben wird. Eines besonderen Hinweises darauf, dass die Angabe einer anderen Person als eines ursprünglichen Bezugsberechtigten zugleich den Widerruf einer ursprünglichen Bezugsberechtigung zur Folge hat, bedarf es dafür nicht – dies ist selbstverständlich.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber ist eine mögliche Steuerpflicht gerade nicht allgemein bekannt, so dass dieser Hinweis nicht irreführend, sondern berechtigt ist; durch diesen Hinweis – und den vorstehenden Hinweis auf die gegebenenfalls erforderliche Angabe von Name und Anschrift eines anderen Empfängers – wird für den Versicherungsnehmer auch deutlich, dass es ohne weiteres möglich ist, andere Personen und entsprechende Bankverbindungen als sich selbst anzugeben. Dagegen spricht auch nicht die vom Kläger angeführte Möglichkeit, eine fremde Person als bloßen Zahlungsempfänger anzugeben, ohne diesen zugleich zum Bezugsberechtigten zu machen. Darum ging es hier gerade nicht, da die Versicherungsnehmerin sich selbst und ihre eigene Bankverbindung angegeben und nach Erhalt der Versicherungsleistung diese behalten hat.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die zutreffende Auslegung des Landgerichts hätte auch nicht zu problematischen Ergebnissen geführt, wenn die Versicherungsnehmerin auf das Schreiben der Beklagten vom 23.03.2016 nicht reagiert hätte oder ihre Anweisung vom 02.04.2016 erst nach dem Ablauf der Versicherung bei dieser eingetroffen wäre. In diesem Fall wäre es bei der ursprünglichen Bezugsberechtigung verblieben, die sich dann mit Eintritt des Versicherungsfalls verfestigt hätte.</p> <h4><strong>dd)</strong>                   </h4> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Kläger kann auch aus der Entscheidung des OLG Köln vom 20.12.2000 (5 U 116/00; vgl. dazu jüngst OLG Stuttgart, Urteil vom 10. Februar 2022 – 7 U 165/21 –, Rn. 29, juris, m.w.N.) nichts für sich herleiten, da unterschiedliche Sachverhalte betroffen sind. Dort ging es um die Kündigung eines Lebensversicherungsvertrages mit einer damit verbundenen Auszahlungsanweisung für den Rückkaufswert und die damit verbundene Frage, ob damit auch zugleich auch ein Bezugsrecht für einen vor Ablauf der Kündigungsfrist eintretenden Versicherungsfall widerrufen wurde. Hier indes hat die Versicherungsnehmerin ausdrücklich eine Auszahlungsanweisung hinsichtlich der Versicherungsleistung getroffen, und exakt dieser Fall ist dann kurze Zeit später auch eingetreten.</p> <h2><strong>2.</strong>                                                                                                                                                                                              </h2> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger ferner darauf abstellt, dass die Beklagte ihm gegenüber Schutz- und Informationspflichten verletzt habe, ist schon nicht konkret vorgetragen, welche ihm gegenüber bestehenden Pflichten die Beklagten in welcher Weise verletzt haben soll. Darüber hinaus ist auch nicht dargelegt, welcher Schaden dem Kläger entstanden sein soll: Dazu müsste er zunächst vortragen und gegebenenfalls unter Beweis stellen, dass er keine Ansprüche gegen die Versicherungsnehmerin bzw. ihren Nachlass hat bzw. solche Ansprüche nicht durchsetzbar sind. Ohnehin hat der Kläger der Sache nach mit der Klage keinen Schadensersatzanspruch geltend gemacht, sondern einen primären Erfüllungsanspruch, so dass es auf die Verletzung von Schutz- und Informationspflichten von vorneherein nicht ankommt.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Ein Grund zur Zulassung der Revision besteht nicht. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert beträgt bis 76.000 Euro.</p>
346,477
ovgni-2022-09-02-12-la-5622
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
12 LA 56/22
"2022-09-02T00:00:00"
"2022-09-08T10:01:10"
"2022-10-17T11:09:54"
Teilurteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Anträge der Beigeladenen sowie des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer - vom 21. März 2022 werden abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Kostenentscheidung und die Streitwertfestsetzung bleiben der Schlussentscheidung vorbehalten.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Klägerin - eine Stadt - wendet sich gegen eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung, die der Beklagte der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen für die Errichtung und den Betrieb von zwei Windenergieanlagen erteilt hat, sowie gegen die Ersetzung ihres gemeindlichen Einvernehmens durch den Beklagten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Im Dezember 2014 beantragte eine Rechtsvorgängerin der Beigeladenen beim Beklagten die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von zwei Windenergieanlagen (WEA) des Typs F. N117 mit einer Nennleistung von jeweils 2.400 kW, einer Nabenhöhe von 91 m, einem Rotordurchmesser von 117 m und einer Gesamthöhe von 149,5 m. Die Vorhabenstandorte befinden sich auf landwirtschaftlich genutztem Gelände im Gebiet der Klägerin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Nordwestlich der Anlagenstandorte befindet sich hinter einer Bahnlinie in 460 m (WEA 1) bzw. 820 m (WEA 2) Entfernung das denkmalgeschützte Ensemble des Gutes G.. Das Wohnhaus und sämtliche Wirtschaftsgebäude sind in das Verzeichnis der Kulturdenkmale eingetragen, das Gutshaus und die Wassermühle als Einzeldenkmale, die Wirtschaftsgebäude als konstituierende Bestandteile einer Gruppe baulicher Anlagen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Im Rahmen des Genehmigungsverfahrens bat der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 23. Februar 2016, ihr Einvernehmen nach § 36 BauGB zu erteilen. Nachdem der Rat der Klägerin beschlossen hatte, das Einvernehmen zu versagen, erklärte die Klägerin mit Schreiben vom 20. Mai 2016 die Versagung des Einvernehmens gegenüber dem Beklagten. Dies begründete sie damit, dass das Vorhaben Belange des Naturschutzes und des Denkmalschutzes erheblich beeinträchtige. Mit Bescheid vom 22. September 2016 ersetzte der Beklagte das Einvernehmen der Klägerin und ordnete die sofortige Vollziehung an, bevor er mit Bescheid vom 23. September 2016 der H. GmbH (Rechtsvorgängerin der Beigeladenen) die beantragte immissionsschutzrechtliche Genehmigung, die mit verschiedenen Nebenbestimmungen versehen war, erteilte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Die von der Klägerin am 20. Oktober 2016 eingelegten Widersprüche gegen den Ersetzungsbescheid vom 22. September 2016 und gegen den Genehmigungsbescheid vom 23. September 2016 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 15. März 2017 zurück.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Auf die am 12. April 2017 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht den das Einvernehmen ersetzenden Bescheid des Beklagten vom 22. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2017 aufgehoben und zudem festgestellt, dass der die Errichtung und den Betrieb der beiden Windenergieanlagen genehmigende Bescheid vom 23. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2017 rechtswidrig ist und nicht vollzogen werden darf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Klage gegen die Ersetzung des Einvernehmens sei zulässig. Ihr stünden weder der Rechtsgedanke des § 44a VwGO noch das Verbot doppelter Rechtshängigkeit aus § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG oder die Konzentrationswirkung des § 13 BImSchG entgegen. Sie sei auch begründet, da der Ersetzungsbescheid vom 22. September 2016 rechtswidrig sei und die Klägerin in ihren Rechten verletze (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klägerin sei mit ihrem Vortrag nicht gemäß § 6 Satz 1 UmwRG präkludiert, da der Ersetzungsbescheid nicht in den Anwendungsbereich des Umweltrechtsbehelfsgesetzes falle. Die Voraussetzungen für die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens aus § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB, bei dessen Überprüfung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Ersetzung, hier also auf den 22. September 2016, abzustellen gewesen sei, hätten nicht vorgelegen. Ob der Bauherr im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die „Baugenehmigung“ habe, sei dagegen irrelevant. Denn der Gesetzgeber habe in dem Konflikt zwischen Planungshoheit und Baufreiheit eine eindeutige Regelung getroffen, der zufolge gegen den Willen der Gemeinde in den Fällen des § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB bis zu einer gerichtlichen Klärung der Genehmigungsfähigkeit eines Vorhabens auf die Verpflichtungsklage des Bauherrn hin keine „Baugenehmigung“ erteilt werden dürfe. Änderungen der fachlichen Erkenntnisse seien hingegen zu berücksichtigen, da sie keine nachträgliche Veränderung der Sach- oder Rechtslage, sondern spätere Erkenntnisse zur ursprünglichen Sachlage darstellten. Weshalb dieser allgemeine Grundsatz auf die Konstellation der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens nicht anwendbar sein solle, wie die Beigeladene meine, erschließe sich der Kammer nicht. Zwar dürfe der Bauherr darauf vertrauen, dass die Gemeinde an ihr einmal erteiltes oder fingiertes Einvernehmen gebunden sei, wenn sie erst nachträglich zu der Erkenntnis gelange, dass das Vorhaben mit den §§ 31, 33 bis 35 BauGB unvereinbar sei und das Einvernehmen deshalb hätte versagt werden müssen. Ein derartiger Vertrauensschutz könne aber nicht bestehen, wenn die Gemeinde ihr Einvernehmen versagt habe und sich gegen die Ersetzung des Einvernehmens zur Wehr setze.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Gemäß § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB könne die nach Landesrecht zuständige Behörde ein rechtswidrig versagtes Einvernehmen der Gemeinde ersetzen. Hier habe die Klägerin ihr Einvernehmen jedoch zu Recht versagt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB dürfe das Einvernehmen der Gemeinde nur aus den sich aus den §§ 31, 33, 34 und 35 ergebenden Gründen versagt werden. Ein derartiger Grund sei im Zeitpunkt der Ersetzungsentscheidung gegeben gewesen, und zwar in Gestalt eines Verstoßes gegen das artenschutzrechtliche Verbot aus § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG, wonach es verboten sei, wildlebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören. Der Tötungstatbestand, der nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 92/43/EWG nur absichtliche Formen der Tötung umfasse, sei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch dann erfüllt, wenn sich die Tötung als unausweichliche Konsequenz eines im Übrigen rechtmäßigen Verwaltungshandelns erweise. Seien im Anhang IV Buchstabe a der FFH-Richtlinie aufgeführte Arten - wie die in Niedersachsen vorkommenden Fledermausarten - betroffen, so liege gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG ein Verstoß gegen das Tötungs- und Verletzungsverbot nach Absatz 1 Nummer 1 nicht vor, wenn die Beeinträchtigung durch den Eingriff oder das Vorhaben das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare der betroffenen Arten nicht signifikant erhöht sei und diese Beeinträchtigung bei Anwendung der gebotenen, fachlich anerkannten Schutzmaßnahmen nicht vermieden werden könne.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Für die Fledermausarten Großer Abendsegler und Rauhautfledermaus sei jedoch ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko zu bejahen, weil die zum Zeitpunkt der Ersetzungsentscheidung in den Antragsunterlagen vorgesehenen Vermeidungsmaßnahmen für diese beiden Fledermausarten unzureichend gewesen seien. Nach dem Ergebnis des Fachbeitrags Fledermäuse sei an beiden Vorhabenstandorten mit erheblichen Beeinträchtigungen von Fledermäusen zu rechnen. Obwohl der Fachbeitrag nicht den Anforderungen des niedersächsischen Windenergieerlasses (= WEE 2016) entsprochen habe, etwa weil entgegen Ziffer 5.2.3.1 Abs. 6 des Leitfadens des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie und Klimaschutz „Umsetzung des Artenschutzes bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen in Niedersachsen“ (Artenschutzleitfaden, Anlage 2 zum WEE 2016) keine Daueraufzeichnungssysteme verwendet worden seien, habe der Beklagte ihn seiner Bewertung zugrunde legen dürfen. Denn bei der im Jahr 2012 erstellten Untersuchung habe es sich um ein noch hinreichend aktuelles und aussagekräftiges Ergebnis aus früheren Untersuchungen im Sinne von Ziffer 5.2 des Artenschutzleitfadens gehandelt. Aus dem Fachbeitrag Fledermäuse sei hervorgegangen, dass der Große Abendsegler die zweithäufigste Art im Untersuchungsgebiet gewesen sei. An der Horchkiste am Standort der WEA 1 habe die Häufigkeit von Kontakten der Zwergfledermaus und des Großen Abendseglers sogar beinahe gleichauf gelegen. Dennoch habe der Landschaftspflegerische Begleitplan (= LBP) - ebenso wie später der Genehmigungsbescheid - eine Abschaltung der Anlagen nur bei Windgeschwindigkeiten bis zu 6 m/sec vorgesehen, obgleich auch der Beklagte davon ausgehe, dass der Große Abendsegler und die Rauhautfledermaus bis zu einer Windgeschwindigkeit von 7,5 m/sec relevante Flugaktivitäten zeigten. So habe er - wie gerichtsbekannt sei - für andere Windenergieanlagen in seinem Gebiet nach eigenem Bekunden aufgrund zwischenzeitlich gewonnener aktueller fachlicher Erkenntnisse im Hinblick auf Vorkommen des Großen Abendseglers Abschaltungen bis zu einer Windgeschwindigkeit von 7,5 m/sec angeordnet. Dass auch nachträglich gewonnene fachliche Erkenntnisse über eine zum maßgeblichen Zeitpunkt bestehende Sachlage zu berücksichtigen seien, sei bereits eingangs erörtert worden. Auch die weiteren Erklärungsansätze des Beklagten, warum hier Abschaltungen nur bis zu einer Windgeschwindigkeit von 6 m/sec ausreichend gewesen sein sollten, seien nicht plausibel. Dies wird näher ausgeführt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die Klage gegen den Genehmigungsbescheid vom 23. September 2016 sei ebenfalls zulässig und habe in der Sache teilweise Erfolg. Auch hinsichtlich des Genehmigungsbescheides sei die Klägerin mit ihrem Vortrag nicht nach § 6 Satz 1 UmwRG präkludiert. Der Genehmigungsbescheid sei wegen einer Verletzung des Tötungs- und Verletzungsverbots aus § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG rechtswidrig, weil die unter Ziffer IV.6.1.1 angeordnete Vermeidungsmaßnahme das signifikant erhöhte Tötungsrisiko für zwei Fledermausarten - wie oben ausgeführt - nicht ausreichend gesenkt habe. Zudem fehle es durch die Aufhebung des Ersetzungsbescheides vom 22. September 2016 an dem gemäß § 36 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BauGB erforderlichen gemeindlichen Einvernehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Dennoch sei die Genehmigung nicht aufzuheben, sondern lediglich für rechtswidrig und nicht vollziehbar zu erklären und die auf die Aufhebung gerichtete Klage im Übrigen abzuweisen. Denn § 4 Abs. 1b Satz 1 UmwRG sehe vor, dass eine Verletzung von Verfahrensvorschriften nur dann zur Aufhebung der Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 2b oder 5 UmwRG führe, wenn sie nicht durch Entscheidungsergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden kann. Gleiches gelte gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 UmwRG für die Verletzung materieller Rechtsvorschriften. Die Anwendung dieser Vorschriften setze voraus, dass die Identität des Vorhabens nicht angetastet werde und die Behebung des Mangels nicht von vornherein ausgeschlossen sei; es müsse die konkrete Möglichkeit der Beseitigung des Mangels in absehbarer Zeit bestehen. Das sei vorliegend der Fall. Eine Behebung der Mängel in einem ergänzenden Verfahren erscheine nicht ausgeschlossen. Dies wird in dem angefochtenen Urteil ebenso näher begründet wie die Annahme, dass sich die Genehmigung im Übrigen als rechtmäßig erweise. Das Verwaltungsgericht hat sich insoweit mit den weiteren von der Klägerin erhobenen Einwänden gegen die Rechtmäßigkeit der Genehmigung auseinandergesetzt und diese zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die jeweils allein auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils gestützten Zulassungsanträge der Beigeladenen (hierzu unter 1.) sowie des Beklagten (hierzu unter 2.) haben keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458 [1459]). Die Richtigkeitszweifel müssen sich allerdings auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substanziell mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist. Je intensiver diese Entscheidung begründet ist, umso eingehender muss der Zulassungsantragsteller die sie tragende Argumentation entkräften (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 28.3.2017 - 12 LA 25/16 -, RdL 2017, 181 ff., hier zitiert nach juris, Rn. 15, m. w. N.). Es reicht deshalb grundsätzlich nicht aus, wenn er lediglich seinen erstinstanzlichen Vortrag wiederholt und/oder eine eigene Würdigung der Sach- und Rechtslage vorträgt, die im Ergebnis von derjenigen des Verwaltungsgerichts abweicht. Vielmehr muss er in der Regel den einzelnen tragenden Begründungselementen der angefochtenen Entscheidung geeignete Gegenargumente konkret gegenüberstellen und – soweit möglich – die Vorzugswürdigkeit dieser Gegenargumente darlegen (Nds. OVG, Beschl. v. 28.3.2017 - 12 LA 25/16 -, a. a. O., m. w. N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><table class="RspIndent"> <tr> <th colspan="3" rowspan="1"></th> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">1.</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">Der Zulassungsantrag der Beigeladenen ist danach unbegründet, weil die Voraussetzungen des genannten Zulassungsgrundes bereits nicht hinreichend dargelegt worden sind bzw. jedenfalls nicht vorliegen.</td> </tr> </table></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Der Senat geht dabei zugunsten der Beigeladenen – trotz des uneingeschränkten Wortlauts ihres Antrags im Schriftsatz vom 21. April 2022 („die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover, Az. 12 A 3098/17, vom 21. März 2022 zuzulassen“) – davon aus, dass ihr Antrag (nur) darauf gerichtet ist, die Berufung insoweit zuzulassen, als der Klage stattgegeben worden ist (vgl. Verfügung des Vorsitzenden vom 26. April 2022).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>a. Unter II. 1. ihrer Antragsbegründung macht die Beigeladene geltend, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts sei die Klage gegen die Entscheidung über die Ersetzung des Einvernehmens unzulässig. Es handele sich bei der Entscheidung über die Ersetzung des Einvernehmens um ein reines Verwaltungsinternum im Sinne des § 44a VwGO, die grundsätzlich – auch gegenüber der Gemeinde – keine Verwaltungsaktqualität erreiche.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Dies überzeugt nicht. Es entspricht vielmehr nicht nur der ständigen Rechtsprechung des beschließenden Senats (vgl. schon: Urt. v. 10.1.2008 - 12 LB 22/07 -, juris, Rn. 36; Beschl. v. 17.7.2013 - 12 ME 275/12 -, juris, Rn. 45), sondern ebenso der des für Baurecht zuständigen 1. Senats des Gerichts (vgl. schon Beschl. v. 30.11.2004 - 1 ME 190/04 -, juris; 24.7.2008 - 1 LA 71/07 -; n. v.; Beschl. v. 6.3.2021 - 1 ME 224/11 -, n. v.), dass die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB durch die hierfür nach Landesrecht in Niedersachsen zuständige Behörde zwar im Verhältnis zum „Bauherrn“ ein nicht klagefähiges bloßes Verwaltungsinternum darstellt, es sich im Verhältnis zu der betroffenen Gemeinde dagegen um einen Verwaltungsakt handelt (vgl. im Übrigen auch das von der Beigeladenen an anderer Stelle zitierte Urteil des Hess. VGH v. 1.4.2014 - 9 A 2030/12 -, juris, Rn. 36). In diese Richtung deutet im Übrigen auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 10.1.2006 - 4 B 48/05 -, juris, Rn. 5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Der Einwand der Beigeladenen, der diesbezügliche Verweis des Verwaltungsgerichts auf eine Entscheidung des OVG Schleswig-Holstein (Beschl. v. 19.1.2022 - 5 MR 11/21 -, juris Rn. 26) übersehe dortige landesrechtliche Besonderheiten, geht fehl. Das dortige Oberverwaltungsgericht begründet seine Entscheidung nämlich gerade nicht mit etwaigen Besonderheiten des schleswig-holsteinischen Landesrechts, sondern schließt sich unter Zitierung gerade einer (älteren) Entscheidung auch des beschließenden Senats (Beschl. v. 6.11.2007 - 12 ME 309/07 -, juris) ausdrücklich der jedenfalls in der Rechtsprechung vorherrschenden Auffassung (vgl. die dortigen Zitate) an, die betroffene Gemeinde könne sowohl die Ersetzung ihres Einvernehmens als auch die dem Dritten gegenüber erteilte Vorhabenzulassung als Sachentscheidungen zulässigerweise anfechten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Soweit die Beigeladene für ihre Auffassung die Kommentierung von Rieger zum BauGB (Rieger, in: Schröder, BauGB, 9. Aufl., § 36 Rn. 44) in Bezug nimmt, so ist dort bereits ausdrücklich auch auf die o. a. entgegenstehende Auffassung verwiesen. Neben den dort zitierten Quellen wird diese „andere“ Auffassung zudem in weiteren Standardkommentaren zum Baurecht vertreten (Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl., § 36 Rn. 24; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 36 Rn. 80) und dürfte sich insoweit als vorherrschend darstellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Die unter Zitierung einer Kommentarstelle zum VwVfG (Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl., VwVfG § 35 Rn. 44, gemeint wohl Rn. 23 ff.) von der Beigeladenen vertretene Auffassung, eine Maßnahme könne nicht gegenüber bestimmten Betroffenen ein Verwaltungsakt, gegenüber anderen jedoch eine Maßnahme anderer Rechtsnatur (Verwaltungsinternum oder Rechtsnorm) sein, steht – worauf bereits dort hingewiesen wird – im Widerspruch nicht nur zur bereits zuvor zitierten Rechtsprechung des beschließenden Senats (Urteil vom 10.1.2008 - 12 LB 22/07 -, a. a. O.), sondern auch der des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.11.1986 - 4 C 22/83 -, juris, Rn. 16). Auch der niedersächsische Staatsgerichtshof (vgl. Beschl. v. 27.9.2021 - StGH 6/20 -, juris, Rn. 17) sowie das Bundesverfassungsgericht (vgl. Beschl. v. 9.6.2020 - 2 BvE 2/19 -, juris Rn. 29) gehen davon aus, dass die Rechtsnatur einer Anordnung nicht zwingend einheitlich zu verstehen ist, sondern je nach Adressat unterschiedlich, etwa verwaltungs- bzw. verfassungsrechtlicher Art, sein kann. Nur am Rande wird darauf hingewiesen, dass Stelkens in der genannten Kommentarstelle - anders als die Beigeladene - aus der Verneinung der Existenz von relativen Verwaltungsakten und Rechtsakten mit Doppelnatur nicht etwa die Konsequenz zieht, es liege dann insgesamt kein - von den Adressaten anfechtbarer – Verwaltungsakt vor. Vielmehr bejaht er einen solchen und will der Gefahr, dass gegen diesen dann u. U. auch Personen klagen können, die von ihm nicht unmittelbar betroffen sind, durch Verneinung der Klagebefugnis entgegentreten (Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, a. a. O., Rn. 23).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>b. Unter II. 2. ihrer Antragsbegründung führt die Beigeladene aus, die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur verneinten Einschlägigkeit des § 6 UmwRG seien fehlerhaft. Insbesondere habe das Verwaltungsgericht unzutreffend angenommen, die Ersetzung des Einvernehmens sei dem Anwendungsbereich des UmwRG insgesamt entzogen, weil kein Vorhaben zugelassen werde, sondern lediglich eine Voraussetzung für eine Zulassung geschaffen werde. Das Verwaltungsgericht übersehe insoweit, dass der Zulassungsbegriff des § 1 Abs. 1 Nrn. 1 und 5 UmwRG weit zu fassen sei. Dabei sei die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu mehrstufigen Genehmigungsverfahren auf die deutsche Besonderheit der Ersetzung des Einvernehmens anzuwenden. Der Annahme des Verwaltungsgerichts, es handele sich „lediglich um eine Voraussetzung für die Zulassung“, stehe bereits der Wortlaut des § 36 BauGB entgegen, wonach „über die Zulässigkeit von Vorhaben im bauaufsichtlichen Verfahren … im Einvernehmen mit der Gemeinde entschieden werde“. Damit werde deutlich, dass das Einvernehmen „ein – unselbständiger, aber erforderlicher – Teil der Genehmigungserteilung“ sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Diese Argumentation überzeugt nicht. Die Beigeladene geht insbesondere nicht auf die Argumentation des Verwaltungsgerichts ein, dass es sich bei den von § 1 Abs. 1 Nr. 5 UmwRG erfassten Fällen um „Zulassungsentscheidungen“ handelt, bei denen die Behörde über die materielle Genehmigungsfähigkeit entscheidet. Allein der Umstand, dass etwas – wie es die Beigeladene bezeichnet – „Teil“ der Genehmigungserteilung ist, ersetzt eine solche – insgesamt nach außen wirkende und Teile abschließend freigebende bzw. bindend genehmigende – materielle Entscheidung nicht. Der fehlende „Zulassungscharakter“ i. S. d. § 1 Abs. 1 UmwRG des gemeindlichen Einvernehmens als – wenn auch notwendige – Verfahrenshandlung nach § 36 BauGB wird neben der Verselbstständigung dieses Verfahrensschrittes noch dadurch unterstrichen, dass die Genehmigungsbehörde an die Erteilung dieses Einvernehmens nicht gebunden, sondern zu einer eigenständigen Entscheidung berufen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.12.1969 - IV B 121.69 -, Buchholz 406.11 § 2 BBauG Nr. 4); dies unterscheidet das Einvernehmen nach § 36 BauGB jeweils etwa von einer Entscheidung nach § 18a LuftVG (vgl. insoweit Senatsbeschl. v. 21.9.2020 - 12 LA 171/18 -, juris, Rn. 5, sowie v. 14.5.2021 -12 LA 175/18 -, juris, Leitsatz).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Es obliegt nicht den Gerichten, sondern dem Gesetzgeber, die Folgen, die sich daraus für den Fortbestand der Vorhabengenehmigung, auf die sich das fehlerhaft ersetzte Einvernehmen bezieht, ggf. ergeben, zu Lasten des Rechtsschutzes der Gemeinden in dem bislang anerkannten, zuvor aufgezeigten Umfang zu modifizieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2020 - 4 CN 9/19 -, juris, Rn. 14 zu der vom Gesetzgeber zu entscheidenden Frage, ob § 6 UmwRG auf die Normenkontrolle anwendbar sein soll). Dass er dieses Problem schon bei dem Erlass des UmwRG in der geltenden Fassung auch nur in den Blick genommen hat, ist nicht zu erkennen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Dem weiteren Einwand der Beigeladenen, bei einer anderen Auslegung entstünde vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urt. v. 1.4.2014 - 9 A 2030/12 -, juris) eine Rechtsschutzlücke, liegt ein Fehlverständnis der genannten Entscheidung zugrunde. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof führt dort aus, die – isolierte – Klage einer Gemeinde gegen die Ersetzung ihres Einvernehmens nach § 36 BauGB sei zulässig, und zwar sogar parallel zu ihrer gleichzeitig gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung erhobenen Klage. Im Folgenden heißt es:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt"><em>„Eine Doppelung des Rechtsschutzes wird jedoch insoweit vermieden, als die Klägerin im Klageverfahren gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung nur noch etwaige subjektive Rechte geltend machen kann, die nicht in bauplanungsrechtlichen Aspekten wurzeln, wie sie in § 35 i. V. m. § 36 BauGB verkörpert sind, womit ihr dort insbesondere eine Berufung auf schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne von § 35 Abs. 3 Nr. 3 BauGB durch die geplante Betriebserweiterung verwehrt ist.“ (Hess. VGH, Urt. v. 1.4.2014 - 9 A 2030/12 -, juris, Rn. 36).</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Damit ist jedoch ersichtlich nur gemeint, dass, wenn sich eine Gemeinde – wie die Klägerin im damals entschiedenen Fall – entschließt, sowohl gegen die Ersetzung des Einvernehmens als auch gegen die darauf aufbauende Vorhabengenehmigung vorzugehen und die Klage gegen die Ersetzung des Einvernehmens – wie dort – abgewiesen wird, im Rahmen der Klage gegen die Genehmigung nicht erneut die Rechte der Gemeinde geprüft werden müssen, die bereits Gegenstand der Klage gegen die Ersetzung des Einvernehmens waren. Daraus lässt sich jedoch ersichtlich nicht der – von der Beigeladenen wohl angenommene – Schluss ziehen, die Gemeinde könne sich im Rahmen einer gegen die Genehmigung gerichteten Klage generell nicht auf ein zu Unrecht ersetztes Einvernehmen berufen. Dementsprechend hat der von der Beigeladene zitierte 9. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in einer jüngeren Entscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage einer Gemeinde gegen die Ersetzung ihres gemeindlichen Einvernehmens und die folgende Genehmigung insgesamt, d. h. bzgl. beider Entscheidungen, wiederhergestellt und zur Begründung ausgeführt, es müsse der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, ob die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens und damit die angegriffene Genehmigung sich als rechtswidrig erwiesen (Beschl. v. 14.5.2019 - 9 B 2016/18 -, juris, Rn. 18, vgl. ergänzend noch Beschl. v. 10.3.2022 - 9 B 1348/20 – juris, Rn. 36 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Soweit die Beigeladene weiter geltend macht, es sei gemäß § 6 UmwRG unzulässig, dass das Verwaltungsgericht den Vortrag der Gemeinde aus dem Klageverfahren gegen die Ersetzung des Einvernehmens auf das gegen die Genehmigung „erstreckt“ habe, überdehnt sie den Anwendungsbereich der Norm.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Insoweit ist zum Einen darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht ersichtlich durch § 6 UmwRG – auch ohne diesbezüglichen Vortrag der Klägerin – nicht gehindert ist, die sich schon aus dem eigenen vorangegangenen Urteil selbst ergebende Aufhebung des gemeindlichen Einvernehmens (auch) im Rahmen der Klage der Gemeinde gegen die Genehmigung zu berücksichtigten (vgl. § 121 VwGO). Zum Anderen beschränkt sich die Bedeutung von § 6 UmwRG auf eine Reduzierung des vom Gericht zu prüfenden Streitstoffs („formelle Präklusion“) und eine damit einhergehende Entlastung des Gerichts (vgl. Fellenberg/Schiller in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 6 UmwRG Rn. 7, 8 m. w. N.). Die Einschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes bedeutet aber naturgemäß nur, dass das Gericht nicht gehalten ist, weitergehende Ermittlungen anzustellen. Ein Verbot, bereits anderweitig Bekanntes zu berücksichtigen, ergibt sich daraus ersichtlich nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>c. Soweit die Beigeladene unter III. der Antragsbegründung ausführt, es fehle jedenfalls an einer Klagebefugnis der Klägerin in Bezug auf die Genehmigungsentscheidung, und erneut auf die bereits genannte Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs verweist, überzeugt auch dies aus den bereits ausgeführten Gründen nicht. In der genannten Entscheidung hat dieser Verwaltungsgerichtshof nämlich - wie ausgeführt - ausdrücklich parallele Klagen gegen die Ersetzung des Einvernehmens sowie die Genehmigung für zulässig erachtet (Hess. VGH, Urt. v. 1.4.2014 - 9 A 2030/12 -, juris, Rn. 36) und im Folgenden - wie oben ebenfalls schon erörtert - wegen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer Einvernehmensersetzung die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen diese sowie gegen die Genehmigung wiederhergestellt (Hess. VGH, Beschl. v. 14.5.2019 - 9 B 2016/18 -, juris, Rn. 18).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>d. Unter IV. der Begründung ihres Zulassungsantrags macht die Beigeladene geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht einen Beurteilungsfehler des Beklagten bei der Anwendung des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG erkannt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Dabei habe es zunächst zutreffend angenommen, entscheidungserheblich sei der Zeitpunkt der Ersetzungsentscheidung durch den Beklagten, dann aber zu Unrecht nachträgliche Änderungen der fachlichen Erkenntnisse für berücksichtigungsfähig erachtet. Dies stehe im Widerspruch zu der von ihr, der Beigeladenen, bereits zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. In dem insoweit angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 9.8.2016 - 4 C 5/15 -, juris, Rn. 17) findet sich zwar der von der Beigeladenen zitierte Satz:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt"><em>„Für die Berücksichtigung von danach eintretenden Rechtsänderungen, auch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben, ist kein Raum.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Diese auf „Rechtsänderungen“ begrenzte Aussage zwingt indessen nicht zu der Annahme, gleiches gelte auch für Änderungen der <span style="text-decoration:underline">fachlichen Erkenntnisse</span>. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausdrücklich darauf abgestellt, dass diese nach der Rechtsprechung nämlich gerade keine nachträgliche Veränderung der Sach- oder Rechtslage, sondern spätere Erkenntnisse zur ursprünglichen Sachlage darstellten. Allein der Umstand, dass die diesbezüglich vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidungen (BayVGH, Urt. v. 20.5.2021 - 8 B 19.1587 -, juris, Rn. 32; OVG NRW, Beschl. v. 30.3.2017 - 8 A 2914/15 - juris, Rn. 21 ff., jeweils m. w. N.) nicht speziell in Fällen der Drittanfechtung einer Gemeinde gegen die Ersetzung ihres Einvernehmens ergangen sind, führt also nicht dazu, dass die diesbezügliche Abgrenzung falsch ist. Anders als die Beigeladene geltend macht, ergibt sich aus der genannten Entscheidung nicht, dass bei einer „rückversetzenden gerichtlichen Prüfung“ auch neuere fachliche Erkenntnisse grundsätzlich außer Betracht zu bleiben hätten. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar ausdrücklich darauf abgehoben, dass der Gesetzgeber mit den Einvernehmensregelungen den Gemeinden eine Rechtsposition einräumen wollte, die sich auch gegenüber einem etwaigen (ggf. später durch Rechtsänderungen entstehenden) Rechtsanspruch des Bauherrn durchsetzen kann. Warum aber dieser Grundsatz der Annahme des Verwaltungsgerichts entgegenstünde, im vorliegenden Fall müssten (sogar zugunsten der klagenden Gemeinde wirkende) nachträglich bekannt gewordene fachliche Erkenntnisse außer Betracht bleiben, erläutert die Beigeladene nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Ihr Hinweis auf eine Einschätzungsprärogative des Beklagten im Zusammenhang mit dem Fledermausschutz führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung. Sie meint, dem Beklagten könnten Beurteilungsfehler nur vorgeworfen werden, wenn entsprechende Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Genehmigungs-/Ersetzungsentscheidung bekannt gewesen wären, und dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Der Beklagte habe Ziffer 7.3. des Artenschutzleitfadens zum Fledermausschutz angewandt, der eine Abschaltung bei Windgeschwindigkeiten von unter 6 m/s vorsehe. Das NLT-Papier 2014, das zeitlich früher erlassen worden sei, sei aus verschiedenen Gründen nicht anwendbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Dieser Vortrag wird den Entscheidungsgründen des Urteils des Verwaltungsgerichts nicht gerecht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Dieses hat zwar zunächst angenommen, es sei gerichtsbekannt, dass auch der Beklagte mittlerweile davon ausgehe, dass der Große Abendsegler und die Rauhautfledermaus bis zu einer Windgeschwindigkeit von 7,5 m/sec relevante Flugaktivitäten zeigten, und nachträglich gewonnene fachliche Erkenntnisse seien – wie ausgeführt – zu berücksichtigten. Der Genehmigungsbescheid habe insoweit das signifikant erhöhte Tötungsrisiko für diese zwei Fledermausarten nicht ausreichend gesenkt. Wie sich aus der nachfolgend im Einzelnen zitierten weiteren Urteilsbegründung ergibt, sind diese Ausführungen nach dem Gesamtzusammenhang aber eher nicht so zu verstehen, dass aus Sicht des Verwaltungsgerichts für diese beiden Fledermausarten zwingend die sog. Anlaufgeschwindigkeit habe erhöht werden müssen, der Beklagte also schon mit seinem Ergebnis insoweit die Grenzen seiner „Einschätzungsprärogative“ überschritten habe. Es spricht stattdessen mehr für die Annahme, das Verwaltungsgericht habe „nur“ verlangt, dass der Beklagte – wie es jedenfalls erforderlich wäre – seine damalige Entscheidung für die Beibehaltung der Regelanlaufgeschwindigkeit von 6 m/sec auch unter diesen besonderen Voraussetzungen hinreichend plausibel mache, woran es hier mangele.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>Denn es hat insoweit ausgeführt:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt"><em>„Auch die weiteren Erklärungsansätze des Beklagten, warum hier Abschaltungen nur bis zu einer Windgeschwindigkeit von 6 m/sec ausreichend gewesen sein sollen, sind nicht plausibel. Der Beklagte hat sich bei seinen Vorgaben zur Abschaltung an Ziffer 7.3 des Artenschutzleitfadens orientiert, wonach eine signifikante Erhöhung des Kollisionsrisikos im Regelfall durch eine Abschaltung von Windenergieanlagen in Nächten mit geringen Windgeschwindigkeiten (< 6 m/sec) in Gondelhöhe, Temperaturen > 10° C und keinem Regen wirksam vermieden werden kann, allerdings aufgrund von naturräumlichen Gegebenheiten in Niedersachsen für die beiden Abendsegler-Arten und die Rauhautfledermaus unter Vorsorge- und Vermeidungsgesichtspunkten auch bei höheren Windgeschwindigkeiten Abschaltzeiten erforderlich sein können. Weshalb solche Abschaltzeiten auch bei höheren Windgeschwindigkeiten hier nicht erforderlich gewesen sein sollten, hat der Beklagte nicht nachvollziehbar dargelegt. Zunächst hatte er ausgeführt, er habe bei der Anwendung von Ziffer 7.3 des Artenschutzleitfadens auf das NLT-Papier 2014 zurückgegriffen, wonach in der Regel bei vorrangiger Betroffenheit von Abendseglerarten und Rauhautfledermaus bei Windgeschwindigkeiten in Nabenhöhe unter 7,5 m/sec abgeschaltet werden soll und bei vorrangiger Betroffenheit von Zwerg- und Breitflügelfledermäusen bei 6 m/sec. Diesem Ansatz steht entgegen, dass das europarechtlich determinierte Tötungs- und Verletzungsverbot individuenbezogen ist (vgl. erneut klarstellend EuGH, Urt. v. 04.03.2021 - C-473/19 und C-474/19 -, juris) und daher eine Ausrichtung von Vermeidungsmaßnahmen an der mehrheitlich betroffenen Art ausschließt. Später hat der Beklagte geltend gemacht, mit der Formulierung „naturräumliche Gegebenheiten“ im Artenschutzleitfaden sei das niedersächsische Tiefland und vor allem die Küstenregion gemeint. Der Große Abendsegler und die Rauhautfledermaus seien in der Lage, sich an die Umstände in ihrem Lebensraum anzupassen, und flögen dort auch noch bei höheren Windgeschwindigkeiten als im Bereich des Beklagten. Die beiden geplanten Windenergieanlagen lägen in einem Schwachwindbereich. Diese fachliche Annahme konnte der Beklagte nicht weiter untermauern. Ihr steht entgegen, dass der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, Betriebsstelle Hannover-Hildesheim, in einer Stellungnahme zu den Antragsunterlagen vom 18.07.2013 empfohlen hatte, die Anlagen bei einer Windgeschwindigkeit von weniger als 8 m/sec abzuschalten, und dabei angemerkt hatte, die vom Gutachter empfohlenen 6 m/sec möchten für Süddeutschland genügen. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte sodann unter Vorlage einer Karte der durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten in Niedersachsen angeführt, das Tötungsrisiko würde sich durch den Betrieb der Anlagen bei Windgeschwindigkeiten zwischen 6,1 und 7,5 m/sec nicht signifikant erhöhen, weil im Bereich der Vorhabenstandorte viel seltener mit hohen Windgeschwindigkeiten zu rechnen sei als beispielsweise an der Küste. Dass entsprechende Windgeschwindigkeiten seltener auftreten als in Starkwindbereichen führt indes nicht dazu, dass das dabei bestehende Kollisionsrisiko zu vernachlässigen ist. Daraus folgt lediglich, dass die erforderlichen Vermeidungsmaßnahmen seltener ergriffen, also die Anlagen seltener abgeschaltet werden müssen.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Mithin hat das Verwaltungsgericht sämtliche von dem Beklagten für seine Entscheidung vorgebrachte Argumente erwogen und diese für nicht tragfähig erachtet, um die die getroffene Entscheidung, eine Abschaltung zum Fledermausschutz bei einer Windgeschwindigkeit unter 6 m/s für ausreichend zu erachten, zu rechtfertigen, nicht aber im Sinne der eigenen Ausführungen auf Seite 26 der Urteilsbegründung Belege dafür bezeichnet, dass es (nunmehr) allgemein anerkannte fachliche Meinung sei, unter den hier gegebenen Voraussetzungen sei die sog. Anlaufgeschwindigkeit von 6 m/sec auf 7,5 m/sec heraufzusetzen (vgl. insoweit auch OVG NRW, Urt. v. 1.3.2021 - 8 A 1183/18 -, juris, Rn. 245 ff., m. w. N.), es also auf eine abweichende Begründung durch den Beklagten gar nicht ankomme. Das Verwaltungsgericht hat bei seiner entsprechenden Prüfung also – anders als die Beigeladene suggeriert – auch nicht etwa auf das NLT-Papier 2014 abgestellt und dieses für (allein) maßgebend erachtet, sondern lediglich geprüft, ob das vom Beklagten unter Berufung auf dieses Papier angeführte Argument dessen Entscheidung stützt, und dieses (nachvollziehbar) verneint. Ebenso hat es begründet, warum der Erklärungsansatz des Beklagten auch bei Heranziehung der Vorgaben des WEE 2016 nicht trägt. Mit diesem abweichenden Ansatz setzt sich die Beigeladene nicht hinreichend auseinander.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>2. Der Zulassungsantrag des Beklagten ist ebenfalls unbegründet, denn auch dieser hat die Voraussetzungen des von ihm in Anspruch genommenen Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bereits nicht hinreichend dargelegt bzw. liegen diese jedenfalls nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Der Beklagte nennt einleitend unter II. 1. bis 5. seiner Zulassungsbegründung dem Wortlaut nach zusammengefasst die Gründe, aus denen das Urteil aus seiner Sicht ernstlichen Zweifeln begegne. Der weitere Vortrag wird dann unter der Überschrift „Dazu im Detail:“ eingeleitet. Es finden sich im Folgenden unter a) bis f) Gesichtspunkte aus der Argumentation des Verwaltungsgerichts, auf die im Einzelnen eingegangen wird, ohne dass dabei die vorherige Gliederung auch nur im Ansatz wiederaufgenommen oder sich auch nur an diese angelehnt wird. Insgesamt wird so (auch bedingt durch diesen Aufbau) bereits nicht deutlich, gegen welche einzelnen tragenden Begründungselemente der angefochtenen Entscheidung sich der Beklagte jeweils überhaupt wendet. Erst recht lässt sich nicht erkennen, welche tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts mit welchem Argument jeweils genau entkräftet werden soll.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Orientiert man sich ungeachtet dessen an der eigenen zahlenmäßigen Gliederung des Beklagtenvorbringens und versucht, dieser jeweils die unter den Buchstaben erfolgte „Detaillierung“ zuzuordnen, so gilt Folgendes:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>Unter Nr. 1. macht der Beklagte geltend, das erstinstanzliche Gericht habe sich in seinem Urteil über Empfehlungen/Vorgaben in Niedersachsen gültiger Arbeitshilfen/Erlasse und damit den Stand der Wissenschaft zum Zeitpunkt der Genehmigung hinweggesetzt und sei stattdessen einer „Mindermeinung“ gefolgt. Es habe zudem diesbezüglich zu Unrecht nachträgliche Erkenntnisse berücksichtigt. Dieses Vorbringen bezieht sich inhaltlich auf die umstrittene Schwelle, ab der die WEA der Beigeladenen zum Schutz der oben bezeichneten Fledermausarten abzustellen sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>Wie bereits ausgeführt, hat das Verwaltungsgericht (bezogen auf die maßgebliche Erkenntnislage) ausführlich und unter Zitierung verschiedener Rechtsprechung ausgeführt, dass und warum es angenommen hat, nachträgliche Änderungen der fachlichen Erkenntnisse seien auch insoweit berücksichtigungsfähig. Damit setzt sich der Beklagte lediglich unter f) sowie in Teilen unter g) seiner Zulassungsantragsbegründung auseinander und führt aus, das Gericht verkenne, dass dann aufgrund der naturgemäß langen Verfahrensdauer derartiger Verfahren rechtssichere behördliche Genehmigungsverfahren nicht mehr möglich seien; dies stehe nicht nur im Widerspruch zur Beschleunigung des Ausbaus der Windenergie, sondern sei vielmehr tatsächlich nicht umsetzbar. Diese pauschale und nicht näher belegte Behauptung stellt schon keine hinreichende Auseinandersetzung mit der ausführlichen Argumentation des Verwaltungsgerichts dar. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht unter Zitierung von obergerichtlicher Rechtsprechung ausgeführt, die Berücksichtigung nachträglich gewonnener fachlicher Erkenntnisse sei für sonstige Drittanfechtungsklagen gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigungen anerkannt. Dass und aus welchen Gründen sich Abweichendes ergeben soll, wenn eine Gemeinde – wie hier – die Ersetzung ihres Einvernehmens sowie eine darauf beruhende immissionsschutzrechtliche Genehmigung anficht, erläutert der Beklagte im Rahmen seines Zulassungsantrags nicht. Auch ist nicht ersichtlich, aus welcher Norm oder welchem Rechtsgrundsatz sich ergeben soll, dass die Genehmigungsbehörde oder etwa ein Vorhabenträger vor der Berücksichtigung solcher neuerer Erkenntnisse allgemein geschützt sei. Dies träfe allgemein auch in der Sache nicht zu. Vielmehr könnte es dem dynamischen Charakter der immissionsschutzrechtlichen Grundpflichten nach § 5 Abs. 1 BImSchG (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 14.1.2010 - 1 BvR 1627/09 -, juris, Rn. 43) ersichtlich widersprechen, (erst) nach Genehmigungserteilung anhand neuerer Forschungsergebnisse festgestellte immissionsrechtlich relevante Gefahren in einem Anfechtungsprozess außer Betracht zu lassen, nur weil diese im Zeitpunkt der Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung noch nicht hinreichend bekannt waren (siehe allerdings auch: BVerwG, Beschl. v. 11.1.1991 – 7 B 102/90 -, juris, Rn. 3). Dieser Maßstab ist zwar nicht zwingend zugleich auf die im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG mit zu prüfenden anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, hier die des umstrittenen § 44 BNatSchG, zu übertragen; dass das insoweit einschlägige Fachrecht aber weitergehenden Schutz vor der Berücksichtigung neuerer fachlicher Erkenntnisse im Anfechtungsprozess gewährt (gegen einen Bestandsschutz insoweit auch: BVerfG, a. a. O, Rn. 45), legt der Beklagte nicht dar (vgl. aber auch: Senurt. v. 25.10.2018 - 12 LB 118/16 -, juris, Rn. 228 und 235; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 1.9.2021 – 1 A 11152/20 -, juris, Rn. 117 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>Ist dieser vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren dem Wortlaut nach angewandte Obersatz (Berücksichtigung nachträglicher fachlicher Erkenntnisse auch hinsichtlich des Schutzes von Fledermäusen) mithin auch vom Beklagten nicht durchgreifend in Frage gestellt worden, so ist er im Folgenden zugrunde zu legen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>Mit seinem (unter g) folgenden Verweis darauf, dass „die fachlichen Kenntnisse über Fledermäuse Ende 2019 …ganz andere als für den Windpark I.“ gewesen seien, räumt der Beklagte aber der Sache nach wohl ein, dass (auch) er bei einer Berücksichtigung der aktuellen fachlichen Erkenntnisse nunmehr eine höhere Anlaufgeschwindigkeit als die seinerzeit verfügten <6 m/s für sachgerecht erachten würde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>Im Übrigen bezeichnet der Beklagte auch nicht im Einzelnen – und drängt sich dies auch dem Senat nicht auf –, warum nicht bereits die im Genehmigungszeitpunkt vorliegenden, vom Verwaltungsgericht zitierten allgemeinen Erkenntnisquellen zumindest Anlass für eine nähere, vom Verwaltungsgericht vermisste Begründung gaben, weshalb für den Großen Abendsegler und die Rauhautfledermaus keine weitergehende Abschaltung erforderlich war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>Soweit es sich jeweils auf die Erkenntnislage im Genehmigungszeitpunkt bezieht, leistet dies auch das Zulassungsvorbringen unter Nrn. 1. und 2. („Das VG hat sich in seinem Urteil über mehrere Fachgutachten hinweggesetzt. Stattdessen wird einer Mindermeinung gefolgt.), Nr. 3. („Das Gericht hat die o.g. Entscheidungen zu den Fledermäusen getroffen und begründet, ohne die betroffenen Fledermausgutachter oder einen anderen Fledermausexperten hinzuzuziehen.“) und Nr. 4. („Die Urteilsbegründung des VG Hannover hinsichtlich der Fledermäuse enthält fachliche Fehleinschätzungen.“) nicht. Es wird – wie der oben unter 1. d. behandelte diesbezügliche Einwand der Beigeladenen – der Argumentation des Verwaltungsgerichts nicht gerecht. Auf die dortigen Ausführungen des Senats wird verwiesen. Das Verwaltungsgericht ist danach in der Sache keiner „Mindermeinung“ gefolgt, hat sich nicht „über Gutachten hinweggesetzt“ oder unterliegt keinen „fachliche Fehleinschätzungen“, sondern hat angesichts der festgestellten Fledermausarten (Großer) Abendsegler und Rauhaut „nur“ verlangt, dass der Beklagte seine Entscheidung für die Beibehaltung der Regelanlaufgeschwindigkeit von 6 m/sec auch unter diesen besonderen Voraussetzungen hinreichend plausibel mache, woran es mangele.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>Soweit er in seinem Zulassungsschriftsatz nunmehr ausführlich erläutert, wie er seinerzeit zu der Entscheidung über diese Anlaufgeschwindigkeit gelangt sei, ist ein solcher erst im Rahmen eines Antrags auf Zulassung der Berufung vorgelegter Schriftsatz jedenfalls dann nicht geeignet, die zuvor fehlende Plausibilisierung der erfolgten Ausfüllung einer Einschätzungsprärogative nachzuholen, wenn für den Betroffenen der Nachholungscharakter i. S. d. § 45 VwVfG i. V. m. § 1 NVwVfG – wie hier - nicht hinreichend erkennbar ist (vgl. nur Schneider, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand April 2022, VwVfG, § 45, Rn. 83, m. w. N.). Daher kann offenbleiben, ob die diesbezüglichen Ausführungen nunmehr in der Sache überzeugen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Sollten die Ausführungen des Beklagten dagegen darauf gerichtet sein zu begründen, dass und warum seinerzeit schon kein Anlass bestanden habe, die Entscheidung gesondert bzw. ausführlicher zu begründen, so wird dies schon nicht hinreichend, d. h. den oben genannten Darlegungsanforderungen genügend, deutlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus sind die als „Detail“ überschriebenen Ausführungen aber auch der Sache nach nicht geeignet, insoweit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zu begründen. Der Beklagte führt dort aus, das NLT- Papier 2014 sowie der WEE 2016 sähen als „Regelfall“ Abschaltungen in Nächten mit Windgeschwindigkeiten von < 6m/s vor. Nur wenn die beiden Abendseglerarten und/oder die Rauhhautfledermaus „vorrangig“ betroffen seien oder besondere „naturräumliche Gegebenheiten“ im Untersuchungsgebiet oder im Umfeld der zu prüfenden WEA nachgewiesen seien, sei von diesem Regelfall abzuweichen. Beides liege jedoch nicht vor. Auch insoweit kann dem Beklagten jedoch nicht gefolgt werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Bei der Ermittlung des Gehaltes entsprechender normativ unverbindlicher Empfehlungen ist - wie bei der Anwendung von Verwaltungsvorschriften (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 21.12.2010 - 2 B 63/20 - juris, Rn. 25, m. w. N.) - nicht ihr Wortlaut maßgebend, sondern ist auf das erkennbar vom Urheber damit Gewollte, im Einklang mit höherrangigem Recht stehende Verständnis abzustellen. Auf den Wortlaut allein kann und darf sich ein Anwender also nicht verlassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>Hieran gemessen ist angesichts des vom Verwaltungsgericht zutreffend angeführten Individuenbezugs des Tötungsverbots gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ein Verständnis ausgeschlossen, für die Ablehnung einer „vorrangigen Betroffenheit“ einer Art darauf zu verweisen, eine andere Art sei zahlenmäßig (noch) häufiger. Dies hätte nämlich die – ersichtlich nicht der Rechtslage entsprechende – Folge, in einem Gebiet, in dem die auch bei höheren Windgeschwindigkeiten gefährdeten o. a. Fledermausarten in erheblicher Anzahl vorkommen, ihnen den notwendigen Schutz durch eine angepasste Anlaufgeschwindigkeit allein deshalb zu versagen, weil eine oder mehrere andere Art(-en), die dieses Schutzes nicht bedürfen, dort in (noch) höherer Zahl nachgewiesen worden seien. Dass dies auch nicht die Intension etwa des Urhebers des NLT - Papiers 2014 gewesen ist, hat die Klägerin mehrfach, zuletzt mit Schriftsatz vom 13. Juli 2022, erläutert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>Warum es angesichts der „naturräumlichen Gegebenheiten“ keiner höheren Anlaufgeschwindigkeit bedarf, wäre zumindest näher zu begründen gewesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>Damit trifft auch der weitere (unter c) der Sache nach erhobene Vorwurf des Beklagten, das Verwaltungsgericht habe in dem Urteil das Regel-Ausnahme (< 6m/s im Regelfall, höhere Windgeschwindigkeiten nur bei Besonderheiten) umgekehrt, nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat – wie bereits ausgeführt – nur tragend angenommen, angesichts der vorliegenden, als solche auch vom Beklagten nicht substantiiert in Zweifel gezogenen Indizien für das Vorhandensein einer nennenswerten Anzahl von Exemplaren der Fledermausarten Großer Abendsegler und Rauhaut habe der Beklagte seine Entscheidung plausibel machen müssen, an dieser Regelanlaufgeschwindigkeit festzuhalten. Damit ist nicht zugleich gesagt, dass diese auch zwingend hätte heraufgesetzt werden müssen. Angesichts dessen geht der Einwand des Beklagten fehl, bei der Auslegung des Verwaltungsgerichts seien wegen des „flächendeckenden“ Vorkommens des Abendseglers in „unseren heimischen Ackerlandschaften“ stets pauschale Abschaltzeiten bis 7,5 m/s festzusetzen und Fledermausgutachten obsolet, zumal nach dem Kenntnisstand des Senats Große Abendsegler in Niedersachsen nicht flächendeckend in – zumal nicht in großflächigen – Ackerlandschaften anzutreffen sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p>Zu welcher konkreten und ggf. unter die Signifikanzgrenze sinkenden Verringerung des Tötungsrisikos für die beiden Fledermausarten Großer Abendsegler sowie Rauhaut die vom Beklagten im Übrigen nunmehr angeführten Vermeidungsmaßnahmen (Verzicht auf die dritte WEA, die Verschiebung einer weiteren WEA weg von Gehölzstrukturen und die sowohl jahres- als auch tageszeitliche Verlängerung der Abschaltzeiten) führen sollen, erläutert er auch in seiner Zulassungsbegründung nicht näher.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p>Soweit er weiter ausführt, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Betrachtung das von ihm, dem Beklagten, in der Genehmigung angeordnete Gondelmonitoring unberücksichtigt gelassen, legt dieser Einwand ein Fehlverständnis des Beklagten nahe. Versteht man sein Argument in dem Sinne, die Anordnung dieses Monitorings sei Teil des (ggf. wegen der vorgesehenen Anlaufgeschwindigkeit von mehr als 6 m/s) gebotenen Schutzkonzeptes, so wäre bei Zugrundelegung dieser Prämisse der Sache nach ein Verstoß gegen das Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG wegen unzureichender Schutzmaßnahmen ohne Weiteres zu bejahen. Denn ein in der Genehmigung angeordnetes Monitoring kann – da die immissionsschutzrechtliche Genehmigung mit Blick auf den Artenschutz nur erteilt werden darf, wenn sich das Tötungsrisiko im Sinne des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG durch das Vorhaben nicht signifikant erhöht – nur dazu dienen, die dauerhafte Tragfähigkeit der Prognose zu überprüfen, das Risiko der Tötung eines Individuums der betroffenen Fledermausarten werde durch das Vorhaben nicht in signifikanter Weise erhöht. Das Monitoring als Teil des Schutzkonzeptes anzusehen und bei nicht hinreichend beschränktem Betrieb der Anlagen und bestehenden Unsicherheiten über die Relevanz des Tötungsrisikos Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob die Risikoerhöhung die Signifikanzschwelle überschreitet, ist dagegen nicht zulässig (vgl. Senatsurt. v. 5.7.2022 - 12 KS 147/21 -, juris, Rn. 134). Darüber hinaus weist der Senat nochmals darauf hin, dass ohnehin schon Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der diesbezüglichen Nebenbestimmungen bestehen (vgl. Nr. 3 der gerichtlichen Verfügung vom 3. August 2022).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_60">60</a></dt> <dd><p>Der unter 5. vom Beklagten erhobene Einwand („Das angegriffene Urteil ist unverhältnismäßig, denn die Abschaltzeiten hätten wie im Urteil zu dem Bezug genommenen Parallelverfahren zu dem Az: 12 A 6814/17 vom Gericht angeordnet werden können.“) übersieht, dass vorliegend streitgegenständlich neben der Genehmigung (auch) die Ersetzung des Einvernehmens ist. Auf die diesbezügliche Anfechtungsklage der Gemeinde kann aber nach § 113 (oder sonstigen Normen der) VwGO ersichtlich nicht das rechtswidrig genehmigte Vorhaben, zu dem die Klägerin das Einvernehmen dann zu Recht nicht erteilt hat, durch Hinzufügung oder Änderung von Nebenbestimmungen seitens des Gerichts nachträglich legitimiert werden (vgl. zur ähnlichen Lage bei einer verweigerten Zustimmung der Niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr nach dem LuftVG: Senatsurt. v. 13.11.2019 - 12 LB 123/19 -, juris, Rn. 65). Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob ein solches Vorgehen im Rahmen von sonstigen Drittanfechtungen zulässig und falls ja im Einzelfall auch geboten wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_61">61</a></dt> <dd><p>Für das weitere Argument des Beklagten, das Urteil entspreche nicht den aktuellen Vorgaben der Bundesregierung, Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, fehlt jede rechtliche Anknüpfung, zumal es vorliegend um die Anfechtung einer aus dem Jahr 2016 stammenden Genehmigung geht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_62">62</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006952&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,891
vg-koln-2022-09-01-8-k-144620
{ "id": 844, "name": "Verwaltungsgericht Köln", "slug": "vg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
8 K 1446/20
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-10-12T10:01:24"
"2022-10-17T11:10:59"
Urteil
ECLI:DE:VGK:2022:0901.8K1446.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.</p> <p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar, für die Beigeladene gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages. Die Kläger können die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks G01 mit der Lagebezeichnung M.-----straße 000-000, 00000 L.    , das nordöstlich an das Grundstück G02 mit der Lagebezeichnung M.-----straße 000-000, 00000 L.    (im Folgenden: Vorhabengrundstück) angrenzt. Beide Grundstücke sind wie auch die weiteren benachbarten Grundstücke straßenseitig in geschlossener Bauweise bebaut. Auf Höhe des Grundstücks der Kläger verschwenkt die M.-----straße in einem Winkel von 45 Grad in Richtung des Vorhabengrundstücks.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im rückwärtigen Bereich finden sich auf einzelnen Grundstücken entlang der M.-----straße Anbauten an die Vorderhäuser. Das Vorhabengrundstück war im rückwärtigen Bereich bisher mit einem eingeschossigen Lager- bzw. Garagengebäude bebaut.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 29. August 2018 stellte die Beigeladene einen Bauantrag bzgl. der Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit insgesamt zehn Wohneinheiten und einer Tiefgarage im rückwärtigen Bereich des Vorhabengrundstücks und beantragte eine Abweichung von den bauordnungsrechtlichen Anforderungen aufgrund sich überdeckender Abstandsflächen des Bestandsgebäudes und des geplanten Neubaus auf dem Vorhabengrundstück.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dem Bauantrag fügte die Beigeladene einen Bericht des J.         („...“) zur Tageslicht-/Verschattungsanalyse vom 21. September 2018 bei. In diesem wurden die Verschattungseffekte des Bauvorhabens auf die straßenseitige Bestandsbebauung auf dem Vorhabengrundstück untersucht und als Ergebnis festgehalten, dass keine Veränderungen der Besonnungsdauer für das straßenseitige Bestandsgebäude festzustellen seien.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 18. Februar 2019 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung für ein viergeschossiges Wohngebäude mittlerer Höhe mit zehn Wohneinheiten und einer Tiefgarage mit acht Stellplätzen im rückwärtigen Bereich des Vorhabengrundstücks und ließ eine Überschneidung der Abstandflächen des Bauvorhabens mit der straßenseitigen Bestandsbebauung auf dem Vorhabengrundstück zu.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 9. April 2019 übersandte die Beigeladene der Beklagten die Baubeginnanzeige für das genehmigte Bauvorhaben.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Email vom 5. August 2019 wandten sich die Kläger an die Beklagte und beantragten Akteneinsicht aufgrund der Baugenehmigung vom 18. Februar 2019, die ihnen nunmehr bekannt geworden sei.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben am 18. März 2020 Klage erhoben sowie am 29. Juni 2020 einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gestellt. Dieser Antrag ist mit Beschluss vom 23. Dezember 2020 – 8 L 1170/20 – abgelehnt worden. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 27. Juli 2021 zurückgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 10. Juli 2020, den Klägern zugestellt am 11. August 2020, erteilte die Beklagte der Beigeladenen eine weitere Baugenehmigung zur Änderung der Ausführung der Baugenehmigung vom 18. Februar 2019. Diese betraf Änderungen hinsichtlich der Ausführung der Tiefgarage (nunmehr sieben Stellplätze, Entfall der geplanten Doppelparker sowie Erhalt des Kellerbereichs der rückwärtigen Bestandsbebauung zur Unterbringung zweier Stellplätze) sowie Grundrissänderungen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der Klage tragen die Kläger vor, das Bauvorhaben verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme, da es zu einer unzumutbaren Verschattung der rückwärts ausgerichteten Räume und Wohnungen im 1. bis 4. Obergeschoss des Gebäudes auf ihrem Grundstück führe. Zwar seien bei Einhaltung der Abstandsflächen Verschattungseffekte grundsätzlich hinzunehmen, da gerade in innerstädtischer Lage keine optimale Sonneneinstrahlung in allen Fenstern eines Gebäudes verlangt werden könne. Vorliegend lägen jedoch besondere örtliche Umstände vor, die einen Ausnahmefall von der Regel begründeten. Die Überschneidung der Abstandsflächen des vorhandenen vorderen Gebäudes und des neuen hinteren Gebäudes auf dem Vorhabengrundstück stelle einen die Schutzwürdigkeit ihres Grundstücks beeinflussenden Faktor dar, der hier stärker zu gewichten sei. Dadurch komme es nämlich zu einer zusätzlichen Verschattung des Gebäudes auf dem klägerischen Grundstück in der jahreszeitlichen Übergangszeit. Durch die Beschneidung der Abstandsflächen zwischen den Gebäuden entstehe ein schmaler Korridor, der kaum Nachmittagssonne passieren lasse, was zu einer noch umfassenderen Schutzbedürftigkeit des klägerischen Grundstücks führe.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Diesem Umstand komme hervorgehobene Bedeutung zu, da das Bauvorhaben in zumutbarer Weise auch ohne Überschneidung der Abstandsflächen zu dem Bestandsgebäude habe errichtet werden können. Im rückwärtigen Grundstücksbereich habe eine geringfügig andere Gestaltung bezüglich des Lüftungsschachtes der Tiefgarage und des Flachdachs der Tiefgarage an der westlichen Grundstücksgrenze vorgenommen werden können, sodass unter Einhaltung der Abstandsflächen das gesamte Bauvorhaben mehrere Meter weiter an der nördlichen Grundstücksgrenze hätte errichtet werden können. Hierbei wäre ein deutlich breiterer Besonnungskorridor zwischen den Gebäuden auf dem Vorhabengrundstück verblieben.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Es sei unerheblich, dass § 6 Abs. 13 BauO NRW 2000/§ 6 Abs. 10 BauO NRW 2018 nicht nachbarschützend seien. Maßgeblich seien alleine die Folgen für ihr Grundstück, die durch die Abweichung von diesen Vorschriften verursacht würden, bei Einhaltung der Mindestabstände jedoch vermieden worden wären.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Auch die Nordwest-Ausrichtung des Gebäudes auf ihrem Grundstück sei als ein die Schutzbedürftigkeit beeinflussendes Kriterium hervorzuheben. Die Nordwest-Ausrichtung führe dazu, dass das Bauvorhaben ihr Grundstück in besonderem Maße negativ beeinflusse. Es sei zudem zu berücksichtigen, dass sich das Gebäude auf ihrem Grundstück durch das Abknicken der M.-----straße in einer besonders beengten städtebaulichen Situation befinde, welche aus der Eigenart der näheren Umgebung herausfalle. Diese Situation werde durch das Bauvorhaben weiter verschärft, sodass es angesichts der bereits herrschenden extremen Verschattungssituation im Hofbereich zu einer weiteren Einengung des Hofbereichs und einer erdrückenden Wirkung komme.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Schon vor dem Neubau hätten die Empfehlungen der DIN 5034-1 aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nicht eingehalten werden können, sodass umso mehr bei der Errichtung baulicher Anlagen darauf geachtet werden müsse, dass diese die vorhandene Wohnbebauung hinsichtlich der Besonnungs- und Belichtungssituation nicht noch mehr beeinträchtige.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dies ergebe sich auch aus der von ihnen in Auftrag gegebenen Stellungnahme des Sachverständigen Diplomingenieurs Q.     H.        , vom 25. Mai 2020. Der Sachverständige habe erstens den von der Beigeladenen vorgelegten Bericht zur Tageslicht-/Verschattungsanalyse vom 21. September 2018 überprüft und zweitens die Auswirkung der Bebauung auf dem Baugrundstück auf die Besonnung und Belichtung des Gebäudes auf ihrem Grundstück untersucht.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Hierbei komme der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Bericht zur Verschattungsanalyse vom 21. September 2018 nicht die Anforderungen an ein Belichtungsgutachten erfülle, da der Nachweis gemäß § 6 Abs. 10 BauO NW 2018 fehle, dass die Belichtung der Räume nicht wesentlich beeinträchtigt werde.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Gutachten des Sachverständigen komme weiter zu dem Ergebnis, dass in vier von 20 Wohnungen auf ihrem Grundstück, nämlich in den nordwestlich zum Hinterhof gelegenen Wohnungen (im Gutachten als Wohnungen „W5“ bezeichnet) im 1., 2., 3. und 4. Obergeschoss die Lage nach DIN 5034-1, wonach die mögliche Besonnungsdauer in mindestens einem Aufenthaltsraum einer Wohnung zur Tag- und Nachtgleiche vier Stunden betragen solle, kritisch sei.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Im 1. Obergeschoss vermindere sich die Besonnungsdauer zur Tag-/Nachtgleiche von 1,37 Stunden über 80 % auf nur noch 0,27 Stunden, im 2. Obergeschoss von 1,45 Stunden um 29,7 % auf 1,02 Stunden, wenn man die Wohnküche nicht als Aufenthaltsraum hinzunehme. Betrachte man die Wohnküche als Aufenthaltsraum, vermindere sich im 1. Obergeschoss die Besonnungsdauer von 3,67 Stunden um 12,8 % auf 3,20 Stunden.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Im 2. Obergeschoss werde ohne das Bauvorhaben mit 4,13 Stunden eine noch ausreichende Besonnungsdauer erreicht. Hier vermindere sich die Besonnungsdauer infolge des Neubaus auf 3,38 Stunden um 0,75 Stunden, d. h. 18,2 %, womit nach Umsetzung des Bauvorhabens eine „ausreichende Besonnungsdauer“ in der Wohnung W5 im 2. Obergeschoss verfehlt werde.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Im 3. Obergeschoss verkürze sich in der Wohnküche die Besonnungsdauer von 4,57 Stunden auf 4,38 Stunden, also um 0,19 Stunden, d. h. 4,2 %.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige komme deshalb zu der Gesamtbewertung, dass in der Übergangszeit sowie den Sommermonaten in den unteren Geschossen des Hauses auf ihrem Grundstück teilweise mit einer erheblichen Verkürzung der Besonnungsdauer in den späten Nachmittagsstunden infolge des Bauvorhabens zu rechnen sei, welche die Wohnqualität deutlich bis erheblich einschränke. Dadurch sei die Grenze der Zumutbarkeit überschritten.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben ursprünglich beantragt, die Baugenehmigung der Beklagten vom 18. Februar 2019 aufzuheben. Am 11. September 2020 haben die Kläger den Bescheid vom 10. Juli 2020 in ihre Klage mit einbezogen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Kläger beantragen nunmehr,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Baugenehmigung der Beklagten vom 18. Februar 2019 sowie die Baugenehmigung vom 10. Juli 2020 zur Änderung der Ausführung der Baugenehmigung vom 18. Februar 2019 aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Sie ist der Ansicht, dass nicht jede Verschlechterung der Belichtungs- bzw. Besonnungsverhältnisse mit einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots gleichzusetzen sei. Infolge der eingehaltenen Abstandsflächen und einer nur geringfügigen Verschlechterung der Belichtungssituation des klägerischen Grundstücks sei nicht von einer unzumutbaren Beeinträchtigung auszugehen, was auch das seitens der Kläger vorgelegte Gutachten nicht nahe lege. Insbesondere lasse auch ein etwaiger Verstoß gegen die DIN 5034, die mangels Rechtsverbindlichkeit nur als Orientierungshilfe dienen könne, ohne Weiteres keinen Rückschluss auf ungesunde Wohnverhältnisse zu.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Beigeladene beantragt,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Sie trägt vor, das Bauvorhaben verstoße nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme, da die sich gegen die Baugenehmigung zur Wehr setzende Nachbarn im Regelfall keine Rücksichtnahme verlangen könnten, die über den Schutz des Abstandsflächenrechts hinausgehe. Die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften, die hinsichtlich des klägerischen Grundstücks gewahrt seien, deckten sämtliche geltend gemachten Belange der Kläger hinreichend ab.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Auch durch das von den Klägern vorgelegte Besonnungsgutachten des T.          H.        könne eine durch das Bauvorhaben verursachte unzumutbare Beschattung nicht nachgewiesen werden. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Verschattung sei auf alle Aufenthaltsräume der Wohnung und nicht lediglich auf die in Richtung des Bauvorhabens gelegenen Räume abzustellen. Das Bauvorhaben führe lediglich hinsichtlich der Besonnung von Nord-Westen zu einer Einschränkung der Belichtung der Wohnungen auf dem klägerischen Grundstück. Bei Betrachtung der gesamten Wohnungen ergebe sich für keine der Wohnungen eine unzumutbare Verschlechterung hinsichtlich der Belichtung und Besonnung.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Insbesondere bei den am stärksten betroffenen Wohnungen W5 im 1. und 2. Obergeschoss liege nach der Bewertung des Gutachters nur eine mäßige Verschlechterung vor. Wohnküchen seien hierbei auch als Aufenthaltsräume zu betrachten. Ferner sei zu berücksichtigen, dass bereits vor Umsetzung des Bauvorhabens für diese Wohnungen die unverbindlichen Empfehlungen der DIN 5034-1 hinsichtlich der Besonnungsdauer nicht erreicht worden seien. Insgesamt lägen die durch das Bauvorhaben eintretenden partiellen Verschlechterungen hinsichtlich Belichtung und Besonnung im Rahmen dessen, womit innerhalb eines bebauten innerörtlichen Wohngebietes zu rechnen sei. Zuletzt entfalte § 6 Abs. 10 BauO NRW 2018 keine nachbarschützende Wirkung, auf die sich die Kläger berufen könnten.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Sie – die Beigeladene – habe auch keine andere Bauausführung auf ihrem Grundstück wählen müssen und eine weniger beeinträchtigende Alternativbebauung vornehmen müssen. Solange die Rechte des Nachbarn nicht verletzt seien, könne eine Baugenehmigung nicht durch den Hinweis auf eine nach Auffassung des Nachbarn besser geeignete Alternativplanung zu Fall gebracht werden.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Eine erdrückende Wirkung sei zudem dann nicht anzunehmen, wenn das Bauvorhaben nicht höher sei als das betroffene Gebäude. Hier lägen die beiden zu betrachtenden Gebäude zudem im eng bebauten innerstädtischen Bereich.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens 8 L 1170/20 sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben keinen Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigungen vom 18. Februar 2019 und 10. Juli 2020, weil diese keine Rechte der Kläger als Eigentümer des Grundstücks G01, verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Für die Entscheidung über die Klage eines Nachbarn gegen ein Bauvorhaben ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung maßgeblich.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Oktober 2018 – 10 A 2167/17 –, juris, Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Anzuwenden sind daher die Vorschriften der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 21. Juli 2018 vor der Änderung durch das Gesetz vom 14. September 2021 (GV. NRW. S. 1086) (BauO NRW 2018 a. F.). Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2018 a. F. ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Bei einer Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung kann offenbleiben, ob diese in jeder Hinsicht mit dem materiellen Recht in Einklang steht. Ein Rechtsanspruch des Nachbarn auf Aufhebung besteht nämlich nicht schon dann, wenn eine Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Hinzukommen muss, dass der Nachbar durch die rechtswidrige Baugenehmigung zugleich in eigenen Rechten verletzt wird. Dies setzt voraus, dass die Baugenehmigung gegen Rechtsnormen verstößt, die nachbarschützenden Charakter haben, und der jeweilige Nachbar auch im Hinblick auf seine Nähe zu dem Vorhaben tatsächlich in seinen eigenen Rechten, deren Schutz die Vorschriften zu dienen bestimmt sind, verletzt wird.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu diesem Maßstab OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 – 2 A 130/16 –, juris, Rn. 26, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß gegen Regelungen, die zum Schutz der Kläger als Nachbarn bestimmt sind, liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Baugenehmigung verstößt insbesondere nicht zu Lasten der Kläger gegen das Gebot der Rücksichtnahme.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich im Nachbarschaftsverhältnis gewährleisten. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen hat sich deshalb an der Frage auszurichten, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmebegünstigten ist, desto mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger Rücksichtnahme braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, zu nehmen. Berechtigte eigene Belange muss er nicht zurückstellen, um gleichwertige fremde Belange zu schonen.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. <a href="https://www.juris.testa-de.net/r3/document/WBRE310589803/format/xsl/part/K?oi=Fkw5h2ukqS&${__hash__}38;sourceP=%7B%22source%22%3A%22Link%22%7D">BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1993 – 4 C 19.90</a> –, juris, Rn. 20.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßgaben ist eine zulasten der Kläger rücksichtslose Bebauung hinsichtlich des rückwärtigen Bereichs des Vorhabengrundstücks nicht zu erkennen. Eine solche ergibt sich insbesondere nicht unter dem von den Klägern vorgetragenen Aspekt geänderter Belichtungsverhältnisse für das auf ihrem Grundstück befindliche Gebäude, da das Bauvorhaben die dahingehend maßgeblichen seitlichen Abstandsflächen zu dem Grundstück der Kläger – unstreitig – einhält (vgl. Seite 6 des Eilbeschlusses vom 23. Dezember 2020 – 8 L 1170/20).</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Beachtung der landesrechtlich geregelten Abstandflächen rechtfertigt in aller Regel die Annahme, dass damit zugleich die mit den Abstandvorschriften verfolgten Regelungsziele (Vermeidung von Licht-, Luft- und Sonnenentzug, Unterbindung einer erdrückenden Wirkung des Baukörpers sowie Wahrung eines ausreichenden Sozialabstands) zumindest aus tatsächlichen Gründen auch im Hinblick auf das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme erreicht werden. Die landesrechtlichen Grenzabstandvorschriften stellen insoweit eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme dar.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 – 2 A 130/16 –, juris, Rn. 43 unter Verweis auf BVerwG, Beschlüsse vom 11. Januar 1999 – 4 B 128.98 –, juris, Rn. 4; vom 6. Dezember 1996 – 4 B 215.96 –, juris, Rn. 9, und vom 22. November 1984 – 4 B 244.84 –, juris, Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Das Gebot der Rücksichtnahme ist nach Vorstehendem nur verletzt, wenn die für die Kläger mit der Realisierung des Vorhabens einhergehenden Nachteile trotzdem das Maß dessen übersteigen, was ihnen in der konkreten Situation unter Würdigung der berechtigten Interessen des Beigeladenen billigerweise noch zumutbar ist.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Das ist hier nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die seitens der Kläger geltend gemachte (weitere) Verschattung vor allem der Wohnungen W5 jeweils im 1. bis 4. Obergeschoss des Gebäudes auf ihrem Grundstück erreicht nicht den Grad der Unzumutbarkeit. Ausgangspunkt der Betrachtung ist auch in diesem Kontext, dass die hier gegebene Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandvorschriften, die gerade der Gewährleistung ausreichender Besonnung und Belüftung jedes (Wohn-)Gebäudes dienen, im Regelfall einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ausschließt.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Januar 1999 – 4 B 128/98 -, juris Rn. 4 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Erwartung des Eigentümers eines Grundstücks in einem überwiegend bebauten Bereich, die bauliche Situation der umliegenden Grundstücke werde unverändert bleiben, ist grundsätzlich nicht geschützt. Er muss auch Bebauungen der benachbarten Grundstücke hinnehmen, die die Situation seines eigenen Grundstücks wesentlich verschlechtern.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. April 2021 – 10 A 3745/18 –, juris, Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Korrektur der gesetzgeberischen Grundentscheidung für eine Innenverdichtung ist von vornherein auf solche Ausnahmefälle beschränkt, die durch Besonderheiten gekennzeichnet sind, die der Gesetzgeber bei seiner notwendigerweise auf typische Fallkonstellationen beschränkten Wertung so nicht im Blick gehabt hat bzw. haben kann. Das Rücksichtnahmegebot ist demgegenüber keine allgemeine Billigkeitsregel, um die grundsätzlich hinzunehmende gesetzgeberische Wertentscheidung nach Angemessenheitskriterien bei Bedarf zu korrigieren. Dies gilt insbesondere in Fällen (wie dem vorliegenden), in dem für die Frage ausreichender Wahrung des betroffenen Schutzgutes Belichtung keine einschlägigen (objektiven) Kriterien oder Grenzwerte vorhanden sind. Dies gebietet eine zurückhaltende Anwendung von Korrekturen im Bereich des gesetzlich geregelten Abstandflächenrechts bei Betroffenheit eines der hierfür zentralen Schutzgüter.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 – 2 A 130/16 –, juris, Rn. 55.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, bestimmt sich maßgeblich nach der konkreten Grundstückssituation und der Abwägung der sich daraus ergebenden Interessen. So kann beispielsweise eine durch Bebauungsplan vorgegebene und gemeinsame Entstehung gewachsene Bebauung bestimmte Schutzfunktionen enthalten, die abweichende Bebauungen aufgrund der Belichtungssituation ausschließen. Es handelt sich hierbei jedoch um konkrete Einzelfälle, wie z. B. ein nach dem Bebauungsplan mit vorgesehener eingeschossiger Bungalowbebauung bebautem Baugebiet, dessen vorgeschriebene großflächige Grundstücksnutzung eine ausreichende Belichtung nur dann sicherstellt, wenn kein Gebäude die Eingeschossigkeit maßgeblich überragt. In einem solchen Fall kann der Höhe und Anordnung der Gebäude ausnahmsweise eine die Belichtung sicherstellende Schutzfunktion zukommen.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. März 1984 – 7 B 588/84 –, n. v. (S. 13 des Urteils).</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Auch in Fällen einer Gebietsbebauung, die aufgrund der Einheitlichkeit eines Bebauungskonzeptes entstanden ist und wegen der Dichte der Bebauung, die dieses Konzept mit sich gebracht hat, eine wechselseitige Abhängigkeit aufweist, kann ein solcher Einzelfall anzunehmen sein. Hierbei muss diese bodenrechtliche Situation jedoch im Verhältnis zu denjenigen Situationen, die der Landesgesetzgeber mit der Regelung der Abstandflächen im Auge hatte, so atypisch bzw. so sehr durch spezifische Besonderheiten gekennzeichnet sein, dass es gerechtfertigt wäre, deshalb von der Regel abzuweichen, dass das, was der Landesgesetzgeber mit den Bestimmungen über die Abstandflächen einem Nachbarn an Entzug von Besonnung und Belichtung zugemutet hat, auch das Rücksichtnahmegebot verletzt.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Februar 1993 – 7 A 1261/86 –, juris, Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Unterhalb dieser Grenze müssen Nachbarn in einem bebauten innerstädtischen Wohngebiet grundsätzlich hinnehmen, dass Grundstücke innerhalb des durch das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es dadurch zu einer Verschattung des eigenen Grundstücks bzw. von Wohnräumen kommt.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 9. Februar 2009 – 10 B 1713/08 –, juris Rn. 30, vom 14. Juli 2015 – 7 A 9/15 –, juris, Rn. 5, vom 16. Januar 2014 – 7 A 1776/13 –, juris, Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier. Anhaltspunkte für eine derartige Atypik, dass die landesrechtlichen Abstandsflächen ihrem Schutzzweck, (auch) eine ausreichende Belichtung sicherzustellen, vorliegend nicht mehr nachkommen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Zwar handelt es sich um eine dichte Bebauung in dem maßgeblichen Wohnblock, die in geschlossener Bauweise und mehrgeschossig ausgeführt ist, sowie aufgrund des Wohnblockcharakters durch die an der Wöhlerstraße befindlichen Gebäude einer gegenüberliegenden Wand aus Gebäuden bereits ausgesetzt ist. Diese Grundsituation kann das Gericht den Lageplänen in den Verwaltungsvorgängen und sowie den online verfügbaren Satelliten- und Straßenbildansichten einschlägiger Suchmaschinen entnehmen. Das Bauvorhaben schiebt sich hierbei zwar in die Mitte dieses Wohnblocks und verkürzt so den Abstand zu der gegenüberliegenden Bebauung. Dies führt jedoch nicht zu einer atypischen Situation, in der die einzuhaltenden Abstandsflächenvorschriften nicht mehr in der Lage wären, den hinter ihnen stehenden Schutzbedürfnissen gerecht zu werden. Zwar ist die Belichtung aufgrund der Nordwest-Ausrichtung der Rückseite der Bebauung auf dem klägerischen Grundstück eingeschränkt. Dies war jedoch bereits vor Realisierung des Bauvorhabens auf dem Vorhabengrundstück der Fall, wie sich auch aus dem seitens der Kläger vorgelegten Gutachten des Diplomingenieurs H.        vom 25. Mai 2020 ergibt. Allein die belichtungstechnisch betrachtet nicht optimale Ausrichtung der rückwärtig gelegenen Wohnungen nach Nordwesten hin erreicht jedoch nicht das Maß einer atypischen Konstellation nach den obigen Maßgaben.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Auch die hinzutretende schräge Position des Baukörpers auf dem Grundstück der Kläger aufgrund der abknickenden M.-----straße führt zu keiner anderen Bewertung. Hinzu tritt, dass es bereits durch die Anordnung der Gebäude auf dem klägerischen Grundstück selbst zu der vorherrschenden verschachtelten Wohnungsaufteilung, insbesondere für die Wohnungen W5, kommt und diese ihrerseits im Schatten der vorstehenden Gebäudeteile des Gebäudes mit der Hausnummer 000 stehen. Dass diese bauliche Anordnung generell eine ungünstige Belichtungssituation zur Folge hat, müssen die Kläger als Eigentümer des Grundstücks mit der ihnen zuzurechnenden Bestandsbebauung gegen sich gelten lassen. Diese Ausgangssituation kann nicht zulasten der Beigeladenen gehen.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Kläger mussten aufgrund der insgesamt stark verdichteten Umgebungsbebauung mit einer entsprechenden Bebauung des Vorhabengrundstücks objektiv rechnen. Weder die Ausrichtung ihres Wohngebäudes auf dem Grundstück noch die Anordnung der Gebäude aufgrund des Straßenverlaufs der M.-----straße erlegen der Beigeladenen bei der Errichtung des Vorhabens ein Mehr an Rücksichtnahme gegenüber den Klägern insoweit auf, als sie unter Verzicht auf baurechtlich an sich zulässige Möglichkeiten in „schonenderer“ Weise den rückwärtigen Bereich des Vorhabengrundstücks hätten bebauen müssen.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Insoweit wird hinsichtlich der von den Klägern im Einzelnen vorgebrachten Punkte der nach § 6 Abs. 10 BauO NRW 2018 genehmigten geringeren Abstandsflächen der Gebäude auf dem Vorhabengrundstück zueinander und der Ergebnisse des Berichts des Diplomingenieurs H.        vom 25. Mai 2020 auf die Ausführungen im Eilbeschluss vom 23. Dezember 2020 – 8 L 1170/20 – Bezug genommen. Diese Punkte wurden dort ausführlich gewürdigt und den diesbezüglichen Ausführungen sind die Kläger im Rahmen des Hauptsacheverfahrens nicht mehr substantiiert entgegen getreten.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Eine atypische Fallgestaltung ergibt sich vorliegend auch nicht aus dem Vortrag, dass es durch die Umsetzung des Bauvorhabens zu ungesunden Wohnverhältnissen in dem Gebäude auf dem Grundstück der Kläger komme.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Insbesondere ergibt sich dies nicht ohne Weiteres aus dem Befund, dass auf dem Klägergrundstück die Werte der DIN 5034-1 nicht eingehalten werden können und vorhabenbedingte Verringerungen der Besonnungsdauer festzustellen sind. Denn die Werte der DIN 5034-1 sind nicht als verbindliche Grenzwerte für das Einhalten des Rücksichtnahmegebots anzusehen.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2021 – 7 B 33/21 –, juris, Rn. 13 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Aber auch im Übrigen fehlt es für die Annahme vorhabenbedingter ungesunder Wohnverhältnisse an tragfähigen Anhaltspunkten. Denn aus den Gutachten des Diplomingenieurs H.        vom 25. Mai 2020 sowie ergänzend vom 14. Januar 2021 im Rahmen des Beschwerdeverfahrens gegen den Eilbeschluss vor dem Oberverwaltungsgericht wird deutlich, dass die Werte der DIN 5034-1 bereits vor Umsetzung des Bauvorhabens teilweise nicht eingehalten wurden. Dass eine optimale Belichtung auf dem klägerischen Grundstück nach der DIN 5034-1 bereits vor Verwirklichung des Bauvorhabens nicht gegeben war, führt aber nicht dazu, dass die Beigeladene im Rahmen des Gebots der gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet gewesen wäre, ihr Baurecht nur in dem Maße auszuüben, wie es zu Einschränkungen auf dem klägerischen Grundstück nicht kommen kann. Inwieweit eine vorhabenbedingte unzumutbare Wohnsituation auf dem klägerischen Grundstück dazu führen würde, dass einerseits die Beigeladene Anpassungen an ihrem Vorhaben vornehmen müsste oder die Kläger ggf. Einschränkungen in der Nutzbarkeit der vorhandenen Bebauung, bedarf hier keiner Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Es ist nämlich gerade nicht aufgezeigt, dass – durch das Vorhaben – eine derart gravierende Verschlechterung der Wohnverhältnisse eintreten würde, die bei der im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme vorzunehmenden Abwägungsentscheidung die zulasten der Kläger gehende vorhabenunabhängig bestehende ungünstige Besonnungssituation auf ihrem Grundstück überwiegen könnte. Unter Beachtung der Wohnküche als Aufenthaltsraum kommt der Gutachter hinsichtlich der von den Klägern vor allem in den Fokus gerückten Wohnung W5 im 1. Obergeschoss auf eine Reduktion der täglichen Belichtungszeit um 12,8 % zur Tag-/Nachtgleiche. Hierbei verbleiben 3,20 Stunden tägliche Besonnungsdauer im Vergleich zu vorher 3,67 Stunden.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Änderungen an dem Vorstehenden ergeben sich auch nicht etwa aus der Nachtragsbaugenehmigung vom 10. Juli 2020, da diese die hier maßgebliche oberirdische Bauausführung des Bauvorhabens nicht betrifft, sondern darin vor allem die Ausführung der Tiefgarage in geänderter Form zugelassen wird. Einflüsse auf die Belichtungsverhältnisse für die Nachbarbebauung sind dadurch nicht ersichtlich und von den Klägern auch nicht vorgebracht.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3, § 159 Satz 2 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, da sie einen Sachantrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, hinsichtlich der Beklagten i. V. m. § 708 Nr. 11 und § 711 i. V. m. § 709 Satz 2 ZPO, hinsichtlich der Beigeladenen i. V. m. § 709 Satz 1, 2 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Eine Zulassung der Berufung gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO erfolgt nicht, weil die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO nicht vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p> <span class="absatzRechts">81</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p> </li> <li><span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">10.000,00 €</span></strong></p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für die Kläger ist es angemessen, den Streitwert auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Das Gericht orientiert sich hierbei an Ziffer 7 Buchstabe a des Streitwertkatalogs der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 2019.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung wird hingewiesen.</p>
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{ "id": 146, "name": "Oberlandesgericht Karlsruhe", "slug": "olgkarl", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
19 W 81/21 (Wx)
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-10-11T10:01:24"
"2022-10-17T11:10:58"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>1.</p><p>Die Beschwerden der Beteiligten zu 1 – 3 gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Grundbuchamt – Maulbronn (MAU 67 GRG 910/2021) vom 17.03.2021, mit welchem das Ersuchen des Amtsgerichts Bretten vom 10.12.2020 zur Überleitung von Stockwerkseigentum in Wohnungs- und Teileigentum zurückgewiesen wurde, wird zurückgewiesen.</p><p>2.</p><p>Der Geschäftswert wird auf EUR 17.000 festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Beteiligten sind im Grundbuch des Amtsgerichts Maulbronn, in Blatt X, Flst. Nr. Y jeweils als Stockwerkseigentümer des Anwesens Flst.- Nr. Y, einer in der M-Str. 15 in B. gelegenen Gebäude- und Freifläche, eingetragen. Nachdem die Beteiligte zu 1) vor dem Amtsgericht Bretten (UR II 1/16 (3)) ein Verfahren zur Umwandlung des Stockwerkseigentums in Wohnungseigentum angestrengt hatte, dem sich die Beteiligten zu 2) und zu 3) anschlossen, ordnete das erwähnte Gericht durch Beschluss vom 16.01.2020 eine entsprechende Überleitung an. Unter Bezugnahme auf einen dem Beschluss als Anlage beigefügten Aufteilungsplan wurde eine entsprechende Aufteilung in insgesamt 6 Wohneinheiten angeordnet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Nachdem das Amtsgericht Bretten dem Grundbuchamt mit Schreiben vom 04.06.2020 eine beglaubigte Abschrift des Beschlusses vom 16.01.2020 zugeleitet hatte, um entsprechende Änderungen im Grundbuch zu veranlassen, machte das Grundbuchamt mit Schreiben vom 18.06.2020 insbesondere darauf aufmerksam, dass ein förmliches Ersuchen i.S. des § 29 Abs. 3 GBO erforderlich sei. Auch wies es auf das Fehlen von Grundrissplänen bezüglich der Einheiten Nrn. 4, 5 und 6 hin. Daraufhin erließ das Amtsgericht Bretten am 20.10.2020 einen Ergänzungsbeschluss, ehe es mit Schreiben vom 10.12.2020 Grundrisspläne nachreichte und darum ersuchte, die in den beiden erwähnten Beschlüssen angeordnete Überleitung des bisherigen Stockwerks- in Wohnungseigentum zu vollziehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Durch Beschluss vom 17.03.2021, auf dessen Inhalt im Übrigen Bezug genommen wird, wies das Grundbuchamt das Gesuch des Amtsgerichts Bretten zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Das zwingende Erfordernis der Einheit des Eigentums gemäß § 1 Abs. 4 WEG sei nicht gewahrt, da das übergeleitete Wohnungs- und Teileigentum, was die Einheiten Nrn. 4, 5 und 6 anbelangt, auf zwei unterschiedlichen Grundstücken – dem Flurstück Nr. Y und dem Flurstück Nr. Y/4 – liege, was sich aus dem Lageplan sowie den übermittelten Grundrissplänen ergebe. Früher hätten die beiden vorgenannten Flurstücke ein einheitliches Grundstück gebildet, wobei alle darauf befindlichen Gebäude zum Stockwerkseigentum gehört hätten. Im Jahre 1966 sei indes das Flurstück Nr. Y/4 im Grundbuch als rechtlich selbständiges Grundstück gebucht worden und das Stockwerkseigentum an dem Anbau auf jenem Flurstück sei ausweislich der näher bezeichneten notariellen Urkunden ausdrücklich aufgehoben worden. Da der errichtete Anbau vollständig auf dem Nachbargrundstück liege und selbständig abreißbar sei, könne auch kein Überbau angenommen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Dagegen richten sich die Beschwerden sowohl der Beteiligten zu 2) und zu 3), eingelegt mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 30.06.2021, als auch der Beteiligten zu 1, eingelegt mit Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 07.07.2021, mit welchen sie eine Aufhebung des angegriffenen Beschlusses erstreben. Zur Begründung haben sie insbesondere ausgeführt: Das Grundbuchamt habe fälschlicherweise unterstellt, dass die Einheiten Nrn. 4, 5 und 6 sowohl auf dem Flurstück Nr. Y als auch auf dem Flurstück Nr. Y/4 lägen. Aus den vorgelegten Lageplänen sei ausdrücklich zu erkennen, dass das Flurstück Nr. Y/4 rein gar nichts mit dem Flurstück Nr. Y zu tun habe. Das Flurstück Nr. Y/4 sei in sich abgeschlossen, eingegrenzt und mit Grenzpunkten markiert, so dass die Einheiten 4, 5 und 6 keinesfalls auf Flurstück Nr. Y liegen könnten. Es sei nicht erkennbar, woher das Grundbuchamt seine gegenteilige Unterstellung herleite; aus den vorgelegten Plänen sei dies jedenfalls nicht nachvollziehbar. Der errichtete Anbau, der vollständig auf einem eigenen Flurstück liege, sei von dem Hauptgrundstück unabhängig. Aufgrund der Eigenständigkeit beider Gebäudeteile sei daher das neue Flurstück Nr. Y/4 auch im Grundbuch vom 20.06.1966 eingetragen worden. Wegen der weiteren Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird jeweils auf die vorbezeichneten Schriftsätze der Verfahrensbevollmächtigten der Rechtsmittelführer Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Unter Aufrechterhaltung und Konkretisierung seiner bereits in der angegriffenen Entscheidung enthaltenen, oben dargelegten Einschätzung erließ das Grundbuchamt unter gleichzeitiger Vorlage der Akten am 23.07.2021 einen Nichtabhilfebeschluss, auf dessen Inhalt verwiesen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Beteiligte zu 1 machte mit Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 20.08.2021 weiterhin geltend, auch wenn man der Einschätzung des Grundbuchamtes folge, sei dem Eintragungsersuchen zu entsprechen. Ein etwaiger Überbau wäre nämlich erlaubt (AS II 4). Dieser Einschätzung schlossen sich die Beteiligten zu 2 und 3 an (AS II 6).</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>II.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table><table><tr><td>1.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die einer Befristung grundsätzlich nicht unterliegende Beschwerde ist nach § 71 GBO statthaft und auch ansonsten zulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Insbesondere ist unschädlich, dass die angefochtene Entscheidung nicht einen Antrag der Beschwerdeführer zum Gegenstand hatte, sondern ein behördliches Ersuchen i.S. der §§ 38, 29 Abs. 3 GBO. Im Falle einer Zwischenverfügung oder bei einer Zurückweisung des Ersuchens hat nämlich anerkanntermaßen nicht nur die ersuchende Behörde selbst ein Beschwerderecht, sondern auch der nachteilig betroffene Beteiligte (vgl. OLG Jena FGPrax 2013, 252; Demharter, GBO, 32. Auflage 2020, § 38 Rn. 79 mwN). Die Beschwerdeberechtigung leitet sich nämlich nicht daraus ab, ob ein Antrag gestellt wurde, sondern sie folgt aus der Antragsberechtigung (vgl. Demharter aaO, § 71 Rn. 63 mwN), die sich vorliegend aus der Stellung der Beteiligten als Stockwerkseigentümer ergibt.</td></tr></table><table><tr><td>2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Das Grundbuchamt hat dem Ersuchen zu Recht nicht entsprochen, denn der Eintragung steht ein Hindernis entgegen.</td></tr></table><table><tr><td>a.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Begründung von Wohnungseigentum ist nach §§ 3, 8 WEG grundsätzlich nur in einem auf dem Grundstück errichteten oder zu errichtenden Gebäude möglich. Dagegen kann Wohnungseigentum nicht in der Weise begründet werden, dass das Sondereigentum mit Miteigentum an mehreren Grundstücken verbunden wird (§ 1 Abs. 4 WEG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Wie das Grundbuchamt zutreffend ausgeführt hat, erschließt sich anhand der Akten- bzw. Urkundenlage, dass die Wohneinheiten Nrn. 4, 5 und 6, die sich in der westlichen Hälfte des in den Bestandsplänen vom 29.10.1996 als „<em>Hausteil M.</em>“ bezeichneten Gebäudekomplexes befinden, auf zwei Grundstücken gelegen sind. Denn sie erstrecken sich nicht nur auf das Grundstück Flurstück Nr. Y, sondern auch auf den nachträglich errichteten Anbau, der sich auf dem südlich angrenzenden, lediglich 0,51 Ar großen Grundstück Flurstück Nr. Y/4 befindet. Das ergibt sich aus den mit dem Ersuchen eingereichten Aufteilungsplänen, denen offenkundig Teile der vorbezeichneten Bestandspläne zugrunde liegen, aus dem Lageplan sowie aus den nachgereichten Grundrissplänen. Insbesondere aus Letzteren erschließt sich eindeutig, dass sich in dem betreffenden Anbau, der zu einer der Höhe nach versetzten Ausdehnung des Gebäudekörpers nach Süden hin – allerdings begrenzt auf den Bereich der westlichen Haushälfte („<em>Hausteil M.</em>“) – geführt hatte, Teile der Einheiten Nrn. 4, 5 und 6 befinden: Bei der im ersten Obergeschoss gelegenen Einheit Nr. 5 befindet sich etwa der Essraum in dem Anbau, bei der im Dachgeschoss gelegenen Einheit Nr. 6 sind die Bereiche „Essen“ und „Wohnen“ sowie der Balkon in dem Anbau gelegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Dass sich der Anbau auf Grundstück Flurstück Nr. Y/4 befindet, ergibt sich nicht nur aus den vorbezeichneten Planunterlagen, sondern im Übrigen (mittelbar) auch aus dem – insoweit noch zutreffenden – Vorbringen der Beschwerdeführer, die Einheiten Nrn. 4, 5 und 6 seien (auch) auf dem vorbezeichneten Grundstück gelegen. Nicht beigepflichtet werden kann ihnen freilich in ihrer weitergehenden Einschätzung, dass die Einheiten Nrn. 4, 5 und 6 ausschließlich auf dem Flurstück Nr. Y/4 gelegen wären. Das Gegenteil ergibt sich insbesondere aus den nachgereichten Grundrissplänen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Selbst aber, wenn es sich – wie nicht – gemäß dem Vorbringen der Rechtsmittelführer so verhielte, dass die Einheiten Nrn. 4, 5 und 6 ausschließlich auf dem Flurstück Nr. Y/4 belegen wären, keinesfalls hingegen auf dem Flurstück Nr. Y, hätte dem Eintragungsersuchen nicht entsprochen werden können. Denn dieses bezieht sich gerade auf das Grundstück Flurstück Nr. Y, dem die vorgenannten drei Einheiten unter Zugrundelegung der Darstellung der Beschwerdeführer gänzlich zu Unrecht zugeordnet und einer Aufteilung zugeführt worden wären.</td></tr></table><table><tr><td>b.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Im Ergebnis zu Recht hat das Grundbuchamt auch die Voraussetzungen eines Überbaus bzw. einer entsprechenden Heranziehung des § 912 BGB nicht als nachgewiesen erachtet.</td></tr></table><table><tr><td>aa.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Anerkanntermaßen können sich durch einen Überbau die Baulichkeiten einer Wohnungseigentumsanlage ausnahmsweise über mehr als ein Grundstück erstrecken. Nach § 94 BGB gehört ein Gebäude bzw. ein Gebäudeteil grundsätzlich zu dem Grundstück, auf dem es sich befindet. Liegt ein entschuldigter Überbau gemäß § 912 BGB vor, steht der auf dem Nachbargrundstück befindliche Gebäudeteil im Eigentum des Stammgrundstückseigentümers (§§ 93, 94 Abs. 2, 95 Abs. 1 Satz 2 BGB). Gleiches gilt, wenn der Überbau entweder mit Zustimmung des betroffenen Grundstückseigentümers oder in Ausübung einer zuvor bestellten Dienstbarkeit am Nachbargrundstück errichtet wurde, während Streit darüber herrscht, ob eine Änderung der diesbezüglichen Eigentumszuordnung auch durch die nachträgliche Bestellung einer Dienstbarkeit bewirkt werden kann (vgl. Bärmann/Pick/Baer, 20. Aufl. 2020, WEG § 1 Rn. 17, 20, mwN). Ein übergebauter Gebäudeteil kann daher in die Begründung von Wohnungseigentum einbezogen werden, wenn es sich bei ihm um einen wesentlichen Bestandteil des zu teilenden Grundstücks handelt. Denn in diesem Fall wird das Sondereigentum nicht mit dem Miteigentum an mehreren Grundstücken verbunden (vgl. OLG Karlsruhe ZWE 2014, 23 – juris Rn. 9 mwN).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Darüber hinaus kommt – was vorliegend vom Grundbuchamt erwogen worden ist – auch bei einem nachträglich errichteten Anbau, der vollständig auf dem Nachbargrundstück liegt, eine entsprechende Anwendung von § 912 BGB in Betracht. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung hängt sie maßgebend davon ab, ob der Anbau ohne wesentliche Beeinträchtigung für das auf dem Grundstück des Überbauenden stehende Gebäude abgerissen werden kann (vgl. BGH NJW-RR 2016, 1489 – juris Rn. 28, 29 mwN).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Schließlich findet § 912 BGB auf den sog. Eigengrenzüberbau entsprechende Anwendung, wenn also der frühere Eigentümer eines Grundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes die Grenze zu dem ihm ebenfalls gehörenden benachbarten Grundstück überschritten hatte und in der Folge die Grundstücke in das Eigentum verschiedener Personen gelangten (vgl. BGH MDR 2014, 212 – juris Rn.14 mwN).</td></tr></table><table><tr><td>bb.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Keine der vorstehend aufgeführten Fallgestaltungen ist indes vorliegend einschlägig, weshalb § 912 BGB weder unmittelbar noch entsprechend herangezogen werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>aaa.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Nach der Aktenlage muss von folgendem Geschehensablauf ausgegangen werden:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Durch schuldrechtlichen Vertrag des Notariats Bretten (H …/66) vom 21.02.1966 (im Weiteren: „<em>der Hauptvertrag“</em>) teilten die Rechtsvorgänger der Beteiligten das vormals 2,93 Ar große (Ausgangs-)Flurstück Nr. Y in Teilgrundstücke auf, an welchen das Stockwerkseigentum aufgehoben wurde (vgl. §§ 3, 4 des Hauptvertrages). Gemäß § 4 b) des Hauptvertrages kamen sie überein, dass Herr R. M. – dieser war damals Stockwerkseigentümer der westlichen Haushälfte („<em>Hausteil M.</em>“) – u.a. das Alleineigentum an einer lediglich durch eine in Bezug genommene Skizze gekennzeichnete Teilfläche erhalten sollte. § 5 Satz 1 des Hauptvertrages kann entnommen werden, dass Herr R. M. beabsichtige, auf dem nach Vollzug des Hauptvertrages in seinem Eigentum stehenden Teilgrundstück ein dreistöckiges Gebäude zu entrichten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Durch weiteren Vertrag des Notariats Bretten (H …/66) vom 20.06.1966 (im Weiteren: „<em>der Ergänzungsvertrag“</em>) ergänzten die Rechtsvorgänger der Beteiligten den Hauptvertrag, nachdem sie zwischenzeitlich eine Vermessung des Grundbesitzes veranlasst hatten. Gemäß § 2 des Ergänzungsvertrages wiederholten sie die Aufhebung des Stockwerkseigentums an den neu gebildeten Teilgrundstücken – jenes blieb lediglich noch an dem nach der Aufteilung eine Größe von lediglich 2,20 Ar aufweisenden Grundstück Flurstück Nr. Y aufrechterhalten –, wobei sie im Rahmen der partiellen Auseinandersetzung ihrer Anteile u.a. festlegten, dass Herr R. M. das Alleineigentum an dem neugebildeten, 0,51 Ar großen Teilgrundstück Flurstück Nr. Y/4 erhält.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>In Ermangelung anderweitiger Anhaltspunkte muss davon ausgegangen werden, dass Herr R. M. in der Folgezeit auf dem Flurstück Nr. Y/4 den erwähnten Anbau errichten und eine räumliche Verbindung mit den seinem Stockwerkseigentum unterfallenden Gebäudeteilen („<em>Hausteil M.</em>“) auf dem benachbarten Grundstück Nr. Y herstellen ließ.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>bbb.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Bei dieser Sachlage bleibt bereits vom Ansatz her kein Raum für eine Heranziehung des § 912 BGB.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Bestandteilszuordnung eines (einheitlichen) Grenzgebäudes im Regelungszusammenhang der §§ 93, 94, 95 Abs. 1 Satz 2, 912 BGB an nur eines der bebauten Nachbargrundstücke setzt voraus, dass eines der beiden als Stammgrundstück angesehen werden kann, von dem aus der Überbau vorgenommen worden ist (BGHZ 110, 298 – juris Rn. 14 mwN). Für den Normalfall, dass sich das Gebäude auf Grundstücken verschiedener Eigentümer befindet, ist für die Beantwortung der Frage, von welchem Grundstück aus über eine fremde Grenze gebaut wurde, allein darauf abzustellen, welche Absichten und wirtschaftlichen Interessen den Erbauer geleitet hatten, ohne dass sonstige Umstände, etwa der handwerkliche Bauablauf etc., eine Rolle spielten (vgl. BGH aaO – juris Rn. 15 mwN). Auch für den Fall des Eigengrenzüberbaus sind die Absichten des Erbauers maßgebend, wobei, wenn sich dieser nicht anders geäußert hat, vermutet werden kann, dass die objektiven Gegebenheiten seinen Absichten entsprechen (vgl. BGH aaO – juris Rn. 17 mwN).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Für die hier vorliegende Konstellation eines vom Eigentümer eines Grundstücks vollzogenen nachträglichen Anbaus an ein Bestandsgebäude auf dem Nachbargrundstück, an welchem anteiliges Stockwerkseigentum des Erbauers besteht, kann nichts Anderes gelten. Auch insoweit ist auf die sich aus den objektiven Umständen erschließenden Absichten und wirtschaftlichen Interessen des Erbauers abzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände kann indes gerade nicht angenommen werden, dass eine Einstufung des nachträglich errichteten Anbaus als wesentlicher Bestandteil des Nachbargrundstücks Flurstück Nr. Y, an welchem Herrn R. M. in Gestalt des oben näher bezeichneten Stockwerkseigentums lediglich eine anteilige dingliche Mitberechtigung hielt, seinen Interessen entsprach. Ganz im Gegenteil: Wie sich dem Haupt- und dem Ergänzungsvertrag entnehmen lässt, war ihm gerade daran gelegen, dass er erst das alleinige Eigentum an dem neugebildeten Teilgrundstück Flurstück Nr. Y/4 erlangt, ehe er darauf die beabsichtigte Errichtung des Gebäudes bzw. Anbaus vollzieht. Daraus erschließt sich, dass nach seiner Absicht die mit der Bebauung verbundene Wertsteigerung entweder ausschließlich oder jedenfalls in ganz überwiegendem Maße dem in seinem Alleineigentum stehenden Flurstück Nr. Y/4 zugutekommen sollte. In Anbetracht dessen muss davon ausgegangen werden, dass der Anbau gemäß §§ 946, 94 Abs. 1 BGB auf der Grenzlinie einer vertikalen Trennung unterliegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Zu demselben Ergebnis ist das Grundbuchamt gelangt, auch wenn die von ihm herangezogene Begründung nicht belastbar erscheint. Denn es kommt gerade nicht darauf an, ob der Anbau „selbständig abreißbar“ ist.</td></tr></table><table><tr><td>3.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Schließlich ist auch nichts dagegen zu erinnern, dass das Grundbuchamt keine Zwischenverfügung nach § 18 Abs. 1 GBO erlassen, sondern das Gesuch gleich zurückgewiesen hat.</td></tr></table><table><tr><td>a.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Auch wenn sich die Bestimmung des § 18 Abs. 1 GBO ihrem Wortlaut nach lediglich auf Eintragungsanträge bezieht, ist eine Zwischenverfügung auch gegenüber einem behördlichen Ersuchen nach § 38 GBO zulässig (vgl. Demharter, GBO, 32. Auflage 2020, § 18 Rn. 24 mwN).</td></tr></table><table><tr><td>b.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Nach zutreffender und wohl auch herrschender Ansicht hat das Grundbuchamt nach pflichtgemäßen Ermessen darüber zu befinden, ob es den Antrag bzw. das Gesuch zurückweist oder eine Zwischenverfügung erlässt, die freilich die Regel darstellt (vgl. OLG Düsseldorf NotBZ 2020, 266 – juris Rn. 11; OLG Zweibrücken FGPrax 2010, 128 – juris Rn. 8; OLG München DNotZ 2008, 934 – juris Rn.11; Demharter, GBO, 32. Auflage 2020, § 18 Rn. 21 mwN). Abzuwägen sind dabei typischerweise das berechtigte Streben des Antragstellers nach alsbaldiger Stellung des Antrages zur Wahrung des Rangs sowie der mit dem Eingang des Antrages verbundenen materiellen Wirkungen auf der einen Seite und dem Interesse der Allgemeinheit an der raschen Abwicklung des Grundbuchverkehrs auf der anderen Seite. Dabei kommt eine Zwischenverfügung im Allgemeinen nur bei leicht und schnell, also in angemessener Frist behebbaren Mängeln in Betracht (vgl. BayObLG MittBayNot 2002, 290 – juris Rn. 11; Demharter, GBO, aaO, § 18 Rn. 21 mwN), wobei jeweils den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist (vgl. OLG München DNotZ 2008, 934 – juris Rn.12).</td></tr></table><table><tr><td>c.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Gemessen daran entsprach die Zurückweisung des Gesuchs pflichtgemäßem Ermessen. Wie das Landgericht zutreffend erkannt hat, konnte dem Gesuch deshalb nicht stattgegeben werden, weil nach Aktenlage aus den oben aufgezeigten Gründen (grundsätzlich) vom Vorliegen eines Eintragungshindernisses nach § 1 Abs. 4 WEG ausgegangen werden muss. Ob dieses überhaupt überwunden werden kann, erscheint fraglich. Auch wenn man dies annehmen würde, kann jedenfalls nicht von einem leicht und schnell zu behebenden Mangel ausgegangen werden:</td></tr></table><table><tr><td>aa.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Es bestehen erhebliche Bedenken, ob sich das erwähnte Eintragungshindernis in der hier vorliegenden Sonderkonstellation durch die nachträgliche Bestellung einer Dienstbarkeit beheben ließe. Abgesehen davon, dass ohnehin streitig ist, ob eine derartige Heilungsmöglichkeit überhaupt eröffnet sein kann (zum Meinungsstand: vgl. Bärmann/Pick/Baer, 20. Aufl. 2020, WEG § 1 Rn. 20 mwN), wäre sie selbst für die Beschwerdeführer mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden. Ob ggf. gleichwohl Raum für eine Zwischenverfügung geblieben wäre, wenn es sich um einen eigenen Eintragungsantrag der Beschwerdeführer gehandelt hätte (vgl. OLG Karlsruhe ZWE 2014, 23 – juris Rn. 11 mwN), kann offenbleiben. Jedenfalls ist die Handhabung des Grundbuchamts, von einer Zwischenverfügung gegenüber dem ersuchenden Gericht abzusehen, nicht ermessensfehlerhaft.</td></tr></table><table><tr><td>bb.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Nähere Erwägungen dazu, ob vorliegend eine Überwindung des Eintragungshindernisses durch eine Grundstücksvereinigung (§ 890 BGB) erreicht werden könnte, brauchen ebenso wenig angestellt werden. Sollte dies möglich sein, müsste von einem der Beteiligten erst ein gesondertes Verfahren angestrengt werden, was dem Zweck einer Zwischenverfügung zuwiderliefe. Außerdem müsste im Anschluss daran nicht nur ein neues Gesuch gestellt werden, auch der zugrundeliegende Beschluss des Amtsgerichts Bretten (UR II 1/16 (3)) bedürfte insoweit zumindest einer inhaltlichen Ergänzung.</td></tr></table><table><tr><td>4.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Eine ausdrückliche Kostenentscheidung ist entbehrlich, da diese aus dem Gesetz folgt (§ 22 Abs. 1 GNotKG).</td></tr></table><table><tr><td>5.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Gründe für eine Zulassung der Rechtsbeschwerde § 78 Abs. 2 GBO) liegen nicht vor.</td></tr></table><table><tr><td>6.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Den Geschäftswert hat der Senat gemäß §§ 61, 46 GNotKG festgesetzt. Maßgebend war insoweit das Interesse der Beschwerdeführer an der erstrebten Eintragung und damit an dem Vollzug der vom ersuchenden Gericht schon beschlossenen Umwandlung des Stockwerkseigentums in Wohnungseigentum. Da in dem Verfahren vor dem Amtsgericht Bretten der Streitwert auf EUR 50.000 festgesetzt wurde, erschien es vorliegend geboten, für die begehrte Eintragung lediglich einen Bruchteil davon in Höhe von rund 1/3 – mithin EUR 17.000 – in Ansatz zu bringen.</td></tr></table></td></tr></table>
346,768
olgk-2022-09-01-19-schh-1521
{ "id": 822, "name": "Oberlandesgericht Köln", "slug": "olgk", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
19 SchH 15/21
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:48"
"2022-10-17T11:10:41"
Beschluss
ECLI:DE:OLGK:2022:0901.19SCHH15.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>1. Es wird festgestellt, dass das von der Antragsgegnerin vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes) unter dem Aktenzeichen ICSID ARB/21/4 eingeleitete schiedsrichterliche Verfahren unzulässig ist.</p> <p>2. Es wird weiter festgestellt, dass jegliches schiedsrichterliche Verfahren zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994 unzulässig ist.</p> <p>3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.</p> <p>4. Der Gegenstandswert wird auf bis zu 30 Millionen Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Verfahrensbeteiligten streiten um die Feststellung der Unzulässigkeit von Schiedsverfahren.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 20.01.2021 hat die Antragsgegnerin, eine Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in Deutschland, gegen die Antragstellerin, ein souveräner EU-Mitgliedsstaat, ein Schiedsverfahren vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (<em>International Centre for Settlement of Investment Disputes</em>) eingeleitet. Das Verfahren wird dort unter dem Aktenzeichen ICSID ARB/21/4 geführt. Mit dem schiedsrichterlichen Verfahren verlangt u.a. die hiesige Antragsgegnerin die Feststellung der Verletzung von Verpflichtungen gemäß Teil III des Vertrages über die Energiecharta sowie Schadenersatz für getätigte Investitionen in das im Staatsgebiet der Antragstellerin bei A im Hafen von B gelegenen Kohlekraftwerk (<em>B</em>) aufgrund regulatorischer Entscheidung der Antragstellerin, bis 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die ICSID-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, beruhend auf dem Übereinkommen vom 18.03.1965 zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten, dem in Deutschland durch das Gesetz zum Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (InvStreitBeilG) innerstaatliche Wirksamkeit verliehen wurde (BGBl. 1969 II, S. 369).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die ICSID-Konvention ist für die Antragstellerin am 14.10.1966 und für die Bundesrepublik Deutschland am 18.05.1969 (BGBl. 1969 II, S. 1191) in Kraft getreten. Die Regelungen der ICSID-Konvention werden durch eine Schiedsverfahrensordnung ergänzt, die gemäß Art. 6 lit. B der ICSID-Konvention durch den Verwaltungsrat des ICSID (<em>Administrative Counsel</em>) erlassen wird.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Bei dem Energiecharta-Vertrag (im Folgenden: ECV), der am 16.04.1998 in Kraft getreten ist, handelt es sich um ein multilaterales Abkommen zur Kooperation im Energiesektor, das von 48 Staaten sowie der EU und Euratom ratifiziert wurde. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem 1991 in Den Haag und 1994 in Lissabon unterzeichneten Energiecharta-Vertrag mit Gesetz vom 20.12.1996 (BGBl. II, 1997) zugestimmt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist der Ansicht, bei dem eingeleiteten Schiedsverfahren handele sich um ein Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren, welches aufgrund der vom Europäischen Gerichtshof (im Folgenden: Gerichtshof) in der Rechtssache C 284/16 <em>C gegen D,</em> Urteil vom 06.03.2018 (NJW 2018, 1663, im Folgenden: D), in der Rechtssache C-741/19 <em>E gegen F,</em> Urteil vom 02.09.2021 (NJW 2021, 3243, im Folgenden: F), in der Rechtssache C-109/20 <em>G gegen H,</em> Urteil vom 26.10.2021 (EuZW 2021,1097, im Folgenden: H) sowie in der Rechtssache C-638/19 P <em>I gegen J und andere,</em> Urteil vom 25.01.2022 (juris, im Folgenden: J) festgestellten europarechtlichen Unvereinbarkeit eines solchen Schiedsverfahrens auf der Grundlage von Art. 26 ECV Abs. 3 und 4 unzulässig sei.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Für das bereits eingeleitete Schiedsverfahren bestehe weder auf der Basis von Art. 26 Abs. 4 ECV noch sonst eine gültige Schiedsvereinbarung, etwa aufgrund der ICSID-Konvention (insoweit verweist die Antragstellerin auf die Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 08.05.2007 – 2 BvM 1-5/03, WM 2007, 1315 (1318)) oder aufgrund der Regeln des Privatrechts.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Gleiches gelte auch für jedes weitere auf Art. 26 ECV gestützte Schiedsverfahren zwischen den Verfahrensbeteiligten. Das berechtigte Interesse an der Feststellung der Unzulässigkeit eines jeden auf Basis von Art. 26 ECV eingeleiteten schiedsrichterlichen Verfahrens ergebe sich daraus, dass die Antragsgegnerin nach Abschluss des hiesigen Verfahrens ein neuerliches Schiedsverfahren einleiten könne. Hinzu komme, dass die Antragsgegnerin parallel zur Einleitung des ICSID-Schiedsverfahrens auch vor den ordentlichen Gerichten in den Niederlanden ein Verfahren angestrengt habe.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit ihren am 10.05.2021 beim Oberlandesgericht Köln eingegangenen und am 27.09.2021 klargestellten Anträgen begehrt die Antragstellerin in der Hauptsache,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">festzustellen,</p> <span class="absatzRechts">13</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">1.                               dass das von der Antragsgegnerin gegen die Antragstellerin vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes) eingeleitete schiedsrichterliche Verfahren, das unter dem Aktenzeichen ICSID ARB/21/4 geführt wird,</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">sowie</p> <span class="absatzRechts">16</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">2.                               dass jegliches schiedsrichterliche Verfahren zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">unzulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt in der Hauptsache,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">die Anträge als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise als unbegründet abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Sie ist der Ansicht, ICSID-Schiedsverfahren unterlägen nicht dem nationalen Schiedsrecht der Vertragsstaaten und damit vorliegend dem 10. Buch der ZPO, weshalb keine Befugnis der staatlichen Gerichte bestehe, in diesen Verfahren zu intervenieren. Überdies sei § 1032 ZPO nicht anwendbar, weil ICSID-Schiedsverfahren zwar einen Tagungsort, aber nicht den nach § 1043 ZPO notwenigen Schiedsort aufwiesen. Zudem fehle es am Rechtsschutzbedürfnis, weil deutsche Gerichte die ICSID-Schiedssprüche nicht überprüfen könnten, so dass die vom Gesetz vorausgesetzte Präzedenzwirkung für spätere Aufhebungs- oder Vollstreckungsverfahren nicht gegeben sei.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des Antrags zu 2) auf Feststellung der Unzulässigkeit jeglichen schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994 fehle es am Rechtsschutzbedürfnis. Es erschließe sich nicht, weshalb die Antragsgegnerin ein neues Schiedsverfahren einleiten sollte. Bei dem von der Antragstellerin angeführten niederländischen Verfahren sei die Antragsgegnerin nicht beteiligt.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Antrag zu 1) sei jedenfalls unbegründet, da eine nach dem anwendbaren Recht wirksame Schiedsvereinbarung vorliege.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 20.01.2022 (Bl. 243 f. GA) hat die Antragsgegnerin die Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des ICSID-Schiedsgerichts über den dortigen Antrag der Schiedsklägerinnen, die Völkerrechtswidrigkeit der Einleitung des hiesigen Verfahrens festzustellen und die hiesige Antragstellerin zur Rücknahme ihres Antrags zu verpflichten, beantragt. Die Antragstellerin ist dem mit Schriftsatz vom 31.01.2022 (Bl. 393 f.GA) entgegen getreten.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Anträge sind zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">1. a) Der Antrag zu 1) auf Feststellung der Unzulässigkeit eines Schiedsverfahrens gemäß § 1032 Abs. 2 ZPO ist zulässig, insbesondere statthaft.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Für den geltend gemachten Antrag ist das Verfahren nach dem 10. Buch der Zivilprozessordnung eröffnet. Die Verfahrenszuständigkeit ergibt sich schon aus der gesetzlichen Anordnung für die diesbezügliche Antragsart.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Weiter ist auch der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gemäß § 13 GVG gegeben. Zwar findet § 1032 Abs. 2 ZPO auch über die Verweisung in § 173 VwGO Anwendung, so dass ein entsprechendes Verfahren auch im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit möglich ist. Hier fußen zwar die im Schiedsverfahren geltend gemachten Ansprüche, u.a. auf Schadenersatz bzw. Entschädigung, auf einem völkerrechtlichen Vertrag. Dieser ist aber nicht als öffentlich-rechtlicher Vertrag im Sinne einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, für die gemäß § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg gegeben wäre, anzusehen (vgl. Karpenstein/Sangi, Investitionsschutz vor nationalen Gerichten – Zur Zukunft der Energiecharta, NJW 2021, 3228 Rn. 17; vgl. auch Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022 - 12 SchH 6/21, mit dem ein Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO bzgl. des zugrunde liegenden ICSID-Schiedsverfahrens ARB/21/26 <em>K u.a. gegen L</em> als unzulässig zurückgewiesen wurde, hiergegen ist die Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof zu Az. I ZB 43/22 anhängig). Dies zumal sich keine Völkerrechtssubjekte gegenüber stehen, sondern gegenständlich sind Sekundäransprüche eines Dritten (Investor) gegen eine Partei des Vertrags, für die gemäß der abdrängenden Sonderzuweisung in § 40 Abs. 2 S. 1 1. HS VwGO bzw. aufgrund Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG der ordentliche Rechtsweg eröffnet ist. Dass die Ansprüche zivilrechtlicher Natur sind, folgt zudem aus Art. 26 Abs. 5 b ECV, der nämlich klarstellt, dass ein Schiedsverfahren nach diesem Artikel auf Ersuchen einer der Streitparteien in einem Staat stattfindet, der Vertragspartei des New Yorker Übereinkommens ist und weiter, dass Ansprüche, die Gegenstand eines Schiedsverfahrens nach diesem Artikel sind, als aus einer Handelssache oder Transaktion im Sinne des Artikels I jenes Übereinkommens entstanden gelten.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das Oberlandesgericht ist zur Entscheidung über die Anträge gemäß § 1062 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 ZPO sachlich und örtlich sowie international zuständig. Da kein inländischer Schiedsort bestimmt ist, richtet sich die örtliche Zuständigkeit und aufgrund deren Doppelfunktionalität auch die internationale Zuständigkeit nach dem Ort, in dem der Antragsgegner seinen Sitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt hat, nur hilfsweise ist die Zuständigkeit des Kammergerichts gegeben. Da die Antragsgegnerin ihren Sitz in M hat und aufgrund der in Anwendung von § 1026 Abs. 5 ZPO ergangenen Verordnung über die Konzentration der gerichtlichen Entscheidungen in schiedsrichterlichen Angelegenheiten des Landes NRW vom 20.03.2019, in Kraft getreten am 01.07.2019, - NRWKoGeEntsVO - (GV. NRW 2019 Nr. 8 vom 09.04.2019, S. 196) gemäß deren § 1 sämtliche gerichtlichen Entscheidungen in schiedsrichterlichen Angelegenheiten nach § 1062 Abs. 1 bis Abs. 3 der ZPO für die Bezirke aller Oberlandesgerichte des Landes Nordrhein-Westfalen dem Oberlandesgericht Köln übertragen sind, ist dieses ausschließlich zuständig. Nichts anderes folgt aus § 1025 Abs. 2 ZPO, nach dem § 1032 ZPO auch dann Anwendung findet, wenn der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens im Ausland liegt oder noch nicht bestimmt ist. Zwar besteht bei Schiedsverfahren nach der ICSID-Konvention kein Sitz, sondern nur ein Tagungsort. Vorliegend kann aber dahin stehen, ob ICSID-Verfahren § 1025 ZPO unterfallen können, denn staatliche Gerichte haben nationale Gesetze nicht nur im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands auszulegen, sondern sie müssen aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts dieses Unionsrecht effektiv zur Geltung bringen. Bei einem Konflikt zwischen einem inländischen Rechtsakt, unabhängig davon, ob dieser eine völkerrechtliche Verpflichtung widerspiegelt oder nicht, und dem Unionsrecht sind die deutschen Richter daher verpflichtet, dem Unionsrecht den Vorrang zu geben, es sei denn, es handele sich um einen Ultra-Vires-Akt (s. auch Steinbrück/Krahé, Declaratory relief against post-D ICSID arbitration? German arbitral law’s international reach, EuZW 2022, 357 (364)). Entsprechend den nachfolgend - unter II 1 b), 2 - dargestellten Ausführungen zur Begründetheit der vorliegenden Anträge folgt der Senat, der keine Anhaltspunkte für einen Akt Ultra Vires sieht, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Unwirksamkeit von Schiedsklauseln in bi- und multilateralen Verträgen in Intra-EU-Investor-Staat-Verfahren und der sich daraus nach Auffassung des erkennenden Senats ergebenden Verpflichtung zur Anwendbarkeit von § 1032 Abs. 2 ZPO im vorliegenden Fall.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO ist zulässig, insbesondere rechtzeitig eingereicht. Nach den hier anwendbaren Bestimmungen der ICSID-Konvention und den ICSID-Schiedsregeln war das Schiedsgericht im Zeitpunkt der Einreichung des hiesigen Antrags auf Feststellung der Unzulässigkeit noch nicht im Sinne der Art. 37 ff. ICSID-Konvention und den Regeln 2 ff. der ICSID-Schiedsregeln konstituiert.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Das für den Antrag erforderliche Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin ergibt sich bereits aus ihrer Parteistellung im von der Antragsgegnerin eingeleiteten schiedsrichterlichen Verfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 08.11.2018 – I ZB 21/18, NJW 2019, 857, Rn. 15). Der Antrag ist auch nicht aufgrund widersprüchlichen Verhaltens der Antragstellerin wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben unzulässig, insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin im gegen sie anhängigen staatlichen Verfahren - an welchem die Antragsgegnerin laut ihrem Schriftsatz vom 21.01.2022, dort Seite 32 nicht beteiligt ist - die Einrede der Schiedsgerichtsvereinbarung geltend macht.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist statthaft. Dem steht nicht entgegen, dass die Verfahrensregeln der ICSID-Konvention in Verbindung mit dem InvStreitÜbkG eine Überprüfung durch § 1032 ZPO nicht vorsehen (a.A. Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022-12 SchH 6/21). Danach unterliegen zwar die Schiedsverfahren nach der ICSID-Konvention grundsätzlich nicht der Kontrolle nationaler Gerichte, weil die Vertragsstaaten der ICSID-Konvention im Rahmen des verbindlichen völkerrechtlichen Vertrags vereinbart haben, die Anwendung von nationalem (Schiedsverfahrens)-Recht auszuschließen. Ein nach der ICSID-Konvention angerufenes Gericht entscheidet selbst abschließend über seine Zuständigkeit und die Wirksamkeit einer Schiedsabrede, vgl. Artikel 41 ICSID-Konvention, der Schiedsspruch ist gemäß Art. 53 ICSID-Konvention für die Parteien bindend und unterliegt keinen anderen Rechtsmitteln als den in der Konvention vorgesehenen. Der Schiedsspruch ist weiter gemäß Art. 54 ICSID-Konvention in jedem Vertragsstaat bindend und wie ein rechtskräftiges Urteil eines innerstaatlichen Gerichts zu behandeln. Auf die Vollstreckung eines aufgrund des Übereinkommens ergangenen Schiedsspruchs sind die Vorschriften über die Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche anzuwenden (Art. 2 Abs. 2 InvStreitÜbkG) und der Antrag, die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung festzustellen, kann nur abgelehnt werden, wenn der Schiedsspruch in einem Verfahren nach Artikel 51 oder Artikel 52 des Übereinkommens aufgehoben worden ist (Art. 2 Abs. 4 InvStreitÜbkG). Wie das Kammergericht im Beschluss vom 28.04.2022 ausführlich dargelegt hat, belegen auch die gesetzgeberischen Erwägungen zum InvStreitÜbkG, dass weder eine nationale Überprüfung des Verfahrens noch eine inhaltliche Überprüfung am Maßstab des ordre public zulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Dies berührt die Statthaftigkeit des vorliegenden Antrags nach § 1032 Abs.2 ZPO jedoch nicht, schon weil der Senat nicht über die Zulässigkeit und Begründetheit der Schiedsklage nach der ICSID-Konvention, die als solches kein Bestandteil des Unionsrechts ist, entscheidet, sondern über die Frage, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung (vgl. BayObLG, Beschluss vom 09.09.1999 – 4Z SchH 3/99, BayObLGZ, 1999, 255 (269); <em>Seiler</em> in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Auflage 2022, § 1032, Rn. 5) - hier durch die auch unionsrechtliche Vorschrift des Art. 26 ECV - als Grundlage des Schiedsverfahrens vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dass es bislang an vergleichbarer Judikatur zu ICSID-Schiedsverfahren durch staatliche Gericht fehlt, stellt nach Ansicht des Senats vor dem Hintergrund der am 06.03.2018 ergangenen D-Entscheidung und der weiteren Fortentwicklung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Unionsrechtswidrigkeit von Schiedsabreden in den Folgejahren, u.a. durch F und H, kein Indiz für die fehlende Statthaftigkeit dar. Neben der - zumal angesichts des Spannungsfeldes zwischen völkerrechtlicher und unionsrechtlicher Verpflichtung - komplexen Fragestellung der staatlichen Befugnis zur Überprüfbarkeit der Grundlage eines ICSID-Schiedsverfahren besteht zudem nur ein relativ enges Zeitfenster zur Geltendmachung eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO. Soweit etwa das Verwaltungsgericht Berlin (mit Beschluss vom 03.11.2016 – 2 K 434/15, juris, Rn. 34) eine Kompetenz zum Eingriff in die Verfahrensregeln des ICSID-Schiedsverfahrens verneint hat, steht dies zum einen der Befassung mit dem hiesigen Antragsgegenstand – wie oben dargelegt – nicht entgegen. Zum anderen wird die vorgenannte Rechtsprechung des Gerichtshofs und deren Umsetzbarkeit in nationalen Verfahren wie Schiedsverfahren in der Schiedsgerichtsbarkeit kritisch beurteilt (s. etwa Wilske/Markert, Entwicklungen in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Jahr 2021 und Ausblick auf 2022, SchiedsVZ 2022, 111).</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Dass Grundlage des hiesigen Verfahrens die Regelung des Internationalen Wirtschaftsrechts im Bereich des Investitionsschutzes auf Basis eines völkerrechtlichen Vertrages ist, der seinerseits dem Wiener Abkommen über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 unterliegt, steht der Befassung mit dem Anliegen der Antragstellerin - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht entgegen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Bezüglich dieses Einwands hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre völkerrechtliche Dispositionsbefugnis beschränkt und untereinander auf die Ausübung mit dem Unionsrecht kollidierender völkervertraglicher Rechte verzichtet haben, weshalb in Folge des Vorrangs der unionsrechtlichen Bestimmungen eine mit ihnen unvereinbare Regelung in einem unionsinternen Abkommen der Mitgliedstaaten auch als völkervertragliche Regelung unanwendbar ist; mithin die Angehörigen der beteiligten Mitgliedstaaten sich nicht auf die im Widerspruch zum Unionsrecht stehenden älteren völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten berufen können (BGH, Beschluss vom 31.10.2018 – I ZB 2/15, IBRRS 2018, 3620 Rn. 41 mwN).</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Zutreffend ist, dass der Gerichtshof keine Ausführungen zu den Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts, hier also § 1032 Abs. 2 ZPO und dessen Anwendbarkeit im Falle eines ICSID-Schiedsverfahrens getroffen hat. Dies steht einer Entscheidung nach § 1032 Abs. 2 ZPO jedoch nicht entgegen. Zum einen betrafen die vom Gerichtshof entschiedenen Rechtssachen kein solches Verfahren auf Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit nach § 1032 Abs. 2 ZPO, zum anderen ist es wie oben dargelegt Sache des nationalen Gerichts, dem Unionsrecht ggf. durch entsprechende Auslegung seiner Rechtsnormen zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen. Die entsprechende Auslegung der nationalen Vorschriften obliegt dabei dem nationalen Gericht. Gerade da § 1032 Abs. 2 ZPO eine der Verfahrensökonomie dienende Vorschrift darstellt (so auch Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022 - 12 SchH 6/21), ist die frühzeitige Feststellung der hier gegebenen unionsrechtlichen Unwirksamkeit der Schiedsabrede in diesem Verfahren zu treffen. Der Senat hält daher auch in Verfahren nach der ICSID-Konvention den Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO für statthaft (so auch Steinbrück/Krahé, Declaratory relief against post-D ICSID arbitration? German arbitral law’s international reach, EuZW 2022, 357 (364)).</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Dafür spricht auch das sog. X-Verfahren (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.11.2021 – I ZB 16/21, vorhergehend Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.02.2021 - 26 SchH 2/20), bezüglich dessen der Bundesgerichtshof unter Zurückweisung der Rechtsbeschwerde die Feststellung der Unzulässigkeit des Schiedsverfahrens bestätigt hat, für eine Anwendbarkeit des § 1032 Abs. 2 ZPO, auch wenn das dort zugrundeliegende Verfahren die unionsrechtlich unwirksame Schiedsabrede in einem bilateralen Investitionsschutzabkommen nach den UNCITRAL-Schiedsregeln betraf. Dies begründet nach Auffassung des Senats keine abweichende Bewertung der verfahrensrechtlichen Statthaftigkeit des Antrags (a.A. Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022 -12 SchH 6/21), denn der Gerichtshof hat vielmehr deutlich gemacht, dass kein Unterschied zwischen einem bilateralen Investitionsschutzabkommen und dem multilateralen ECV, der die Rechtsbeziehungen in ähnlicher Weise regelt, besteht (so auch N und O, EuGH: ECT-Schiedsklausel in Intra-EU Verfahren nicht anwendbar, P Deutschland bloggt vom 10.09.2021).</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">b) Der Antrag zu 1) ist auch begründet, denn das auf Basis von Art. 26 Abs. 4 ECV am 20.01.2021 eingeleitete Schiedsverfahren gegen die Antragstellerin ist mangels wirksamer Schiedsvereinbarung unzulässig.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Bei der Prüfung der Frage, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung nach Art. 26 ECV vorliegt, hat der Senat als erkennendes Gericht eines EU-Mitgliedsstaates nicht nur nationales, hier also deutsches Recht anzuwenden, sondern ist gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabsatz 2 EUV auch gehalten, der Wirksamkeit von vorrangigem Unionsrecht durch dessen Anwendung zur Durchsetzung zu verhelfen. Danach ist die Schiedsklausel in Art. 26 Abs. 2 c) i.V.m. Abs. 3 und Abs. 4 ECV für Intra-EU-Streitigkeiten, also einer Streitigkeit zwischen einem Mitgliedstaat und einem Investor aus einem anderen Mitgliedstaat - wie vorliegend -, im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C 284/16 <em>C gegen D</em> vom 06.03.2018, in der Rechtssache C-741/19 <em>E gegen F</em> vom 02.09.2021, in der Rechtssache C-109/20 <em>G gegen H</em> vom 26.10.2021 sowie in der Rechtssache C-638/19 P <em>I gegen J und andere</em> vom 25.01.2022 mit dem Unionsrecht unvereinbar und damit keine wirksame Rechtsgrundlage für eine auf diese Norm gestützte Schiedsbindung der Antragstellerin.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Der Gerichtshof hat in den vorgenannten Entscheidungen maßgeblich die Kohärenz und die Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts durch eines sein Rechtssprechungsmonopol wahrendes ausgestaltetes Gerichtssystem, bestehend aus dem in Art.  267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die Einführung eines Dialogs zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts und dessen voller Geltung gewährleisten soll, zur Sicherung der Autonomie des Unionsrechts hervorgehoben.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Diese Grundsätze sind verletzt, wenn ein Gericht oder ein Schiedsgericht in der Lage ist, Unionsrecht anzuwenden und auszulegen und es sich nicht um einen dem Gerichtssystem der Union zugehörenden Spruchkörper handelt und damit im Rahmen von Art.  267 AEUV nicht vorlageberechtigt ist. Denn ist ein Gericht nicht vorlageberechtigt und hat es über Streitigkeiten zu entscheiden, die sich auf die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts beziehen können, wird dadurch das umfassende Interpretationsmonopol des Gerichtshofs und mithin die Autonomie der Unionsrechtsordnung beeinträchtigt. Konsequenz dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs, die in der Literatur als wichtiger Baustein in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union im Sinne einer Rechtsgemeinschaft bewertet wird (vgl. Wunderle in Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 6. Auflage 2022, Stichwort: D), ist die Einschränkung der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten im Verhältnis zueinander. Mithin dürfen die Mitgliedstaaten den innerstaatlichen Gerichten keine Streitigkeiten (mehr) entziehen, die das Unionsrecht berühren könnten. Dies ist vorliegend bei dem auf der Grundlage des Art. 26 Abs. 2 c) iVm Abs. 3, Abs. 4 a) i) ECV eingeleiteten Schiedsverfahren, mit dem die mehrfache Verletzung der sich aus dem ECV ergebenden Pflichten gerügt wird, der Fall, zumal nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (D, Rn. 39 f.) das Unionsrecht angesichts seines Wesens und seiner Merkmale sowohl als Teil des in jedem Mitgliedstaat geltenden Rechts als auch als einem internationalen Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten entsprungen anzusehen ist. Das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt - und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen - und auf die sich die Union gründet (Art. 2 EUV). In der Folge hat das ICSID-Schiedsgericht gegebenenfalls das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Grundfreiheiten, darunter die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit, auszulegen oder sogar anzuwenden.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der Wirksamkeit des Unionsrechts wird auch nicht dadurch Genüge getan, dass die Kompetenz zur Entscheidung über die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung unter unionsrechtlichen Grundsätzen dem Schiedsgericht überantwortet wird. Denn aufgrund des Umstands, dass das Schiedsgericht nicht vorlageberechtigt im Sinne des Art. 267 AEUV ist, würde es abschließend über die (Nicht-)Anwendung von Unionsrecht entscheiden, was einen Verstoß gegen das Rechtsprechungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 344 AEUV zur Folge hätte. Der Schiedsspruch des Investitionsschiedsgericht unterliegt hier auch nicht einer im Sinne des Art. 19 EUV effektiven Kontrolle des nationalen Gerichts, so dass auch über ein durch das staatliche Gericht eingeleitetes Vorabentscheidungsersuchen die Vorlage von unionsrechtlichen Fragen an den Gerichtshof nicht gewährleitet ist (siehe noch im Folgenden).</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt es sich hier - anders als bei auf der Parteiautonomie beruhenden Handelsschiedsverfahren - um ein Schiedsverfahren, welches aus einem Vertrag hergeleitet wird, in dem Mitgliedstaaten übereingekommen sind, der Zuständigkeit ihrer eigenen Gerichte und damit dem System von gerichtlichen Rechtsbehelfen, dessen Schaffung ihnen Art. 19 Abs. 1 EUV in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen vorschreibt, Rechtsstreitigkeiten zu entziehen, die die Anwendung und Auslegung des Unionsrechts betreffen können (D, Rn. 55). Denn eine Beeinträchtigung der Autonomie des Unionsrechts liegt nicht nur dann vor, wenn Unionsrecht den Prüfungsmaßstab des Schiedsgerichts bilden kann, sondern auch dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass Unionsrecht lediglich für die Bestimmung des Prüfungsgegenstandes relevant wird (so auch OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.02.2021 - 26 SchH 2/20, Beck RS 2021,1799, Rn. 30 mwN, im sog. X-Verfahren).</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Schiedsverfahren nach der ICSID-Konvention unterliegen - wie bereits dargelegt - grundsätzlich nicht der Kontrolle nationaler Gerichte, weil die Vertragsstaaten der ICSID-Konvention im Rahmen des verbindlichen völkerrechtlichen Vertrags vereinbart haben, die Anwendung von nationalem (Schiedsverfahrens)-Recht auszuschließen:</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Gemäß Art. 52 ICSID-Konvention kann ein Schiedsspruch nur wegen grober prozessualer Fehler durch ein ICSID-Ad-hoc-Ausschuss, aber nicht durch ein nationales Gericht aufgehoben werden. Der Schiedsspruch ist gemäß Art. 54 ICSID- Konvention wie ein letztinstanzliches Urteil zu behandeln. Den abschließenden Charakter der ICSID-Konvention hat die Bundesrepublik Deutschland eindeutig zum Ausdruck gebracht, indem gemäß Art. 2 Abs. 4 InvStreitBeilG eine nationale Zuständigkeit nur dann gegeben ist, wenn der Schiedsspruch in einem Verfahren nach Art. 51 (Wiederaufnahme) oder Art. 52 (Aufhebungsgründe) des Übereinkommens aufgehoben worden ist.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Weiter ordnet Art. 26 der ICSID-Konvention ausdrücklich ihren abschließenden Charakter an, indem die Vorschrift die Zustimmung der Parteien zum Schiedsverfahren im Rahmen dieses Übereinkommens zugleich als Verzicht auf jeden anderen Rechtsbehelf bewertet, sofern nicht etwas anderes erklärt wird.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vorliegend haben beide Verfahrensbeteiligte einer Streitbeilegung durch ein ICSID-Verfahren zugestimmt. Die Antragstellerin hat ein Angebot zur Streitbeilegung im ICSID-Verfahren durch das sogenannte „stehende“ Angebot in Art. 26 Abs. 3 des Energiecharta-Vertrages (ECV) abgegeben. Dieses Angebot hat die Antragsgegnerin durch Einleitung des ICSID-Schiedsklage-Verfahrens angenommen.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Insoweit zutreffend hebt die Antragsgegnerin hervor, dass nach der ICSID-Konvention über eine etwaige fehlende Zustimmung der Antragstellerin aufgrund der von ihr gerügten Unvereinbarkeit des schiedsrichterlichen Verfahrens mit Unionsrecht gemäß Art. 26 und 41 ICSID-Konvention ausschließlich das Schiedsgericht zu befinden hätte (sogenannte Kompetenz-Kompetenz).</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Gerade dadurch kommt zum Ausdruck, dass es bei Annahme der Wirksamkeit der Schiedsabrede ausschließlich Sache des Schiedsgerichts wäre, zu beurteilen, was die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für seine Zuständigkeit bedeutet. Aufgrund des Rechtsmittelverzichts besteht danach auch die Letztentscheidungskompetenz über die Anwendung von Unionsrecht bei dem Investitionsschiedsgericht, was - wie oben dargelegt - dem Rechtssprechungsmonopol des Gerichtshofs entgegensteht. Eine dieses Rechtsprechungsmonopol wahrende Klausel (vgl. dazu EuGH, EuGRZ 2019, 191, Rn. 131 - CETA-Abkommen EU-Kanada, Art. 8.31 Abs. 2 CETA) enthält die ICSID-Konvention nicht. Über die von der Antragstellerin als Schiedsbeklagten eingewendete Unionsrechtswidrigkeit des Schiedsverfahrens hinaus stellen sich weitere Gesichtspunkte, die sich auf die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts beziehen können. Dies folgt schon daraus, dass es sich bei Art. 26 ECV selbst um einen Unionsakt handelt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Nicht zuletzt stellt auch die wissenschaftliche Fachliteratur (Julian Scheu/Petyo Nikolov: „The setting aside and enforcement of intra-EU investment arbitration awards after D” in Arbitration International, Volume 36, Issue 2, June 2020, P. 253-274) die Anwendbarkeit der Argumentation des Gerichtshofs in D zu Klauseln zur Streitbeilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten in allen Investitionsverträgen innerhalb der EU, einschließlich der ECV, wenn sie in einem Intra-EU-Kontext stattfinden, nicht in Frage.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat auch das Schiedsgericht Stockholm chamber of Commerce mit Schiedsspruch vom 16.06.2022 - SCC Case No. V. (2016/135) im Verfahren <em>Q v. R</em> (Anlage AS 31, Bl. 640 GA) die bedingungslose Zustimmung zum Schiedsverfahren auf Basis von Art. 26 ECV als unwirksam angesehen.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Soweit in diesem Zusammenhang - auch von der Antragsgegnerin - angeführt wird, für Schiedsverfahren mit Sitz außerhalb der EU und für ICSID-Schiedsverfahren trage die Begründung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht, denn dieser stelle in der F-Entscheidung maßgeblich darauf ab, dass das Schiedsgericht seinen Sitz in einem Mitgliedsstaat habe und nur deshalb über die Anwendung des nationalen Rechts auch das Unionsrecht mittelbar Anwendung finde, und daraus der Schluss gezogen wird, Gerichte außerhalb der EU und Ad-hoc-Ausschusses nach der ICSID-Konvention seien an die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht gebunden (N und O, EuGH: ECT-Schiedsklausel in Intra-EU Verfahren nicht anwendbar, P Deutschland bloggt vom 10.09.2021), ändert diese Sichtweise - wäre sie zutreffend - zum einen nichts an der Verpflichtung der nationalen Gerichte, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts bereits im jetzigen Verfahrensstadium und nicht erst im Rahmen der Vollstreckung zu beachten, zumal im Falle von ICSID-Verfahren grundsätzlich ein Verstoß gegen den ordre public wegen Verletzung von Unionsrecht nicht gerügt werden kann. Zum anderen geht dieser Ansatz am Kerngehalt der Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache F vorbei. Der Gerichtshof hat seine Zuständigkeit nicht allein maßgeblich auf den innereuropäischen Sitz des Schiedsgerichts und damit die Anwendung des Rechts eines EU-Mitgliedstaates abgestellt, sondern deutlich gemacht, dass die ECV selbst ein Rechtsakt der Union ist und das Schiedsgericht damit das Unionsrecht auszulegen oder sogar anzuwenden habe, und, sofern das Schiedsgericht - sei es nach der ICSID-Konvention oder auf Basis anderer Verfahrensregeln geführt - nicht zum Gerichtssystem der EU gehöre oder sonst nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigt sei, dies geeignet ist, den Rechtsstreit dem Gerichtssystem der Union zu entziehen, womit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nicht mehr gewährleistet wäre (EuGH, F, Rn. 24 ff., 49 ff., 60). Gerade im Sinne der Effektivität des Unionsrechts muss es Verfahrensbeteiligten auch möglich sein, bereits die Vorfrage der Unzulässigkeit eines Schiedsverfahrens eben wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht vorab geltend zu machen.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Dass es sich bei dem Energiecharta-Vertrag um ein multilaterales Abkommen handelt und nicht, wie der D-Entscheidung zugrunde liegend, um ein BIT-Verfahren handelt, führt mithin zu keiner anderen Beurteilung. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin kommt es nicht darauf an, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgrund Sachverhaltsgleichheit Bindungswirkung für die hiesige Konstellation entfaltet. Denn eine solche Rechtsauffassung würde der Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Durchsetzung von Unionsrecht nicht gerecht. Maßgeblich ist vielmehr, dass die zugrundeliegende und vom Gerichtshof entschiedene Rechtsfrage - sei sie auch, wie von der Antragsgegnerin geltend gemacht, in der Rechtssache F als obiter dictum ergangen - auch für weitere ähnliche Sachverhalte Geltung beansprucht, was hier der Fall ist.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Auch aus dem in Folge der Rechtsprechung des Gerichtshofs getroffenen Übereinkommen zur Beendigung bilateraler Investitionsschutzverträge zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29.05.2020 (Amtsblatt der Europäischen Union L 169/1), nach welchem <em>„die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Verpflichtung, ihre Rechtsordnung mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen, die notwendigen Konsequenzen aus dem Unionsrecht in der Auslegung des EuGH in der Rechtssache C-284/16 D (D-Urteil) ziehen müssen“,</em> ergibt sich, dass diese Rechtsprechung nicht nur Investor-Staat-Schiedsklauseln in bilateralen Investitionsschutzverträgen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union betrifft, mit der im Übereinkommen enthaltenen Klarstellung, dass das Übereinkommen „<em>für sämtliche Investor-Staat-Schiedsverfahren gelten sollte, die auf EU-internen bilateralen Investitionsschutzverträgen beruhen und nach einem Schiedsgerichtsübereinkommen oder Schiedsgerichtsbestimmungen wie dem Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (ICSID-Übereinkommen) und der ICSID-Schiedsordnung, der Schiedsordnung des Ständigen Schiedshofs (PCA), der Schiedsordnung der Stockholmer Handelskammer (SCC), der Schiedsordnung der Internationalen Handelskammer (ICC), der Schiedsordnung der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) im Wege eines Ad-hoc-Schiedsverfahren durchgeführt werden,“</em> sondern auch für EU-interne Verfahren auf der Grundlage von Artikel 26 des Vertrags über die Energiecharta, indem im weiteren Text des Übereinkommens klargestellt wird, dass dieses Übereinkommen nur die <em>„EU-internen bilateralen Investitionsschutzverträge betrifft und sich nicht auf EU-interne Verfahren auf der Grundlage von Artikel 26 des Vertrags über die Energiecharta erstreckt. Mit dieser Thematik werden sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten zu einem späteren Zeitpunkt befassen.“.</em> Demgemäß sieht auch der reformierte ECV gemäß der <em>Decision of the Energy Charter Conference</em> vom 24.06.2022 (Energy Charter Secretariat, CCDEC 2022 10 GEN), dessen Text zwecks Überprüfung an die Vertragsparteien bis 22.08.2022 übermittelt und auf der Energiecharta-Konferenz am 22.11.2022 angenommen werden soll, die künftige Streitbeilegung mittels der UNCITRAL-Regelungen vor.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Um den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu sichern, muss jedoch nicht nur der zukünftige Intra-EU-Investitionsschutz mit dem Unionsrecht einschließlich der alleinigen Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung der Verträge vereinbar sein (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten S, T, U, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der V zum Investitionsschutz innerhalb der Europäischen Union, Bundestagsdrucksache 19/22988 vom 30.09.2020), sondern dies gilt auch - sowie in Anbetracht der in Art. 47 Abs. 3 ECT enthaltenen „sunset-clause“ im Falle eines Rücktritts vom ECT - für die gegenwärtige Rechtslage auf Basis der ergangenen völkerrechtlichen Vereinbarung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der - wie oben dargestellt - die materiellen Gewährleistungen des ECT „Bestandteil der Rechtsordnung der Union“ (F, Rn. 23) sind, mithin ihnen Vorrang und unmittelbare Geltung in allen Mitgliedstaaten zukommt (so auch Karpenstein/Sangi: Investitionsschutz vor nationalen Gerichten – Zur Zukunft der Energiecharta, NJW 2021, 3228 (3230f.), mwN).</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Weiter ist ein Vorlageverfahren an den Gerichtshof auch nicht durch die grundsätzliche Möglichkeit eines Aufhebungsverfahrens nach § 1059 ZPO gesichert. Denn zum einen findet diese Überprüfung nur in einem sehr begrenzten Umfang statt, der sich unter anderem auf die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung nach dem anwendbaren Recht und auf die Frage bezieht, ob die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs die öffentliche Ordnung wahrt. Schon deshalb ist nicht gewährleistet, dass die von einem Schiedsgericht behandelten unionsrechtlichen Fragen durch das nationale Gericht umfassend überprüft und im Wege der Vorabentscheidung zum Gerichtshof gelangen. Zum anderen aber ist der Schiedsort vorliegend nicht gemäß §§ 1025 Abs. 1 in Verbindung mit 1043 Abs. 1 ZPO in Deutschland belegen, so dass eine Überprüfung nach dieser Vorschrift, die nur für inländische Schiedssprüche gilt, von vornherein ausscheidet. Im Falle ausländischer Schiedssprüche, für die gemäß § 1025 Abs. 3 ZPO die Vorschriften der §§ 1061 bis 1065 ZPO Anwendung finden, kommt nur eine Verweigerung der Anerkennung bzw. der Vollstreckbarerklärung im Inland nach § 1061 Abs. 2 ZPO in Betracht. Damit bliebe der ggf. unionsrechtswidrige Schiedsspruch existent und bildete eine wirksame Grundlage für eine im Ausland in das dortige Vermögen des am Schiedsverfahren Beteiligten mögliche Vollstreckung.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Aufhebungsgründe des deutschen Schiedsrechts finden auf Schiedssprüche, die nach der ICSID-Konvention erlassen werden, keine Anwendung. ICSID Schiedssprüche unterliegen einem eigenen, besonderen Vollstreckungsregime, das den nationalen Gerichten keine Überprüfung der Schiedsvereinbarung mehr erlaubt (O und W, Der D Beschluss des BGH – Beitritt zur EU lässt Angebot für Intra-EU Schiedsverfahren entfallen, P Deutschland bloggt, Blog vom 21.11.2018, Internetadresse 1).</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist die Antragstellerin - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - auch nicht auf ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV gegen die Bundesrepublik Deutschland zu verweisen, denn dieses bietet ihr keinen Rechtsschutz betreffend des hier auf Basis des Art. 26 ECV eingeleiteten gegenständlichen Schiedsverfahrens.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">2. Auch der Antrag zu 2) auf Feststellung der Unzulässigkeit jeglichen auf Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994 gestützten schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin ist zulässig, insbesondere statthaft und entsprechend den obigen Ausführungen zum Antrag zu 1) begründet.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Ergänzend ist zur Zulässigkeit anzumerken:</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Im Interesse der frühzeitigen Klärung der Gültigkeit und Durchführbarkeit einer Schiedsvereinbarung reicht für die Zulässigkeit des Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO grundsätzlich die potentielle Schiedsverfahrenbetroffenheit aus, mithin muss ein konkreter Streitfall noch nicht vorliegen (Münch in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2022, § 1032, Rn. 32, 39; Steinbrück/Krahé, Declaratory relief against post-D ICSID arbitration? German arbitral law’s international reach, EuZW 2022, 357 (361)), ebenso wenig bedarf es eines besonderen Feststellungsinteresses - gar im Sinne des § 256 ZPO -, sondern als allgemeine Voraussetzung einer jeden prozessualen Rechtsverfolgung bedarf es lediglich eines rechtlich schützenswertes Interesses, die mit dem Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO verbundene Rechtsfrage klären zu lassen. An diesem Rechtsschutzinteresse kann es etwa fehlen, wenn und soweit die Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen den Parteien gänzlich unbestritten ist (OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 10.06.2014 – 26 SchH 2/14 SchiedsVZ 2015, 47; Musielak/Voit, ZPO 19. Auflage 2022, § 1032 Rn. 12; Münch in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2022, § 1032, Rn. 32). Ein solcher Fall liegt hier indessen nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">In diesem Sinne zutreffend hebt die Antragstellerin hervor, dass Gegenstand des Antrags die Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines schiedsrichterlichen Verfahrens ist, und eine Unzulässigkeit dieses Verfahrens darin begründet sein kann, dass die Parteien keine wirksame Schiedsvereinbarung getroffen haben oder trotz wirksamer Schiedsvereinbarung der Gegenstand der Streitigkeit nicht erfasst ist und daher auch die Klärung einer abstrakten Schiedsbindung dem Anwendungsbereich der Norm unterfällt (vgl. Wolf/Eslami in BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf 44. Edition Stand: 01.03.2022, § 1032, Rn. 26 f.).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Daher kommt es nicht darauf an, das bislang nur das Schiedsverfahren ICSID ARB/21/4, welches durch Annahme des Angebots gemäß Art. 26 Abs. 3 ECV eingeleitet wurde, vorliegt und eine Schiedsvereinbarung auf Basis des Art. 26 ECV erst dann zustande kommt, wenn die Antragsgegnerin das „stehende“ Angebot der Antragstellerin annehmen würde, was sie in Bezug auf weitere Streitigkeiten mit Schriftsatz vom 09.07. 2021 - Seite 20 - in Abrede stellt. Gerade aufgrund der derzeit noch geltenden Regelung des „stehenden“ Schiedsverfahrensangebots der Antragstellerin im ECV besteht für die Antragsgegnerin jederzeit die Möglichkeit, die Annahme zu erklären und dadurch ein Schiedsverfahren auf unionsrechtlich unwirksamer Basis in Gang zu setzen. Eine rechtsverbindliche Erklärung der Antragsgegnerin, die Unwirksamkeit der Schiedsabrede anzuerkennen oder keine weiteren Schiedsverfahren auf Basis der derzeitig geltenden ECV einzuleiten, liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">3. Eines Vorabentscheidungsersuchen des Senats an den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es auch angesichts des von der hiesigen Entscheidung abweichenden Beschlusses des Kammergerichts vom 28.04.2022 – 12 SchH 6/21, bezüglich dessen Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (Az. I ZB 43/22) eingelegt worden ist, nicht, denn die Anwendung des Unionsrechts ist nach den eingangs dargestellten Maßstäben der Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Rechtssachen D, F, H und J gesichert („acte éclairé“) bzw. jedenfalls derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum mehr bleibt („acte clair“). Auch aus diesem Grunde sieht der Senat sieht weiter keinen Anlass für eine Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Schiedsgerichts über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung der Schiedsklägerin vom 29.04.2022, mit dem sie u.a. die Anweisung der Schiedsbeklagten begehrt, das hiesige Verfahren zurückzunehmen oder auszusetzen (s. Verfahrensleitende Verfügung Nr. 3 des Schiedsgerichts, Bl. 546 GA) noch für eine solche in Bezug auf das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren 2 BvR 557/19, mit dem unter anderem geltend gemacht wird, dass Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 06.03.2018 in der Rechtssache D stelle einen Ultra-Vires-Akt dar und sei daher in Deutschland nicht anwendbar.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 3 ZPO in Verbindung mit §§ 45 Abs. 1, 63 Abs. 2 S. 1 GKG. Ausgehend von dem im Schiedsverfahren geltend gemachten Betrag in Höhe von 1,4 Milliarden Euro hat der Senat für das hiesige Verfahren einen Gegenstandswert von 467 Millionen Euro (1/3 der Hauptsache) angenommen, der aufgrund der Streitwertgrenze des § 39 Abs. 2 GKG auf 30 Millionen Euro festzusetzen war.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Gegen diese Entscheidung ist gemäß § 1065 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Rechtsbeschwerde statthaft. Die Rechtsbeschwerde ist durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof Karlsruhe, Herrenstr. 45a, 76133 Karlsruhe, schriftlich in deutscher Sprache einzulegen.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsbeschwerde muss binnen einer Notfrist von 1 Monat bei dem Bundesgerichtshof Karlsruhe eingegangen sein.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsbeschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses (Datum des Beschlusses, Geschäftsnummer und Parteien) sowie die Erklärung enthalten, dass Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie ist zu unterzeichnen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift der angefochtenen Entscheidung vorgelegt werden. Die Rechtsbeschwerde ist, sofern die Beschwerdeschrift keine Begründung enthält, binnen einer Frist von einem Monat, die mit Zustellung der angefochtenen Entscheidung beginnt, zu begründen.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Hinweis zum elektronischen Rechtsverkehr:</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Einlegung ist auch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts möglich. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden. Auf die Pflicht zur elektronischen Einreichung durch professionelle Einreicher/innen ab dem 01.01.2022 durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013, das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017 und das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 05.10.2021 wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Weitere Informationen erhalten Sie auf den Internetseiten www.justiz.de und www.bundesgerichtshof.de.</p>
346,767
olgk-2022-09-01-19-schh-1421
{ "id": 822, "name": "Oberlandesgericht Köln", "slug": "olgk", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
19 SchH 14/21
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:48"
"2022-10-17T11:10:41"
Beschluss
ECLI:DE:OLGK:2022:0901.19SCHH14.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>1. Es wird festgestellt, dass das von der Antragsgegnerin vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes) unter dem Aktenzeichen ICSID ARB/21/22 eingeleitete schiedsrichterliche Verfahren unzulässig ist.</p> <p>2. Es wird weiter festgestellt, dass jegliches schiedsrichterliche Verfahren zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994 unzulässig ist.</p> <p>3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.</p> <p>4. Der Gegenstandswert wird auf bis zu 30 Millionen Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Verfahrensbeteiligten streiten um die Feststellung der Unzulässigkeit von Schiedsverfahren.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 22.04.2021 hat die Antragsgegnerin, eine Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in Deutschland, gegen die Antragstellerin, ein souveräner EU-Mitgliedsstaat, ein Schiedsverfahren vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (<em>International Centre for Settlement of Investment Disputes</em>) eingeleitet. Das Verfahren wird dort unter dem Aktenzeichen ICSID ARB/21/22 geführt. Mit dem schiedsrichterlichen Verfahren verlangt u.a. die hiesige Antragsgegnerin die Feststellung der Verletzung von Verpflichtungen gemäß Teil III des Vertrages über die Energiecharta  sowie Schadenersatz für getätigte Investitionen in das im Staatsgebiet der Antragstellerin in A gelegenen Kohlekraftwerk <em>A Power Plant 3</em> von der Antragstellerin aufgrund deren regulatorischer Entscheidung, bis 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die ICSID-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, beruhend auf dem Übereinkommen vom 18.03.1965 zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten, dem in Deutschland durch das Gesetz zum Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (InvStreitBeilG) innerstaatliche Wirksamkeit verliehen wurde (BGBl. 1969 II, S. 369).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die ICSID-Konvention ist für die Antragstellerin am 14.10.1966 und für die Bundesrepublik Deutschland am 18.05.1969 (BGBl. 1969 II, S. 1191) in Kraft getreten. Die Regelungen der ICSID-Konvention werden durch eine Schiedsverfahrensordnung ergänzt, die gemäß Art. 6 lit. B der ICSID-Konvention durch den Verwaltungsrat des ICSID (<em>Administrative Counsel</em>) erlassen wird.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Bei dem Energiecharta-Vertrag (im Folgenden: ECV), der am 16.04.1998 in Kraft getreten ist, handelt es sich um ein multilaterales Abkommen zur Kooperation im Energiesektor, das von 48 Staaten sowie der EU und Euratom ratifiziert wurde. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem 1991 in Den Haag und 1994 in Lissabon unterzeichneten Energiecharta-Vertrag mit Gesetz vom 20.12.1996 (BGBl. II, 1997) zugestimmt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist der Ansicht, bei dem eingeleiteten Schiedsverfahren handele sich um ein Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren, welches aufgrund der vom Europäischen Gerichtshof (im Folgenden: Gerichtshof) in der Rechtssache C 284/16 <em>C gegen D,</em> Urteil vom 06.03.2018 (NJW 2018, 1663, im Folgenden: D), in der Rechtssache C-741/19 <em>E gegen F,</em> Urteil vom 02.09.2021 (NJW 2021, 3243, im Folgenden: F), in der Rechtssache C-109/20 <em>G gegen H,</em> Urteil vom 26.10.2021 (EuZW 2021,1097, im Folgenden: H) sowie in der Rechtssache C-638/19 P <em>I gegen J und andere,</em> Urteil vom 25.01.2022 (juris, im Folgenden: J) festgestellten europarechtlichen Unvereinbarkeit eines solchen Schiedsverfahrens auf der Grundlage von Art. 26 ECV Abs. 3 und 4 unzulässig sei.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Für das bereits eingeleitete Schiedsverfahren bestehe weder auf der Basis von Art. 26 Abs. 4 ECV noch sonst eine gültige Schiedsvereinbarung, etwa aufgrund der ICSID-Konvention (insoweit verweist die Antragstellerin auf die Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 08.05.2007 – 2 BvM 1-5/03, WM 2007, 1315 (1318)) oder aufgrund der Regeln des Privatrechts.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Gleiches gelte auch für jedes weitere auf Art. 26 ECV gestützte Schiedsverfahren zwischen den Verfahrensbeteiligten. Das berechtigte Interesse an der Feststellung der Unzulässigkeit eines jeden auf Basis von Art. 26 ECV eingeleiteten schiedsrichterlichen Verfahrens ergebe sich daraus, dass die Antragsgegnerin nach Abschluss des hiesigen Verfahrens ein neuerliches Schiedsverfahren einleiten könne. Hinzu komme, dass die Antragsgegnerin parallel zur Einleitung des ICSID-Schiedsverfahrens auch vor den ordentlichen Gerichten in den Niederlanden ein Verfahren angestrengt habe.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit ihren am 10.05.2021 beim Oberlandesgericht Köln eingegangenen und am 21.01.2022 klargestellten Anträgen begehrt die Antragstellerin in der Hauptsache,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">festzustellen,</p> <span class="absatzRechts">13</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">1.                               dass das von der Antragsgegnerin gegen die Antragstellerin vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes) eingeleitete schiedsrichterliche Verfahren, das unter dem Aktenzeichen ICSID ARB/21/22 geführt wird,</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">sowie</p> <span class="absatzRechts">16</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">2.                               dass jegliches schiedsrichterliche Verfahren zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">unzulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt in der Hauptsache,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">die Anträge als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise als unbegründet abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Sie rügt die internationale und örtliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Köln unter Verweis darauf, dass ICSID-Schiedsverfahren nicht dem nationalen Schiedsrecht der Vertragsstaaten und damit vorliegend dem 10. Buch der ZPO unterliegen, weshalb keine Befugnis der staatlichen Gerichte bestehe, in diesen Verfahren zu intervenieren. Überdies sei § 1032 ZPO nicht anwendbar, weil ICSID-Schiedsverfahren zwar einen Tagungsort, aber nicht den nach § 1043 ZPO notwenigen Schiedsort aufwiesen. Zudem fehle es am Rechtsschutzbedürfnis, weil deutsche Gerichte die ICSID-Schiedssprüche nicht überprüfen könnten, so dass die vom Gesetz vorausgesetzte Präzedenzwirkung für spätere Aufhebungs- oder Vollstreckungsverfahren nicht gegeben sei.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Antrag zu 2) auf Feststellung der Unzulässigkeit jeglichen schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994 sei nicht statthaft, weil er sich auf jegliche Schiedsverfahren beziehe, also auch solche, die nicht der ICSID unterfallen. § 1032 ZPO erlaube jedoch nur die Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des schiedsrichterlichen Verfahrens; dafür müsse sich bereits ein konkreter Rechtskonflikt abzeichnen. Hierfür bedürfe es wenigstens einer Schiedsvereinbarung, eine solche werde jedoch nicht behauptet und ergebe sich nicht aus Art. 26 des ECV, denn dieser enthalte nur das Angebot der Vertragsstaaten an die Investoren, eine solche abzuschließen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Überdies fehle es am Rechtsschutzbedürfnis. Die Antragstellerin behaupte nicht, dass weitere Schiedsverfahren zwischen den Parteien drohen. Bei dem von der Antragstellerin angeführten niederländischen Verfahren sei die Antragsgegnerin nicht beteiligt.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Anträge zu 1) und 2) seien jedenfalls unbegründet, da eine nach dem anwendbaren Recht wirksame Schiedsvereinbarung vorliege.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 21.01.2022 (Bl. 250 f. GA) hat die Antragsgegnerin die Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Sache 2 BvR 557/19 beantragt. Die Antragstellerin ist dem mit Schriftsatz vom 31.01.2022 (Bl. 349 f.GA) entgegen getreten.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen eines vor dem Schiedsgericht geführten einstweiligen Anordnungsverfahrens hat die Antragsgegnerin festgehalten, mit Erlass des F-Urteils habe „der EuGH festgestellt, dass gemäß Gemeinschaftsrecht Artikel 26 [ECV] dahingehend auszulegen ist, dass er auf intra-EU Rechtsstreitigkeiten keine Anwendung findet“ (s. Entscheidung des Schiedsgerichts vom 17.02.2022, Anlage AS 25, Bl. 458 (460) GA). Vor diesem Hintergrund hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 10.06.2022 den Erlass eines Anerkenntnisurteils beantragt.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Anträge sind zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">1. a) Der Antrag zu 1) auf Feststellung der Unzulässigkeit eines Schiedsverfahrens gemäß § 1032 Abs. 2 ZPO ist zulässig, insbesondere statthaft.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Für den geltend gemachten Antrag ist das Verfahren nach dem 10. Buch der Zivilprozessordnung eröffnet. Die Verfahrenszuständigkeit ergibt sich schon aus der gesetzlichen Anordnung für die diesbezügliche Antragsart.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Weiter ist auch der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gemäß § 13 GVG gegeben. Zwar findet § 1032 Abs. 2 ZPO auch über die Verweisung in § 173 VwGO Anwendung, so dass ein entsprechendes Verfahren auch im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit möglich ist. Hier fußen zwar die im Schiedsverfahren geltend gemachten Ansprüche, u.a. auf Schadenersatz bzw. Entschädigung, auf einem völkerrechtlichen Vertrag. Dieser ist aber nicht als öffentlich-rechtlicher Vertrag im Sinne einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, für die gemäß § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg gegeben wäre, anzusehen (vgl. Karpenstein/Sangi, Investitionsschutz vor nationalen Gerichten – Zur Zukunft der Energiecharta, NJW 2021, 3228 Rn. 17; vgl. auch Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022 - 12 SchH 6/21, mit dem ein Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO bzgl. des zugrunde liegenden ICSID-Schiedsverfahrens ARB/21/26 <em>K u.a. gegen L</em> als unzulässig zurückgewiesen wurde, hiergegen ist die Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof zu Az. I ZB 43/22 anhängig). Dies zumal sich keine Völkerrechtssubjekte gegenüber stehen, sondern gegenständlich sind Sekundäransprüche eines Dritten (Investor) gegen eine Partei des Vertrags, für die gemäß der abdrängenden Sonderzuweisung in § 40 Abs. 2 S. 1 1. HS VwGO bzw. aufgrund Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG der ordentliche Rechtsweg eröffnet ist. Dass die Ansprüche zivilrechtlicher Natur sind, folgt zudem aus Art. 26 Abs. 5 b ECV, der nämlich klarstellt, dass ein Schiedsverfahren nach diesem Artikel auf Ersuchen einer der Streitparteien in einem Staat stattfindet, der Vertragspartei des New Yorker Übereinkommens ist und weiter, dass Ansprüche, die Gegenstand eines Schiedsverfahrens nach diesem Artikel sind, als aus einer Handelssache oder Transaktion im Sinne des Artikels I jenes Übereinkommens entstanden gelten.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Das Oberlandesgericht ist zur Entscheidung über die Anträge gemäß § 1062 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 ZPO sachlich und örtlich sowie international zuständig. Da kein inländischer Schiedsort bestimmt ist, richtet sich die örtliche Zuständigkeit und aufgrund deren Doppelfunktionalität auch die internationale Zuständigkeit nach dem Ort, in dem der Antragsgegner seinen Sitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt hat, nur hilfsweise ist die Zuständigkeit des Kammergerichts gegeben. Da die Antragsgegnerin ihren Sitz in M hat und aufgrund der in Anwendung von § 1026 Abs. 5 ZPO ergangenen Verordnung über die Konzentration der gerichtlichen Entscheidungen in schiedsrichterlichen Angelegenheiten des Landes NRW vom 20.03.2019, in Kraft getreten am 01.07.2019, - NRWKoGeEntsVO - (GV. NRW 2019 Nr. 8 vom 09.04.2019, S. 196) gemäß deren § 1 sämtliche gerichtlichen Entscheidungen in schiedsrichterlichen Angelegenheiten nach § 1062 Abs. 1 bis Abs. 3 der ZPO für die Bezirke aller Oberlandesgerichte des Landes Nordrhein-Westfalen dem Oberlandesgericht Köln übertragen sind, ist dieses ausschließlich zuständig. Nichts anderes folgt aus § 1025 Abs. 2 ZPO, nach dem § 1032 ZPO auch dann Anwendung findet, wenn der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens im Ausland liegt oder noch nicht bestimmt ist. Zwar besteht bei Schiedsverfahren nach der ICSID-Konvention kein Sitz, sondern nur ein Tagungsort. Vorliegend kann aber dahin stehen, ob ICSID-Verfahren § 1025 ZPO unterfallen können, denn staatliche Gerichte haben nationale Gesetze nicht nur im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands auszulegen, sondern sie müssen aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts dieses Unionsrecht effektiv zur Geltung bringen. Bei einem Konflikt zwischen einem inländischen Rechtsakt, unabhängig davon, ob dieser eine völkerrechtliche Verpflichtung widerspiegelt oder nicht, und dem Unionsrecht sind die deutschen Richter daher verpflichtet, dem Unionsrecht den Vorrang zu geben, es sei denn, es handele sich um einen Ultra-Vires-Akt (s. auch Steinbrück/Krahé, Declaratory relief against post-D ICSID arbitration? German arbitral law’s international reach, EuZW 2022, 357 (364)). Entsprechend den nachfolgend - unter II 1 b), 2 - dargestellten Ausführungen zur Begründetheit der vorliegenden Anträge folgt der Senat, der keine Anhaltspunkte für einen Akt Ultra Vires sieht, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Unwirksamkeit von Schiedsklauseln in bi- und multilateralen Verträgen in Intra-EU-Investor-Staat-Verfahren und der sich daraus nach Auffassung des erkennenden Senats ergebenden Verpflichtung zur Anwendbarkeit von § 1032 Abs. 2 ZPO im vorliegenden Fall.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO ist zulässig, insbesondere rechtzeitig eingereicht. Nach den hier anwendbaren Bestimmungen der ICSID-Konvention und den ICSID-Schiedsregeln war das Schiedsgericht im Zeitpunkt der Einreichung des hiesigen Antrags auf Feststellung der Unzulässigkeit noch nicht im Sinne der Art. 37 ff. ICSID-Konvention und den Regeln 2 ff. der ICSID-Schiedsregeln konstituiert.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Das für den Antrag erforderliche Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin ergibt sich bereits aus ihrer Parteistellung im von der Antragsgegnerin eingeleiteten schiedsrichterlichen Verfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 08.11.2018 – I ZB 21/18, NJW 2019, 857, Rn. 15). Der Antrag ist auch nicht aufgrund widersprüchlichen Verhaltens der Antragstellerin wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben unzulässig, insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin im gegen sie anhängigen staatlichen Verfahren - an welchem die Antragsgegnerin laut ihrem Schriftsatz vom 11.03.2022, dort Seite 17 nicht beteiligt ist - die Einrede der Schiedsgerichtsvereinbarung geltend macht.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist statthaft. Dem steht nicht entgegen, dass die Verfahrensregeln der ICSID-Konvention in Verbindung mit dem InvStreitÜbkG eine Überprüfung durch § 1032 ZPO nicht vorsehen (a.A. Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022 - 12 SchH 6/21). Danach unterliegen zwar die Schiedsverfahren nach der ICSID-Konvention grundsätzlich nicht der Kontrolle nationaler Gerichte, weil die Vertragsstaaten der ICSID-Konvention im Rahmen des verbindlichen völkerrechtlichen Vertrags vereinbart haben, die Anwendung von nationalem (Schiedsverfahrens)-Recht auszuschließen. Ein nach der ICSID-Konvention angerufenes Gericht entscheidet selbst abschließend über seine Zuständigkeit und die Wirksamkeit einer Schiedsabrede, vgl. Artikel 41 ICSID-Konvention, der Schiedsspruch ist gemäß Art. 53 ICSID-Konvention für die Parteien bindend und unterliegt keinen anderen Rechtsmitteln als den in der Konvention vorgesehenen. Der Schiedsspruch ist weiter gemäß Art. 54 ICSID-Konvention in jedem Vertragsstaat bindend und wie ein rechtskräftiges Urteil eines innerstaatlichen Gerichts zu behandeln. Auf die Vollstreckung eines aufgrund des Übereinkommens ergangenen Schiedsspruchs sind die Vorschriften über die Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche anzuwenden (Art. 2 Abs. 2 InvStreitÜbkG) und der Antrag, die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung festzustellen, kann nur abgelehnt werden, wenn der Schiedsspruch in einem Verfahren nach Artikel 51 oder Artikel 52 des Übereinkommens aufgehoben worden ist (Art. 2 Abs. 4 InvStreitÜbkG). Wie das Kammergericht im Beschluss vom 28.04.2022 ausführlich dargelegt hat, belegen auch die gesetzgeberischen Erwägungen zum InvStreitÜbkG, dass weder eine nationale Überprüfung des Verfahrens noch eine inhaltliche Überprüfung am Maßstab des ordre public zulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Dies berührt die Statthaftigkeit des vorliegenden Antrags nach § 1032 Abs.2 ZPO jedoch nicht, schon weil der Senat nicht über die Zulässigkeit und Begründetheit der Schiedsklage nach der ICSID-Konvention, die als solches kein Bestandteil des Unionsrechts ist, entscheidet, sondern über die Frage, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung (vgl. BayObLG, Beschluss vom 09.09.1999 – 4Z SchH 3/99, BayObLGZ, 1999, 255 (269); <em>Seiler</em> in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Auflage 2022, § 1032, Rn. 5) - hier durch die auch unionsrechtliche Vorschrift des Art. 26 ECV - als Grundlage des Schiedsverfahrens vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dass es bislang an vergleichbarer Judikatur zu ICSID-Schiedsverfahren durch staatliche Gericht fehlt, stellt nach Ansicht des Senats vor dem Hintergrund der am 06.03.2018 ergangenen D-Entscheidung und der weiteren Fortentwicklung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Unionsrechtswidrigkeit von Schiedsabreden in den Folgejahren, u.a. durch F und H, kein Indiz für die fehlende Statthaftigkeit dar. Neben der - zumal angesichts des Spannungsfeldes zwischen völkerrechtlicher und unionsrechtlicher Verpflichtung - komplexen Fragestellung der staatlichen Befugnis zur Überprüfbarkeit der Grundlage eines ICSID-Schiedsverfahren besteht zudem nur ein relativ enges Zeitfenster zur Geltendmachung eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO. Soweit etwa das Verwaltungsgericht Berlin (mit Beschluss vom 03.11.2016 – 2 K 434/15, juris, Rn. 34) eine Kompetenz zum Eingriff in die Verfahrensregeln des ICSID-Schiedsverfahrens verneint hat, steht dies zum einen der Befassung mit dem hiesigen Antragsgegenstand – wie oben dargelegt – nicht entgegen. Zum anderen wird die vorgenannte Rechtsprechung des Gerichtshofs und deren Umsetzbarkeit in nationalen Verfahren wie Schiedsverfahren in der Schiedsgerichtsbarkeit kritisch beurteilt (s. etwa Wilske/Markert, Entwicklungen in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Jahr 2021 und Ausblick auf 2022, SchiedsVZ 2022, 111).</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dass Grundlage des hiesigen Verfahrens die Regelung des Internationalen Wirtschaftsrechts im Bereich des Investitionsschutzes auf Basis eines völkerrechtlichen Vertrages ist, der seinerseits dem Wiener Abkommen über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 unterliegt, steht der Befassung mit dem Anliegen der Antragstellerin - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht entgegen.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Bezüglich dieses Einwands hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre völkerrechtliche Dispositionsbefugnis beschränkt und untereinander auf die Ausübung mit dem Unionsrecht kollidierender völkervertraglicher Rechte verzichtet haben, weshalb in Folge des Vorrangs der unionsrechtlichen Bestimmungen eine mit ihnen unvereinbare Regelung in einem unionsinternen Abkommen der Mitgliedstaaten auch als völkervertragliche Regelung unanwendbar ist; mithin die Angehörigen der beteiligten Mitgliedstaaten sich nicht auf die im Widerspruch zum Unionsrecht stehenden älteren völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten berufen können (BGH, Beschluss vom 31.10.2018 – I ZB 2/15, IBRRS 2018, 3620 Rn. 41 mwN).</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Zutreffend ist, dass der Gerichtshof keine Ausführungen zu den Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts, hier also § 1032 Abs. 2 ZPO und dessen Anwendbarkeit im Falle eines ICSID-Schiedsverfahrens getroffen hat. Dies steht einer Entscheidung nach § 1032 Abs. 2 ZPO jedoch nicht entgegen. Zum einen betrafen die vom Gerichtshof entschiedenen Rechtssachen kein solches Verfahren auf Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit nach § 1032 Abs. 2 ZPO, zum anderen ist es wie oben dargelegt Sache des nationalen Gerichts, dem Unionsrecht ggf. durch entsprechende Auslegung seiner Rechtsnormen zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen. Die entsprechende Auslegung der nationalen Vorschriften obliegt dabei dem nationalen Gericht. Gerade da § 1032 Abs. 2 ZPO eine der Verfahrensökonomie dienende Vorschrift darstellt (so auch Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022 - 12 SchH 6/21), ist die frühzeitige Feststellung der hier gegebenen unionsrechtlichen Unwirksamkeit der Schiedsabrede in diesem Verfahren zu treffen. Der Senat hält daher auch in Verfahren nach der ICSID-Konvention den Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO für statthaft (so auch Steinbrück/Krahé, Declaratory relief against post-D ICSID arbitration? German arbitral law’s international reach, EuZW 2022, 357 (364)).</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Dafür spricht auch das sog. Raiffeisen-Verfahren (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.11.2021 – I ZB 16/21, vorhergehend Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.02.2021 - 26 SchH 2/20), bezüglich dessen der Bundesgerichtshof unter Zurückweisung der Rechtsbeschwerde die Feststellung der Unzulässigkeit des Schiedsverfahrens bestätigt hat, für eine Anwendbarkeit des § 1032 Abs. 2 ZPO, auch wenn das dort zugrundeliegende Verfahren die unionsrechtlich unwirksame Schiedsabrede in einem bilateralen Investitionsschutzabkommen nach den UNCITRAL-Schiedsregeln betraf. Dies begründet nach Auffassung des Senats keine abweichende Bewertung der verfahrensrechtlichen Statthaftigkeit des Antrags (a.A. Kammergericht, Beschluss vom 28.04.2022 -12 SchH 6/21), denn der Gerichtshof hat vielmehr deutlich gemacht, dass kein Unterschied zwischen einem bilateralen Investitionsschutzabkommen und dem multilateralen ECV, der die Rechtsbeziehungen in ähnlicher Weise regelt, besteht (so auch N und O, EuGH: ECT-Schiedsklausel in Intra-EU Verfahren nicht anwendbar, P Deutschland bloggt vom 10.09.2021).</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">b) Der Antrag zu 1) ist auch begründet, denn das auf Basis von Art. 26 Abs. 4 ECV am 22.04.2021 eingeleitete Schiedsverfahren gegen die Antragstellerin ist mangels wirksamer Schiedsvereinbarung unzulässig.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Bei der Prüfung der Frage, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung nach Art. 26 ECV vorliegt, hat der Senat als erkennendes Gericht eines EU-Mitgliedsstaates nicht nur nationales, hier also deutsches Recht anzuwenden, sondern ist gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabsatz 2 EUV auch gehalten, der Wirksamkeit von vorrangigem Unionsrecht durch dessen Anwendung zur Durchsetzung zu verhelfen. Danach ist die Schiedsklausel in Art. 26 Abs. 2 c) i.V.m. Abs. 3 und Abs. 4 ECV für Intra-EU-Streitigkeiten, also einer Streitigkeit zwischen einem Mitgliedstaat und einem Investor aus einem anderen Mitgliedstaat - wie vorliegend -, im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C 284/16 <em>C gegen D</em> vom 06.03.2018, in der Rechtssache C-741/19 <em>E gegen F</em> vom 02.09.2021, in der Rechtssache C-109/20 <em>G gegen H</em> vom 26.10.2021 sowie in der Rechtssache C-638/19 P <em>I gegen J und andere</em> vom 25.01.2022 mit dem Unionsrecht unvereinbar und damit keine wirksame Rechtsgrundlage für eine auf diese Norm gestützte Schiedsbindung der Antragstellerin.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der Gerichtshof hat in den vorgenannten Entscheidungen maßgeblich die Kohärenz und die Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts durch eines sein Rechtssprechungsmonopol wahrendes ausgestaltetes Gerichtssystem, bestehend aus dem in Art.  267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die Einführung eines Dialogs zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts und dessen voller Geltung gewährleisten soll, zur Sicherung der Autonomie des Unionsrechts hervorgehoben.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Diese Grundsätze sind verletzt, wenn ein Gericht oder ein Schiedsgericht in der Lage ist, Unionsrecht anzuwenden und auszulegen und es sich nicht um einen dem Gerichtssystem der Union zugehörenden Spruchkörper handelt und damit im Rahmen von Art.  267 AEUV nicht vorlageberechtigt ist. Denn ist ein Gericht nicht vorlageberechtigt und hat es über Streitigkeiten zu entscheiden, die sich auf die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts beziehen können, wird dadurch das umfassende Interpretationsmonopol des Gerichtshofs und mithin die Autonomie der Unionsrechtsordnung beeinträchtigt. Konsequenz dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs, die in der Literatur als wichtiger Baustein in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union im Sinne einer Rechtsgemeinschaft bewertet wird (vgl. Wunderle in Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 6. Auflage 2022, Stichwort: D), ist die Einschränkung der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten im Verhältnis zueinander. Mithin dürfen die Mitgliedstaaten den innerstaatlichen Gerichten keine Streitigkeiten (mehr) entziehen, die das Unionsrecht berühren könnten. Dies ist vorliegend bei dem auf der Grundlage des Art. 26 Abs. 2 c) iVm Abs. 3, Abs. 4 a) i) ECV eingeleiteten Schiedsverfahren, mit dem die mehrfache Verletzung der sich aus dem ECV ergebenden Pflichten gerügt wird, der Fall, zumal nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (D, Rn. 39 f.) das Unionsrecht angesichts seines Wesens und seiner Merkmale sowohl als Teil des in jedem Mitgliedstaat geltenden Rechts als auch als einem internationalen Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten entsprungen anzusehen ist. Das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt - und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen - und auf die sich die Union gründet (Art. 2 EUV). In der Folge hat das ICSID-Schiedsgericht gegebenenfalls das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Grundfreiheiten, darunter die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit, auszulegen oder sogar anzuwenden.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Der Wirksamkeit des Unionsrechts wird auch nicht dadurch Genüge getan, dass die Kompetenz zur Entscheidung über die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung unter unionsrechtlichen Grundsätzen dem Schiedsgericht überantwortet wird. Denn aufgrund des Umstands, dass das Schiedsgericht nicht vorlageberechtigt im Sinne des Art. 267 AEUV ist, würde es abschließend über die (Nicht-)Anwendung von Unionsrecht entscheiden, was einen Verstoß gegen das Rechtsprechungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 344 AEUV zur Folge hätte. Der Schiedsspruch des Investitionsschiedsgericht unterliegt hier auch nicht einer im Sinne des Art. 19 EUV effektiven Kontrolle des nationalen Gerichts, so dass auch über ein durch das staatliche Gericht eingeleitetes Vorabentscheidungsersuchen die Vorlage von unionsrechtlichen Fragen an den Gerichtshof nicht gewährleitet ist (siehe noch im Folgenden).</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt es sich hier - anders als bei auf der Parteiautonomie beruhenden Handelsschiedsverfahren - um ein Schiedsverfahren, welches aus einem Vertrag hergeleitet wird, in dem Mitgliedstaaten übereingekommen sind, der Zuständigkeit ihrer eigenen Gerichte und damit dem System von gerichtlichen Rechtsbehelfen, dessen Schaffung ihnen Art. 19 Abs. 1 EUV in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen vorschreibt, Rechtsstreitigkeiten zu entziehen, die die Anwendung und Auslegung des Unionsrechts betreffen können (D, Rn. 55). Denn eine Beeinträchtigung der Autonomie des Unionsrechts liegt nicht nur dann vor, wenn Unionsrecht den Prüfungsmaßstab des Schiedsgerichts bilden kann, sondern auch dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass Unionsrecht lediglich für die Bestimmung des Prüfungsgegenstandes relevant wird (so auch OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.02.2021 - 26 SchH 2/20, Beck RS 2021,1799, Rn. 30 mwN, im sog. Raiffeisen-Verfahren).</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Schiedsverfahren nach der ICSID-Konvention unterliegen - wie bereits dargelegt - grundsätzlich nicht der Kontrolle nationaler Gerichte, weil die Vertragsstaaten der ICSID-Konvention im Rahmen des verbindlichen völkerrechtlichen Vertrags vereinbart haben, die Anwendung von nationalem (Schiedsverfahrens)-Recht auszuschließen:</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Gemäß Art. 52 ICSID-Konvention kann ein Schiedsspruch nur wegen grober prozessualer Fehler durch ein ICSID-Ad-hoc-Ausschuss, aber nicht durch ein nationales Gericht aufgehoben werden. Der Schiedsspruch ist gemäß Art. 54 ICSID- Konvention wie ein letztinstanzliches Urteil zu behandeln. Den abschließenden Charakter der ICSID-Konvention hat die Bundesrepublik Deutschland eindeutig zum Ausdruck gebracht, indem gemäß Art. 2 Abs. 4 InvStreitBeilG eine nationale Zuständigkeit nur dann gegeben ist, wenn der Schiedsspruch in einem Verfahren nach Art. 51 (Wiederaufnahme) oder Art. 52 (Aufhebungsgründe) des Übereinkommens aufgehoben worden ist.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Weiter ordnet Art. 26 der ICSID-Konvention ausdrücklich ihren abschließenden Charakter an, indem die Vorschrift die Zustimmung der Parteien zum Schiedsverfahren im Rahmen dieses Übereinkommens zugleich als Verzicht auf jeden anderen Rechtsbehelf bewertet, sofern nicht etwas anderes erklärt wird.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vorliegend haben beide Verfahrensbeteiligte einer Streitbeilegung durch ein ICSID-Verfahren zugestimmt. Die Antragstellerin hat ein Angebot zur Streitbeilegung im ICSID-Verfahren durch das sogenannte „stehende“ Angebot in Art. 26 Abs. 3 des Energiecharta-Vertrages (ECV) abgegeben. Dieses Angebot hat die Antragsgegnerin durch Einleitung des ICSID-Schiedsklage-Verfahrens angenommen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Insoweit zutreffend hebt die Antragsgegnerin hervor, dass nach der ICSID-Konvention über eine etwaige fehlende Zustimmung der Antragstellerin aufgrund der von ihr gerügten Unvereinbarkeit des schiedsrichterlichen Verfahrens mit Unionsrecht gemäß Art. 26 und 41 ICSID-Konvention ausschließlich das Schiedsgericht zu befinden hätte (sogenannte Kompetenz-Kompetenz).</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Gerade dadurch kommt zum Ausdruck, dass es bei Annahme der Wirksamkeit der Schiedsabrede ausschließlich Sache des Schiedsgerichts wäre, zu beurteilen, was die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für seine Zuständigkeit bedeutet. Aufgrund des Rechtsmittelverzichts besteht danach auch die Letztentscheidungskompetenz über die Anwendung von Unionsrecht bei dem Investitionsschiedsgericht, was - wie oben dargelegt - dem Rechtssprechungsmonopol des Gerichtshofs entgegensteht. Eine dieses Rechtsprechungsmonopol wahrende Klausel (vgl. dazu EuGH, EuGRZ 2019, 191, Rn. 131 - CETA-Abkommen EU-Kanada, Art. 8.31 Abs. 2 CETA) enthält die ICSID-Konvention nicht. Über die von der Antragstellerin als Schiedsbeklagten eingewendete Unionsrechtswidrigkeit des Schiedsverfahrens hinaus stellen sich weitere Gesichtspunkte, die sich auf die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts beziehen können. Dies folgt schon daraus, dass es sich bei Art. 26 ECV selbst um einen Unionsakt handelt.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Nicht zuletzt stellt auch die wissenschaftliche Fachliteratur (Julian Scheu/Petyo Nikolov: „The setting aside and enforcement of intra-EU investment arbitration awards after D” in Arbitration International, Volume 36, Issue 2, June 2020, P. 253-274) die Anwendbarkeit der Argumentation des Gerichtshofs in D zu Klauseln zur Streitbeilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten in allen Investitionsverträgen innerhalb der EU, einschließlich der ECV, wenn sie in einem Intra-EU-Kontext stattfinden, nicht in Frage.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat auch das Schiedsgericht Stockholm chamber of Commerce mit Schiedsspruch vom 16.06.2022 - SCC Case No. V. (2016/135) im Verfahren <em>Q v. R</em> (Anlage AS 31, Bl. 640 GA) die bedingungslose Zustimmung zum Schiedsverfahren auf Basis von Art. 26 ECV als unwirksam angesehen.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Soweit in diesem Zusammenhang - auch von der Antragsgegnerin - angeführt wird, für Schiedsverfahren mit Sitz außerhalb der EU und für ICSID-Schiedsverfahren trage die Begründung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht, denn dieser stelle in der F-Entscheidung maßgeblich darauf ab, dass das Schiedsgericht seinen Sitz in einem Mitgliedsstaat habe und nur deshalb über die Anwendung des nationalen Rechts auch das Unionsrecht mittelbar Anwendung finde, und daraus der Schluss gezogen wird, Gerichte außerhalb der EU und Ad-hoc-Ausschusses nach der ICSID-Konvention seien an die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht gebunden (N und O, EuGH: ECT-Schiedsklausel in Intra-EU Verfahren nicht anwendbar, P Deutschland bloggt vom 10.09.2021), ändert diese Sichtweise - wäre sie zutreffend - zum einen nichts an der Verpflichtung der nationalen Gerichte, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts bereits im jetzigen Verfahrensstadium und nicht erst im Rahmen der Vollstreckung zu beachten, zumal im Falle von ICSID-Verfahren grundsätzlich ein Verstoß gegen den ordre public wegen Verletzung von Unionsrecht nicht gerügt werden kann. Zum anderen geht dieser Ansatz am Kerngehalt der Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache F vorbei. Der Gerichtshof hat seine Zuständigkeit nicht allein maßgeblich auf den innereuropäischen Sitz des Schiedsgerichts und damit die Anwendung des Rechts eines EU-Mitgliedstaates abgestellt, sondern deutlich gemacht, dass die ECV selbst ein Rechtsakt der Union ist und das Schiedsgericht damit das Unionsrecht auszulegen oder sogar anzuwenden habe, und, sofern das Schiedsgericht - sei es nach der ICSID-Konvention oder auf Basis anderer Verfahrensregeln geführt - nicht zum Gerichtssystem der EU gehöre oder sonst nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigt sei, dies geeignet ist, den Rechtsstreit dem Gerichtssystem der Union zu entziehen, womit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nicht mehr gewährleistet wäre (EuGH, F, Rn. 24 ff., 49 ff., 60). Gerade im Sinne der Effektivität des Unionsrechts muss es Verfahrensbeteiligten auch möglich sein, bereits die Vorfrage der Unzulässigkeit eines Schiedsverfahrens eben wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht vorab geltend zu machen.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Dass es sich bei dem Energiecharta-Vertrag um ein multilaterales Abkommen handelt und nicht, wie der D-Entscheidung zugrunde liegend, um ein BIT-Verfahren handelt, führt mithin zu keiner anderen Beurteilung. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin kommt es nicht darauf an, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgrund Sachverhaltsgleichheit Bindungswirkung für die hiesige Konstellation entfaltet. Denn eine solche Rechtsauffassung würde der Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Durchsetzung von Unionsrecht nicht gerecht. Maßgeblich ist vielmehr, dass die zugrundeliegende und vom Gerichtshof entschiedene Rechtsfrage - sei sie auch, wie von der Antragsgegnerin geltend gemacht, in der Rechtssache F als obiter dictum ergangen - auch für weitere ähnliche Sachverhalte Geltung beansprucht, was hier der Fall ist.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Auch aus dem in Folge der Rechtsprechung des Gerichtshofs getroffenen Übereinkommen zur Beendigung bilateraler Investitionsschutzverträge zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29.05.2020 (Amtsblatt der Europäischen Union L 169/1), nach welchem <em>„die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Verpflichtung, ihre Rechtsordnung mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen, die notwendigen Konsequenzen aus dem Unionsrecht in der Auslegung des EuGH in der Rechtssache C-284/16 D (D-Urteil) ziehen müssen“,</em> ergibt sich, dass diese Rechtsprechung nicht nur Investor-Staat-Schiedsklauseln in bilateralen Investitionsschutzverträgen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union betrifft, mit der im Übereinkommen enthaltenen Klarstellung, dass das Übereinkommen „<em>für sämtliche Investor-Staat-Schiedsverfahren gelten sollte, die auf EU-internen bilateralen Investitionsschutzverträgen beruhen und nach einem Schiedsgerichtsübereinkommen oder Schiedsgerichtsbestimmungen wie dem Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (ICSID-Übereinkommen) und der ICSID-Schiedsordnung, der Schiedsordnung des Ständigen Schiedshofs (PCA), der Schiedsordnung der Stockholmer Handelskammer (SCC), der Schiedsordnung der Internationalen Handelskammer (ICC), der Schiedsordnung der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) im Wege eines Ad-hoc-Schiedsverfahren durchgeführt werden,“</em> sondern auch für EU-interne Verfahren auf der Grundlage von Artikel 26 des Vertrags über die Energiecharta, indem im weiteren Text des Übereinkommens klargestellt wird, dass dieses Übereinkommen nur die <em>„EU-internen bilateralen Investitionsschutzverträge betrifft und sich nicht auf EU-interne Verfahren auf der Grundlage von Artikel 26 des Vertrags über die Energiecharta erstreckt. Mit dieser Thematik werden sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten zu einem späteren Zeitpunkt befassen.“.</em> Demgemäß sieht auch der reformierte ECV gemäß der <em>Decision of the Energy Charter Conference</em> vom 24.06.2022 (Energy Charter Secretariat, CCDEC 2022 10 GEN), dessen Text zwecks Überprüfung an die Vertragsparteien bis 22.08.2022 übermittelt und auf der Energiecharta-Konferenz am 22.11.2022 angenommen werden soll, die künftige Streitbeilegung mittels der UNCITRAL-Regelungen vor.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Um den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu sichern, muss jedoch nicht nur der zukünftige Intra-EU-Investitionsschutz mit dem Unionsrecht einschließlich der alleinigen Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung der Verträge vereinbar sein (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten S, T, U, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der V zum Investitionsschutz innerhalb der Europäischen Union, Bundestagsdrucksache 19/22988 vom 30.09.2020), sondern dies gilt auch - sowie in Anbetracht der in Art. 47 Abs. 3 ECT enthaltenen „sunset-clause“ im Falle eines Rücktritts vom ECT - für die gegenwärtige Rechtslage auf Basis der ergangenen völkerrechtlichen Vereinbarung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der - wie oben dargestellt - die materiellen Gewährleistungen des ECT „Bestandteil der Rechtsordnung der Union“ (F, Rn. 23) sind, mithin ihnen Vorrang und unmittelbare Geltung in allen Mitgliedstaaten zukommt (so auch Karpenstein/Sangi: Investitionsschutz vor nationalen Gerichten – Zur Zukunft der Energiecharta, NJW 2021, 3228 (3230f.), mwN).</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Weiter ist ein Vorlageverfahren an den Gerichtshof auch nicht durch die grundsätzliche Möglichkeit eines Aufhebungsverfahrens nach § 1059 ZPO gesichert. Denn zum einen findet diese Überprüfung nur in einem sehr begrenzten Umfang statt, der sich unter anderem auf die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung nach dem anwendbaren Recht und auf die Frage bezieht, ob die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs die öffentliche Ordnung wahrt. Schon deshalb ist nicht gewährleistet, dass die von einem Schiedsgericht behandelten unionsrechtlichen Fragen durch das nationale Gericht umfassend überprüft und im Wege der Vorabentscheidung zum Gerichtshof gelangen. Zum anderen aber ist der Schiedsort vorliegend nicht gemäß §§ 1025 Abs. 1 in Verbindung mit 1043 Abs. 1 ZPO in Deutschland belegen, so dass eine Überprüfung nach dieser Vorschrift, die nur für inländische Schiedssprüche gilt, von vornherein ausscheidet. Im Falle ausländischer Schiedssprüche, für die gemäß § 1025 Abs. 3 ZPO die Vorschriften der §§ 1061 bis 1065 ZPO Anwendung finden, kommt nur eine Verweigerung der Anerkennung bzw. der Vollstreckbarerklärung im Inland nach § 1061 Abs. 2 ZPO in Betracht. Damit bliebe der ggf. unionsrechtswidrige Schiedsspruch existent und bildete eine wirksame Grundlage für eine im Ausland in das dortige Vermögen des am Schiedsverfahren Beteiligten mögliche Vollstreckung.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Aufhebungsgründe des deutschen Schiedsrechts finden auf Schiedssprüche, die nach der ICSID-Konvention erlassen werden, keine Anwendung. ICSID Schiedssprüche unterliegen einem eigenen, besonderen Vollstreckungsregime, das den nationalen Gerichten keine Überprüfung der Schiedsvereinbarung mehr erlaubt (O und W, Der D Beschluss des BGH – Beitritt zur EU lässt Angebot für Intra-EU Schiedsverfahren entfallen, P Deutschland bloggt, Blog vom 21.11.2018, Internetadresse 1).</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist die Antragstellerin - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - auch nicht auf ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV gegen die Bundesrepublik Deutschland zu verweisen, denn dieses bietet ihr keinen Rechtsschutz betreffend des hier auf Basis des Art. 26 ECV eingeleiteten gegenständlichen Schiedsverfahrens.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">2. Auch der Antrag zu 2) auf Feststellung der Unzulässigkeit jeglichen auf Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag vom 17.12.1994 gestützten schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen der Antragsgegnerin und der Antragstellerin ist zulässig, insbesondere statthaft und entsprechend den obigen Ausführungen zum Antrag zu 1) begründet.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Ergänzend ist zur Zulässigkeit anzumerken:</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Im Interesse der frühzeitigen Klärung der Gültigkeit und Durchführbarkeit einer Schiedsvereinbarung reicht für die Zulässigkeit des Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO grundsätzlich die potentielle Schiedsverfahrenbetroffenheit aus, mithin muss ein konkreter Streitfall noch nicht vorliegen (Münch in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2022, § 1032, Rn. 32, 39; Steinbrück/Krahé, Declaratory relief against post-D ICSID arbitration? German arbitral law’s international reach, EuZW 2022, 357 (361)), ebenso wenig bedarf es eines besonderen Feststellungsinteresses - gar im Sinne des § 256 ZPO -, sondern als allgemeine Voraussetzung einer jeden prozessualen Rechtsverfolgung bedarf es lediglich eines rechtlich schützenswertes Interesses, die mit dem Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO verbundene Rechtsfrage klären zu lassen. An diesem Rechtsschutzinteresse kann es etwa fehlen, wenn und soweit die Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen den Parteien gänzlich unbestritten ist (OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 10.06.2014 – 26 SchH 2/14 SchiedsVZ 2015, 47; Musielak/Voit, ZPO 19. Auflage 2022, § 1032 Rn. 12; Münch in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2022, § 1032, Rn. 32). Ein solcher Fall liegt hier indessen nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">In diesem Sinne zutreffend hebt die Antragstellerin hervor, dass Gegenstand des Antrags die Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines schiedsrichterlichen Verfahrens ist, und eine Unzulässigkeit dieses Verfahrens darin begründet sein kann, dass die Parteien keine wirksame Schiedsvereinbarung getroffen haben oder trotz wirksamer Schiedsvereinbarung der Gegenstand der Streitigkeit nicht erfasst ist und daher auch die Klärung einer abstrakten Schiedsbindung dem Anwendungsbereich der Norm unterfällt (vgl. Wolf/Eslami in BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf 44. Edition Stand: 01.03.2022, § 1032, Rn. 26 f.).</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Daher kommt es nicht darauf an, das bislang nur das Schiedsverfahren ICSID ARB/21/22, welches durch Annahme des Angebots gemäß Art. 26 Abs. 3 ECV eingeleitet wurde, vorliegt und eine Schiedsvereinbarung auf Basis des Art. 26 ECV erst dann zustande kommt, wenn die Antragsgegnerin das „stehende“ Angebot der Antragstellerin annehmen würde. Gerade aufgrund der derzeit noch geltenden Regelung des „stehenden“ Schiedsverfahrensangebots der Antragstellerin im ECV besteht für die Antragsgegnerin jederzeit die Möglichkeit, die Annahme zu erklären und dadurch ein Schiedsverfahren auf unionsrechtlich unwirksamer Basis in Gang zu setzen. Eine rechtsverbindliche Erklärung der Antragsgegnerin, die Unwirksamkeit der Schiedsabrede anzuerkennen oder keine weiteren Schiedsverfahren auf Basis der derzeitig geltenden ECV einzuleiten, liegt nicht vor. Sie ergibt sich auch nicht daraus, dass die Antragsgegnerin im Verlauf des vor dem Schiedsgerichts geführten einstweiligen Anordnungsverfahrens „festgehalten [hat], mit Erlass des F-Urteils habe „der EuGH festgestellt, dass gemäß Gemeinschaftsrecht Artikel 26 [ECV] dahingehend auszulegen ist, dass er auf intra-EU Rechtsstreitigkeiten keine Anwendung findet (Entscheidung des Schiedsgerichts vom 17.02.2022, Anlage AS 25, Bl. 458 (460) GA), denn durch die Inbezugnahme dieser Feststellung im hiesigen Verfahren hat die Antragsgegnerin weder ihre verneinende Auffassung zur Frage der Anwendbarkeit von EU-Recht auf die vorliegende Schiedsvereinbarung noch diejenige zum ihrer Ansicht nach nicht bestehenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Hinblick auf die vorliegenden Anträge aufgegeben. Deshalb war über die vorliegenden Anträge - entgegen der mit Schriftsatz vom 10.06.2022, Bl. 536 ff. GA dargestellten Rechtsansicht der Antragstellerin - auch nicht im Wege eines Anerkenntnisurteils gemäß § 307 ZPO zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">3. Eines Vorabentscheidungsersuchen des Senats an den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es auch angesichts des von der hiesigen Entscheidung abweichenden Beschlusses des Kammergerichts vom 28.04.2022 – 12 SchH 6/21, bezüglich dessen Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (Az. I ZB 43/22) eingelegt worden ist, nicht, denn die Anwendung des Unionsrechts ist nach den eingangs dargestellten Maßstäben der Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Rechtssachen D, F, H und J gesichert („acte éclairé“) bzw. jedenfalls derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum mehr bleibt („acte clair“). Auch aus diesem Grunde sieht der Senat sieht weiter keinen Anlass für eine Aussetzung des Verfahrens in Bezug auf das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren 2 BvR 557/19, mit dem unter anderem geltend gemacht wird, dass Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 06.03.2018 in der Rechtssache D stelle einen Ultra-Vires-Akt dar und sei daher in Deutschland nicht anwendbar.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 3 ZPO in Verbindung mit §§ 45 Abs. 1, 63 Abs. 2 S. 1 GKG. Ausgehend von dem im Schiedsverfahren geltend gemachten Betrag in Höhe von „Hunderte von Millionen Euro“ hat der Senat für das hiesige Verfahren einen Gegenstandswert von 33 Millionen Euro (1/3 von wenigstens 100.000.000 Euro) angenommen, der aufgrund der Streitwertgrenze des § 39 Abs. 2 GKG auf 30 Millionen Euro festzusetzen war.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Gegen diese Entscheidung ist gemäß § 1065 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Rechtsbeschwerde statthaft. Die Rechtsbeschwerde ist durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof Karlsruhe, Herrenstr. 45a, 76133 Karlsruhe, schriftlich in deutscher Sprache einzulegen.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsbeschwerde muss binnen einer Notfrist von 1 Monat bei dem Bundesgerichtshof Karlsruhe eingegangen sein.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsbeschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses (Datum des Beschlusses, Geschäftsnummer und Parteien) sowie die Erklärung enthalten, dass Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie ist zu unterzeichnen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift der angefochtenen Entscheidung vorgelegt werden. Die Rechtsbeschwerde ist, sofern die Beschwerdeschrift keine Begründung enthält, binnen einer Frist von einem Monat, die mit Zustellung der angefochtenen Entscheidung beginnt, zu begründen.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Hinweis zum elektronischen Rechtsverkehr:</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Die Einlegung ist auch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts möglich. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden. Auf die Pflicht zur elektronischen Einreichung durch professionelle Einreicher/innen ab dem 01.01.2022 durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013, das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017 und das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 05.10.2021 wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Weitere Informationen erhalten Sie auf den Internetseiten www.justiz.de und www.bundesgerichtshof.de.</p>
346,714
ovgni-2022-09-01-1-lb-421
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 LB 4/21
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-27T10:01:20"
"2022-10-17T11:10:33"
Urteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 8. August 2019 - 2 A 204/17 - geändert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Klage wird abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Tatbestand</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Klägerin begehrt eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses; die Beteiligten streiten im Wesentlichen darum, ob dieses am vorgesehenen Standort bauplanungsrechtlich zulässig wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Klägerin ist bzw. war Eigentümerin der aus dem Flurstück G. hervorgegangenen Flurstücke H. bis I. der Flur J., Gemarkung A-Stadt. Die Flurstücke liegen im Norden eines durch die Straßen Am Südufer im Norden, Erlenstraße im Südosten und Oorder Weg im Südwesten gebildeten Dreiecks. Dieses weist straßenseitig fast durchgehend eine Bebauung mit Wohnhäusern auf, den Blockinnenbereich bildet das 0,56 ha große Flurstück K., das zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung mit - inzwischen gerodeten - jungen Nadelbäumen bestanden war und zusammen mit Teilen des südwestlich angrenzenden Flurstücks L. nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten eine Außenbereichsinsel im Innenbereich bildet. Von der Erlenstraße zweigt ein dem öffentlichen Verkehr gewidmeter Stichweg gleichen Namens 46 m tief in den Blockinnenbereich ab. Beidseits von diesem liegen, vom Hauptarm der Erlenstraße aus gesehen in zweiter Reihe und bis zu ca. 40 bzw. 44 m von dessen Straßenbegrenzungslinie zurückgesetzt, die Wohngebäude Erlenstraße M. und N.. Das Flurstück G. bildete zunächst das Grundstück einer aufgegebenen Hofstelle (Am Südufer O.), deren Hauptgebäude bis zu ca. 35 m vom Straßengrundstück zurückgesetzt und diagonal zu diesem ausgerichtet war. Hinzu kam ein südöstlich des Hauptgebäudes, mit seiner Südwestwand in dessen Flucht gelegenes, vom Straßengrundstück mithin etwas weiter zurückgesetztes einstöckiges Wirtschaftsgebäude mit ca. 6 m x 7,5 m Grundfläche sowie straßennahe weitere Anlagen. Einen Bebauungsplan gibt es für das beschriebene Gebiet nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Im Jahr 2016 beantragte die Klägerin im vereinfachten Verfahren Baugenehmigungen für die Errichtung mehrerer Wohnhäuser im straßennahen Bereich des Flurstücks G. (Am Südufer P. -Q., heutige Flurstücke H. bis R.). Mit separatem Bauantrag vom 24. Mai 2017 beantragte sie die hier streitgegenständliche Baugenehmigung für ein bungalowartiges Einfamilienhaus (Grundfläche 8,24 x 13 m) sowie einen an dieses angebauten grenzständigen Carport mit dahinterliegendem Abstellraum (Tiefe 5,25 m bzw. 3,75 m) im rückwärtigen Bereich dieses Grundstücks (heute Flurstück I.). Die Beklagte erteilte die Genehmigungen für die straßennahen Gebäude, die Genehmigung für das streitgegenständliche Vorhaben versagte sie mit Ablehnungsbescheid vom 21. Juni 2017. Die Klägerin beseitigte darauf im Sommer 2017 die Altbebauung auf dem Grundstück und errichtete die genehmigten Gebäude. Gegen die Ablehnung des Bauantrags für das streitgegenständliche Vorhaben erhob sie am 6. Juli 2017 Widerspruch und nach dessen Zurückweisung durch Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2017 am 22. November 2017 Klage mit dem Antrag,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 21. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Oktober 2017 zu verpflichten, ihr die beantragte Baugenehmigung zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat der Klage nach Ortsbesichtigung mit dem angegriffenen Urteil stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich zulässig. Sein Standort sei nach § 34 BauGB zu beurteilen, da er innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liege. Dieser sei gegenüber der Außenbereichsinsel auf dem Flurstück K. zum einen durch den Rand des dort vorhandenen Waldes klar abgegrenzt. Zum anderen sei ursprünglich eine rückwärtige Baugrenze in der gedanklichen Verlängerung der Südwestwand des ehemaligen Wohnhauses sowie der auf gleicher Flucht gelegenen Südwestwand des südlichen Nebengebäudes erkennbar gewesen; diese Bebauung wirke gebietsprägend nach. Das Vorhaben erfülle die Voraussetzungen des § 34 BauGB. Insbesondere füge es sich nach der überbaubaren Grundstücksfläche in die Eigenart der zumindest aus den Grundstücken Am Südufer S. bis T. sowie Erlenstraße M., N., O. bis T. gebildeten näheren Umgebung ein. Eine faktische hintere Baugrenze sei hier nicht feststellbar. Auch die Gebäude Am Südufer S., Erlenstraße M. und N. sowie das nachwirkend prägende Gebäude Am Südufer O. seien in zweiter Reihe errichtet oder zumindest erheblich von der Straße zurückgesetzt bzw. zurückgesetzt gewesen. Die im Übrigen möglicherweise bestehende Gebäudeflucht entlang der Straße Am Südufer sei aufgrund des Baumbestandes auf dem Grundstück Am Südufer U. nicht wahrnehmbar. Als faktische hintere Baugrenze käme allenfalls die gedankliche Verlängerung der Südwestwand des Altgebäudes Am Südufer O. hin zum Gebäude Erlenstraße N. in Betracht. Auch unter Einbeziehung des gesamten Straßendreiecks ergebe sich nichts Anderes. Mehrere Grundstücke wiesen große rückwärtige Nebengebäude auf. Selbst wenn aber das Vorhaben außerhalb einer faktischen rückwärtigen Baugrenze läge, fügte es sich ein. Es sei nicht geeignet, bodenrechtlich beachtliche Spannungen zu begründen. Namentlich könne es keine Vorbildwirkung entfalten. Eine Bebauung in zweiter Reihe sei ansonsten nur auf dem Grundstück Am Südufer V. denkbar; dort sei diese aber schon aufgrund der prägenden Wirkung der Gebäude Erlenstraße M. und N. sowie der nachprägenden Wirkung des Altgebäudes Am Südufer O. zulässig. Im rückwärtigen Bereich der übrigen Grundstücke gebe es keine hinreichenden Freiflächen, um unter Berücksichtigung der Grenzabstände weitere Gebäude zu errichten. Auch weitere Spannungen begründende Wirkungen des Vorhabens (Störung der Durchlüftung oder der Wohnruhe) seien nicht zu befürchten. Bauordnungsrechtliche Bedenken gegen das Vorhaben seien nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Zur Begründung ihrer vom Senat mit Beschluss vom 5. Januar 2021 zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, es sei bereit zweifelhaft, ob das Vorhaben nicht, wie unstreitig die weiter südlich gelegene Fläche, im Außenbereich liege. Der ehemalige Baumbestand markiere eine Grenze des Bebauungszusammenhangs nicht. Wenn die früheren landwirtschaftlichen Gebäude dies täten, ende der Bebauungszusammenhang jedenfalls mit diesen, das Vorhaben reiche jedoch teilweise über sie hinaus. Jedenfalls füge es sich der überbaubaren Grundstücksfläche nach nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein, da eine Bebauung in zweiter Reihe und in der vorgesehenen Bautiefe dort beispiellos sei. Die beiden Gebäude Erlenstraße M. und N. lägen in erster Reihe an einem Stichweg. Von diesem aus habe der für die Bewertung nach § 34 BauGB maßgebliche Blick zu erfolgen; gegenteilige Rechtsprechung des OVG D-Stadt (Urt. v. 1.3.2017 - 2 A 46/16 -, juris Rn. 62 ff.) und des VG Hannover (Urt. v. 4.5.2017 - 4 A 2186/16 -, juris Rn. 40 ff.) überzeuge nicht und sei durch jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 12.8.2019 - 4 B 1.19 -, juris Rn. 6) überholt. Die Bebauung westlich des Vorhabens liege ebenfalls in erster Reihe; zudem weise sie maximal eine Bautiefe - von der Straßengrundstücksgrenze „Am Südufer“ aus gemessen - von 25 m auf; selbst das Haupthaus der Vorgängerbebauung habe nur eine Bautiefe von 35 m, das - im Übrigen nicht prägende - südliche Nebengebäude eine Tiefe von 40 m erreicht. Das Vorhaben reiche noch einmal 2 m weiter in den Blockinnenbereich. Die mithin vorliegende Überschreitung des vorgefundenen Rahmens könne zu städtebaulichen Spannungen führen, da sie Vorbild für eine rückwärtige Bebauung auf den Grundstücken Am Südufer V., W., Erlenstraße O., Q. und ggf. noch weiteren Grundstücken sein könne. Für das Grundstück Am Südufer V. habe es bereits einmal eine Bauvoranfrage für eine rückwärtige Bebauung gegeben, die damals habe abgelehnt werden können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 8. August 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Die Klägerin beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>die Berufung zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Zur Begründung führt sie aus, das gesamte ehemalige Flurstück G. gehöre infolge der nachwirkenden Prägung durch die dort ursprünglich vorhandene Hofstelle dem Bebauungszusammenhang an. Die nachwirkende Prägung durch diese Bebauung führe auch dazu, dass sich das Vorhaben hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Dabei sei entgegen der Auffassung der Beklagten auch das südliche Nebengebäude zu berücksichtigen, da es nicht untergeordnet, hilfsweise Teil der Hauptanlage „Wohngebäude mit Stallung“ sei. Jedenfalls sei ein Vorbild für die vorgesehene Bebauung in Gestalt der Gebäude Erlenstraße M. und N. vorhanden. Diese stünden in zweiter Reihe, da maßgeblich für die Beurteilung der Bautiefe i.R.d. „Einfügens“ der Blick vom Hauptarm der Erlenstraße sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die zulässige Berufung ist begründet. Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 21. Juni 2017 und sein Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2017 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin daher nicht, wie es § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO voraussetzt, in ihren Rechten. Das zur Genehmigung gestellte Bauvorhaben steht im Widerspruch zum öffentlichen Bauplanungsrecht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Der Senat teilt im Ergebnis die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens anhand von § 34 BauGB zu beurteilen ist, da dessen Standort innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt. Der Bebauungszusammenhang beginnt nach Würdigung insbesondere der im Widerspruchsvorgang (dort Bl. 17) und der Gerichtsakte (dort Bl. 32-34) vorhandenen Luftbilder spätestens nordöstlich der gedachten, diagonal zur Straße Am Südufer verlaufenden Verlängerung der Südwestwand des ehemaligen Wohnhauses Am Südufer O. nach Südosten, bis hin zur rückwärtigen Gartengrenze des Grundstücks Erlenstraße 9a. Der zwischen den Hauptgebäuden Am Südufer 11 und Erlenstraße 9a liegende, rd. 40 m breite Bereich wird nach Einschätzung des Senats stärker von der umliegenden Bebauung als von der südlich gelegenen Freifläche geprägt und stellt sich damit als „Baulücke“ dar, die zwar nicht zwingend zur Bebauung mit Hauptgebäuden (dazu unten), wohl aber zur siedlungsakzessorischen im Unterschied zur außenbereichstypischen Nutzung ansteht. Ob gleiches für die schmale noch zum ehemaligen Flurstück G. gehörende Fläche als Bestandteil einer (nachwirkenden) einheitlich zu betrachtenden, von Haupt- und Nebenanlagen geprägten Hoffläche, die unabhängig von der Frage der dort zulässigen Bautiefe ursprünglich insgesamt dem Bebauungszusammenhang angehörte und damit auch weiterhin angehört, gilt - so die im Zulassungsbeschluss geäußerte Tendenz -, kann dahinstehen, da das Vorhaben die gedachte Verlängerung der Südwestwand des ehemaligen Gebäudes Am Südufer O. nicht überschreitet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Der Auffassung der Beklagten, die Grenze zwischen Außen- und Innenbereich sei entlang einer von der Südecke des ehemaligen Gebäudes Am Südufer O. ausgehenden gedachten Parallele zur Straße Am Südufer zu ziehen, folgt der Senat nicht. Eine derartige Linie bestimmt die für die Frage des Einfügens bedeutsame Bautiefe. Für das Ende des Bebauungszusammenhangs ist jedoch nicht der Blick von der Straße Am Südufer aus, sondern das optische Erscheinungsbild der Bebauung im Grenzbereich selbst maßgeblich; hier wirkt sich vor allem die Ausrichtung des Altbestandes Am Südufer O. und deren Nähe zum Gebäude Erlenstraße N. prägend aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Gemessen an § 34 Abs. 1 BauGB ist das Vorhaben unzulässig, da es sich nach der überbaubaren Grundstücksfläche, namentlich nach der diesem Einfügenskriterium zuzurechnenden Bautiefe, nicht in die Eigenart seiner näheren Umgebung einfügt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Hinsichtlich der rechtlichen Maßstäbe zur Bestimmung der näheren Umgebung nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (UA S. 7 f.) Bezug. Zuzustimmen ist diesem auch darin, dass zur näheren Umgebung in räumlicher Hinsicht danach zumindest die Bebauung auf den Grundstücken Am Südufer S. bis T. sowie Erlenstraße M., N. sowie O. bis T. gehört, während die Zugehörigkeit weiterer Teile der Bebauung entlang der Straße Am Südufer und der Erlenstraße dahinstehen kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Zwar mag, wenn es um die Bestimmung einer faktischen rückwärtigen Baugrenze geht, im Regelfall derjenigen Bebauung allein oder doch ganz überwiegend maßstabsbildende Wirkung zukommen, die an derselben Erschließungsanlage liegt (vgl. Senatsbeschl. v. 26.8.2019 - 1 LA 41/19 -, juris Rn. 8). Anderes kann aber dann gelten, wenn entlang dieser Straße eine klare rückwärtige Bauflucht nicht zu erkennen ist und eine weitere Erschließungsanlage so nahe verläuft, dass der Blockinnenbereich bei einer von Grundstücksgrenzen gelösten Betrachtung nicht ohne weiteres der einen oder anderen Bebauungsseite zugerechnet werden kann. So verhält es sich hier. Jedenfalls im spitzen Winkel zwischen der Straße Am Südufer und der Erlenstraße bis hin zur Bebauung beidseits von deren Stichweg können die Freiflächen ebenso als rückwärtiger Bereich der Straße Am Südufer wie der Erlenstraße verstanden werden; für die Beurteilung der Bebaubarkeit muss der Blick mithin auf beide Straßen gerichtet werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Wie das Verwaltungsgericht (UA S. 9) rechtlich zutreffend erkannt hat, ist bei der in der näheren Umgebung vorgefundenen Bebauung zwischen Gebäuden, in denen eine Hauptnutzung stattfindet, und Nebengebäuden zu differenzieren. Für die bei ersteren maßstabsbildende Bautiefe ist unerheblich, ob Nebengebäude sich in größerer Bautiefe finden. Angesichts dessen ist das einst südöstlich des Vorgängerbaus gelegene Wirtschaftsgebäude für die Frage des Einfügens des Vorhabens nicht maßstabsbildend. Für eine selbständige Hauptnutzung - sei es Wohnen, sei es eine vom Wohnhaus unabhängige gewerbliche Nutzung - war das Gebäude weder genehmigt - die einzige vorgelegte, offenkundig einem Bauantrag entnommene Bauzeichnung (GA Bl. 41) weist eine Waschküche sowie einen Stallraum aus, der mit Abmessungen von 2,00 x 3,30 m nur einer Tierhaltung im kleinsten Umfang gedient haben kann - noch seinem Erscheinungsbild nach bestimmt oder geeignet (vgl. die Lichtbilder Bl. 150, 275 f. d. GA). Soweit die Klägerin meint, das Haus hätte rechtmäßig in eine Hauptnutzung umgewandelt werden können, verkennt sie, dass es für die Betrachtung i.R.d. § 34 BauGB auf die tatsächlichen, nicht auf fiktive künftige Verhältnisse ankommt; zudem liegt ein Zirkelschluss vor, da die Umwandlung vorausgesetzt hätte, dass das Gebäude sich seinerseits auch als Hauptgebäude in den durch die übrigen Hauptnutzungen gesetzten Umgebungsrahmen eingefügt hätte. Soweit die Klägerin meint, gerade die Ausübung von der Wohn- bzw. landwirtschaftlichen Nutzung zugeordneten Nebennutzungen, wie sie etwa der Betrieb einer Waschküche darstelle, in dem Gebäude zwinge dazu, das Gebäude als Hauptgebäude zu bewerten, verkennt sie, dass die Ausübung einzelner einer Hauptnutzung dienender Tätigkeiten selbst keine eigenständige Hauptnutzung begründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>In den so bestimmten Umgebungsrahmen fügt sich das Vorhaben hinsichtlich seiner Bautiefe nicht ein. Ein Einfügen ist i.d.R. dann zu bejahen, wenn sich ein Vorhaben in jeder Hinsicht innerhalb des von der Umgebungsbebauung definierten Rahmens hält. Auch ein Vorhaben, das sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmens hält, kann sich indes der Umgebung einfügen. Das ist der Fall, wenn es weder selbst noch infolge einer nicht auszuschließenden Vorbildwirkung geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche Spannungen zu begründen oder vorhandene Spannungen zu erhöhen (vgl. grundlegend BVerwG, Urt. v. 26.5.1978 - 4 C 9.77 -, BVerwGE 44, 369 = juris Rn. 46 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Das zur Genehmigung gestellte Vorhaben überschreitet den durch die Bautiefe der maßstabbildenden Gebäude gezogenen Rahmen. Insoweit ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts unerheblich, dass die Nachbargebäude angesichts der großen Unterschiede in der Bautiefe eine einheitliche rückwärtige Baugrenze nicht erkennen ließen. Vielmehr ergibt sich auch bei einer eher inhomogenen Bebauung ein Umgebungsrahmen hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche; dieser ist zwar weiter, wird aber durch das Gebäude mit der größten Bautiefe, gerechnet ab der Straße, begrenzt (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.5.1978 - IV C 9.77 -, BVerwGE 55, 369 = juris Rn. 44). Einheitlichkeit ermöglicht es lediglich, einzelne Abweichungen von der hauptsächlich vorhandenen Bautiefe eher als „Fremdkörper“ auszuscheiden, und erschwert es, einem den Rahmen überschreitenden Vorhaben gleichwohl das ausnahmsweise Einfügen zu bescheinigen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>a)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Das Vorhaben findet hinsichtlich der Bautiefe in der Umgebung kein Vorbild. Das tiefste Hauptgebäude an der Straße „Am Südufer“ war der Vorgängerbau Am Südufer O. mit einer Bautiefe von 35 m hinter dem Straßengrundstück bzw. 42 m ab der - für die Bautiefe nach dem auch im Rahmen des § 34 BauGB zu berücksichtigenden § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO maßgeblichen - tatsächlichen Straßenbegrenzungslinie. Demgegenüber würde das Vorhaben 49 m hinter die Straßenbegrenzungslinie in den Blockinnenbereich reichen. Dass das Vorhaben hinter der in der Verlängerung der Südwestwand des Vorgängerbaus gebildeten Flucht bleibt, ist - anders als bei der Abgrenzung zwischen Innen- und Außenbereich - unerheblich. Die Bautiefe wird nicht durch die Stellung der Gebäudekörper parallel oder diagonal zur Straße, sondern durch die Entfernung des hintersten Punkts der rückwärtigen Fassade von der Straßenbegrenzungslinie bestimmt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Auch soweit der Rahmen durch die Gebäude Erlenstraße M. und N. mitbestimmt wird, wird er überschritten, und zwar unabhängig davon, ob deren Bautiefe - wie die Beklagte meint - vom Stichweg oder - wie die Klägerin meint - vom Hauptarm der Erlenstraße aus zu bemessen ist. Selbst im letzteren Fall würden die beiden Gebäude nur etwa 42 bzw. 44 m tief in den Blockinnenbereich hineinreichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>b)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Das Vorhaben fügt sich auch nicht deshalb in die Eigenart der näheren Umgebung ein, weil die Überschreitung der vorhandenen Bautiefe ausnahmsweise keine städtebaulichen Spannungen befürchten ließe. Dies ist deshalb zu erwarten, weil das Vorhaben eine Vorbildwirkung für weitere Hinterlandbebauung, jedenfalls in dem Bereich im spitzen Winkel zwischen Erlenstraße und Am Südufer, namentlich auf dem Grundstück Am Südufer V., entfalten könnte. Auch das Grundstück Erlenstraße Q. käme für eine Hinterlandbebauung grundsätzlich in Betracht, bei Zusammenlegung mit Teilen des Flurstücks X. auch das Flurstück Y. als Hinterliegergrundstück zu Am Südufer W. oder Erlenstraße V.. Zusammengenommen wäre das eine deutliche Verdichtung der Bebauung. Der bislang dort bestehende, allein von Gärten und Nebengebäuden geprägte Blockinnenbereich könnte damit insgesamt entfallen. Dass dies wiederum weiteren Nachahmern, etwa im südwestlichen Verlauf der Erlenstraße, die Möglichkeit einer Hinterlandbebauung eröffnen würde, ist denkbar, aber letztlich nicht entscheidend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann dem nicht entgegengehalten werden, der Vorgängerbau Am Südufer O. sowie die Gebäude Erlenstraße M. und N. erlaubten als rahmenbildende Bebauung schon bislang eine Hinterlandbebauung im vorbezeichneten Straßenwinkel. Die Bautiefe des alten Hauptgebäudes Am Südufer 11 von lediglich 42 m ab Straßenbegrenzungslinie würde eine Bebauung des Winkels Erlenstraße / Am Südufer in zweiter Baureihe kaum, jedoch deutlich weniger leicht ermöglichen als die Bautiefe des Vorhabens von 49 m; namentlich weite Teile des zur Hinterlandbebauung besonders geeigneten Grundstücks Am Südufer 15 lägen weiterhin hinter der rückwärtigen Baugrenze.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Ob die Bautiefe des Gebäudes Erlenstraße N. daran etwas ändern würde, wenn sie vom Hauptarm der Erlenstraße zu messen wäre - also ca. 44 m betrüge -, kann dahinstehen. Denn maßgeblich für die Bemessung der Bautiefe ist der Stichweg, über den das Grundstück erschlossen wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, kann zur näheren Konkretisierung der Frage, in welchem Umfang die maßstabbildende Umgebung eine rückwärtige Bebauung aufweist,auf die Begriffsbestimmungen in § 23 BauNVO zur "überbaubaren Grundstücksfläche", die wiederum gemäß § 23 Abs. 4 BauNVO auch durch Festsetzung der Bautiefe bestimmt werden kann, zurückgegriffen werden. Nach § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO ist die Bebauungstiefe von der tatsächlichen Straßengrenze aus zu ermitteln. "Tatsächliche Straßengrenze" ist die Grenze der als Erschließungsanlage gewählten öffentlichen Straße (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.8.2019 - 4 B 1.19 -, juris Rn. 6 m.w.N.). Auch wenn die vorstehenden Ausführungen vom Bundesverwaltungsgericht konkret zur Begründung des Rechtssatzes herangezogen wurden, dass jedenfalls von Privatwegen oder privaten Grundstückszufahrten aus die Bautiefe nicht bestimmt werden kann, sind sie allgemeiner Natur. Der als Auslegungshilfe des Begriffs der „überbaubaren Grundstücksfläche“ herangezogene § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO differenziert nicht zwischen längeren, durchgehenden Erschließungsstraßen und Stichwegen, die nur wenige Grundstücke erschließen und ihrem äußeren Erscheinungsbild nach auch private Grundstückszufahrten sein könnten; auch eine Differenzierung nach selbständigen Anbaustraßen und unselbständigen Stichwegen im Sinne des Erschließungs- oder Straßenausbaubeitragsrechts ist § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO fremd. Maßgeblich für die Eignung einer Straße als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Bautiefe ist nicht ihre Größe oder Selbständigkeit, sondern ihre durch die Widmung für den öffentlichen Verkehr nach außen manifestierte und dauerhaft gewährleistete Zugänglichkeit für jedermann und ihre Einbindung in das von der öffentlichen Hand zweckmäßig zu dimensionierende Verkehrsnetz. Die gegenteilige Auffassung des OVG NRW (Urt. v. 1.3.2017 - 2 A 46/16 -, juris Rn. 62 ff.) und ihm folgend des VG Hannover (Urt. v. 4.5.2017 - 4 A 2186/16 -, juris Rn. 40 ff.) führt zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten. Sie überzeugt auch nicht insoweit, als sie darauf abstellt, dass sich die Betrachtung nach § 34 BauGB stets allein an tatsächlichen, nicht rechtlichen Verhältnissen zu orientieren habe, mithin kein Unterschied zwischen unstrittig unbeachtlichen privaten Grundstückszufahrten und öffentlichen Stichwegen gleichen Aussehens gemacht werden könne. Die für die Betrachtung nach § 34 BauGB maßgebliche Verkehrsauffassung klammert den Rechtsstatus der Örtlichkeit jedenfalls dann nicht aus, wenn dieser städtebaulich relevante Auswirkungen in der Realität hat. So prägen illegale Gebäude, gegen die ein Einschreiten beabsichtigt ist, die Umgebung nicht, obwohl man ihnen ihren Status nicht ansieht. Mit der Widmung einer Stichstraße für den öffentlichen Verkehr ermöglicht die Gemeinde nach außen erkennbar dauerhaft die direkte Erreichbarkeit bestimmter Flächen; gleichzeitig wird der Zugang der Öffentlichkeit - und nicht nur der Anlieger - zum bisherigen Blockinnenbereich zugelassen. Insoweit unterscheidet sich eine öffentliche Stichstraße von einer privaten Zufahrt selbst bei gleichem Ausbaustandard.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Aber selbst wenn man zusätzlich zur Widmung einer Stichstraße für den öffentlichen Verkehr die äußerliche Erkennbarkeit der Zugehörigkeit zum öffentlichen Straßennetz fordern würde, ergäbe sich hier die Beachtlichkeit des Stichwegs der Erlenstraße. Diese Stichstraße ist zwar mit einer Fahrbahnbreite von 3,50 m schmaler als der Hauptarm - nach Angaben der Klägerin 5,70 m Fahrbahnbreite zzgl. 1,50 bzw. 0,40 m Gehweg - und weist keinen Bürgersteig auf. Fehlende Gehwege sind indes selbst an Durchgangsstraßen keine Seltenheit. Der Stichweg ist demgegenüber, wie die von der Klägerin zur Gerichtsakte gereichten Lichtbilder (GA Bl. 270 f.) zeigen, in gleicher Weise wie der Hauptarm gepflastert, verfügt über eine Straßenbeleuchtung, ein Straßenschild und liegt auch nicht, wie typischerweise eine Grundstückszufahrt, „hinter“ einem abgesenkten Bürgersteig; dieser endet vielmehr, wie für die Einmündung öffentlicher Straßen charakteristisch, in Viertelkreisen beidseits der Fahrbahn des Stichweges.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10 (analog), 711 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>Beschluss</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 15.000 EUR festgesetzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Der Beschluss ist unanfechtbar (§§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007162&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,658
vg-dusseldorf-2022-09-01-6-k-472121
{ "id": 842, "name": "Verwaltungsgericht Düsseldorf", "slug": "vg-dusseldorf", "city": 413, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
6 K 4721/21
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-22T10:01:41"
"2022-10-17T11:10:25"
Urteil
ECLI:DE:VGD:2022:0901.6K4721.21.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 8. Juni 2021 wird aufgehoben.</strong></p> <p><strong>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</strong></p> <p><strong>Die Berufung wird zugelassen.</strong></p> <p><strong>Die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz (Sprungrevision) wird zugelassen.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger, dem am 00.00.2018 eine Fahrerlaubnis erteilt wurde, wendet sich gegen die mit einer Zwangsgeldandrohung von 5.000,- Euro verbundene Anordnung, als Führer von Personenkraftwagen in X.        sog. „Posing“ mit Kraftfahrzeugen (§ 30 Abs. 1 StVO) zu unterlassen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Nach dem vom EPHK W.       erstatteten „Allgemeinen Bericht über Poserverhalten“ vom 29. Mai 2021 seien an diesem Tag gegen 19.10 Uhr der Kläger sowie Herr G.      T.     C.       in X.          jeweils mit hoher Geräuschentwicklung auf der I.        -I1.     -Allee von der U.       -L.      -Straße in Fahrtrichtung S.        Straße gefahren. Auf Höhe der M.      -A.          -Straße hätten sie an einer roten Ampel angehalten. Das Fahrzeug des Klägers habe sich vor dem des Herrn C.       befunden. Als die Ampel auf Grünlicht umgeschaltet habe, seien sie mit heulenden Motoren losgefahren. Beide seien deutlich schneller als der ordnungsgemäß fahrende Fahrzeugverkehr gefahren. Während des Vorgangs sei der unterzeichnende Polizeibeamte mit seinem Dienstmotorrad hinter Herrn C.       gefahren. Es habe aufgrund der Temperaturen und der Öffnung der Außengastronomie ein sehr starkes Fußgängeraufkommen geherrscht. Das Verhalten der Fahrzeugführer habe den Eindruck erweckt, dass sie sich mit ihrer Fahrweise die Aufmerksamkeit der Fußgänger erhofft hätten. Gegen den Kläger sei eine Ordnungswidrigkeitenanzeige gefertigt worden. Ein entsprechender Bußgeldbescheid findet sich in der Verwaltungsakte nicht.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Anhörungsschreiben vom 31. Mai 2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie beabsichtige, ihm das Verursachen unnötigen Lärms zu untersagen und für jede Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,- Euro anzudrohen, und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 4. Juni 2021.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Ordnungsverfügung vom 8. Juni 2021 erließ die Beklagte gegen den Kläger die Anordnung, ab sofort und auch nach etwaiger Erteilung einer Fahrerlaubnis bei dem Benutzen öffentlicher Straßen im Stadtgebiet von X.       als Führer von Personenkraftfahrzeugen das Verursachen unnötigen Lärms zu unterlassen, verursacht zum Beispiel durch unsachgemäße Benutzung des Fahrzeugs, Nichtbeachtung technischer Ausführungsvorschriften, Hochjagen des Motors im Leerlauf und beim Fahren in niedrigen Gängen (insbesondere Gasstoß), unnötig schnelles Beschleunigen des Fahrzeugs, namentlich beim Anfahren (Ziffer 1). Daneben ordnete sie die sofortige Vollziehung der Verfügung an (Ziffer 2) und befristete die Verfügung bis zum 30. Juni 2024 (Ziffer 3). Für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen Ziffer 1 der Verfügung drohte sie dem Kläger ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,- Euro an (Ziffer 4). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass sie sich Belastungen durch Fahrzeugführer ausgesetzt sehe, die in hochmotorisierten Fahrzeugen um Aufmerksamkeit heischten („Posen“). Die daraus resultierenden Gefahren hätten sich in einem Unfall sowie in erheblichen Störungen durch Lärmbelästigungen manifestiert. Rechtsgrundlage für die Ordnungsverfügung sei § 14 OBG NRW in Verbindung mit § 30 StVO. Das Verhalten des Klägers am 29. Mai 2021 sei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Nach den Gesamtumständen des Vorgangs sei anzunehmen, dass eine bewusste Missachtung der Straßenverkehrsregeln vorliege und es dem Kläger um verkehrsfremde Zwecke wie das Heischen um Aufmerksamkeit, das Abhalten spontaner Fahrzeugrennen, das Ausprobieren der technischen Möglichkeiten des Fahrzeugs oder das ungehemmte und rücksichtslose Ausleben von Aggressionen gegangen sei. Im Rahmen ihres Ermessens habe sie sich zu der Anordnung entschlossen, um den Kläger in besonderem Maße zur Beachtung der beschriebenen Vorschriften anzuhalten. Es werde eine eigenständige Rechtsgrundlage für die Verwaltungsvollstreckung geschaffen. Die Erforderlichkeit entfalle nicht durch das gesetzliche Verbot des § 30 Abs. 1 StVO. Die Befristung gebe einerseits dem Kläger die Gelegenheit, sein Verhalten den Normanforderungen anzupassen, und biete andererseits den anderen Verkehrsteilnehmern und der Bevölkerung für eine hinreichende Dauer den zusätzlichen Schutz einer unmittelbaren Vollstreckungsmöglichkeit. Das angedrohte Zwangsgeld solle den Kläger nachhaltig dazu anhalten, der Anordnung Folge zu leisten. Die bestehenden straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionen reichten nicht aus, um ihn zu einem angemessenen Verkehrsverhalten zu bewegen. Bei der Bemessung sei berücksichtigt worden, dass die bestehende Strafandrohung insbesondere eines Bußgelds von bis zu 2.000,- Euro ersichtlich nicht ausgereicht habe, um den Kläger zu einem entsprechenden Verhalten zu motivieren. Die Ordnungsverfügung wurde dem Kläger am 9. Juni 2021 zugestellt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 6. Juli 2021 Klage erhoben, die er im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Voraussetzungen des § 14 OBG NRW seien nicht gegeben. Es fehle an einer hinreichend gesicherten Gefahrenprognose. Die Beklagte habe keine Vorfälle aus der jüngeren Vergangenheit benannt, die eine Schadensnähe erkennen ließen. Der pauschale Verweis auf einen Unfall reiche nicht aus. Auch der Verweis auf die Störungen der Anwohner vermöge eine Gefahr nicht zu begründen. Das Fahrzeug des Klägers sei vom U1.   O.    überprüft und ordnungsgemäß zugelassen worden. Der erzeugte Lärm sei auf Motorengröße und Isolierung des Fahrzeugs zurückzuführen. Darüber hinaus fehle es an hinreichenden Feststellungen zu dem Vorfall aus Mai 2021.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks"><strong>die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 8. Juni 2021 aufzuheben.</strong></p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen.</strong></p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die Gründe der angefochtenen Ordnungsverfügung.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten ergänzend Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg. Die zulässige Klage ist begründet.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 8. Juni 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong> Die in Ziffer 1 der Ordnungsverfügung enthaltene Anordnung, beim Benutzen öffentlicher Straßen in X.         als Führer von Personenkraftwagen das durch eine nicht abschließende Aufzählung („zum Beispiel“) näher konkretisierte Verursachen unnötigen Lärms zu unterlassen, ist rechtswidrig. Als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu beurteilen,</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteile vom 19. September 2013 – 3 C 15.12, BVerwGE 148, 28 Rn. 9, und vom 4. Dezember 2020 – 3 C 5.20, BVerwGE 171, 1 Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Beklagten findet Ziffer 1 der Ordnungsverfügung ihre Rechtsgrundlage nicht in der ordnungsbehördlichen Generalermächtigung des § 14 Abs. 1 OBG NRW. Das bundesrechtliche Regelungssystem zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche (Verkehrs-)Sicherheit, die von einem Fahrerlaubnisinhaber als Führer eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr ausgehen, der wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstößt, ist abschließend. Zur Abwehr solcher Gefahren kann nicht auf das Landesordnungsrecht zurückgegriffen werden (1.). Die Untersagung von „Imponiergehabe“ mit Personenkraftwagen auf öffentlichen Straßen unter Verstoß gegen § 30 Abs. 1 StVO (Ziffer 1 der Ordnungsverfügung) kann dementsprechend nicht auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützt werden (2.). Einer Würdigung der konkreten Anwendung der Generalklausel bedarf es daher nicht (3.).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> Nach § 14 Abs. 1 OBG NRW können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren. Verstößt ein Fahrerlaubnisinhaber beim Führen eines Kraftfahrzeugs auf einer öffentlichen Straße gegen eine straßenverkehrsrechtliche Vorschrift oder ein verkehrsregelndes Verkehrszeichen, verletzt er die geschriebene Rechtsordnung. Damit gefährdet er die öffentliche Sicherheit im ordnungs- bzw. gefahrenabwehrrechtlichen Sinne. Dies gilt umso mehr, soweit der jeweilige Verstoß – wie das Verursachen unnötigen Lärms nach § 24 Abs. 1 StVG, § 30 Abs. 1 Satz 1, § 49 Abs. 1 Nr. 25 StVO – zugleich bußgeldbewehrt ist. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 OBG NRW, auf den sich die Straßenverkehrsbehörde als Sonderordnungsbehörde (§ 12 OBG NRW i.V.m. § 5 der Verordnung über Zuständigkeiten im Bereich Straßenverkehr und Güterbeförderung, in Kraft getreten am 9. Juli 2016 (GV. NRW. S. 527)) grundsätzlich stützen kann, sind damit nach ihrem Wortlaut erfüllt,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">vgl. so in Bezug auf das „Posing“ und die jeweilige landesordnungsrechtliche Generalklausel VG Hannover, Urteil vom 12. Juli 2021 – 5 A 6628/20, juris Rn. 44 f.; VG Karlsruhe, Urteil vom 17. Dezember 2018 – 1 K 4344/17, juris Rn. 68 ff.; ebenso Lohmeyer, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. 2022, § 30 Rn. 63; Vahle, DVP 2020, 435 (437).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Allerdings findet § 14 Abs. 1 OBG NRW von vornherein keine Anwendung auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, die dadurch entstehen, dass am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmende Fahrerlaubnisinhaber wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßen. Das bundesrechtliche Straßenverkehrsrecht (a) als besonderes Gefahrenabwehrrecht,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2015 – 3 C 15.14, BVerwGE 153, 140 Rn. 15; Gerster, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Rn. 454; Schlanstein, NZV 2015, 105 f.,</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">regelt die Abwehr solcher Gefahren abschließend und steht einer ergänzenden Anwendung des allgemeinen Landesordnungsrechts im Wege (b). Dies entspricht der allgemeinen Regelungstechnik des Gefahrenabwehrrechts durch präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt (c). Die Anwendung des § 14 Abs. 1 OBG NRW ist für Verkehrszuwiderhandlungen von Fahrerlaubnisinhabern als Führer von Kraftfahrzeugen damit gesperrt (d). Die Sperrwirkung entfällt nur, soweit die Gefahr nicht in einem befürchteten künftigen Verkehrsverstoß eines Fahrerlaubnisinhabers besteht, sondern eine andersartige Gefahr vorliegt (e).</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>a) aa)</strong> Der Bundesgesetzgeber hat im Rahmen der von ihm ausgeübten (konkurrierenden) Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG das potenziell gefährliche Führen von Kraftfahrzeugen in § 2 Abs. 1 Satz 1 StVG unter ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gestellt.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Minden, Beschluss vom 23. Dezember 2011 – 9 L 602/11, juris Rn. 21; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 2 StVG Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Danach bedarf der Erlaubnis (Fahrerlaubnis) der zuständigen Behörde (Fahrerlaubnisbehörde), wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt. Die Fahrerlaubnis wird gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG nur erteilt, wenn der Bewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist. Dabei ist nach dem Umkehrschluss aus § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG (unter anderem) zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet, wer erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen hat. Ihm darf keine Fahrerlaubnis erteilt werden.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wie die Gefahr für die öffentliche (Verkehrs-)Sicherheit abzuwehren ist, die von einem Fahrerlaubnisinhaber ausgeht, der nach der Fahrerlaubniserteilung erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstößt, ist ebenfalls bundesrechtlich geregelt. § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG stuft ihn als fahrungeeignet ein, so dass ihm gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG die Fahrerlaubnis behördlich zu entziehen ist. Die §§ 2 und 3 StVG stellen jedoch nur allgemeine Grundsätze für den Umgang mit wiederholten Verkehrsverstößen eines Fahrerlaubnisbewerbers oder -inhabers auf. Im Einzelnen regelt hingegen § 4 StVG, wie präventiv mit Gefährdungen durch wiederholte Verkehrsverstöße von Fahrerlaubnisinhabern (Fahranfänger: § 2a StVG) umzugehen ist.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum präventiven Charakter von § 4 StVG: BT-Drucks. 13/6914 S. 49, 17/12636 S. 38; VGH BW, Beschluss vom 19. Oktober 2015 – 10 S 1689/15, NJW 2016, 1259 Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 4 Abs. 1 Satz 1 StVG. Danach hat die nach Landesrecht zuständige Behörde zum Schutz vor Gefahren, die von Inhabern einer Fahrerlaubnis ausgehen, die wiederholt gegen die die Sicherheit des Straßenverkehrs betreffenden straßenverkehrsrechtlichen oder gefahrgutbeförderungsrechtlichen Vorschriften verstoßen, die in § 4 Abs. 5 StVG genannten Maßnahmen (Fahreignungs-Bewertungssystem) zu ergreifen.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das Fahreignungs-Bewertungssystem wird dabei durch eine Rechtsverordnung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b StVG (siehe § 40 i.V.m. Anlage 13 zur FeV) näher ausgestaltet, die zahlreiche, genau bestimmte Verkehrsverstöße (Straftaten und Ordnungswidrigkeiten) mit einem bis drei Punkten bewertet (vgl. auch § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 StVG). Wird ein Fahrerlaubnisinhaber wegen eines in der Verordnung aufgeführten Verkehrsverstoßes verurteilt oder ergeht ein Bußgeldbescheid gegen ihn, werden die der Zuwiderhandlung zugeordneten Punkte in das Fahreignungsregister (§§ 28 ff. StVG) eingetragen, das zentral vom Kraftfahrt-Bundesamt geführt wird. Um der Gefahr weiterer, also wiederholter Verstöße gegen Verkehrsvorschriften durch den Fahrerlaubnisinhaber zu begegnen, sieht § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG drei gestufte Maßnahmen vor: die schriftliche Ermahnung beim Erreichen von vier oder fünf Punkten (Nr. 1), die schriftliche Verwarnung beim Erreichen von sechs oder sieben Punkten (Nr. 2) und die Entziehung der Fahrerlaubnis beim Erreichen von acht oder mehr Punkten (Nr. 3).</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Dieses Fahreignungs-Bewertungssystem ist für das präventive Vorgehen gegen Wiederholungstäter unter den Fahrerlaubnisinhabern im Grundsatz abschließend. Das folgt systematisch aus § 4 Abs. 1 Satz 3 StVG. Die Norm erlaubt lediglich im Ausnahmefall, das Fahreignungs-Bewertungssystem nicht anzuwenden. Zwar sieht sie ausdrücklich vor, dass das Fahreignungs-Bewertungssystem nicht anzuwenden ist, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer die Fahreignung betreffender Maßnahmen nach den Vorschriften über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG oder einer auf Grund § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVG erlassenen Rechtsverordnung ergibt. Damit sind in erster Linie, aber nicht nur, Maßnahmen zur Aufklärung von Zweifeln an der Fahreignung nach §§ 11 ff. FeV (z.B. Sehvermögen, Alkohol- und Drogenkonsum, Medikamenteneinnahme) gemeint. Ebenso ist der sofortige Entzug der Fahrerlaubnis (§ 46 FeV) erfasst, wenn die Fahrungeeignetheit aus anderen Gründen bereits endgültig feststeht. Insbesondere kommt eine Fahrerlaubnisentziehung mangels Eignung aufgrund von erheblichen oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV und damit abseits des Fahreignungs-Bewertungssystems nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht. Mit dem Fahreignungs-Bewertungssystem des § 4 StVG akzeptiert der Bundesgesetzgeber, dass Fahrerlaubnisinhaber weiter am Straßenverkehr teilnehmen, obwohl sie wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßen haben. Er erlaubt ihre Ausschließung erst, wenn sie die dritte Stufe (Fahrerlaubnisentziehung) erreicht haben. Der Bundesgesetzgeber nimmt damit zwangsläufig und bewusst Verkehrsverstöße des Fahrerlaubnisinhabers, also im ordnungsrechtlichen Sinne gefährliches Verhalten, in einem gewissen Umfang in Kauf.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vom Fahreignungs-Bewertungssystem darf die Fahrerlaubnisbehörde deshalb nur abweichen, wenn ein vollständiges Durchlaufen des Stufensystems die Verkehrssicherheit ausnahmsweise unvertretbar gefährden würde, § 4 Abs. 1 Satz 3 StVG.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drucks. 17/12636, S. 38; Bay. VGH, Beschluss vom 29. Juli 2021 – 11 CS 21.1504, juris Rn. 15 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 10. Dezember 2010 – 16 B 1392/10, NJW 2011, 1242; VG Braunschweig, Beschluss vom 28. Januar 2020 – 6 B 256/19, juris Rn. 10; VG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 8. Januar 2019 – 5 K 6324/18, juris Rn. 9; VG Neustadt (Weinstraße), Beschluss vom 21. März 2017 – 3 L 293/17.NW; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn. 33.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Aber selbst für diesen Ausnahmefall verweist § 4 Abs. 1 Satz 3 StVG nur auf die Anwendung der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften des Bundesrechts, und lässt für landesrechtliche Normen, etwa des allgemeinen Ordnungsrechts, keinen Raum.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Zweck des Fahreignungs-Bewertungssystems des § 4 StVG besteht dabei gerade darin, bundesrechtlich sicherzustellen, dass gleichartige Verkehrsverstöße, durch die Fahrerlaubnisinhaber als Wiederholungstäter die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährden („Mehrfachtätersystem“), bundesweit einheitlich präventiv bekämpft werden.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch BT-Drucks. 13/6914 S. 49, 17/12636 S. 38; OVG NRW, Beschluss vom 10. Dezember 2010 – 16 B 1392/10, NJW 2011, 1242.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Daneben gewährleistet das Fahreignungs-Bewertungssystem die Gleichbehandlung der betroffenen Fahrerlaubnisinhaber.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">BT-Drucks. 17/12636 S. 38.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Es setzt damit auf einfachgesetzlicher Ebene das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Gebot um, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. implizit auch VG Berlin, Urteil vom 4. August 2017 – 4 K 499.16, juris Rn. 27; zum Inhalt von Art. 3 Abs. 1 GG etwa BVerfG, Beschluss vom 28. April 2022 – 1 BvL 12/20, NJW 2022, 2465 Rn. 9; zur Vereinbarkeit der konkreten Ausgestaltung des Fahreignungs-Bewertungssystems mit Art. 3 Abs. 1 GG BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15, BVerwGE 157, 235 Rn. 37 ff.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>bb)</strong> Das gilt auch, soweit ein Verkehrsverstoß – wie auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts der gegen § 30 Abs. 1 StVO – bundesrechtlich nicht in der Anlage 13 zur FeV mit Punkten bewehrt ist.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Alle Gefahren, die sich aus wiederholten Verstößen von Fahrerlaubnisinhabern gegen Verkehrsvorschriften ergeben, wehrt das StVG – im Grundsatz – präventiv durch das Fahreignungs-Bewertungssystem mit seinen ausdrücklich normierten Eingriffsstufen ab.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch BT-Drucks. 17/12636 S. 38; OVG NRW, Beschluss vom 10. Dezember 2010 – 16 B 1392/10, NJW 2011, 1242; OVG RP, Beschluss vom 27. Mai 2009 – 10 B 10387/09, juris Rn. 5 (zur alten Rechtslage); VG Braunschweig, Beschluss vom 28. Januar 2020 – 6 B 256/19, juris Rn. 10; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn. 33.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Aus der fehlenden Punktebewehrung eines Verkehrsverstoßes kann nicht geschlossen werden, dass er vom StVG bzw. der FeV nicht erfasst wird und eine Regelungslücke eröffnet, die einen Rückgriff auf die Vorschriften des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts ermöglicht. Ist eine Zuwiderhandlung nicht mit Punkten bewehrt, folgt daraus im Gegenteil, dass der Bundesgesetzgeber sie als unbedeutender für die Teilnahme am erlaubnispflichtigen Kraftverkehr und damit als die Verkehrssicherheit weniger gefährdend einordnet. Diese gesetzgeberische Wertung würde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn bei nicht punktebewehrten Taten weitreichendere gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen unter geringeren Voraussetzungen möglich wären, als § 4 StVG sie für schwerwiegendere Verkehrsverstöße vorsieht. Das ist unbedenklich, weil es nicht bedeutet, dass Verstöße gegen nicht punktebewehrte Verkehrsvorschriften dauerhaft hinzunehmen sind, ohne gefahrenabwehrend darauf reagieren zu können. Bei einer fehlenden Punktebewertung kann die Tat zwar nicht zu einer Ermahnung, Verwarnung oder Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 5 StVG führen. Aber § 4 Abs. 1 Satz 3 StVG lässt – wie oben dargelegt – auch bei nicht punktebewehrten Verkehrsverstößen im Einzelfall „andere Maßnahmen“ nach § 3 StVG bzw. nach der FeV durchaus zu.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. allgemein auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Dezember 1999 – 12 M 4307/99, NJW 2000, 685.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dass auch nicht punktebewehrte Verkehrsverstöße Zweifel an der Fahreignung begründen und damit zum Ergreifen „anderer Maßnahmen“ führen können, bestätigt § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 bis 7 FeV. Danach können u.a. Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften unabhängig von ihrer Punktebewehrung die Fahrerlaubnisbehörde berechtigen, die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks"><strong>cc)</strong> Flankiert wird das der Abwehr wiederholter Verkehrsverstöße dienende (gefahrenabwehrrechtliche) Fahreignungs-Bewertungssystem schließlich durch die (repressive) Bußgeldvorschrift des § 24 StVG insbesondere in Verbindung mit § 49 StVO. Danach werden Verstöße gegen eine Vielzahl straßenverkehrsrechtlicher Ge- und Verbote als Ordnungswidrigkeiten eingestuft. Es erfolgt eine Sanktionierung einzelner Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr, die nach Maßgabe von § 4 Abs. 2 StVG in Verbindung mit § 40 und Anlage 13 zur FeV ggf. wiederum im Rahmen des gefahrenabwehrrechtlichen Fahreignungs-Bewertungssystems heranzuziehen sind, aber auch solcher Zuwiderhandlungen, die die Punkteschwelle nicht überschreiten,</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">vgl. auch BT-Plenarprotokoll 19/229, S. 28677 (C).</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks"><strong>dd)</strong> Insgesamt wehrt das Regelungsgefüge des bundesrechtlichen Straßenverkehrsrechts die Gefahren, die der Sicherheit des Straßenverkehrs von Fahrerlaubnisinhabern durch die verkehrswidrige Teilnahme am Straßenverkehr drohen, durch ein Zusammenwirken von repressiven und präventiven Maßnahmen ab. Verstöße gegen Verkehrsregeln werden repressiv durch Strafurteile oder Bußgeldbescheide geahndet. Aus den ergriffenen repressiven Maßnahmen schließt das Straßenverkehrsgesetz auf die Gefährlichkeit des Fahrerlaubnisinhabers, was wiederum zu präventiven Gefahrenabwehrmaßnahmen führt. Durch dieses Zusammenwirken von repressiven und präventiven staatlichen Reaktionen zeigt der Bundesgesetzgeber einerseits, dass er mit wiederholten Verstößen von Fahrerlaubnisinhabern gegen Verkehrsregeln rechnet und diese (gefahrenabwehrrechtlich) in gewissem Umfang hinnimmt,</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">vgl. BT-Drucks. 17/12636 S. 38; Bay. VGH, Beschluss vom 29. Juli 2021 – 11 CS 21.1504, juris Rn. 15; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn. 33.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Andererseits gibt er vor, wie bei einer bestimmten Anzahl bzw. Schwere von Wiederholungstaten gefahrenabwehrend zu reagieren ist. Daraus folgt zugleich: Ist keine Maßnahmenstufe nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem zu ergreifen und liegt kein atypischer Fall i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 3 StVG vor, hat es mit der repressiven Sanktion eines Verkehrsverstoßes sein Bewenden. Weitergehende präventive Maßnahmen sind bundesrechtlich in Bezug auf Fahrerlaubnisinhaber, die wiederholt gegen die die Sicherheit des Straßenverkehrs betreffenden straßenverkehrsrechtlichen oder gefahrgutbeförderungsrechtlichen Vorschriften verstoßen, nicht vorgesehen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Dieses in sich geschlossene bundesrechtliche Regelungsregime der fahrerlaubnispflichtigen Straßenverkehrsteilnahme sperrt das landesrechtliche allgemeine Ordnungsrecht. Gefahren für die öffentliche (Verkehrs-)Sicherheit, die von einem Fahrerlaubnisinhaber ausgehen, der nach der Fahrerlaubniserteilung gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstoßen hat und bei dem eine Wiederholung zu erwarten steht, kann die Straßenverkehrsbehörde nicht unter Rückgriff auf das landesrechtliche Ordnungsrecht abwehren.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Das Grundgesetz hat dem Bund in Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG die (konkurrierende) Gesetzgebungszuständigkeit für den Straßenverkehr zugewiesen, ohne diesbezüglich in Art. 72 Abs. 3 GG eine Abweichungskompetenz für die Länder vorzusehen. Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG betrifft dabei das Straßenverkehrsrecht als sachlich begrenztes Ordnungsrecht, für das dem Bund – abweichend vom sonstigen Polizei- und Ordnungsrecht – die Gesetzgebungskompetenz zusteht. Es regelt in diesem Rahmen die (polizeilichen) Anforderungen, die an den Verkehr und an die Verkehrsteilnehmer gestellt werden, um Gefahren von anderen Verkehrsteilnehmern oder Dritten abzuwenden und den optimalen Ablauf des Verkehrs zu gewährleisten.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Beschlüsse vom 10. Dezember 1975 – 1 BvR 118/71, BVerfGE 40, 371 (380), und vom 18. Dezember 2018 – 1 BvR 142/15, BVerfGE 150, 244 Rn. 60; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2014 – 3 C 6.13, BVerwGE 151, 129 Rn. 27.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die damit prinzipiell verfassungsrechtlich vorgesehene und aus der Natur der Sache gebotene Bundeseinheitlichkeit der Regelung des Straßenverkehrs sowie die vom Gesetzgeber angestrebte Gleichbehandlung aller Fahrerlaubnisinhaber würde konterkariert, wenn jede Straßenverkehrsbehörde auf wiederholte Verkehrsverstöße in ihrem Zuständigkeitsbereich auf der Grundlage des allgemeinen landesrechtlichen Gefahrenabwehrrechts nach lokalen Maßstäben reagieren könnte.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Untersagungsverfügungen wie die hier streitgegenständliche verfolgen zwar auch den gefahrenabwehrenden Zweck, den Adressaten zu verkehrsgerechtem Verhalten anzuhalten. Ihr eigentlicher Schwerpunkt und Anlass liegt jedoch darin, über den als zu niedrig empfundenen Bußgeldrahmen des Bundesrechts hinauszugehen („örtliche Ersatzsanktion“). Die örtliche Straßenverkehrsbehörde hält das bundesrechtlich vorgesehene Bußgeld für zu niedrig und meint, dass sie den Verkehrsverstößen weder mittels des Ordnungswidrigkeitenrechts noch mit den bundesrechtlich vorgesehenen Maßnahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems wirksam genug begegnen kann. Dies kam auch im Hinweis der Beklagten in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck, dass insbesondere der Bußgeldkatalog auch unter Berücksichtigung der Handhabung durch die ordentlichen Gerichte als Mittel zur „Abschreckung“ nicht geeignet sei.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Ihren eigentlichen Sinn bezieht die Untersagungsverfügung – wie auch in der Begründung der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung ausdrücklich offengelegt – mithin daraus, als Vollstreckungsgrundlage für das angedrohte Zwangsgeld zu dienen, das erheblich über dem von der BKatV vorgesehenen und bei einem erneuten Verstoß zu verhängenden Bußgeld liegt. Dessen Regelsatz beträgt nach der BKatV 80,- bis 100,- Euro (Nr. 117 und 118). Selbst wenn der im Ausnahmefall grundsätzlich mögliche Höchstsatz nach § 17 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 24 Abs. 3 Nr. 5 StVG bei 2.000,- Euro liegt, bleibt er deutlich hinter dem angedrohten Zwangsgeld von 5.000,- Euro zurück.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung mit Zwangsgeldandrohung entfaltet – zumindest unter Geltung des VwVG NRW – im Ergebnis die gleichen Wirkungen wie ein Bußgeld. Denn das Zwangsgeld kann nicht nur zur Verhinderung eines unmittelbar bevorstehenden oder laufenden Verstoßes gegen die Untersagungsverfügung, sondern – wie ein Bußgeld – auch nach einem vollständig beendeten Verstoß gegen sie festgesetzt und beigetrieben werden. Das folgt aus § 60 Abs. 3 Satz 2 VwVG NRW, nach dem ein angedrohtes Zwangsgeld (auch dann) beizutreiben ist, wenn einer Unterlassungspflicht (während ihres Geltungszeitraums) zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgelds erreicht werden sollte. Diese Beitreibung ist unabhängig davon möglich, ob ein weiterer Verstoß zu befürchten steht oder ausgeschlossen ist, und zwar sogar dann, wenn eine weitere Zuwiderhandlung wegen Fristablaufs oder Erledigung der Verfügung nicht mehr möglich ist.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Beschlüsse vom 22. März 2019 – 4 B 71/19, juris Rn. 3 ff., vom 13. Februar 2020 – 10 B 75/20, juris Rn. 4, und vom 21. Juli 2022 – 7 A 1154/21, juris Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auf diese Weise unterläuft eine so ausgestaltete Untersagungsverfügung zumindest faktisch für ihren Geltungszeitraum den rein präventiven Charakter des Zwangsgeldes, das nicht sanktionierend für vergangenes Unrecht, sondern lediglich als präventive Beugemaßnahme eingesetzt werden darf.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. April 2021 – 6 C 6.20, NVwZ-RR 2021, 705; Nds. OVG, Beschluss vom 23. April 2009 – 11 ME 478/08, NdsVBl. 2009, 345 (346); OVG Berl.-Brand., Urteil vom 19. Mai 2011 – OVG 10 B 7.10, juris Rn. 20; Thür. OVG, Beschluss vom 5. Juni 2012 – 1 EO 284/12, NVwZ-RR 2013, 6 f.; Sadler/Tillmanns, VwVG, 10. Aufl. 2020, § 15 Rn. 21; Dünchheim NWVBl. 2004, 202 (205).</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Käme allen örtlichen Straßenverkehrsbehörden die Befugnis zu, derartige „Ersatzsanktionen“ über den Umweg des landesrechtlichen Ordnungsrechts zu verhängen, könnten sie – etwa nach Auswertung des ihnen zugänglichen Fahreignungs-Registers – gegen alle Fahrerlaubnisinhaber, die in ihrem Zuständigkeitsgebiet mehrmals Verkehrszuwiderhandlungen begangen haben (z.B. die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten haben), wegen drohender Wiederholungsgefahr vergleichbare Untersagungsverfügungen mit ähnlich hohen Zwangsgeldandrohungen erlassen. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass dies die vom Bundesgesetzgeber vorgesehene bundeseinheitliche Regelung des Straßenverkehrs ad absurdum führen würde.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks"><strong>c)</strong> Konzeptionell stimmt die so verstandene bundesrechtliche Abwehr von Gefahren, die von sich wiederholt verkehrswidrig verhaltenden Fahrerlaubnisinhabern für die Sicherheit des Straßenverkehrs ausgehen, mit der allgemeinen Regelungstechnik des Gefahrenabwehrrechts überein, das präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt vorsieht. Verstößt der Inhaber einer solchen Erlaubnis gegen Vorschriften, die Rückschlüsse darauf zulassen, dass er die erlaubnispflichtige Tätigkeit künftig nicht rechtskonform ausübt, kann der einzelne Verstoß zwar ggf. mit einer repressiven Sanktion belegt werden (z.B. einem Bußgeld). Dem Erlaubnisinhaber kann aber grundsätzlich nicht die einzelne zwar rechtswidrige, aber durch seine Erlaubnis grundsätzlich gedeckte Handlung mithilfe des allgemeinen Ordnungsrechts vorbeugend verboten werden. Vielmehr verliert er – ggf. nach spezialgesetzlich vorgesehenen milderen Maßnahmen – die erteilte Erlaubnis. Dieser Regelungsmechanismus beruht auf der Legalisierungswirkung, die von einem Erlaubnisverwaltungsakt ausgeht und die den Erlaubnisinhaber vor Eingriffen in die erlaubte Tätigkeit schützt.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Grundlegend: BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1977 – IV C 75.75, BVerwGE 55, 118 (120 ff.); vgl. allgemein auch BVerwG, Beschluss vom 16. März 2015 – 6 B 63.14, juris Rn. 6; OVG NRW, Urteile vom 9. Februar 2012 – 5 A 2382/10, NWVBl 2012, 431 (432), und vom 22. April 2015 – 2 L 47/13, juris Rn. 63; VGH BW, Urteil vom 29. März 2000 – 1 S 1245/99, NVwZ-RR 2000, 589 (590).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Erst wenn die Legalisierungswirkung durch die Aufhebung der präventiven Erlaubnis endet, kann nach allgemeinen ordnungsrechtlichen Grundsätzen eingeschritten werden.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Siehe zum Gewerbe- und Immissionsschutzrecht die vorgenannten Nachweise sowie BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2008 – 7 C 48.07, BVerwGE 132, 224 Rn. 27; Nds. OVG, Urteil vom 13. März 2019 – 12 LB 125/18, UPR 2020, 20 Rn. 40; VG Würzburg, Urteil vom 22. Januar 2019 – W 4 K 17.987, juris Rn. 43; vgl. zum Gaststättenrecht VG Düsseldorf, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – 24 L 1828/20, juris Rn. 34 ff.; vgl. zum Baurecht VG Ansbach, Beschluss vom 24. November 2021 – An 17 S 21.01776, juris Rn. 71.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vergleichbares gilt – im Umfang der obigen Maßgabe – auch im Hinblick auf die Fahrerlaubnis.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Ausdrücklich für die Legalisierungswirkung einer Fahrerlaubnis Seel, MDR 2014, 812 (815).</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks"><strong>d)</strong> Vor diesem Hintergrund ist die Kammer überzeugt, dass das bundesrechtliche Regelungssystem der §§ 2 ff., 24a StVG hinsichtlich der Gefahren durch wiederholte Verkehrsverstöße von Fahrerlaubnisinhabern abschließend und § 14 Abs. 1 OBG NRW insoweit unanwendbar ist. Der Bundesgesetzgeber hat die Abwehr von Gefahren durch wiederholte Verkehrsverstöße von Fahrerlaubnisinhabern unter (gefahrenabwehrrechtlich) bewusster Inkaufnahme einzelner Zuwiderhandlungen dem Fahreignungs-Bewertungssystem des § 4 StVG im Zusammenwirken mit repressiven Bußgeldern abschließend geregelt.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Allgemein zum Verhältnis von Spezialgesetzen ohne eigenständige Ermächtigungsgrundlage zur ordnungsrechtlichen Generalermächtigung: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 167; Götz/Geis, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 17. Aufl. 2022, § 21 Rn. 7 f.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Kammer setzt sich damit nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses hat – soweit ersichtlich – bisher lediglich entschieden, dass gegen Verkehrshindernisse i.S.d. § 32 StVO auf der Grundlage der Generalermächtigung des landesrechtlichen Ordnungsgesetzes vorgegangen werden kann. Diese Rechtsprechung ist auf die hiesige Fallgestaltung nicht übertragbar. Denn es ging in der damaligen Entscheidung nicht um die Abwehr von Gefahren durch die Verkehrsteilnahme eines Fahrerlaubnisinhabers, sondern um einen verkehrsfremden Eingriff in den Straßenverkehr von außen.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2015 – 3 C 15.14, BVerwGE 153, 140 Rn. 15, zum Aufstellen einer Warnbake auf der Fahrbahn.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Nur erstere regelt das StVG abschließend.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks"><strong>e)</strong> Soweit die Gefahr nicht in einem befürchteten künftigen Verkehrsverstoß eines Fahrerlaubnisinhabers besteht, entfaltet das bundesrechtliche Straßenverkehrsrecht keine Sperrwirkung. Bei andersartigen Gefahren kann die zuständige Behörde auf der Grundlage des landesrechtlichen Ordnungsrechts bei Verstößen gegen das Straßenverkehrsrecht einschreiten,</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">vgl. allgemein BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2015 – 3 C 15.14, BVerwGE 153, 140 Rn. 15; Bay. VGH, Beschluss vom 15. April 2021 – 10 NE 20.2831, BayVBl 2021, 751 Rn. 48; VGH BW, Urteil vom 15. September 2014 – 1 S 1010/13, juris Rn. 22 m.w.N.; VG Dresden, Urteil vom 10. April 2002 – 14 K 1966/00, juris Rn. 27; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 1986, S. 167; Gerster, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Rn. 455; Götz/Geis, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 17. Aufl. 2022, § 21 Rn. 7 ff., 18 f.; Schlanstein, NZV 2015, 105 (111),</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">soweit nicht andere gesetzliche Regelungen, bspw. § 36 Abs. 5 Satz 1 und 4, § 44 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 36 Abs. 1 Satz 1 StVO, ihrerseits abschließende Rechtsgrundlagen für ein Tätigwerden der Polizei bilden.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu etwa Sächs. OVG, Beschluss vom 23. Dezember 2021 – 6 A 680/19, juris Rn. 20; Gerster, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Rn. 470; Hühnermann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 2022, § 36 Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Liegt die abzuwehrende Gefahr nicht in einem befürchteten künftigen Verkehrsverstoß eines Fahrerlaubnisinhabers, sondern besteht sie gegenwärtig oder geht sie unmittelbar von dem Fahrzeug selbst aus (z.B. verkehrswidriges Parken, alkoholisierter Fahrer setzt sich ans Steuer, verkehrsunsicheres Fahrzeug) kann die Straßenverkehrsbehörde auf das allgemeine Ordnungsrecht zurückgreifen, weil die §§ 2 ff. StVG, insbesondere § 4 StVG, die Abwehr solcher Gefahren nicht regeln.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Das allgemeine Ordnungsrecht steht der zuständigen Sonderordnungsbehörde darüber hinaus offen, wenn sie nicht eingreift, um straßenverkehrsrechtliche, sondern sonstige ordnungsrechtliche Zwecke zu verfolgen, die über die Gefahren hinausgehen, die mit der (verkehrsrechtswidrigen) Verkehrsteilnahme einhergehen.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 1991 – 4 StR 518/90, NJW 1991, 1691 (1692); siehe allgemein auch Bay. VGH, Beschluss vom 15. April 2021 – 10 NE 20.2831, BayVBl 2021, 751 Rn. 48.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Der Wille, das bloße Motiv des Verkehrsverstoßes – bei § 30 StVO etwa das Heischen um Aufmerksamkeit – zu bekämpfen, genügt dafür noch nicht.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Das allgemeine Ordnungsrecht kann darüber hinaus auch zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit des Straßenverkehrs herangezogen werden, wenn die Gefahr nicht daher rührt, dass ein Fahrerlaubnisinhaber am Straßenverkehr teilnimmt, sondern von einer anderen Gefahrenquelle.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2015 – 3 C 15.14, BVerwGE 153, 140 Rn. 15 m.w.N. (Warnbaken); vgl. implizit wohl OVG NRW, Beschluss vom 28. Oktober 2021 – 8 B 994/21, juris Rn. 3 ff.; siehe auch VGH BW, Urteil vom 5. Dezember 2002 – 5 S 2625/01, NZV 2003, 301 (302), dort – ggf. – sogar weitergehend als hier.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong> Dies zugrunde gelegt, vermag die landesordnungsrechtliche Generalklausel des § 14 Abs. 1 OBG NRW die Ziffer 1 der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung vom 8. Juni 2021 nicht zu tragen.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong> Ausweislich des Tenors und der Begründung soll mit der Anordnung in Ziffer 1 der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung die Begehung von Verstößen gegen das Verbot aus § 30 Abs. 1 Satz 1 StVO, nach dem bei der Benutzung von Fahrzeugen unnötiger Lärm und vermeidbare Abgasbelästigungen verboten sind, verhindert und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Gestalt der geschriebenen Rechtsordnung abgewehrt werden. Gegenwärtig bestehende Gefahren in Gestalt derartiger Zuwiderhandlungen als solche liegen dabei nicht vor. Vielmehr geht es um die dauerhafte Abwehr künftiger bzw. wiederholter, noch nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit konkret absehbarer Verkehrszuwiderhandlungen. Das untersagte Verhalten („Posing“) erfolgt während der Verkehrsteilnahme, wie es auch der hierfür einschlägige und von der Beklagten selbst ergänzend herangezogene § 30 Abs. 1 Satz 1 StVO als ein innerverkehrliches Verhalten regelnde Vorschrift nahelegt. Der Unterlassungsverpflichtete wirkt hierdurch gerade nicht von außen auf den Straßenverkehr ein. Auch liegt kein Verhalten vor, das sich als „verkehrsfremder Inneneingriff“ darstellt,</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">vgl. zu dieser originär strafrechtlichen Figur nur BGH, Beschluss vom 21. Juni 2016 – 4 StR 1/16, NZV 2016, 533 Rn. 6; Pegel, in: Erb/Schäfer, Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2019, § 315b Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Dass das Motiv des „Posens“, wie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, auch außerverkehrlichen Zwecken („Imponieren“, „Brautschau“) dient, reicht hierfür allein nicht aus, wenn es sich selbst als Verkehrsteilnahme darstellt.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung soll damit aber gerade der Gefahr entgegenwirken, die mit der (Art der) Verkehrsteilnahme durch Fahrerlaubnisinhaber verbunden ist. Wie aus der Begründung zur Ordnungsverfügung ersichtlich, soll sie präventiv verhindern, dass der Kläger als Fahrerlaubnisinhaber seine verkehrswidrige Art der Teilnahme am Straßenverkehr künftig wiederholt. Insoweit greift aber die dargelegte Sperrwirkung des bundesrechtlichen Regelungssystems der §§ 2 ff. StVG, die einem Rückgriff auf die landesordnungsrechtliche Generalklausel entgegensteht.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Der im Ergebnis anderslautenden erstinstanzlichen Rechtsprechung, die vergleichbare Untersagungsverfügungen gegenüber einem sogenannten „Posing“-Verhalten gebilligt hat, kann die Kammer nicht beitreten. Eine weitere Auseinandersetzung mit ihr erscheint entbehrlich, weil sie sich mit dem Verhältnis des Regelungssystems der §§ 2 ff., 24a StVG zum allgemeinen landesrechtlichen Ordnungsrecht nicht befasst, sondern nur auf das Verhältnis der – ihrer Ansicht nach nicht gesperrten – landesrechtlichen Generalklausel zu anderen Regelungen der StVO und des BImSchG eingeht,</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">siehe VG Karlsruhe, Urteil vom 17. Dezember 2018 – 1 K 4344/17, juris Rn. 36 ff.; vgl. gänzlich ohne weitere Erörterung VG Hannover, Urteil vom 12. Juli 2021 – 5 A 6628/20, juris Rn. 28.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Auch die – soweit ersichtlich – einzige obergerichtliche Entscheidung äußert sich zu den hier maßgeblichen Rechtsfragen nicht. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg stützt die dortige Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung tragend lediglich auf die unzureichende Darlegung der Zulassungsgründe.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">VGH BW, Beschluss vom 4. Juni 2019 – VGH 1 S 500/19, n.v.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Eine andere gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, um das „Imponiergehabe“ unter Verstoß gegen § 30 Abs. 1 StVO zu unterbinden, insbesondere aus dem Bundesrecht, existiert nicht.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong> Offenlassen kann die Kammer daher, ob Ziffer 1 der Ordnungsverfügung daneben insbesondere im Hinblick auf die von § 37 Abs. 1 VwVfG NRW geforderte Bestimmtheit,</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">siehe zu den Anforderungen OVG NRW, Beschluss vom 23. November 2020 – 10 A 2316/20, juris Rn. 6 m.w.N.,</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">oder die Ermessensausübung, bei der jedenfalls das obengenannte Regelungssystem zu berücksichtigen sein dürfte, rechtlichen Bedenken begegnet.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong> Die auflösende Befristung in Ziffer 3 teilt als echte Nebenbestimmung i.S.d. § 36 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW das Schicksal des Hauptverwaltungsaktes und „steht und fällt mit diesem“. Vor diesem Hintergrund wird sie mit der Unwirksamkeit der Ziffer 1 gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG NRW („anderweitige Aufhebung“) aufgrund der gerichtlichen Kassation nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO unwirksam,</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">vgl. insgesamt Schröder, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht (Stand: Juli 2020), § 36 Rn. 133,</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">und ist aus Klarstellungsgründen ebenfalls aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong> Mangels wirksamer Grundverfügung ist auch die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 4 der angegriffenen Ordnungsverfügung i.S.d. §§ 55, 60, 63 VwVG NRW für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Ziffer 1 rechtswidrig und aufzuheben. Infolgedessen kann die Kammer offenlassen, ob die Androhung unbegrenzt wiederholbarer Zwangsgelder, die der Höhe nach um den Faktor 62,5 (5.000,- Euro) über dem Regelsatz der BKatV liegen, selbst bei einer rechtmäßigen Grundverfügung deutlich übersetzt und damit unverhältnismäßig wäre.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks"><strong>IV.</strong> Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks"><strong>V.</strong> Die Berufung wird nach § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus lässt die Kammer auch die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz (Sprungrevision) nach § 134 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Denn die Rechtsfrage betrifft mit der Reichweite der §§ 2 ff. StVG Bundesrecht nach § 137 Abs. 1 Satz 1 VwGO revisibles Recht, auch wenn die streitgegenständliche Verfügung auf eine nicht revisible landesrechtliche Norm gestützt ist.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu nur BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2006 – 6 C 19.06, BVerwGE 126, 149 Rn. 34 f.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">(1) Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Berufung eingelegt werden. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift und die Berufungsbegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">(2) Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu. Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich einzulegen.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Die Revisionsfrist ist auch gewahrt, wenn die Revision innerhalb der Frist bei dem Bundesverwaltungsgericht (Simsonplatz 1, 04107 Leipzig) schriftlich eingelegt wird.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Revision muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht (Simsonplatz 1, 04107 Leipzig) schriftlich einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Im Revisionsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 und 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die Revision und die Revisionsbegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.<strong>Beschluss</strong></p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- Euro festgesetzt.</strong></p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst einfach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
346,596
ovgnrw-2022-09-01-19-a-166021
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19 A 1660/21
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:05"
"2022-10-17T11:10:14"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0901.19A1660.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet. Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt ist und vorliegt. Die Berufung ist nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen der allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich keine solchen ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. statt vieler BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. März 2022 - 2 BvR 1232/20 -, NVwZ 2022, 789, juris, Rn. 23, vom 7. Juli 2021 - 1 BvR 2356/19 -, NVwZ-RR 2021, 961, juris, Rn. 23, vom 16. April 2020 ‑ 1 BvR 2705/16 ‑, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 21, und Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff.; VerfGH NRW, Beschlüsse vom 13. Oktober 2020 ‑ VerfGH 82/20.VB-2 ‑, juris, Rn. 19, und vom 17. Dezember 2019 ‑ VerfGH 56/19.VB-3 -, NVwZ-RR 2020, 377, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Klage unzulässig sei, weil sie nicht innerhalb der einmonatigen Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 VwGO erhoben worden sei. Nachdem die Beklagte den Einbürgerungsantrag der Klägerin mit Bescheid vom 4. Juli 2017 abgelehnt habe, habe diese am 20. Juli 2017 zunächst einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch zu erhebende Verpflichtungsklage gestellt. Nach Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags und Einstellung des dagegen gerichteten Beschwerdeverfahrens vor dem Oberverwaltungsgericht habe die Klägerin die angekündigte Klage erhoben und Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist nach § 60 Abs. 1 VwGO beantragt. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen aber nicht vor, weil die Klägerin die zweiwöchige Frist des § 60 Abs. 2 VwGO nicht eingehalten habe.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Diese Würdigung des Verwaltungsgerichts stellt die Klägerin mit ihrem Zulassungsvorbringen nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin macht geltend, sie habe bereits am 20. Juli 2017 fristgerecht Klage gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 4. Juli 2017 erhoben. Die eingereichte Klageschrift sei nicht als Entwurf bezeichnet gewesen und auch im Übrigen ergebe sich aus der Klageschrift kein Hinweis darauf, dass diese zunächst nur als Begründung des Prozesskostenhilfeantrags zu verstehen gewesen sei. Die Formulierung in dem Prozesskostenhilfeantrag „Die beabsichtigte Klage hat hinreichende Aussicht auf Erfolg …“ sei kein hinreichend deutlicher Hinweis darauf, dass noch keine Klage erhoben werden sollte. Vielmehr sprächen die Gesamtumstände, insbesondere der unterschriebene Klageschriftsatz selbst, deutlich gegen die Annahme eines isolierten Prozesskostenhilfeantrags.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Damit stellt die Klägerin die rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Frage. Nach den Gesamtumständen war der am 20. Juli 2017 beim Verwaltungsgericht eingegangene Antrag der Klägerin als isolierter Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch zu erhebende Klage und noch nicht als unmittelbare Klageerhebung zu verstehen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Wird bei Gericht gleichzeitig mit einem Prozesskostenhilfeantrag ein Schriftsatz eingereicht, der allen an eine Klageschrift zu stellenden Anforderungen entspricht, sind drei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Der Schriftsatz kann eine unabhängig von der Prozesskostenhilfebewilligung erhobene Klage sein. Es kann sich zum anderen um eine unter der Bedingung der Prozesskostenhilfegewährung erhobene und damit unzulässige Klage handeln. Schließlich kann der Schriftsatz lediglich einen der Begründung des Prozesskostenhilfeantrags dienenden Entwurf einer erst zukünftig zu erhebenden Klage darstellen. Welche dieser Konstellationen vorliegt, ist eine Frage der Auslegung der im jeweiligen Einzelfall zu beurteilenden Prozesshandlungen. Dabei kommt es nicht auf den inneren Willen der Beteiligten an. Maßgebend ist vielmehr der in der Erklärung verkörperte Wille unter Berücksichtigung der erkennbaren Umstände des Falles.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Beschluss vom 16. Oktober 1990 - 9 B 92.90 ‑, Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 22, juris, Rn. 8; vgl. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 7. Januar 2022 ‑ 19 E 6/22 -, juris, Rn. 4 ff., vom 28. Februar 2020 - 4 B 813/18 -, juris, Rn. 6 ff. und vom 18. Dezember 2018 - 4 B 1030/18 -, www.nrwe.de, Rn. 6 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 18. November 2014 - 10 C 14.2284 -, juris, Rn. 12 ff.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen hatte das Rechtsschutzbegehren der Klägerin zunächst nur eine isolierte Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch zu erhebende Verpflichtungsklage zum Gegenstand. Die Formulierung „beabsichtigte Klage“ in dem mit „Antrag auf Prozesskostenhilfe“ überschriebenen Antragsschriftsatz vom 19. Juli 2017 spricht deutlich dafür, dass die Klägerin zunächst nur den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe stellen und die Klageerhebung lediglich ankündigen wollte, auch wenn die beigefügte Klageschrift nicht als Entwurf gekennzeichnet war und allen an eine Klageschrift zu stellenden Anforderungen entsprach. Diesen Eindruck hat die Klägerin in Kenntnis der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung auch nachfolgend nicht korrigiert. Dieses hat noch innerhalb der laufenden Klagefrist mit der Eingangsbestätigung vom 24. Juli 2017 ausdrücklich und auch für rechtsunkundige Beteiligte transparent darauf hingewiesen, dass das Verfahren als isolierter Antrag auf Prozesskostenhilfe geführt werde, im Fall der Bewilligung der Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist zu gewähren sein werde und dafür dann noch die zunächst nur als Entwurf beigefügte Klage innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 60 Abs. 2 VwGO erhoben werden müsse, was durch einfache Bezugnahme auf den Klageentwurf erfolgen könne. Da die Klägerin diesem durch die Formulierung ihres Antragsschriftsatzes veranlassten und vom Verwaltungsgericht unmittelbar mitgeteilten Verständnis nicht widersprochen hat, bestand auch insoweit kein hinreichend erkennbarer objektivierter Anhaltspunkt dafür, dass der Wille der Klägerin bereits zum damaligen Zeitpunkt darauf gerichtet war, unabhängig vom Ausgang des Prozesskostenhilfeverfahrens Klage zu erheben.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das Vorgehen des Verwaltungsgerichts entspricht im Übrigen dem verfassungsrechtlich in Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Zweck der Prozesskostenhilfe, der eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes gebietet.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 22. März 2021 - 2 BvR 353/21 -, juris, Rn. 5, vom 13. Juli 2020 - 1 BvR 631/19 -, FamRZ 2020, 1559, juris, Rn. 17, vom 28. Oktober 2019 - 2 BvR 1813/18 -, NJW 2020, 534, juris, Rn. 25, und vom 14. Februar 2017 - 1 BvR 2507/16 -, juris, Rn. 13; OVG NRW, Beschluss vom 28. Februar 2020 - 4 B 946/18 -, juris, Rn. 29.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Denn in Konstellationen wie hier, in denen neben der isolierten Prozesskostenhilfebeantragung auch eine unabhängig von der Prozesskostenhilfebewilligung erhobene Klage in Betracht kommt, ist mit der sachgerechten und an objektivierbare Gesichtspunkte in den fraglichen Schriftsätzen anknüpfenden Auslegung als isolierter Prozesskostenhilfeantrag ein Rechtsschutzweg gewählt, der das Kostenrisiko des Beteiligten ohne Abstriche an der Effektivität des Rechtsschutzes minimiert.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 40, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG. Die Bedeutung der Einbürgerung für die Klägerin, auf die es nach diesen Vorschriften für die Streitwertfestsetzung ankommt, bemisst der Senat in ständiger Praxis in Anlehnung an Nr. 42.1 des Streitwertkatalogs 2013 (NWVBl. 2014, Heft 1, Sonderbeilage, S. 11) mit dem doppelten Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,595
vg-aachen-2022-09-01-5-l-61322a
{ "id": 840, "name": "Verwaltungsgericht Aachen", "slug": "vg-aachen", "city": 380, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
5 L 613/22.A
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:04"
"2022-10-17T11:10:14"
Beschluss
ECLI:DE:VGAC:2022:0901.5L613.22A.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 5 K 1926/22.A erhobenen Klage gleichen Rubrums gegen die unter Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juni 2022 verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.</p> <p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>G r ü n d e:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I</strong>.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller wendet sich gegen seine Abschiebung nach Ungarn im Verfahren nach der Dublin III-VO.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.0000 in ………./…………. geborene Antragsteller ist aserbaidschanischer Staatsangehöriger; er ist aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Nach eigenen Angaben verließ er sein Heimatland per Flugzeug am 27. April 2022 über die Türkei und Ungarn und reiste am 29. April 2022 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er äußerte am 9. Mai 2022 ein Asylgesuch.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach dem vom Bundesamt unter dem 9. und dem 17. Mai 2022 abgerufenen Auszug aus dem Europäischen Visa-Informationssystem war der Antragsteller im Besitz eines Schengen Visums, ausgestellt von der ungarischen Botschaft in Baku, gültig vom 23. April bis 15. Mai 2022 für einen Aufenthalt von acht Tagen. Im Zeitpunkt der Beantragung des Visums verfügte der Antragsteller über einen aserbaidschanischen Reisepass, gültig vom 9. Februar 2019 bis zum 8. Februar 2029.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 17. Mai 2022 stellte der Antragsteller beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Anhörungen zur Zulässigkeit des Asylantrags und zu den Asylgründen erklärte der Antragsteller am 25. Mai 2022 im Wesentlichen: Er verfüge nur noch über seinen Personalausweis; seinen Reisepass und sein Flugticket habe er in Köln verloren. Er habe mit seinen Eltern und seiner Schwester in der Nähe von Baku in einem Haus gelebt, das seiner Mutter gehöre. Die wirtschaftliche Lage der Familie sei sehr schlecht gewesen. Er habe seit seinem vierzehnten Lebensjahr gearbeitet. Was er als Kind in Aserbaidschan verdient habe, habe ausgereicht, um seinen eigenen Lebensunterhalt zu decken. Er habe neun Jahre die normale Schule und danach drei Jahre die Berufsschule besucht. Später habe er mehrfach in Russland gearbeitet. Während dieser Zeit habe er seine Familie unterstützen und Geld für die Reise nach Deutschland sparen können. Am 16. Januar 2022 sei er von Moskau nach Aserbaidschan zurückgekehrt, um sich etwas auszuruhen. Wegen des drohenden Kriegsausbruchs in der Ukraine sei er nicht - wie ursprünglich geplant - nach Moskau zurückgeflogen. Der Mann, der ihm das Visum für Ungarn besorgt habe, habe ihm erklärt, dass es in Deutschland gute Möglichkeiten gebe, einen Job zu finden und die Sprache zu erlernen. Aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse könne er in Aserbaidschan keine Familie gründen. Er wolle nicht lügen. Politische Probleme habe er in Aserbaidschan nie gehabt. Er habe auch keine gesundheitlichen Probleme. Er wolle in Deutschland arbeiten, einen Sprachkurs besuchen und seine Zukunft bauen, hierzu brauche er Unterstützung von Deutschland. Er wünsche sich einen Sprachkurs und einen Ausbildungsplatz.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Unter dem 30. Mai 2022 richtete das Bundesamt ein Aufnahmegesuch nach der Dublin III-VO an Ungarn. Die ungarische Dublin Coordination Unit erklärte am 1. Juni 2022 zunächst, dass Ungarn sich nicht als zuständig betrachte, weil noch weitere Informationen zur Person des Antragstellers mitzuteilen seien. Im Rahmen der Remonstration vom 22. Juni 2022 verwies das Bundesamt darauf, dass die Zuständigkeit Ungarns offensichtlich sei. Weiter erinnerte es daran, dass eine individuelle Zusicherung vorzulegen sei, dass der Antragsteller nach den Standards des EU-Rechts behandelt, insbesondere, dass er im Einklang mit der Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) untergebracht und dass sein Antrag auf internationalen Schutz gemäß der Richtlinie über Asylverfahren (2013/32/EU) behandelt werde. Eine individuelle Zusicherung sei wesentlich für die Erfüllung der Anforderungen der Europäischen Kommission, die sie in der Empfehlung vom 8. Dezember definiert habe. Unter dem 23. Juni 2022 erklärte die ungarische Dublin Coordination Unit bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO das Einverständnis für die Überstellung des Antragstellers zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") und bestätigte, dass die ungarische Botschaft in Baku für den Antragsteller ein Schengen Visum Typ C am 20. April 2022 zu touristischen Zwecken ausgestellt habe; aus diesem Grunde akzeptiere Ungarn die Verantwortung für die Übernahme des Antragstellers ("accepts responsibility for taking charge of the applicants").</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 30. Juni 2022, dem Antragsteller am 16. August 2022 in der ZUE Wegberg ausgehändigt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 2.), ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 3.) und befristete das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Es führte aus, dass Ungarn auf Grund des ausgestellten Visums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei; Abschiebungsverbote lägen nicht vor, insbesondere bestünden keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn. Diese Beurteilung werde in einem aktuellen Beschluss des Verwaltungsgerichts Halle bestätigt (Beschluss vom 19.04.2021 - 4 B 254/21 HAL). In der Vergangenheit seien das Kernargument der Annahme von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren die Aufnahmebedingungen in den Zeiträumen gewesen, in denen die Asylverfahrenspraxis unter dem Eindruck der Transitzonen gestanden habe. Nachdem diese im zweiten Quartal 2020 geschlossen worden seien, sei ein neues Asylzugangsverfahren etabliert worden. Diese Entwicklungen spiegelten sich in der aktuellen Rechtsprechung noch nicht wider.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">In Ungarn sei seit dem 09. März 2016 ein Regierungsdekret mit dem Titel „Krisensituation aufgrund einer Masseneinwanderung“ in Kraft. Dieses Dekret gestatte der Polizeibehörde unter anderem die Zurückweisung von illegal Eingereisten sowie illegal aufhältigen Asylsuchenden hinter die ungarische Grenze (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16). Das Dekret werde seit dem Inkrafttreten alle sechs Monate verlängert, zuletzt im September 2021 (Kafkadesk, Hungary extends migration state of emergency for fifth year, https://t1p.de/6zoq, abgerufen am 12.10.2021). Die Zahl der Asylsuchenden sei seit 2015 kontinuierlich und deutlich gesunken von 177.135 im Jahr 2015 auf nur noch 117 im Jahr 2020 (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 27). Bestimmungen, nach denen Anträge von illegal Eingewanderten ausschließlich an den grenznahen Transitzonen gestellt werden dürften, seien seit dem 26. Mai 2020 aufgehoben. Es sei ein Regierungsdekret (Government Decree 233/2020 (V. 26.)) sowie seit dem 18. Juni 2020 ein Gesetz in Kraft getreten, welches neue Vorschriften für das Asylverfahren vorsehe. Hintergrund dieser Anpassung im Asylverfahren sei der geltende Notstand (state of danger) zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Um ins reguläre Verfahren zu gelangen, müssten Schutzsuchende, die in Ungarn Asyl beantragen möchten, zunächst eine persönliche „Absichtserklärung zum Zweck der Antragstellung“ in der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew abgeben. Diese Erklärung werde dann dem Nationalen Generaldirektorat der Fremdenpolizei (NDGAP) überreicht, welcher innerhalb von 60 Tagen eine Entscheidung darüber treffen müsse, ob Asylsuchenden eine einmalige Einreiseerlaubnis für die förmliche Antragstellung erteilt werde (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16 – 17). Falls die Erlaubnis erteilt werde, müssten die Asylsuchenden innerhalb von 30 Tagen eigenständig nach Ungarn einreisen und sich unmittelbar zu den Grenzschutzbeamten begeben. Die Grenzschutzbeamten müssten die Asylsuchenden innerhalb von 24 Stunden zur Asylbehörde befördern. Dort könnten die Asylsuchenden dann formal ihre Asylanträge stellen und einreichen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, 22). Sowohl der seit 2016 verhängte Krisenzustand als auch der skizzierte erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn. Diese Maßnahmen adressierten nicht die Dublin-Rückkehrenden, sondern diejenigen, die eigenständig nach Ungarn einreisten oder sich illegal in Ungarn aufhielten. Auch das Verwaltungsgericht Halle stelle in der zitierten Entscheidung fest, dass sich die Entscheidung des EuGH vom 17. Dezember 2020 (C 808/18) über den eingeschränkten Zugang zum Asylverfahren lediglich auf diejenigen Asylsuchenden beziehe, die aus Serbien nach Ungarn einreisten.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das Helsinki-Komitee weise zwar darauf hin, dass Dublin-Rückkehrende nicht ohne Weiteres Erst- und Folgeanträge in Ungarn stellen könnten, da diese im Zuge des geltenden Asylgesetzes und des Botschaftsverfahrens nicht zu den Ausnahmen zählten, denen es erlaubt sei, einen Antrag innerhalb Ungarns zu stellen; auch auf den Ausschluss der Folgeantragstellenden von den Aufnahmebedingungen werde hingewiesen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 45-46). Den genannten Punkten stehe allerdings entgegen, dass das Bundesamt Überstellungen gemäß der Dublin III-VO nur dann durchführe, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit zur Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, nachdem diese bei ihrer Ankunft ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten (EASO, EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97).</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Im Dublin-Verfahren müsse bei der Bewertung, ob Asylsuchenden im zu überstellenden Mitgliedstaat eine Situation extremer materieller Not drohe, ein erweiterter zeitlicher Horizont nach der Rückkehr in den Blick genommen werden. Für Ungarn sei festzustellen, dass die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus ausreichend seien. In Ungarn herrschten keine derart eklatanten Missstände, welche die Annahme rechtfertigten, dass international Schutzberechtigte einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK ausgesetzt würden. Dies werde auch durch die deutsche Rechtsprechung bestätigt. International Schutzberechtigte seien in Ungarn den Inländern grundsätzlich rechtlich gleichgestellt. Sie würden durch NGOs wie z.B. Menedék oder Kalunba unterstützt.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat am 23. August 2022 Klage erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller beantragt,</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juni 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">den Antrag abzulehnen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Sie nimmt Bezug auf die Begründung des angegriffenen Bescheides.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte einschließlich der Akte des Hauptsacheverfahrens 5 K 1926/22.A und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">1. Der Antrag, der gemäß § 86 Abs. 3 VwGO auszulegen ist als Antrag,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 5 K 1926/22.A erhobenen Klage gleichen Rubrums gegen die unter Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juni 2022 verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn anzuordnen,</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">hat Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">2. Der gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 34 a Abs. 2 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) statthafte Antrag ist zulässig und insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt worden. Der angegriffene Bescheid vom 30. Juni 2022 wurde dem Antragsteller am 16. August 2022 in der ZUE Wegberg ausgehändigt, so dass der am 23. August 2022 bei Gericht eingegangene Eilantrag innerhalb der Wochenfrist gestellt ist.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">3. Der Antrag ist auch begründet.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen eines Aussetzungsantrags nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse einerseits und dem privaten Interesse des Antragstellers andererseits, von einer Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts - hier der Abschiebungsanordnung - verschont zu bleiben bis zur abschließenden Klärung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme im Hauptsacheverfahren. Die Interessenabwägung hat sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu orientieren, soweit diese sich bei der im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung abschätzen lassen. An der Vollziehung einer offensichtlich rechtswidrigen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen; ist die zu vollziehende Maßnahme rechtmäßig, kann das Interesse an dem Aufschub der Vollziehung regelmäßig als gering veranschlagt werden. Lassen sich die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs nicht abschließend abschätzen, bedarf es einer Abwägung aller relevanten Umstände, insbesondere der Vollzugsfolgen, um zu ermitteln, wessen Interessen für die Dauer des Hauptsacheverfahrens der Vorrang gebührt. Nach diesen Maßstäben fällt die Interessenabwägung zu Gunsten des Antragstellers aus, denn nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse wird sich die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung nach Ungarn voraussichtlich als rechtswidrig erweisen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage der Abschiebungsanordnung ist § 34 a Abs. 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt u.a. dann, wenn ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 29 Abs.  Nr. 1 a) AsylG beurteilt sich die Frage der Zuständigkeit Ungarns nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ‑ sog. Dublin III‑VO. Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß der Dublin III‑VO hat grundsätzlich auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge (vgl. Art. 7 bis 15 Dublin III‑VO) gilt. Stimmt allerdings ein Mitgliedstaat der (Wieder‑)Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe eines der in der Dublin III‑VO genannten Kriterien zu, so ist dieser verpflichtet, den Asylbewerber aufzunehmen; der Asylbewerber hat keinen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">a) Die Dublin III-VO ist anwendbar, da der Antragsteller seinen Asylantrag nach dem 1. Januar 2014 gestellt hat (vgl. Art. 49 Dublin III-VO).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">b) Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser insbesondere im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Nach Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO finden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in der in Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung. Dabei wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt, Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat vorliegend erstmals nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland am 9. Mai 2022 ein Asylgesuch geäußert und am 17. Mai 2022 einen förmlichen Asylantrag gestellt. Das ungarische Schengenvisum war bis zum 15. Mai 2022 gültig und damit im Zeitpunkt der Äußerung des Asylgesuchs noch nicht abgelaufen. Ob der Asylantrag i.S.d. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO bereits gestellt ist, wenn ein Asylgesuch geäußert wird oder erst dann, wenn der Asylantrag förmlich gestellt ist, kann hier offen bleiben, da die Zuständigkeit Ungarns sich in beiden Fällen aus Art. 12 Abs. 2 bzw. 4 Dublin III-VO ergibt. Nach diesen Vorschriften ist grundsätzlich der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, wenn das Visum im Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags noch nicht abgelaufen oder seit weniger als sechs Monaten abgelaufen ist. Die ungarische Dublin Coordination Unit hat auf das unter dem 30. Mai 2022 an sie gerichtete Aufnahmegesuch des Bundesamts nach Art. 21 Dublin III-VO am 23. Juni 2022 das Einverständnis für die Überstellung des Antragstellers unter Bezugnahme auf Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO erteilt.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">c) Eine abweichende Zuständigkeit ist auch nicht aufgrund eines vorrangig zu prüfenden Kriteriums des Kapitels III der Dublin III-VO begründet.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Nach Art. 18 Abs. 1 a) Dublin III-VO ist Ungarn damit grundsätzlich verpflichtet, den Antragsteller nach Maßgabe der Art. 21, 22 und 29 Dublin-III-VO aufzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">d) Die Zuständigkeit Ungarns ist zwischenzeitlich auch nicht entfallen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin ist nicht nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO oder Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags der Antragsteller auf internationalen Schutz zuständig (geworden). Nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, zuständig, wenn er den anderen Mitgliedstaat nicht innerhalb der Fristen des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO um die Aufnahme des Antragstellers ersucht; einschlägig ist hier die Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem das Ersuchen beim Empfänger eingeht, wobei sich dieser regelmäßig aus dem vom "DubliNET"-System ausgestellten Empfangsbekenntnis ergibt,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">vgl.              Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Beschluss vom 6. September 2017 - 11 A 1810/15.A - juris, Rn. 18 ff.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Das Aufnahmegesuch des Bundesamts, aufgrund dessen die ungarischen Behörden sich bereit erklärt haben, den Antragsteller aufzunehmen, ist ausweislich des "DubliNET Proof of Delivery" am 30. Mai 2022 und damit innerhalb der frühestens mit Äußerung des Asylbegehrens am 9. Mai 2022 laufenden Dreimonatsfrist bei den ungarischen Behörden eingegangen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Überstellungfrist des Art. 29 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Auch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO kann nicht gefolgert werden, dass die Antragsgegnerin für die Prüfung des Antrags des Antragstellers zuständig geworden ist. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragsgegnerin beschlossen hat, den Antrag unter Berufung auf Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu prüfen. Dazu genügt insbesondere nicht, dass sie den Antragsteller nach § 25 AsylG - zusätzlich zur Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags - vorsorglich auch zu seinem Verfolgungsschicksal angehört hat,</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">vgl.              Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 4 A 759/18.A –, juris.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">e) Die damit grundsätzlich zu Recht von der Antragsgegnerin vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat wird sich allerdings voraussichtlich mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III‑VO als rechtswidrig erweisen. Nach dieser Vorschrift setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat - hier Ungarn - zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und (bzw. genauer: oder) die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC; ABl. C 83 vom 30. März 2010, S. 389) mit sich bringen. Artikel 4 GRC, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf, hat gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 2010 II, S. 1198).</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. grundlegend zum Begriff der systemischen Mängel: BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - BVerwG 10 B 6.14 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">In diesem Fall kann der Antrag nicht als unzulässig abgelehnt werden, sondern der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat hat weiter zu prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann oder er wird - wie hier - selbst der zuständige Mitgliedstaat, Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 1 und 2 Dublin III-VO.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Für die zu treffende Gefahrenprognose gilt anknüpfend an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK Folgendes:</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des EuGH zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt, Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. grundlegend Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 15. April 2014 - 10 B 17/14 -, juris, Rn. 3 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Gleichgültig ist, ob eine Verletzung des Art. 4 EU-GRCharta zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht. Systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen jedoch nur dann unter Art. 4 EU-GRCharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Die Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Auch kann der bloße Umstand, dass im Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren,</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 ‑ C-163/17 - juris, Rn. 88 ff. und C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - juris, Rn. 81 ff.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben wird sich die von der Antragsgegnerin nach der Dublin III-VO vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen, weil es sich gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer als unmöglich erweist, den Antragsteller nach Ungarn zu überstellen. Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage ist die Kammer der Überzeugung, dass dem Antragsteller infolge der angeordneten Abschiebung nach Ungarn dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens (1.) und der Aufnahmebedingungen (2.) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">(1.) Systemische Mängel des Asylverfahrens liegen vor, wenn der grundsätzliche Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht gewährleistet ist oder das Asylverfahren selbst so ausgestaltet ist, dass eine inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens nicht gewährleistet ist und diese Mängel den Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Ungarn auch selbst treffen könnten.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris, Rn. 33 ff, 39; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 87ff; Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Systemische Mängel des Asylverfahrens setzen nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie sich nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern objektiv voraussehbar auswirken. Ein systemischer Mangel kann daneben auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem - mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis - faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 89ff.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Nach den vorliegenden Erkenntnissen führen sowohl die asylrechtlichen Regelungen als auch ihre Anwendung in der Praxis dazu, dass Schutzsuchenden mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Zugang zum ungarischen Asylverfahren gewährt wird.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Zum Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 104;</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">im Ergebnis ebenso: VG München, Beschluss vom 11. August 2022 - M 30 S 22.50354 -; VG München Beschluss vom 18. Juli 2022 - M 10 S 22.50218;  VG Würzburg, Beschluss vom 9. Februar 2022 - W 1 S 22.50035 -; sämtlich juris;</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">vgl. Rechtsprechung der Kammer: Urteil vom 21. Juli 2022 - 5 K 644/22.A -; Beschlüsse vom 24. März 2022 - 5 L 199/22.A - und  vom 22. Februar 2022 - 5 L 46/22.A -; sämtlich juris.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat bislang in Ungarn keinen Asylantrag gestellt. Nach der aktuellen ungarischen Gesetzeslage und den vorliegenden Erkenntnissen wird es ihm im Rahmen der beabsichtigten Rückführung nach der Dublin III-VO nicht möglich sein, in Ungarn einen Asylerstantrag zu stellen. Es droht vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung ins Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag. Art. 33 Nr. 1 GK enthält das Verbot, einen Flüchtling i.S. des Art. 1 der Konvention "auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde". Im Kontext des Zurückweisungsverbots des Art. 33 GK umfasst der Flüchtlingsbegriff nicht nur diejenigen, die bereits als Flüchtling anerkannt worden sind, sondern auch diejenigen, die die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling erfüllen.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 22. September 2011, Rechtssache C-411/50 -, S. 42, Fn. 48.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich zur Vermeidung einer Verletzung der in der GRC gewährleisteten Rechte auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der GFK und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist,</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10, C-493/10 -, Rn. 75, juris und vom 5. September 2012 - C-71/11, C-99/11 -, Rn. 47, juris.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend verpflichtet Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) die Mitgliedstaaten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Nachdem der EuGH die Unterbringung von Asylsuchenden in Transitzonen an der ungarischen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, erließ die ungarische Regierung einen Erlass, mit dem sie ein neues Asylsystem einführte (Government Decree 233/2020), das sogenannte "Botschaftsverfahren". Dieses neue System wurde später in das Übergangsgesetz aufgenommen, das am 18. Juni 2020 in Kraft trat, zunächst bis zum 31. Dezember 2020 befristet war, mittlerweile aber verlängert wurde.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6; Pro Asyl, Pushbacks an der rumänisch-serbischen EU-Außengrenze, 08.02.2022, abgerufen unter https//www.proasyl.de/news am 21.02.2022.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Kernstück des neuen Systems ist als zwingende Voraussetzung für die Stellung eines Asylantrags in Ungarn die Abgabe einer "Absichtserklärung" ("declaration of intent" - DoI) bei der ungarischen Botschaft in Belgrad/Serbien oder Kiew/Ukraine, wobei aufgrund der aktuellen Kriegssituation Kiew ausscheiden dürfte. Nach dem neuen System müssen Personen, die in Ungarn Asyl beantragen wollen, mit Ausnahme einiger weniger Fallgruppen (siehe dazu unten) folgende Schritte durchlaufen, bevor sie ihren Asylantrag registrieren lassen können:</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">- Persönliche Einreichung eines "DoI" bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">- Das "DoI" muss an die Asylbehörde, die NDGAP (National Directorate-General for Aliens Policing), weitergeleitet werden, die es innerhalb von 60 Tagen prüft.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">- Die NDGAP schlägt der Botschaft vor, eine spezielle, einmalige Einreiseerlaubnis</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">für die Einreise nach Ungarn zum Zwecke der Stellung eines Asylantrags zu erteilen.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">- Wird die Erlaubnis erteilt, muss die Person allein nach Ungarn reisen und sich nach ihrer Ankunft sofort bei den Grenzbeamten melden.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">- Die Grenzbeamten müssen die Person dann der NDGAP vorstellen.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">- Die Person kann dann ihren Asylantrag bei der NDGAP formell registrieren lassen und damit das offizielle Asylverfahren einleiten.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Je nach Genehmigung des "DoI" erhält der potenzielle Asylbewerber eine spezielle Reiseerlaubnis ausgestellt, die es ihm ermöglicht, nach Ungarn zu reisen und einen Asylantrag zu stellen.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Nur Personen, die zu den folgenden Kategorien gehören, müssen das oben beschriebene Verfahren nicht durchlaufen:</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">- Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird und die sich in Ungarn aufhalten.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">- Familienangehörige von Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die sich in Ungarn aufhalten.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">- Personen, die Zwangsmaßnahmen, Maßnahmen oder Strafen unterworfen sind, die die persönliche Freiheit beeinträchtigen, außer wenn sie Ungarn auf "illegale" Weise durchquert haben.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Folglich kann kein Schutzsuchender, der an der ungarischen Grenze ankommt oder illegal nach Ungarn einreist oder sich legal in Ungarn aufhält und nicht zu den drei oben genannten Kategorien gehört, in Ungarn Asyl beantragen.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die Kriterien, nach denen eine Einreiseerlaubnis zum Zwecke der Asylantragstellung von der NDGAP zu erteilen ist, werden nicht benannt.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Fragen, die im Rahmen des "DoI" zu beantworten sind: HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 3.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Das Ungarische Helsinki Komitee berichtet, dass Personen regelmäßig abgewiesen und darüber informiert würden, dass sie auf eine nicht näher definierte "Warteliste" gesetzt seien, um einen Termin zur Abgabe der Absichtserklärung zu erhalten. Einige warteten über 2 Monaten auf diesen Termin. Einige verpassten auch den Termin, da sie kein Englisch sprechen und die Informationen über den Termin per E-Mail auf Englisch verschickt würden, oder weil sie es nicht gewohnt seien, mit E-Mails umzugehen, oder weil sie nicht in der Lage gewesen seien, die Reise zum Termin zu organisieren, da sie in einem Aufnahmezentrum weiter weg von Belgrad untergebracht worden seien. Das Formular "Absichtserklärung" ("DoI") müsse in Englisch oder Ungarisch ausgefüllt werden, ohne dass ein Dolmetscher oder Rechtsbeistand zur Verfügung stehe. Die Entscheidung der NDGAP erfolge ohne Begründung und das Gesetz sehe keinen Rechtsbehelf vor.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.5; HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020; ebenso:.AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 21f, S. 45.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Antragsteller haben in der Phase des "Botschaftsverfahrens" keinen Anspruch auf Einhaltung der in der RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) geregelten (Mindest)Bedingungen für die Aufnahme von Asylsuchenden und sie genießen keinen Schutz; das bedeutet, sie können von den serbischen Behörden inhaftiert, ausgewiesen oder abgeschoben werden.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.7.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Nach einem Bericht von Pro Asyl vom 19. November 2021 sind seit der Einführung des sogenannten Botschaftssystems im Mai 2020 drei iranische Familien, bestehend aus zwölf Personen, mit einer Reisegenehmigung der Botschaft in Belgrad nach Ungarn eingereist.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. Pro Asyl, Ungarn: "Es lohnt sich, den Kampf anzunehmen", abgerufen am 17. Februar 2022 unter https://www.proasyl.de/news.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller fällt als Dublin-Rückkehrer offensichtlich nicht unter die oben genannten Ausnahmegruppen, die in Ungarn ohne vorheriges "Botschaftsverfahren" einen Asylantrag stellen können. Darauf verweist der AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen vom 01. April 2021 ausdrücklich, und zwar auf S. 45 unter Ziffer 2.7.; dort wird ausgeführt: Wenn eine Person, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt hat, nach der Dublin-Verordnung zurückgeschickt wird, muss er/sie nach der Rückkehr einen Asylantrag stellen, aber die derzeit geltenden Rechtsvorschriften lassen diese Möglichkeit nicht zu. "Dublin-Rückkehrer" zählen nicht zu den Ausnahmen, die im ungarischen Hoheitsgebiet einen Asylantrag stellen dürfen.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Soweit das Bundesamt unter Bezugnahme auf den Beschluss des VG Halle</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">vgl. Beschluss vom 19. April 2021 - 4 B 254/21 HAL -, juris,</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">die Auffassung vertritt, der erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn, ist dies durch die vorliegenden Erkenntnisse widerlegt. Der vom Bundesamt zitierte Beschluss des VG Halle stützt sich im Übrigen auf den AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember <span style="text-decoration:underline">2019</span>, der das am 18. Juni 2020 erstmals in Kraft getretene Botschaftsverfahren noch nicht berücksichtigen konnte.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember <span style="text-decoration:underline">2019</span>, dort die - noch anders lautenden - Ausführungen auf S. 42 unter 2.7. zur Situation der Dublin-Rückkehrer.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Auch das von der ungarischen Dublin Coordination Unit auf das Aufnahmegesuch des Bundesamts unter dem 23. Juni 2022 erklärte Einverständnis zur Überstellung des Antragstellers führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn die ungarischen Behörden haben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO nur das Einverständnis für die Überstellung des Antragstellers zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") bzw. die Verantwortung für die Übernahme des Antragstellers ("accepts responsibility for taking charge of the applicants") erklärt. Eine belastbare Zusicherung, dass der Antragsteller den Asylantrag in Ungarn stellen kann und dieser unter Einhaltung der einschlägigen europarechtlichen Regelungen während des Aufenthalts des Antragstellers in Ungarn geprüft wird, beinhaltet diese Erklärung nicht.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Das Bundesamt weist zwar unter Bezugnahme auf den EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97 darauf hin, zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit zur Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, wenn diese nach der Dublin-Überstellung ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten. Es erschließt sich dem Gericht  allerdings nicht, ob dies tatsächlich bedeutet, dass Dublin-Überstellte in Ungarn untergebracht werden und das Asylverfahren dort durchgeführt wird oder ob "nur" das Botschaftsverfahren in Gang gesetzt wird. Offensichtlich hält jedenfalls selbst das Bundesamt diese Stellungnahme nur für eingeschränkt belastbar, denn es erläutert im angegriffenen Bescheid, dass Überstellungen gemäß der Dublin-III-VO nur dann durchgeführt würden, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Trotz der Aufforderung des Bundesamts im Remonstrationsschreiben vom 22. Juni 2022 eine solche individuelle Zusicherung abzugeben, ist diese von den ungarischen Behörden nicht erklärt worden.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen geht auch die Europäische Kommission davon aus, dass Ungarn trotz der Schließung der Transitzonen und des Inkrafttretens neuer asylrechtlicher Regelungen dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. Dezember 2020 in der Rechtssache C-808/18 nicht nachgekommen ist. Im - mittlerweile fünften - Vertragsverletzungsverfahren, das die Europäische Kommission am 12. November 2021 gegen Ungarn wegen des ungarischen Asylrechts eingeleitet hat, macht die Kommission geltend, dass Ungarn dem Urteil in der Rechtssache C-808/18 in mehreren Aspekten noch nicht nachgekommen sei. Insbesondere habe das Land nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um einen effektiven Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten. Ferner habe Ungarn nicht klargestellt, unter welchen Bedingungen im Falle eines Rechtsbehelfs in einem Asylverfahren ein Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet bestehe, wenn keine "durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation" vorliege.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. Zugang zu Asylverfahren: Kommission verklagt Ungarn wegen Nichtbefolgung von EuGH-Urteil und fordert finanzielle Sanktionen, 15.11.2021, juris-Nachrichten.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob grundsätzlich der Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz gewährleistet ist, ist entscheidend für die Frage der systemischen Mängel des Asylverfahrens</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">und ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Sie kann nicht - wie die Antragsgegnerin im angegriffenen Bescheid ausführt - "im Zuge des Überstellungsverfahrens" geklärt werden.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von dem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch das ungarische Asylrecht ausgeschlossenen Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz dürfte das neue Asylsystem nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Überprüfung auch die vom EuGH hinsichtlich der Transitzonen gerügte Praxis der automatischen und rechtswidrigen Inhaftierung von Schutzsuchenden fortsetzen,</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">vgl. insoweit vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19 PPU, C-925/19 PPU -, juris Rn 267ff,</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">denn es sieht vor, dass die Asylbehörde nach der Registrierung des Asylantrags (nach der Ankunft des Asylbewerbers in Ungarn, nachdem ihm aufgrund seiner "Absichtserklärung" ein spezielles einmaliges Einreisedokument erteilt wurde) eine Entscheidung über die Unterbringung des Antragstellers "in einer geschlossenen Einrichtung" trifft. Ähnlich wie bei den Unterbringungsentscheidungen in den - nach dem Urteil des EuGH geschlossenen - Transitzonen gibt es gegen die gesetzlich festgelegte besondere Art der Entscheidung (ungarisch: végzés) über die automatische Unterbringung der Antragsteller "in einer geschlossenen Einrichtung" keinen Rechtsbehelf. Der automatische vierwöchige Gewahrsam betrifft auch unbegleitete Minderjährige unter vierzehn Jahren.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 5.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellte Antragsteller nicht "in einer geschlossenen Einrichtung" untergebracht werden.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Würzburg, Beschluss vom 9. Februar 2022 - W 1 S 22.50035 -, beck-online, Rn 19.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">(2.) Schließlich spricht nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage zudem vieles dafür, dass dem Antragsteller infolge der angeordneten Abschiebung nach Ungarn dort darüber hinaus aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen würde. Nach der Rechtsprechung des EuGH</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">vgl. Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">ist insoweit bereits im Dublin-Verfahren grundsätzlich auch die Situation eines Antragstellers im Falle des Abschlusses des Asylverfahrens durch Zuerkennung von internationalem Schutz zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Für die anerkannt Schutzberechtigten hat die Kammer bereits entschieden, dass jedenfalls für die Situation der Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs in aller Regel nicht davon auszugehen ist, dass sie die für die Schaffung adäquater, menschenwürdiger Lebensverhältnisse in Ungarn erforderliche besondere Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit aufbringen und ihren Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau für den zugrunde zulegenden zeitlich erweiterten Prognosespielraum durch Arbeit sicherstellen können werden.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Vgl. Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris mit Nachweisen zur Erkenntnislage.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich ist dabei eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, um das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) zu ermitteln.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Vgl. BayVGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 - 20 ZB 19.31553 -, juris Rn 10.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Auch wenn es sich vorliegend beim Antragsteller um einen jungen, arbeitsfähigen Mann, also um eine nicht vulnerable Person handelt, ist nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine, der dadurch ausgelösten Flüchtlingswelle in den angrenzenden Staaten, zu denen auch Ungarn gehört, und den anhaltenden Kriegshandlungen fraglich, ob der Antragsteller in der Lage wäre - nach zu unterstellender Gewährung von internationalem Schutz - eine wirtschaftliche Existenzgrundlage auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geforderten Niveau sicherzustellen. Es stehen weder staatliche Unterbringungs- oder Unterstützungsleistungen noch hinreichend gesicherte Leistungen privater Organisationen für anerkannt Schutzberechtigte zur Verfügung und die - durch die Corona-Pandemie ohnehin angespannte - wirtschaftliche Lage Ungarns dürfte sich nach Kriegsausbruch weiter verschlechtert haben.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Lage vor Kriegsausbruch: Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">f) Anhaltspunkte dafür, dass einer Abschiebung des Antragstellers darüber hinaus sog. inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegenstehen, die das Bundesamt im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylG mit zu prüfen hat, und zwar unabhängig davon, ob diese vor oder nach Erlass der Abschiebungsanordnung entstanden sind,</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. September 2014 ‑ 2 BvR 1795/14 ‑, juris; Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 30. August 2011 ‑ 18 B 1060 -, juris Rn. 4,</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden, §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Über den Prozesskostenhilfeantrag war nicht mehr zu entscheiden, da angesichts der mit diesem - unanfechtbaren - Beschluss ausgesprochenen Kostentragungspflicht der Antragsgegnerin insoweit ein Rechtsschutzinteresse nicht mehr besteht.</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
346,581
ovgsh-2022-09-01-3-mb-1322
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3 MB 13/22
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-16T10:00:39"
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Beschluss
ECLI:DE:OVGSH:2022:0901.3MB13.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Beschwerde gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 10. Kammer - vom 21. Juli 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt"><strong>I .</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin begehrt auf presserechtlicher Grundlage Auskunft über geplante mobile Geschwindigkeitsmessungen auf dem Gebiet des Antragsgegners.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Bei der Antragstellerin handelt es sich um einen in Schleswig-Holstein tätigen Zeitungsverlag, zu dessen Medienprodukten unter anderem die Tageszeitung „O. A.“ gehört, die sich insbesondere an Leserinnen und Leser im Kreisgebiet des Antragsgegners richtet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Nach einem vorangegangenen E-Mail-Schriftverkehr zwischen einem Redakteur des Ostholsteiner Anzeigers und der Pressestelle des Antragsgegners machte die Antragstellerin mit Anwaltsschreiben vom 15. März 2022 beim Antragsgegner einen auf das Landespressegesetz (PresseG) gestützten Auskunftsanspruch des Inhalts geltend, dass der Antragsgegner ihr werktäglich die für den nächsten Werktag vorgesehenen Orte und Zeiten bezüglich mobiler und stationärer Radarmessungen im Kreisgebiet übermitteln solle. Die bislang ablehnende Haltung des Antragsgegners sei nicht nachvollziehbar. Es handele sich bei den Radarmessungen um öffentliche Aktivitäten der Kommunalverwaltung, worüber zu berichten Kernaufgabe der freien Presse sei. Die Berichterstattung hierzu liege auch im Allgemeininteresse, da die Autofahrer durch die Bekanntgabe der Standorte der Verkehrsüberwachung angehalten würden, dort besonders vorsichtig zu fahren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 4. April 2022 lehnte der Antragsgegner eine Erteilung der begehrten Auskünfte auf presserechtlicher Grundlage ab. Zur Begründung wurde auf § 4 Abs. 2 Nr. 3 PresseG verwiesen, wonach Auskünfte verweigert werden könnten, soweit ein überwiegendes öffentliches oder ein schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde. Der Zweck verdeckter Geschwindigkeitskontrollen liege in der Prävention von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und in der Funktionsfähigkeit und Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs. Die jederzeitige Möglichkeit solcher Kontrollen und etwaiger Sanktionen solle Verkehrsteilnehmende anhalten, sich nicht nur an den ihnen bekannten Kontrollpunkten, sondern überall an die vorgeschriebene Geschwindigkeit zu halten. Die Bekanntgabe künftiger Geschwindigkeitskontrollen in der Presse würde die so beabsichtigten Wirkungen unterlaufen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Am 13. Juli 2022 hat die Antragstellerin um vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Den von der Antragstellerin begehrten Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem sinngemäßen Antrag,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>dem Antragsgegner aufzugeben, ihr Orte und Zeiten der im Kreis durchzuführenden mobilen Radarmessungen vorab bekannt zu geben,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. Juli 2022, der Antragstellerin am selben Tag zugestellt, abgelehnt. Zur Begründung hat es zum einen das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO hinsichtlich der begehrten Auskünfte als zweifelhaft angesehen. Die seitens der Antragstellerin begehrte Verpflichtung des Antragsgegners zu einer dauerhaften, zeitlich und inhaltlich unbegrenzten sowie proaktiven Informationsverschaffung in Bezug auf Radarmessungen werde von der Anspruchsgrundlage des § 4 Abs. 1 PresseG nicht getragen. Das Auskunftsrecht nach dem Pressegesetz betreffe das Ersuchen um Einzelauskunft in einem konkreten Fall. Zum anderen habe die Antragstellerin auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, der die begehrte Vorwegnahme der Hauptsache tragen könne, nicht glaubhaft gemacht. Es sei nicht ersichtlich, dass der Themenbereich „Radarmessungen“ einen Aktualitätsbezug aufweise, der dazu führe, dass es nach dem Abschluss eines etwaigen Hauptsacheverfahrens an der Relevanz für eine Berichterstattung fehle.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde vom 2. August 2022, die sie mit Schriftsätzen vom 22. und 23. August 2022 ergänzend begründet hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Sie reagiert auf die Begründung des Verwaltungsgerichts mit der Beschränkung ihrer Auskunftsanträge auf bestimmte Zeiträume im September 2022. Damit sei auch die Eilbedürftigkeit offenkundig und der Verweis auf ein Hauptsacheverfahren nicht zumutbar. Die tägliche Durchführung von Radarmessungen sei eine Angelegenheit von gesteigertem öffentlichen Interesse. In einem ländlich strukturierten Kreis wie dem Antragsgegner seien die meisten Einwohner auf die Nutzung ihrer PKW angewiesen, weshalb es ständiges Gesprächsthema sei, wann und wo „geblitzt“ werde. Ergänzend verweist die Antragstellerin darauf, dass ein anderer Kreis in Schleswig-Holstein sich bereits entschlossen habe, die Standorte mobiler Geschwindigkeitsmessanlagen vorab bekannt zu geben. Der Bericht hierüber sowie die Veröffentlichung der Zeitpunkte und Standorte der Geschwindigkeitsmessungen hätten in den Online-Ausgaben der in dem betreffenden Kreis erscheinenden Lokalzeitungen zu den meistgelesenen Beiträgen gehört. Dies belege das hohe Öffentlichkeitsinteresse. Die Aktivität des anderen Kreises zeige außerdem, dass es kein dem Auskunftsanspruch entgegenstehendes öffentliches Interesse gebe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin beantragt nunmehr wörtlich,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">unter Aufhebung des Beschlusses vom 21. Juli 2022 dem Antragsgegner aufzugeben, ihr bekannt zu geben, an welchen Orten und zu welchen Zeiten im September 2022 im L. O. mobile Radarmessungen durchgeführt werden,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">hilfsweise,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">dem Antragsgegner aufzugeben, ihr bekannt zu geben, an welchen Orten und zu welchen Zeiten in der Zeit vom 5. bis 20. September 2022 im L. O. mobile Radarmessungen durchgeführt werden,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">hilfsweise,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">dem Antragsgegner aufzugeben, ihr bekannt zu geben, an welchen Orten und zu welchen Zeiten am 5. September 2022 im L. O. mobile Radarmessungen durchgeführt werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Beschwerde zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Er ist der Auffassung, es bestehe schon kein gesteigertes öffentliches Interesse an den begehrten Informationen, da diese lediglich auf das private Interesse derjenigen Personen stießen, die beabsichtigten, gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen zu verstoßen. Um mit seinem PKW im Kreisgebiet unterwegs sein zu können, seien Vorabinformationen über Geschwindigkeitskontrollen nicht erforderlich. Die Antragsumstellung durch die Antragstellerin ziele, sofern sie überhaupt prozessual zulässig sei, im Übrigen auch weiterhin darauf ab, ihn, den Antragsgegner, zu einer bestimmten Art von Öffentlichkeitsarbeit zu verpflichten. Aus der proaktiven Bekanntgabe der Standorte mobiler Geschwindigkeitsmessanlagen durch andere Kreise könne die Antragstellerin nichts für sich herleiten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde bleibt mit dem Haupt- sowie den Hilfsanträgen ohne Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, die allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), stellen das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die fristgerecht erhobene und begründete Beschwerde ist auch sonst zulässig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Ihre Unzulässigkeit folgt insbesondere nicht daraus, dass die Antragstellerin mit der Beschwerdeschrift gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren anderslautende Sachanträge formuliert hat. Auf die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine Antragsänderung im Beschwerdeverfahren überhaupt zulässig ist (vgl. dazu Beschl. d. Senats v. 15.07.2022 - 3 MB 11/22 -, noch n. v., BA S. 3 m. w. N.), kommt es in der vorliegenden Konstellation nicht an. Eine Klage- beziehungsweise Antragsänderung im Sinne von § 91 Abs. 1 VwGO liegt nämlich gemäß § 264 Nr. 2 ZPO, der über § 173 Satz 1 VwGO entsprechend zur Anwendung kommt, nicht vor, wenn der Klageantrag in der Hauptsache oder in Bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird. Das bedeutet, dass derartige Änderungen ohne weiteres zulässig sind, wenn bei unverändertem Klagegrund ein „Mehr“ oder ein „Weniger“ – nicht jedoch ein „Aliud“ – verfolgt wird (vgl. Wöckel, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 91 Rn. 13). Die genannten Erweiterungen oder Beschränkungen werden ohne Rücksicht auf ihre dogmatische Einordnung privilegiert, ihre Sachdienlichkeit ist gesetzlich vorgesehen (vgl. Stuhlfauth, in: Bader/ Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 91 Rn. 5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Um eine solche unproblematisch zulässige Beschränkung handelt es sich auch hier.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">Die Antragstellerin hat einen Beschwerdeantrag anhängig gemacht, der ihr in erster Instanz zunächst uneingeschränkt geltend gemachtes Begehren in zeitlicher und damit in quantitativer Hinsicht reduziert, ohne dass es auf eine andere materiellrechtliche Grundlage gestützt oder in der Sache etwas anderes begehrt würde als im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht. Auf die Frage der Sachdienlichkeit braucht daher nicht gesondert eingegangen zu werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Der Antragstellerin steht auch ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite. Namentlich kann ihr nicht entgegengehalten werden, dass sie den Antragsgegner nicht vorprozessual mit ihrem im Beschwerdeverfahren abweichend formulierten Auskunftsbegehren befasst hat. Es spricht bereits Vieles dafür, dass das nunmehrige Ansinnen als „Minus“ bereits in dem ursprünglichen Antrag an den Antragsgegner enthalten war und deshalb eine erneute Befassung der Behörde damit entbehrlich ist. Jedenfalls wäre es aber in der vorliegenden Konstellation eine unnötige Förmlichkeit, eine erneute behördliche Vorbefassung zu verlangen. Es besteht nämlich dann kein Anlass, das Rechtsschutzbedürfnis für einen unmittelbar im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO gestellten Antrag in Abrede zu stellen, wenn die Behörde auf Antragsgegnerseite eindeutig zu erkennen gegeben hat, dass sie einen an sie gerichteten derartigen Antrag ablehnen würde, dieser also offensichtlich aussichtslos wäre (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 34; Buchheister, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 123 Rn. 13; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 95; in diese Richtung auch BVerwG, Beschl. v. 22.11.2021 - 6 VR 4.21 -, juris Rn. 10 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Auch vorliegend hat sich der Antragsgegner vorprozessual sowie im erstinstanzlichen und im Beschwerdeverfahren unmissverständlich dahingehend geäußert, dass er die Voraussetzungen des seitens der Antragstellerin geltend gemachten presserechtlichen Auskunftsanspruchs dem Grunde nach nicht als gegeben ansieht, da er Auskünfte dieser Art und Weise nicht für von der Rechtsgrundlage des § 4 Abs. 1 PresseG umfasst hält und darüber hinaus annimmt, dass schutzwürdige öffentliche Interessen der Auskunftserteilung entgegenstehen. Angesichts dessen ist nicht davon auszugehen, dass er sich auf eine positive Bescheidung des Antrags allein aufgrund der Beschränkung des Auskunftsbegehrens auf bestimmte Zeiträume einlassen würde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde ist mit dem Haupt- und den Hilfsanträgen jedoch unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin hat das Bestehen eines Anordnungsgrundes, welchen das Verwaltungsgericht hinsichtlich des erstinstanzlichen Begehrens nicht als gegeben ansah, auch hinsichtlich des neu gefassten Antrags nicht dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Erforderlich ist danach neben der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Letzteres bedeutet, dass es eines spezifischen rechtlichen Grundes dafür bedarf, dass Rechtsschutz nicht erst im regulären Hauptsacheverfahren, sondern – und sei es nur vorläufig – im Eilverfahren gewährt wird (vgl. Schoch, in: ders./Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand Februar 2022, § 123 VwGO Rn. 76). Der Anordnungsgrund bezeichnet – verkürzt ausgedrückt – die Dringlichkeit der Sache (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 53; Bostedt, in: Fehling/Kastner/Störmer, Hk-Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 123 VwGO Rn. 70).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Wird mit der begehrten Regelung die Hauptsache vorweggenommen, gelten zum einen gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, indem ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit dafür sprechen muss, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist. Zum anderen kommt eine Vorwegnahme der Hauptsache nur in Betracht, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden, die eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigen könnte (vgl. Beschl. d. Senats v. 31.01.2022 - 3 MB 1/22 -, juris Rn. 10 m. w. N.). Das Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen macht – im Sinne des Anordnungsgrundes – die vorläufige gerichtliche Entscheidung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes erst notwendig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Der Anordnungsgrund wird maßgeblich durch die Art und Bedeutung des Anordnungsanspruchs mitbestimmt (vgl. Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 108 m. w. N.). An das Vorliegen eines Anordnungsgrundes in presserechtlichen Auskunftsverfahren dürfen mit Blick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie das von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG mitumfasste Selbstbestimmungsrecht der Presse hinsichtlich der Themenauswahl und der Entscheidung, ob eine Berichterstattung zeitnah erfolgen soll, keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Erforderlich und zugleich ausreichend ist es, wenn ein gesteigertes öffentliches Interesse und ein starker Gegenwartsbezug der Berichterstattung vorliegen. Demnach darf ein Verweis auf das Hauptsacheverfahren nicht dazu führen, dass eine begehrte Auskunft mit starkem Aktualitätsbezug ihren Nachrichtenwert verliert und allenfalls noch von historischem Interesse ist (siehe zum Vorstehenden: BVerwG, Beschl. v. 23.03.2021 - 6 VR 1.21 -, juris Rn. 12; Kuhla, in: Beck’scher Online-Kommentar VwGO, Stand: 01.07.2022, § 123 Rn. 100s, jeweils m. w. N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Bei Zugrundelegung dieser Maßgaben lässt sich dem Vorbringen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren kein Anordnungsgrund, der ausnahmsweise die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen würde, entnehmen. Die „offenkundige Eilbedürftigkeit“ des Auskunftsverlangens, auf die die Antragstellerin sich bezieht, ist durch die Antragstellerin selbst erzeugt worden, indem sie ihren Antrag, auf presserechtlicher Grundlage künftig die Daten und Standorte der mobilen Geschwindigkeitsmessungen im Kreisgebiet des Antragsgegners mitgeteilt zu bekommen, auf den Monat September 2022, hilfsweise auf einen mehrwöchigen Zeitraum im Monat September, hilfsweise auf einen Tag im September beschränkt hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Es trifft zwar zu, dass das Vorliegen der in dieser Form geforderten Information nach Ablauf des Monats September beziehungsweise der noch kürzeren Zeiträume für die Antragstellerin von geringem Wert ist, der Verweis auf ein Hauptsacheverfahren also dazu führte, dass die begehrten Daten und Messstandorte ihren Nachrichtenwert weitgehend verlören. Die Antragstellerin hat es indes – ungeachtet der Frage, ob überhaupt ein Anordnungsanspruch gegeben ist – verabsäumt, darzulegen, warum sie für eine effektive Presseberichterstattung gerade die Aufstellorte und Messzeitpunkte mobiler Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen in den nunmehr angefragten Zeiträumen benötigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin zeigt mit ihrer neuen Antragstellung keinen konkreten Aktualitätsbezug auf, sondern wählt die Zeiträume als Reaktion auf die Begründung des Verwaltungsgerichts, dass das Abwarten eines Hauptsacheverfahrens zumutbar sei, weil sich das Thema „Radarmessungen“ wegen deren fortdauernder Durchführung nicht erledigen werde. Die Zeiträume im September 2022 werden jedoch nicht weiter in Beziehung zu einem aktuellen Berichterstattungsanlass gesetzt. Das Vorbringen der Antragstellerin zu dem gesteigerten öffentlichen Interesse an den Standorten mobiler Radarmessgeräte in einem ländlich strukturierten Kreisgebiet wie dem des Antragsgegners, wo viele Menschen auf die Nutzung eines PKW angewiesen seien, bleibt allgemein und erklärt nicht, weshalb es gerade auf die angefragten Zeiträume ankommen soll, sodass jene gleichsam aus der Luft gegriffen erscheinen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin verkennt, dass es für die Begründung einer Eilbedürftigkeit und somit für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes für sich genommen nicht ausreicht, die streitgegenständlichen Auskünfte für einen in naher Zukunft liegenden Zeitraum zu begehren. Sie ist auch insoweit zur Darlegung angehalten, warum sie für eine jetzige Berichterstattungsabsicht sogleich Auskunft benötigt und warum eine Berichterstattung ohne die Auskunft in nicht hinzunehmender Weise erschwert wird. Hierfür reichen allgemein gehaltene pauschale Hinweise auf ein allgemeines Öffentlichkeitsinteresse an dem Thema regelmäßig nicht aus (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 03.08.2017 - 6 S 12.17 -, juris Rn. 10 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Etwas anderes ergibt sich – auch und gerade im Hinblick auf die streitigen Zeiträume, für die Auskunft verlangt wird – nicht aus der von der Antragstellerin vorgelegten Medienberichterstattung (aus ihrem eigenen Verlag) darüber, dass sich der Krs. R……. entschlossen hat, die Zeitpunkte und Aufstellorte mobiler Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen künftig proaktiv vorab bekannt zu geben, und der behaupteten Resonanz hierauf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Das hohe Leserinteresse an dem Beitrag vom 6. August 2022, der ein Interview mit dem zuständigen Fachbereichsleiter des Krs. R…… sowie die Standorte mobiler Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen des Kreises in der 32. Kalenderwoche enthielt, ist nicht geeignet, ein gesteigertes öffentliches Interesse und einen hohen Aktualitätsbezug gerade im Hinblick auf die nunmehr vom Antragsgegner verlangten Auskünfte zu belegen. Die beanspruchten Informationen sind erkennbar nicht notwendig, damit in den Medienprodukten der Antragstellerin darüber berichtet werden kann, dass sich in jüngerer Zeit einige Gebietskörperschaften innerhalb und außerhalb Schleswig-Holsteins dazu entschlossen haben, von sich aus die Standorte eigener mobiler Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen bekannt zu geben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Ohnedies zeigt der Umstand einer Berichterstattung zu einem Thema im Allgemeinen noch keine Eilbedürftigkeit der Erteilung presserechtlicher Auskünfte im konkreten Fall auf. Insbesondere, wenn so genannte Dauerthemen betroffen sind, vermag ein zeitbezogener Anlasssachverhalt für sich genommen nicht regelmäßig den für die Eilbedürftigkeit des Auskunftsanspruchs zu fordernden starken Gegenwartsbezug zu begründen (vgl. Söder, in: Beck’scher Online-Kommentar Informations- und Medienrecht, Stand: 01.05.2022, Art. 4 BayPrG Rn. 32; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 24.05.2018 - 6 S 13.18 -, juris Rn. 8 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>So verhält es sich auch hier. Dem Verwaltungsgericht ist zuzustimmen, wenn es – vor dem Hintergrund des erstinstanzlich gestellten Antrags – ausführt, dass sich das Thema „Radarmessungen“ bis auf weiteres, insbesondere bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens, nicht erledigen wird (BA S. 6), es sich also um ein „Dauerthema“ handelt. Dem tritt die Beschwerde lediglich durch die Antragsbeschränkung, nicht aber inhaltlich entgegen. Die Beschränkung des geltend gemachten Auskunftsanspruchs auf Zeiträume im September 2022 erscheint lediglich aus prozesstaktischer Sicht nachvollziehbar. Der Senat vermag nach den allgemein gehaltenen Darlegungen der Antragstellerin jedoch nicht zu erkennen, dass tatsächlich ein gegenüber der sonstigen Bedeutung des Themas gesteigertes öffentliches Interesse an der Aktivität des Antragsgegners im Bereich der Geschwindigkeitsüberwachung gerade im Monat September 2022 beziehungsweise insoweit ein besonderer Gegenwartsbezug besteht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,571
lg-hagen-2022-09-01-1-t-11322
{ "id": 810, "name": "Landgericht Hagen", "slug": "lg-hagen", "city": 430, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
1 T 113/22
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-15T10:01:19"
"2022-10-17T11:10:10"
Beschluss
ECLI:DE:LGHA:2022:0901.1T113.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 25.05.2022 – 44 M 536/22 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.</p> <p>Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G R Ü N D E</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin hat in der Sache keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 17.03.2022 beauftragte die Gläubigerin den Gerichtsvollzieher zunächst mit der Abnahme der Vermögensauskunft gemäß § 5a VwVG NRW in Verbindung mit § 802c ZPO. In dem Vollstreckungsauftrag bescheinigt die Gläubigerin zugleich die Vollstreckbarkeit einer Forderung in Höhe von 2.492,40 €. In der in Bezug genommenen Forderungsaufstellung sind Musikschulgebühren, Kostenbeiträge im Rahmen von Hilfe zur Erziehung und eine Forderung gem. § 5 UVG zzgl. Nebenkosten enthalten. Wegen des Vollstreckungsauftrags wird auf den als Ablichtung aus der beigezogenen Sonderakte des Gerichtsvollziehers D (DR II 333/22) zur Gerichtsakte genommenen elektronischen Posteingang vom 17.03.2022 Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Vollstreckungsauftrag ist maschinenschriftlich mit dem Namen der verantwortlichen Person, jedoch nicht mit einem Dienstsiegel versehen. Er wurde elektronisch über das besondere elektronische Behördenpostfach übersandt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Nach einem kurzen Schriftwechsel zwischen dem Gerichtsvollzieher und der Gläubigerin lehnte der Gerichtsvollzieher den Auftrag mit Schreiben vom 05.05.2022 ab und führte zur Begründung aus, dass auch elektronisch eingereichte Vollstreckungsaufträge mit einem Dienstsiegel zu versehen seien.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Daraufhin wandte sich die Gläubigerin mit Schreiben vom 06.05.2022 an den Gerichtsvollzieher und vertrat die Auffassung, der Vollstreckungsauftrag müsse nicht in gesiegelter Form eingereicht werden. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass sie seit dem 01.01.2022 gem. § 130d ZPO schriftlich einzureichende Anträge als elektronisches Dokument übersenden müsse. Gemäß § 130a Abs. 3, 4 ZPO sei bei Nutzung eines sicheren Übertragungswegs eine qualifizierte elektronische Signatur nicht erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Gerichtsvollzieher legte die Eingabe der Gläubigerin vom 06.05.2022 als Erinnerung aus, half dieser nicht ab, sondern gab die Sache mit Schreiben vom 09.05.2022 an das zuständige Amtsgericht Hagen ab.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Auf Nachfrage bestätigte die Gläubigerin mit Schreiben vom 20.05.2022 gegenüber dem Amtsgericht Hagen, dass die Eingabe vom 06.05.2022 als Erinnerung gemäß § 766 Abs. 2 ZPO zu verstehen sei. Zu ihrer Rechtsauffassung führte die Gläubigerin weiter aus, es liege ein ordnungsgemäßer Auftrag vor. Der Vollstreckungsauftrag sei über das besondere elektronische Behördenpostfach übermittelt worden, was einen sicheren Übermittlungsweg im Sinne des § 130a Abs. 4 Nr. 3 ZPO darstelle. Aus diesem Grund reiche eine einfache Signatur der verantwortlichen Person aus. Etwas anderes ergebe sich nicht aus § 5a Abs. 4 S. 2 VwVG NRW. Danach seien nur solche Vollstreckungsaufträge mit einem Dienstsiegel zu versehen, die mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellt worden seien. Unter diese Ausnahmeregelung fielen nur solche Verwaltungsakte, bei denen bereits die Regelung selbst automatisch erstellt werde. Dies sei nur bei einer vollautomatischen Bescheid- bzw. Auftragserstellung der Fall, die hier nicht vorliege.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat die Erinnerung der Gläubigerin mit Beschluss vom 25.05.2022 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Vorgehen des Gerichtsvollziehers sei nicht zu beanstanden. Aus § 5a Abs. 4 S. 2 VwVG ergebe sich, dass grundsätzlich Dienstsiegel und Unterschrift erforderlich seien und nur das Unterschriftserfordernis bei Massenverfahren entfalle. An dem Erfordernis des Dienstsiegels ändere sich auch durch die Vorschrift des § 130a ZPO nichts. Diese Norm regele lediglich die vorgeschriebene Art der Übermittlung, nicht hingegen die Anforderungen an die Erklärung über die Vollstreckbarkeit der Forderung.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Gegen den ihr am 02.06.2022 zugestellten Beschluss des Amtsgerichts wendet sich die Gläubigerin mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 15.06.2022. Eine weitere Begründung durch die Gläubigerin erfolgte nicht.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Gläubigerin hat hilfsweise für den Fall, dass das Beschwerdegericht von ihrer Rechtsauffassung abweichen möchte, beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die zulässige sofortige Beschwerde der Gläubigerin ist unbegründet. Zutreffend hat das Amtsgericht die Erinnerung der Gläubigerin gegen die Ablehnung des Vollstreckungsauftrags durch den Gerichtsvollzieher zurückgewiesen. Der Gerichtsvollzieher hat den Vollstreckungsauftrag zurecht abgelehnt, weil der Vollstreckungsauftrag, der auch die Erklärung der Vollstreckungsbehörde über die Vollstreckbarkeit enthielt, nicht mit einem Dienstsiegel versehen war.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong></p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Zwangsvollstreckung erfordert grundsätzlich die Übergabe der vollstreckbaren Ausfertigung des Titels gemäß § 754 ZPO. Hiervon abweichend wird bei Vollstreckungsaufträgen in der Verwaltungsvollstreckung gemäß § 5a Abs. 4 S. 1 VwVG NRW die Übergabe der vollstreckbaren Ausfertigung ersetzt durch die schriftliche Erklärung der Vollstreckungsbehörde über die Vollstreckbarkeit. Da der Vollstreckungsauftrag in Verbindung mit der Vollstreckbarkeitserklärung die alleinige Voraussetzung für die Anordnung von staatlichem Zwang und damit die einzige Urkunde ist, die der Gerichtsvollzieher und das Vollstreckungsgericht erhalten, dürfen keine Zweifel an seiner Echtheit bestehen. Aus diesem Grund ist der Vollstreckungsauftrag mit einer Unterschrift und einem Dienstsiegel zu versehen (vgl. BGH, Beschluss vom 18.12.2014 – I ZB 27/14, NJW 2015, 2268 Rn. 16).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Erfordernis eines Dienstsiegels besteht nach der vorstehend zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich und entgegen den rechtlichen Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht nur für Vollstreckungsaufträge, die mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellt wurden. Nichts anderes folgt aus dem insoweit durchaus missverständlich formulierten § 5a Abs. 4 VwVG NRW, der in Satz 1 allgemein lediglich die „schriftliche Erklärung“ über die Vollstreckbarkeit fordert, während nach den Sätzen 2 und 3 gerade ein mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellter Vollstreckungsauftrag mit einem Dienstsiegel und dem Namen des zuständigen Bediensteten zu versehen ist, wobei es keiner Unterschrift bedarf.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vor dem Hintergrund des bereits beschriebenen Bedürfnisses, keinen Zweifel an der Echtheit der Erklärung über die Vollstreckbarkeit zuzulassen, kann nach Sinn und Zweck der Norm in § 5a Abs. 4 S. 2 und 3 VwVG NRW nur eine Erleichterung für Masseverfahren gesehen werden, in denen auf die Unterschrift verzichtet werden kann. Diesem Zweck liefe es entgegen, wenn zwar das Unterschriftenerfordernis in diesen Fällen wegfiele, jedoch eine andere Voraussetzung – die Anbringung eines Dienstsiegels – zusätzlich hinzukäme.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dies entspricht auch der Intention des Landesgesetzgebers. So heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 5a Abs. 4 S. 2 und 3 VwVG NRW (Landtag NRW, Drucksache 16/11845, S. 32):</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">„<em>Auch bei einem mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellen Vollstreckungsauftrag ist ein Dienstsiegel (im Gegensatz zur Unterschrift) künftig weiterhin erforderlich.</em>“</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber bei der Einführung der Erleichterung durch § 5a Abs. 4 S. 2 und 3 VwVG NRW davon ausging, dass auch bei einem nicht automatisiert erstellten Vollstreckungsauftrag die Anbringung eines Dienstsiegels erforderlich sei und dieses Erfordernis – im Gegensatz zum Unterschriftenerfordernis – fortbestehen solle. Hinzu kommt, dass die Gesetzesbegründung ausdrücklich auf die zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.12.2014 (I ZB 27/14) Bezug nimmt, aus der – wie bereits dargelegt – das Erfordernis der dienstlichen Siegelung hervorgeht.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong></p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass Vollstreckungsaufträge von Behörden gemäß den §§ 753 Abs. 4, Abs. 5, 130a, 130d ZPO als elektronisches Dokument einzureichen sind, führt nicht dazu, dass das Erfordernis eines Dienstsiegels entfallen würde.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Tatsächlich ist die Gläubigerin als Behörde gemäß §§ 753 Abs. 4, Abs. 5, 130d ZPO verpflichtet, Vollstreckungsaufträge als elektronisches Dokument einzureichen, wobei nach § 130a Abs. 3, Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ZPO bei der Nutzung eines sicheren Übermittlungsweges – hier über das besondere elektronische Behördenpostfach und die elektronische Poststelle des Gerichts – die einfache Signatur der verantwortlichen Person ausreicht. Die Übermittlung eines elektronischen Dokuments nach den vorstehenden Maßgaben führt dazu, dass das prozessuale Schriftlichkeitsgebot gewahrt wird, indem fingiert wird, dass das eingegangene Dokument der Schriftform entspricht (vgl. Ulrici, in: BeckOK-ZPO, 45. Edition, Stand: 01.07.2022, § 753 Rn. 20). Über die Schriftform hinausgehende Formerfordernisse werden durch die elektronische Übermittlung hingegen nicht berührt, da die elektronische Übermittlung nach Maßgabe des § 130a ZPO nur das Schriftformerfordernis ersetzt (vgl. Greger, in: Zöller-ZPO, 34. Auflage 2022, § 130a Rn. 2).</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Das nach den vorstehenden Ausführungen unter Ziffer III. 1. bei Vollstreckungsaufträgen einer Behörde in Verbindung mit der Vollstreckbarkeitserklärung erforderliche Anbringen eines Dienstsiegels wird somit nicht durch die elektronische Übermittlung des Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg entbehrlich.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Denn das Dienstsiegel gibt über die Unterschriftsleistung hinaus dem Empfänger die Gewähr dafür, dass die Wirksamkeit der Erklärung maßgebenden Vorschriften eingehalten sind. Die Beifügung des Stempels oder Siegels der Behörde begründet eine erhöhte Gewähr für die Ordnungsmäßigkeit der Erklärung (OLG Dresden Beschl. v. 29.4.2015 – 17 W 415/15 - BeckRS 2015, 13319). Die Kammer geht davon aus, dass diese für ein nach § 29 Abs. 3 GBO erforderliches Dienstsiegel erfolgten Rechtsausführungen auf den vorliegenden Fall des Erfordernisses der Siegelung des Vollstreckungsauftrags gem. § 5a Abs. 4 VwVG NRW übertragbar sind, da in beiden Fällen das Dienstsiegel die Funktion übernimmt, besondere Gewähr für die Ordnungsgemäßheit des Verfahrens und der Erklärung.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beschwerdeführerin ausführt, gem. § 130a ZPO sei keine qualifizierte Signatur erforderlich, ist dies zutreffend, führt aber zu keinem anderen Ergebnis. Das Fehlen einer qualifizierten Signatur wurde weder vom Gerichtsvollzieher noch vom Vollstreckungsgericht gerügt.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong></p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall entspricht somit der von der Gläubigerin in elektronischer Form übermittelte Vollstreckungsauftrag in Verbindung mit der Vollstreckbarkeitserklärung nicht den von § 5a Abs. 4 VwVG NRW vorgesehenen Anforderungen, sodass der Auftrag durch den Gerichtsvollzieher richtigerweise zurückzuweisen war. Zwar ist die Schriftform des Vollstreckungsauftrags trotz der einfachen Signatur gewahrt, indem das Dokument über einen sicheren Übermittlungsweg nach § 130a Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ZPO übermittelt wurde. Dem Dokument fehlt jedoch das erforderliche Dienstsiegel.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks"><strong>IV.</strong></p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, wobei die Gläubigerin nach § 122 Abs. 1 Nr. 2 JustG NRW Gebührenfreiheit genießt.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><strong>V.</strong></p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat die Rechtsbeschwerde gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zugelassen. Die Rechtsfrage, ob ein Vollstreckungsauftrag in Verbindung mit einer Vollstreckbarkeitserklärung nach § 5a Abs. 4 VwVG NRW trotz seiner elektronischen Übermittlung über einen sicheren Übermittlungsweg mit einem Dienstsiegel versehen sein muss, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Gerade seit dem Inkrafttreten des § 130d ZPO wird in der Praxis immer wieder die vom Beschwerdegericht für unzutreffend erachtete Auffassung vertreten, dass bei elektronischer Übermittlung über einen sicheren Übermittlungsweg das Erfordernis einer Siegelung des Vollstreckungsauftrags gem. § 5a Abs. 4 VwVG NRW entfalle.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Es ist zu erwarten, dass die hier für klärungsbedürftig erachtete Frage in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen auftreten wird, weshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt ist. Die Frage ist – soweit ersichtlich – bislang höchstrichterlich nicht geklärt.</p>
346,570
lg-hagen-2022-09-01-3-t-11322
{ "id": 810, "name": "Landgericht Hagen", "slug": "lg-hagen", "city": 430, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
3 T 113/22
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-15T10:01:18"
"2022-10-17T11:10:10"
Beschluss
ECLI:DE:LGHA:2022:0901.3T113.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 25.05.2022 – 44 M 536/22 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.</p> <p>Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td colspan="3"><p><strong>Abschrift</strong></p> </td> <td></td> </tr> <tr><td><p>1 T 113/2244 M 536/22Amtsgericht Hagen</p> </td> <td><p><img height="144" width="129" src="3_T_113_22_Beschluss_20220901_0.png" alt="Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik." /></p> </td> <td colspan="2"></td> </tr> </tbody> </table> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>Landgericht HagenBeschluss</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G R Ü N D E</span></strong></p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin hat in der Sache keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 17.03.2022 beauftragte die Gläubigerin den Gerichtsvollzieher zunächst mit der Abnahme der Vermögensauskunft gemäß § 5a VwVG NRW in Verbindung mit § 802c ZPO. In dem Vollstreckungsauftrag bescheinigt die Gläubigerin zugleich die Vollstreckbarkeit einer Forderung in Höhe von 2.492,40 €. In der in Bezug genommenen Forderungsaufstellung sind Musikschulgebühren, Kostenbeiträge im Rahmen von Hilfe zur Erziehung und eine Forderung gem. § 5 UVG zzgl. Nebenkosten enthalten. Wegen des Vollstreckungsauftrags wird auf den als Ablichtung aus der beigezogenen Sonderakte des Gerichtsvollziehers D (DR II 333/22) zur Gerichtsakte genommenen elektronischen Posteingang vom 17.03.2022 Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Vollstreckungsauftrag ist maschinenschriftlich mit dem Namen der verantwortlichen Person, jedoch nicht mit einem Dienstsiegel versehen. Er wurde elektronisch über das besondere elektronische Behördenpostfach übersandt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach einem kurzen Schriftwechsel zwischen dem Gerichtsvollzieher und der Gläubigerin lehnte der Gerichtsvollzieher den Auftrag mit Schreiben vom 05.05.2022 ab und führte zur Begründung aus, dass auch elektronisch eingereichte Vollstreckungsaufträge mit einem Dienstsiegel zu versehen seien.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Daraufhin wandte sich die Gläubigerin mit Schreiben vom 06.05.2022 an den Gerichtsvollzieher und vertrat die Auffassung, der Vollstreckungsauftrag müsse nicht in gesiegelter Form eingereicht werden. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass sie seit dem 01.01.2022 gem. § 130d ZPO schriftlich einzureichende Anträge als elektronisches Dokument übersenden müsse. Gemäß § 130a Abs. 3, 4 ZPO sei bei Nutzung eines sicheren Übertragungswegs eine qualifizierte elektronische Signatur nicht erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Gerichtsvollzieher legte die Eingabe der Gläubigerin vom 06.05.2022 als Erinnerung aus, half dieser nicht ab, sondern gab die Sache mit Schreiben vom 09.05.2022 an das zuständige Amtsgericht Hagen ab.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Auf Nachfrage bestätigte die Gläubigerin mit Schreiben vom 20.05.2022 gegenüber dem Amtsgericht Hagen, dass die Eingabe vom 06.05.2022 als Erinnerung gemäß § 766 Abs. 2 ZPO zu verstehen sei. Zu ihrer Rechtsauffassung führte die Gläubigerin weiter aus, es liege ein ordnungsgemäßer Auftrag vor. Der Vollstreckungsauftrag sei über das besondere elektronische Behördenpostfach übermittelt worden, was einen sicheren Übermittlungsweg im Sinne des § 130a Abs. 4 Nr. 3 ZPO darstelle. Aus diesem Grund reiche eine einfache Signatur der verantwortlichen Person aus. Etwas anderes ergebe sich nicht aus § 5a Abs. 4 S. 2 VwVG NRW. Danach seien nur solche Vollstreckungsaufträge mit einem Dienstsiegel zu versehen, die mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellt worden seien. Unter diese Ausnahmeregelung fielen nur solche Verwaltungsakte, bei denen bereits die Regelung selbst automatisch erstellt werde. Dies sei nur bei einer vollautomatischen Bescheid- bzw. Auftragserstellung der Fall, die hier nicht vorliege.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat die Erinnerung der Gläubigerin mit Beschluss vom 25.05.2022 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Vorgehen des Gerichtsvollziehers sei nicht zu beanstanden. Aus § 5a Abs. 4 S. 2 VwVG ergebe sich, dass grundsätzlich Dienstsiegel und Unterschrift erforderlich seien und nur das Unterschriftserfordernis bei Massenverfahren entfalle. An dem Erfordernis des Dienstsiegels ändere sich auch durch die Vorschrift des § 130a ZPO nichts. Diese Norm regele lediglich die vorgeschriebene Art der Übermittlung, nicht hingegen die Anforderungen an die Erklärung über die Vollstreckbarkeit der Forderung.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gegen den ihr am 02.06.2022 zugestellten Beschluss des Amtsgerichts wendet sich die Gläubigerin mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 15.06.2022. Eine weitere Begründung durch die Gläubigerin erfolgte nicht.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Gläubigerin hat hilfsweise für den Fall, dass das Beschwerdegericht von ihrer Rechtsauffassung abweichen möchte, beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die zulässige sofortige Beschwerde der Gläubigerin ist unbegründet. Zutreffend hat das Amtsgericht die Erinnerung der Gläubigerin gegen die Ablehnung des Vollstreckungsauftrags durch den Gerichtsvollzieher zurückgewiesen. Der Gerichtsvollzieher hat den Vollstreckungsauftrag zurecht abgelehnt, weil der Vollstreckungsauftrag, der auch die Erklärung der Vollstreckungsbehörde über die Vollstreckbarkeit enthielt, nicht mit einem Dienstsiegel versehen war.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong></p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Zwangsvollstreckung erfordert grundsätzlich die Übergabe der vollstreckbaren Ausfertigung des Titels gemäß § 754 ZPO. Hiervon abweichend wird bei Vollstreckungsaufträgen in der Verwaltungsvollstreckung gemäß § 5a Abs. 4 S. 1 VwVG NRW die Übergabe der vollstreckbaren Ausfertigung ersetzt durch die schriftliche Erklärung der Vollstreckungsbehörde über die Vollstreckbarkeit. Da der Vollstreckungsauftrag in Verbindung mit der Vollstreckbarkeitserklärung die alleinige Voraussetzung für die Anordnung von staatlichem Zwang und damit die einzige Urkunde ist, die der Gerichtsvollzieher und das Vollstreckungsgericht erhalten, dürfen keine Zweifel an seiner Echtheit bestehen. Aus diesem Grund ist der Vollstreckungsauftrag mit einer Unterschrift und einem Dienstsiegel zu versehen (vgl. BGH, Beschluss vom 18.12.2014 – I ZB 27/14, NJW 2015, 2268 Rn. 16).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das Erfordernis eines Dienstsiegels besteht nach der vorstehend zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich und entgegen den rechtlichen Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht nur für Vollstreckungsaufträge, die mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellt wurden. Nichts anderes folgt aus dem insoweit durchaus missverständlich formulierten § 5a Abs. 4 VwVG NRW, der in Satz 1 allgemein lediglich die „schriftliche Erklärung“ über die Vollstreckbarkeit fordert, während nach den Sätzen 2 und 3 gerade ein mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellter Vollstreckungsauftrag mit einem Dienstsiegel und dem Namen des zuständigen Bediensteten zu versehen ist, wobei es keiner Unterschrift bedarf.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vor dem Hintergrund des bereits beschriebenen Bedürfnisses, keinen Zweifel an der Echtheit der Erklärung über die Vollstreckbarkeit zuzulassen, kann nach Sinn und Zweck der Norm in § 5a Abs. 4 S. 2 und 3 VwVG NRW nur eine Erleichterung für Masseverfahren gesehen werden, in denen auf die Unterschrift verzichtet werden kann. Diesem Zweck liefe es entgegen, wenn zwar das Unterschriftenerfordernis in diesen Fällen wegfiele, jedoch eine andere Voraussetzung – die Anbringung eines Dienstsiegels – zusätzlich hinzukäme.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Dies entspricht auch der Intention des Landesgesetzgebers. So heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 5a Abs. 4 S. 2 und 3 VwVG NRW (Landtag NRW, Drucksache 16/11845, S. 32):</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">„<em>Auch bei einem mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellen Vollstreckungsauftrag ist ein Dienstsiegel (im Gegensatz zur Unterschrift) künftig weiterhin erforderlich.</em>“</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber bei der Einführung der Erleichterung durch § 5a Abs. 4 S. 2 und 3 VwVG NRW davon ausging, dass auch bei einem nicht automatisiert erstellten Vollstreckungsauftrag die Anbringung eines Dienstsiegels erforderlich sei und dieses Erfordernis – im Gegensatz zum Unterschriftenerfordernis – fortbestehen solle. Hinzu kommt, dass die Gesetzesbegründung ausdrücklich auf die zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.12.2014 (I ZB 27/14) Bezug nimmt, aus der – wie bereits dargelegt – das Erfordernis der dienstlichen Siegelung hervorgeht.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong></p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass Vollstreckungsaufträge von Behörden gemäß den §§ 753 Abs. 4, Abs. 5, 130a, 130d ZPO als elektronisches Dokument einzureichen sind, führt nicht dazu, dass das Erfordernis eines Dienstsiegels entfallen würde.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Tatsächlich ist die Gläubigerin als Behörde gemäß §§ 753 Abs. 4, Abs. 5, 130d ZPO verpflichtet, Vollstreckungsaufträge als elektronisches Dokument einzureichen, wobei nach § 130a Abs. 3, Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ZPO bei der Nutzung eines sicheren Übermittlungsweges – hier über das besondere elektronische Behördenpostfach und die elektronische Poststelle des Gerichts – die einfache Signatur der verantwortlichen Person ausreicht. Die Übermittlung eines elektronischen Dokuments nach den vorstehenden Maßgaben führt dazu, dass das prozessuale Schriftlichkeitsgebot gewahrt wird, indem fingiert wird, dass das eingegangene Dokument der Schriftform entspricht (vgl. Ulrici, in: BeckOK-ZPO, 45. Edition, Stand: 01.07.2022, § 753 Rn. 20). Über die Schriftform hinausgehende Formerfordernisse werden durch die elektronische Übermittlung hingegen nicht berührt, da die elektronische Übermittlung nach Maßgabe des § 130a ZPO nur das Schriftformerfordernis ersetzt (vgl. Greger, in: Zöller-ZPO, 34. Auflage 2022, § 130a Rn. 2).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Das nach den vorstehenden Ausführungen unter Ziffer III. 1. bei Vollstreckungsaufträgen einer Behörde in Verbindung mit der Vollstreckbarkeitserklärung erforderliche Anbringen eines Dienstsiegels wird somit nicht durch die elektronische Übermittlung des Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg entbehrlich.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Denn das Dienstsiegel gibt über die Unterschriftsleistung hinaus dem Empfänger die Gewähr dafür, dass die Wirksamkeit der Erklärung maßgebenden Vorschriften eingehalten sind. Die Beifügung des Stempels oder Siegels der Behörde begründet eine erhöhte Gewähr für die Ordnungsmäßigkeit der Erklärung (OLG Dresden Beschl. v. 29.4.2015 – 17 W 415/15 - BeckRS 2015, 13319). Die Kammer geht davon aus, dass diese für ein nach § 29 Abs. 3 GBO erforderliches Dienstsiegel erfolgten Rechtsausführungen auf den vorliegenden Fall des Erfordernisses der Siegelung des Vollstreckungsauftrags gem. § 5a Abs. 4 VwVG NRW übertragbar sind, da in beiden Fällen das Dienstsiegel die Funktion übernimmt, besondere Gewähr für die Ordnungsgemäßheit des Verfahrens und der Erklärung.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beschwerdeführerin ausführt, gem. § 130a ZPO sei keine qualifizierte Signatur erforderlich, ist dies zutreffend, führt aber zu keinem anderen Ergebnis. Das Fehlen einer qualifizierten Signatur wurde weder vom Gerichtsvollzieher noch vom Vollstreckungsgericht gerügt.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong></p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall entspricht somit der von der Gläubigerin in elektronischer Form übermittelte Vollstreckungsauftrag in Verbindung mit der Vollstreckbarkeitserklärung nicht den von § 5a Abs. 4 VwVG NRW vorgesehenen Anforderungen, sodass der Auftrag durch den Gerichtsvollzieher richtigerweise zurückzuweisen war. Zwar ist die Schriftform des Vollstreckungsauftrags trotz der einfachen Signatur gewahrt, indem das Dokument über einen sicheren Übermittlungsweg nach § 130a Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ZPO übermittelt wurde. Dem Dokument fehlt jedoch das erforderliche Dienstsiegel.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><strong>IV.</strong></p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, wobei die Gläubigerin nach § 122 Abs. 1 Nr. 2 JustG NRW Gebührenfreiheit genießt.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks"><strong>V.</strong></p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat die Rechtsbeschwerde gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zugelassen. Die Rechtsfrage, ob ein Vollstreckungsauftrag in Verbindung mit einer Vollstreckbarkeitserklärung nach § 5a Abs. 4 VwVG NRW trotz seiner elektronischen Übermittlung über einen sicheren Übermittlungsweg mit einem Dienstsiegel versehen sein muss, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Gerade seit dem Inkrafttreten des § 130d ZPO wird in der Praxis immer wieder die vom Beschwerdegericht für unzutreffend erachtete Auffassung vertreten, dass bei elektronischer Übermittlung über einen sicheren Übermittlungsweg das Erfordernis einer Siegelung des Vollstreckungsauftrags gem. § 5a Abs. 4 VwVG NRW entfalle.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Es ist zu erwarten, dass die hier für klärungsbedürftig erachtete Frage in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen auftreten wird, weshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt ist. Die Frage ist – soweit ersichtlich – bislang höchstrichterlich nicht geklärt.</p>
346,494
ovgni-2022-09-01-1-lb-1321
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 LB 13/21
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-09T10:01:03"
"2022-10-17T11:09:57"
Urteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 16. September 2019 (4 A 7652/18) wird geändert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Klage wird abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Tatbestand</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Kläger wendet sich gegen eine bauaufsichtliche Rückbauanordnung der Beklagten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks „A-Straße“ (Flurstück F., Flur 4, Gemarkung G.) im Stadtgebiet der Beklagten. Die Erschließung des Eckgrundstücks erfolgt über die westlich verlaufende Straße H. sowie über die südlich verlaufende, im Bebauungsplan festgesetzte Straße I.. Es liegt im Geltungsbereich des seit dem Jahr 2006 rechtsverbindlichen Bebauungsplans Nr. 360 „Mühlenkamp“ und ist als allgemeines Wohngebiet festgesetzt. Zum Maß der baulichen Nutzung sieht der Plan eine höchstens zweigeschossige Bauweise sowie eine maximale Traufhöhe von 5,50 m vor. § 1 der textlichen Festsetzungen (TF) bestimmt dazu, dass bei zweigeschossiger Bebauung die Traufhöhe nicht mehr als 5,50 m über der nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsfläche liegen darf. In der Begründung des Bebauungsplans wird ausgeführt, die Festsetzung der Traufhöhe als Höchstmaß mit maximal 5,50 m, gemessen über der nächstliegenden Verkehrsfläche, solle neben der in der örtlichen Bauvorschrift bei zweigeschossiger Bebauung festgesetzten geringeren Dachneigung (max. 30 Grad) bewirken, „dass sich die Gebäude an die umgebende vorhandene eingeschossige Bebauung noch einfügen“ (Planbegründung S. 5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Im Jahr 2013 zeigte der Kläger der Beklagten das Vorhaben „Neubau eines Einfamilienhauses mit Garage“ im Genehmigungsfreistellungsverfahren nach § 62 NBauO an. Das Gebäude weist zwei Vollgeschosse auf. In den eingereichten Planzeichnungen war die zulässige maximale Traufhöhe von 5,50 m vermerkt; die Unterkante des Traufkastens lag darunter, der Schnittpunkt der Dachhaut mit den aufgehenden Wänden ohne bezifferte Maßangaben etwas darüber. Zu einer Beanstandung oder einem bauaufsichtlichen Einschreiten kam es zunächst nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Auf Bitten des Ortsrates G. überprüfte die Beklagte im Juni 2016 das Bauvorhaben und stellte fest, dass die Unterkante des Traufkastens auf einer Höhe von 5,22 m über der nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsfläche lag. Der von außen nicht sichtbare Schnittpunkt der Dachhaut mit der aufgehenden Wand lag dementsprechend rund 80 cm höher. Der Kläger beauftragte daraufhin eine Vermessung seines Gebäudes, die für das Wohnhaus eine Höhe des Schnittpunktes des Außenmauerwerks mit der äußeren Dachhaut von 5,93 m bzw. 5,94 m bei einer Höhe der Fahrbahnkante zwischen -0,04 m und +0,02 m ergab.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Mit Bauaufsichtsanordnung vom 26. Juli 2018 forderte die Beklagte den Kläger zum Rückbau seines Wohnhauses auf die festgesetzte Traufhöhe von 5,50 m binnen vier Monaten nach Bestandskraft der Anordnung auf und drohte ihm für den Fall der Nichtbefolgung ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000 EUR an. Das Wohnhaus verstoße gegen die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 360, weil die zulässige Traufhöhe um 0,48 m überschritten werde. Der Plan sei bezüglich der die Traufhöhe betreffenden Festsetzung wirksam. Der untere Bezugspunkt der nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsfläche sei ebenso hinreichend bestimmt wie der obere Bezugspunkt der Traufhöhe. Eine Befreiung komme nicht in Betracht, weil die Festsetzung zur Traufhöhe einen Grundzug der Planung darstelle. Das Rückbauverlangen sei ermessensgerecht und verhältnismäßig. Der Rückbau sei bautechnisch möglich. Auch wenn anerkannt werde, dass der Kläger selbst den rechtswidrigen Zustand nicht zu vertreten habe, sondern seine Beauftragten die Schuld treffe, sei es nicht gerechtfertigt, auf die Herstellung baurechtsgemäßer Zustände zu verzichten. Den Widerspruch des Klägers wies die Region Hannover mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 2018 unter vertiefender Begründung zurück.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der daraufhin erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht Hannover mit dem angegriffenen Urteil vom 16. September 2019 stattgegeben. Die Rechtswidrigkeit der Rückbauanordnung ergebe sich daraus, dass die im Bebauungsplan Nr. 360 enthaltene Höhenbegrenzung unbestimmt und damit unwirksam sei. Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folge, dass textliche Festsetzungen zur Höhe so eindeutig sein müssten, dass die in die Höhenberechnung einzustellenden Parameter klar und unmissverständlich benannt würden. Diesen Anforderungen genüge weder die Festsetzung der „Traufhöhe“ als oberen noch die Bezugnahme auf die „nächstgelegene öffentliche Verkehrsfläche“ als unteren Bezugspunkt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Mit ihrer vom Senat mit Beschluss vom 19. Januar 2021 zugelassenen Berufung trägt die Beklagte vor, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht von der Unwirksamkeit der Höhenfestsetzung ausgegangen. Oberer wie unterer Bezugspunkt seien hinreichend bestimmt. Der Begriff der Traufhöhe sei durch Auslegung dahingehend zu bestimmen, dass der Durchstoßpunkt der aufsteigenden Wand durch die Dachhaut gemeint sei. Das entspreche sowohl den gängigen Kommentierungen als auch der Rechtsprechung. Zu unterscheiden sei der Begriff von den Begriffen der Traufe und der Traufrinne, die andere Punkte bezeichneten. Eindeutig bestimmbar sei auch, was mit der „nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsfläche“ gemeint sei. Der Begriff „nächstgelegen“ beziehe sich auf das Gebäude, das reguliert werde, sodass der Punkt der öffentlichen Verkehrsfläche maßgebend sei, der die geringste Entfernung zum Gebäude habe. Es komme jeweils auf den geringsten Abstand des Gebäudes zu einer Verkehrsfläche an; bei einer ansteigenden oder abfallenden Verkehrsfläche dürfe die Traufhöhe entsprechend ansteigen oder abfallen. Es schade auch nicht, dass die Erschließungsstraße im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses noch nicht hergestellt gewesen sei; für die Baugenehmigung sei auf die zum Genehmigungszeitpunkt bereits vorhandene Erschließungsanlage, ob Baustraße oder endgültige Erschließungsstraße abzustellen. Zudem gebe es in diesem Fall ohnehin nur geringe Höhenunterschiede. Unwirksam sei die Traufhöhenfestsetzung auch nicht deswegen, weil sie nur für zweigeschossige Gebäude gelte. Die Errichtung eingeschossiger Häuser in praktisch unbegrenzter Höhe sei nicht zu erwarten gewesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. September 2019 (4 A 7652/18) zu ändern und die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>die Berufung zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Er verteidigt das angegriffene Urteil und trägt ergänzend vor, der Bebauungsplan sei auch deshalb unwirksam, weil die Straße „J.“ außerhalb des Plangebiets liege und deshalb nicht als unterer Bezugspunkt dienen könne. Die Straße „I.“ sei zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses noch nicht fertiggestellt gewesen; von einem Bauherrn könne nicht verlangt werden, den Vollausbau der Straße abzuwarten, bevor er sein Vorhaben realisiere. Sei der Plan unwirksam, hindere § 34 Abs. 1 BauGB sein Vorhaben nicht. Die Rückbauverfügung sei zudem unverhältnismäßig. Selbst wenn der Bebauungsplan entgegen der vertretenen Auffassung wirksam sein sollte, verwende die Beklagte unklare Begriffe, die ebenso wie die gänzlich unterlassene Prüfung trotz korrekter Bauanzeige eine Mitverantwortung begründeten. Das hindere sie ebenso an einem Einschreiten wie die gravierenden Folgen für den Kläger.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die beigezogenen Vorgänge Bezug genommen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die zulässige Berufung ist begründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Die angegriffene Bauaufsichtsanordnung vom 26. Juli 2018 und der Widerspruchsbescheid vom 29. November 2018 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 16. September 2019 ist daher zu ändern und die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Rechtsgrundlage der angegriffenen Bauaufsichtsanordnung ist § 79 Abs. 1 Satz 1 und 2 NBauO. Nach dieser Vorschrift kann die Bauaufsichtsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen anordnen, die zur Herstellung oder Sicherung rechtmäßiger Zustände erforderlich sind, wenn bauliche Anlagen, Grundstücke, Bauprodukte oder Baumaßnahmen dem öffentlichen Baurecht widersprechen. Sie kann namentlich die Beseitigung von Anlagen oder Teilen von Anlagen anordnen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>a)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Das Einfamilienhaus des Klägers verstößt gegen öffentliches Baurecht, weil es den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 360 widerspricht. Der Plan begrenzt die zulässige Traufhöhe auf 5,50 m über der nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsfläche. Tatsächlich weist das Haus des Klägers aber eine Traufhöhe von bis zu 5,98 m auf und überschreitet das zulässige Maß damit um bis zu 0,48 m.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Der Bebauungsplan Nr. 360 mit seiner Festsetzung der maximalen Traufhöhe ist wirksam. Die auf § 16 Abs. 2 Nr. 4, § 18 Abs. 1 BauNVO beruhende Festsetzung ist sowohl hinsichtlich ihres oberen als auch hinsichtlich ihres unteren Bezugspunktes hinreichend bestimmt und frei von gemäß §§ 214, 215 BauGB beachtlichen Abwägungsfehlern.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>aa)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Der aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, Rechtsnormen - auch Festsetzungen eines Bebauungsplans - so präzise zu formulieren, dass Adressaten ihren Regelungsgehalt aus ihnen ableiten und mithin ihr Verhalten an ihnen ausrichten können; eine willkürfreie Handhabung durch Behörden und Gerichte muss möglich sein. Ausreichend ist es dabei, wenn sich mit den üblichen Auslegungsmitteln der Bedeutungsgehalt der Festsetzung erschließen lässt. Im diesem Rahmen fehlt es an der notwendigen Bestimmtheit nicht bereits dann, wenn mehrere Auslegungsergebnisse jeweils vertretbar wären. Erforderlich ist lediglich, dass eines davon in der Gesamtschau vorzugswürdig ist (vgl. Senatsurt. v. 10.11.2021 - 1 LB 78/19 -, BauR 2022, 443 = juris Rn. 43; v. 2.6.2022 - 1 LB 109/20 -, juris Rn. 38). Das ist hier der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>(1)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Mit dem Begriff der Traufhöhe verwendet die Beklagte als oberen Höhenbezugspunkt einen in Nr. 2.8 der Anlage zur PlanZV 1990 enthaltenen Begriff, der entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts einen eindeutig bestimmten Inhalt hat. Traufhöhe bezeichnet die Höhe des Schnittpunktes der Fassade (Oberfläche der Außenwand) mit der äußeren Dachhaut (Traufpunkt) über dem unteren Höhenbezugspunkt (nahezu einhellige Meinung, vgl. aus der Rspr. OVG SH, Urt. v. 5.8.2021 - 1 KN 4/17 -, juris Rn. 56; BayVGH, Urt. v. 5.9.2017 - 2 N 16.1308 -, juris Rn. 46; HessVGH, Urt. v. 20.4.2017 - 3 C 725/14.N -, juris Rn. 26; VGH BW, Beschl. v. 23.8.2012 - 3 S 1274/12 -, juris Rn. 4; OVG NRW, Urt. v. 19.12.2011 - 2 D 31/10.NE -, juris Rn. 80; v. 3.5.2010 - 7 A 1942/08 -, juris Rn. 30, 44; v. 8.4.2002 - 7 A D 137/99.NE -, juris Rn. 37; OVG RP, Beschl. v. 12.1.1983 - 1 A 69/82 -, BauR 1983, 353 = BRS 40 Nr. 109 = juris Ls. 2; aus der Kommentarliteratur Fickert/Fieseler, BauNVO, 13. Aufl. 2019, § 16 Rn. 31; Söfker, in: EZBK, BauGB, 120. EL Februar 2016, § 18 BauNVO Rn. 4; Ziegler, in: Brügelmann, BauGB, 40. Lieferung Oktober 1998, § 18 BauNVO Rn. 4; Hartmann, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Auf. 2018, § 18 Rn. 5; möglicherweise abweichend und jedenfalls unpräzise aber Petz, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 5. Aufl. 2022, § 18 Rn. 5). Der Begriff der Traufhöhe entspricht damit nicht zwingend der Höhe der Traufe, die die Kante des Daches bezeichnet, an der das Regenwasser abtropft; die Traufe liegt dann, wenn das Haus - wie hier - einen Dachüberstand aufweist, niedriger als der für die Bestimmung der Traufhöhe maßgebliche Traufpunkt (vgl. zutreffend OVG NRW, Urt. v. 8.4.2002 - 7 A D 137/99.NE -, juris Rn. 37; der Sache nach ebenso Urt. v. 3.5.2010 - 7 A 1942/08 -, juris Rn. 32). Soweit das Verwaltungsgericht in seinem Urteil demgegenüber Beispiele für eine vermeintlich abweichende Begriffsverwendung aufführt, übersieht es, dass diese Beispiele an andere Begriffe, etwa den Begriff der Traufe oder der Wandhöhe anknüpfen, die mit dem Begriff der Traufhöhe nicht zwangsläufig deckungsgleich sind, oder besonders gelagerte Einzelfälle betreffen (vgl. dazu näher bereits den Zulassungsbeschluss des Senats vom 19.1.2021 - 1 LA 151/19 -, V.n.b.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>(2)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Keinen Bedenken ausgesetzt ist auch die Bestimmtheit des unteren Höhenbezugspunktes in Gestalt der nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsfläche. Die Beklagte knüpft mit diesem Begriff die maximal zulässige Traufhöhe an den dem jeweiligen Traufpunkt nächstgelegenen Punkt der öffentlichen Verkehrsfläche, also der Fläche, die nach der insoweit maßgeblichen Widmung für die Nutzung durch den öffentlichen Verkehr bestimmt ist. Damit ist in allen praktisch denkbaren Fällen ein unterer Bezugspunkt zweifelsfrei bestimmt. Zwei verschiedene untere Bezugspunkte können allein in dem angesichts des Zuschnitts des Plangebiets wohl eher theoretischen Fall in Betracht kommen, in dem auf einem an mehrere öffentliche Verkehrsflächen angrenzenden Eckgrundstück eine bauliche Anlage in exakt gleichem Abstand zu diesen Verkehrsflächen errichtet werden soll. Für diesen Fall ergibt die Auslegung des Bebauungsplans nach dem Sinn und Zweck der TF § 1, dass die maximale Traufhöhe in Bezug auf beide Verkehrsflächen einzuhalten ist, sodass im Ergebnis die niedriger gelegene Verkehrsfläche den Ausschlag gibt. Dies folgt daraus, dass es der Beklagten bei der Festsetzung der Traufhöhe maßgeblich darum ging zu gewährleisten, dass sich das neue Baugebiet an die bereits vorhandene eingeschossige Bebauung anpasst. Dieses Planungsziel erfordert es, dass die Traufhöhe zu allen Verkehrsflächen eingehalten wird, weil grundsätzlich von allen Verkehrsflächen aus Blickbeziehungen bestehen können. Das entspricht dem im Zweifelsfall ohnehin geltenden Auslegungsergebnis (vgl. Senatsurt. v. 26.10.2016 - 1 KN 6/15 -, BRS 84 Nr. 35 = juris Rn. 46; Senatsbeschl. v. 2.6.2020 - 1 MN 116/19 -, BauR 2020, 1269 = juris Rn. 22; Senatsurt. v. v. 2.6.2022 - 1 LB 109/20 -, juris Rn. 39).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Soweit der Kläger rügt, es dürfe nur auf Verkehrsflächen innerhalb des Plangebietes abgestellt werden, überzeugt das nicht. Dem Satzungsgeber steht es frei, den unteren Höhenbezugspunkt innerhalb oder außerhalb des Plangebietes anzusetzen oder eine Kombination beider Möglichkeiten zu wählen. Bezieht er sich ohne weitere Konkretisierung auf die nächstgelegene öffentliche Verkehrsfläche, erfasst er damit grundsätzlich - und so auch hier - Verkehrsflächen innerhalb und außerhalb des Plangebietes gleichermaßen. Das folgt in diesem Fall zudem aus dem Sinn und Zweck der Höhenfestsetzung, die auf eine Einbindung des Neubaugebiets in die bestehende Struktur abzielt. Dies erfordert es, die festgesetzte Höhe gerade auch mit Blick auf die bereits bestehenden Straßen außerhalb des Plangebiets einzuhalten. Ein Rechtsproblem erwächst daraus entgegen der nicht weiter begründeten Auffassung des Klägers nicht; die in Bezug genommene Kommentarstelle enthält ebenfalls keine nachvollziehbare Begründung („wegen des Sachzusammenhangs der Festsetzungen“) und meint zudem, der Bezugspunkt müsse nur „grundsätzlich“ innerhalb des Plangebietes liegen (vgl. Söfker, in: EZBK, BauGB, 120. EL Februar 2016, § 18 BauNVO Rn. 3). Auch das überzeugt schon mit Blick auf die planerische Gestaltungsfreiheit der Städte und Gemeinden sowie die übliche, nach ständiger Rechtsprechung aller Gerichte rechtmäßig verwendbare und vom Kläger selbst empfohlene Anknüpfung an die Höhe Normalnull nicht. Selbst wenn die Auffassung von Söfker indes zutreffen sollte, läge hier angesichts des Planungsziels der Beklagten ein Fall vor, der ein Abweichen von dem aufgestellten Grundsatz rechtfertigen würde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Kein Bestimmtheitsproblem erwächst in diesem Fall schließlich daraus, dass die öffentlichen Verkehrsflächen innerhalb des Plangebietes zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses noch nicht fertiggestellt waren. Das Bestimmtheitsgebot soll den Planadressaten in die Lage versetzen zu erkennen, ob sein Vorhaben im Plangebiet zulässig ist oder nicht. Das ist auch dann gewährleistet, wenn die Übereinstimmung der Gebäudehöhe mit den Planfestsetzungen erst dann abschließend geprüft werden kann, wenn die Bauausführungsplanung für die für sein Grundstück relevante Erschließungsstraße vorliegt. Denn Voraussetzung der Genehmigung eines Vorhabens im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans nach § 30 Abs. 1 BauGB ist u.a., dass die Erschließung gesichert ist, d.h. mit ihrer konkreten Herstellung zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme muss gerechnet werden können. Das setzt entgegen der Auffassung des Klägers voraus, dass ihre konkrete Gestalt zum Genehmigungszeitpunkt zumindest hinsichtlich ihrer Höhe feststeht. Denn andernfalls kann nur von einer vagen Erschließungserwartung gesprochen werden, die zur Genehmigung eines Bauvorhabens nicht ausreicht; das ist auch mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 GG unbedenklich; dass insofern eine Nachfrage bei der Beklagten erforderlich werden kann, ist unschädlich (vgl. Senatsurt. v. 2.6.2022 - 1 LB 109/20 -, juris Rn. 40). Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Erschließung ggf. auch durch eine provisorische Baustraße gesichert sein kann. Denn jedenfalls der vorliegende Plan ist mangels anderweitiger Hinweise dahingehend auszulegen, dass zur Bestimmung der Gebäudehöhe die zum Genehmigungszeitpunkt jeweils vorhandene bzw. konkret geplante Erschließungsanlage, ob Baustraße oder endgültige Erschließungsstraße, heranzuziehen ist, zumal in einem Gelände, das wie hier nur geringe Höhenunterschiede und keine Auffälligkeiten des Baugrunds aufweist, die beispielsweise besondere Aufschüttungen erforderten, und nicht von großen Höhenunterschieden zwischen Baustraße und endgültiger Erschließungsstraße auszugehen ist (vgl. Senatsurt. v. 27.11.2019 - 1 KN 33/18 -, BauR 2020, 589 = juris Rn. 43). Soweit das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (etwa Urt. v. 13.2.2014 - 7 D 102/12.NE -, juris Rn. 69 ff.; auch Urt. v. 15.2.2012 - 10 D 46/10.NE -, BauR 2012, 1080 = BRS 79 Nr. 42 = juris Rn. 70 ff.) in von ihm entschiedenen Fällen zu abweichenden Ergebnissen gelangt ist, ist dem für den hier zu entscheidenden Einzelfall und den dafür maßgeblichen Bebauungsplan Nr. 360 nicht zu folgen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>bb)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Die Festsetzung der maximalen Traufhöhe ist frei von gemäß §§ 214, 215 BauGB beachtlichen Abwägungsfehlern. Das Planungsziel der Beklagten, das neue Baugebiet an die vorhandene eingeschossige Bebauung anzupassen, rechtfertigt die Begrenzung der Traufhöhe, die sich gerade zur Wahrung und Gestaltung des Orts- und Straßenbildes als zulässiges und geeignetes Mittel dargestellt (vgl. Senatsurt. v. 8.9.2010 - 1 KN 129/07 -, BauR 2011, 1131 = BRS 76 Nr. 35 = juris Rn. 252).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Ein Abwägungsfehler folgt auch nicht daraus, dass TF § 1 die Traufhöhe nur für zweigeschossige Gebäude begrenzt, während eingeschossige Bauten in grundsätzlich unbegrenzter Höhe errichtet werden dürfen. Angesichts der im allgemeinen Wohngebiet gemäß § 4 BauNVO recht eng begrenzten Art der baulichen Nutzung, des Zuschnitts der Bauflächen sowie der Lage des Plangebiets musste die Beklagte nicht damit rechnen, dass sich andere als Wohn- bzw. freiberufliche Nutzungen, die eine unbegrenzte Höhenentwicklung von vornherein nicht erwarten lassen, in nennenswertem Umfang einstellen würden; die Realität bestätigt diesen Befund. Im Gegenteil lassen es die eng begrenzten Baufenster, die weiteren Begrenzungen des Maßes der baulichen Nutzung durch eine Grundflächenzahl von 0,3, die Zulässigkeit von ausschließlich Einzel- und Doppelhäusern sowie die Vorgabe eines geneigten Daches als praktisch ausgeschlossen erscheinen, dass ein Bauherr ein eingeschossiges Gebäude mit einer Traufhöhe von mehr als 5,50 m errichten könnte. Dem „realistischen worst-case-Szenario“, auf das sich die Beklagte in ihrer planerischen Abwägung einzulassen hat (vgl. Senatsurt. v. 8.9.2021 - 1 KN 150/19 -, BauR 2022, 432 = juris Rn. 86; Senatsbeschl. v. 24.3.2022 - 1 MN 131/21 -, UPR 2022, 273 = juris Rn. 33), entspricht diese nur theoretische Möglichkeit nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>b)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Die Bauaufsichtsanordnung ist frei von Ermessensfehlern und entspricht insbesondere dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats hat die Bauaufsichtsbehörde gegen baurechtswidrige Zustände regelmäßig einzuschreiten; es handelt sich daher um einen Fall von intendiertem Ermessen. Ein „Für und Wider“ braucht deswegen nur dann abgewogen zu werden, wenn der Fall so geartet ist, dass ganz bestimmte konkrete Anhaltspunkte für die Angemessenheit einer Ausnahme vorliegen (vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2015 - 1 ME 31/15 -, NdsVBl. 2015, 304 = BRS 83 Nr. 101 = juris Rn. 15; Beschl. v. 18.5.2020 - 1 LA 150/18 -, juris Rn. 16). Solche Umstände sind nicht gegeben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Die Rechtswidrigkeit des Einfamilienhauses kann nicht im Wege der Erteilung einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB geheilt werden. Wie die Beklagte sowie die Region Hannover bereits im Verwaltungsverfahren zutreffend ausgeführt haben, zählen die Traufhöhenbegrenzung und das mit ihr verfolgte planerische Ziel zu den Grundzügen der Planung, die nicht berührt werden dürfen. Auf die entsprechenden Ausführungen im Bescheid und Widerspruchsbescheid nimmt der Senat gemäß § 117 Abs. 5 VwGO Bezug.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Ein Ermessensfehler folgt auch nicht aus einer „Mitverantwortung“ der Beklagten für die Errichtung des baurechtswidrigen Einfamilienhauses. Eine solche Mitverantwortung resultiert erstens nicht aus der Verwendung auslegungsbedürftiger Begriffe in dem Bebauungsplan Nr. 360. Die darin verwendeten Begrifflichkeiten sind allgemein üblich und weit verbreitet. Ihre Kenntnis ist von jeder bauvorlageberechtigten Person zwingend zu erwarten; die hier offenbar bestehende Unkenntnis der Entwurfsverfasserin des Klägers von Inhalt und Bedeutung des Begriffs der Traufhöhe ist ein außerordentlich gröblicher und schwerwiegender Verstoß gegen baurechtliche Sorgfaltspflichten (vgl. § 53 Abs. 1 und 2 NBauO). Selbst wenn indes Begriffe verwendet worden wären, deren Auslegung höhere Anforderungen stellte, wäre die Rechtslage nicht anders. Erforderlichenfalls hätte sich die Entwurfsverfasserin des Klägers um baurechtliche Beratung (vgl. § 58 Abs. 1 Satz 2 NBauO) bemühen oder - freiwillig - eine Baugenehmigung (vgl. § 62 Abs. 10 NBauO) einholen müssen. Eine im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigende Mitverantwortung folgt zweitens nicht daraus, dass die Beklagte die Mitteilung der Baumaßnahme (§ 62 Abs. 3 Satz 1 NBauO) nicht zum Anlass genommen hat, die Planzeichnungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bebauungsplan zu überprüfen. Gemäß § 62 Abs. 5 Satz 2 NBauO besteht ausdrücklich keine über die in § 62 Abs. 5 Satz 1 NBauO genannten Anforderungen hinausgehende Prüfungspflicht; demzufolge durfte (und sollte) die Beklagte eine nähere Befassung mit den Bauvorlagen unterlassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Unverhältnismäßig ist das Rückbauverlangen nicht. Der hohen Belastung, die das Rückbauverlangen für den Kläger und seine Familie in finanzieller und auch persönlicher Hinsicht mit sich bringt, steht eine erhebliche Beeinträchtigung des Planungsziels, die neu entstehenden Gebäude an den bestehenden Baubestand anzupassen, gegenüber. Die Überschreitung der Traufhöhe von nahezu 0,50 m überschreitet jede Bagatellschwelle bei weitem und erreicht nahezu 10 % der maximal zulässigen Höhe. Eine solche Überschreitung und damit verbundene Beeinträchtigung ihrer städtebaulichen Zielsetzungen musste die Beklagte trotz der mit dem Rückbauverlangen verbundenen erheblichen Belastungen nicht hinnehmen, zumal die Niedersächsische Bauordnung die Verantwortung für die Baurechtmäßigkeit und auch das damit verbundene Risiko einer baurechtlichen Fehleinschätzung - wie ausgeführt - eindeutig der Rechtssphäre des Bauherrn zuweist. Dieses zusätzliche Maß an Verantwortung und Risiko stellt sich gewissermaßen als Kehrseite der mit der Genehmigungsfreistellung verbundenen weitergehenden Baufreiheit dar. Wer sich trotz der finanziellen Bedeutung des Baus eines Einfamilienhauses, das in zahlreichen Fällen die größte Investition im Leben bedeutet, für das genehmigungsfreie Bauen und gegen eine bauaufsichtliche Prüfung sowie die Schutzwirkung einer Baugenehmigung entscheidet, darf demzufolge auch nach Baufertigstellung nicht darauf vertrauen, dass eine baurechtswidrige Ausführung unbeanstandet bleibt bzw. hingenommen wird, selbst wenn damit - wie hier - erhebliche Belastungen verbunden sind. Das gilt in besonderer Weise in diesem Fall, in dem der Baurechtsverstoß einen Grundzug der Planung betrifft und seine Tolerierung - zumal angesichts der exponierten Lage des Klägergrundstücks am Westrand des Plangebiets - die Plankonzeption als solche in Frage stellen und eine negative Vorbildwirkung entfalten würde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Etwaige Möglichkeiten, ohne einen vollständigen Rückbau der Dachkonstruktion die Schwere des Baurechtsverstoßes auf ein vertretbares, unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten noch zu duldendes Maß zu reduzieren, kann der Kläger ggf. im Vollstreckungsverfahren anbieten; eine Pflicht des Beklagten, derartige Möglichkeiten zu finden und bereits die Grundverfügung auf diese zu beschränken, bestand nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Die Zwangsgeldandrohung beruht auf §§ 64, 65, 67, 70 Nds. SOG, § 70 NVwVG in der zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im November 2019 geltenden Fassung; sie ist ebenfalls frei von Rechtsfehlern.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V. mit § 708 Nr. 10, § 709 Satz 2, § 711 Satz 1 und 2 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor. Insbesondere sind die allgemeinen Anforderungen an die Bestimmtheit einer Höhenfestsetzung in der Rechtsprechung geklärt; die Auslegung der Bestimmungen des einzelnen Bebauungsplans ist demgegenüber in jedem Einzelfall vorzunehmen und entzieht sich einer grundsätzlichen Klärung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>Beschluss</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 70.000 EUR festgesetzt. (§ 52 Abs. 1 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006975&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,492
ovgni-2022-09-01-1-lc-5020
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 LC 50/20
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-09T10:01:01"
"2022-10-17T11:09:57"
Urteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 22. Oktober 2019 (4 A 3433/19) wird geändert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 10. Dezember 2018 und des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 2019 verpflichtet, dem Kläger die mit Bauantrag vom 5. Juli 2018 beantragte Baugenehmigung zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Tatbestand</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Kläger begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung zur Nutzung von Räumen eines ehemaligen Gastronomiebetriebs zur Ausübung der Prostitution.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Kläger ist Miteigentümer des im unbeplanten Innenbereich belegenen Grundstücks F. in B-Stadt. Das Baugrundstück ist in seinem rückwärtigen Bereich mit einem Wohnhaus und straßenseitig mit zwei selbstständig nutzbaren, eingeschossigen Gewerbeeinheiten (105a, 105b), bestehend aus einem Haupt- und einem Nebenraum, bebaut, die zuletzt als Restaurant/Weinstube genutzt und entsprechend genehmigt waren. Zwischen den zur Straße hin mit einer Mauer verbundenen Gewerbeeinheiten, deren Nutzungsrecht allein beim Kläger liegt, befindet sich ein mit einer Tür versehener Durchgang zum rückwärtigen Wohnhaus. Die Umgebung des Baugrundstücks wird durch Wohnbebauung sowie verschiedene gewerbliche und freiberufliche Nutzungen geprägt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Nach Nutzungsaufgabe ließ der Kläger die Gewerbeeinheiten in Apartments umbauen, die er zur Ausübung der Prostitution an wechselnde Personen (sog. Terminwohnungen) vermietete. Nach einer Bürgerbeschwerde untersagte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 13. März 2018 die Nutzung der Gebäude zu Prostitutionszwecken; Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos (VG Hannover, Urt. v. 22.10.2019 - 4 A 5130/18 -, V.n.b.; Senatsbeschl. v. 25.3.2021 - 1 LA 49/20 -, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens stellte der Kläger unter dem 5. Juli 2018 einen Bauantrag für eine Nutzungsänderung der Gewerbeeinheiten in „Zimmer zur Vermietung zum Zwecke der Prostitution“. Von den insgesamt drei Apartments sollen zwei der Prostitutionsausübung dienen; ein weiteres Apartment dient den Prostituierten als Schlaf- und Ruhebereich. Die vormals vorhandenen straßenseitigen Schaufenster wurden bereits geschlossen. Erhalten bleibt ein Fenster in der Grenzwand zum östlichen Nachbargrundstück G., das gegenwärtig von einer Werbetafel verdeckt ist. Das dem Bauantrag beigefügte Betriebskonzept sieht vor, dass die Außenfassade ohne Werbung bleibt und die Türen nur mit Hausnummern ohne Hinweis auf die Nutzung als Prostitutionsstätte gekennzeichnet werden; in diesem Zustand befindet sich das Objekt auch derzeit. Werbung und Kontaktanbahnung zwischen Prostituierten und Kunden finden ausschließlich im Internet und per Telefon statt. Die Betriebszeiten sind auf Montag bis Samstag zwischen 8 und 22 Uhr begrenzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Diesen Bauantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Dezember 2018 und Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2019 ab. Zur Begründung verwies sie darauf, dass die nähere Umgebung des Baugrundstücks einem allgemeinen Wohngebiet entspreche. Die geplante Nutzung weise einen bordellartigen Charakter auf, sodass es sich um einen störenden gewerblichen Betrieb handele. Als solcher sei er im Wohngebiet generell unzulässig. Hinzu komme, dass das Vorhaben gegen Grenzabstandsvorschriften verstoße.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Hannover nach Ortsbesichtigung mit dem angegriffenen Urteil vom 22. Oktober 2019 abgewiesen. Die nähere Umgebung des Baugrundstücks, die sich aus der Bebauung innerhalb des Dreiecks H. zusammensetze, entspreche zwar einem Mischgebiet, weil sie neben überwiegender Wohnnutzung eine deutliche gewerbliche Prägung aufweise. Auch in einem Mischgebiet sei das als bordellartiger Betrieb zu bezeichnende Vorhaben indes unzulässig, weil es sich mit einer Wohnnutzung grundsätzlich nicht vertrage. Ein bordellartiger Betrieb verursache typischerweise wesentliche Störungen der Nachbarschaft, weil er eine milieubedingte Unruhe mit sich bringe. Demgegenüber handele es sich nicht um Wohnungsprostitution, weil nicht vorgesehen sei, dass die Prostituierten in den Apartments dauerhaft wohnten, sondern sie im Gegenteil ständig wechselten. Das Betriebskonzept des Klägers unterscheide sich auch nicht so weitgehend von einem typischen bordellartigen Betrieb, dass seine Vereinbarkeit mit einer Wohnnutzung im Einzelfall zu prüfen sei. Selbst wenn äußerlich kein Hinweis auf die Nutzung zu Prostitutionszwecken angebracht werden, sei eine gewerbliche Nutzung offensichtlich. Öffnungszeiten und Besucherstruktur ließen den bordellartigen Charakter erkennen. Zudem müsse es bei der typisierenden Betrachtung bleiben, weil eine Abgrenzung zu einem bordellartigen Betrieb nicht gelingen könne.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Berufung eingelegt. Zutreffend sei das Verwaltungsgericht zwar von einem Mischgebiet ausgegangen; die weiteren Schlussfolgerungen des Gerichts seien indes rechtsfehlerhaft. Die typisierende Betrachtung, die das Verwaltungsgericht angestellt habe, werde seinem Vorhaben und dessen Besonderheiten nicht gerecht. Die Erscheinungsformen des Prostitutionsgewerbes seien vielschichtig und bildeten eine heterogene Gruppe. Daher bedürfe es einer konkreten Betrachtung der Betriebsstruktur, die auch mit Blick auf die Wertungen des Prostituiertenschutzgesetzes nicht an individuelle moralische Vorstellungen, sondern an die konkrete Störungsintensität anknüpfen müsse. Sein Vorhaben sei durch die Diskretion der Geschäftsausübung und die Ausrichtung auf wenige Kunden - maximal zwei pro Stunde - geprägt. Zu belastendem An- und Abfahrtverkehr werde es deshalb nicht kommen. Tätig würden höchstens zwei Prostituierte; dass diese häufig wechselten, sei unerheblich. Laufkundschaft gebe es nicht, sodass keine milieubedingte Unruhe entstehe. Der Zugang erfolge unmittelbar von der Straße, sodass es nicht zu Kontakt mit Nachbarn komme. Der Betrieb als solcher sei für Passanten nicht als Prostitutionsstätte wahrnehmbar, sodass ein „trading-down-Effekt“ nicht zu befürchten sei. Die Nachtruhezeiten würden gewahrt. Insgesamt ähnele sein Vorhaben der Wohnungsprostitution und sei selbst dann, wenn man von einem bordellartigen Betrieb ausgehen wolle, hinsichtlich seiner Störwirkungen mit einer solchen zu vergleichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 22. Oktober 2019 (4 A 3433/19) zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2018 und den Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die mit Bauantrag vom 5. Juli 2018 beantragte Baugenehmigung zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Berufung zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Sie ist weiterhin der Auffassung, dass die nähere Umgebung des Baugrundstücks einem allgemeinen Wohngebiet entspreche. In einem solchen Gebiet sei die Ausübung der Prostitution unzulässig. In der mündlichen Verhandlung hat sie ergänzend ausgeführt: Für den Fall, dass der Senat von einem Mischgebiet ausgehen sollte, sei anzuerkennen, dass nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine typisierende Betrachtung der Gebietsverträglichkeit nicht mehr in Betracht komme. Die dann gebotene, aus ihrer Sicht nur hypothetische Einzelfallbetrachtung falle zugunsten des Vorhabens aus, weil eine konkrete, über das im Mischgebiet hinzunehmende Maß hinausgehende Störwirkung nicht zu befürchten sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die zulässige Berufung ist begründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung, weil die beantragte Nutzungsänderung der Räume des ehemaligen Gastronomiebetriebs in Zimmer zur Vermietung zum Zwecke der Prostitution dem öffentlichen Baurecht - soweit dies im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen ist - entspricht (§ 63 Abs. 1, § 70 Abs. 1 Satz 1 NBauO). Das verwaltungsgerichtliche Urteil ist daher zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zur Erteilung der beantragten Baugenehmigung zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO. Das Baugrundstück liegt - wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis richtig erkannt hat - in einem faktischen Mischgebiet, weil die maßgebliche nähere Umgebung durch Wohn- und Gewerbenutzungen gleichermaßen geprägt wird. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist maßstabsbildend die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. Die für die Abgrenzung der „näheren Umgebung“ maßgebliche wechselseitige Prägung ergibt sich dabei allein aus den in § 34 Abs. 1 BauGB genannten städtebaulichen Merkmalen. Diese Merkmale prägen - vom Vorhaben aus gesehen - im Sinne einer Vorbildwirkung nur einen begrenzten Bereich. Umgekehrt wird das Grundstück, auf dem das Vorhaben verwirklicht werden soll, in diesen Merkmalen nur von anderen Nutzungen in einem begrenzten räumlichen Umfeld geprägt. Dabei lassen sich die Grenzen der näheren Umgebung nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.10.2019 - 4 B 27.19 -, Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 225 = juris Rn. 8 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Als nähere, das Baugrundstück städtebaulich prägende Umgebung ist nach dem Eindruck, den der Senat aufgrund der verwaltungsgerichtlichen Feststellungen, des Vortrags der Beteiligten sowie durch Auswertung der bei google maps verfügbaren Luftaufnahmen und die in der mündlichen Verhandlung betrachteten, vom Vorsitzenden am Wochenende vor dem Termin gefertigten Lichtbilder gewonnen hat, zumindest die Bebauung beidseits des I. vom Einmündungsbereich in die J. („K.“, Entfernung rund 110 m) bis zum Gebäude L. (Entfernung rund 150 m) in die Betrachtung einzubeziehen. Von den Gebäuden und Nutzungen in diesem Rahmen erfährt das Baugrundstück seine maßgebliche Prägung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>In östliche Richtung zu den K. ist die dortige Einmündungs- und Platzsituation vom Baugrundstück optisch deutlich wahrnehmbar und hinsichtlich der Verkehrs- und Wegebeziehungen eng verknüpft. Die Entfernung von nur etwas mehr als 100 m führt zudem dazu, dass die Geräuschkulisse der Kreuzung mit dem großzügig ausgebauten Verknüpfungspunkt zwischen Stadtbahn und Bus und ihrem werktags hohen Verkehrsaufkommen gut wahrzunehmen ist. Die Nutzung in östliche Richtung wird durch Gewerbe und Wohnen gleichermaßen bestimmt. Schon mit dem östlich unmittelbar benachbarten spanischen Restaurant und der dort vorzufindenden großflächigen Fremdwerbetafel, einer gewerblichen Hauptanlage, beginnt auf der nördlichen Straßenseite ein Bereich, der maßgeblich durch gewerbliche Nutzungen mindestens im Erdgeschoss geprägt ist. Ansässig sind neben dem spanischen Restaurant der Verkaufsraum eines Parkettlegerbetriebs, ein Corona-Testzentrum, ein größeres Kosmetikstudio sowie direkt an der Einmündung ein Lebensmittelnahversorger. Auf der Südseite des I. dominiert demgegenüber die Wohnnutzung; gewerbliche Nutzungen sind im Straßenbild zunächst nicht präsent. Im Einmündungsbereich zur J. sind jedoch ein Pflegedienst, eine Fahrschule, ein großes Brillenfachgeschäft sowie ein größeres asiatisches Restaurant angesiedelt. Von diesen Nutzungen sind jedenfalls die Werbetafel, das Brillenfachgeschäft und das asiatische Restaurant im Wohngebiet nicht als Regelnutzung zulässig. In der Gesamtschau haben die Wohnnutzungen zwar - wie die Beklagte zu Recht betont hat - das quantitative Übergewicht. In qualitativer Hinsicht - diese ist maßgeblich - ist aufgrund des hohen gewerblichen Flächenanteils und der Prägung des Straßenraums durch die Ladenlokale hingegen von einem mischgebietstypischen annähernden Gleichgewicht auszugehen. Dass einzelne Nutzungen auch in einem Wohngebiet zulässig wären, ändert an diesem Befund nichts, weil das Gebiet eben nicht mehr - wie in § 4 Abs. 1 BauNVO vorgesehen - vorwiegend dem Wohnen dient.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Vom Baugrundstück ausgehend in westlicher Richtung ist der M. auf beiden Seiten zunächst nahezu ausschließlich von Wohnbebauung geprägt. Rund 110 m westlich des Baugrundstücks auf der Nordseite folgt dann allerdings das „Haus des Verkehrsgewerbes“, ein äußerst großzügiger und mit einem über den M. erreichbaren üppigen Parkplatz im Innenhof ausgestatteter Bürokomplex, der die Grenzen dessen, was in einem Wohngebiet auch nur ausnahmsweise zulässig sein kann, bei weitem überschreitet. Gemeinsam mit dem westlich benachbarten Gewerbebau, der einen Fachbetrieb für Sanierungen und Beschichtungen mit einem größeren Fahrzeugpark beherbergt, verleiht der Bürokomplex dem M. auch in westlicher Richtung eine durch Wohnen und Gewerbe/Büros gleichermaßen geprägte Struktur. Offenbleiben kann, ob auch noch die ein Grundstück weiter angrenzende BMW-Niederlassung in die Betrachtung einzubeziehen. Diese ist zwar mehr als 150 m vom Baugrundstück entfernt und optisch vom M. in Höhe des Baugrundstücks nur noch umrisshaft wahrzunehmen. Das erhebliche Verkehrsaufkommen der Niederlassung mit ihren umfangreichen Parkflächen sowie der breit angelegten Zufahrt für Lastkraftwagen lässt es indes durchaus naheliegend erscheinen, dass auch diese noch eine prägende Wirkung bis zum Baugrundstück hin entfaltet und dadurch die städtebauliche Situation beeinflusst. In diesem Fall könnte von einem allgemeinen Wohngebiet erst recht keine Rede sein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Soweit das Verwaltungsgericht seine Betrachtung demgegenüber auf die Bebauung innerhalb des von H. gelegenen Dreiecks beschränkt hat, greift das - wie ausgeführt - aufgrund der Prägung des Vorhabengrundstücks auch durch die westlich gelegene umfangreiche Büro-/Gewerbenutzung zu kurz. Auch ist dem mit 15 bis 20 m recht schmalen M. eine trennende Wirkung nicht zuzubilligen, sodass die Bebauung beidseits zu betrachten ist. Offenbleiben kann demgegenüber, ob und wieweit die Bebauung der Seitenstraßen N. und O. in die Bewertung einzubeziehen ist. Dort findet sich ganz überwiegend Wohnbebauung; diese hat jedoch kein Gewicht, das die aufgeführten gewerblichen Nutzungen als unterordnet oder gar als Fremdkörper erscheinen lassen könnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>In einem Mischgebiet sind sonstige Gewerbebetriebe, zu denen der Betrieb des Klägers zählt, zulässig, wenn sie das Wohnen nicht wesentlich stören (§ 6 Abs. 1 BauNVO). Bei der bauplanungsrechtlichen Beurteilung, ob ein Betrieb als im Sinne des § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO das Wohnen nicht wesentlich störender und damit im Mischgebiet zulässiger Gewerbebetrieb zu bewerten ist, ist im Ausgangspunkt eine - eingeschränkte - typisierende Betrachtung anzustellen. Der Betrieb ist als unzulässig einzustufen, wenn von Betrieben seines Typs bei funktionsgerechter Nutzung üblicherweise für die Umgebung in diesem Sinne unzumutbare Störungen ausgehen können; auf das Maß der konkret hervorgerufenen oder in Aussicht genommenen Störungen kommt es grundsätzlich nicht an. Eine typisierende Betrachtungsweise verbietet sich jedoch, wenn der zur Beurteilung stehende Betrieb zu einer Branche gehört, deren übliche Betriebsformen hinsichtlich des Störgrades eine große Bandbreite aufweisen, die von nicht wesentlich störend bis störend oder sogar erheblich belästigend reichen kann. Ist mithin ein Betrieb einer Gruppe von Gewerbebetrieben zuzurechnen, die hinsichtlich ihrer Mischgebietsverträglichkeit zu wesentlichen Störungen führen können, aber nicht zwangsläufig führen müssen, wäre eine abstrahierende Bewertung des konkreten Betriebs nicht sachgerecht. Ob solche Betriebe in einem Mischgebiet zugelassen werden können, hängt dann von ihrer jeweiligen Betriebsstruktur ab. Maßgeblich ist, ob sich die Störwirkungen, die die konkrete Anlage bei funktionsgerechter Nutzung erwarten lässt, innerhalb des Rahmens halten, der durch die Gebietseigenart vorgegeben ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.11.2021 - 4 C 5.20 -, NVwZ 2022, 416 = BauR 2022, 615 = juris Rn. 10 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Bei Bordellen sowie bordellartigen Betrieben, zu denen die Rechtsprechung bislang auch die hier vorliegenden „Terminwohnungen“ gezählt hat (vgl. zuletzt OVG S-H, Beschl. v. 10.8.2021 - 5 LA 311/20 -, juris Rn. 6), handelt es sich um das Wohnen wesentlich störende Betriebe, wenn diese Nachteile und Belästigungen, insbesondere Lärm des Zu- und Abgangsverkehrs und sonstige „milieubedingte“ Unruhe, mit sich bringen. Eine milieubedingte Unruhe kann dann entstehen, wenn diese Betriebe nach außen in Erscheinung treten wie z.B. durch Werbung im Umfeld des Betriebs oder auch eine entsprechende (Fassaden-)Gestaltung (Aufschriften, auffällige Werbung). Hierdurch hebt sich die Einrichtung von der umgebenden Nutzung ab und ist so dem Prostitutionsgewerbe ohne weiteres zuzuordnen. Eine deutlich in Erscheinung tretende prostitutive Einrichtung löst zusätzlichen, gebietsfremden (Publikums-)Verkehr aus, weil hierdurch vor allem Laufkundschaft angesprochen und zum Besuch des Betriebs angeregt wird. Das bringt Unruhe (Immissionen, insbesondere Lärm) in das Mischgebiet, beeinträchtigt damit die Wohnruhe und wirkt sich negativ auf das soziale Umfeld (§ 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB) und die Wohnbedürfnisse, insbesondere von Familien mit Kindern aus (vgl. § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB). Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass nicht nur die Kunden, sondern auch die Prostituierten die Betriebsstätte aufsuchen und wieder verlassen müssen, weil in Bordellen oder bordellähnlichen Betrieben im Unterschied zu solchen der Wohnungsprostitution nicht gewohnt wird und dort zudem immer mehrere Prostituierte tätig sind. Hinzu kommt, dass solche Betriebe regelmäßig auch in den Nachtstunden geöffnet sind. Schließlich kann mit nach außen in Erscheinung tretenden Bordellen oder bordellartigen Betrieben ein sog. Trading-down-Effekt einhergehen. Die sichtbare Existenz eines Bordells oder bordellähnlichen Betriebs kann auch Auswirkungen auf den Bodenmarkt im betroffenen Gebiet haben (§ 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB). Ferner sind negative Folgen für die Bewohnerstrukturen denkbar, weil Bewohner sich durch einen solchen ohne weiteres wahrnehmbaren Betrieb veranlasst sehen können, das Gebiet zu verlassen (vgl. § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB). Das gilt umso mehr, wenn die Prostituierten oder andere Bedienstete vor dem Betrieb für den Besuch der Einrichtung „werben“. Die Besorgnis einer milieubedingten Unruhe kann hingegen nicht damit begründet werden, dass Prostitution milieutypische Begleiterscheinungen wie Belästigungen durch alkoholisierte oder unzufriedene Kunden, organisierte Kriminalität, Menschen- und Drogenhandel, ausbeutender Zuhälterei, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verstößen gegen das Waffenrecht und Gewaltkriminalität bis hin zu Tötungsdelikten nach sich ziehen kann. Hierbei handelt es sich nicht um städtebauliche Belange. Solchen Gefahren, die in keinem Baugebiet hingenommen werden können, ist vielmehr mit ordnungsrechtlichen Mitteln zu begegnen. Ausgehend von einem so verstandenen Begriff der „milieubedingten“ Unruhe kann der im Rahmen des § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO anzustellenden typisierenden Betrachtungsweise nur ein Betrieb zugrunde gelegt werden, der nach außen als solcher in Erscheinung tritt und/oder in den Nachtstunden (ab 22.00 Uhr) betrieben wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.11.2021 - 4 C 5.20 -, NVwZ 2022, 416 = BauR 2022, 615 = juris Rn. 13 ff. m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Gemessen daran scheidet in diesem Fall die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren und dem Verwaltungsgericht - vor Ergehen des vorzitierten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts im Einklang mit der mindestens überwiegenden Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe - angestellte typisierende Betrachtung aus. Ausweislich des mit dem Bauantrag vorgelegten Betriebskonzepts ist der Betrieb als solcher von der Straße nicht erkennbar. Auf Werbung oder Hinweisschilder jeder Art an der Stätte der Leistung wird ausdrücklich vollständig verzichtet. Von der Straße einsehbar ist der Betrieb ebenfalls nicht; im Gegenteil ist die Straßenfront mit Ausnahme der beiden Eingangstüren zu den Apartments vollständig geschlossen. Das alles entspricht ausweislich der im Termin betrachteten Lichtbilder der Realität. Laufkundschaft wird sich vor diesem Hintergrund nicht einstellen. Die Betriebszeiten sind auf werktags von 8 bis 22 Uhr begrenzt; in den Ruhezeiten und an Sonn- und Feiertagen findet kein Betrieb statt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Vor diesem Hintergrund bedarf es einer umfassenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, ob es sich um einen wesentlich störenden Gewerbebetrieb oder aber um einen Betrieb handelt, der allein wohnähnlich in Erscheinung tritt und daher mit der in der näheren Umgebung vorhandenen Wohnnutzung verträglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.11.2021 - 4 C 5.20 -, NVwZ 2022, 416 = BauR 2022, 615 = juris Rn. 20). Diese Betrachtung fällt - worüber in der mündlichen Verhandlung zwischen den Beteiligten Einigkeit bestand - zugunsten des Klägers aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Gegen eine wesentliche, in einem Mischgebiet nicht mehr verträgliche Störwirkung sprechen die bereits dargestellte fehlende Erkennbarkeit der Prostitutionsausübung von der Straße aus, die Laufkundschaft und damit verbundene Begleiterscheinungen ausschließt, sowie die Achtung der Ruhezeiten. Hinzu tritt die geringe Größe des Vorhabens mit maximal zwei gleichzeitig arbeitenden Prostituierten. Die Angabe des Klägers, zu erwarten sei ein Besuch von maximal zwei Kunden pro Stunde, erscheint realistisch und liegt deutlich unter dem, was Arztpraxen oder andere freiberufliche Dienstleister an Kundenverkehr erzeugen. Damit steht angesichts der Struktur des I. als wochentags stark befahrener Verbindungsstrecke zwischen den zwei Hauptverkehrsachsen J. und P. zugleich fest, dass mit störendem Kraftfahrzeugmehrverkehr nicht zu rechnen ist. Das allenfalls geringe zusätzliche Verkehrsaufkommen geht im allgemeinen Verkehrsaufkommen unter. Von zentraler Bedeutung ist für den Senat schließlich, dass das Prostitutionsgewerbe in zwei von anderen Nutzungseinheiten separaten Gebäuden mit eigenen Zugängen zur Straße und nicht innerhalb eines Wohnhauses ausgeübt werden soll. Das schließt einen Kundenverkehr im Treppenhaus eines Wohnhauses und damit ständige Begegnungen zwischen Prostituierten, ihren Kunden und Hausbewohnern, die einem Wohngebäude ein nachteiliges Gepräge verleihen und den Wohnwert mindern können, zuverlässig aus. Für die Gebietsverträglichkeit spricht in diesem Einzelfall indiziell schließlich auch, dass der Kläger die Apartments (zumindest) rund vier Jahre formell illegal betrieben hat, ohne dass mit konkreten Störwirkungen begründete Nachbarbeschwerden bekannt geworden sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Gegenläufige Gesichtspunkte, die eine gewisse Störintensität begründen, erreichen in diesem Einzelfall kein Gewicht, welches bezogen auf das hier vorliegende Mischgebiet und die generelle Akzeptanz gewerblicher Nutzungen in einem solchen eine andere Betrachtung rechtfertigen könnte. Ein erhebliches Störpotenzial birgt allerdings der Umstand, dass - insofern im Unterschied zu einer „klassischen“ Wohnungsprostitution - in den Apartments ständig wechselnde Prostituierte tätig sind, sodass eine soziale Anbindung an die Nachbarschaft mit der daraus resultierenden Sozialkontrolle fehlt. Das Interesse der Prostituierten an einer verträglichen Beziehung zu den Nachbarn ist in solchen Fällen typischerweise als gering anzusehen. Wenn es zu Störungen kommt, fehlt zudem ein verlässlicher Ansprechpartner vor Ort. Das daraus folgende Störpotenzial, das einer Vereinbarkeit mit einer Wohnnutzung jedenfalls auf demselben Grundstück grundsätzlich entgegenstehen kann, wird in diesem Fall allerdings entscheidend durch die separaten Gebäude mit eigenen Straßenzugängen gemindert. Ein unmittelbarer Kontakt zwischen Prostituierten, Hausbewohnern und Kunden findet im Regelfall nicht statt; dies verringert das Konfliktpotenzial. Soweit Fensteröffnungen zum Durchgang zum Hinterhaus sowie zum Hinterhof dazu führen, dass Geräusche im rückwärtigen Wohnhaus wahrnehmbar sind, kann dies zwar durchaus zu Störungen der dortigen Bewohner führen. Eine Intensität, die die Nutzung als mischgebietsunverträglich erscheinen lässt, ist bei nur zwei Prostituierten und in Anbetracht der konkreten baulichen Verhältnisse indes nicht zu erwarten. Soweit es schließlich im Jahr 2014 eine Nachbarbeschwerde gab, ist nicht dokumentiert, dass konkrete Störungen und nicht nur allgemein eine damals illegale Nutzung zur Prostitutionsausübung beklagt wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>3.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Ist das Vorhaben demzufolge mit städtebaulichem Planungsrecht vereinbar, stehen keine weiteren im Verfahren nach § 63 Abs. 1 NBauO zu prüfenden Hindernisse entgegen. Soweit das Vorhaben den Grenzabstand nicht einhält, erklärt § 5 Abs. 10 Nr. 1 und 2 NBauO dies bei rechtmäßig bestehenden Gebäuden, die die Abstände nach § 5 Abs. 1 bis 8 NBauO nicht einhalten, bei Änderungen innerhalb dieses Gebäudes sowie der Änderung der Nutzung von Räumen und Gebäuden für unbeachtlich. Diese seit dem 1. Januar 2022 in Kraft befindliche Vorschrift greift hier zum Vorteil des Klägers ein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Dass schließlich ein Aufenthaltsraum im östlichen Apartment gegenwärtig nicht über die nach § 43 Abs. 3 NBauO erforderlichen Fenster verfügt, weil das einzige Fenster mit einer Werbetafel verhängt ist, steht der Erteilung der Baugenehmigung nicht entgegen. Denn § 43 NBauO zählt im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nicht zum Prüfungsumfang (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 NBauO). Zudem sehen die Bauvorlagen das notwendige Fenster, das vor einer Betriebsaufnahme zu öffnen ist, ausdrücklich vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 oder 2 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V. mit § 708 Nr. 10, § 709 Satz 2, § 711 Satz 1 und 2 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>Beschluss</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 36.000,- EUR festgesetzt (§ 52 Abs. 1 GKG in Orientierung an Nr. 1 f), 3 a) der Streitwertannahmen des Senats bis zum 31. Mai 2021 (NdsVBl. 2002, 192)); der Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts wird dementsprechend geändert (§ 63 Abs. 3 Satz 1 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006976&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,481
sg-aachen-2022-09-01-6-kr-5222-kh-er
{ "id": 831, "name": "Sozialgericht Aachen", "slug": "sg-aachen", "city": 380, "state": 12, "jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
6 KR 52/22 KH ER
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-08T10:01:23"
"2022-10-17T11:09:55"
Beschluss
ECLI:DE:SGAC:2022:0901.6KR52.22KH.ER.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen werden abgelehnt.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird endgültig auf 800.000,-- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Gründe:</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin begehrt im Eilverfahren die Ausstellung von (vorläufigen) Bescheinigungen über die Einhaltung der Strukturmerkmale für die Strukturprüfung des OPS 8-98f.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist Trägerin des Krankenhauses E.. Am 10.08.2021 beantragte sie die Durchführung von Strukturprüfungen nach § 275d Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) zum OPS 8-98f (Aufwendige intensivmedizinische Komplexbehandlung [Basisprozedur]) für die Intensivstationen 1b und 2c des Krankenhauses E..</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">In Strukturgutachten jeweils vom 21.01.2022 gelangte die Antragsgegnerin zu dem Ergebnis, einzelne Strukturmerkmale würden nicht eingehalten und lehnte den Antrag mit Bescheid vom  01.02.2022 für die Station 1b sowie mit weiterem Bescheid vom 01.02.2022 für die Station 2c ab. Zur Begründung führte sie aus, die Prüfung habe ergeben, dass von der Richtlinie des Medizinischen Dienstes Bund nach§ 283 Absatz 2 Satz 1 Nr. 3 SGB V (Regelmäßige Begutachtungen zur Einhaltung von Strukturmerkmalen von OPS-Kodes nach § 275d SGB V [StrOPS-RL]) vorgegebene Strukturmerkmale für das Krankenhaus E. nicht eingehalten würden. So sehe die StrOPS-RL eine 24-stündige Verfügbarkeit am Standort des Krankenhauses u.a. für kontinuierliche und intermittierende Nierenersatzverfahren vor. Diese sei indessen im vorliegenden Fall für intermittierende Nierenersatzverfahren nicht gegeben. Zwar bestehe eine Kooperation des Krankenhauses der Antragstellerin mit dem Nierenzentrum E.. Ausweislich des am 01.07.2012 abgeschlossenen Kooperationsvertrages indessen sei die Kooperation lediglich auf die Einrichtung des kontinuierlichen Nierenersatzverfahrens ausgerichtet. Überdies sei nach der StrOPS-RL Voraussetzung, dass mindestens 6 von den 8 folgenden Fachgebieten innerhalb von maximal 30 Minuten am Standort des Krankenhauses als klinische Konsiliardienste (krankenhauszugehörig oder aus benachbarten Krankenhäusern) verfügbar seien: Kardiologie, Gastroenterologie, Neurologie, Anästhesiologie, Viszeralchirurgie, Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie. Diese Erreichbarkeit sei nicht gewährleistet, wenn zwei Fachgebiete durch eine Person in Personalunion wahrgenommen würden. Aus den von der Antragstellerin eingereichten Dienstplänen indessen gehe hervor, dass an zahlreichen Tagen in der Zeit von Januar bis März 2021 ein Rufdienst in Personalunion für die Fachgebiete „Gefäßchirurgie“ und „Viszeralchirurgie“ bestanden habe. Darüber hinaus existierten für die Fachgebiete „Neurologie“ und „Neurochirurgie“ 24-stündige telemedizinische Konsultationsmöglichkeiten mit der Klinik für Neurologie bzw. mit der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums B.. Insoweit seien jedoch weder Kooperationsvereinbarungen, noch Dienstpläne oder Qualifikationsnachweise vorgelegt worden. Die Antragsgegnerin habe sich deshalb lediglich davon überzeugen können, dass 4 Fachgebiete innerhalb von maximal 30 Minuten am Standort des Krankenhauses als klinische Konsiliardienste verfügbar seien.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin legte Widersprüche gegen beide Bescheide ein, über die bislang noch nicht entschieden wurde.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 08.03.2022 hat sich die Antragstellerin an das Gericht gewandt und Eilrechtsschutz begehrt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin führt aus, bei negativer Strukturprüfung dürfe sie nach § 8 Abs. 4 Satz 3 des Gesetzes über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz - KHEntgG) Entgelte für die Leistungen des zugrundeliegenden OPS-Codes nicht berechnen. Auch wäre es ihr nicht möglich, die personelle sowie sachliche Infrastruktur zur Leistungserbringung der zugrundeliegenden wesentlichen medizinischen Leistungen aufrechtzuerhalten. Denn es bestehe die Gefahr, die bestehenden Arbeitsverhältnisse im betroffenen Leistungsbereich mangels Vergütung der im zugrundeliegenden OPS-Code benannten Leistungen nicht weiterführen zu können, wenn die Vergütung der Leistungen nicht mindestens vorläufig sichergestellt sei. Überdies bestehe die Gefahr, dass Personal abwandere, weil es in ihrem Krankenhaus seine eigentliche Leistung nicht mehr erbringen kann. Schließlich würden sämtliche von der StrOPS-RL vorgegebenen Strukturmerkmale eingehalten.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr eine vorläufige Bescheinigung über die Einhaltung der Strukturmerkmale i.S.d. § 275d Abs. 2 SGB V für die stattgehabte Strukturprüfung des OPS-Codes 8-98f (Aufwendige intensivmedizinische Komplexbehandlung [Basisprozedur]) für die Station 1b am Standort Krankenhaus Düren gGmbH auszustellen,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">sowie,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr eine vorläufige Bescheinigung über die Einhaltung der Strukturmerkmale i.S.d. § 275d Abs. 2 SGB V für die stattgehabte Strukturprüfung des OPS-Codes 8-98f (Aufwendige intensivmedizinische Komplexbehandlung [Basisprozedur]) für die Station 2c am Standort Krankenhaus E. gGmbH auszustellen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Anträge abzulehnen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Sie hält an ihrer bisherigen Auffassung fest und führt ergänzend aus, es fehle bereits an einem allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis für die Eilanträge. Denn auf Grund der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche der Antragstellerin dürfe diese Leistungen nach dem hier in Rede stehenden OPS 8-98f weiter vereinbaren und abrechnen. Ausgeschlossen sei dies erst nach Rechtskraft der Entscheidung, die die Nichterfüllung der Strukturvoraussetzungen ausweist.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Eilanträge sind zulässig. Insbesondere fehlt es nicht an einem allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin. Denn sie darf ohne positive Bescheinigung im Sinne von § 275d Abs. 2 SGB V Leistungen nach dem OPS 8-98f nach Zustellung der Entscheidung der Antragsgegnerin vom 01.02.2022 nicht mehr vereinbaren und auch nicht mehr abrechnen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Bereits der Wortlaut der Vorschrift des § 275d Abs. 4 Satz 2 SGB V gebietet diese Auslegung. Denn der „Abschluss einer Strukturprüfung“ liegt mit der positiven oder negativen Entscheidung der Antragsgegnerin nach § 275d Abs. 2 SGB V vor. Dies ergibt sich aus der Bedeutung des Substantivs „Abschluss“, das „Ende“ bzw. „Beendigung“ meint (siehe allgemein Duden, Onlinewörterbuch der Deutsch Sprache, abrufbar unter https://www.duden.de/suchen/dudenonline/Abschluss). Eine solche Interpretation steht überdies in Einklang mit der allgemeinen Vorschrift des § 8 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X), nach der das Verwaltungsverfahren mit Erlass des Verwaltungsaktes endet.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dem lassen sich die Gesetzesmaterialien nicht mit Erfolg entgegenhalten. Zwar geht die  Begründung zum Entwurf eines Gesetzes für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz) davon aus, dass der Ausschluss nach § 275d Abs. 4 Satz 1 SGB V „insofern erst ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Entscheidung [gilt], die die Nichterfüllung der Strukturvoraussetzungen ausweist“ (BT-Drs. 19/14871, Seite 107).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Diese Auffassung indessen hat im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden. Zwar kommt der Entstehungsgeschichte für die Ermittlung des objektiven Willens des Gesetzgebers erhebliches Gewicht zu. Es ist indessen nicht ausreichend, dass sich Voraussetzungen oder Rechtsfolgen allein der Gesetzesbegründung entnehmen lassen. Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann hiernach bei der Interpretation nur insoweit berücksichtigt werden, als er sich auch im Gesetzestext niedergeschlagen hat (BVerfG, Urteil vom 16.02.1983 – 2 BvE u.a. = juris, Rdnr. 124; BGH, Beschluss vom 08.02.2011 – X ZB 4/10 = juris, Rdnr. 20; BSG, Urteil vom 28.05.2019 – B 1 KR 32/18 R = juris, Rdnr. 29). Die Gesetzesmaterialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (BFH, Urteil vom 24.10.2017 – II R 44/15 = juris, Rdnr. 31; BFH, Urteil vom 30.09.2015 – II R 13/14 = juris, Rdnr. 15; ähnlich BGH, Urteil vom 12.03.2013 – XI ZR 227/12 = juris, Rdnr. 37).</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Erst Recht müssen diese Überlegungen Geltung beanspruchen, als es sich um Vorstellungen der Mitglieder des Ausschusses für Gesundheit handelt, die nicht unbesehen als Auslegungsregeln zu übernehmen sind (allgemein BSG, Urteil vom 17.08.2000 – B 10 LW 12/99 R = juris, Rdnr. 38).</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Überdies zeigt die Begründung des Ausschusses für Gesundheit, dass sie auf einer rechtsfehlerhaften Einschätzung der prozessualen Situation der Krankenhäuser beruht (siehe zum Folgenden <em>Knispel</em>, jurisPR-SozR 9/2022 Anm.3). Denn es trifft nicht zu, dass allein aufgrund der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen ein negatives Prüfergebnis das Krankenhaus entsprechende Leistungen weiter vereinbaren und abrechnen darf (so aber die Auffassung des Ausschusses für Gesundheit in der Begründung zu § 275d Abs. 4 Satz 2 SGB V, siehe BT-Drs. 19/14871, Seite 107; ebenso SG Nürnberg, Beschluss vom 10.02.2022 – S 18 KR 981/21 ER = juris, Rdnr. 33). Wie sich aus § 275d Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB V ergibt, besteht die mit der aufschiebenden Wirkung verbundene Vollzugshemmung jedoch erst mit Vorliegen einer positiven Bescheinigung über die Einhaltung der Strukturmerkmale (<em>Knispel</em>, a.a.O.; ähnlich <em>Heberlein</em>, in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 65. Edition, Stand: 01.06.2022,§ 275d SGB V, Rdnr. 20). Auch aus diesem Grund kann der Auffassung des Ausschusses nicht gefolgt werden, der Ausschluss nach § 275d Abs. 4 Satz 1 SGB V gelte erst ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Entscheidung (<em>Knispel</em>, a.a.O.).</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die systematische Gesetzesauslegung bestätigt diese Interpretation. Eine nähere Betrachtung des SGB V zeigt, dass das Gesetz den Begriff der „Rechtskraft“ bzw. den Begriff „rechtskräftig“ (richtig mit Blick auf die Bescheinigung über das Ergebnis der Prüfung wäre indessen der Begriff der Bestandskraft [§§ 39 ff. SGB X]) an verschiedenen Stellen kennt (etwa in §§ 4a Abs. 7 Satz 7, 106d Abs. 2 Satz 9, 109 Abs. 6 Satz 2, 110a Abs. 3 Satz 9, 160 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Insofern hätte es nahe gelegen, dass – wenn der Ausschluss nach § 275d Abs. 4 Satz 1 SGB V erst ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der negativen Entscheidung nach § 275d Abs. 2 SGB V gelten soll – dies auch ausdrücklich im Normtext geregelt wird. Darüber hinaus zeigt auch § 8 Abs. 4 Satz 3 KHEntgG, dass es nicht auf die Rechtskraft (bzw. Bestandskraft) der negativen Entscheidung ankommt, sondern lediglich auf den Abschluss der Prüfung durch den MD. Denn jene Vorschrift, die explizit auf § 275d SGB V Bezug nimmt, spricht „von d[er] Prüfung nach§ 275d SGB V“. Anhaltspunkte, dass es insoweit auf die Rechts- bzw. Bestandskraft der negativen Entscheidung ankommen soll, ergeben sich nicht.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Schließlich bestätigt eine an Sinn und Zweck von § 275d SGB V orientierte Auslegung die hier vertretene Interpretation. Die Vorschrift soll das Krankenhaus nur davor schützen, eine Leistung allein deshalb nicht mehr abrechnen zu können, weil die Strukturprüfung nicht fristgerecht abgeschlossen werden konnte, aber nicht davor, dass die Prüfung zu einem negativen Ergebnis führt (vgl. wiederum <em>Knispel</em>, a.a.O.). Dass nur eine vom Krankenhaus nicht zu vertretene Verzögerung zur weiterbestehenden Berechtigung einer Vereinbarung und Abrechnung von Leistungen führt, ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/14871, Seite 106: „<em>Für diesen Fall</em> wird gewährleistet, dass betroffene Krankenhäuser bis zum Abschluss einer Strukturprüfung bislang erbrachte Leistungen weiterhin vereinbaren und abrechnen können“ (Hervorhebung hinzugefügt).</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Ein Rechtsschutzbedürfnis ist der Antragstellerin auch nicht deshalb zu versagen, weil eine Bescheinigung nach § 275d Abs. 2 SGB V aus von ihr nicht zu vertretenden Gründen erst nach dem 31.12.2021 vorliegt und sie deshalb Leistungen nach dem OPS 8-98f weiter erbringen darf. Denn die Strukturprüfung durch die Antragsgegnerin wurde mit Zustellung der negativen Bescheinigung vom 01.02.2022 abgeschlossen im Sinne von§ 275d Abs. 4 Satz 2 SGB V, so dass die Antragstellerin ab jenem Datum keine Leistungen nach dem OPS 8-98f mehr vereinbaren oder abrechnen darf.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Eilanträge sind jedoch nicht begründet.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin jedenfalls keinen Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen vermocht.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Grundlage für einen Anspruch der Antragstellerin ist § 275d Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 SGB V. Die materiellen Strukturmerkmale ergeben sich insbesondere aus der Anlage 4 der StrOPS-RL 2021 (abrufbar unter https://md-bund.de/fileadmin/dokumente/Presse-mitteilungen/2021/2021_05_27/21_05_27_GESAMTSTROPS_RL_mit_Anlagen.pdf). Für den hier streitgegenständlichen OPS 8-98f (aufwendige intensivmedizinische Komplexbehandlung [Basisprozedur]) ist danach u.a. eine 24-stündige Verfügbarkeit folgender Verfahren am Standort des Krankenhauses Voraussetzung:</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">↳ Apparative Beatmung</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">↳ Nicht invasives und invasives Monitoring</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">↳ Kontinuierliche und intermittierende Nierenersatzverfahren</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">↳ Endoskopie des Gastrointestinaltraktes und des Tracheobronchialsystems</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">↳ Intrakranielle Druckmessung oder Hybrid-Operationssaal für kardiovaskuläre Eingriffe</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">↳ Transösophageale Echokardiographie.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin nicht glaubhaft zu machen vermocht, dass für intermittierende Nierenersatzverfahren eine 24-stündige Verfügbarkeit gewährleistet ist. Zwar existiert ein schriftlicher Kooperationsvertrag zwischen ihr und dem Nierenzentrum E. vom 01.07.2012, der nach § 7 Abs. 2 jenes Vertrages auch weiterhin gilt, da er bislang nicht gekündigt wurde. Gegenstand jenes Vertrages indessen ist ausschließlich das kontinuierliche Nierenersatzverfahren, nicht hingegen das intermittierende Nierenersatzverfahren. Dies ergibt sich aus einer Zusammenschau von Präambel und § 4 jenes Vertrages. Danach beabsichtigen die Antragstellerin und das Nierenzentrum E., das kontinuierliche Nierenersatzverfahren mit dem GENIUS® 90 Therapiesystem zu etablieren, wobei das Nierenzentrum E. während des Einsatzes der GENIUS® 90 Therapie-Systeme auf den Intensivstationen eine 24-stündige Bereitschaft gewährleistet, die bei Problemen angefordert werden kann.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Nach Anlage 4 der StrOPS-RL 2021 ist weiter Voraussetzung, dass mindestens 6 von den 8 folgenden Fachgebieten innerhalb von maximal 30 Minuten am Standort des Krankenhauses als klinische Konsiliardienste (krankenhauszugehörig oder aus benachbarten Krankenhäusern) verfügbar sind: Kardiologie, Gastroenterologie, Neurologie, Anästhesiologie, Viszeralchirurgie, Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie. Das Gericht teilt insoweit die Auslegung der Antragsgegnerin, dass klinische Konsiliardienste für zwei unterschiedliche Fachgebiete in Personalunion der Anforderung einer Verfügbarkeit innerhalb von maximal 30 Minuten nicht gerecht wird. Denn es ist der Fall denkbar, dass gleichzeitig ein Einsatz bei einem gefäßchirurgischen Patienten und bei einem viszeralchirurgischen Patienten besteht.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Prüfung durch die Antragsgegnerin hat jedoch ergeben, dass ausweislich der vorgelegten Rufdienstpläne an zahlreichen Tagen im Zeitraum Januar bis März 2021 ein Rufdienst in Personalunion für die Gebiete Gefäßchirurgie und Viszeralchirurgie bestand. Überdies existieren für die Fachgebiete „Neurologie“ und „Neurochirurgie“ 24-stündige telemedizinische Konsultationsmöglichkeiten mit der Klinik für Neurologie bzw. mit der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums B.. Weder im Verwaltungsverfahren, noch im Eilverfahren sind indessen insoweit Kooperationsvereinbarungen, Dienstpläne, oder Qualifikationsnachweise vorgelegt worden. Eine Erfüllung der Anforderungen ist folglich für die Fachgebiete „Neurologie“ und „Neurochirurgie“ nicht glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die o.g. Strukturvoraussetzung wird damit lediglich für die Fachgebiete Kardiologie, Gastroenterologie, Anästhesiologie und Unfallchirurgie, mithin für 4 Fachgebiete, erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung von §§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs.1, 161 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz (GKG). Danach ist der Streitwert nach der sich aus dem Antrag der Antragstellerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Die Antragstellerin hat hier mit Schriftsatz vom 30.05.2022 nachvollziehbar ausgeführt, dass sich, ausgehend von den Zahlen für das Kalenderjahr 2021, ein Gesamtverlust jedenfalls in Höhe der vorgetragenen 800.000,00 Euro ergibt, wenn Leistungen nach dem streitigen OPS 8-98f in 2022 nicht mehr erbracht werden dürfen. Das Gericht hat von der im Eilverfahren an sich gebotenen Reduzierung des Hauptsachestreitwerts (siehe hierzu etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.01.2012 – L 7 KA 91/11 B = juris, Rdnr. 3; Hessisches LSG, Beschluss vom 26.01.2007 – L 4 KA 73/06 ER = juris, Rdnr. 9) keine Gebrauch gemacht, weil die Antragstellerin eine Vorwegnahme der Hauptsache begehrt. Es erscheint deshalb gerechtfertigt, den vollen Streitwert auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anzusetzen (allgemein etwa LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.05.2012 – L 10 P 5/12 B ER = juris, Rdnr. 28).</p>
346,479
ovgni-2022-09-01-13-ob-22222
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
13 OB 222/22
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-08T10:01:11"
"2022-10-17T11:09:55"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 31. August 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die weitere Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht wird zugelassen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p><strong>1.</strong> Die Rechtswegbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 31. August 2022 bleibt ohne Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass für den Antrag des Antragstellers vom 30. August 2022 auf richterliche Anordnung der Durchsuchung der Wohnung des abzuschiebenden pakistanischen Staatsangehörigen B. in B-Stadt zum Zwecke dessen Ergreifung nach § 56 Abs. 6 und Abs. 8 Satz 1 AufenthG der Verwaltungsrechtsweg unzulässig ist und das Verfahren an das sachlich und örtlich zuständige Amtsgericht C. verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Nach der Rechtsprechung des Senats ist für den Erlass einer richterlichen Durchsuchungsanordnung nach § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG gemäß §§ 3 Abs. 1 Satz 3, 25 Abs. 1 Satz 2 NPOG das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die zu durchsuchende Wohnung liegt. Zur Begründung hat der Senat in seinem Beschluss vom 10. März 2021 (- 13 OB 102/21 -, Nds. Rpfl. 2022, 30 - juris Rn. 5 ff.) ausgeführt:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>"</em><strong><em>a.</em></strong><em> Der Verwaltungsrechtsweg ist in diesen Fällen nicht nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Rechtsgrundlage und damit streitentscheidende Norm für den Erlass der begehrten Durchsuchungsanordnung ist allerdings § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG, so dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die Streitigkeit ist auch nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO ausdrücklich zugewiesen. Eine abdrängende Sonderzuweisung besteht insbesondere nicht in § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. mit den Vorschriften in Buch 7 des FamFG, weil eine Durchsuchungsanordnung keine Freiheitsentziehung im Sinne dieser Vorschrift zur Folge hat (vgl. im Einzelnen zum fehlenden freiheitsentziehenden Charakter einer Durchsuchung: VG Arnsberg, Beschl. v. 11.11.2019 - 3 I 24/19 -, juris Rn 20 ff. m.w.N.).</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Auch enthält § 58 Abs. 10 AufenthG keine abdrängende Sonderzuweisung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO. Nach dieser Vorschrift bleiben weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG betreffen, unberührt. § 58 Abs. 10 AufenthG selbst weist Anträge nach § 58 Abs. 8 AufenthG mithin nicht ausdrücklich einer anderen Gerichtsbarkeit zu.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Eine abdrängende Sonderzuweisung ergibt sich auch nicht aus § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO, wonach öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden können. Um eine Streitigkeit nach Landesrecht handelt es sich bei einer Durchsuchung nach der bundesgesetzlichen Rechtsgrundlage des § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG nicht (a.A. OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 22.7.2020 - 4 O 25/20 -, juris Rn. 5 unter Hinweis auf die Befugnis der Länder zur Regelung des Verwaltungsverfahrens nach Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG). Der Richtervorbehalt als solcher ist bereits durch Art. 13 Abs. 2 GG vorgegeben und bedarf keiner Regelung durch den Landesgesetzgeber, die noch dem Verwaltungsverfahren zugerechnet werden könnte. Die Regelungen der Zuständigkeit des zum Erlass einer Durchsuchungsanordnung berufenen Gerichtszweigs und auch des anzuwendenden gerichtlichen Verfahrensrechts gehen hingegen über die Regelung des Verwaltungsverfahrens hinaus und berühren die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>b.</em></strong><em> Der Bundesgesetzgeber hat aber mit § 58 Abs. 10 AufenthG eine neben der allgemeinen Regelung des § 40 Abs. 1 VwGO gleichrangige eigenständige Zuständigkeitsregelung geschaffen, mit der es im Sinne einer Öffnungsklausel den Ländern jedenfalls ermöglicht wird, bereits bestehende Rechtswegregelungen für Wohnungsdurchsuchungen auf die Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG zu erstrecken.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Diese Auslegung ist mit dem Wortlaut des § 58 Abs. 10 AufenthG vereinbar. Dort heißt es: "Weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen, bleiben unberührt." Diese Formulierung setzt nicht voraus, dass es sich bei den in Bezug genommenen landesrechtlichen Regelungen um weitergehende materiellrechtliche Befugnisse handelt. Denn die angesprochenen Absätze 5 bis 9 des § 58 AufenthG enthalten nicht nur materiellrechtliche Befugnisse, sondern - neben dem Richtervorbehalt in § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - auch weitere Regelungen zu dem bei der Durchsuchung einzuhaltenden Verfahren (vgl. Abs. 7, Abs. 9). Das lässt es zu, § 58 Abs. 10 AufenthG auch auf die landesrechtlichen Regelungen der gerichtlichen Zuständigkeit zu beziehen.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Bestätigt wird dieses Verständnis durch die Entstehungsgeschichte der Norm. In der Begründung der insoweit Gesetz gewordenen Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat (BT-Drs. 19/10706, S. 14) heißt es:</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt"><em>"In der Praxis einiger Länder besteht das Problem, dass keine eindeutige Rechtsgrundlage für das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zum Zwecke des Auffindens des Abzuschiebenden besteht.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt"><em>Die Abschiebung ist eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung. Mit der Einfügung wird eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage im Aufenthaltsgesetz geschaffen.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt"><em>Durch den Satz "Weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen, bleiben unberührt" wird geregelt, dass durch die Absätze 5 bis 9 bundeseinheitlich ein Mindestmaß für Betretensrechte bei Abschiebungen vorgegeben wird. Bestehende Regelungen der Länder, die weitergehende Befugnisse geben, gelten fort, ohne dass hierzu ein Rechtsakt der Länder notwendig wäre."</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Daraus wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber nicht in bestehende landesrechtliche Regelungen eingreifen wollte, die auch vor der bundesgesetzlichen Änderung Wohnungsdurchsuchungen zum Zwecke der Durchführung einer Abschiebung erlaubten (so etwa in Niedersachsen die §§ 24, 25 NPOG). In diesen Ländern wird die bereits bestehende landesrechtliche Rechtslage gegebenenfalls durch die nunmehrigen bundesrechtlichen Befugnisse materiellrechtlich angereichert. Sofern landesrechtliche Vorschriften eine weitergehende Eingriffsbefugnis zugestehen, bleiben diese bestehen (vgl. VG Karlsruhe, Beschl. v. 10.12.2019 - 3 K 7772/19 -, juris Rn. 23). Der Gesetzgeber wollte ersichtlich ausschließlich materiellrechtliche Mindeststandards einführen. Eine Zuständigkeitsverlagerung war hingegen nicht beabsichtigt (vgl. VG Arnsberg, Beschl. v. 11.11.2019 - 3 I 24/19 -, juris Rn. 43 ff.; a.A. OLG Köln, Beschl. v. 7.8.2020 - I-2 Wx 178/20, 2 Wx 178/20 -, juris Rn. 14; VG Braunschweig, Beschl. v. 22.1.2021 - 5 E 21/21 -, juris Rn. 3 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 6.10.2020 - 22 I 28/20 -, juris Rn. 5 ff.; jew. m.w.N.). Der Senat versteht § 58 Abs. 10 AufenthG - der eine auf gleichem Rang in der Normenpyramide wie § 40 Abs. 1 VwGO stehende bundesgesetzliche Regelung darstellt - daher als eine spezielle punktuelle Ermächtigung des Bundesgesetzgebers an die Länder, auf in Absätzen 5 bis 9 des § 58 AufenthG geregelte Materien und damit auch auf den Richtervorbehalt in § 58 Abs. 8 Satz 1, Abs. 6 AufenthG bezogene eigene landesrechtliche Normen beizubehalten, die materiell-rechtlich strengere Befugnisse zum Durchsuchen von Wohnungen als § 58 Abs. 6, Abs. 7 AufenthG gewähren oder die die bundesgesetzliche "Mindestbefugnis" in § 58 Abs. 6, Abs. 7 AufenthG - wie §§ 25 Abs. 1 Sätze 2 und 3, 19 Abs. 4 NPOG - vor allem hinsichtlich des zuständigen Gerichts(zweiges) und des anzuwendenden gerichtlichen Verfahrens ausführen oder ausfüllen. Damit hat der Bundesgesetzgeber die Länder punktuell in teilweiser Zurücknahme der Wahrnehmung seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 und 2, Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 (Aufenthaltsrecht) und Nr. 1 (Gerichtsverfassung, gerichtliches Verfahren) GG in vergleichbarer Weise wie für die ausschließliche Bundesgesetzgebungskompetenz in Art. 71 GG vorgesehen ermächtigt, eine von der bereits existierenden Bundesnorm (§ 40 Abs. 1 VwGO) abweichende Rechtswegzuweisung beizubehalten.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Für diese Auslegung spricht zudem, dass der Gesetzgeber - anders als etwa in § 56a Abs. 9 AufenthG - in Kenntnis der unterschiedlichen Landesregelungen nicht nur von der ausdrücklichen Bestimmung des Rechtswegs, sondern zugleich von der Regelung des anzuwendenden Verfahrensrechts abgesehen hat. Das unterscheidet § 58 AufenthG auch von der Regelung des § 4 VereinsG, der die Zuständigkeit für die dort geregelten Anordnungen und Maßnahmen dem Verwaltungsgericht zuweist, gleichzeitig aber das anwendbare Verfahrensrecht regelt. Hätte der Bundesgesetzgeber eine Änderung der bisher landesrechtlich bestimmten Zuständigkeit bewirken wollen, so wäre es erforderlich gewesen, diese Änderung sowie das anwendbare Verfahrensrecht ausdrücklich zu regeln. Das ist jedoch nicht geschehen. Die materiellrechtliche Neuregelung des § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG ist daher, da § 58 Abs. 10 AufenthG als speziellere Regelung gegenüber dem allgemeinen § 40 Abs. 1 VwGO vorrangig anzuwenden ist, durch die bestehenden landesrechtlichen Zuständigkeitsregelungen zu ergänzen.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>In Niedersachsen war und ist nun gemäß § 3 Abs. 1 Satz 3 NPOG auch bei Anwendung des § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG für den Erlass einer Durchsuchungsanordnung damit weiterhin das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Wohnung liegt (§ 25 Abs. 1 Satz 2 NPOG). Die anzuwendenden Verfahrensvorschriften bestimmen sich nach § 25 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit § 19 Abs. 4 NPOG.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Ob für eine Zuständigkeit der Amtsgerichte auch praktische Erwägungen sprechen (vgl. einerseits VG Braunschweig, a.a.O., Rn. 13; andererseits VG Arnsberg, a.a.O., Rn. 45 ff., und den Vorschlag des Bundesrats in der Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Verschiebung des Zensus in das Jahr 2022 und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes, BR-Drs. 504/20 (B), S. 2 f., und hierzu die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drs. 19/23566, S. 4), bedarf zur Beantwortung der Frage der allein nach rechtlichen Kriterien zu entscheidenden Zuständigkeit keiner Würdigung.</em>"</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>An dieser Auffassung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 12. Juli 2022 (- 3 ZB 6/21 -, juris) und dem vorausgehend des OLG Oldenburg vom 4. November 2021 (- 12 W 124/21 -, juris) nach erneuter Prüfung fest. Er teilt insbesondere die Annahme nicht, dass § 58 Abs. 10 AufenthG einen Rückgriff auf bereits bestehende landesrechtliche Rechtswegregelungen für Wohnungsdurchsuchungen nur dann eröffnet, wenn bestehende landesrechtliche Regelungen zugleich materielle Eingriffsbefugnisse gewähren, die weitergehen als die Mindestbefugnisse nach § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG (vgl. BGH, Beschl. v. 12.7.2022<br>- 3 ZB 6/21 -, juris Rn. 20 ff.). Der Wortlaut des § 58 Abs. 10 AufenthG trägt diese Auslegung ersichtlich nicht. Denn der Gesetz gewordene Wortlaut stellt nicht auf <em>"weitergehende Befugnisse"</em> (so aber BGH, Beschl. v. 12.7.2022 - 3 ZB 6/21 -, juris Rn. 24) ab, sondern auf <em>"weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen"</em>. Da der Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 des § 58 AufenthG sich offensichtlich nicht in materiellrechtlichen Eingriffsbefugnissen erschöpft, können folglich <em>"weitergehende Regelungen der Länder"</em> auch bereits bestehende landesrechtliche Rechtswegregelungen für Wohnungsdurchsuchungen sein, wie sie in Niedersachsen in §§ 3 Abs. 1 Satz 3, 25 Abs. 1 Satz 2 NPOG bereits vor Einführung der Absätze 4 bis 10 des § 58 AufenthG durch Art. 1 Nr. 15 des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) mit Wirkung vom 21. August 2019 getroffen und seitdem beibehalten worden sind. Dieses Auslegungsergebnis findet, wie ausgeführt, Bestätigung in der Entstehungsgeschichte der aufenthaltsrechtlichen Regelungen und letztlich auch in praktischen Erwägungen, insbesondere bisher mangelnden verwaltungsprozessualen Regelungen für das nicht kontradiktorische Verfahren der Durchsuchungsanordnung und der gegebenen Zuständigkeit der Amtsgerichte für andere Anordnungen mit Bezug zum Abschiebungsvollzug (bspw. Vorbereitungshaft und Sicherungshaft nach § 62 AufenthG, §§ 415 ff. FamFG, § 23a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 6 GVG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p><strong>2.</strong> Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, die von § 17b Abs. 2 Satz 1 GVG nicht erfasst werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.10.1993 - BVerwG 1 DB 34.92 -, juris Rn. 18), folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Ein Streitwert ist nicht festzusetzen. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Kostentatbestand in Nr. 5502 der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) zum Gerichtskostengesetz.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p><strong>3. </strong>Die weitere Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht ist gemäß § 17a Abs. 4 Satz 5 Alt. 2 GVG zuzulassen, da der Senat von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12. Juli 2022 (- 3 ZB 6/21 -, juris) abweicht.</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006953&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,399
vg-koln-2022-09-01-18-k-650219-18-k-6
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18 K 6502/19; 18 K 6555/19; 18 K 6558/19 und 18 K 6559/19
"2022-09-01T00:00:00"
"2022-09-02T10:01:24"
"2022-10-17T11:09:41"
Beschluss
ECLI:DE:VGK:2022:0901.18K6502.19.18K655.00
<h2>Tenor</h2> <ul class="ol"><li><p>I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) werden gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (RL 2012/34/EU) zur Vorabentscheidung vorgelegt:</p> <ul class="ol"><li><p>1. Ist Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU dahin auszulegen, dass eine Entgeltregelung auch dann tauglicher Beschwerdegegenstand sein kann, wenn der Geltungszeitraum für das zu überprüfende Entgelt bereits abgelaufen ist (Beschwerde gegen ein sog. Altentgelt)?</p> </li> <li><p>2. Wenn Frage 1. mit Ja beantwortet wird: Ist Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU dahin auszulegen, dass die Regulierungsstelle bei einer ex-post-Kontrolle von Altentgelten diese mit ex-tunc-Wirkung für unwirksam erklären kann?</p> </li> <li><p>3. Wenn Fragen 1. und 2. mit Ja beantwortet werden: Lässt die Auslegung des Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU eine nationale Regelung zu, die eine Möglichkeit der ex-post-Kontrolle von Altentgelten mit ex-tunc-Wirkung ausschließt?</p> </li> <li><p>4. Wenn Fragen 1. und 2. mit Ja beantwortet werden: Ist Art. 56 Abs. 9 RL 2012/34/EU dahin auszulegen, dass die dort vorgesehenen Abhilfemaßnahmen der zuständigen Regulierungsstelle auf Rechtsfolgenseite dem Grunde nach auch die Anordnung der Rückzahlung von rechtswidrig erhobenen Entgelten durch den Infrastrukturbetreiber eröffnet, obwohl Rückzahlungsansprüche zwischen Eisenbahnunternehmen und Infrastrukturbetreiber auf dem Zivilrechtsweg eingefordert werden können?</p> </li> <li><p>5. Wenn Frage 1. oder 2. mit Nein beantwortet wird: Ergibt sich ein Beschwerderecht gegen Altentgelte jedenfalls dann aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), wenn ohne eine Beschwerdeentscheidung der Regulierungsstelle nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) eine Erstattung von rechtswidrigen Altentgelten nach den Regelungen des nationalen Zivilrechts ausgeschlossen ist?</p> </li> </ul> </li> <li><p>II. Die Verfahren werden bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über die vorgelegten Fragen ausgesetzt.</p> </li> </ul><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">I. Sachverhalt</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">4</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. Die Klägerinnen sind bzw. waren öffentliche, nicht-bundeseigene Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die in mehreren Regionen des Bundesgebiets und zum Teil im benachbarten Ausland Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) anbieten. Dabei nutz(t)en sie für die Erbringung der Verkehrsleistung das Schienennetz der Beigeladenen.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">2. Die Beigeladene gehört zum bundeseigenen Konzern Deutsche Bahn AG und betreibt das größte Schienennetz in der Bundesrepublik Deutschland. Für die Nutzung ihrer Schienenwege erhebt sie Entgelte, die aufgrund von individuell geschlossenen Rahmennutzungsverträgen gegenüber den Klägerinnen gelten. Diese Trassenentgelte werden auf Basis der Entgeltgrundsätze in den jeweils von der Beigeladenen einseitig erstellten geltenden Schienennetz-Nutzungsbedingungen (SNB) einschließlich der jeweils geltenden Entgeltliste erhoben. Für jede Netzfahrplanperiode (NFP) erstellt die Beigeladene ein Trassenpreissystem (TPS), aus dem sich das zu entrichtende Entgelt ergibt. Eine NFP und damit auch die jeweiligen Trassenentgelte gelten für die Dauer eines Jahres.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">3. Die Beklagte ist die oberste deutsche Regulierungsbehörde.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">4. Die Klageverfahren sind Folge des Urteils des Gerichtshofs vom 9. November 2017 (CTL Logistics, C-489/15, EU:C:2017:834), wonach zivilrechtliche Erstattungsansprüche nur möglich sind, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts zuvor von der Regulierungsstelle oder einem Gericht, das deren Entscheidung überprüft hat, im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden ist.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">5. Die Klägerinnen begehren im Rahmen einer Beschwerdeentscheidung, dass die Beklagte von der Beigeladenen erhobene Altentgelte im Rahmen einer ex-post-Kontrolle auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft. Im Einzelnen betroffen sind vorliegend die NFP 2002/2003 bis 2010/2011. Bestandteil der TPS für diese Jahre war auch ein sog. Regionalfaktor, den die Beigeladene zum 1. Januar 2003 einführte. Die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Entgelte wird u.a. mit Blick auf diesen Regionalfaktor seit jeher zwischen den Beteiligten – und einer Vielzahl weiterer EVU – kontrovers diskutiert. Die Entgelte wurden seitens der EVU deshalb teilweise lediglich unter Vorbehalt gezahlt oder auch gekürzt und einbehalten.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">6. Die Entgelthöhen und Entgeltgrundsätze unterlagen im Zeitraum ihrer Geltung einer Vorabprüfung durch die Regulierungsbehörde (ex-ante-Kontrolle), der im Falle rechtswidriger Regelungen ein Widerspruchsrecht nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz der jeweils geltenden Fassung (AEG a.F.) zustand. Erst seit Einführung des Eisenbahnregulierungsgesetzes (ERegG) sind Entgelthöhen und Entgeltgrundsätze genehmigungspflichtig.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">7. Für die vorliegend betroffenen Entgeltzeiträume machte die Beklagte von ihrem Widerspruchsrecht im Rahmen der Vorabprüfung keinen Gebrauch. Seit 2008 unterzog die Beklagte das TPS der Beigeladenen verschiedenen Überprüfungen, insbesondere auch mit Blick auf die Rechtmäßigkeit der Regionalfaktoren.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">8. Erstmalig mit Bescheid vom 5. März 2010 erklärte die Beklagte die Regelungen der Beigeladenen über die Erhebung des Regionalfaktors in ihren SNB ab dem 12. Dezember 2010 (Beginn der NFP 2010/2011) für ungültig. In diesem Bescheid verwies die Beklagte für die finanzielle (Rück-)Abwicklung der Entgeltregelungen auf den Zivilrechtsweg. Nachdem die Beigeladene Widerspruch eingelegt hatte, schloss die Beklagte am 30. Juli 2010 mit der Beigeladenen einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, mit dem der vorhergehende Bescheid aufgehoben und zudem vereinbart wurde, dass die Beigeladene die Regionalfaktoren ab dem 11. Dezember 2011 nicht mehr und ausgewählte Regionalfaktoren ab dem 12. Dezember 2010 nur noch in reduzierter Höhe erheben werde.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">9. Währenddessen war es lange Zeit herrschende – bis hoch zum obersten deutschen Zivilgericht – nationale Zivilgerichtspraxis, dass die Zivilgerichte die vereinbarten Infrastrukturnutzungsentgelte nach nationalem Zivilrecht im Einzelfall inter partes auf ihre Billigkeit hin überprüften, im Falle der Unbilligkeit für unwirksam erklärten und etwaige Zahlungsansprüche der Infrastrukturbetreiber ablehnten bzw. Rückzahlungsansprüchen der EVU stattgaben (vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 2011, KZR 18/10). Eine überwiegende Zahl der betroffenen EVU machte von der Möglichkeit der zivilrechtlichen Klage Gebrauch, von denen die meisten jedoch noch nicht rechtskräftig entschieden worden sind. Die Klägerinnen hingegen haben – jedenfalls für den überwiegenden Teil der streitigen Zeiträume – bisher davon abgesehen, entsprechende Klagen vor den Zivilgerichten anhängig zu machen.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">10. Auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Berlin zur Auslegung der – in den hier erheblichen Punkten im Wesentlichen gleichlautenden – Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (RL 2001/14/EG) entschied der Gerichtshof mit Urteil vom 9. November 2017 (CTL Logistics, C-489/15, EU:C:2017:834), dass eine unabhängig vom Eisenbahnregulierungsrecht vorgenommene auf den Einzelfall abstellende zivilrechtliche Billigkeitskontrolle im Widerspruch zum Diskriminierungsverbot des Art. 4 Abs. 5 RL 2001/14/EG stehe. Eine Erstattung von Entgelten nach den Vorschriften des Zivilrechts komme nur in Betracht, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts mit der Regelung über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zuvor von der Regulierungsstelle oder einem Gericht, das deren Entscheidung überprüft hat, im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden sei und der Anspruch auf Erstattung Gegenstand einer Klage vor den nationalen Zivilgerichten sein könne und nicht der in der genannten Regelung vorgesehenen Klage.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">11. Daraufhin stellten die Klägerinnen sowie eine Vielzahl weiterer EVU im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nach § 66, § 68 ERegG bei der Beklagten den Antrag, die Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Entgelte festzustellen sowie teilweise die Beigeladene zur Rückzahlung der zu viel gezahlten Entgelte zu verpflichten.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">12. Die Beklagte lehnte die Anträge mit mehreren im Wesentlichen gleich lautenden Beschlüssen vom 11. Oktober 2019, 3. Juli 2020 und 11. Dezember 2020 ab. Zur Begründung führte sie an, die Anträge seien unstatthaft und damit unzulässig, da sie keinen tauglichen Verfahrensgegenstand beträfen und die begehrten Rechtsfolgen nicht von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt seien. Effektiver Rechtsschutz habe den Zugangsberechtigten während der Geltung der betroffenen Entgelte im Zeitraum der entsprechenden NFP zugestanden (ex-ante-Prüfung). Weder dem Unionsrecht noch der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei zu entnehmen, dass der regulierungsrechtliche Rechtsschutz bis hin zur ex-post-Überprüfung von Altentgelten reiche. Eine Rückabwicklung könne vielfältige Herausforderungen verursachen, die ihrerseits die Berufsfreiheit und den Wettbewerb beeinträchtigen könnten.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">13. Mit ihren am 6. bzw. 9. November 2019 beim vorlegenden Gericht erhobenen Klagen begehren die Klägerinnen – und in weiteren Verfahren eine Vielzahl weiterer EVU – die Verpflichtung der Beklagten, die Unwirksamkeit der Infrastrukturnutzungsentgelte mit Wirkung für die Vergangenheit und daran anknüpfende Rückzahlungspflichten der Beigeladenen insoweit festzustellen, als die Entgelte auf Regionalfaktoren beruhten. Der Wortlaut des auf die streitgegenständlichen Beschwerden anwendbaren Art. 56 RL 2012/34/EU sei bewusst weit gefasst, um die Entscheidungsbefugnis der Regulierungsstelle weit zu halten, so dass auch Altentgelte ein tauglicher Beschwerdegegenstand seien. Es seien die Regulierungsziele des Unionsrechts, wie das des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, in den Blick zu nehmen, dessen Wahrung oberste Aufgabe der Regulierungsstelle sei. Insoweit sei ein effektiver Rechtsschutz zu gewährleisten, Art. 47 GRCh. Das Verhalten der Beklagten, die Beschwerden der Klägerinnen als unzulässig abzulehnen, blockiere jedoch das gestufte Rechtsschutzsystem, das der Gerichtshof in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) vorgesehen habe. Die Entscheidung der Beklagten führe zu einer Perpetuierung der durch die rechtswidrigen Entgelte verursachten Wettbewerbsbeeinträchtigungen.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">14. Die Beigeladene wehrt sich mit dem Argument gegen die Klage, es habe seinerzeit ausreichend effektiven Rechtsschutz gegeben, den die Klägerinnen hätten nutzen können. Das Vorabprüfungsverfahren unter der RL 2001/14/EG habe eine nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit mit rückwirkender Wirkung entbehrlich gemacht.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">15. Währenddessen wurden die bei den nationalen Zivilgerichten anhängigen (Rück-)Zahlungsklagen nach der Entscheidung des Gerichtshofs vom 9. November 2017 (CTL Logistics, C-489/15, EU:C:2017:834) teils bis zum Bestehen einer bestandskräftigen Entscheidung der Regulierungsstelle – um die es vorliegend geht – ausgesetzt. Teils wurden die Verfahren vor den nationalen Zivilgerichten weiter verhandelt und die Ansprüche dabei nunmehr auf (unionsrechtliches) Kartellrecht gestützt. In diesem Zusammenhang ist auf nationaler Ebene durch den Bundesgerichtshof höchstrichterlich im Nachgang an die vorgenannte Entscheidung des Gerichtshofs entschieden worden, dass Ansprüche auf Kartellschadensersatz nach Art. 102 AEUV oder auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung nicht durch nationales oder europäisches Eisenbahnregulierungsrecht ausgeschlossen seien. Zur Geltendmachung dieser Ansprüche sei daher auch keine vorherige regulierungsbehördliche Feststellung erforderlich (vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Oktober 2019 – KZR 39/19 – Trassenentgelte I).</p> </li> <li><span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">16. Das Kammergericht Berlin sieht dies anders und hat mit Beschluss vom 10. Dezember 2020 (Az.: 2 U 4/12 Kart) dem Gerichtshof Fragen dazu vorgelegt, ob eine Überprüfung eisenbahnrechtlicher Zugangsentgelte am Maßstab des Art. 102 AEUV und/oder des nationalen Kartellrechts mit der RL 2001/14/EG vereinbar sei. Dieses Vorabentscheidungsverfahren (DB Station & Service, C-721/20) ist zum Zeitpunkt der hiesigen Vorlage noch nicht entschieden. In einem weiteren Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof (Urteil vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie, C-120/20, EU:C:2021:553) hat dieser zur Frage der Entscheidung eines ordentlichen Gerichts über die Höhe von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastrukturen entschieden, dass die Bestimmungen des Art. 30 Abs. 2, 5 und 6 RL 2001/14/EG, der im Wesentlichen den Nachfolgebestimmungen in Art. 56 RL 2012/34/EU gleicht, unmittelbare Wirkung entfalten können.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">17. Aus den insgesamt 32 beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren, die die nachträgliche Überprüfung von Infrastrukturnutzungsentgelten für die Nutzung des Schienennetzes der Beigeladenen sowie der Personenbahnhöfe der DB Station & Service AG (Beigeladene in anderen Klageverfahren) betreffen und im Wesentlichen vergleichbar sind, hat das Gericht zum Zwecke der Vorlage der oben genannten Fragen an den Gerichtshof diejenigen ausgewählt, für die sich weder aus Gründen der Rechtshängigkeit eines parallelen Zivilverfahrens und des insofern anhängigen Vorabentscheidungsersuchens des Kammergerichts Berlin (DB Station & Service, C-721/20) noch wegen Besonderheiten in der Person des Klägers/der Klägerin zum Zeitpunkt der Vorlage an den Gerichtshof Zweifel an der Zulässigkeit der verwaltungsgerichtlichen Klage ergeben.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">18. Vor einer Entscheidung über die verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren erscheint es zweckmäßig, die Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs zu den in der Entscheidungsformel gestellten Fragen einzuholen, weil die Sachentscheidung von der Beantwortung der Vorlagefragen abhängt.</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">23</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">II. Rechtlicher Rahmen</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><em>Charta der Grundrechte der Europäischen Union</em></p> <span class="absatzRechts">26</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">19. Art. 47 GRCh lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">„Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"><em>Vertrag über die Europäische Union</em></p> <span class="absatzRechts">33</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">20. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">„Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks"><em>RL 2012/34/EU</em></p> <span class="absatzRechts">37</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">21. Erwägungsgrund 34 RL 2012/34/EU lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">„Um Transparenz und einen nichtdiskriminierenden Zugang zu den Eisenbahnfahrwegen und Leistungen in Serviceeinrichtungen für alle Eisenbahnunternehmen sicherzustellen, sollten alle für die Wahrnehmung der Zugangsrechte benötigten Informationen in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen veröffentlicht werden. Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen sollten der international gängigen Praxis entsprechend in mindestens zwei Amtssprachen der Union veröffentlicht werden.“</p> <span class="absatzRechts">40</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">22. Erwägungsgrund 42 RL 2012/34/EU lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">„Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden und so weit wie möglich angestrebt werden, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und ohne Diskriminierung zu entsprechen. Diese Regelungen sollten einen fairen Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsdiensten ermöglichen.“</p> <span class="absatzRechts">43</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">23. Erwägungsgrund 76 RL 2012/34/EU lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">„Die effiziente Verwaltung und gerechte und nichtdiskriminierende Nutzung der Eisenbahninfrastruktur erfordern die Einrichtung einer Regulierungsstelle, die über die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie wacht und als Beschwerdestelle fungiert, unbeschadet der Möglichkeit gerichtlicher Nachprüfung. Diese Regulierungsstelle sollte ihre Informationsanfragen und Entscheidungen mit geeigneten Sanktionen durchsetzen können.“</p> <span class="absatzRechts">46</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">24. Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">„Aufgaben der Regulierungsstelle</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">(1) Ist ein Antragsteller der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er unbeschadet des Artikels 46 Absatz 6 das Recht, die Regulierungsstelle zu befassen, und zwar insbesondere gegen Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers oder gegebenenfalls des Eisenbahnunternehmens oder des Betreibers einer Serviceeinrichtung betreffend:</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">a) den Entwurf und die Endfassung der Schienennetz-Nutzungsbedingungen;</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">b) die darin festgelegten Kriterien;</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">c) das Zuweisungsverfahren und dessen Ergebnis;</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">d) die Entgeltregelung;</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">e) die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die er zu zahlen hat oder hätte;</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">f) die Zugangsregelungen gemäß Artikel 10 bis 13;</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">g) den Zugang zu Leistungen gemäß Artikel 13 und die dafür erhobenen Entgelte.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">(6) Die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Infrastrukturbetreiber festgesetzten Entgelte dem Kapitel IV Abschnitt 2 entsprechen und nichtdiskriminierend sind. Verhandlungen zwischen Antragstellern und einem Infrastrukturbetreiber über die Höhe von Wegeentgelten sind nur zulässig, sofern sie unter Aufsicht der Regulierungsstelle erfolgen. Die Regulierungsstelle hat einzugreifen, wenn bei den Verhandlungen ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieses Kapitels droht.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">(9) Binnen eines Monats ab Erhalt einer Beschwerde prüft die Regulierungsstelle die Beschwerde und fordert gegebenenfalls einschlägige Auskünfte an und leitet Gespräche mit allen Betroffenen ein. Innerhalb einer vorab bestimmten angemessenen Frist, in jedem Fall aber binnen sechs Wochen nach Erhalt aller sachdienlichen Informationen entscheidet sie über die betreffenden Beschwerden, trifft Abhilfemaßnahmen und setzt die Betroffenen über ihre begründete Entscheidung in Kenntnis. Unbeschadet der Zuständigkeiten der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung des Wettbewerbs in den Schienenverkehrsmärkten entscheidet sie gegebenenfalls von sich aus über geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von Antragstellern, Marktverzerrung und anderer unerwünschter Entwicklungen in diesen Märkten, insbesondere in Bezug auf Absatz 1 Buchstaben a bis g.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Entscheidungen der Regulierungsstelle sind für alle davon Betroffenen verbindlich und unterliegen keiner Kontrolle durch eine andere Verwaltungsinstanz. Die Regulierungsstelle muss ihre Entscheidungen durchsetzen können und gegebenenfalls geeignete Sanktionen, einschließlich Geldbußen, verhängen können.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Wird die Regulierungsstelle mit einer Beschwerde wegen der Verweigerung der Zuweisung von Fahrwegkapazität oder wegen der Bedingungen eines Angebots an Fahrwegkapazität befasst, entscheidet die Regulierungsstelle entweder, dass keine Änderung der Entscheidung des Infrastrukturbetreibers erforderlich ist, oder schreibt eine Änderung dieser Entscheidung gemäß den Vorgaben der Regulierungsstelle vor.“</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks"><em>Nationales Eisenbahnregulierungsgesetz (ERegG)</em></p> <span class="absatzRechts">62</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">25. § 66 Abs. 1, 3, 4 ERegG lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">„Die Regulierungsbehörde und ihre Aufgaben</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">(1) Ist ein Zugangsberechtigter der Auffassung, durch Entscheidungen eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er unabhängig von § 52 Absatz 7 das Recht, die Regulierungsbehörde anzurufen.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">(3) Kommt eine Vereinbarung über den Zugang oder über einen Rahmenvertrag nicht zustande, können die Entscheidungen des Eisenbahninfrastrukturunternehmens durch die Regulierungsbehörde auf Antrag des Zugangsberechtigten oder von Amts wegen überprüft werden. Der Antrag ist innerhalb der Frist zu stellen, in der das Angebot zum Abschluss von Vereinbarungen nach § 13 Absatz 1 Satz 2 oder § 54 Satz 3 angenommen werden kann.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">(4) Überprüft werden können auf Antrag oder von Amts wegen insbesondere</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">1.   der Entwurf und die Endfassung der Schienennetz-Nutzungsbedingungen,</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">2.   der Entwurf und die Endfassung der Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen,</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">3.   die darin festgelegten Kriterien,</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">4.   das Zuweisungsverfahren und dessen Ergebnis,</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">5.   die Entgeltregelung,</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">6.   die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat oder hätte,</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">7.   die Höhe und Struktur sonstiger Entgelte, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat oder hätte,</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">8.   die Zugangsregelungen nach den §§ 10, 11 und 13,</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">9.   Entscheidungen zum Verkehrsmanagement hinsichtlich möglicher Verstöße gegen das Eisenbahnregulierungsrecht,</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">10.   Entscheidungen über die Art und Weise der Erneuerungen und von geplanten und ungeplanten Instandhaltungen hinsichtlich möglicher Verstöße gegen das Eisenbahnregulierungsrecht, wobei die jeweiligen Planungen von der Überprüfung mit umfasst sind; § 9 des Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes bleibt unberührt; und</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">11.   die Erfüllung der Anforderungen der §§ 8 bis 8d, einschließlich der Anforderungen in Hinsicht auf Konflikte zwischen den Interessen von Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahninfrastrukturunternehmen.“</p> <span class="absatzRechts">79</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">26. § 67 Abs. 1 ERegG lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">„Befugnisse der Regulierungsbehörde, Überwachung des Verkehrsmarktes, Vollstreckungsregelungen</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">(1) Die Regulierungsbehörde kann gegenüber Eisenbahnen und den übrigen nach diesem Gesetz Verpflichteten die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um Verstöße gegen dieses Gesetz oder unmittelbar geltende Rechtsakte der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes zu beseitigen oder zu verhüten. Vollstreckt die Regulierungsbehörde ihre Anordnungen, so beträgt die Höhe des Zwangsgeldes abweichend von § 11 Absatz 3 des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes bis zu 500 000 Euro.“</p> <span class="absatzRechts">83</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">27. § 68 ERegG lautet:</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">„Entscheidungen der Regulierungsbehörde</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">(1) Binnen eines Monats ab Erhalt einer Beschwerde prüft die Regulierungsbehörde die Beschwerde. Dazu fordert sie von den Betroffenen die für die Entscheidung erforderlichen Auskünfte an und leitet Gespräche mit allen Betroffenen ein. Innerhalb einer vorab bestimmten angemessenen Frist, in jedem Fall aber binnen sechs Wochen nach Erhalt aller erforderlichen Informationen entscheidet sie über die Beschwerde, trifft Abhilfemaßnahmen und setzt die Betroffenen von ihrer Entscheidung, die zu begründen ist, in Kenntnis. Unabhängig von den Zuständigkeiten der Kartellbehörden entscheidet sie von Amts wegen über geeignete Maßnahmen zur Verhütung von Diskriminierung und Marktverzerrung.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">(2) Beeinträchtigt im Fall des § 66 Absatz 1 oder 3 die Entscheidung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens das Recht des Zugangsberechtigten auf Zugang zur Eisenbahninfrastruktur, so</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">1.   verpflichtet die Regulierungsbehörde das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung der Entscheidung oder</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">2.   entscheidet die Regulierungsbehörde über die Geltung des Vertrags oder des Entgeltes, erklärt entgegenstehende Verträge für unwirksam und setzt die Vertragsbedingungen oder Entgelte fest.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung nach Satz 1 kann auch Schienennetz-Nutzungsbedingungen oder Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen betreffen.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">(3) Die Regulierungsbehörde kann mit Wirkung für die Zukunft das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung von Maßnahmen im Sinne des § 66 Absatz 4 verpflichten oder diese Maßnahmen für ungültig erklären, soweit diese nicht mit den Vorschriften dieses Gesetzes oder unmittelbar geltenden Rechtsakten der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes in Einklang stehen.“</p> <span class="absatzRechts">92</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">III. Entscheidungserheblichkeit und Rechtswertung</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">94</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">28. Die Sachentscheidung der beim vorlegenden Gericht anhängigen und im Hinblick auf die hiesige Vorlage ausgesetzten verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren hängt von der Auslegung der RL 2012/34/EU ab (unten 1.). Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist die Richtlinie in Fortführung der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahingehend auszulegen, dass sie eine Überprüfung von Altentgelten vorsieht bzw. gebietet und eine Entscheidung mit ex-tunc Wirkung ermöglicht (unten 2.). Rückzahlungsansprüche sind hingegen ausschließlich auf dem Zivilrechtsweg zu verfolgen (unten 3.).</p> </li> <li><span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">29. 1. Die vorgelegten Fragen sind für die vorliegend betroffenen Rechtsstreite entscheidungserheblich.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">30. Der Erfolg der anhängigen Klagen hängt zunächst maßgeblich von der Beantwortung der Fragen 1. und 2. ab. Mit diesen will das vorlegende Gericht klären lassen, ob Art. 56 RL 2012/34/EU dahin auszulegen ist, dass den Klägerinnen eine Beschwerdemöglichkeit mit dem Ziel einer ex-post-Kontrolle sogenannter Altentgelte mit Wirkung für die Vergangenheit zusteht. Die Beklagte hat die erhobenen Beschwerden als unzulässig abgewiesen und damit eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache abgelehnt. Sollte die Beschwerdemöglichkeit der Klägerinnen dem Grunde nach bestehen, so ist die Beklagte gehalten, die Rechtmäßigkeit der strittigen Entgelte ex-post zu prüfen, das Ergebnis mit erga omnes Wirkung festzuhalten und ggf. weitere hieran anknüpfende Rechtsfolgen auszusprechen. Dabei kann dahinstehen, ob die nationalen Ermächtigungsgrundlagen in §§ 66 ff. ERegG europarechtskonform ausgelegt werden müssen oder die Richtlinienvorschrift in Art. 56 RL 2012/34/EU unmittelbar anzuwenden ist (vgl. zur unmittelbaren Anwendbarkeit: EuGH, Urteil vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie, C-120/20, EU:C:2021:553, Rn. 58).</p> </li> <li><span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">31. Frage 3. wirft die Frage einer nationalen Abweichungsbefugnis auf.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">32. Frage 4. richtet den Blick darauf, wie unwirksame Entgelte rückabgewickelt werden können. Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) geht davon aus, dass zivilgerichtliche Rückzahlungsansprüche eine vorherige öffentlich-rechtliche Entgeltkontrolle verlangen. Zu klären ist, ob der Regulierungsstelle auf Rechtsfolgenseite aus Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU die Befugnis zukommt, selbst Rückzahlungsansprüche festzusetzen, um ein mögliches Neben- bzw. Hintereinander von mehreren Rechtswegen zu vermeiden.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">33. Sollte eine Beschwerdemöglichkeit dem Grunde nach nicht bestehen (Frage 1. wird verneint), die Beschwerde auf Rechtsfolgenseite nicht zu einer Unwirksamkeitserklärung ex tunc führen können (Frage 1. wird bejaht, Frage 2. wird verneint) oder eine nationale Abweichungsbefugnis angenommen werden (Frage 1. und 3. werden bejaht), so ist mit Frage 5. jedenfalls für die konkrete Einzelfallkonstellation, die aus den Rechtswirkungen der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) entstanden ist, zu klären, ob die Beklagte die Beschwerde als unstatthaft hätte verwerfen dürfen oder eine Sachentscheidung zu erlassen war.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">34. Da sowohl der Wortlaut der nationalen Ermächtigungsgrundlagen in §§ 66 ff. ERegG als auch der entsprechenden Richtlinienvorschrift in Art. 56 RL 2012/34/EU zumindest teilweise offen gehalten ist und sich auch nach den herkömmlichen Auslegungsmethoden (Historie, Systematik, Sinn und Zweck) keine eindeutigen Schlüsse ziehen lassen, hält das vorlegende Gericht eine Auslegung des entsprechenden unionsrechtlichen Richtlinienrechts durch den Gerichtshof für angezeigt.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">35. 2. Es stellt sich demnach im Ausgangspunkt die Frage, ob nach Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU die Regulierungsstelle die Kompetenz bzw. sogar die Pflicht hat, Altentgelte mit Wirkung für die Vergangenheit auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist dies zu bejahen.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">36. a) Ausgehend vom Wortlaut der auszulegenden unionsrechtlichen Vorschrift ist festzustellen, dass dieser die vorliegend betroffene Konstellation der mutmaßlich rechtswidrigen Altentgelte auf Tatbestandsebene ebenso erfasst wie er die Möglichkeit der Überprüfung dieser Entgelte mit Wirkung für die Vergangenheit auf Rechtsfolgenebene zulässt. Der Wortlaut der Vorschrift ist äußerst weit gefasst und erlaubt, wenn nicht sogar suggeriert, ein weites Verständnis der der Regulierungsstelle eingeräumten Befugnisse. Art. 56 RL 2012/34/EU, der mit „Aufgaben der Regulierungsstelle“ überschrieben ist, skizziert den Rahmen der der Regulierungsstelle obliegenden Aufgaben und in diesem Kontext zugleich auch der ihr zu diesem Zwecke zur Verfügung stehenden Kompetenzen.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">37. Die von der Richtlinienvorschrift an die Beschwerdekonstellation gestellten tatbestandlichen Anforderungen erfassen ohne weiteres eine etwaige Rechtsverletzung durch rechtswidrige Altentgelte. Auf Tatbestandsseite knüpft Art. 56 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RL 2012/34/EU an die Auffassung eines Antragstellers an, „ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein“. Diese Formulierung ist in mehrfacher Hinsicht offen und lässt die dahinterstehende Intention des Richtliniengebers vermuten, einen möglichst breiten Anwendungsbereich für das Beschwerderecht der Eisenbahnunternehmen zu eröffnen. Indem die Aufzählung der für das Beschwerderecht relevanten Sachverhalte neben den beiden beispielhaft genannten Alternativen „ungerecht behandelt“ und „diskriminiert“ als Auffangkonstellation „auf andere Weise in seinen Rechten verletzt“ nennt, wird die Beschwerdemöglichkeit nach dem Richtlinienrecht auf jede denkbare Situation der Rechtsverletzung auf Seiten des Eisenbahnunternehmens erstreckt. Die Formulierung „worden zu sein“ bringt dabei zum Ausdruck, dass der Erfolg der Rechtsverletzung – gleich ob durch ungerechte Behandlung, Diskriminierung oder auf andere Weise – beim Beschwerdeführer, jedenfalls nach seiner Auffassung, bereits eingetreten sein muss. Hieraus kann der Rückschluss gezogen werden, dass Konstellationen des vorbeugenden Rechtsschutzes, in denen der Beschwerdeführer der Auffassung ist, zukünftig in seinen Recht verletzt zu <em>werden</em>, nach dieser Vorschrift noch nicht das Recht des Eisenbahnunternehmens begründen, die Regulierungsstelle zu befassen. Dieses Verständnis wird auch dadurch bestätigt, dass der vorbeugende Rechtsschutz gesondert in Art. 56 Abs. 2 Satz 2 RL 2012/34/EU aufgegriffen wird. Wird mit der Formulierung in Art. 56 Abs. 1 Satz 1 RL 2012/34/EU lediglich das Erfordernis aufgestellt, dass der Erfolg der irgendwie gearteten Rechtsverletzung bereits eingetreten ist, erfasst diese Formulierung jedenfalls alle gegenwärtigen, aber durchaus auch alle in der Vergangenheit liegenden Rechtsverletzungen. Dieser breite Anwendungsbereich auf Tatbestandsseite wird auch nicht dadurch eingeschränkt, dass der zweite Halbsatz der Vorschrift eine Aufzählung derjenigen Szenarien enthält, die „insbesondere“ die Beschwerdemöglichkeit eröffnen. Dieser Halbsatz stellt lediglich dar, welche Szenarien nach den Vorstellungen des Richtliniengebers vor allem zu einem Beschwerderecht des Eisenbahnunternehmens führen, regelt diese aber keinesfalls abschließend.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">38. Auf Rechtsfolgenseite räumt die Vorschrift der Regulierungsstelle einen breiten Gestaltungsspielraum ein, der durchaus auch die Unwirksamkeitserklärung von Entgeltregelungen mit Wirkung für die Vergangenheit zulässt. Hinsichtlich der in Betracht kommenden Rechtsfolgen normiert Art. 56 Abs. 6 Satz 1 RL 2012/34/EU, dass die Regulierungsstelle „gewährleistet, dass die vom Infrastrukturbetreiber festgesetzten Entgelte dem Kapitel IV Abschnitt 2 entsprechen und nicht diskriminierend sind“, und Art. 56 Abs. 9 UAbs. 1 Satz 2 RL 2012/34/EU weiter, dass die Regulierungsstelle jedenfalls binnen sechs Wochen nach Erhalt aller sachdienlichen Informationen „Abhilfemaßnahmen“ trifft. Nach Art. 56 Abs. 9 UAbs. 1 Satz 3 RL 2012/34/EU entscheidet die Regulierungsstelle gegebenenfalls über „geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von Antragstellern“. Die von der Regulierungsstelle nach diesen Vorschriften getroffene Rechtsfolge muss gemäß Art. 56 Abs. 9 UAbs. 2 Satz 2 RL 2012/34/EU von der Regulierungsstelle durchgesetzt werden können, wobei sie gegebenenfalls geeignete Sanktionen, einschließlich Geldbußen, verhängen können muss. Die vorgenannten Formulierungen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie allesamt offen und weit gehalten sind, sondern vor allem dadurch, dass sie zielorientiert sind. Der Fokus des Richtliniengebers lag offensichtlich darauf, sicherzustellen, dass es der Regulierungsstelle – mit den ihr durch ebendiese Norm eingeräumten Befugnissen – in jedem Fall möglich ist, Abhilfemaßnahmen zu treffen und durchzusetzen, die gewährleisten, dass die von den Infrastrukturbetreibern einseitig festgesetzten Entgelte nicht diskriminierend sind. Unter „Abhilfemaßnahme“ könnte dabei so ziemlich jede Maßnahme der Regulierungsstelle gefasst werden, die zu dem erwünschten Erfolg einer diskriminierungsfreien Entgeltregelung führt. Als Form der „Korrektur von Fällen der Diskriminierung“ dürfte in der Kompetenz der Regulierungsstelle nicht nur die Unwirksamkeitserklärung einer diskriminierenden Entgeltregelung mit Wirkung für die Zukunft zu sehen sein, sondern, weil diesem Begriff eine Richtigstellung des Vergangenen immanent ist, insbesondere auch die Abschaffung ihrer bisherigen Wirkung durch Unwirksamkeitserklärung mit Wirkung für die Vergangenheit.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">39. b) Sinn und Zweck der Vorschrift stützen die vorstehende Wortlautauslegung und bekräftigen das Erfordernis eines breiten Anwendungsbereichs des Beschwerderechts auf Tatbestandsseite einerseits sowie umfassender Kompetenzen der Regulierungsstelle auf Rechtsfolgenseite andererseits. Die Zielrichtung der Richtlinie 2012/34/EU im Allgemeinen bzw. ihres Art. 56 im Konkreten lässt sich insbesondere den Erwägungsgründen der Richtlinie entnehmen. Gemäß Erwägungsgrund 34 zielt die Richtlinie darauf ab, Transparenz und einen nichtdiskriminierenden Zugang zu den Eisenbahnfahrwegen und Leistungen in Serviceeinrichtungen für alle Eisenbahnunternehmen sicherzustellen. Speziell bei Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte gemäß Erwägungsgrund 42 der Richtlinie allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden. Dem Erfordernis, eine effiziente Verwaltung und gerechte und nichtdiskriminierende Nutzung der Eisenbahninfrastruktur sicherzustellen, entspricht gemäß Erwägungsgrund 76 die Einrichtung einer Regulierungsstelle. Danach soll die Regulierungsstelle über die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie wachen und als Beschwerdestelle fungieren. Der Blick in die Erwägungsgründe verdeutlicht, dass eines der mit der Richtlinie verfolgten Hauptregulierungsziele darin besteht, den nichtdiskriminierenden Zugang der Eisenbahnunternehmen zur Eisenbahninfrastruktur zu gewährleisten, und dass der Regulierungsstelle die Aufgabe obliegt, die Verwirklichung dieses Ziels zu überwachen. Steht nun wie in der vorliegenden Konstellation in Rede, dass eine Entgeltregelung diskriminierend ist, dann verstößt diese Regelung offensichtlich gegen das soeben genannte Regulierungsziel, und es ist an der Regulierungsstelle, diesen Verstoß zu beseitigen und zukünftig zu verhindern. Ebendiesem Auftrag dient die extensive Auslegung der Ermächtigungsvorschrift des Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU. Je weiter das Beschwerderecht der Eisenbahnunternehmen einerseits und die Kompetenzen der Regulierungsstelle andererseits reichen, desto umfassender und effizienter lassen sich die Regulierungsziele der Richtlinie erreichen. Wieso das Ziel, mittels diskriminierungsfreien Zugangs materielle Gerechtigkeit herzustellen, nur für den jeweiligen Geltungszeitraum eines Entgelts bzw. einer Netzfahrplanperiode gelten soll, lässt sich mithilfe des Sinns und Zwecks der Vorschrift dagegen ebenso wenig erklären wie – wie dargestellt – mithilfe des Wortlauts derselben.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">40. c) Auch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nur so verstehen, dass eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Altentgelten durch die Regulierungsstelle möglich und geboten ist. In der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) heißt es in Randnummer 97 zur Auslegung der Richtlinie 2001/14/EG – die die Vorgängerrichtlinie der hier einschlägigen Richtlinie 2012/34/EU und bezüglich der Aufgaben und Kompetenzen der Regulierungsstelle im Wesentlichen gleichlautend war –: „Die Erstattung von Entgelten nach den Vorschriften des Zivilrechts kommt also nur in Betracht, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts mit der Regelung über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zuvor von der Regulierungsstelle oder von einem Gericht, das die Entscheidung dieser Stelle überprüft hat, im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden ist und der Anspruch auf Erstattung Gegenstand einer Klage vor den nationalen Zivilgerichten sein kann und nicht der in der genannten Regelung vorgesehenen Klage.“ Indem der Gerichtshof dort von der „Erstattung“ von Entgelten spricht, offenbart er konkludent, dass auch er das Verständnis teilt, dass nach unionsrechtlichem Eisenbahnregulierungsrecht eine Rückabwicklung von Infrastrukturnutzungsentgelten grundsätzlich in Betracht kommt. Das von der Beklagten sowie der Beigeladenen ins Feld geführte Argument, mit dem Passus „im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts“ habe der Gerichtshof ausdrücken wollen, die nationalen Gesetzgeber hätten bei Umsetzung des Richtlinienrechts in nationales Recht insofern einen Gestaltungsspielraum, als sie entscheiden könnten, ob eine rückwirkende Überprüfung von Altentgelten möglich und geboten sei oder nicht, überzeugt nicht. Denn der vorstehend zitierte Passus der Entscheidung dürfte nicht dahin zu verstehen sein, dass der nationale Gesetzgeber befugt ist, den unionsrechtlich vorgesehen Rechtsbehelf der Beschwerde der Eisenbahnunternehmen seinem Wesen nach zu begrenzen. Schon aus Gründen des Effektivitätsgebots (effet utile) erscheint es ausgeschlossen, dass ein zur Gewährleistung der Richtlinienziele so wesentliches Element wie das Beschwerderecht der Eisenbahnunternehmen bzw. die Abhilfekompetenz der Regulierungsstelle im Rahmen der Umsetzung auf nationaler Ebene beschränkt werden kann.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">41. d) Vorliegend streitet auch der Gedanke des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47 GRCh, Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV für eine Auslegung zugunsten einer rückwirkenden Überprüfungsmöglichkeit von Altentgelten durch die Regulierungsstelle. Ganz konkret in den vorliegenden Verfahren käme es nämlich dazu, dass die Klägerinnen im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs in Sachen CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) vollkommen rechtsschutzlos gestellt wären, wenn sie nicht die Möglichkeit der Überprüfung der Altentgelte mit ex-tunc-Wirkung durch die Beklagte hätten. Der bis zu dieser Entscheidung des Gerichtshofs in Deutschland herrschenden nationalen Zivilgerichtspraxis hat der Gerichtshofs durch die Entscheidung in Sachen CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) insofern eine Absage erteilt, als die betroffenen Eisenbahnunternehmen zur Geltendmachung etwaiger Rückzahlungsansprüche nun zunächst auf eine behördliche Entscheidung der Regulierungsstelle über die Wirksamkeit der Entgelte angewiesen sind. Entschiede der Gerichtshof in der vorliegenden Angelegenheit nun, dass eine rückwirkende Überprüfung der Altengelte nicht mehr möglich ist, so endete der Rechtsschutz der Klägerinnen – je nach Ausgang des derzeit noch anhängigen Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache DB Station & Service, C-721/20 – an dieser Stelle. Dies dürfte mit dem europäischen Justizgewährleistungsanspruch nicht vereinbar sein.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">42. e) Dass eine Überprüfung von Altengelten mit ex-tunc-Wirkung nach Art. 56 RL 2012/34/EU möglich und unter Umständen geboten ist, überzeugt auch im Rahmen einer Gesamtbetrachtung. Es steht in Einklang mit der Rechtsordnung, wenn diskriminierende Entgelte (auch im Nachhinein) aufgrund ihrer diskriminierenden Wirkung für unwirksam erklärt werden und zurückgezahlt werden müssen. Derjenige, in diesem Fall der Eisenbahninfrastrukturbetreiber, der diskriminierende Entgelte erhebt, ist grundsätzlich nicht schützenswert und es besteht prinzipiell auch kein Grund dafür, dass rechtswidrig erlangte Entgelte bei demjenigen verbleiben sollten, der sie rechtswidrig erlangt hat. Damit ist andererseits nicht gesagt, dass es nicht auch Sonderkonstellationen geben kann, in denen etwa besonderer Vertrauensschutz eine Rolle spielt und derjenige, der das rechtswidrige Entgelt erhoben hat, ausnahmsweise schutzwürdig ist. Auch diese Erwägungen ändern jedoch nichts an der Überzeugung des vorlegenden Gerichts, dass es grundsätzlich eine Möglichkeit geben muss, auch nicht mehr gültige Entgelte auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und für den Fall ihrer Rechtswidrigkeit rückabzuwickeln.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">43. f) Auch das Argument der Beigeladenen, das unter der Richtlinie 2001/14/EG geltende Vorabprüfungsverfahren habe eine nachträgliche Kontrolle der Infrastrukturnutzungsbedingungen mit rückwirkender Kontrolle entbehrlich gemacht, überzeugt nicht. Die Aufteilung in Vorabprüfungsverfahren und nachträgliche Überprüfung entspringt nicht dem Unionsrecht, sondern wurde auf nationaler Ebene entwickelt. Auf ebendieser steht seit jeher jedoch auch fest, dass die „Regulierungsbehörde […] weiterhin zur Ex-post Kontrolle befugt [ist], für die Infrastrukturbetreiber […] daher nur eine bedingte Sicherheit [besteht].“ (vgl. nur Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 18/8334, S. 225 zu § 73 Abs. 2 ERegG). Ein Ausschlussverhältnis zwischen Vorabprüfung und nachträglicher Kontrolle soll daher gerade nicht existieren.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">44. 3 Soweit einige Klägerinnen die Kompetenzen der Regulierungsbehörde durch Auslegung des Art. 56 Abs. 9 RL 2012/34/EU dahingehend ausweiten wollen, dass Rückzahlungsansprüche im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Regulierungsentscheidung getroffen werden können (Frage 4.), überzeugt dies das vorlegende Gericht hingegen nicht. Das Verhältnis der Eisenbahnunternehmen und der Infrastrukturbetreiber ist im Ausgangspunkt vertraglich und damit zivilrechtlich geprägt. Das Regulierungsrecht als Teil des öffentlichen Rechts wirkt in dieses Vertragsverhältnis bindend nur ein, um die Regulierungsziele umzusetzen und einem monopolisierten Wettbewerb einen Rahmen zu setzen. Abwicklungen von vertraglich geschuldeten Leistungen, die Durchsetzung von Sekundäransprüchen und die Rückabwicklung vertraglicher Leistungen bleiben dabei jedoch dem Vertragsverhältnis originär zugewiesen, so dass insoweit der Zivilrechtsweg im nationalen Verständnis eröffnet ist. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander und damit ein Wahlrecht für die Zugangsberechtigten von zivilrechtlichem und öffentlich-rechtlichem Rückzahlungsanspruch lässt sich weder dem europäischen Recht noch der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen. Hiervon scheint auch die Generalanwältin Capeta in ihren Schlussanträgen vom 7. April 2022 (C-721/20, EU:C:2022:288) auszugehen, wenn sie die Regulierungsstelle für nicht befugt hält, über Geldforderungen sowie Ansprüche auf Schadensersatz zu entscheiden.</p> </li> <li><span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">45. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p> </li> </ul>
346,906
olgham-2022-08-31-11-u-922
{ "id": 821, "name": "Oberlandesgericht Hamm", "slug": "olgham", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
11 U 9/22
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:18"
"2022-10-17T11:11:02"
Beschluss
ECLI:DE:OLGHAM:2022:0831.11U9.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>I.</p> <p>Der Senat weist darauf hin, dass er beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das 10.11.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 1. Zivilkammer des Landgerichts Siegen (Az.: 1 O 369/20) durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.</p> <p>II.</p> <p>Der Klägerin wird Gelegenheit gegeben, binnen <strong>zwei Wochen</strong> nach Zugang dieses Beschlusses zu dem Hinweis Stellung zu nehmen oder mitzuteilen, ob die Berufung aus Kostengründen zurückgenommen wird.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe</span>:</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Berufung der Klägerin ist zulässig, hat aber nach einstimmiger Überzeugung des Senats in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO). Die Rechtssache hat zudem weder grundsätzliche Bedeutung (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO), noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO); auch eine mündliche Verhandlung vor dem Senat ist nicht geboten (§ 522 Abs. 2 S. 1. Nr. 4 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die mit der Berufung gegen das angefochtene Urteil erhobenen Einwände tragen weder im Sinne des § 513 Abs. 1 ZPO die Feststellung, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO), noch, dass nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht wegen des Sturzes, den sie am 00.00.20XX in A auf den für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrten oberen Teilstück der B-Straße als Radfahrerin erlitten hat, keine Ansprüche gegen die Beklagte auf Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG, §§ 9, 9a, 47 Abs. 1 StrWG NRW als der hier einzig ernsthaft in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage zu. Denn wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat, lässt sich auf der Grundlage des Klagevortrages bereits eine der Beklagten zur Last fallende Verkehrssicherungspflichtverletzung nicht feststellen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Allerdings lässt sich, wovon letztlich wohl auch das Landgericht ausgegangen, eine Verkehrssicherungspflichtverletzung nicht schon damit verneinen, dass es sich bei dem betreffenden Abschnitt der B-Straße um einen Wald- oder Feldweg handelt, dessen Benutzung gemäß §§ 14 BWaldG, 2 LFoG NRW, 57 LNatSchG NRW regelmäßig auf eigene Gefahr geschieht und bei dem der Sicherungspflichtige den Benutzer nur vor atypischen Gefahren zu schützen hat. Denn wie das Landgericht unter lit. B. I. 1.d) der Entscheidungsgründen seines angefochtenen Urteils zutreffend ausführt, bezieht sich § 57 LNatSchG NRW nur auf private, nicht aber auf im öffentlichen Eigentum stehende Wege, während die anderen beiden vorgenannten Bestimmungen nicht dem öffentlichen Verkehr gewidmete Wege erfassen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Es fehlt vorliegend aber nach den insoweit geltenden allgemeinen Grundsätzen an einer haftungsbegründenden Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten. Nach diesen obliegt zwar der Beklagten gemäß §§ 9, 9a, 47 StrWG NRW als Träger der Straßenbaulast für die Gemeindestraßen grundsätzlich die hoheitlich ausgestaltete Verpflichtung, die von ihr unterhaltenden Verkehrsflächen von abhilfebedürftigen Gefahrenquellen freizuhalten. Die für die Sicherheit der in ihren Verantwortungsbereich fallenden Verkehrsflächen zuständigen Gebietskörperschaften haben deshalb im Rahmen des ihnen Zumutbaren nach Kräften darauf hinzuwirken, dass die Verkehrsteilnehmer in diesen Bereichen nicht zu Schaden kommen. Allerdings muss der Sicherungspflichtige nicht für alle denkbaren, auch entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge treffen, da eine Sicherung, die jeden Unfall ausschließt, praktisch nicht erreichbar ist. Vielmehr bestimmt sich der Umfang der Verkehrssicherungspflicht danach, für welche Art von Verkehr eine Verkehrsfläche nach ihrem Befund unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und der allgemeinen Verkehrsauffassung gewidmet ist und was ein vernünftiger Benutzer an Sicherheit erwarten darf. Dabei haben Verkehrsteilnehmer bzw. die Straßen- und Wegebenutzer die gegebenen Verhältnisse grundsätzlich so hinzunehmen und sich ihnen anzupassen, wie sie sich ihnen erkennbar darbieten, und mit typischen Gefahrenquellen zu rechnen. Ein Tätigwerden des Verkehrssicherungspflichtigen ist erst dann geboten, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung anderer ergibt (OLG Hamm, Urteil vom 13.01.2006, 9 U 143/05, zitiert nach juris Tz. 9 mit Verweis auf: OLG Hamm, Urteil vom 19.07.1996 zu 9 U 108/96, NZV 1997, S. 43; OLG Hamm, Urteil vom 25.05.2004 zu 9 U 43/04, NJW-RR 2005, S. S. 255, 256). Dies ist der Fall, wenn Gefahren bestehen, die auch für einen sorgfältigen Benutzer bei Beachtung der zu erwartenden Eigensorgfalt nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (vgl. dazu grundlegend: BGH, Urteil vom 21.06.1979 zu III ZR 58/78, VersR 1979, S. 1055; BGH, Urteil vom 11.12.1984 zu VI ZR 218/83, NJW 1985, S. 1076; OLG Hamm, Urteil vom 03.02.2009 zu 9 U 101/07, NJW-RR 2010, S. 33; OLG Hamm, a.a.O., NJW 2004, S. 255, 256; OLG Hamm, Urteil vom 09.11.2001 zu 9 U 252/98, NZV 2002, S. 129, 130; Zimmerling/Wingler in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 839 BGB Rdn. 511; im Anschluss: OLG Celle, Urteil vom 07.03.2001 zu 9 U 218/00, zitiert nach juris). Die Grenze zwischen abhilfebedürftigen Gefahren und von den Benutzern hinzunehmenden Erschwernissen wird dabei maßgeblich durch die sich im Rahmen des Vernünftigen haltenden Sicherheitserwartungen des Verkehrs bestimmt, wobei dem äußeren Erscheinungsbild der Verkehrsfläche und ihrer Verkehrsbedeutung maßgebliche Bedeutung beikommt (OLG Hamm, Urteil vom 13.01.2006 zu 9 U 143/05, NJW-RR 2006, S. 1100; OLG Hamm, a.a.O., NJW-RR 2005, S. 255, 256; Senatsbeschluss vom 11.04.2022, 11 U 49/22 – zitiert nach Juris Tz. 10).</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich vorliegend bereits auf der Grundlage des Klagevorbringens eine schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten nicht feststellen. Insoweit ist nämlich zu berücksichtigen, dass dem oberen Abschnitt der B-Straße, auf dem sich der Unfall der Klägerin ereignet hat, seit seiner spätestens Ende der 90-ziger Jahre angeordneten Sperrung für den Kraftfahrzeugverkehr nur noch eine ganz untergeordnete Verkehrsbedeutung zukommt. Seitdem ist das obere Teilstück der B-Straße nur noch für den Fußgänger- und Fahrradverkehr eröffnet, wobei das Verkehrsaufkommen an Fahrrädern nach der Aussage des Zeugen C, dass dort normalerweise nicht viele Fahrräder durchfahren würden, eher gering ist. Die seitdem nur noch ganz untergeordnete Verkehrsbedeutung des oberen Abschnitts der B-Straße spiegelt sich auch in dessen heutigem Erscheinungsbild, wie es auf den zu den Akten gereichten Lichtbildern dokumentiert ist, wieder. Ausweislich der Lichtbilder Blatt 150 bis 153 der Akten verengt sich die B-Straße bereits wenige Meter nach dem in Höhe der D-Straße aufgestellten Verkehrszeichens 260 zu einen schmalen Feld- bzw. Waldweg, dessen Untergrund ganz überwiegend nur aus losem Geröll und Grasbewuchs besteht. Ausweislich des oberen Lichtbildes Bl. 138 der Akten findet sich vor der Unfallstelle der Klägerin auf dem ansonsten grasbewachsenen Weg nur noch ein schmaler unbewachsener Streifen. Damit kommt dem oberen Teil der B-Straße aber sowohl im Hinblick auf seine tatsächliche Nutzung als auch nach seinem äußeren Erscheinungsbild allein noch die Bedeutung eines als Abkürzungsstrecke dienenden örtlichen Feld- bzw. Waldweges zu. Die von der Klägerin auf Seite 4 der Berufungsbegründung angeführten Entscheidungen des BGH, OLG Frankfurt, OLG München und OLG Köln rechtfertigen keine hiervon abweichende Beurteilung, weil sie sich sämtlich allein mit der Frage befassen, unter welchen  Voraussetzungen ein Weg als Feld- und Waldweg i.S.d. § 8 Abs. 1 Nr. 2 StVO einzuordnen ist. Dies hat aber nichts mit der Frage zu tun, in welchem Umfang für einen nach seiner Verkehrsbedeutung und seinem äußerem Erscheinungsbild als Feld- bzw. Waldweg einzustufenden öffentlichen Verkehrsweg von dem Verkehrssicherungspflichtigen ein Tätigwerden zum Schutz der Benutzer zu erwarten ist. Insoweit ist vielmehr maßgeblich, dass der Benutzer eines solchen, sich für ihn als örtliche Abkürzungsstrecke darstellenden Wald- oder Feldweg von vornherein nur eine eingeschränkte Sicherheitserwartung an den Zustand des Weges haben kann und er insbesondere nicht davon ausgehen kann, diesen durchgängig als Radfahrer ohne zwischenzeitliches Absteigen befahren zu können. Denn nach den örtlichen Gegebenheiten ist bei einem solchen unbefestigten und im Wesentlichen aus losen Geröll und Grasüberwuchs bestehenden Weg ohne weiteres mit Unebenheiten und weiteren Hindernissen wie etwa durch den Fahrradverkehr geschaffene Spurrillen zu rechnen und sind in Konsequenz dessen auch an die Verkehrssicherungspflichten für den Weg nur geringe Anforderungen zu stellen (so auch: OLG Naumburg, Urteil vom 14.07.2006, 10 U 24/06 – Rz. 39 ff. juris, für einen in einem Naturpark gelegenen unbefestigten Radweg; LG Heidelberg; Urteil vom 14.12.1988, 3 O 147/99, VersR 1989, 970, für einen unbefestigten durch Feld und Wald führenden Gemeindeverbindungsweg).</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Ansicht der Klägerin trifft die Beklagte vorliegend auch nicht etwa deshalb eine gesteigerte Verkehrssicherungspflicht für den oberen Abschnitt der B-Straße, weil sie mit dem in ihrem Auftrag vor Jahrzehnten vom Zeugen E aufgeschütteten Erdhügel in unzulässiger Weise eine Gefahrenstelle geschaffen hat. Insoweit vermag der Senat bereits nicht zu erkennen, dass die Beklagte mit der Erdhügel in unzulässiger Weise eine Verkehrsanordnung getroffen hätte. Denn die verkehrsrechtliche Beschränkung, dass der obere Abschnitt der B-Straße nicht mehr dem Kraftfahrzeugverkehr eröffnet ist, wurde vorliegend nicht mit dem Erdhügel, sondern mit dem Verkehrszeichen 260 getroffen. Mit dem Erdhügel hat die Beklagte den oberen Abschnitt der B-Straße lediglich in tatsächlicher Hinsicht an seine eingeschränkte Verkehrseröffnung angepasst und rückgebaut. Unabhängig davon ist aber auch allein mit dem Aufschütten des Erdhügels noch keine Gefahrenstelle für den Radfahrverkehr geschaffen worden. Diese ist vielmehr erst später durch die im Laufe der Zeit seitlich des Erdhügels in den Boden eingefahrene Spurrille entstanden, an deren Rand die Klägerin mit dem Pedal ihres Fahrrades hängengeblieben sein will.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Zur Beseitigung der mit der Spurrille entstandenen Gefahrenstelle war die Beklagte vorliegend aber deshalb nicht verpflichtet, weil diese für den durchschnittlichen Wegebenutzer bei Einhaltung der von ihm zu erwartenden Eigensorgfalt rechtzeitig zu erkennen und zu beherrschen gewesen ist. Auf dem von der Beklagten zu den Akten gereichten oberen Lichtbild Blatt 138 der Akten, das in der damaligen Fahrtrichtung der Klägerin aufgenommen ist, sind der Erdhügel und die rechts von ihm gelegene Spurrille bereits aus größerer Entfernung deutlich zu erkennen, so dass die Klägerin beide bei Einhaltung der von ihr zu erwartenden Eigensorgfalt rechtzeitig hätte erkennen können. Dass die Klägerin vorliegend den Erdhügel und die Spurrille möglicherweise deshalb nicht rechtzeitig wahrgenommen hat, weil sie zum Unfallzeitpunkt dicht hinter ihrem Ehemann herfuhr, ist der Beklagten nicht anzulasten, weil die Klägerin wegen der auch von ihr als Radfahrerin zu beachtenden Verkehrsvorschriften der §§ 3 und 4 StVO dazu verpflichtet gewesen wäre, einen solchen Abstand zu ihrem Ehemann einzuhalten, dass sie jederzeit innerhalb der für sie übersehbaren Strecke mit ihrem Fahrrad anhalten kann. Bei Einhaltung eines solchermaßen ausreichenden Abstandes zu ihrem Ehemann hätte die Klägerin die neben den Erdhügel gelegene Spurrille auch gefahrlos passieren können. Insoweit hätte für sie nämlich die Möglichkeit bestanden, ihr Fahrrad vor Erreichen der nur ca. 2 m langen Spurrille noch einmal kurz zu beschleunigen, um diese anschließend wie ihr vorausfahrender Ehemann ohne Pedalumdrehungen zu durchrollen. Jedenfalls aber hätte die Klägerin, die nach ihren Angaben gegenüber dem Landgericht vor dem Unfallgeschehen nur 6 bis 10 km schnell gefahren ist,  bei Einhaltung eines ausreichenden Abstandes zu ihrem Ehemann ihr Fahrrad rechtzeitig vor dem Erdhügel zu Stehen bringen und anschließend an den Erdhügel vorbeischieben können.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Damit erweist sich die Berufung der Klägerin als offensichtlich unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><strong><em>Die Berufung ist nach Erlass des Hinweisbeschlusses zurückgenommen worden. </em></strong></p>
346,871
olgstut-2022-08-31-4-u-1722
{ "id": 147, "name": "Oberlandesgericht Stuttgart", "slug": "olgstut", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
4 U 17/22
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:47"
"2022-10-17T11:10:56"
Urteil
<h2>Tenor</h2> <blockquote><p>I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13.01.2022, Az. 11 O 409/21, wird zurückgewiesen.</p></blockquote><blockquote><p>II. Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.</p></blockquote><blockquote><p>III. Das Urteil des Landgerichts Stuttgart und das Urteil des Senats sind vorläufig vollstreckbar, hinsichtlich des Löschungsanspruchs gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 3.000,00 EUR, im Übrigen ohne Sicherheitsleistung.</p></blockquote><blockquote><p>IV. Die Revision wird nicht zugelassen.</p></blockquote><blockquote><p>V. Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 3.000,00 EUR.</p></blockquote> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> <table><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/><strong>1.</strong> Der Kläger verlangte in erster Instanz Löschung und Unterlassung einer vom Beklagten im Internet abgegebenen Bewertung über die klägerische Rechtsanwaltskanzlei.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger ist Rechtsanwalt und betreibt die Rechtsanwaltskanzlei „S... & K....“ in M.... Im Internetsuchdienst „Google“ ist die klägerische Kanzlei gelistet und wird über „Google My Business“ beworben.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Beklagte gab unter seinem Klarnamen folgende „Ein-Sterne-Bewertung“ über die klägerische Kanzlei bei „Google“ ab (Anlage K 2)</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/><strong>[Bild bei Anonymisierung entfernt]</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Der Beklagte war nicht Mandant des Klägers, sondern war in einem Prozess vor dem Landgericht Stuttgart (Az. 9 O 217/20) Beklagter, in dem der Kläger die Klägerseite vertreten hatte. Zugleich verlangte der Beklagte im Zusammenhang mit dem vorgenannten Klageverfahren vom Kläger Auskunft über die Speicherung von Daten, die ihm von dem Prozessgegner als Mandanten zur Verfügung gestellt worden waren. Der Kläger forderte den Beklagten vorgerichtlich erfolglos zur Löschung der Rezension und zur Abgabe einer Unterlassungserklärung auf.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Der Kläger ist der Auffassung, dass ihm ein Unterlassungs- und Löschungsanspruch zustehe, weil die beanstandete Rezension in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eingreife. Sie sei geeignet, sich abträglich auf sein Bild in der Öffentlichkeit auszuwirken. Wegen des Nichtbestehens von Geschäftsbeziehungen zwischen den Parteien sei im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung das Interesse des Klägers am Schutz seiner sozialen Anerkennung und seiner (Berufs-) Ehre höher zu gewichten als das Interesse des Beklagten an der Kundgabe seiner die Tätigkeit des Klägers betreffenden Wertschätzung.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Der Kläger hat in erster Instanz zuletzt beantragt:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="8"/>1. Der Beklagte wird verurteilt, seine im Internet-Suchdienst Google verfasste und veröffentlichte herabsetzende Rezension („Ein-Sterne“-Bewertung nebst Bewertungskommentar) über die Kanzlei S... & K...., W... x, 7... M... zu löschen bzw. auf die Löschung dieser Rezension hinzuwirken.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>2. Der Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR ersatzweise Ordnungshaft 11 O 409/21 - 4 bis zu 6 Monaten, zu unterlassen, ohne zuvor eine eigene Mandatsbeziehung zur Kanzlei S... & K...., W... x, 7... M... unterhalten zu haben und ohne diesen Umstand für einen unvoreingenommenen, verständigen Durchschnittsleser erkennbar offenzulegen, innerhalb des Unternehmensprofils der vorgenannten Rechtsanwaltskanzlei beim Internet-Dienst Google My Business Rezensionen („Google-Rezensionen“) in Form von herabsetzenden Bewertungen mit einem Stern verbunden mit der Beantwortung der seitens Google aufgeworfenen Frage „Was gefällt dir nicht an diesem Unternehmen?“ durch Auswahl der (Google-)Vorgabe „Nicht professionell“ sowie verbunden mit eigenen Berichten des Inhalts „nicht empfehlenswert“ oder kerngleichen Inhalts zu verfassen und zu veröffentlichen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>3. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 527,00 EUR an vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltsgebühren nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 06.03.2021 zu bezahlen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Der Beklagte hat in erster Instanz beantragt:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="12"/>Die Klage wird abgewiesen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Er ist der Auffassung, dass es sich bei der Bewertung um eine zulässige Meinungsäußerung handele. Es liege keine Schmähkritik oder Beleidigung vor. Auch werde nicht behauptet, in einer Geschäftsbeziehung zum Kläger zu stehen. Die Bewertung beruhe vielmehr auf den eigenen Erfahrungen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/><strong>2. </strong>Das Landgericht hat der Klage teilweise im Klageantrag Ziffer 1 und 3 stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Der Kläger könne gem. §§ 1004 Abs. 1 (analog), 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG die Löschung der streitgegenständlichen Rezension verlangen. Die Rezension greife in das (Unternehmer-) Persönlichkeitsrecht des Klägers ein, da der Beklagte sich darin kritisch und herabsetzend über die klägerische Kanzlei äußere. Die Bewertung sei auch rechtswidrig. Sie beinhalte einen unwahren Tatsachenkern, nämlich, dass der Beklagte ein Mandant des Klägers gewesen sei.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Bei der streitgegenständlichen Rezension handele es sich zwar um eine Meinungsäußerung, denn sowohl die Vergabe eines Sterns (von fünf möglichen Sternen) sei vom Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt, als auch der Bewertungstext mit den Formulierungen “Kritisch: Professionalität“ und „nicht empfehlenswert“. Dies sei auch keiner Beweisaufnahme zugänglich und könne nicht als „wahr“ oder „unwahr“ festgestellt werden. Die Bewertung enthalte aber zugleich auch die (unausgesprochene) Tatsachenbehauptung eines Mandatsverhältnisses zwischen dem Beklagten als Bewerter und der klägerischen Kanzlei als Bewerteten. Ausgehend von dem Verständnis eines unbefangenen Durchschnittslesers komme der kommentarlosen „Ein-Sterne-Bewertung“ einer Anwaltskanzlei auf Google der Aussagegehalt zu, dass der Bewertung ein Geschäftskontakt bzw. Mandatsverhältnis zugrunde liege. Denn der Durchschnittsleser von Google-Bewertungen nutze diese im Rahmen der Suche nach einem geeigneten Vertragspartner, um die für ihn bestmögliche Auswahlentscheidung zu treffen. Der Durchschnittsbetrachter rechne hingegen nicht damit, dass auch Dritte wie z. B. Gegner oder Prozessbeobachter Anwaltskanzleien in gewisser Hinsicht bewerten. Vorliegend gehe ein unbefangener Leser, der auf der Suche nach einem Rechtsanwalt die Rezension lese, davon aus, dass der Beklagte die klägerische Kanzlei als früherer Mandant bewerte und mit ihr unzufrieden sei. Dieser in der Bewertung enthaltene Tatsachenkern sei unstreitig unwahr. Der falsche Tatsachenkern führe in der Abwägung zur Rechtswidrigkeit.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und zu den Feststellungen des Landgerichts wird auf das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13.01.2022 Bezug genommen (Bl. 2 ff. d. A.; § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/><strong>3.</strong> Der Beklagte verfolgt die erstinstanzlich gestellten Anträge auf vollständige Abweisung der Klage weiter. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Das Urteil des Landgerichts verstoße gegen Art. 5 GG. Zwar sei dem Landgericht noch zuzustimmen, dass es sich vorliegend um Werturteile handele. In der Folge konstruiere das Landgericht jedoch fehlerhaft eine unausgesprochene Tatsachenbehauptung, obgleich ein dahingehendes Verständnis des unbefangenen Durchschnittslesers nicht ermittelt worden sei. Die Auffassung von Richtern entspreche nicht dem Verständnis des durchschnittlichen Internetnutzers. Auch aus den Richtlinien folge nicht, dass nur Mandanten rezensieren dürfen. Dies zeige ein Verweis auf die Bewertungspraxis auf der Plattform „Amazon“ und die Veröffentlichung der IHK München. Im Übrigen liege auch ein geschäftlicher Kontakt vor, da der Beklagte vom Kläger Auskunft nach Art. 15 DSGVO im Zusammenhang mit einem Klageverfahren verlangt habe. Die mangelnde Professionalität komme zudem im konfusen prozessualen Verhalten des Klägers zum Ausdruck. Der Antrag sei auch unzulässig, da er allenfalls die Offenlegung des fehlenden Mandanten-Verhältnis verlangen könne.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>das angefochtene Urteil des LG Stuttgart, 11 O 409/21, abzuändern und die Klage abzuweisen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/><strong>4.</strong> Wegen des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst den dazu vorgelegten Anlagen Bezug genommen. Hinsichtlich des Vortrags in der mündlichen Verhandlung und bezüglich der Angaben der Parteien wird außerdem auf das Protokoll der Sitzung vom 24.08.2022 verwiesen.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Berufung hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das angegriffene Urteil des Landgerichts Stuttgart leidet entgegen der Auffassung des Beklagten nicht an einem Rechtsfehler iSd. § 513 ZPO.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/><strong>1.</strong> Dem Kläger steht gegenüber dem Beklagten ein Anspruch gem. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB, Art. 12 GG iVm. Art. 19 Abs. 3 GG auf Löschung der streitgegenständlichen Erklärung wegen eines Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb oder gem. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, 823 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 3 GG wegen eines Eingriffs in den sozialen Geltungsanspruch des Klägers als Wirtschaftsunternehmen zu.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/><strong>a.)</strong> Die gegenständliche, im Rahmen der Bewertung abgegebene Erklärung „nicht empfehlenswert und „kritisch: Professionalität“, wie auch die abgegebene „Ein-Sterne-Bewertung“ stellen sich als Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und in den sozialen Geltungsanspruch des Klägers dar. Das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb schützt das Interesse daran, dass die wirtschaftliche Stellung nicht durch inhaltlich unrichtige Informationen oder Wertungen, die auf sachfremden Erwägungen beruhen oder herabsetzend formuliert sind, geschwächt wird und andere Marktteilnehmer deshalb von Geschäften mit ihr abgehalten werden (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2014 – VI ZR 39/14, NJW 2015, 773 Rn. 13). In dieses Recht und in den sozialen Geltungsanspruch des Klägers greift die Bewertung des Beklagten ein. Mit der Bewertung spricht der Beklagte dem Kläger, der eine Anwaltskanzlei betreibt, die Professionalität bei der Berufsausübung ab. Der Beklagte gibt vor diesem Hintergrund die nach dem Sterne-Bewertungssystem denkbar schlechteste Note ab und vergibt lediglich einen Stern. Hinzu kommt, dass er die anwaltliche Tätigkeit als nicht zu empfehlen einordnet. Diese Äußerungen sind ersichtlich geeignet, potentielle Geschäftspartner einen Geschäftskontakt überdenken zu lassen. Soweit ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ein betriebsbezogenes Handeln erfordert, ist dieses zugleich gegeben.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/><strong>b.)</strong> Dieser Eingriff des Klägers ist rechtswidrig. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb stellt einen offenen Tatbestand dar, dessen Inhalt und Grenzen sich erst aus einer Abwägung mit den im Einzelfall konkret kollidierenden Interessen anderer ergeben. Gleiches gilt für das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Der Eingriff in den Schutzbereich des jeweiligen Rechts ist nur dann rechtswidrig, wenn das Interesse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2014, VI ZR 39/14, NJW 2015, 773, Rn. 16).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/><strong>aa.)</strong> Bei den gegenständlichen Äußerungen in der abgegebenen Bewertung handelt es sich um Meinungsäußerungen, die einen Tatsachenkern aufweisen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/><strong>(1.)</strong> Im Ausgangspunkt bedarf die Einordnung als Meinungsäußerung oder Tatsachenbehauptung einer Sinndeutung der gegenständlichen Äußerung. Denn die zutreffende Sinndeutung einer Äußerung ist unabdingbare Voraussetzung für die richtige rechtliche Würdigung ihres Aussagegehalts. Sie unterliegt in vollem Umfang der rechtlichen Nachprüfung durch den Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 27.09.2016, VI ZR 250/13 Rn. 12; BGHZ 203, 239 Rn. 19; BGHZ 132, 13 [21]). Ziel der Deutung ist stets, den objektiven Sinngehalt zu ermitteln. Dabei ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden maßgeblich noch das subjektive Verständnis des Betroffenen, sondern das Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums. Ausgehend vom Wortlaut – der allerdings den Sinn nicht abschließend festlegen kann – und dem allgemeinen Sprachgebrauch sind bei der Deutung der sprachliche Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und die Begleitumstände, unter denen sie fällt, zu berücksichtigen, soweit diese für das Publikum erkennbar sind. Zur Erfassung des vollständigen Aussagegehalts muss die beanstandete Äußerung stets in dem Gesamtzusammenhang beurteilt werden, in dem sie gefallen ist. Sie darf nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden (BGH, Urteil vom 27.09.2016, VI ZR 250/13 Rn. 12; BGH, Urteil vom 12.04.2016, VI ZR 505/14 Rn. 11; BGH, Urteil vom 27.05.2014, VI ZR 153/13 Rn. 13).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Sinndeutung bildet die Grundlage für die Einordnung und Abgrenzung zwischen einer Tatsachenbehauptung und einem Werturteil. Tatsachenbehauptungen sind durch die objektive Beziehung zwischen Äußerung und Wirklichkeit charakterisiert. Demgegenüber werden Werturteile und Meinungsäußerungen durch die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage geprägt. Wesentlich für die Einstufung als Tatsachenbehauptung ist danach, ob die Aussage einer Überprüfung auf ihre Richtigkeit mit Mitteln des Beweises zugänglich ist. Dies scheidet bei Werturteilen und Meinungsäußerungen aus, weil sie durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet sind und sich deshalb nicht als wahr oder unwahr erweisen lassen (BGH NJW 2018, 3254 [3256 Rn. 19]; BGH, Urteil vom 27.09.2016, VI ZR 250/13 Rn. 25).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/><strong>(2.)</strong> Gemessen hieran handelt es sich bei der Ein-Sterne-Bewertung sowie bei den Angaben „nicht empfehlenswert“ und „kritisch: Professionalität“ bei isolierter Betrachtung um reine Werturteile. Der Beklagte bringt damit für den Leser zum Ausdruck, dass es sich um eine subjektive Einschätzung zur Leistung des Klägers handelt, die durch das eigene Dafürhalten geprägt und nicht dem Beweis zugänglich ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/><strong>(3.) </strong>Nach dem Kontext der Äußerungen enthalten diese über ihren Wortlaut hinaus aus Sicht eines durchschnittlichen Lesers der Bewertung aber auch tatsächliche Elemente, da der Beklagte damit zugleich behauptet, dass er mit dem für die Bewertung der Kanzlei relevanten Leistungsangebot in Kontakt gekommen ist. Damit ist nicht zwingend die Aussage verbunden, dass der Beklagte Mandant des Klägers gewesen ist. Es genügt vielmehr schon jeder leistungsbezogene bzw. mandatsbezogene geschäftliche Kontakt zwischen den potentiellen (Vertrags-) Parteien, etwa bei der mündlichen Vereinbarung eines ersten Beratungstermins oder bei einer schriftlichen Anfrage an die Kanzlei (vgl. ebenso LG München, Urteil vom 20.11.2019, Az. 11 O 7732/19 – juris Rn. 40). Hierunter fällt jedoch nicht ein Kontakt des Bewertenden als Gegner eines Mandanten dieser Kanzlei. Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang gesammelt werden, stellen keinen leistungsbezogenen bzw. mandatsbezogenen geschäftlichen, sondern nur einen gelegentlichen sonstigen Kontakt dar. Ein durchschnittlicher Leser, der typischerweise die Online-Bewertungen betrachtet, um sich im Vorfeld der Vertragsanbahnung zu informieren, geht davon aus, dass der Bewertung in diesem Sinne ein leistungs- bzw. mandatsbezogener geschäftlicher Kontakt zu Grunde liegt; zumal eine Bewertung, die auf einem sonstigen gelegentlichen Kontakt als Prozessgegner eines Mandanten der Kanzlei beruht, keine belastbare Aussagekraft für die vorzunehmende Bewertung der Leistung der Kanzlei besitzt und damit nicht zu der von der Rechtsordnung grundsätzlich gebilligten und gesellschaftlich erwünschten Funktion von Bewertungsfunktionen von Online-Plattformen iSd. Schaffung von Markttransparenz beitragen kann (vgl. etwa BGHZ 209, 139-157, Rn. 40). Denn es ist allseits bekannt und gesellschaftlich anerkannt, dass der tätige Rechtsanwalt als Interessenvertreter des Mandanten fungiert. Die erfolgreiche Wahrnehmung der Interessen des eigenen Mandanten bedeutet oft nachteilige Konsequenzen für den Gegner des Mandanten. Die Erfahrungen des Prozessgegners lassen insofern typischerweise keinen gleichermaßen sachlichen Rückschluss auf die Qualität der anwaltlichen Leistungen zu; zumal der tätige Rechtsanwalt unter Umständen im Innenverhältnis – in Unkenntnis des Prozessgegners – an die Weisungen des Mandanten gebunden ist und das Handeln nach Außen keine hinreichende Bewertungsgrundlage darstellt. Dieses Verständnis prägt auch den Erwartungshorizont des durchschnittlichen Lesers einer geschalteten Bewertung, der diese – wie dargelegt – typischerweise im Vorfeld der Begründung eines Mandatsverhältnisses zur Informationsgewinnung in Anspruch nimmt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Gegenteiliges folgt im Übrigen auch nicht aus den vereinbarten Nutzungsbedingungen zwischen der Onlineplattform google.com und dem Beklagten. Diese könnten aufgrund der Relativität der Schuldverhältnisse ohnehin nur als Auslegungshilfe herangezogen werden. Zwischen den Parteien steht insofern außer Streit, dass hierin keine spezifischen Regelungen zur Bewertung von Rechtsanwaltskanzleien enthalten sind, sodass das Verständnis des durchschnittlichen Lesers grundsätzlich von dessen allgemeinen Erwartungshorizont an die Grundlagen der Bewertung unter Berücksichtigung der genuinen Umstände einer Tätigkeit als Interessenvertreter geprägt wird.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Dem Landgericht ist angesichts dessen bei der Bestimmung des Verständnisses eines durchschnittlichen Lesers beizupflichten. Dabei übersieht der Beklagte, dass das Landgericht nicht auf das Verständnis eines (durchschnittlichen) Richters abstellt, sondern das Verständnis des durchschnittlichen Lesers aufgrund der Erfahrung und Expertise der zuständigen Kammer in Äußerungssachen per eigener Sachkunde zu Recht bestimmt (vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei <em>Staudinger/Hager</em> (2017) C. Das Persönlichkeitsrecht, Rn. C 72 m.z.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/><strong>(4.) </strong>Obgleich die streitgegenständliche Bewertung neben Werturteilen auch eine Tatsachenbehauptung enthält, ist diese insgesamt als Werturteil (mit Tatsachenkern) einzuordnen. Liegen – wie vorliegend – sowohl wertende als auch tatsächliche Elemente vor, kommt es auf den Kern oder die Prägung der Aussage an, insbesondere ob die Äußerung insgesamt durch ein Werturteil geprägt ist und ihr Tatsachengehalt gegenüber der subjektiven Wertung erkennbar in den Hintergrund tritt oder aber ob der sich Äußernde überwiegend über tatsächliche Vorgänge berichtet und dabei nur nebenher wertet (BVerfG, Beschluss vom 21.12.2016 – Az. 1 BvR 1081/15 - juris Rn. 21; BGH, Urteil vom 24.01.2006 – Az. XI ZR 384/03). Im konkreten Fall prägen die Aussage die wertenden Elemente, da erkennbar die subjektive Einschätzung der Qualität der anwaltlichen Leistung im Vordergrund steht; dahinter tritt der tatsächliche Kern zurück.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/><strong>bb.) </strong>Meinungsäußerungen genießen grundsätzlich einen weiten Schutz. Bei wertenden Äußerungen treten die Belange des Persönlichkeitsschutzes gegenüber der Meinungsfreiheit regelmäßig zurück, es sei denn, die in Frage stehende Äußerung stellt sich als Schmähkritik oder Formalbeleidigung dar oder enthält einen Angriff auf die Menschenwürde des Betroffenen. In anderen Fällen bedarf es einer abwägenden Prüfung im Einzelfall, ob die Vermutung für die Freiheit der Rede durch gegenläufige Belange des Persönlichkeitsschutzes überwunden wird (vgl. BVerfG NJW 2006, 3769, 3772). Die zu Gunsten des Beklagten streitende Meinungsäußerungsfreiheit findet jedoch dort ihre Grenze, wo es für eine bestimmte und einen anderen belastende Meinung schlechthin keine tatsächlichen Bezugspunkte gibt (vgl. hierzu etwa BVerfG NJW 2012, 1643; BGH MDR 2016, 518). Fehlen also tatsächliche Bezugspunkte, auf die sich eine Meinung stützt oder sind die tatsächlichen Bezugspunkte unwahr, muss die Meinungsfreiheit regelmäßig gegenüber dem kollidierenden Schutzgut zurücktreten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/><strong>(1.)</strong> Bei den gerügten Äußerungen handelt es sich nicht um Schmähkritik. Dieser Begriff ist wegen des die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts von Verfassung wegen ohnehin eng zu verstehen. Die Äußerungen beziehen sich auf die Qualität der anwaltlichen Tätigkeit des Klägers. Die Äußerung weist damit einen deutlichen Sachbezug auf und wendet sich gerade nicht vorrangig im Wege der Diffamierung gegen die Person des Klägers.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/><strong>(2.)</strong> Im Streitfall sind deshalb die Schutzinteressen des Klägers mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 Abs. 1 EMRK verankerten Recht des Beklagten auf Meinungsfreiheit abzuwägen. Dabei ist den Schutzinteressen des Klägers der Vorrang einzuräumen. In der konkreten Gestaltung ist der tatsächliche Bestandteil der Äußerung, auf dem die Bewertung aufbaut, unwahr, wenn der behauptete leistungs- bzw. mandatsbezogene geschäftliche Kontakt nicht bestanden hat. Ein berechtigtes Interesse des Bewertenden, einen tatsächlich nicht stattgefundenen geschäftlichen Kontakt zu bewerten, ist nicht ersichtlich.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Dies ist vorliegend der Fall. Es steht außer Streit, dass der Beklagte zu keinem Zeitpunkt einen mandatsbezogenen geschäftlichen Kontakt zum Kläger hatte. Der Eindruck, den der Beklagte vom Kläger im Rahmen der streitigen Auseinandersetzung gewonnen hat, genügt insofern nicht. Dies gilt auch für den Kontakt im Rahmen einer Anfrage des Beklagten wegen eines möglichen Datenschutzverstoßes aufgrund des Umgangs mit Daten aus einem Klageverfahren, in dem der Kläger den Gegner des Beklagten vertreten hat. Auch dies stellt keinen mandatsbezogenen geschäftlichen Kontakt dar, sondern steht vielmehr im Zusammenhang mit dem Klageverfahren zwischen dem Beklagten und einer vom Kläger vertretenen dritten Person und beruht damit letztlich auf Erfahrungen des Beklagten als Prozessgegner.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Vor diesem Hintergrund müssen die Interessen des Beklagten im Rahmen einer Gesamtabwägung hinter den Schutzinteressen des Klägers zurücktreten. Die beanstandete Bewertung ist rechtswidrig und daher zu löschen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/><strong>2.</strong> Dies zu Grunde gelegt steht dem Kläger im Anschluss an das Landgericht auch ein Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gem. §§ 286, 280 Abs. 1 BGB in der geltend gemachten Höhe von 263,50 EUR zu.</td></tr></table> <table><tr><td><strong>III.</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97, 708 Nr. 10, 711, 713, 709 ZPO. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich, denn es geht um die Umsetzung der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf einen konkreten Einzelfall.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Der Streitwert wird gem. §§ 3 ZPO, 47 GKG festgesetzt.</td></tr></table> </td></tr></table>
346,867
vg-gelsenkirchen-2022-08-31-4-l-97922
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4 L 979/22
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:40"
"2022-10-17T11:10:55"
Beschluss
ECLI:DE:VGGE:2022:0831.4L979.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>1.              Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>                 Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>2.              Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Antragstellers,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache vorläufig in die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe (Jahrgangsstufe 11) des I.         Gymnasiums zu versetzen,hilfsweiseden Antragsgegner zu verpflichten, ihn einer Nachprüfung zu unterziehen und ihn im Falle ihres erfolgreichen Bestehens in die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe (Jahrgangsstufe 11) des I.         Gymnasiums zu versetzen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat in der Sache keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – kann das Verwaltungsgericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung – ZPO –sind die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands im Sinne des § 123 Abs. 1 VwGO, die – wie hier bei der begehrten Teilnahme am Unterricht der Jahrgangsstufe 11 – durch vorläufige Befriedigung des geltend gemachten Anspruchs die Entscheidung in der Hauptsache zumindest in tatsächlicher Hinsicht vorwegnehmen, setzen zudem voraus, dass die Vorwegnahme der Hauptsache zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, um andernfalls zu erwartende schwere und unzumutbare Nachteile oder Schäden vom Antragsteller abzuwenden, und dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für den Erfolg in der Hauptsache spricht.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Für eine vorläufige Teilnahme am Unterricht der Jahrgangsstufe 11 reicht es ferner nicht aus, dass die von der Schule festgestellte Nichtbewertbarkeit sämtlicher Fächer rechtswidrig erscheint. Die begehrte einstweilige Anordnung kann nur dann ergehen, wenn im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht ist, dass erstens gegen die fehlende Bewertbarkeit ernsthafte Bedenken bestehen und dass zweitens eine Bewertung der vom Antragsteller erbrachten Leistungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zum Vorliegen der Versetzungsvoraussetzungen führen würde.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. für Versetzungsentscheidungen Hessischer VGH, Beschluss vom 5. Februar 1993 – 7 TG 2479/92 –; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23. November 1999 – 13 M 3944 u. 4473/99 –; VG Köln, Beschluss vom 5. November 2018 – 10 L 2506/18 –, jeweils juris m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Antragsteller hinsichtlich der von ihm mit dem Hauptantrag erstrebten vorläufigen Versetzung in die Jahrgangsstufe 11 am I.         Gymnasium nicht glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vielmehr erweist sich die Entscheidung der Versetzungskonferenz, dass der Antragsteller nicht in die Jahrgangsstufe 11 versetzt wird, bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Anforderungen an die Versetzung in die Qualifikationsphase richten sich nach § 50 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen – SchulG – in Verbindung mit § 9 der Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe - APO-GOSt -.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW wird eine Schülerin oder ein Schüler nach Maßgabe der Ausbildungs- und Prüfungsordnung in der Regel am Ende des Schuljahres in die nächsthöhere Klasse oder Jahrgangsstufe versetzt, wenn die Leistungsanforderungen der bisherigen Klasse oder Jahrgangsstufe erfüllt sind. Nach § 9 Abs. 4 APO-GOSt wird die Versetzung ausgesprochen, wenn in den zehn versetzungswirksamen Kursen ausreichende oder bessere Leistungen erzielt wurden (Satz 1). Versetzt wird auch, wer in nicht mehr als einem der versetzungswirksamen Kurse mangelhafte und in den übrigen Kursen mindestens ausreichende Leistungen erbracht hat (Satz 2). Mangelhafte Leistungen in einem der Fächer Deutsch, Mathematik und der fortgeführten Fremdsprache gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 müssen durch eine mindestens befriedigende Leistung in einem anderen Fach dieser Fächergruppe ausgeglichen werden (Satz 3).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen hier mit Blick auf den Antragsteller nicht vor. Seine Leistungen sind von der Versetzungskonferenz als nicht beurteilbar eingestuft worden. Diese Entscheidung ist rechtlich nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Maßgebend ist insoweit, ob nach Lage des jeweiligen Einzelfalls die gezeigten Unterrichtsleistungen eine belastbare Bewertungsgrundlage bilden. Einen allgemeinen Bewertungsgrundsatz des Inhalts, dass Fehlzeiten von mehr als 50 Prozent der Unterrichtsstunden zur Nichtbeurteilbarkeit führen, gibt es nicht.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 30. Oktober 2003 – 6 a 663/02 –, juris Rn. 26; VG Aachen, Urteil vom 1. März 2010 – 9 K 2143/08 -, juris Rn. Bülter, in: Arenz u.a., Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen, Stand März 2018, § 49 Anm. 2.1 (5).</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Bewertungsgrundlage der Kursabschlussnote sind gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 APO-GOSt in einem Kurs mit schriftlichen Arbeiten (Klausuren) die erbrachten Leistungen im Beurteilungsbereich „Klausuren“ (§ 14) und die erbrachten Leistungen im Beurteilungsbereich „Sonstige Mitarbeit“ (§ 15). Bei Kursen ohne Klausuren ist Bewertungsgrundlage allein der Beurteilungsbereich „Sonstige Mitarbeit“ (§ 13 Abs. 1 Satz 4 APO-GOSt).</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Fachlehrerin oder der Fachlehrer entscheidet über die Note in ihrem oder seinem Fach und begründet diese auf Verlangen in der Versetzungskonferenz. Die Gesamtentwicklung der Schülerin oder des Schülers während des ganzen Schuljahres und die Zeugnisnote im ersten Schulhalbjahr sind zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 Satz 4 und 5 APO-GOSt).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben ist es bei summarischer Prüfung nicht rechtsfehlerhaft, dass die Fachlehrer aufgrund der krankheitsbedingten Fehlzeiten des Antragstellers keine hinreichende Bewertungsgrundlage gesehen haben.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zwar weist das Zeugnis des zweiten Halbjahres des Schuljahres 2021/22 „nur“ 128 Fehlstunden aus und die im Verfahren angegebene, korrigierte Zahl von 245 Fehlstunden lässt sich aus den vorgelegten Kurslisten nicht durchgängig nachvollziehen. Jedoch ergeben sich für das zweite Schulhalbjahr aus den Kurslisten in allen Fächern erhebliche Fehlzeiten, die überwiegend deutlich mehr als die Hälfte der stattgefundenen Unterrichtsstunden ausmachen (z.B. in den Fächern Deutsch, Englisch, Biologie, Chemie, Geschichte, Sport). Im ersten Schulhalbjahr hat der Antragsteller fast vollständig gefehlt. Er trägt selbst vor, erst in den letzten Wochen vor den Sommerferien wieder regelmäßig am Unterricht teilgenommen zu haben. In den „Klausurfächern“ hat der Antragsteller jeweils nur eine Klausur im ganzen Schuljahr mitgeschrieben. Sonstige Leistungen hat er nur in seinen (geringen) Anwesenheitszeiten und daher nur in sehr eingeschränktem Umfang erbracht.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller vorträgt, er habe durchgängig „Homeschooling“ betrieben, erschließt sich das angesichts der krankheitsbedingten Ursache der Fehlzeiten nicht. Weder aus den vorgelegten Attesten noch aus dem Vortrag des Antragstellers lässt sich eine Erklärung dafür entnehmen, warum ihm zwar ein Schulbesuch über einen so langen Zeitraum krankheitsbedingt nicht möglich war, er aber trotzdem durchgängig in der Lage gewesen ist, sich die Unterrichtsinhalte selbst zu erarbeiten. Davon unabhängig hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, während seines Krankheitszeitraums von sich aus bewertbare Leistungen, etwa durch Einreichung häuslicher Bearbeitungen o.ä., erbracht zu haben.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Aus dem Umstand, dass die Lehrer/innen das vom Antragsteller während seiner Anwesenheitszeit im letzten Quartal gezeigte Leistungsbild als „positiv“ beurteilt haben, folgt nicht, dass eine (entsprechende) Kursabschlussnote hätte erteilt werden müssen. Die Rückmeldungen der Lehrkräfte beziehen sich erkennbar auf die punktuell erbrachten Leistungen, lassen aber keinen Rückschluss auf die Bewertbarkeit insgesamt zu. Beurteilungsgrundlage sind die im gesamten Halbjahr im Zusammenhang mit dem Unterricht erbrachten schriftlichen, mündlichen und praktischen Leistungen sowie die Gesamtentwicklung des Schülers. Anders als der Antragsteller meint, kann allein aus dem Bestehen einer Klausur im letzten Quartal eines Schuljahres nicht geschlossen werden, dass ein Schüler die Versetzungsanforderungen erfüllt. Mit dieser Annahme verkennt der Antragsteller den Sinn vieler Einzelbenotungen in einem Halbjahr. Auch bei den durchgängig anwesenden Schülerinnen und Schülern können Einzelbenotungen des ersten Quartals negativ ins Gewicht fallen, selbst wenn die im letzten Quartal erbrachten Leistungen besser ausfallen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Aus seinem Vortrag, die Lehrer/innen hätten ihm nicht ausreichend Material zur Verfügung gestellt bzw. ihn nicht ausreichend beraten, kann der Antragsteller ebenfalls keinen Versetzungsanspruch herleiten. Grundlage der Leistungsbewertung sind allein die tatsächlich erbrachten Leistungen eines Schülers. Welche Leistungen ein Schüler unter anderen Umständen – etwa: wenn er besser gefördert worden wäre – hätte erbringen können, ist insoweit unerheblich.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 7. April 2016 – 19 B 1369/15, juris.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung der Versetzungskonferenz, den Antragsteller auch nicht unabhängig von den obigen Voraussetzungen zu versetzen, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 4 Abs. 5 APO-GOSt kann die Versetzungskonferenz im Einzelfall bei der Versetzungsentscheidung von der in Absatz 4 festgelegten Regel abweichen, wenn Minderleistungen auf besondere Umstände, zum Beispiel längere Krankheit, zurückzuführen sind. Die Versetzungskonferenz hat unter Einbeziehung der positiven Entwicklung des Antragstellers im letzten Quartal angenommen, dass ihm angesichts der hohen Fehlzeiten in der Einführungsphase wesentliche Grundlagen für eine erfolgreiche Weiterarbeit in der Q1 fehlen. Das ist angesichts der in § 8 Abs. 1 APO-GOSt festgelegten Aufgabe der Einführungsphase, die Schülerinnen und Schüler inhaltlich und methodisch auf die Anforderungen der Qualifikationsphase vorzubereiten, ermessensfehlerfrei.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller kann letztlich keinen Anspruch auf „Vorversetzung“ in die Qualifikationsphase in Anlehnung an Auslandsaufenthalte für sich in Anspruch nehmen. Nach § 4 Abs. 2 APO-GOSt können Schülerinnen und Schüler, die zu einem einjährigen Auslandsaufenthalt in der Einführungsphase oder einem halbjährigen Auslandsaufenthalt im zweiten Halbjahr der Einführungsphase beurlaubt sind, ihre Schullaufbahn ohne Versetzungsentscheidung in der Qualifikationsphase fortsetzen, wenn aufgrund ihres Leistungsstandes zu erwarten ist, dass sie erfolgreich in der Qualifikationsphase mitarbeiten können. Der Antragsteller war nicht zum Zwecke eines Auslandsaufenthalts beurlaubt und hat im Ausland keine Schule besucht. Dem Besuch einer Schule im Ausland sind krankheitsbedingt verpasste Schulbesuchszeiten nicht gleichzusetzen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der hilfsweise gestellte Antrag des Antragstellers, ihn einer Nachprüfung zu unterziehen, hat ebenfalls keinen Erfolg. Gemäß § 10 Abs. 1 APO-GOSt kann eine Schülerin oder ein Schüler, die oder der nicht versetzt worden ist, zu Beginn des folgenden Schuljahres eine Nachprüfung ablegen, um nachträglich versetzt zu werden. Eine Zulassung zur Nachprüfung ist nur möglich, wenn die Verbesserung einer mangelhaften Leistung in einem einzigen Fach um eine Notenstufe genügt, um die Versetzungsbedingungen zu erfüllen. Diese Voraussetzung erfüllt der Antragsteller nicht. Sämtliche Kurse wurden nicht bewertet.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Soweit mit dem Hilfsantrag sinngemäß begehrt wird, in den nicht bewerteten Fächern Feststellungsprüfungen durchzuführen, steht dem Antragsteller auch ein solcher Anspruch nicht zu. Nach § 48 Abs. 4 SchulG können nach Maßgabe der Ausbildungs- und Prüfungsordnung Leistungsnachweise nachgeholt und es kann der Leistungsstand durch eine Prüfung festgestellt werden, wenn Leistungen aus Gründen, die von der Schülerin oder dem Schüler nicht zu vertreten sind, nicht erbracht werden. Es entspricht jedoch nicht dem Sinn und Zweck der Nachholung, versäumte Leistungsnachweise in größerem Umfang zu ersetzen, wenn der Schüler über einen längeren Zeitraum hinweg am Schulbesuch gehindert war und somit einen erheblichen Teil des Unterrichts versäumt hat.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 8. Juni 2020 – 19 E 464/19 -, juris.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1, 2 des Gerichtskostengesetzes in Verbindung mit Nrn. 1.5 und 38.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Gegen den Beschluss zu 1. steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 1. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Gegen den Beschluss zu 2. findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
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L 8 SO 52/22 KL
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-10-06T10:01:19"
"2022-10-17T11:10:51"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div><dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ist örtlich unzuständig. Der Rechtsstreit wird an das sachlich und örtlich zuständige Landessozialgericht Baden-Württemberg verwiesen.</strong></p></dd> </dl></div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen den Schiedsspruch der Schiedsstelle für das Land Niedersachsen (§ 81 SGB XII) vom 22.4.2022, mit dem der Investitionsbetrag für die von der in Mannheim ansässigen Klägerin in Ammerland betriebene Pflegeeinrichtung für die Zeit vom 1.3.2021 bis 28.2.2022 pflegetäglich auf 16,73 € festgesetzt worden ist. Die Schiedsstelle hat in ihrer Rechtsmittelbelehrung unter Hinweis darauf, dass die Frage der örtlichen Zuständigkeit umstritten sei, angegeben, die Klage sei beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zu erheben. Demgemäß hat die Klägerin die Klage hier eingereicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Mit Verfügung vom 30.5.2022 hat der Vorsitzende die Beteiligten zur Frage der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 57 Abs. 1 S. 1 SGG und zur Verweisung des Rechtsstreits an das Landessozialgericht Baden-Württemberg angehört.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ist örtlich unzuständig. Der Senat hat die örtliche Unzuständigkeit nach Anhörung der Beteiligten von Amts wegen auszusprechen (§ 98 S. 1 SGG i.V.m. § 17a Abs. 2 S. 1 GVG) und den Rechtsstreit zugleich an das Landessozialgericht Baden-Württemberg als örtlich für die Klage zuständiges Landessozialgericht zu verweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die örtliche Zuständigkeit für die Klage gegen einen Schiedsspruch der Schiedsstelle gemäß § 81 SGB XII (in der seit dem 1.1.2020 gültigen Fassung vom 23.12.2016), hinsichtlich derer sich die sachliche Zuständigkeit des Landessozialgerichts aus § 29 Abs. 2 Nr. 1 SGG (in der Fassung vom 9.6.2021) ergibt, richtet sich im vorliegenden Fall allein nach § 57 Abs. 1 SGG. Gemäß § 57 Abs. 1 S. 1 SGG ist örtlich das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Sitz hat. Klagt eine Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts, in Angelegenheiten nach dem SGB XI ein Unternehmen der privaten Pflegeversicherung oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts oder des Schwerbehindertenrechts ein Land, so ist der Sitz oder Wohnsitz oder Aufenthaltsort des Beklagten maßgebend, wenn dieser eine natürliche Person oder juristische Person des Privatrechts ist (§ 57 Abs. 1 S. 2 SGG). § 57 Abs. 1 SGG findet auch Anwendung auf die örtliche Zuständigkeit bei erstinstanzlich dem Landessozialgericht nach § 29 Abs. 2 SGG zugewiesenen Angelegenheiten; nur, soweit § 29 SGG in den Absätzen 3 und 4 Regelungen über die örtliche Zuständigkeit enthält oder sich andernorts Sonderregelungen finden, gehen diese vor (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 29 Rn. 1, 4; Stotz in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 29 Rn. 24 f.). Die örtliche Zuständigkeit richtet sich in den Fällen des § 29 Abs. 2 SGG nach den allgemeinen Regelungen in §§ 57 und 58 SGG (Keller, a.a.O., § 29 Rn. 4). Insbesondere enthält § 29 Abs. 2 SGG keine konkludente Regelung über die örtliche Zuständigkeit mit der Folge, dass das Landessozialgericht für die im Land ansässigen Schiedsstellen zuständig wäre (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.2.2013 - L 27 P 28/12 KL - juris Rn. 6; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.1.2013 - L 4 P 758/11 KL - juris Rn. 91; Hessisches LSG, Urteil vom 14.2.2018 - L 4 SO 229/16 KL - juris Rn. 6). Die Entstehungsgeschichte des § 29 Abs. 2 SGG, mit dem zum 1.4.2008 eine originäre erstinstanzliche Zuständigkeit der Landessozialgerichte geschaffen wurde, gibt keine Hinweise darauf, dass auch eine örtliche Zuständigkeit geregelt werden sollte. Vielmehr wurde „zur Entlastung der Sozialgerichte und zur Verkürzung der Phase der Unsicherheit, mit der die Parteien während des im Instanzenzug teilweise über Jahre anhängigen Rechtsstreits belastet sind, (…) eine erstinstanzliche Zuständigkeit der Landessozialgerichte für die genannten Rechtsstreitigkeiten geschaffen“ (BT-Drucks. 16/7716, S. 16), was allein die sachliche Zuständigkeit betrifft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Für eine sinngemäße Anwendung des § 57 Abs. 1 S. 1 SGG zur Vermeidung doppelter Rechtshängigkeiten unter Begründung der örtlichen Zuständigkeit bei dem für den Sitz und den Bezirk der beklagten Schiedsstelle zuständigen Landessozialgerichts (so LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 27.8.2019 - L 6 P 20/12 KL - juris Rn. 37, auf das die Schiedsstelle in der Rechtsmittelbelehrung Bezug genommen hat) sieht der Senat keine Möglichkeit. Zum einen kann im Rahmen des Sozialhilferechts, anders als im Pflegeversicherungsrecht (zu dem die vorgenannte Entscheidung des LSG Mecklenburg-Vorpommern ergangen ist) die Klage schon nicht direkt gegen die Schiedsstelle erhoben werden (vgl. § 77 Abs. 2 S. 4 SGB XII). Zum anderen ist der Wortlaut des § 57 Abs. 1 S. 1 SGG eindeutig. Für eine gesetzliche Regelungslücke ist nichts ersichtlich, so dass Zweckmäßigkeitserwägungen - wie sie von der Schiedsstelle und dem Beklagten angeführt werden - für die Frage der Begründung der örtlichen Zuständigkeit nicht herangezogen werden können. Eine Vorschrift wie der das Vertragsarztrecht betreffende § 57a SGG, der der Prozessökonomie und der Bündelung von Erfahrungswissen an einem Gericht dient, fehlt für den Bereich des Sozialhilferechts (vgl. hierzu näher Hessisches LSG, a.a.O., juris Rn. 7). Die eindeutige Systematik und Entstehungsgeschichte des § 29 Abs. 2 SGG und die fehlende Analogiefähigkeit der Spezialregelung des § 57a SGG stehen auch einer entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift entgegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die Klägerin hatte ihren Sitz bereits zur Zeit der Klageerhebung in Mannheim und damit im Zuständigkeitsbereich des Landessozialgerichts Baden-Württemberg. § 57 Abs. 1 S. 2 SGG ist nicht einschlägig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 98 S. 2 SGG i.V.m. § 17a Abs. 2 S. 3 GVG).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE220033749&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
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{ "id": 816, "name": "Landgericht Paderborn", "slug": "lg-paderborn", "city": 476, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
1 S 83/17
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:29"
"2022-10-17T11:10:44"
Urteil
ECLI:DE:LGPB:2022:0831.1S83.17.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Berufung der Klägerin wird das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Paderborn vom 29.06.2017, Az. 53 C 166/10, abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p> <p>Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 678,90 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.07.2010 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz hat der Beklagte zu tragen.</p> <p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Von den gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu treffenden Feststellungen zur Tatsachengrundlage wird gemäß den §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung ist begründet. Die Klage ist insgesamt zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig. Die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts Paderborn konnte bereits deshalb keinen Bestand haben.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet der umfassenden Einwendungen des Beklagten ist – nicht zuletzt aufgrund zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung – eine (ausschließliche) Zuständigkeit des Landgerichts (Dortmund) für die Beurteilung der vorliegenden Rechtsfragen nicht anzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">So hat das Landgericht Dortmund selbst im unmittelbaren Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahrenskomplex seine Zuständigkeit gemäß § 102 EnWG nicht gesehen und durch Beschluss vom 24.10.2011 (Az. 10 O 105/10 [Kart.]) eine Parallelsache an das Amtsgericht zurückverwiesen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 102 Abs.1 Satz 1 EnWG sind für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus diesem Gesetz ergeben, ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes die Landgerichte ausschließlich zuständig. Dies gilt gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG auch dann, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung abhängt, die nach diesem Gesetz zu treffen ist.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit der Klage macht die Klägerin Versorgungsentgelte geltend, da sie die zugrunde liegenden Preiserhöhungen für wirksam hält; zwischen den Parteien ist streitig, ob die Klägerin auf der Grundlage der zwischen ihnen bestehenden Gaslieferungsverträge einseitig Preiserhöhungen durchsetzen kann bzw. ob einseitig erklärte Preiserhöhungen der Billigkeit entsprechen. Derartige Zahlungsansprüche werden von der Zuständigkeitsregelung des § 102 EnWG jedoch nicht erfasst, da hier nicht der Anspruch auf Grundversorgung oder eine sich aus dem EnWG ergebende Rechtsbeziehung Streitgegenstand ist (vgl. nur OLG Hamm, Beschl. v. 23.07.2012, Az. 32 SA 32/12 m. zahlr. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt auch nicht ganz oder teilweise von einer energiewirtschaftsrechtlichen Vorfrage ab (§ 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG). Die Rechtsfrage, ob die Preiserhöhungen der Klägerin der Billigkeit gemäß § 315 BGB entsprechen, ist nicht mit den Regelungen des EnWG zu beantworten. Das EnWG gibt dem Haushaltskunden lediglich einen Anspruch auf Grundversorgung (§ 36 Abs. 1 EnWG) und regelt damit nur das „Ob“ der Versorgung, nicht dagegen die Einzelheiten der Ausgestaltung des Individualvertrages über die Energielieferungen und die Höhe der Bezugspreise. Daher hängt die Entscheidung über die Billigkeit einer Preiserhöhung auch von keiner nach diesem Gesetz zu treffenden Entscheidung im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG ab.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Folgerichtig hat auch der BGH in seiner Grundsatzentscheidung vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 158/11) als Anspruchsgrundlage § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 133, 157 BGB angenommen, ohne eine vermeintliche Zuständigkeitsproblematik im Zusammenhang mit dem EnWG überhaupt zu thematisieren.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die zunächst mit Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 15.09.2010 vorgebrachten Einwände verfangen angesichts der späteren, einhellig formulierten obergerichtlichen Rechtsprechung jedenfalls nicht mehr. Die zweitinstanzlichen Schriftsätze wiederum enthält keinen ausreichend differenzierten Angriff mehr, soweit die mögliche Zuständigkeit nach § 102 EnWG betroffen ist.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat in seiner angefochtenen Entscheidung eine Sonderzuständigkeit des Landgerichts (Dortmund) – Kammer für Handelssachen als Kartellgericht – wegen missbräuchlicher Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch die Klägerin, § 87 Abs. 2 GWB, angenommen. Dies begründe sich in der bloßen Notwendigkeit der kartellrechtlichen Überprüfung der entsprechenden Rüge des Beklagten, dass die Klägerin aus sachfremden Erwägungen einseitig ihre Verpflichtung zur preiswerten Energieversorgung missachte und die Preisgestaltung nicht nachvollziehbar sei, unabhängig vom Ergebnis.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">§ 87 Abs. 1 Satz 1 GWB begründet eine derartige Zuständigkeit für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus dem GWB oder aus Kartellvereinbarungen und aus Kartellbeschlüssen ergeben. § 87 Abs. 1 Satz 2 GWB knüpft eine ausschließliche Zuständigkeit der Kartellgerichte daran, ob die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung nach dem GWB abhängt. Das ist dahin zu verstehen, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von einer Vorfrage abhängt, die, wäre sie Hauptfrage, unter § 87 Abs. 1 Satz 1 GWB fiele (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 27). Die kartellrechtliche Vorfrage muss auf substantiiertem Tatsachenvortrag beruhen; bloße Rechtsausführungen über die angebliche Einschlägigkeit von GWB-Normen genügen nicht (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.07.2010, Az. 14 UH 12/10).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Es kommt jedoch entgegen der Auffassung des Beklagten – ungeachtet der Frage, ob der entsprechende Beklagtenvortrag hinreichend substantiiert ist – hier im Ergebnis nicht darauf an, da der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Anspruch der Klägerin – die Hauptfrage – sich unmittelbar aus dem mit den Beklagten geschlossenen Versorgungsvertrag ergibt und in seiner konkreten Ausprägung – sei es auch über mehrere aufeinanderfolgende Jahre – nicht über diesen hinausgeht. Mithin besteht Entscheidungsreife in der Hauptsache auch dann, wenn die (möglicherweise) kartellrechtliche Vorfrage letztlich nicht beantwortet wird (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 27).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Für die Beurteilung einer Berechtigung der Klägerin, eine einseitige Preisanpassung unter Berücksichtigung der Maßstäbe des § 315 BGB bzw. der hierzu inzwischen von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze – die ungeachtet des Anwendungszwanges des zur Zeit des Vertragsabschlusses geltenden Rechtszustandes (insbesondere § 19 GWB a. F.) gelten – vorzunehmen, bedarf es einer Beantwortung der Frage, ob die Klägerin bereits bei Vertragsabschluss ggf. kartellrechtswidrig gehandelt oder in der Zwischenzeit so agiert hat, aber gerade nicht, da diese Umstände erforderlichenfalls im Rahmen der Abwägung gemäß § 315 BGB bzw. der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB nach hierzu vom BGH entwickelten Maßstäben Berücksichtigung finden können und eine spezifisch kartellrechtliche Bewertung nicht angezeigt ist, was die Kammer in eigener Überzeugung feststellen kann (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 30). Insbesondere rechtfertigt zwar die naheliegende Möglichkeit, dass eine kartellrechtliche Vorfrage zu beantworten sein könnte, eine Verweisung an das Kartellgericht; dies gilt aber nicht, wenn – wie hier – erst eine umfangreiche Beweisaufnahme durchgeführt werden muss, um eventuelle Anknüpfungspunkte für die Qualifizierung einer solchen Vorfrage zu erlangen (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 27).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">2.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch begründet. Die Kammer ist zur diesbezüglichen Entscheidung gem. § 538 Abs. 1 ZPO berufen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht gegen den Beklagten ein Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. dem zwischen den Parteien bestehenden Energielieferungsvertrag für die Vertrags- bzw. Gaswirtschaftsjahre 2006 und 2007 in Höhe von 678,90 € zu, nachdem die für die vorgenannten Jahre vorgenommenen Preisanpassungen der Klägerin zum 01.01.2006, 01.10.2006, 01.03.2007, 01.01.2008 und 01.10.2008 gerechtfertigt und angemessen gewesen sind, hinsichtlich derjenigen zum 01.10.2004 und 01.08.2005 für die Vertrags- bzw. Gaswirtschaftsjahre 2004 und 2005 aber jedenfalls Verjährung eingetreten ist.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">In Ermangelung einer spezialgesetzlichen Anspruchsgrundlage ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auf die Zahlung der jeweiligen Entgelte grundsätzlich aus § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. dem zwischen den Parteien – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – bestehenden Energielieferungsvertrag.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte ist auch, da die Anwendbarkeit des § 433 Abs. 2 BGB sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf Verträge der – nach heutiger Terminologie – Grundversorgung beschränkt, sog Tarifkunde der Klägerin. Gegenstand seines Energielieferungsvertrages ist der klägerseits angebotene Tarif „Grundversorgung erdgas.ideal“. Maßstab für die Einordnung eines Tarifs in die Grundversorgung ist die Wahrnehmung eines durchschnittlichen Kunden dahingehend, ob das Vertragsangebot mittels öffentlicher Bekanntmachung aufgrund einer Versorgungspflicht oder optional nach Marktlage erfolgt, wobei die Existenz mehrerer Grundversorgungstarife nebeneinander die Annahme eines solchen nicht hindert (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 13/12).</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Ein anerkanntes Indiz für das Vorliegen eines Sonderkundenvertrages ist indes die verbrauchsunabhängige Abrechnungsform (vgl. BGH, Urt. v. 14.07.2010, Az. VIII ZR 246/08). Diese ist hier gerade nicht gegeben; sämtliche vorliegenden und streitgegenständlichen Jahresabrechnungen der Klägerin sind – unstreitig – an den Verbrauch geknüpft (so auch LG Bielefeld, Urt. v. 17.07.2018, Az. 20 S 94/11). Zudem begründet die Vornahme öffentlicher Bekanntmachungen als solcher ein Indiz für die Eigenschaft als Grundversorgungstarif (vgl. LG Detmold, Beschl. v. 29.02.2012, Az. 10 S 205/11, Bl. 198 ff. d. A.).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat die Einordnung als Grundversorgungsvertrag bestritten und vertritt die Auffassung, es handele sich um einen Sonderkundenvertrag. Die dazu vorgetragene Argumentation, insbesondere der Hinweis auf den Bezug von „Erdgas für Bestandskunden“ findet jedoch in der ausdrücklich in Bezug genommenen Anl. K7 (Erdgasabrechnungen) zumindest insoweit keine Stütze, als dort in den Abrechnungen für die Jahre 2004 und 2005 zwar jeweils nur von „Erdgas“ die Rede ist. Ab der Jahresrechnung 2006 wird der Tarif jedoch durchgehend als „Grundversorgung erdgas.ideal“ bezeichnet. Die Vertragskontonummer für den Erdgasbezug bleibt mit … ebenfalls durchgehend unverändert. Unbeachtlich bleibt hingegen der Einwand des Beklagten, die Klägerin habe in ihren öffentlichen Bekanntmachungen der Preisanpassungen den Eindruck erweckt, es handele sich bei dem benannten Tarif um einen Sondervertrag. Tatsächlich ergibt sich zwar aus der Inaugenscheinnahme der insoweit beigegebenen Anlagen (zu 1 S 19/10) der Klägerin, dass die Preise des Tarifs „erdgas.ideal“ durchgehend als „Der Sondervertrag für Neukunden unabhängig vom Erdgasverbrauch“ bezeichnet werden. In den gleichen Preisanpassungen sind ausdrücklich als Grundversorgung bzw. Allgemeintarife bezeichnete Preistabellen gesondert aufgeführt. Erstmals mit der Bekanntmachung der Preisanpassung zum 01.10.2006 wird auch der Tarif „erdgas.ideal“ im Rahmen der Grundversorgung/allgemeine Tarife für Erdgas ausgewiesen. Gleichzeitig verbleibt es aber bei der Ausweisung dieses Tarifs (auch) als Sondertarif für Bestandskunden vor dem 01.10.2004.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Einer weiter vertiefenden Untersuchung dieser ohnehin nur für die Vertragsjahre 2004 und 2005 relevanten Frage bedarf es indes nicht. Etwaige Forderungen der Klägerin aus den Jahren 2004 und 2005 sind nämlich jedenfalls verjährt. Der Beklagte hat die Verjährungseinrede auch erhoben.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Für die auf § 433 Abs. 2 BGB gestützten Nachforderungsansprüche der Klägerin gilt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB).</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Da die Entstehung des Anspruchs grds. die Fälligkeit desselben voraussetzt (vgl. Grüneberg/<em>Ellenberger</em>, BGB, § 199 Rn. 3) und bei Nachforderungsansprüchen von Versorgungsunternehmen der Zugang der Rechnung Fälligkeitsvoraussetzung ist (vgl. Grüneberg/<em>Ellenberger</em>, BGB, § 199 Rn. 6 m. w. N.), begann für die jeweils per Jahresrechnung der Klägerin geltend gemachten Zahlungsansprüche die Verjährungsfrist am 31.12. des jeweiligen Jahres zu laufen (§ 199 Abs. 1 BGB).</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ein Anspruch der Klägerin aus der Jahresrechnung 2004 ist, obgleich diese ebenfalls als Anlage K7 beigegeben wurde, nicht Gegenstand der Klage.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">cc)</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im Ergebnis wäre ein Anspruch der Klägerin aus der Jahresrechnung 2005 jedenfalls verjährt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Für Ansprüche der Klägerin aus der Jahresrechnung 2005 begann die Verjährungsfrist am 31.12.2006 zu laufen, nachdem die an den Beklagten gerichtete Jahresrechnung 2005 überhaupt erst vom 10.07.2006 datiert, mithin jedenfalls nicht vorher zugegangen sein kann. Verjährung konnte daher frühestens am 31.12.2009 eintreten.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Hiervon geht die Kammer auch tatsächlich aus. Zwar wurde die Verjährung durch Zustellung des dieses Verfahren auslösenden Mahnbescheides der Klägerin an den Beklagten am 18.12.2009 gem. § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB gehemmt. Dabei geht die Kammer insbesondere auch von einer hinreichenden Bestimmtheit des Mahnbescheidsantrags nach § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO aus. Zu Recht wendet der Beklagte ein, dass die Einzelforderungen nach Individualisierungsmerkmalen und Betrag bestimmt sein müssen, wenn – wie hier – mit einem Mahnbescheid mehrere Einzelansprüche unter Zusammenfassung in einer Summe geltend gemacht werden. Diese Anforderungen sieht die Kammer hier jedoch als erfüllt an. Aus der Angabe des Rechnungsdatums und der Rechnungsnummer der Klägerin – vorgelegt als Anlage K7, dort Jahresrechnung 2007 – ergibt sich die auch dort durch nur zwei Einzelpositionen bezifferte Forderung hinreichend genau, da die Wirkung des § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO letztlich nicht von der Bestimmtheit der Rechnung, sondern nur von der Bestimmtheit des Mahnantrags im Verhältnis zum Bezugsdokument abhängt, insbesondere, soweit dem Schuldner tatsächlich bekannt ist, um welche Forderungen es geht (vgl. Musielak/<em>Voit</em>, ZPO, § 690 Rn. 6a). Zumindest dies darf gerade in der vorliegenden Fallkonstellation unterstellt werden.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Diese Hemmungswirkung hat auch grundsätzlich während des erstinstanzlichen Verfahrens fortgedauert. Zwar ist die Sache nicht gem. § 696 Abs. 3 ZPO alsbald nach Widerspruchseinlegung ins Streitverfahren abgegeben worden, sondern erst nach über sechs Monaten, für die Hemmung der Verjährung kommt es hierauf jedoch nicht an (vgl. BGH, Urt. v. 17.01.2008, Az. II ZR 283/06; Zöller/<em>Seibel</em>, ZPO, § 696 Rn. 9). Da die Klageschrift innerhalb von sechs Monaten nach Zugang des entsprechenden Anforderungsschreibens beim Amtsgericht eingegangen ist, kommt auch eine Beendigung der Hemmung nach § 204 Abs. 2 BGB nicht in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat sodann das vorliegende Verfahren durch Beschluss vom 24.09.2012 (Bl. 130) zur Klärung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH über den Vorlagebeschluss des BGH vom 18.05.2011, Az. VIII ZR 71/10, gemäß § 148 ZPO ausgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Zwar wird grundsätzlich während des laufenden Rechtsstreits eine Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt, jedoch gilt dies nur, soweit die Parteien es weiterbetreiben bzw. ein etwaiger Stillstand des Verfahrens nicht auf einer bloßen Untätigkeit der Parteien beruht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn gesetzliche Unterbrechungstatbestände das Verfahren zum Stillstand gebracht haben, aber auch, soweit dem Stillstand des Verfahrens ein auf Antrag der Parteien ergangener Beschluss zur Aussetzung gemäß § 148 ZPO zugrunde liegt (vgl. MüKo-BGB/<em>Grothe</em>, § 204 Rn. 81 m. w. N.). Fällt indes der Grund, auf den die Aussetzung ursprünglich gestützt worden ist, nachträglich weg und bleiben die Parteien auch insoweit untätig, läuft die Verjährung unter Berücksichtigung der Sechsmonatsfrist des § 204 Abs. 2 S. 1 u. 3 BGB weiter (vgl. MüKo-BGB/<em>Grothe</em>, a. a. O.). Ist ein Verfahren konkret, wie hier, bis zur Entscheidung eines anderen vorgreiflichen Verfahrens ausgesetzt, endet die Aussetzung automatisch mit der Entscheidung des anderen Verfahrens, ohne dass es einer Aufnahmeerklärung der Parteien (§ 250 ZPO) oder einer Anordnung des Gerichts nach § 150 ZPO bedarf (vgl. Zöller/<em>Greger</em>, ZPO § 148 Rn. 8 u. § 150 Rn. 2; BGH, NJW 1989, 1729).</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die in solchen Fällen laufende Verjährungsfrist wird erst dann wieder gehemmt, wenn die Parteien das Verfahren erneut betreiben, § 204 Abs. 2 S. 4 BGB. Tun sie dies nicht, endet die Hemmung sechs Monate nach dem Wegfall analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB (Zöller/<em>Greger</em>, ZPO, § 249 Rn. 2; OLG Saarbrücken, Urt. v. 08.04.2008, Az. 4 U 397/07-132).</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Im hiesigen Verfahren ist Grundlage der Aussetzung zunächst der Beschluss des Amtsgerichts vom 24.09.2012, wörtlich: „bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsverfahrens“. Diese Erledigung ist mit Urteil des EuGH vom 23.10.2014, Az. C-359/11, offenkundig erfolgt, sodass die Hemmung der Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB sechs Monate nach Wegfall des Aussetzungsgrundes jeweils zum 24.04.2015 geendet hätte. Dem ist jedoch das Amtsgericht Paderborn durch die Förderung des Verfahrens mit Hinweis vom 26.01.2015 und erneuter Aussetzung „bis zur Entscheidung der Verfahren vor dem BGH“ durch Beschluss vom 05.03.2015 (Bl. 139) begegnet. Der Abschluss der Verfahren vor dem BGH erfolgte sodann durch Leitentscheidung vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 71/10), sodass ein Ende der Hemmung der Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB wiederum sechs Monate nach Wegfall des Aussetzungsgrundes und damit mit Beginn des 29.04.2016 eingetreten wäre. Die erste verfahrensfördernde Handlung überhaupt war sodann die Terminsverfügung des Amtsgerichts vom 23.03.201<span style="text-decoration:underline">7</span> (Bl. 144), sodass zwischenzeitlich die Verjährungsfrist insbesondere für die Ansprüche aus der Jahresrechnung 2005 wieder zu laufen begonnen hatte, die mit Eintritt der Hemmung am 18.12.2009 nur noch wenige Tage vor ihrem Ablauf gestanden hatte. Damit trat Verjährung etwaiger Ansprüche aus der Jahresrechnung 2005 jedenfalls in der Folge ein.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">dd)</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen sind die Verjährungsfristen – im Weiteren beginnend am 31.12.2007 für die Jahresrechnung 2006 und ablaufend frühestmöglich am 31.12.2010 – aber von diesem Umstand unberührt.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">c)</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin stehen die verbliebenen Ansprüche aus den Jahresrechnungen 2006 und 2007 in dem geltend gemachten Umfang zu, da die Klägerin ein dem Versorgungsvertrag mit dem Beklagten immanentes Preisanpassungsrecht für sich beanspruchen kann, dessen Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Der Ursprung des Preisanpassungsrechts der Klägerin liegt in einer ergänzenden Vertragsauslegung der mit dem Beklagten geschlossenen Grundversorgungsvereinbarung im Sinne der §§ 133, 157 BGB (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die weitere Anwendbarkeit der gesetzlichen Vorschriften der ehemaligen AVBGasV hat der BGH in dieser eine ständige Rechtsprechung einleitenden Grundsatzentscheidung abgelehnt und sich insoweit mit dem Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung zu deren Unvereinbarkeit mit der Gas-Richtlinie 2003/55/EG identifiziert. Soweit national die AVBGasV inzwischen durch die GasGVV ersetzt worden ist, zieht der BGH deren Vorschriften richtigerweise nicht heran, da sie keine Rückwirkung entfalten können.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Auch eine unmittelbare Anwendung der vorgenannten Gasrichtlinie 2003/55/EG, etwa in Ermangelung einer wirksamen nationalen Regelung, kommt für den vorliegenden Fall nicht in Betracht. Der BGH hat in seinem Urteil vom 28.10.2015 solchen Überlegungen eine generelle Absage erteilt mit Hinweis auf die vom EuGH entwickelte Grundsatzrechtsprechung, wonach eine Direktwirkung von Richtlinien nur gegenüber dem Staat oder staatsnahen Organisationen angenommen werden könne, nicht aber im Rechtsverkehr zwischen privaten Rechtssubjekten.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die hiesige Klägerin ist nach den Feststellungen der Kammer kein staatsnahes Unternehmen im vorgenannten Sinne (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.11.2017, Az. 2 BvR 1131/16). Dies ist vorliegend auch nicht behauptet worden.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Das BVerfG hat in seinem vorgenannten Beschluss insbesondere die Entscheidung des EuGH vom 12.07.1990, Az. C-188/89 (Foster), in Bezug genommen. Darin hat der EuGH die vorgenannte allgemeine Definition des staatsnahen Unternehmens dahingehend präzisiert, dass die unmittelbare Geltung von Richtlinien jedenfalls gegenüber einer Einrichtung angenommen werden kann, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt. Dabei handelte es sich im zu entscheidenden Fall ganz konkret um die C., mithin ebenfalls einen Energieversorger. Dieser war – auch nach seiner Privatisierung – noch als privilegierte Institution im vorgenannten Sinne anzusehen, jedenfalls insoweit, als er Rechtsnachfolger des bisherigen Staatsunternehmens geworden war.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Auch in seiner Entscheidung vom 04.12.1997, Az. C-257/96 (Kampelmann u.a.), hat der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie im Verhältnis zu kommunalen Stadtwerken bejaht.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Das BVerfG hat in diesem Zusammenhang noch angemerkt, dass jedenfalls Vortrag, wonach ein Energieversorger in 100%-igem kommunalen Eigentum stehe, ein deutliches Indiz für die Annahme eines staatsnahen Unternehmens begründe (vgl. BVerfG, a. a. O.).</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">In der Literatur wird die Qualifikation eines Grundversorgers als staatsnah trotz der bestehenden aufsichtsrechtlichen Regelungen im Ergebnis wohl verneint (vgl. <em>Uffmann</em>, NJW 2015, 1215, 1217). Zur Begründung wird sinngemäß angeführt, dass – wenn der Energieversorger nicht in vollständigem kommunalen Eigentum steht – es sich rechtssystematisch weiterhin um einen privatrechtlichen Vertragsschluss zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer handele und dieser als solcher nicht von der Richtlinienkompetenz der EU umfasst sein könne (vgl. EuGH, Urt. v. 14.07.1994, Az. C-91/92; LG Bielefeld, a. a. O.). Stimmen in der Rechtsprechung verweisen indes auf eben diesen aufsichtsrechtlichen Sonderstatus des Energieversorgers und seine im öffentlichen Interesse liegende Dienstleistung (AG Lingen, Urteil vom 14.10.2014 - 12 C 1363/09). Dies überzeugt im Ergebnis auch rechtssystematisch nicht, da sich die in Bezug genommenen spezifischen Verpflichtungen ausschließlich aus dem EnWG ergeben, welches aber ausweislich § 3 Nr. 18 EnWG für alle Energieversorgungsunternehmen, mithin auch solche in privater Hand, gilt und damit gerade keinen öffentlich-rechtlichen Sonderstatus im Sinne einer Ausschließlichkeit erzeugt (vgl. <em>Britz/Hellermann/Hermes</em>, EnWG, § 3 Rn. 34).</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Für die hiesige Klägerin ist zudem vorgetragen, dass sie – soweit für den Rechtsstreit relevant – im Jahre 2003 als F aus den bisherigen regionalen Energie- und Wasserversorgern, ihrerseits jeweils Gesellschaften mit beschränkter Haftung, gegründet und zum 02.09.2008 zunächst in die F und schließlich in die heutige F umgewandelt worden ist. Daher kann eine unmittelbare Staatsnähe jedenfalls nicht angenommen werden, sondern allenfalls noch die mittelbare Beteiligung im Wege des Haltens von Gesellschaftsanteilen. Dies allein genügt ohne substantiierten Gegenvortrag für die Annahme einer Staatsnähe nicht (vgl. LG Bielefeld, a. a. O.).</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">(3)</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der BGH hat im Übrigen mit seiner Grundsatzentscheidung vom 28.10.2015 die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung i. S. d. §§ 133, 157 BGB für die – damit zulässige – Herleitung eines einseitigen Preisanpassungsrechts des Energieversorgers als Maßstab angenommen. Die dafür erforderliche Regelungslücke in dem jeweiligen Versorgungsvertrag hat er in dem nachträglichen Wegfall der das Versorgungsverhältnis regelnden Vorschriften der AVBGasV gesehen, aus denen sich das – insoweit als grundlegend zu qualifizierende – Preisanpassungsrecht des Versorgers ergeben hatte. Weiter hat der BGH konstatiert, dass, hätten die Parteien bei Vertragsabschluss bedacht, dass die Vereinbarkeit des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV entnommenen gesetzlichen Preisänderungsrechts mit unionsrechtlichen Vorgaben zumindest unsicher ist, sie bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner eine – allerdings auf die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen begrenzte – Möglichkeit des Grundversorgers zur einseitigen Änderung des Tarifs vereinbart hätten. Diesen Erwägungen schließt sich die Kammer, wie zuvor bereits für vergleichbare Fallkonstellationen insbesondere mit der hiesigen Klägerin auch das LG Bielefeld (Urteile vom 27.07.2017, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11), ausdrücklich an.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Lücke im Vertrag ist demnach im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung gemäß den §§ 157, 133 BGB in der Weise zu schließen, dass die Klägerin berechtigt ist, Kostensteigerungen ihrer eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben, und das Gasversorgungsunternehmen verpflichtet ist, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen. Der nach dieser Maßgabe berechtigterweise erhöhte Preis wird zum vereinbarten Preis (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund greift auch die zuvor in der Rechtsprechung bemühte Klausel des § 315 BGB nicht (mehr) ein. Denn nach dieser Vorschrift ist eine Billigkeitsprüfung vorgesehen, die auf einem vertraglich vereinbarten einseitigen Preisänderungsrecht einer Partei fußt. Dies kann auf den vorliegenden Fall jedoch keine Anwendung finden, da einerseits bereits nicht mehr von einem vereinbarten Preisanpassungsrecht ausgegangen werden kann, nachdem die dem Vertrag zugrunde liegenden Normen der AVBGasV – und damit die Vertragsbedingungen – für unanwendbar erklärt worden sind. Zum anderen bedarf es einer Billigkeitsprüfung insofern nicht, als die Maßstäbe der ergänzenden Vertragsauslegung eine Gegenüberstellung konkreter und zumindest bestimmbarer Rechnungsposten – nämlich der Bezugskostensteigerungen bzw. -senkungen – ermöglichen (vgl. BGH, a. a. O.).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme insbesondere davon überzeugt, dass die Voraussetzungen des sich aus der ergänzenden Vertragsauslegung ergebenden Preisanpassungsrechts im vorliegenden Fall erfüllt sind und zwar nicht lediglich für die noch entscheidungserheblich zu prüfenden Vertragsjahre 2006 und 2007, sondern auch, was die Kammer im Rahmen einer gebotenen kumulierten Betrachtung ohnehin festzustellen hatte, für die vorangegangenen Jahre 2004 bis 2005, wobei es insoweit aufgrund des Durchgreifens der Verjährungseinrede für das Entscheidungsergebnis freilich nur noch auf eine Plausibilitätskontrolle ankam.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Bei dieser Beurteilung, ob die Preiserhöhungen des Energieversorgers unter Berücksichtigung der Schätzungsmöglichkeit nach § 287 Abs. 2 i. V. m. § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO dessen (Bezugs-)Kostensteigerungen (hinreichend) abbilden, steht dem Tatrichter ein Ermessen zu (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11; LG Bielefeld, Urteile vom 17.07.2018, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11).</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">So hat insbesondere der gerichtlich bestellte Sachverständige C – dessen Erkenntnisse die Kammer im vorliegenden Verfahren gemäß § 411a ZPO verwertet hat – in seinem schriftlichen Gutachten vom 07.12.2020 und der im Verhandlungstermin vom 01.09.2021 vorgenommenen ergänzenden Anhörung die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge anschaulich und nachvollziehbar dargestellt, die zu der Preisberechnung und -anpassung der Klägerin in den jeweiligen Gaswirtschaftsjahren geführt haben.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Dabei ist sich die Kammer sowohl des Umstandes bewusst, dass aufgrund der inzwischen erhebliche Zeit zurückliegenden Vorgänge eine lückenlose Aufklärung einzelner Berechnungen nicht mehr möglich war, als auch der von dem Sachverständigen C selbst wiederholt deutlich gemachten Tatsache, dass die Auswahl eines bestimmten, in der Gesamtschau des Energiemarktes bzw. der Versorgungslandschaft vergleichsweise kurzen Betrachtungszeitraums – hier die Gaswirtschaftsjahre 2004 bis 2008 – bereits für sich genommen und völlig ungeachtet der jeweils konkret verwendeten Berechnungsmethoden oder durchgeführten Preisanpassungen ab einem gewissen Punkt zu zufälligen Ergebnissen führt. Der letztere Umstand jedenfalls ist indes durch die Parteien des Rechtsstreits selbst vorgegeben, da der Beklagte konkret die Gaswirtschaftsjahre 2004 bis 2008 bzw. die auf diese bezogenen Jahresrechnungen angreift. Der Rechtsgedanke des § 308 ZPO rechtfertigt damit eine angemessene Begrenzung der zu erhebenden tatsächlichen Feststellungen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Weitergabe der Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht tagesgenau erfolgen muss, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen ist. Die Bemessung dieses Zeitraums obliegt der Beurteilung des Tatrichters nach den Umständen des Einzelfalls, wobei jedenfalls die Gesamtbetrachtung nach Gaswirtschaftsjahren nicht zu beanstanden ist (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Dass solche Feststellungen in dem vorbezeichneten Rahmen grundsätzlich möglich sind, hat der Sachverständige C eingangs seines schriftlichen Gutachtens und auch nochmals in dessen mündlicher Erläuterung ausdrücklich formuliert. Auch hat er für die Kammer überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, dass sich die Klägerin in einem ihr wie auch anderen Energieversorgern grundsätzlich zustehenden Spielraum unternehmerischen Ermessens (vgl. BGH, a. a. O.) bewege, der betriebswirtschaftlich lediglich eingeschränkt überprüfbar sei, nämlich insbesondere auf die Verwendung einer allgemein anerkannten Berechnungsmethode und auf eventuelle Anzeichen von Willkür. Seien diese Grundvoraussetzungen erfüllt, würden die entsprechenden Zahlenwerke der Klägerin einer Plausibilitätsprüfung unterzogen, hier nach Maßgabe der von der Kammer in Anlehnung an die Grundsatzentscheidung des BGH formulierten Beweisfragen.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Danach ist das Gasversorgungsunternehmen berechtigt, Kostensteigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben. Das Gasversorgungsunternehmen ist umgekehrt verpflichtet, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige weist auf die nur begrenzte Objektivierbarkeit insbesondere der weiteren Kostenänderungen und des unternehmerischen Umgangs der Klägerin damit hin, ferner auf – im Rahmen des von der Kammer bereits dargestellten rechtlichen Vorrangs der Parteiautonomie – hinzunehmende rechnerische Ungenauigkeiten durch das Erfordernis einer Durchschnittsbildung in Abhängigkeit vom jeweils gewählten Betrachtungszeitraum. Insbesondere im letzten Schritt müsse als Maßstab das unternehmerische Ermessen der Klägerin angesetzt werden, wobei allenfalls „offensichtlich grober Unfug“ die Grenzen überschreiten dürfte und zudem nur der jeweilige Wissensstand auf Basis der damaligen Marktentwicklung zugrunde gelegt werden könne, wobei objektiv festzustellen sei, dass die Markt- und Regulierungsverhältnisse im Erdgasgeschäft im fraglichen Zeitraum (2004-2008) grundlegend anders als heute gestaltet waren. Es seien also damalige Prognoseentscheidungen der Klägerin zu bewerten bzw. erforderlichenfalls zu rekonstruieren; eine ex-post-Betrachtung verbiete sich.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin trägt im vorliegenden Verfahren vor, schon die Steigerungen ihrer eigenen Bezugskosten nicht einmal in vollem Umfang an ihre Kunden weitergegeben zu haben. Sie beziehe das zur Versorgung ihrer (Haushalts-)Kunden benötigte Gas seit Jahren von mehreren Lieferanten, wobei der Bezug auf der Grundlage von Preisanpassungsklauseln erfolge, wonach der Bezugspreis an die Entwicklung des Ölpreises gebunden sei.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Als Anlage K12 hat die Klägerin ein Privatgutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft X vom 23.10.2009 über die Gaspreisanpassungen für Haushalts- und Kleingewerbekunden im Zeitraum 01.01.2004 bis 30.09.2008 vorgelegt, dem als Anlage 2 eine Tabelle über die monatliche Entwicklung des Bezugspreises der Rechtsvorgängerin der Klägerin (F) beigefügt ist. Ausweislich der Anlage 1 zu diesem Privatgutachten ist auch der hier streitgegenständliche Tarif „erdgas.ideal“ bzw. „Grundversorgung erdgas.ideal“ berücksichtigt worden. Die Ausarbeitung der Fa. X gelangt im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass jedenfalls Preisanpassungen infolge von Unternehmensänderungen ganz bzw. im Wesentlichen erlösneutral durchgeführt worden seien. Für die Arbeitspreisberechnung sei der Umstand berücksichtigt worden, dass der Verbrauch nicht gleichbleibend, sondern punktuell in der Heizperiode stark ansteigend sei, sodass Preisanpassungen in dieser Zeit einen deutlich größeren Einfluss auf den Kunden hätten als außerhalb der Heizperiode. Unberücksichtigt geblieben seien demgegenüber industrielle Großabnehmer. Die Privatgutachter haben die Anknüpfungstatsachen und zugrunde zu legenden Unterlagen als vollständig und widerspruchsfrei erachtet. So hätten insbesondere Einkaufsrechnungen der Vorlieferanten der Klägerin vorgelegen, deren – im Verfahren behauptete – Kopplung an die Ölpreise als bestätigt angesehen werden könne. Auch im Übrigen seien diese Bezugskostenrechnungen plausibel. Für den auch hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.01.2004 bis 30.09.2008 sei nunmehr festzuhalten, dass die Preisanpassungen insgesamt auf Bezugspreisveränderungen zurückzuführen seien. Insgesamt ergebe sich sogar eine Unterdeckung, wonach die Klägerin die Bezugskostensteigerungen nicht einmal vollständig im Wege der Preisanpassung an ihre Kunden weitergegeben habe. Die Unterdeckung liege für den Gesamtzeitraum kumuliert bei einem Wert von 1.836.000 € und umgerechnet auf die Kilowattstunde bei 0,021 Cent zulasten der Klägerin.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter umfassender, kritischer Würdigung der schriftlichen wie mündlichen Ausführungen des Sachverständigen C jedenfalls insoweit bestätigt gesehen, als bei der Klägerin kontinuierliche Bezugskostensteigerungen stattgefunden haben. Sie ist, insbesondere auch, nachdem die Parteien im Rahmen der mündlichen Verhandlung nochmals Gelegenheit zu einer intensiven Befragung des Sachverständigen erhalten hatten, davon überzeugt, dass die Preiserhöhungen der Klägerin nach Maßgabe des § 287 ZPO deren (Bezugs-)Kostensteigerungen adäquat abbilden.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">(aa)</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Zum Tarifgefüge der Klägerin stellt der Sachverständige grundlegend fest, dass das damals übliche Preissystem in einen Grundpreis pro Jahr und einen Arbeitspreis pro verbrauchter Kilowattstunde aufgeteilt gewesen sei. Eine Zählerstandsablesung habe regelmäßig einmal jährlich stattgefunden, sodass der für den Arbeitspreis relevante Verbrauch seine Grundlage in einer Zählerstandsdifferenzberechnung finde. Diese wiederum habe im Falle einer unterjährigen Tarifanpassung ihrerseits auf einer bloßen Hochrechnung beruhen können. Weiter stellt der Sachverständige grundlegend fest, dass abhängig von der konkreten Tarifstufe des jeweiligen Kunden der Anteil des Grundpreises am Gesamtpreis habe variieren können, sodass sich dieselbe Preisanpassung verhältnismäßig unterschiedlich habe auswirken können. Diese eventuellen Schwankungen würden mittels einer Durchschnittsberechnung übergangen, da als Vorgabe für die Beweisaufnahme eine konkrete Tarifstufe entsprechend dem damaligen Tarifgefüge zugrundezulegen war. Auch zwischenzeitliche Veränderungen der Tarifstufen aufgrund erfolgter Tarifharmonisierungen seien als eindeutig bezugskostenunabhängige Veränderungen im Rahmen des unternehmerischen Ermessens nicht zu berücksichtigen, soweit nicht eine parallele Bezugskostenerhöhung durch Umrechnung ausdifferenziert werden könne.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Dies sei bei der Tarifharmonisierung zum 01.10.2004 dahingehend der Fall, dass sich eine abstrakte Weitergabe von Bezugskostensteigerungen im Arbeitspreis auf – nach Verrechnung mit einer späteren Tarifkorrektur vom 01.01.2005 – rechnerisch 0,37 ct/kWh belaufe, die sich (nur) durch Verrechnung nicht in diesem Umfang für den konkreten Kunden ausgewirkt habe. Für eine weitere Tarifharmonisierung zum 01.01.2008 ergebe sich entsprechend eine bereinigte Preissteigerung von 0,48 ct/kWh. Für eine weitere Preisanpassung vom 01.10.2006 ergebe sich ferner die Situation, dass diese völlig unabhängig von einer Bezugskostenveränderung erfolgt sei. Im Übrigen habe sie eine Senkung der Tarifpreise zur Folge gehabt. Die Tarifharmonisierungen als solche seien in der Summe betriebswirtschaftlich zulässigen Ermessens als erlösneutral zu bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">(bb)</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige gelangt mit einer fundierten und Nachfragen standhaltenden Begründung zu der für die Kammer überzeugenden Aussage, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum stetige Bezugskostensteigerungen hinzunehmen hatte.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Als wirtschaftliche Ausgangslage der Bezugssituation der Klägerin zu Beginn des streitgegenständlichen Beurteilungszeitraums stellt der Sachverständige im Wesentlichen fest, dass die Klägerin durchgehend mehrere Bezugsverträge zu verschiedenen Anbietern unterhalten habe und diese nicht notwendig deckungsgleich mit ihren eigenen Kunden- bzw. Tarifgruppen gewesen seien. Abgesehen von – grundsätzlich möglichen – Sonderkonditionen seien die Bezugsverträge der Klägerin systematisch unterteilt in einen Leistungs- und einen Arbeitspreis gewesen. Der Leistungspreis habe sich an der abgerufenen Spitzenmenge innerhalb eines Gaswirtschaftsjahres orientiert, woraus sich ein monatlicher Pauschalsatz ergeben habe. Soweit eine Spitzenmenge erst im späteren Verlauf des Jahres abgerufen worden sei, hätten dementsprechend Nachzahlungsbeträge für die Vormonate entstehen können. Der Arbeitspreis habe demjenigen entsprochen, welcher auch an die Endkunden weitergegeben worden sei, also der tatsächlichen Liefermenge in ct/kWh und sei variabel im Hinblick auf die Heizölpreise gewesen (sog. Preisgleitklause). Ergänzend hat der Sachverständige hierzu insbesondere ausgeführt, dass aufgrund der damals herrschenden Marktbedingungen nahezu keine Einflussmöglichkeit der Klägerin bestanden habe, ihre eigenen Bezugsverträge nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und insbesondere im Preisinteresse zu gestalten. Die vorgegebenen Bezugspreise seien nicht verhandelbar, sondern „nach Gutsherrenart“ festgesetzt gewesen. Auch Möglichkeiten einer Speicherung, d.h. eines gezielten Bezuges über Bedarf zu Zeiten günstiger Preise, habe der Markt nicht geboten. Derartige „Puffer“ seien erst in späteren Jahren entstanden bzw. zum Standard geworden. Auch insgesamt sei der Gasmarkt insbesondere im streitgegenständlichen Zeitraum in einem bis dato nicht gekannten Umbruch gewesen. Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang das sog. City-Gate-Konzept und damit eine grundlegende Änderung des Bezugsvertragsmodells näher erläutert, was erheblichen Einfluss jedenfalls auf die Preisgestaltung des im vorliegenden Fall noch zu untersuchenden Gaswirtschaftsjahres 2008 gehabt habe.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige hat die Netto-Bezugspreisentwicklung der jeweiligen Einzelbezugsverträge und ein daraus gebildetes rechnerisches Mittel nebeneinandergestellt. Aufgrund einer unterschiedlichen Gewichtung von Leistungs- und Arbeitspreis je Bezugsvertrag hat sich der Sachverständige diesbezüglich für die Bildung eines rechnerischen Mittels in der einheitlichen Größe ct/kWh entschieden und dabei insbesondere auch im Hinblick auf die zuletzt stattgefundene Preisanpassung zum 01.10.2008 eine annähernde Umrechnung wegen des zwischenzeitlich erfolgten Systemwechsels der Bezugsverträge vorgenommen.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen einer ergänzenden Berechnung hat der Sachverständige zudem festgestellt, dass sog. Marketingzuschüsse in die Bezugspreisentwicklung einzuberechnen gewesen seien. Dabei handle es sich um pauschalierte Zahlungen in den jeweiligen Lieferverhältnissen, die grundsätzlich unabhängig von der Bezugspreisentwicklung zu werten, wirtschaftlich aber mit dieser in Zusammenhang zu bringen seien. Vor diesem Hintergrund habe der Sachverständige eine entsprechende Umrechnung, ebenfalls in der Größe ct/kWh, vorgenommen und auch tatsächlich eine gewisse statistische Abweichung festgestellt. Im Ergebnis seien diese Marketingzuschüsse von den Bezugskosten abzuziehen, was wiederum nur durch die Bildung rechnerischer Umlagewerte gelinge. Hierbei verschwinde die eventuelle Auswirkung dieser Summen jedoch im Rahmen – betriebswirtschaftlich plausibler und zulässiger – rechnerischer Toleranz.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">(cc)</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige nimmt schließlich, auch mit grafischen Darstellungen, die eigentliche erste Vergleichsberechnung der Bezugs- und Absatzpreise der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum vor. Dabei wird zunächst deutlich, dass einerseits beide Preise über die Jahre erheblich angestiegen sind, wobei die Bezugspreise deutlicheren Schwankungen unterlegen haben als die Absatzpreise, was sich, wie der Sachverständige ebenfalls näher ausführt, damit erklären lässt, dass die Absatzpreise nur unter bestimmten Bedingungen verändert oder angepasst werden konnten, nämlich insbesondere im Rahmen öffentlicher Bekanntmachungen, die eine teils langfristige organisatorische Vorbereitung erforderten. Insgesamt aber zeigt sich zur Überzeugung der Kammer über den betrachteten Gesamtzeitraum eine stetige Überlagerung der Bezugs- und Absatzpreisentwicklung ohne wesentliche Ausreißer. Insbesondere zeigt auch die von dem Sachverständigen vergleichend vorgenommene Berechnung der Rohmarge der Klägerin – also der Ertragsdifferenz im Vergleich zum Bezugsmonat, dem zwischen den Parteien des hiesigen Rechtsstreits als unstreitig angesehenen sog. Sockelbetrag – allenfalls das Erreichen des Ausgangswerts zum Ende des Betrachtungszeitraums, jedenfalls aber keinen Anstieg.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Das vorstehende Gesamtergebnis deckt sich auch mit den weiteren Einzelerläuterungen des Sachverständigen zur Ertragsentwicklung der Klägerin auf Grundlage der Differenzberechnung zwischen Bezugs- und Absatzpreisen im Detail. Dabei sei festzustellen, dass die Tarifentwicklung der Klägerin häufig der Bezugspreisentwicklung „gefolgt“ sei, indem zunächst die Bezugspreise die Tariferlöse überstiegen, bis die nächste Tarifanpassung eine deutliche „Reserve“ für einen weiteren Zeitraum erzeugt habe, bis die Bezugspreisentwicklung insoweit wieder an dieser Linie angekommen sei. Der Sachverständige hält insoweit ausdrücklich fest, dass es der Klägerin zwar möglich gewesen sei, die Tarifanpassungen wesentlich enger und kleinteiliger an die Bezugspreisentwicklungen anzunähern und vor diesem Hintergrund die Ertragsentwicklung anzugleichen. Bei einem Massengeschäft wie dem Tarifkundenvertrag liegt es jedoch – auch unter Berücksichtigung von Praktikabilitätsgesichtspunkten – vielmehr im Interesse beider Vertragsparteien, eine Weitergabe von Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht – was regelmäßig mit einem die Energieversorgung unnötigerweise verteuernden hohen Aufwand verbunden wäre – tagesgenau vorzunehmen, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Dieser Interpretation vermag die Kammer in eigener Überzeugungsbildung zu folgen. Der Sachverständige zieht für die Differenzberechnung von Absatztarifen und Bezugspreisen einerseits den Gesamtbetrachtungszeitraum, andererseits als Referenzgröße das Gaswirtschaftsjahr – d. h. den Zeitraum vom 1. Oktober eines Jahres bis zum 30. September des Folgejahres – heran. Dabei weist er auf die grundsätzliche Problematik hin, dass die jetzt vorzunehmende Differenzbetrachtung ex post zu erfolgen habe, während der Energieversorger, mithin auch die Klägerin, darauf angewiesen sei, eine Beurteilung ex ante vorzunehmen, wie sich die Verbräuche und damit einhergehend der Bezugsbedarf innerhalb eines Gaswirtschaftsjahres oder Quartals entwickeln könnte. Vor diesem Hintergrund könne, je länger auch der zu betrachtende Zeitraum sei, eine nur grobe Prognose und eine dementsprechende wirtschaftliche Disposition getroffen werden, zumal die jeweils tatsächlichen Verbräuche der Endkunden nur einmal jährlich durch die Jahresablesung bekannt würden. Insoweit aber würde ein noch kürzerer Zeitabschnitt als das Gaswirtschaftsjahr zu anderweitigen Mehrkosten im organisatorischen Bereich führen, die eventuelle Prognoseungenauigkeiten und damit verbundene Preisansätze überstiegen.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Bei der Differenzberechnung sei ferner zu berücksichtigen, dass nur eine teilweise Deckungsgleichheit zwischen Bezugskosten und Absatztarifen bestehe. Die Bezugsverträge seien, wie dargestellt, in einen Leistungs- und einen Arbeitspreis unterteilt, die Absatzverträge in einen Grund- und einen Arbeitspreis. Während die Arbeitspreise grundsätzlich unmittelbar vergleichbar seien, bilde der Leistungspreis wie erörtert eine einmalige Jahresspitze ab, während der Energieversorger, mithin auch die Klägerin, gezwungen sei, über den Grundpreis ein – zudem ex ante zu prognostizierendes – rechnerisches Mittel zu bilden und die Jahresspitze entsprechend auf das gesamte Jahr zu verteilen. Aufgrund der bestehenden tatsächlichen Unsicherheit, wann und in welcher Höhe es im jeweiligen Gaswirtschaftsjahr zur Messung einer Leistungsspitze komme, umgekehrt der Grundpreis aber auch im Hinblick auf sämtliche weiteren unternehmerischen Kosten der Klägerin im Vorhinein für den Gesamtwirtschaftszeitraum festgelegt werden müsse, könne es diesbezüglich zu erheblichen Schätzungenauigkeiten kommen. Diese seien hinzunehmen und der Versuch einer rechnerischen Kompensation sei rein zufällig.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Das mit dem nationalen Energiewirtschaftsrecht verfolgte, in § 1 EnWG 2005 und ebenso in den Vorläuferregelungen verankerte Ziel einer möglichst sicheren und preisgünstigen Energieversorgung ist nicht nur auf die möglichst billige Energieversorgung der Endkunden ausgerichtet. Zu berücksichtigen sind zugleich die insbesondere durch die Kostenstruktur geprägte individuelle Leistungsfähigkeit der Versorgungsunternehmen sowie die Notwendigkeit, die Investitionskraft und die Investitionsbereitschaft zu erhalten und angemessene Erträge zu erwirtschaften. Insofern wurde im Recht der Energielieferung stets vorausgesetzt, dass die Möglichkeit des Versorgers besteht, Änderungen der Bezugspreise weiterzugeben, ohne den mit dem Kunden bestehenden Versorgungsvertrag kündigen zu müssen. Dass das Energieversorgungsunternehmen die Möglichkeit hat, Kostensteigerungen weiterzugeben, dient daneben auch dem Zweck der Versorgungssicherheit. Denn diese betrifft nicht nur die technische Sicherheit der Energieversorgung und die Sicherstellung einer für die Versorgung der Abnehmer stets ausreichenden Energiemenge. Sie hat vielmehr insoweit auch einen ökonomischen Aspekt, als die nötigen Finanzmittel für die Unterhaltung von Reservekapazitäten, für Wartungsarbeiten, Reparaturen, Erneuerungs- und Ersatzinvestitionen bereit stehen müssen. Das wiederum setzt voraus, dass diese Mittel durch auskömmliche Versorgungsentgelte erwirtschaftet werden können. Anderenfalls entstünde dadurch bei langfristigen Versorgungsverträgen angesichts der Entwicklung der Energiepreise regelmäßig ein gravierendes Ungleichgewicht von Leistung und Gegenleistung. Dies wäre unbillig und würde dem Kunden einen unverhofften und ungerechtfertigten Gewinn verschaffen. Dies entspräche auch nicht dem objektiv zu ermittelnden hypothetischen Parteiwillen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Zu differenzieren ist insoweit allenfalls noch zwischen der seitens der Kammer vorgenommenen Gesamtbetrachtung über den hier streitgegenständlichen Zeitraum von September 2004 bis Dezember 2008 und der von dem Sachverständigen nach wirtschaftsmathematischen Gesichtspunkten ergänzend vorgenommenen sog. Kumulation der Ertragsberechnung. Diese dient üblicherweise zur betriebswirtschaftlich notwendigen Bereinigung sog. „Ausreißer“ im Rahmen einer periodischen Gewinnbetrachtung, um die unternehmerischen Reaktions- und Prognosemöglichkeiten zu erleichtern. Dieser Umstand spielt aber im hiesigen Zusammenhang keine Rolle (mehr). Die Kammer hat zur Aufgabe, die Angemessenheit der tatsächlich vorgenommenen Preisanpassungen zu prüfen, wozu sie im Rahmen der Gesamtbetrachtung gerade den Rückgriff auf die monatsgenau berechneten Ertragsdifferenzen zu nehmen hat. Diese Angemessenheitsbetrachtung erfolgt, wenngleich sie die damalige prognostische Sichtweise des Unternehmens in gebotenem Umfang zu berücksichtigen hat, retrospektiv. Eine Bereinigung im Sinne der Kumulation ist hierzu gerade nicht geboten, sondern verbietet sich vielmehr. Die Prüfung einzelner Preisanpassungen kann jedenfalls nicht die spätere, ausgehend vom Vortrag der Klägerin und den weitergehenden Ausführungen des Sachverständigen ggf. auf Jahre hinaus zu prognostizierende Marktentwicklung zum Gegenstand haben, sondern muss eine, wenn auch zufällig – wie hier durch den Klagegegenstand – gesetzte zeitliche Grenze finden. Diese liegt in dem vorgegebenen Gesamtbetrachtungszeitraum, innerhalb dessen wiederum eine hinreichend präzise Beurteilung der Preisentwicklung, ggf. bezogen auf die Referenzgröße der Gaswirtschaftsjahre, möglich bleibt.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">(dd)</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme hatte die Klägerin auch keine adäquate Möglichkeit, die vorbezeichneten Steigerungen der Bezugskosten zu verhindern und/oder zu reduzieren. Der Sachverständige stellt hierzu nach dem Dafürhalten der Kammer eindeutig fest, dass die Klägerin sich hier – soweit überhaupt noch rekonstruierbar – jedenfalls im Rahmen des ihr zuzubilligenden unternehmerischen Ermessensspielraums bewegt und keine willkürlichen oder betriebswirtschaftlich nicht tragbaren Entscheidungen getroffen habe, sondern lediglich solche, die bloß prognostischen Charakter gehabt hätten und ggf. kurzfristig sogar negative, mittel- bis langfristig aber positive Synergieeffekte hervorgerufen haben könnten. Die Klägerin habe sich aktiv um eine Senkung ihrer Bezugskosten bemüht und dabei insbesondere nicht etwa wirtschaftlich nachteilige Bezugskonditionen ungefragt akzeptiert. Offensichtliche Potenziale seien ausgeschöpft worden. Insbesondere auch mit der zunehmenden Liberalisierung des Marktes habe die Klägerin, die sich deshalb ihrerseits weitgehend unbekannten unternehmerischen Risiken ausgesetzt gesehen habe, entsprechend nachvollziehbare betriebswirtschaftliche Entscheidungen getroffen.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">(3)</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Der festgestellten Bezugskostensteigerung der Klägerin stehen auch keine Kompensationspotentiale in anderen Bereichen der Unternehmenssparte Gas gegenüber. Insbesondere sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die sonstigen Kosten der Klägerin im Betrachtungszeitraum nicht signifikant gesunken.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Eine auf eine Bezugskostensteigerung gestützte Preiserhöhung kann unbillig sein, wenn und soweit der Anstieg durch rückläufige Kosten in anderen Bereichen ausgeglichen wird. Von dem infolge ergänzender Vertragsauslegung bestehenden Preisänderungsrecht nicht erfasst sind nämlich Preiserhöhungen, die über die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen hinausgehen und der Erzielung eines (zusätzlichen) Gewinns dienen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Dabei sind die Vertriebskosten der Klägerin ohne Bezugskosten zu beurteilen, soweit sie die Gassparte betreffen. Es kann insoweit nicht darauf ankommen, ob die Klägerin die Steigerung der Gasbezugskosten durch zurückgehende Kosten in anderen Unternehmensbereichen hätte auffangen können. Sie ist nicht zur Quersubventionierung der Gassparte verpflichtet. Die Frage, wie ein Unternehmen seine in dem einen Geschäftsbereich erzielten Gewinne verwendet, ist eine Entscheidung, die im Ermessen des Unternehmers liegt und der für die Billigkeit einer Preiserhöhung in einem anderen Geschäftsbereich keine Bedeutung zukommt. Der Abnehmer von Gas hat insbesondere keinen Anspruch darauf, dass ein regionaler Versorger wie die Klägerin Kostensenkungen etwa bei der Strom- oder Fernwärmeversorgung gerade zur Entlastung der Gaskunden verwendet, was auch zur Folge hätte, dass dieses Potential zugunsten der Kunden der betroffenen Unternehmenssparten nicht mehr zur Verfügung stünde (vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07 m. w. N.). Schließlich kann eine Preiserhöhung allein darin ihre Berechtigung finden, dem Unternehmer eine Verminderung des Ertrages aus dem Vorjahr zu ersparen (vgl. – allerdings zu den Voraussetzungen des § 315 BGB – BGH, a. a. O.; OLG Koblenz, Urt. v. 12.04.2010, Az. 12 U 18/08).</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige hat zunächst festgestellt, dass seitens der Klägerin tatsächlich keine außerhalb der Bezugskosten liegenden Positionen in die Tarifpreisgestaltung eingeflossen seien. Dies ist jedoch unschädlich, wenn und soweit auch eine fiktive Einbeziehung der sonstigen Kostenentwicklung der Klägerin zu keinem oder einem nur marginalen und insoweit im Rahmen des unternehmerischen Ermessens hinzunehmenden Kompensationspotential geführt hätte.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">So liegen die Dinge hier.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">(aa)</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Dabei kommt es nach dem Dafürhalten der Kammer im Ergebnis nicht auf eine von dem Sachverständigen rechnerisch ausdifferenzierte Betrachtung der sog. Netzentgelte an.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Insoweit lasse sich nämlich überhaupt erst ab dem Jahr 2007 eine klare Abgrenzung der Netznutzungs- von den Bezugskosten vornehmen. Zuvor seien die Netzentgelte ausdrücklich bei den Bezugskosten einzuordnen gewesen, sodass sich in der Konsequenz für die Kammer keine Divergenzen zu den vorstehenden Feststellungen der Bezugskostenentwicklung der Klägerin ergeben können. Ohnehin hat aber der Sachverständige auch festgestellt, dass sich jedenfalls die Netzentgeltabsenkung des Jahres 2006 bezogen auf die Vertriebssparte Gas der Klägerin nicht ausgewirkt habe.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Einzig in Bezug auf die Netzentgeltabsenkung vom 18.06.2008 sei zweifelsfrei eine Senkung der mit dem Erdgasvertrieb eng assoziierten sonstigen Kosten, die bei der Tarifpreisbildung zu berücksichtigen seien, festzustellen. Diese sei möglicherweise – jener Zeitpunkt sei von dem Gutachtenauftrag nicht mehr umfasst gewesen – anlässlich einer Preisanpassung zum 01.12.2008 hinreichend kompensiert worden.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls aber gelangt die Kammer in eigener Würdigung der Umstände dazu, dass die Klägerin für die streitgegenständliche Preisanpassung vom 01.08.2008 noch nicht auf die entsprechende Absenkung hat reagieren können. Eine Berücksichtigung innerhalb des für die jeweiligen Preisanpassungsverfahren erforderlichen und auch verbindlichen Zeitraums war ihr nach dem insoweit auch nicht bestrittenen Vortrag nicht mehr möglich. Zu dem der Klägerin im Hinblick auf die Zeitpunkte von Preisanpassungen auch allgemein zuzugestehenden unternehmerischen Ermessen hat die Kammer bereits Ausführungen gemacht. Ein diesbezüglicher Ermessensfehler ist – gerade, weil die auf den 01.08.2008 folgende Preisanpassung bereits zum 01.12.2008 angesetzt worden war – auch nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">(bb)</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Auch die Entwicklung der sonstigen Kosten der Gassparte der Klägerin, wie sie die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Würdigung des hierzu erbrachten Parteivorbringens festzustellen vermochte, gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Betrachtung.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">(α)</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Zwar arbeitet der Sachverständige im Hinblick auf die sonstige Kostenentwicklung der Gassparte heraus, dass die sonstigen Kosten der Klägerin nach diesem Maßstab in den Jahren 2004/2005 sowie 2007/2008 in einem erheblichen Umfang (8,64 Mio. EUR bzw. 15,2 Mio. EUR) gesunken seien, was die Klägerin in den Vergleichszeiträumen bei der Tarifanpassung aber nicht berücksichtigt habe, da die Tarifanpassungen jeweils ausschließlich auf Basis der Bezugskosten durchgeführt worden seien.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Dem steht nicht entgegen, dass sich die sonstigen Spartenkosten in den Jahren 2005/2006 und 2006/2007 signifikant (um 10,6 Mio. EUR bzw. 18,2 Mio. EUR) erhöht haben, da auch unabhängig von der Frage, inwieweit es sich hierbei um Einmaleffekte gehandelt hat, Kostensteigerungen nicht im Rahmen von Tarifanpassungen zu berücksichtigen gewesen wären. Der Sachverständige zeigt aber ebenfalls ausdrücklich eine Problematik auf, die eine sinnvolle Berechnung derartiger Kostenvorteile eben aufgrund der zwangsläufig nur zu betrachtenden kurzen Zeiträume nahezu obsolet mache. Denn aufgrund der massiven Schwankungen müsse eine auch nur marginale Verschiebung des Betrachtungszeitraums teilweise zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen und damit auch einer völlig konträren Beantwortung der Beweisfrage führen. Die Anknüpfungstatsachen und die zur Verfügung stehenden Rechenmodelle erlaubten eine Saldierung der Betrachtung über den Gesamtzeitraum faktisch nicht. Die angesichts der entsprechenden Kostenentwicklungen möglichen und gebotenen unternehmerischen Entscheidungen der Klägerin seien deutlich langfristiger angelegt als der hier zu betrachtende Zeitraum und teilweise nur von prognostischer Natur.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Insgesamt müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass die Klägerin jedenfalls im Gaswirtschaftsjahr 2008 Kompensationspotential durch sonstige Kostensenkungen nicht genutzt, d.h. diese in den Tarifanpassungen nicht weitergegeben habe.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">(β)</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Dem begegnet die Klägerin mit – prozessual zulässigem – umfangreichem ergänzendem Vortrag zur Berechnung und Einbeziehung der sonstigen Kostenentwicklung der Vertriebssparte Gas mit ihrem in Bezug genommenen Schriftsatz vom 17.03.2021.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin rügt zunächst die unzureichende Analyse ihrer sonstigen Kostensteigerungen im Verhältnis zur Bezugskostenentwicklung durch den Sachverständigen. Dieser hätte, so meint sie, insbesondere die Jahres- bzw. Tätigkeitsabschlüsse der Klägerin nicht als ungeeignet zurückweisen dürfen. Insbesondere habe sich der Sachverständige darauf beschränkt, etwaige Steigerungen der sonstigen Kosten der Klägerin als unerheblich zu werten. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass sich aber aus der entsprechenden Analyse jedenfalls ergebe, dass auch in Anbetracht der Vornahme gewisser Rationalisierungsmaßnahmen keine Kostensenkungen, sondern durchgehend Kostensteigerungen und mithin jedenfalls kein berücksichtigungsfähiges Potential vorgelegen habe, insbesondere im Hinblick auf Personalkosten.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin führt anschließend eine eigene Berechnung der berücksichtigungsfähigen sonstigen Kosten auf. Hierbei verwendet sie als Ausgangsbasis die jährlichen Gewinn- und Verlustrechnungen des Gesamtunternehmens, bereinigt diese schrittweise um zunächst die Stromsparte und löst sodann die (nicht gesondert unterteilte) Gassparte aus den „Sonstigen Aktivitäten“ heraus. Im Ergebnis stehe eine kontinuierliche Steigerung dieser Kosten um kumuliert ca. 5 Mio. Euro und damit jedenfalls nicht ein von dem Sachverständigen noch für zumindest möglich gehaltenes Preiskorrektiv.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Insoweit sei für den Betrachtungszeitraum kein Ertrag von 2,7 Mio. Euro, sondern ein Verlust von 0,8 Mio. Euro zu errechnen, was die Klägerin unter Zuhilfenahme verschiedener Tabellen demonstriert.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">(γ)</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die Kammer schließt sich dieser Einschätzung im Ergebnis nach einer umfassenden Würdigung des weiteren Vortrags und nach einer Einbeziehung dieser Informationen in die mündliche Erörterung mit dem Sachverständigen C in eigener Überzeugungsbildung an. In Anwendung des ihr insoweit zustehenden umfassenden Ermessensspielraums im Sinne des § 287 Abs. 2 ZPO vermochte die Kammer ihre Überzeugung auf den plausiblen, fundierten und weder seitens des Sachverständigen noch seitens der Beklagten in einer solchen Weise, dass eine Nachvollziehbarkeit insbesondere der Berechnungen bzw. der jeweils korrekten Bestimmung der Prognoseinstrumente entfiele, in Zweifel gezogenen Vortrag der Klägerin – der im Übrigen auch nicht aus prozessualen Gesichtspunkten verspätet sein kann – zu stützen.</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Dabei wendet die Kammer, wie auch der Sachverständige und die Klägerin selbst, denselben Berechnungsmaßstab an wie im Hinblick auf die Gesamtbetrachtung der Bezugskostenentwicklung. Insoweit rekurriert die Kammer in Summe auf die Entwicklung im Gesamtbetrachtungszeitraum der hier streitgegenständlichen Preisanpassungen, mithin von Oktober 2004 bis Dezember 2008. Nichts anderes gilt, soweit die Klägerin in den von ihr vorgetragenen Zahlenwerken wiederholt von kumulierten Beträgen spricht, wie die Kammer bereits vorstehend ausgeführt hat. Die betriebswirtschaftliche Kumulation kann hier jedenfalls nicht weitergehen als die Saldierung über den Gesamtbetrachtungszeitraum es erlaubt bzw. gebietet. Die Berechnungen der Klägerin sind aber in dieser Weise nachvollziehbar und ermöglichen eine entsprechend abgegrenzte Betrachtung. Die Kammer verkennt insoweit insbesondere auch nicht, dass, wie auch der Sachverständige ausdrücklich herausgestellt hat und was die Klägerin in ihrem eigenen Vortrag insoweit bestätigt, in den Gaswirtschaftsjahren 2004/2005 bzw. 2007/2008 durchaus relevante Senkungen im Bereich der sonstigen Kosten aufgetreten sind, von denen lediglich infolge der Bereinigung im Rahmen der Gesamtbetrachtung über den streitgegenständlichen Zeitraum im Ergebnis kein Kompensationspotenzial mehr ausgeht, wohingegen im Hinblick auf einzelne, punktuelle Preisanpassungen insbesondere vom damaligen Standpunkt aus betrachtet durchaus ein rechnerisches Kompensationspotenzial gegeben gewesen wäre.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Die Kammer ist jedoch nach eingehender Würdigung des Klägervortrags und nach den Ausführungen des Sachverständigen C davon überzeugt, dass dieses Kompensationspotenzial nicht geeignet war, um die Maßgabe des Bundesgerichtshofs, Bezugskostensteigerungen aufzufangen, zu erfüllen, die Klägerin es mithin nicht an ihre Kunden hätte weitergeben müssen bzw. ihre unter Außerachtlassung dieses Umstands erfolgte Preisanpassung nicht deshalb unwirksam ist.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige hat – unter Berücksichtigung dieses ergänzenden Vortrages – im Rahmen seiner mündlichen Anhörung zum Gutachten grundsätzlich bestätigt, dass im Gesamtbetrachtungszeitraum eine Verminderung der Marge der Klägerin eingetreten sei. Dies gelte insbesondere unter Berücksichtigung der in den weiteren Gaswirtschaftsjahren zu verzeichnenden Steigerungen der sonstigen Kosten, die per se zwar nicht bei der Preisanpassung berücksichtigt werden dürften, jedoch das Kompensationspotenzial weiter schmälerten. Eine höhere Überdeckung des Ertrags der Klägerin sei auch nur dann rechnerisch zu stützen, wenn die Netzentgeltunsicherheit berücksichtigt würde und zwar bezogen auf den Gesamtbetrachtungszeitraum. Hiervon geht die Kammer jedoch, wie vorstehend dargestellt, gerade nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Die Kammer sieht außerdem keinen Widerspruch zwischen den von dem Sachverständigen nicht bzw. nur summarisch berücksichtigten Jahres- und Tätigkeitsabschlüssen der Klägerin und den weiteren Ausführungen des Sachverständigen dazu, ob und inwieweit die Entstehung sonstiger Kosten der Gassparte unabhängig von dieser Buchhaltung ermittelbar sei. Der Sachverständige hat in Bezug auf die Ermittlung der Kostenentwicklung grundsätzlich ausgeführt, dass die Einordnung entsprechender Kostenpositionen und die Herleitung der Einflussgrößen für diese Kosten nur schwer nachzuvollziehen seien. Einfluss auf die Kostensenkungen könne es daher beispielsweise auch haben, wenn Lieferanten der Klägerin nachträglich Rabatte oder Prämien gewährten, was – aus Sicht der Klägerin – wiederum, entsprechend der Bezugskostengestaltung, zu rein zufälligen bilanziellen Veränderungen führe, die weder vorhersehbar seien noch im Hinblick auf die weitere Unternehmensentwicklung zur Grundlage einer Prognose gemacht werden könnten. Die diesbezüglich entstehenden rechnerischen Unschärfen seien hinzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Schließlich hat der Sachverständige im Rahmen seiner Analyse der damaligen Marktsituation festgestellt, dass insbesondere auch die Klägerin selbst einem erheblichen Umbruch der Bedingungen des Erdgasmarktes bzw. des Einkaufs von Erdgas und damit der Bezugskostenentwicklung ausgesetzt gewesen sei, was ihr unternehmerische Prognosen und zuverlässige langfristige Planungen erschwert habe, da sie die bisherigen Analysemodelle und Entwicklungsmodelle und Analysewerkzeuge nicht uneingeschränkt weiter habe anwenden können.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Es ist daher nach Auffassung der Kammer, wie die Klägerin selbst auch ausdrücklich vorträgt, nur konsequent, dass diverse Positionen ihrer Jahres- und Tätigkeitsabschlüsse einen erratischen Verlauf aufweisen, wie der Sachverständige feststellt. Insoweit folgte die Klägerin bzw. ihre Spartenentwicklung den Vorgaben des Marktes, was aber (auch) aus rechtlicher Sicht, wie seitens der Kammer bereits hinsichtlich der Festlegung des Betrachtungszeitraums ausgeführt, letztlich hinzunehmen ist. Die Kammer verkennt in diesem Zusammenhang auch nicht, dass gewisse unternehmerische Entscheidungen der Klägerin wie beispielsweise Unternehmenszusammenschlüsse oder Restrukturierungen zumindest langfristig das Ziel einer Senkung der betriebswirtschaftlichen Kosten verfolgt haben, dieses aber ggf. erst nach Ende des Betrachtungszeitraums eingetreten ist. So verhält es sich zur Überzeugung der Kammer etwa bei den von der Klägerin nachvollziehbar dargelegten Personalkosten und den hinsichtlich der Personalstruktur erforderlichen, das Volumen der Spartenkosten insgesamt erhöhenden Einmalaufwendungen, die erst im Rahmen der prognostischen Entwicklung der Folgejahre eine Abschreibung erfahren sollten.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">So bestätigt sich insbesondere auch zur Überzeugung der Kammer das durch den Vortrag der Klägerin gelieferte Bild der Kostenentwicklung, bei der sich bezogen auf die einzelnen Geschäfts- bzw. Gaswirtschaftsjahre zwar Veränderungen auch in deutlich negative Richtung, mithin Kostensenkungen, abzeichnen, diese jedoch im Rahmen der Ausdifferenzierung der jeweils zu den sonstigen Kosten zu zählenden einzelnen Bereiche bzw. Positionen dahingehend aufgezehrt werden, dass eine Gesamtveränderung etwa bei den Personalkosten oder bei sonstigen betrieblichen Aufwendungen jeweils deutliche Kostensteigerungen verzeichnet. Die Zusammenfassung dieser positionsbezogenen Kostenentwicklung führt letztlich nachvollziehbar zu dem von der Klägerin vorgetragenen Ergebnis einer Kostengesamtentwicklung in Gestalt einer Steigerung um rund 5 Mio. Euro über den Gesamtbetrachtungszeitraum. Unter Berücksichtigung des unternehmerischen Ermessens der Klägerin und der nur begrenzt möglichen Prognose hinsichtlich der Kostenentwicklung, die andererseits durch – per se zulässige – unternehmerische Einzelfallentscheidungen dahin intendiert worden ist, dass die entsprechenden Kostenpositionen ggf. auf Jahre im Voraus festgeschrieben werden mussten – so etwa, wie dargestellt, bei den Personalkosten –, erkennt die Kammer auch hinsichtlich der sonstigen Kosten der Klägerin analog zur Bezugskostenentwicklung bzw. insbesondere zu der Frage eines möglichen Gestaltungsspielraums der Klägerin hinsichtlich einer Einflussnahme auf eben diese Entwicklung einerseits kein hinreichendes Kompensationspotenzial, andererseits keine offensichtliche unternehmerische Willkür oder eine in dem von dem Sachverständigen C eingangs aufgezeigten Rahmen unvernünftige betriebswirtschaftliche Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">cc)</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von den vorstehenden Feststellungen und Erwägungen ist die Klageforderung von <strong>678,90 €</strong> in vollem Umfang begründet.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin schlüsselt die Klageforderung insoweit auf, als sich aus der Jahresrechnung 2005 vom 10.07.2006 ein Guthaben von 9,52 € ergebe, ferner ein Teilbetrag von 378,82 € aus der Jahresrechnung 2006 vom 12.01.2007 und ein weiterer Teilbetrag von 309,60 € aus der Jahresrechnung 2007 vom 12.02.2008.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Nachdem das Guthaben aus verjährter Zeit seitens der Klägerin verrechnet wurde, verbleibt es bei der durchsetzbaren Gesamtforderung von 688,42 €. Hiervon sind aber antragsgemäß nur 678,90 € zuzusprechen, § 308 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">In dieser Hinsicht ergeben sich auch aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 26.03.2021, mit welchem diese unter Anwendung der hier von der Kammer bevorzugten Gesamtbetrachtung ab September 2004 eine Neuberechnung vornimmt, keine abweichenden Gesichtspunkte. Insbesondere führen die darin genannten Abweichungen in bis zu zweistelliger Höhe, soweit sie mögliche Ermäßigungen der Klageforderung beziffern, aufgrund der Kumulation nicht zu einem etwa zugestandenen weiteren Abschlag. Eventuelle Nachzahlungsbeträge aus etwa isoliert zu betrachtender unverjährter Zeit wirken sich wegen § 308 ZPO ebenfalls nicht mehr auf die Klageforderung aus, zumal eine anteilige Umlage auf die mit der Klage lediglich geltend gemachten jährlichen Differenzbeträge nicht vorgenommen wird, sondern die Klägerin ausdrücklich die jeweiligen Gesamtrechnungsbeträge in Bezug nimmt.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">d)</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Der mit der Klage geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB seit dem 09.07.2010.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Dabei kann sich die Klägerin nicht auf die Rückwirkungsfiktion des § 696 Abs. 3 ZPO berufen. Es fehlt an einer alsbaldigen Abgabe. Denn ausweislich des Verfahrensgangs ist der Widerspruch des Beklagten gegen den Mahnbescheid vom 16.12.2009 am 23.12.2009 bei Gericht eingegangen. Die Abgabe des Verfahrens an das zuständige Prozessgericht erfolgte jedoch erst am 06.07.2010 und zwar allein deshalb, weil eine Vorschusszahlung der Klägerin unterblieb, auf deren Notwendigkeit sie vorher hingewiesen worden war. Vor diesem Hintergrund ist für den Beginn der Rechtshängigkeit auf den Tag des Akteneingangs bei dem Streitgericht abzustellen (vgl. Musielak/Voit, ZPO, § 696 Rn. 4 m. w. N.). Dies war der 08.07.2010.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">3.</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Die Revision war nicht zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Ein Zulassungsgrund im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO ist nicht eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Zwar mag beim vorliegenden Verfahrensgegenstand noch von einer Rechtsfrage mit grundsätzlicher Bedeutung auszugehen sein, da es sich – jedenfalls im Verhältnis des hier betrachteten Verfahrens zum entsprechenden Gesamtbestand – um einen Musterprozess im Hinblick auf allgemeine, eine Vielzahl von Kunden betreffende vertragliche Regelung handelt. Diese Rechtsfrage ist indes nicht mehr klärungsbedürftig.</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 23.10.2014 (Az. C-359/11 bzw. C-400/11) hat der Europäische Gerichtshof eine vorangegangene Vorlagefrage des BGH dahingehend beantwortet, dass die bis dahin gültigen und zur Bezugspreisregulierung herangezogenen § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV mit europäischem Gemeinschaftsrecht unvereinbar seien.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 158/11) hat der Bundesgerichtshof infolgedessen eine Grundsatzentscheidung zur Frage des gesetzlichen Preisänderungsrechts eines Gasversorgungsanbieters im Verhältnis zu Tarifkunden getroffen und insbesondere die bis dahin geltenden § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV als mit europäischem Gemeinschaftsrecht unvereinbar und vor diesem Hintergrund unanwendbar erklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die vorgenannte Norm Grundlage eines vertraglich vereinbarten Preisänderungsrechts des Anbieters – auch der hiesigen Klägerin –, wodurch eine nachträgliche Regelungslücke in den – regelmäßig im Wege der AGB – gestalteten Verträgen auftrat. Im Zuge seines Urteils hat der BGH diese Lücke durch die Anwendung (nationalen) materiellen Rechts geschlossen und dabei insbesondere dem Gasversorger das Recht zugesprochen, eine Preisanpassung im Wege ergänzender Vertragsauslegung, §§ 157, 133 BGB, insoweit vornehmen zu können, als Kostensteigerungen der eigenen Bezugskosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, den Tarifkunden weiterzugeben und in gleichem Maße Kostensenkungen zu berücksichtigen seien, wodurch der insoweit erhöhte Preis zum vereinbarten Preis werde. Eine Anwendbarkeit des § 315 BGB hat der BGH verneint. Den Instanzgerichten hat der BGH insoweit aufgegeben, die Frage, inwieweit Bezugskostensteigerungen vorgelegen haben und im Wege der Preisänderungen tatsächlich umgesetzt und berücksichtigt worden sind, durch eine Beweisaufnahme und Überzeugungsbildung im Sinne der §§ 286, 287 ZPO zu beantworten. Die Kammer ist dem, wie zuvor bereits das Landgericht Bielefeld mit Urteilen v. 17.07.2018, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11, mit den vorstehenden Erwägungen nachgekommen.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 17.11.2017 (Az. 2 BvR 1131/16) hat das Bundesverfassungsgericht eine gegen das vorgenannte Urteil des BGH gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war die Rüge, dass der BGH in dem vorgenannten Urteil selbstständig Unionsrecht zur Anwendung gebracht habe, ohne zuvor seine Vorlagepflicht an den europäischen Gerichtshof zu erfüllen. Die Nichtannahme erfolgte aus verfahrensrechtlichen Gründen, jedoch hat das BVerfG hinsichtlich des vorgenannten Urteils festgestellt, dass eine Verletzung der Vorlagepflicht des BGH aufgrund einer zulässigen Handhabung der entsprechenden unionsrechtlichen Normen nicht angenommen werden könne. Auch hat das BVerfG im Ergebnis bestätigt, dass eine durch die Unanwendbarkeit einer nationalen Vorschrift vor dem Hintergrund von Unionsrecht entstehende Regelungslücke ausschließlich durch Anwendung nationalen Rechts geschlossen werden könne.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Insbesondere mit Urteilen vom 06.04.2016 (Az. VIII ZR 71/10) sowie vom 19.12.2018 (Az. VIII ZR 336/18) hat der BGH seine Rechtsprechung zur materiellrechtlichen Vertragsauslegung sowie der Entbehrlichkeit einer Vorlage an den EuGH erneut bestätigt.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb eine erneute höchstrichterliche Entscheidung über dieselbe Rechtsfrage herbeigeführt werden müsste. Vor diesem Hintergrund ist auch eine Rechtsfortbildung nicht mehr erforderlich, nachdem der BGH eben diese durch die Anwendung der §§ 433, 133, 157 BGB betrieben hat. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung steht ebenfalls nicht zur Disposition, nachdem der BGH seine entsprechende Linie mit weiterem Urteil vom 19.12.2018 bestätigt hat.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 678,90 EUR festgesetzt.</p>
346,789
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1 S 161/13
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:29"
"2022-10-17T11:10:44"
Urteil
ECLI:DE:LGPB:2022:0831.1S161.13.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Berufung der Klägerin wird das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Delbrück vom 15.11.2013, Az. 2 C 240/10, abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p> <p>Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.338,44 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.07.2010 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p> <p>Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz hat der Beklagte zu tragen.</p> <p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Von den gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu treffenden Feststellungen zur Tatsachengrundlage wird gemäß den §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Die Klage ist insgesamt zulässig und in Höhe von 1.338,44 € begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig. Die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts Delbrück konnte bereits deshalb keinen Bestand haben.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet der umfassenden Einwendungen des Beklagten ist – nicht zuletzt aufgrund zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung – eine (ausschließliche) Zuständigkeit des Landgerichts (Dortmund) für die Beurteilung der vorliegenden Rechtsfragen nicht anzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">So hat das Landgericht Dortmund selbst im unmittelbaren Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahrenskomplex seine Zuständigkeit gemäß § 102 EnWG nicht gesehen und durch Beschluss vom 24.10.2011 (Az. 10 O 105/10 [Kart.]) eine Parallelsache an das Amtsgericht zurückverwiesen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 102 Abs.1 Satz 1 EnWG sind für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus diesem Gesetz ergeben, ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes die Landgerichte ausschließlich zuständig. Dies gilt gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG auch dann, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung abhängt, die nach diesem Gesetz zu treffen ist.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit der Klage macht die Klägerin Versorgungsentgelte geltend, da sie die zugrunde liegenden Preiserhöhungen für wirksam hält; zwischen den Parteien ist streitig, ob die Klägerin auf der Grundlage der zwischen ihnen bestehenden Gaslieferungsverträge einseitig Preiserhöhungen durchsetzen kann bzw. ob einseitig erklärte Preiserhöhungen der Billigkeit entsprechen. Derartige Zahlungsansprüche werden von der Zuständigkeitsregelung des § 102 EnWG jedoch nicht erfasst, da hier nicht der Anspruch auf Grundversorgung oder eine sich aus dem EnWG ergebende Rechtsbeziehung Streitgegenstand ist (vgl. nur OLG Hamm, Beschl. v. 23.07.2012, Az. 32 SA 32/12 m. zahlr. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt auch nicht ganz oder teilweise von einer energiewirtschaftsrechtlichen Vorfrage ab (§ 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG). Die Rechtsfrage, ob die Preiserhöhungen der Klägerin der Billigkeit gemäß § 315 BGB entsprechen, ist nicht mit den Regelungen des EnWG zu beantworten. Das EnWG gibt dem Haushaltskunden lediglich einen Anspruch auf Grundversorgung (§ 36 Abs. 1 EnWG) und regelt damit nur das „Ob“ der Versorgung, nicht dagegen die Einzelheiten der Ausgestaltung des Individualvertrages über die Energielieferungen und die Höhe der Bezugspreise. Daher hängt die Entscheidung über die Billigkeit einer Preiserhöhung auch von keiner nach diesem Gesetz zu treffenden Entscheidung im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG ab.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Folgerichtig hat auch der BGH in seiner Grundsatzentscheidung vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 158/11) als Anspruchsgrundlage für die Energielieferung § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 133, 157 BGB angenommen, ohne eine vermeintliche Zuständigkeitsproblematik im Zusammenhang mit dem EnWG überhaupt zu thematisieren.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die zunächst mit Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 23.02.2011 vorgebrachten Einwände verfangen jedenfalls angesichts der späteren, einhellig formulierten obergerichtlichen Rechtsprechung nicht mehr. Die zweitinstanzlichen Schriftsätze wiederum enthalten keinen ausreichend differenzierten Angriff mehr in Bezug auf die mögliche Zuständigkeit nach § 102 EnWG.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat in seiner angefochtenen Entscheidung eine Sonderzuständigkeit des Landgerichts (Dortmund) – Kammer für Handelssachen als Kartellgericht – wegen missbräuchlicher Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch die Klägerin, § 87 Abs. 2 GWB, angenommen. Dies begründe sich in der bloßen Notwendigkeit der kartellrechtlichen Überprüfung der entsprechenden Rüge des Beklagten, dass die Klägerin aus sachfremden Erwägungen einseitig ihre Verpflichtung zur preiswerten Energieversorgung missachte und die Preisgestaltung nicht nachvollziehbar sei, unabhängig vom Ergebnis.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">§ 87 Abs. 1 Satz 1 GWB begründet eine derartige Zuständigkeit für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus dem GWB oder aus Kartellvereinbarungen und aus Kartellbeschlüssen ergeben. § 87 Abs. 1 Satz 2 GWB knüpft eine ausschließliche Zuständigkeit der Kartellgerichte daran, ob die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung nach dem GWB abhängt. Das ist dahin zu verstehen, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von einer Vorfrage abhängt, die, wäre sie Hauptfrage, unter § 87 Abs. 1 Satz 1 GWB fiele (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 27). Die kartellrechtliche Vorfrage muss auf substantiiertem Tatsachenvortrag beruhen; bloße Rechtsausführungen über die angebliche Einschlägigkeit von GWB-Normen genügen nicht (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.07.2010, Az. 14 UH 12/10).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Es kommt jedoch entgegen der Auffassung des Beklagten – ungeachtet der Frage, ob der entsprechende Beklagtenvortrag hinreichend substantiiert ist – hier im Ergebnis nicht darauf an, da der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Anspruch der Klägerin – die Hauptfrage – sich unmittelbar aus dem mit den Beklagten geschlossenen Versorgungsvertrag ergibt und in seiner konkreten Ausprägung – sei es auch über mehrere aufeinanderfolgende Jahre – nicht über diesen hinausgeht. Vielmehr besteht Entscheidungsreife in der Hauptsache auch dann, wenn die (möglicherweise) kartellrechtliche Vorfrage letztlich nicht beantwortet wird (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 27).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Für die Beurteilung einer Berechtigung der Klägerin, eine einseitige Preisanpassung unter Berücksichtigung der Maßstäbe des § 315 BGB bzw. der hierzu inzwischen von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze – die ungeachtet des Anwendungszwanges des zur Zeit des Vertragsabschlusses geltenden Rechtszustandes (insbesondere § 19 GWB a. F.) gelten – vorzunehmen, bedarf es einer Beantwortung der Frage, ob die Klägerin bereits bei Vertragsabschluss ggf. kartellrechtswidrig gehandelt oder in der Zwischenzeit so agiert hat, nämlich gerade nicht. Denn diese Umstände können erforderlichenfalls im Rahmen der Abwägung gemäß § 315 BGB bzw. der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB nach den hierzu vom BGH entwickelten Maßstäben Berücksichtigung finden, sodass eine spezifisch kartellrechtliche Bewertung nicht angezeigt ist, was die Kammer in eigener Überzeugung feststellen kann (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 30). Insbesondere rechtfertigt zwar die naheliegende Möglichkeit, dass eine kartellrechtliche Vorfrage zu beantworten sein könnte, eine Verweisung an das Kartellgericht; dies gilt aber nicht, wenn – wie hier – erst eine umfangreiche Beweisaufnahme durchgeführt werden muss, um eventuelle Anknüpfungspunkte für die Qualifizierung einer solchen Vorfrage zu erlangen (vgl. Immenga/Mestmäcker/<em>Schmidt</em>, GWB, § 87 Rn. 27).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">2.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist im Umfang der Verurteilung auch begründet, im Übrigen unbegründet. Die Kammer ist zur diesbezüglichen Entscheidung gem. § 538 Abs. 1 ZPO berufen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht gegen den Beklagten ein Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. dem zwischen den Parteien bestehenden Energielieferungsvertrag für die Vertrags- bzw. Gaswirtschaftsjahre 2006 und 2007 in Höhe von noch 1.338,44 € zu, nachdem die für die vorgenannten Jahre vorgenommenen Preisanpassungen der Klägerin zum 01.01.2006, 01.10.2006, 01.03.2007, 01.01.2008 und 01.10.2008 gerechtfertigt und angemessen gewesen sind, hinsichtlich derjenigen zum 01.10.2004 und 01.08.2005 für die Vertrags- bzw. Gaswirtschaftsjahre 2004-2005 aber jedenfalls Verjährung eingetreten ist.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">In Ermangelung einer spezialgesetzlichen Anspruchsgrundlage ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auf die Zahlung der jeweiligen Entgelte grundsätzlich aus § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. dem zwischen den Parteien – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – bestehenden Energielieferungsvertrag.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte ist auch, da sich die Anwendbarkeit des § 433 Abs. 2 BGB nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf Verträge der – nach heutiger Terminologie – Grundversorgung beschränkt, sog. Tarifkunde der Klägerin. Gegenstand seines Energielieferungsvertrages ist der klägerseits angebotene Tarif „Grundversorgung erdgas.ideal“. Maßstab für die Einordnung eines Tarifs in die Grundversorgung ist die Wahrnehmung eines durchschnittlichen Kunden dahingehend, ob das Vertragsangebot mittels öffentlicher Bekanntmachung aufgrund einer Versorgungspflicht oder optional nach Marktlage erfolgt, wobei die Existenz mehrerer Grundversorgungstarife nebeneinander die Annahme eines solchen nicht hindert (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 13/12).</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Ein anerkanntes Indiz für das Vorliegen eines Sonderkundenvertrages ist zwar die verbrauchsunabhängige Abrechnungsform (vgl. BGH, Urt. v. 14.07.2010, Az. VIII ZR 246/08). Diese ist hier gerade nicht gegeben; sämtliche vorliegenden und streitgegenständlichen Jahresabrechnungen der Klägerin sind – unstreitig – an den Verbrauch geknüpft (so auch LG Bielefeld, Urt. v. 17.07.2018, Az. 20 S 94/11). Zudem begründet die – auch hier erfolgte – Vornahme öffentlicher Bekanntmachungen per se ein Indiz für die Eigenschaft als Grundversorgungstarif (vgl. LG Detmold, Beschl. v. 29.02.2012, Az. 10 S 205/11, Bl. 198 ff. d. A.).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat die Einordnung als Grundversorgungsvertrag bestritten und vertritt die Auffassung, es handele sich um einen Sonderkundenvertrag. Die dazu vorgetragene Argumentation, insbesondere der Hinweis auf den Bezug von „Erdgas für Bestandskunden“ findet jedoch in der ausdrücklich in Bezug genommenen Anl. K7 (Erdgasabrechnungen) zumindest insoweit keine Stütze, als dort in den Abrechnungen für die Jahre 2004 und 2005 zwar jeweils nur von „Erdgas“ die Rede ist. Ab der Jahresrechnung 2006 (Bl. 36) wird der Tarif jedoch durchgehend als „Grundversorgung erdgas.ideal“ bezeichnet. Die Vertragskontonummer für den Erdgasbezug entspricht mit … insoweit auch noch der im Vorjahr 2005 verwendeten Nummer. Lediglich in der Jahresrechnung 2004 lautet die Vertragsnummer noch … und die Vertragskontonummer hatte sich insoweit von … in … geändert. Unbeachtlich bleibt der Einwand des Beklagten, die Klägerin habe in ihren öffentlichen Bekanntmachungen der Preisanpassungen den Eindruck erweckt, es handele sich bei dem benannten Tarif um einen Sondervertrag. Tatsächlich ergibt sich zwar aus der Inaugenscheinnahme der insoweit beigegebenen Anlagen (zu 1 S 19/10) der Klägerin, dass die Preise des Tarifs „erdgas.ideal“ durchgehend als „Der Sondervertrag für Neukunden unabhängig vom Erdgasverbrauch“ bezeichnet werden. In den gleichen Preisanpassungen sind ausdrücklich als Grundversorgung bzw. Allgemeintarife bezeichnete Preistabellen gesondert aufgeführt. Erstmals mit der Bekanntmachung der Preisanpassung zum 01.10.2006 wird auch der Tarif „erdgas.ideal“ im Rahmen der Grundversorgung/allgemeine Tarife für Erdgas ausgewiesen. Gleichzeitig verbleibt es aber bei der Ausweisung dieses Tarifs (auch) als Sondertarif für Bestandskunden vor dem 01.10.2004.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Einer weiter vertiefenden Untersuchung dieser ohnehin nur für die Vertragsjahre 2004 und 2005 relevanten Frage bedarf es indes nicht. Etwaige Forderungen der Klägerin aus den Jahren 2004 und 2005 sind nämlich jedenfalls verjährt. Der Beklagte hat die Verjährungseinrede auch erhoben.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Für die auf § 433 Abs. 2 BGB gestützten Nachforderungsansprüche der Klägerin gilt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB).</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Da die Entstehung des Anspruchs grundsätzlich die Fälligkeit desselben voraussetzt (vgl. Grüneberg/<em>Ellenberger</em>, BGB, § 199 Rn. 3) und bei Nachforderungsansprüchen von Versorgungsunternehmen der Zugang der Rechnung Fälligkeitsvoraussetzung ist (vgl. Grüneberg/<em>Ellenberger</em>, BGB, § 199 Rn. 6 m. w. N.), begann für die jeweils per Jahresrechnung der Klägerin geltend gemachten Zahlungsansprüche die Verjährungsfrist am 31.12. des jeweiligen Jahres zu laufen (§ 199 Abs. 1 BGB).</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ein Anspruch der Klägerin aus der Jahresrechnung 2004 ist, obgleich diese ebenfalls als Anlage K7 beigegeben wurde, nicht Gegenstand der Klage.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">cc)</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im Ergebnis ist der Anspruch der Klägerin aus der Jahresrechnung 2005 jedenfalls verjährt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Für den Anspruch der Klägerin aus der Jahresrechnung 2005 begann die Verjährungsfrist am 31.12.2006 zu laufen, nachdem die an den Beklagten gerichtete Jahresrechnung 2005 überhaupt erst vom 04.08.2006 datiert, mithin jedenfalls nicht vorher zugegangen sein kann. Verjährung konnte daher frühestens am 31.12.2009 eintreten.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Hiervon geht die Kammer auch tatsächlich aus. Zwar wurde die Verjährung durch Zustellung des dieses Verfahren auslösenden Mahnbescheides der Klägerin an den Beklagten am 17.12.2009 gem. § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB gehemmt. Dabei geht die Kammer insbesondere auch von einer hinreichenden Bestimmtheit des Mahnbescheidsantrags nach § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO aus. Zu Recht wendet der Beklagte ein, dass die Einzelforderungen nach Individualisierungsmerkmalen und Betrag bestimmt sein müssen, wenn – wie hier – mit einem Mahnbescheid mehrere Einzelansprüche unter Zusammenfassung in einer Summe geltend gemacht werden. Diese Anforderungen sieht die Kammer hier jedoch als erfüllt an. Aus der Angabe des Rechnungsdatums und der Rechnungsnummer der Klägerin – vorgelegt als Anlage K7, dort Jahresrechnung 2007 – ergibt sich die auch dort durch nur zwei Einzelpositionen bezifferte Forderung hinreichend genau, da die Wirkung des § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO letztlich nicht von der Bestimmtheit der Rechnung, sondern nur von der Bestimmtheit des Mahnantrags im Verhältnis zum Bezugsdokument abhängt, insbesondere, soweit dem Schuldner tatsächlich bekannt ist, um welche Forderungen es geht (vgl. Musielak/<em>Voit</em>, ZPO, § 690 Rn. 6a). Zumindest dies darf gerade in der vorliegenden Fallkonstellation unterstellt werden.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Diese Hemmungswirkung hat auch grundsätzlich während des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens fortgedauert. Zwar ist die Sache nicht gem. § 696 Abs. 3 ZPO alsbald nach Widerspruchseinlegung ins Streitverfahren abgegeben worden, sondern erst nach über sechs Monaten, für die Hemmung der Verjährung kommt es hierauf jedoch nicht an (vgl. BGH, Urt. v. 17.01.2008, Az. II ZR 283/06; Zöller/<em>Seibel</em>, ZPO, § 696 Rn. 9). Da die Klageschrift innerhalb von sechs Monaten nach Zugang des entsprechenden Anforderungsschreibens beim Amtsgericht eingegangen ist, kommt auch eine Beendigung der Hemmung nach § 204 Abs. 2 BGB nicht in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat sodann das vorliegende Verfahren durch Beschluss vom 19.02.2014 (Bl. 161) zur Klärung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH über den Vorlagebeschluss des BGH vom 18.05.2011, Az. VIII ZR 71/10, gemäß § 148 ZPO ausgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Zwar wird grundsätzlich während des laufenden Rechtsstreits eine Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt, jedoch gilt dies nur, soweit die Parteien es weiterbetreiben bzw. ein etwaiger Stillstand des Verfahrens nicht auf einer bloßen Untätigkeit der Parteien beruht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn gesetzliche Unterbrechungstatbestände das Verfahren zum Stillstand gebracht haben, aber auch, soweit dem Stillstand des Verfahrens ein auf Antrag der Parteien ergangener Beschluss zur Aussetzung gemäß § 148 ZPO zugrunde liegt (vgl. MüKo-BGB/<em>Grothe</em>, § 204 Rn. 81 m. w. N.). Fällt indes der Grund, auf den die Aussetzung ursprünglich gestützt worden ist, nachträglich weg und bleiben die Parteien auch insoweit untätig, läuft die Verjährung unter Berücksichtigung der Sechsmonatsfrist des § 204 Abs. 2 S. 1 u. 3 BGB weiter (vgl. MüKo-BGB/<em>Grothe</em>, a. a. O.). Ist ein Verfahren konkret, wie hier, bis zur Entscheidung eines anderen vorgreiflichen Verfahrens ausgesetzt, endet die Aussetzung automatisch mit der Entscheidung des anderen Verfahrens, ohne dass es einer Aufnahmeerklärung der Parteien (§ 250 ZPO) oder einer Anordnung des Gerichts nach § 150 ZPO bedarf (vgl. Zöller/<em>Greger</em>, ZPO § 148 Rn. 8 u. § 150 Rn. 2; BGH, NJW 1989, 1729).</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die in solchen Fällen laufende Verjährungsfrist wird erst dann wieder gehemmt, wenn die Parteien das Verfahren erneut betreiben, § 204 Abs. 2 S. 4 BGB. Tun sie dies nicht, endet die Hemmung sechs Monate nach dem Wegfall analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB (Zöller/<em>Greger</em>, ZPO, § 249 Rn. 2; OLG Saarbrücken, Urt. v. 08.04.2008, Az. 4 U 397/07-132).</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Im hiesigen Verfahren ist Grundlage der Aussetzung der Beschluss der Kammer vom 19.02.2014, wörtlich: „bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsverfahrens“. Diese Erledigung ist mit Urteil des EuGH vom 23.10.2014, Az. C-359/11, offenkundig erfolgt, sodass die Hemmung der Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB sechs Monate nach Wegfall des Aussetzungsgrundes jeweils zum 24.04.2015 geendet hat. Damit jedoch begann die Verjährungsfrist insbesondere für die Ansprüche aus der Jahresrechnung 2005 wieder zu laufen, die mit Eintritt der Hemmung am 17.12.2009 nur noch wenige Tage vor ihrem Ablauf gestanden hatte. Unter Berücksichtigung des weiteren Umstandes, dass die erste verfahrensfördernde Handlung der Parteien <span style="text-decoration:underline">seit diesem Zeitpunkt</span> mit Schriftsatz der Klägerin vom 16.03.201<span style="text-decoration:underline">6</span> (Bl. 171) erfolgt ist, trat Verjährung des Anspruchs aus der Jahresrechnung 2005 jedenfalls in der Folge ein.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">dd)</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen sind die Verjährungsfristen – im Weiteren beginnend am 31.12.2007 für die Jahresrechnung 2006 und ablaufend frühestmöglich am 31.12.2010 – aber von diesem Umstand unberührt.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">c)</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin stehen die verbliebenen Ansprüche aus den Jahresrechnungen 2006 und 2007 in dem geltend gemachten Umfang zu, da die Klägerin ein dem Versorgungsvertrag mit dem Beklagten immanentes Preisanpassungsrecht für sich beanspruchen kann, dessen Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Der Ursprung des Preisanpassungsrechts der Klägerin liegt in einer ergänzenden Vertragsauslegung der mit dem Beklagten geschlossenen Grundversorgungsvereinbarung im Sinne der §§ 133, 157 BGB (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die weitere Anwendbarkeit der gesetzlichen Vorschriften der ehemaligen AVBGasV hat der BGH in dieser eine ständige Rechtsprechung einleitenden Grundsatzentscheidung abgelehnt und sich insoweit mit dem Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung zu deren Unvereinbarkeit mit der Gas-Richtlinie 2003/55/EG identifiziert. Soweit national die AVBGasV inzwischen durch die GasGVV ersetzt worden ist, zieht der BGH deren Vorschriften richtigerweise nicht heran, da sie keine Rückwirkung entfalten können.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Auch eine unmittelbare Anwendung der vorgenannten Gasrichtlinie 2003/55/EG, etwa in Ermangelung einer wirksamen nationalen Regelung, kommt für den vorliegenden Fall nicht in Betracht. Der BGH hat in seinem Urteil vom 28.10.2015 solchen Überlegungen eine generelle Absage erteilt mit Hinweis auf die vom EuGH entwickelte Grundsatzrechtsprechung, wonach eine Direktwirkung von Richtlinien nur gegenüber dem Staat oder staatsnahen Organisationen angenommen werden könne, nicht aber im Rechtsverkehr zwischen privaten Rechtssubjekten.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die hiesige Klägerin ist nach den Feststellungen der Kammer kein staatsnahes Unternehmen im vorgenannten Sinne (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.11.2017, Az. 2 BvR 1131/16). Dies ist vorliegend auch nicht behauptet worden.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Das BVerfG hat in seinem vorgenannten Beschluss insbesondere die Entscheidung des EuGH vom 12.07.1990, Az. C-188/89 (Foster), in Bezug genommen. Darin hat der EuGH die vorgenannte allgemeine Definition des staatsnahen Unternehmens dahingehend präzisiert, dass die unmittelbare Geltung von Richtlinien jedenfalls gegenüber einer Einrichtung angenommen werden kann, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt. Dabei handelte es sich im zu entscheidenden Fall ganz konkret um die C., mithin ebenfalls einen Energieversorger. Dieser war – auch nach seiner Privatisierung – noch als privilegierte Institution im vorgenannten Sinne anzusehen, jedenfalls insoweit, als er Rechtsnachfolger des bisherigen Staatsunternehmens geworden war.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Auch in seiner Entscheidung vom 04.12.1997, Az. C-257/96 (Kampelmann u.a.), hat der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie im Verhältnis zu kommunalen Stadtwerken bejaht.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Das BVerfG hat in diesem Zusammenhang noch angemerkt, dass jedenfalls Vortrag, wonach ein Energieversorger in 100%-igem kommunalen Eigentum stehe, ein deutliches Indiz für die Annahme eines staatsnahen Unternehmens begründe (vgl. BVerfG, a. a. O.).</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">In der Literatur wird die Qualifikation eines Grundversorgers als staatsnah trotz der bestehenden aufsichtsrechtlichen Regelungen im Ergebnis wohl verneint (vgl. <em>Uffmann</em>, NJW 2015, 1215, 1217). Zur Begründung wird sinngemäß angeführt, dass – wenn der Energieversorger nicht in vollständigem kommunalen Eigentum steht – es sich rechtssystematisch weiterhin um einen privatrechtlichen Vertragsschluss zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer handele und dieser als solcher nicht von der Richtlinienkompetenz der EU umfasst sein könne (vgl. EuGH, Urt. v. 14.07.1994, Az. C-91/92; LG Bielefeld, a. a. O.). Stimmen in der Rechtsprechung verweisen indes auf eben diesen aufsichtsrechtlichen Sonderstatus des Energieversorgers und seine im öffentlichen Interesse liegende Dienstleistung (AG Lingen, Urteil vom 14.10.2014 - 12 C 1363/09). Dies überzeugt im Ergebnis auch rechtssystematisch nicht, da sich die in Bezug genommenen spezifischen Verpflichtungen ausschließlich aus dem EnWG ergeben, welches aber ausweislich § 3 Nr. 18 EnWG für alle Energieversorgungsunternehmen, mithin auch solche in privater Hand, gilt und damit gerade keinen öffentlich-rechtlichen Sonderstatus im Sinne einer Ausschließlichkeit erzeugt (vgl. <em>Britz/Hellermann/Hermes</em>, EnWG, § 3 Rn. 34).</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Für die hiesige Klägerin ist zudem vorgetragen, dass sie – soweit für den Rechtsstreit relevant – im Jahre 2003 als F aus den bisherigen regionalen Energie- und Wasserversorgern, ihrerseits jeweils Gesellschaften mit beschränkter Haftung, gegründet und zum 02.09.2008 zunächst in die F und schließlich in die heutige F umgewandelt worden ist. Daher kann eine unmittelbare Staatsnähe jedenfalls nicht angenommen werden, sondern allenfalls noch die mittelbare Beteiligung im Wege des Haltens von Gesellschaftsanteilen. Dies allein genügt ohne substantiierten Gegenvortrag für die Annahme einer Staatsnähe nicht (vgl. LG Bielefeld, a. a. O.).</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">(3)</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der BGH hat im Übrigen mit seiner Grundsatzentscheidung vom 28.10.2015 die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung i. S. d. §§ 133, 157 BGB für die – damit zulässige – Herleitung eines einseitigen Preisanpassungsrechts des Energieversorgers als Maßstab angenommen. Die dafür erforderliche Regelungslücke in dem jeweiligen Versorgungsvertrag hat er in dem nachträglichen Wegfall der das Versorgungsverhältnis regelnden Vorschriften der AVBGasV gesehen, aus denen sich das – insoweit als grundlegend zu qualifizierende – Preisanpassungsrecht des Versorgers ergeben hatte. Weiter hat der BGH konstatiert, dass, hätten die Parteien bei Vertragsabschluss bedacht, dass die Vereinbarkeit des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV entnommenen gesetzlichen Preisänderungsrechts mit unionsrechtlichen Vorgaben zumindest unsicher ist, sie bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner eine – allerdings auf die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen begrenzte – Möglichkeit des Grundversorgers zur einseitigen Änderung des Tarifs vereinbart hätten. Diesen Erwägungen schließt sich die Kammer, wie zuvor bereits für vergleichbare Fallkonstellationen insbesondere mit der hiesigen Klägerin auch das LG Bielefeld (Urteile vom 27.07.2017, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11), ausdrücklich an.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Lücke im Vertrag ist demnach im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung gemäß den §§ 157, 133 BGB in der Weise zu schließen, dass die Klägerin berechtigt ist, Kostensteigerungen ihrer eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben, und das Gasversorgungsunternehmen verpflichtet ist, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen. Der nach dieser Maßgabe berechtigterweise erhöhte Preis wird zum vereinbarten Preis (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund greift auch die zuvor in der Rechtsprechung bemühte Klausel des § 315 BGB nicht (mehr) ein. Denn nach dieser Vorschrift ist eine Billigkeitsprüfung vorgesehen, die auf einem vertraglich vereinbarten einseitigen Preisänderungsrecht einer Partei fußt. Dies kann auf den vorliegenden Fall jedoch keine Anwendung finden, da einerseits bereits nicht mehr von einem vereinbarten Preisanpassungsrecht ausgegangen werden kann, nachdem die dem Vertrag zugrunde liegenden Normen der AVBGasV – und damit die Vertragsbedingungen – für unanwendbar erklärt worden sind. Zum anderen bedarf es einer Billigkeitsprüfung insofern nicht, als die Maßstäbe der ergänzenden Vertragsauslegung eine Gegenüberstellung konkreter und zumindest bestimmbarer Rechnungsposten – nämlich der Bezugskostensteigerungen bzw. -senkungen – ermöglichen (vgl. BGH, a. a. O.).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme insbesondere davon überzeugt, dass die Voraussetzungen des sich aus der ergänzenden Vertragsauslegung ergebenden Preisanpassungsrechts im vorliegenden Fall erfüllt sind und zwar nicht lediglich für die noch entscheidungserheblich zu prüfenden Vertragsjahre 2006 und 2007, sondern auch, was die Kammer im Rahmen einer gebotenen kumulierten Betrachtung ohnehin festzustellen hatte, für die vorangegangenen Jahre 2004 bis 2005, wobei es insoweit aufgrund des Durchgreifens der Verjährungseinrede für das Entscheidungsergebnis freilich nur noch auf eine Plausibilitätskontrolle ankam.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Bei dieser Beurteilung, ob die Preiserhöhungen des Energieversorgers unter Berücksichtigung der Schätzungsmöglichkeit nach § 287 Abs. 2 i. V. m. § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO dessen (Bezugs-)Kostensteigerungen (hinreichend) abbilden, steht dem Tatrichter ein Ermessen zu (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11; LG Bielefeld, Urteile vom 17.07.2018, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11).</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">So hat insbesondere der gerichtlich bestellte Sachverständige C – dessen Erkenntnisse die Kammer im vorliegenden Verfahren gemäß § 411a ZPO verwertet hat – in seinem schriftlichen Gutachten vom 07.12.2020 und der im Verhandlungstermin vom 01.09.2021 vorgenommenen ergänzenden Anhörung die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge anschaulich und nachvollziehbar dargestellt, die zu der Preisberechnung und -anpassung der Klägerin in den jeweiligen Gaswirtschaftsjahren geführt haben.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Dabei ist sich die Kammer sowohl des Umstandes bewusst, dass aufgrund der inzwischen erheblichen Zeit zurückliegenden Vorgänge eine lückenlose Aufklärung einzelner Berechnungen nicht mehr möglich war, als auch der von dem Sachverständigen C selbst wiederholt deutlich gemachten Tatsache, dass die Auswahl eines bestimmten, in der Gesamtschau des Energiemarktes bzw. der Versorgungslandschaft vergleichsweise kurzen Betrachtungszeitraums – hier die Gaswirtschaftsjahre 2004 bis 2008 – bereits für sich genommen und völlig ungeachtet der jeweils konkret verwendeten Berechnungsmethoden oder durchgeführten Preisanpassungen ab einem gewissen Punkt zu zufälligen Ergebnissen führt. Der letztere Umstand jedenfalls ist indes durch die Parteien des Rechtsstreits selbst vorgegeben, da der Beklagte konkret die Gaswirtschaftsjahre 2004 bis 2008 bzw. die auf diese bezogenen Jahresrechnungen angreift. Der Rechtsgedanke des § 308 ZPO rechtfertigt damit eine angemessene Begrenzung der zu erhebenden tatsächlichen Feststellungen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Weitergabe der Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht tagesgenau erfolgen muss, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen ist. Die Bemessung dieses Zeitraums obliegt der Beurteilung des Tatrichters nach den Umständen des Einzelfalls, wobei jedenfalls die Gesamtbetrachtung nach Gaswirtschaftsjahren nicht zu beanstanden ist (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Dass solche Feststellungen in dem vorbezeichneten Rahmen grundsätzlich möglich sind, hat der Sachverständige C eingangs seines schriftlichen Gutachtens und auch nochmals in dessen mündlicher Erläuterung ausdrücklich formuliert. Auch hat er für die Kammer überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, dass sich die Klägerin in einem ihr wie auch anderen Energieversorgern grundsätzlich zustehenden Spielraum unternehmerischen Ermessens (vgl. BGH, a. a. O.) bewege, der betriebswirtschaftlich lediglich eingeschränkt überprüfbar sei, nämlich insbesondere auf die Verwendung einer allgemein anerkannten Berechnungsmethode und auf eventuelle Anzeichen von Willkür. Seien diese Grundvoraussetzungen erfüllt, würden die entsprechenden Zahlenwerke der Klägerin einer Plausibilitätsprüfung unterzogen, hier nach Maßgabe der von der Kammer in Anlehnung an die Grundsatzentscheidung des BGH formulierten Beweisfragen.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Danach ist das Gasversorgungsunternehmen berechtigt, Kostensteigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben. Das Gasversorgungsunternehmen ist umgekehrt verpflichtet, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige weist auf die nur begrenzte Objektivierbarkeit insbesondere der weiteren Kostenänderungen und des unternehmerischen Umgangs der Klägerin damit hin, ferner auf – im Rahmen des von der Kammer bereits dargestellten rechtlichen Vorrangs der Parteiautonomie – hinzunehmende rechnerische Ungenauigkeiten durch das Erfordernis einer Durchschnittsbildung in Abhängigkeit vom jeweils gewählten Betrachtungszeitraum. Insbesondere im letzten Schritt müsse als Maßstab das unternehmerische Ermessen der Klägerin angesetzt werden, wobei allenfalls „offensichtlich grober Unfug“ die Grenzen überschreiten dürfte und zudem nur der jeweilige Wissensstand auf Basis der damaligen Marktentwicklung zugrunde gelegt werden könne, wobei objektiv festzustellen sei, dass die Markt- und Regulierungsverhältnisse im Erdgasgeschäft im fraglichen Zeitraum (2004-2008) grundlegend anders als heute gestaltet gewesen seien. Es seien also damalige Prognoseentscheidungen der Klägerin zu bewerten bzw. erforderlichenfalls zu rekonstruieren; eine ex-post-Betrachtung verbiete sich.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin trägt im vorliegenden Verfahren vor, schon die Steigerungen ihrer eigenen Bezugskosten nicht einmal in vollem Umfang an ihre Kunden weitergegeben zu haben. Sie beziehe das zur Versorgung ihrer (Haushalts-)Kunden benötigte Gas seit Jahren von mehreren Lieferanten, wobei der Bezug auf der Grundlage von Preisanpassungsklauseln erfolge, wonach der Bezugspreis an die Entwicklung des Ölpreises gebunden sei.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Als Anlage K12 hat die Klägerin ein Privatgutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft X vom 23.10.2009 über die Gaspreisanpassungen für Haushalts- und Kleingewerbekunden im Zeitraum 01.01.2004 bis 30.09.2008 vorgelegt, dem als Anlage 2 eine Tabelle über die monatliche Entwicklung des Bezugspreises der Rechtsvorgängerin der Klägerin (F) beigefügt ist. Ausweislich der Anlage 1 zu diesem Privatgutachten ist auch der hier streitgegenständliche Tarif „erdgas.ideal“ bzw. „Grundversorgung erdgas.ideal“ berücksichtigt worden. Die Ausarbeitung der Fa. X gelangt im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass jedenfalls Preisanpassungen infolge von Unternehmensänderungen ganz bzw. im Wesentlichen erlösneutral durchgeführt worden seien. Für die Arbeitspreisberechnung sei der Umstand berücksichtigt worden, dass der Verbrauch nicht gleichbleibend, sondern punktuell in der Heizperiode stark ansteigend sei, sodass Preisanpassungen in dieser Zeit einen deutlich größeren Einfluss auf den Kunden hätten als außerhalb der Heizperiode. Unberücksichtigt geblieben seien demgegenüber industrielle Großabnehmer. Die Privatgutachter haben die Anknüpfungstatsachen und zugrunde zu legenden Unterlagen als vollständig und widerspruchsfrei erachtet. So hätten insbesondere Einkaufsrechnungen der Vorlieferanten der Klägerin vorgelegen, deren – im Verfahren behauptete – Kopplung an die Ölpreise als bestätigt angesehen werden könne. Auch im Übrigen seien diese Bezugskostenrechnungen plausibel. Für den auch hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.01.2004 bis 30.09.2008 sei nunmehr festzuhalten, dass die Preisanpassungen insgesamt auf Bezugspreisveränderungen zurückzuführen seien. Insgesamt ergebe sich sogar eine Unterdeckung, wonach die Klägerin die Bezugskostensteigerungen nicht einmal vollständig im Wege der Preisanpassung an ihre Kunden weitergegeben habe. Die Unterdeckung liege für den Gesamtzeitraum kumuliert bei einem Wert von 1.836.000 € und umgerechnet auf die Kilowattstunde bei 0,021 Cent zulasten der Klägerin.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter umfassender, kritischer Würdigung der schriftlichen wie mündlichen Ausführungen des Sachverständigen C jedenfalls insoweit bestätigt gesehen, als bei der Klägerin kontinuierliche Bezugskostensteigerungen stattgefunden haben. Sie ist, insbesondere auch, nachdem die Parteien im Rahmen der mündlichen Verhandlung nochmals Gelegenheit zu einer intensiven Befragung des Sachverständigen erhalten hatten, davon überzeugt, dass die Preiserhöhungen der Klägerin nach Maßgabe des § 287 ZPO deren (Bezugs-)Kostensteigerungen adäquat abbilden.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">(a)</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Zum Tarifgefüge der Klägerin stellt der Sachverständige grundlegend fest, dass das damals übliche Preissystem in einen Grundpreis pro Jahr und einen Arbeitspreis pro verbrauchter Kilowattstunde aufgeteilt gewesen sei. Eine Zählerstandsablesung habe regelmäßig einmal jährlich stattgefunden, sodass der für den Arbeitspreis relevante Verbrauch seine Grundlage in einer Zählerstandsdifferenzberechnung finde. Diese wiederum habe im Falle einer unterjährigen Tarifanpassung ihrerseits auf einer bloßen Hochrechnung beruhen können. Weiter stellt der Sachverständige grundlegend fest, dass abhängig von der konkreten Tarifstufe des jeweiligen Kunden der Anteil des Grundpreises am Gesamtpreis habe variieren können, sodass sich dieselbe Preisanpassung verhältnismäßig unterschiedlich habe auswirken können. Diese eventuellen Schwankungen würden mittels einer Durchschnittsberechnung übergangen, da als Vorgabe für die Beweisaufnahme eine konkrete Tarifstufe entsprechend dem damaligen Tarifgefüge zugrundezulegen war. Auch zwischenzeitliche Veränderungen der Tarifstufen aufgrund erfolgter Tarifharmonisierungen seien als eindeutig bezugskostenunabhängige Veränderungen im Rahmen des unternehmerischen Ermessens nicht zu berücksichtigen, soweit nicht eine parallele Bezugskostenerhöhung durch Umrechnung ausdifferenziert werden könne.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Dies sei bei der Tarifharmonisierung zum 01.10.2004 dahingehend der Fall, dass sich eine abstrakte Weitergabe von Bezugskostensteigerungen im Arbeitspreis auf – nach Verrechnung mit einer späteren Tarifkorrektur vom 01.01.2005 – rechnerisch 0,37 ct/kWh belaufe, die sich (nur) durch Verrechnung nicht in diesem Umfang für den konkreten Kunden ausgewirkt habe. Für eine weitere Tarifharmonisierung zum 01.01.2008 ergebe sich entsprechend eine bereinigte Preissteigerung von 0,48 ct/kWh. Für eine weitere Preisanpassung vom 01.10.2006 ergebe sich ferner die Situation, dass diese völlig unabhängig von einer Bezugskostenveränderung erfolgt sei. Im Übrigen habe sie eine Senkung der Tarifpreise zur Folge gehabt. Die Tarifharmonisierungen als solche seien in der Summe unter Berücksichtigung betriebswirtschaftlich zulässigen Ermessens als erlösneutral zu bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">(b)</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige gelangt mit einer fundierten und Nachfragen standhaltenden Begründung zu der für die Kammer überzeugenden Aussage, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum stetige Bezugskostensteigerungen hinzunehmen hatte.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Als wirtschaftliche Ausgangslage der Bezugssituation der Klägerin zu Beginn des streitgegenständlichen Beurteilungszeitraums stellt der Sachverständige im Wesentlichen fest, dass die Klägerin durchgehend mehrere Bezugsverträge zu verschiedenen Anbietern unterhalten habe und diese nicht notwendig deckungsgleich mit ihren eigenen Kunden- bzw. Tarifgruppen gewesen seien. Abgesehen von – grundsätzlich möglichen – Sonderkonditionen seien die Bezugsverträge der Klägerin systematisch unterteilt in einen Leistungs- und einen Arbeitspreis gewesen. Der Leistungspreis habe sich an der abgerufenen Spitzenmenge innerhalb eines Gaswirtschaftsjahres orientiert, woraus sich ein monatlicher Pauschalsatz ergeben habe. Soweit eine Spitzenmenge erst im späteren Verlauf des Jahres abgerufen worden sei, hätten dementsprechend Nachzahlungsbeträge für die Vormonate entstehen können. Der Arbeitspreis habe demjenigen entsprochen, welcher auch an die Endkunden weitergegeben worden sei, also der tatsächlichen Liefermenge in ct/kWh und sei variabel im Hinblick auf die Heizölpreise gewesen (sog. Preisgleitklausel). Ergänzend hat der Sachverständige hierzu insbesondere ausgeführt, dass aufgrund der damals herrschenden Marktbedingungen nahezu keine Einflussmöglichkeit der Klägerin bestanden habe, ihre eigenen Bezugsverträge nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und insbesondere im Preisinteresse zu gestalten. Die vorgegebenen Bezugspreise seien nicht verhandelbar, sondern „nach Gutsherrenart“ festgesetzt gewesen. Auch Möglichkeiten einer Speicherung, d.h. eines gezielten Bezuges über Bedarf zu Zeiten günstiger Preise, habe der Markt nicht geboten. Derartige „Puffer“ seien erst in späteren Jahren entstanden bzw. zum Standard geworden. Auch insgesamt sei der Gasmarkt insbesondere im streitgegenständlichen Zeitraum in einem bis dato nicht gekannten Umbruch gewesen. Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang das sog. City-Gate-Konzept und damit eine grundlegende Änderung des Bezugsvertragsmodells näher erläutert, was erheblichen Einfluss jedenfalls auf die Preisgestaltung des im vorliegenden Fall noch zu untersuchenden Gaswirtschaftsjahres 2008 gehabt habe.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige hat die Netto-Bezugspreisentwicklung der jeweiligen Einzelbezugsverträge und ein daraus gebildetes rechnerisches Mittel nebeneinandergestellt. Aufgrund einer unterschiedlichen Gewichtung von Leistungs- und Arbeitspreis je Bezugsvertrag hat sich der Sachverständige diesbezüglich für die Bildung eines rechnerischen Mittels in der einheitlichen Größe ct/kWh entschieden und dabei insbesondere auch im Hinblick auf die zuletzt stattgefundene Preisanpassung zum 01.10.2008 eine annähernde Umrechnung wegen des zwischenzeitlich erfolgten Systemwechsels der Bezugsverträge vorgenommen.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen einer ergänzenden Berechnung hat der Sachverständige zudem festgestellt, dass sog. Marketingzuschüsse in die Bezugspreisentwicklung einzuberechnen gewesen seien. Dabei handele es sich um pauschalierte Zahlungen in den jeweiligen Lieferverhältnissen, die grundsätzlich unabhängig von der Bezugspreisentwicklung zu werten, wirtschaftlich aber mit dieser in Zusammenhang zu bringen seien. Vor diesem Hintergrund habe der Sachverständige eine entsprechende Umrechnung, ebenfalls in der Größe ct/kWh, vorgenommen und auch tatsächlich eine gewisse statistische Abweichung festgestellt. Im Ergebnis seien diese Marketingzuschüsse von den Bezugskosten abzuziehen, was wiederum nur durch die Bildung rechnerischer Umlagewerte gelinge. Hierbei verschwinde die eventuelle Auswirkung dieser Summen jedoch im Rahmen – betriebswirtschaftlich plausibler und zulässiger – rechnerischer Toleranz.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">(c)</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige nimmt schließlich, auch mit grafischen Darstellungen, die eigentliche erste Vergleichsberechnung der Bezugs- und Absatzpreise der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum vor. Dabei wird zunächst deutlich, dass einerseits beide Preise über die Jahre erheblich angestiegen sind, wobei die Bezugspreise deutlicheren Schwankungen unterlegen haben als die Absatzpreise, was sich, wie der Sachverständige ebenfalls näher ausführt, damit erklären lässt, dass die Absatzpreise nur unter bestimmten Bedingungen verändert oder angepasst werden konnten, nämlich insbesondere im Rahmen öffentlicher Bekanntmachungen, die eine teils langfristige organisatorische Vorbereitung erforderten. Insgesamt aber zeigt sich zur Überzeugung der Kammer über den betrachteten Gesamtzeitraum eine stetige Überlagerung der Bezugs- und Absatzpreisentwicklung ohne wesentliche Ausreißer. Insbesondere zeigt auch die von dem Sachverständigen vergleichend vorgenommene Berechnung der Rohmarge der Klägerin – also der Ertragsdifferenz im Vergleich zum Bezugsmonat, dem zwischen den Parteien des hiesigen Rechtsstreits als unstreitig angesehenen sog. Sockelbetrag – allenfalls das Erreichen des Ausgangswerts zum Ende des Betrachtungszeitraums, jedenfalls aber keinen Anstieg.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Das vorstehende Gesamtergebnis deckt sich auch mit den weiteren Einzelerläuterungen des Sachverständigen zur Ertragsentwicklung der Klägerin auf Grundlage der Differenzberechnung zwischen Bezugs- und Absatzpreisen im Detail. Dabei sei festzustellen, dass die Tarifentwicklung der Klägerin häufig der Bezugspreisentwicklung „gefolgt“ sei, indem zunächst die Bezugspreise die Tariferlöse überstiegen, bis die nächste Tarifanpassung eine deutliche „Reserve“ für einen weiteren Zeitraum erzeugt habe, bis die Bezugspreisentwicklung insoweit wieder an dieser Linie angekommen sei. Der Sachverständige hält insoweit ausdrücklich fest, dass es der Klägerin zwar möglich gewesen sei, die Tarifanpassungen wesentlich enger und kleinteiliger an die Bezugspreisentwicklungen anzunähern und vor diesem Hintergrund die Ertragsentwicklung anzugleichen. Bei einem Massengeschäft wie dem Tarifkundenvertrag liegt es jedoch – auch unter Berücksichtigung von Praktikabilitätsgesichtspunkten – vielmehr im Interesse beider Vertragsparteien, eine Weitergabe von Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht – was regelmäßig mit einem die Energieversorgung unnötigerweise verteuernden hohen Aufwand verbunden wäre – tagesgenau vorzunehmen, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Dieser Interpretation vermag die Kammer in eigener Überzeugungsbildung zu folgen. Der Sachverständige zieht für die Differenzberechnung von Absatztarifen und Bezugspreisen einerseits den Gesamtbetrachtungszeitraum, andererseits als Referenzgröße das Gaswirtschaftsjahr – d. h. den Zeitraum vom 1. Oktober eines Jahres bis zum 30. September des Folgejahres – heran. Dabei weist er auf die grundsätzliche Problematik hin, dass die jetzt vorzunehmende Differenzbetrachtung ex post zu erfolgen habe, während der Energieversorger, mithin auch die Klägerin, darauf angewiesen sei, eine Beurteilung ex ante vorzunehmen, wie sich die Verbräuche und damit einhergehend der Bezugsbedarf innerhalb eines Gaswirtschaftsjahres oder Quartals entwickeln könnte. Vor diesem Hintergrund könne, je länger auch der zu betrachtende Zeitraum sei, eine nur grobe Prognose und eine dementsprechende wirtschaftliche Disposition getroffen werden, zumal die jeweils tatsächlichen Verbräuche der Endkunden nur einmal jährlich durch die Jahresablesung bekannt würden. Insoweit aber würde ein noch kürzerer Zeitabschnitt als das Gaswirtschaftsjahr zu anderweitigen Mehrkosten im organisatorischen Bereich führen, die eventuelle Prognoseungenauigkeiten und damit verbundene Preisansätze überstiegen.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Bei der Differenzberechnung sei ferner zu berücksichtigen, dass nur eine teilweise Deckungsgleichheit zwischen Bezugskosten und Absatztarifen bestehe. Die Bezugsverträge seien, wie dargestellt, in einen Leistungs- und einen Arbeitspreis unterteilt, die Absatzverträge in einen Grund- und einen Arbeitspreis. Während die Arbeitspreise grundsätzlich unmittelbar vergleichbar seien, bilde der Leistungspreis wie erörtert eine einmalige Jahresspitze ab, während der Energieversorger, mithin auch die Klägerin, gezwungen sei, über den Grundpreis ein – zudem ex ante zu prognostizierendes – rechnerisches Mittel zu bilden und die Jahresspitze entsprechend auf das gesamte Jahr zu verteilen. Aufgrund der bestehenden tatsächlichen Unsicherheit, wann und in welcher Höhe es im jeweiligen Gaswirtschaftsjahr zur Messung einer Leistungsspitze komme, umgekehrt der Grundpreis aber auch im Hinblick auf sämtliche weiteren unternehmerischen Kosten der Klägerin im Vorhinein für den Gesamtwirtschaftszeitraum festgelegt werden müsse, könne es diesbezüglich zu erheblichen Schätzungenauigkeiten kommen. Diese seien hinzunehmen und der Versuch einer rechnerischen Kompensation sei rein zufällig.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Das mit dem nationalen Energiewirtschaftsrecht verfolgte, in § 1 EnWG 2005 und ebenso in den Vorläuferregelungen verankerte Ziel einer möglichst sicheren und preisgünstigen Energieversorgung ist nicht nur auf die möglichst billige Energieversorgung der Endkunden ausgerichtet. Zu berücksichtigen sind zugleich die insbesondere durch die Kostenstruktur geprägte individuelle Leistungsfähigkeit der Versorgungsunternehmen sowie die Notwendigkeit, die Investitionskraft und die Investitionsbereitschaft zu erhalten und angemessene Erträge zu erwirtschaften. Insofern wurde im Recht der Energielieferung stets vorausgesetzt, dass die Möglichkeit des Versorgers besteht, Änderungen der Bezugspreise weiterzugeben, ohne den mit dem Kunden bestehenden Versorgungsvertrag kündigen zu müssen. Dass das Energieversorgungsunternehmen die Möglichkeit hat, Kostensteigerungen weiterzugeben, dient daneben auch dem Zweck der Versorgungssicherheit. Denn diese betrifft nicht nur die technische Sicherheit der Energieversorgung und die Sicherstellung einer für die Versorgung der Abnehmer stets ausreichenden Energiemenge. Sie hat vielmehr insoweit auch einen ökonomischen Aspekt, als die nötigen Finanzmittel für die Unterhaltung von Reservekapazitäten, für Wartungsarbeiten, Reparaturen, Erneuerungs- und Ersatzinvestitionen bereit stehen müssen. Das wiederum setzt voraus, dass diese Mittel durch auskömmliche Versorgungsentgelte erwirtschaftet werden können. Anderenfalls entstünde dadurch bei langfristigen Versorgungsverträgen angesichts der Entwicklung der Energiepreise regelmäßig ein gravierendes Ungleichgewicht von Leistung und Gegenleistung. Dies wäre unbillig und würde dem Kunden einen unverhofften und ungerechtfertigten Gewinn verschaffen. Dies entspräche auch nicht dem objektiv zu ermittelnden hypothetischen Parteiwillen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Zu differenzieren ist insoweit allenfalls noch zwischen der seitens der Kammer vorgenommenen Gesamtbetrachtung über den hier streitgegenständlichen Zeitraum von September 2004 bis Dezember 2008 und der von dem Sachverständigen nach wirtschaftsmathematischen Gesichtspunkten ergänzend vorgenommenen sog. Kumulation der Ertragsberechnung. Diese dient üblicherweise zur betriebswirtschaftlich notwendigen Bereinigung sog. „Ausreißer“ im Rahmen einer periodischen Gewinnbetrachtung, um die unternehmerischen Reaktions- und Prognosemöglichkeiten zu erleichtern. Dieser Umstand spielt aber im hiesigen Zusammenhang keine Rolle (mehr). Die Kammer hat zur Aufgabe, die Angemessenheit der tatsächlich vorgenommenen Preisanpassungen zu prüfen, wozu sie im Rahmen der Gesamtbetrachtung gerade den Rückgriff auf die monatsgenau berechneten Ertragsdifferenzen zu nehmen hat. Diese Angemessenheitsbetrachtung erfolgt, wenngleich sie die damalige prognostische Sichtweise des Unternehmens in gebotenem Umfang zu berücksichtigen hat, retrospektiv. Eine Bereinigung im Sinne der Kumulation ist hierzu gerade nicht geboten, sondern verbietet sich vielmehr. Die Prüfung einzelner Preisanpassungen kann jedenfalls nicht die spätere, ausgehend vom Vortrag der Klägerin und den weitergehenden Ausführungen des Sachverständigen ggf. auf Jahre hinaus zu prognostizierende Marktentwicklung zum Gegenstand haben, sondern muss eine, wenn auch zufällig – wie hier durch den Klagegegenstand – gesetzte zeitliche Grenze finden. Diese liegt in dem vorgegebenen Gesamtbetrachtungszeitraum, innerhalb dessen wiederum eine hinreichend präzise Beurteilung der Preisentwicklung, ggf. bezogen auf die Referenzgröße der Gaswirtschaftsjahre, möglich bleibt.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">(d)</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme hatte die Klägerin auch keine adäquate Möglichkeit, die vorbezeichneten Steigerungen der Bezugskosten zu verhindern und/oder zu reduzieren. Der Sachverständige stellt hierzu nach dem Dafürhalten der Kammer eindeutig fest, dass die Klägerin sich hier – soweit überhaupt noch rekonstruierbar – jedenfalls im Rahmen des ihr zuzubilligenden unternehmerischen Ermessensspielraums bewegt und keine willkürlichen oder betriebswirtschaftlich nicht tragbaren Entscheidungen getroffen habe, sondern lediglich solche, die bloß prognostischen Charakter gehabt hätten und ggf. kurzfristig sogar negative, mittel- bis langfristig aber positive Synergieeffekte hervorgerufen haben könnten. Die Klägerin habe sich aktiv um eine Senkung ihrer Bezugskosten bemüht und dabei insbesondere nicht etwa wirtschaftlich nachteilige Bezugskonditionen ungefragt akzeptiert. Offensichtliche Potenziale seien ausgeschöpft worden. Insbesondere auch mit der zunehmenden Liberalisierung des Marktes habe die Klägerin, die sich deshalb ihrerseits weitgehend unbekannten unternehmerischen Risiken ausgesetzt gesehen habe, entsprechend nachvollziehbare betriebswirtschaftliche Entscheidungen getroffen.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">(3)</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Der festgestellten Bezugskostensteigerung der Klägerin stehen auch keine Kompensationspotentiale in anderen Bereichen der Unternehmenssparte Gas gegenüber. Insbesondere sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die sonstigen Kosten der Klägerin im Betrachtungszeitraum nicht signifikant gesunken.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Eine auf eine Bezugskostensteigerung gestützte Preiserhöhung kann unbillig sein, wenn und soweit der Anstieg durch rückläufige Kosten in anderen Bereichen ausgeglichen wird. Von dem infolge ergänzender Vertragsauslegung bestehenden Preisänderungsrecht nicht erfasst sind nämlich Preiserhöhungen, die über die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen hinausgehen und der Erzielung eines (zusätzlichen) Gewinns dienen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Dabei sind die Vertriebskosten der Klägerin ohne Bezugskosten zu beurteilen, soweit sie die Gassparte betreffen. Es kann insoweit nicht darauf ankommen, ob die Klägerin die Steigerung der Gasbezugskosten durch zurückgehende Kosten in anderen Unternehmensbereichen hätte auffangen können. Sie ist nicht zur Quersubventionierung der Gassparte verpflichtet. Die Frage, wie ein Unternehmen seine in dem einen Geschäftsbereich erzielten Gewinne verwendet, ist eine Entscheidung, die im Ermessen des Unternehmers liegt und der für die Billigkeit einer Preiserhöhung in einem anderen Geschäftsbereich keine Bedeutung zukommt. Der Abnehmer von Gas hat insbesondere keinen Anspruch darauf, dass ein regionaler Versorger wie die Klägerin Kostensenkungen etwa bei der Strom- oder Fernwärmeversorgung gerade zur Entlastung der Gaskunden verwendet, was auch zur Folge hätte, dass dieses Potential zugunsten der Kunden der betroffenen Unternehmenssparten nicht mehr zur Verfügung stünde (vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07 m. w. N.). Schließlich kann eine Preiserhöhung allein darin ihre Berechtigung finden, dem Unternehmer eine Verminderung des Ertrages aus dem Vorjahr zu ersparen (vgl. – allerdings zu den Voraussetzungen des § 315 BGB – BGH, a. a. O.; OLG Koblenz, Urt. v. 12.04.2010, Az. 12 U 18/08).</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige hat zunächst festgestellt, dass seitens der Klägerin tatsächlich keine außerhalb der Bezugskosten liegenden Positionen in die Tarifpreisgestaltung eingeflossen seien. Dies ist jedoch unschädlich, wenn und soweit auch eine fiktive Einbeziehung der sonstigen Kostenentwicklung der Klägerin zu keinem oder einem nur marginalen und insoweit im Rahmen des unternehmerischen Ermessens hinzunehmenden Kompensationspotential geführt hätte.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">So liegen die Dinge hier.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">(a)</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Dabei kommt es nach dem Dafürhalten der Kammer im Ergebnis nicht auf eine von dem Sachverständigen rechnerisch ausdifferenzierte Betrachtung der sog. Netzentgelte an.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Insoweit lasse sich nämlich überhaupt erst ab dem Jahr 2007 eine klare Abgrenzung der Netznutzungs- von den Bezugskosten vornehmen. Zuvor seien die Netzentgelte ausdrücklich bei den Bezugskosten einzuordnen gewesen, sodass sich in der Konsequenz für die Kammer keine Divergenzen zu den vorstehenden Feststellungen der Bezugskostenentwicklung der Klägerin ergeben können. Ohnehin hat aber der Sachverständige auch festgestellt, dass sich jedenfalls die Netzentgeltabsenkung des Jahres 2006 bezogen auf die Vertriebssparte Gas der Klägerin nicht ausgewirkt habe.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Einzig in Bezug auf die Netzentgeltabsenkung vom 18.06.2008 sei zweifelsfrei eine Senkung der mit dem Erdgasvertrieb eng assoziierten sonstigen Kosten, die bei der Tarifpreisbildung zu berücksichtigen seien, festzustellen. Diese sei möglicherweise – jener Zeitpunkt sei von dem Gutachtenauftrag nicht mehr umfasst gewesen – anlässlich einer Preisanpassung zum 01.12.2008 hinreichend kompensiert worden.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls aber gelangt die Kammer in eigener Würdigung der Umstände dazu, dass die Klägerin für die streitgegenständliche Preisanpassung vom 01.08.2008 noch nicht auf die entsprechende Absenkung hat reagieren können. Eine Berücksichtigung innerhalb des für die jeweiligen Preisanpassungsverfahren erforderlichen und auch verbindlichen Zeitraums war ihr nach dem insoweit auch nicht bestrittenen Vortrag nicht mehr möglich. Zu dem der Klägerin im Hinblick auf die Zeitpunkte von Preisanpassungen auch allgemein zuzugestehenden unternehmerischen Ermessen hat die Kammer bereits Ausführungen gemacht. Ein diesbezüglicher Ermessensfehler ist – gerade, weil die auf den 01.08.2008 folgende Preisanpassung bereits zum 01.12.2008 angesetzt worden war – auch nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">(b)</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Auch die Entwicklung der sonstigen Kosten der Gassparte der Klägerin, wie sie die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Würdigung des hierzu erbrachten Parteivorbringens festzustellen vermochte, gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Betrachtung.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">(aa)</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Zwar arbeitet der Sachverständige im Hinblick auf die sonstige Kostenentwicklung der Gassparte heraus, dass die sonstigen Kosten der Klägerin nach diesem Maßstab in den Jahren 2004/2005 sowie 2007/2008 in einem erheblichen Umfang (8,64 Mio. EUR bzw. 15,2 Mio. EUR) gesunken seien, was die Klägerin in den Vergleichszeiträumen bei der Tarifanpassung aber nicht berücksichtigt habe, da die Tarifanpassungen jeweils ausschließlich auf Basis der Bezugskosten durchgeführt worden seien.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Dem steht nicht entgegen, dass sich die sonstigen Spartenkosten in den Jahren 2005/2006 und 2006/2007 signifikant (um 10,6 Mio. EUR bzw. 18,2 Mio. EUR) erhöht haben, da auch unabhängig von der Frage, inwieweit es sich hierbei um Einmaleffekte gehandelt hat, Kostensteigerungen nicht im Rahmen von Tarifanpassungen zu berücksichtigen gewesen wären. Der Sachverständige zeigt aber ebenfalls ausdrücklich eine Problematik auf, die eine sinnvolle Berechnung derartiger Kostenvorteile eben aufgrund der zwangsläufig nur zu betrachtenden kurzen Zeiträume nahezu obsolet mache. Denn aufgrund der massiven Schwankungen müsse eine auch nur marginale Verschiebung des Betrachtungszeitraums teilweise zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen und damit auch einer völlig konträren Beantwortung der Beweisfrage führen. Die Anknüpfungstatsachen und die zur Verfügung stehenden Rechenmodelle erlaubten eine Saldierung der Betrachtung über den Gesamtzeitraum faktisch nicht. Die angesichts der entsprechenden Kostenentwicklungen möglichen und gebotenen unternehmerischen Entscheidungen der Klägerin seien deutlich langfristiger angelegt als der hier zu betrachtende Zeitraum und teilweise nur von prognostischer Natur.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Insgesamt müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass die Klägerin jedenfalls im Gaswirtschaftsjahr 2008 Kompensationspotential durch sonstige Kostensenkungen nicht genutzt, d.h. diese in den Tarifanpassungen nicht weitergegeben habe.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">(bb)</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Dem begegnet die Klägerin mit – prozessual zulässigem – umfangreichem ergänzendem Vortrag zur Berechnung und Einbeziehung der sonstigen Kostenentwicklung der Vertriebssparte Gas mit ihrem in Bezug genommenen Schriftsatz vom 17.03.2021.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin rügt zunächst die unzureichende Analyse ihrer sonstigen Kostensteigerungen im Verhältnis zur Bezugskostenentwicklung durch den Sachverständigen. Dieser hätte, so meint sie, insbesondere die Jahres- bzw. Tätigkeitsabschlüsse der Klägerin nicht als ungeeignet zurückweisen dürfen. Insbesondere habe sich der Sachverständige darauf beschränkt, etwaige Steigerungen der sonstigen Kosten der Klägerin als unerheblich zu werten. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass sich aber aus der entsprechenden Analyse jedenfalls ergebe, dass auch in Anbetracht der Vornahme gewisser Rationalisierungsmaßnahmen keine Kostensenkungen, sondern durchgehend Kostensteigerungen und mithin jedenfalls kein berücksichtigungsfähiges Potential vorgelegen habe, insbesondere im Hinblick auf Personalkosten.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin führt anschließend eine eigene Berechnung der berücksichtigungsfähigen sonstigen Kosten auf. Hierbei verwendet sie als Ausgangsbasis die jährlichen Gewinn- und Verlustrechnungen des Gesamtunternehmens, bereinigt diese schrittweise um zunächst die Stromsparte und löst sodann die (nicht gesondert unterteilte) Gassparte aus den „Sonstigen Aktivitäten“ heraus. Im Ergebnis stehe eine kontinuierliche Steigerung dieser Kosten um kumuliert ca. 5 Mio. Euro und damit jedenfalls nicht ein von dem Sachverständigen noch für zumindest möglich gehaltenes Preiskorrektiv.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Insoweit sei für den Betrachtungszeitraum kein Ertrag von 2,7 Mio. Euro, sondern ein Verlust von 0,8 Mio. Euro zu errechnen, was die Klägerin unter Zuhilfenahme verschiedener Tabellen demonstriert.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">(cc)</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die Kammer schließt sich dieser Einschätzung im Ergebnis nach einer umfassenden Würdigung des weiteren Vortrags und nach einer Einbeziehung dieser Informationen in die mündliche Erörterung mit dem Sachverständigen C in eigener Überzeugungsbildung an. In Anwendung des ihr insoweit zustehenden umfassenden Ermessensspielraums im Sinne des § 287 Abs. 2 ZPO vermochte die Kammer ihre Überzeugung auf den plausiblen, fundierten und weder seitens des Sachverständigen noch seitens der Beklagten in einer solchen Weise, dass eine Nachvollziehbarkeit insbesondere der Berechnungen bzw. der jeweils korrekten Bestimmung der Prognoseinstrumente entfiele, in Zweifel gezogenen Vortrag der Klägerin – der im Übrigen auch nicht aus prozessualen Gesichtspunkten verspätet sein kann – zu stützen.</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Dabei wendet die Kammer, wie auch der Sachverständige und die Klägerin selbst, denselben Berechnungsmaßstab an wie im Hinblick auf die Gesamtbetrachtung der Bezugskostenentwicklung. Insoweit rekurriert die Kammer in Summe auf die Entwicklung im Gesamtbetrachtungszeitraum der hier streitgegenständlichen Preisanpassungen, mithin von Oktober 2004 bis Dezember 2008. Nichts anderes gilt, soweit die Klägerin in den von ihr vorgetragenen Zahlenwerken wiederholt von kumulierten Beträgen spricht, wie die Kammer bereits vorstehend ausgeführt hat. Die betriebswirtschaftliche Kumulation kann hier jedenfalls nicht weitergehen als die Saldierung über den Gesamtbetrachtungszeitraum es erlaubt bzw. gebietet. Die Berechnungen der Klägerin sind aber in dieser Weise nachvollziehbar und ermöglichen eine entsprechend abgegrenzte Betrachtung. Die Kammer verkennt insoweit insbesondere auch nicht, dass, wie auch der Sachverständige ausdrücklich herausgestellt hat und was die Klägerin in ihrem eigenen Vortrag insoweit bestätigt, in den Gaswirtschaftsjahren 2004/2005 bzw. 2007/2008 durchaus relevante Senkungen im Bereich der sonstigen Kosten aufgetreten sind, von denen lediglich infolge der Bereinigung im Rahmen der Gesamtbetrachtung über den streitgegenständlichen Zeitraum im Ergebnis kein Kompensationspotenzial mehr ausgeht, wohingegen im Hinblick auf einzelne, punktuelle Preisanpassungen insbesondere vom damaligen Standpunkt aus betrachtet durchaus ein rechnerisches Kompensationspotenzial gegeben gewesen wäre.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Die Kammer ist jedoch nach eingehender Würdigung des Klägervortrags und nach den Ausführungen des Sachverständigen C davon überzeugt, dass dieses Kompensationspotenzial nicht geeignet war, um die Maßgabe des Bundesgerichtshofs, Bezugskostensteigerungen aufzufangen, zu erfüllen. Der Klägerin oblag es damit nicht, es an ihre Kunden weiterzugeben, sodass ihre unter Außerachtlassung dieses Umstands erfolgte Preisanpassung nicht deshalb unwirksam ist.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige hat – unter Berücksichtigung dieses ergänzenden Vortrages – im Rahmen seiner mündlichen Anhörung zum Gutachten grundsätzlich bestätigt, dass im Gesamtbetrachtungszeitraum eine Verminderung der Marge der Klägerin eingetreten sei. Dies gelte insbesondere unter Berücksichtigung der in den weiteren Gaswirtschaftsjahren zu verzeichnenden Steigerungen der sonstigen Kosten, die per se zwar nicht bei der Preisanpassung berücksichtigt werden dürften, jedoch das Kompensationspotenzial weiter schmälerten. Eine höhere Überdeckung des Ertrags der Klägerin sei auch nur dann rechnerisch zu stützen, wenn die Netzentgeltunsicherheit berücksichtigt würde und zwar bezogen auf den Gesamtbetrachtungszeitraum. Hiervon geht die Kammer jedoch, wie vorstehend dargestellt, gerade nicht aus.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Die Kammer sieht außerdem keinen Widerspruch zwischen den von dem Sachverständigen nicht bzw. nur summarisch berücksichtigten Jahres- und Tätigkeitsabschlüssen der Klägerin und den weiteren Ausführungen des Sachverständigen dazu, ob und inwieweit die Entstehung sonstiger Kosten der Gassparte unabhängig von dieser Buchhaltung ermittelbar sei. Der Sachverständige hat in Bezug auf die Ermittlung der Kostenentwicklung grundsätzlich ausgeführt, dass die Einordnung entsprechender Kostenpositionen und die Herleitung der Einflussgrößen für diese Kosten nur schwer nachzuvollziehen seien. Einfluss auf die Kostensenkungen könne es daher beispielsweise auch haben, wenn Lieferanten der Klägerin nachträglich Rabatte oder Prämien gewährten, was – aus Sicht der Klägerin – wiederum, entsprechend der Bezugskostengestaltung, zu rein zufälligen bilanziellen Veränderungen führe, die weder vorhersehbar seien noch im Hinblick auf die weitere Unternehmensentwicklung zur Grundlage einer Prognose gemacht werden könnten. Die diesbezüglich entstehenden rechnerischen Unschärfen seien hinzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Schließlich hat der Sachverständige im Rahmen seiner Analyse der damaligen Marktsituation festgestellt, dass insbesondere auch die Klägerin selbst einem erheblichen Umbruch der Bedingungen des Erdgasmarktes bzw. des Einkaufs von Erdgas und damit der Bezugskostenentwicklung ausgesetzt gewesen sei, was ihr unternehmerische Prognosen und zuverlässige langfristige Planungen erschwert habe, da sie die bisherigen Analysemodelle und Entwicklungsmodelle und Analysewerkzeuge nicht uneingeschränkt weiter habe anwenden können.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Es ist daher nach Auffassung der Kammer, wie die Klägerin selbst auch ausdrücklich vorträgt, nur konsequent, dass diverse Positionen ihrer Jahres- und Tätigkeitsabschlüsse einen erratischen Verlauf aufweisen, wie der Sachverständige feststellt. Insoweit folgte die Klägerin bzw. ihre Spartenentwicklung den Vorgaben des Marktes, was aber (auch) aus rechtlicher Sicht, wie seitens der Kammer bereits hinsichtlich der Festlegung des Betrachtungszeitraums ausgeführt, letztlich hinzunehmen ist. Die Kammer verkennt in diesem Zusammenhang auch nicht, dass gewisse unternehmerische Entscheidungen der Klägerin wie beispielsweise Unternehmenszusammenschlüsse oder Restrukturierungen zumindest langfristig das Ziel einer Senkung der betriebswirtschaftlichen Kosten verfolgt haben, dieses aber ggf. erst nach Ende des Betrachtungszeitraums eingetreten ist. So verhält es sich zur Überzeugung der Kammer etwa bei den von der Klägerin nachvollziehbar dargelegten Personalkosten und den hinsichtlich der Personalstruktur erforderlichen, das Volumen der Spartenkosten insgesamt erhöhenden Einmalaufwendungen, die erst im Rahmen der prognostischen Entwicklung der Folgejahre eine Abschreibung erfahren sollten.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">So bestätigt sich insbesondere auch zur Überzeugung der Kammer das durch den Vortrag der Klägerin gelieferte Bild der Kostenentwicklung, bei der sich bezogen auf die einzelnen Geschäfts- bzw. Gaswirtschaftsjahre zwar Veränderungen auch in deutlich negative Richtung, mithin Kostensenkungen, abzeichnen, diese jedoch im Rahmen der Ausdifferenzierung der jeweils zu den sonstigen Kosten zu zählenden einzelnen Bereiche bzw. Positionen dahingehend aufgezehrt werden, dass eine Gesamtveränderung etwa bei den Personalkosten oder bei sonstigen betrieblichen Aufwendungen jeweils deutliche Kostensteigerungen verzeichnet. Die Zusammenfassung dieser positionsbezogenen Kostenentwicklung führt letztlich nachvollziehbar zu dem von der Klägerin vorgetragenen Ergebnis einer Kostengesamtentwicklung in Gestalt einer Steigerung um rund 5 Mio. Euro über den Gesamtbetrachtungszeitraum. Unter Berücksichtigung des unternehmerischen Ermessens der Klägerin und der nur begrenzt möglichen Prognose hinsichtlich der Kostenentwicklung, die andererseits durch – per se zulässige – unternehmerische Einzelfallentscheidungen dahin intendiert worden ist, dass die entsprechenden Kostenpositionen ggf. auf Jahre im Voraus festgeschrieben werden mussten – so etwa, wie dargestellt, bei den Personalkosten –, erkennt die Kammer auch bei den sonstigen Kosten der Klägerin analog zur Bezugskostenentwicklung bzw. insbesondere zu der Frage eines möglichen Gestaltungsspielraums der Klägerin mit dem Ziel einer Einflussnahme auf eben diese Entwicklung einerseits kein hinreichendes Kompensationspotenzial, andererseits keine offensichtliche unternehmerische Willkür oder eine in dem von dem Sachverständigen C eingangs aufgezeigten Rahmen unvernünftige betriebswirtschaftliche Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">cc)</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von den vorstehenden Feststellungen und Erwägungen beziffert sich die ursprünglich mit 1.338,45 € geltend gemachte Klageforderung im Ergebnis auf noch berechtigte <strong>1.338,44 €</strong>.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin schlüsselt die Klageforderung insoweit auf, als sich ein Teilbetrag von 0,01 € aus der Jahresrechnung 2005 vom 04.08.2006, ein Teilbetrag von 972,39 € aus der Jahresrechnung 2006 vom 12.01.2007 und ein weiterer Teilbetrag von 366,05 € aus der Jahresrechnung 2007 vom 15.01.2008 ergebe.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Der sich auf die Jahresrechnung 2005 stützende Teilbetrag von insgesamt 0,01 € ist damit verjährt, wobei es auf eine genaue Zuordnung der jeweiligen Preisdifferenz zum sog. unstreitigen Sockelbetrag nicht mehr ankommt.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">(3)</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der verbliebenen und nach den vorstehenden Ausführungen der Kammer weiterhin durchsetzbaren Teilforderungen von 972,39 € sowie 366,05 € ergeben sich auch aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 26.03.2021, mit welchem diese unter Anwendung der hier von der Kammer bevorzugten Gesamtbetrachtung ab September 2004 eine Neuberechnung vornimmt, keine abweichenden Gesichtspunkte. Insbesondere führen die darin genannten Abweichungen in bis zu dreistelliger Höhe, soweit sie mögliche Ermäßigungen der Klageforderung beziffern, aufgrund der Kumulation nicht zu einem etwa zugestandenen weiteren Abschlag. Eventuelle Nachzahlungsbeträge aus etwa isoliert zu betrachtender unverjährter Zeit wirken sich wegen § 308 ZPO ebenfalls nicht mehr auf die Klageforderung aus, zumal eine anteilige Umlage auf die mit der Klage lediglich geltend gemachten jährlichen Differenzbeträge nicht vorgenommen wird, sondern die Klägerin ausdrücklich die jeweiligen Gesamtrechnungsbeträge in Bezug nimmt.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">d)</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Der mit der Klage geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB seit dem 09.07.2010.</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Dabei kann sich die Klägerin nicht auf die Rückwirkungsfiktion des § 696 Abs. 3 ZPO berufen. Es fehlt an einer alsbaldigen Abgabe. Denn ausweislich des Verfahrensgangs ist der Widerspruch des Beklagten gegen den Mahnbescheid vom 15.12.2009 am 19.12.2009 bei Gericht eingegangen. Die Abgabe des Verfahrens an das zuständige Prozessgericht erfolgte jedoch erst am 06.07.2010 und zwar allein deshalb, weil eine Vorschusszahlung der Klägerin unterblieb, auf deren Notwendigkeit sie vorher hingewiesen worden war. Vor diesem Hintergrund ist für den Beginn der Rechtshängigkeit auf den Tag des Akteneingangs bei dem Streitgericht abzustellen (vgl. Musielak/Voit, ZPO, § 696 Rn. 4 m. w. N.). Dies war der 08.07.2010.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">3.</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 97 Abs. 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Die Revision war nicht zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Ein Zulassungsgrund im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO ist nicht eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Zwar mag beim vorliegenden Verfahrensgegenstand noch von einer Rechtsfrage mit grundsätzlicher Bedeutung auszugehen sein, da es sich – jedenfalls im Verhältnis des hier betrachteten Verfahrens zum entsprechenden Gesamtbestand – um einen Musterprozess im Hinblick auf allgemeine, eine Vielzahl von Kunden betreffende vertragliche Regelung handelt. Diese Rechtsfrage ist indes nicht mehr klärungsbedürftig.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 23.10.2014 (Az. C-359/11 bzw. C-400/11) hat der Europäische Gerichtshof eine vorangegangene Vorlagefrage des BGH dahingehend beantwortet, dass die bis dahin gültigen und zur Bezugspreisregulierung herangezogenen § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV mit europäischem Gemeinschaftsrecht unvereinbar seien.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 158/11) hat der Bundesgerichtshof infolgedessen eine Grundsatzentscheidung zur Frage des gesetzlichen Preisänderungsrechts eines Gasversorgungsanbieters im Verhältnis zu Tarifkunden getroffen und insbesondere die bis dahin geltenden § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV als mit europäischem Gemeinschaftsrecht unvereinbar und vor diesem Hintergrund für unanwendbar erklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die vorgenannte Norm Grundlage eines vertraglich vereinbarten Preisänderungsrechts des Anbieters – auch der hiesigen Klägerin –, wodurch eine nachträgliche Regelungslücke in den – regelmäßig im Wege der AGB – gestalteten Verträgen auftrat. Im Zuge seines Urteils hat der BGH diese Lücke durch die Anwendung (nationalen) materiellen Rechts geschlossen und dabei insbesondere dem Gasversorger das Recht zugesprochen, eine Preisanpassung im Wege ergänzender Vertragsauslegung, §§ 157, 133 BGB, insoweit vornehmen zu können, als Kostensteigerungen der eigenen Bezugskosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, den Tarifkunden weiterzugeben und in gleichem Maße Kostensenkungen zu berücksichtigen seien, wodurch der insoweit erhöhte Preis zum vereinbarten Preis werde. Eine Anwendbarkeit des § 315 BGB hat der BGH verneint. Den Instanzgerichten hat der BGH insoweit aufgegeben, die Frage, inwieweit Bezugskostensteigerungen vorgelegen haben und im Wege der Preisänderungen tatsächlich umgesetzt und berücksichtigt worden sind, durch eine Beweisaufnahme und Überzeugungsbildung im Sinne der §§ 286, 287 ZPO zu beantworten. Die Kammer ist dem, wie zuvor bereits das Landgericht Bielefeld mit Urteilen v. 17.07.2018, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11, mit den vorstehenden Erwägungen nachgekommen.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 17.11.2017 (Az. 2 BvR 1131/16) hat das Bundesverfassungsgericht eine gegen das vorgenannte Urteil des BGH gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war die Rüge, dass der BGH in dem vorgenannten Urteil selbstständig Unionsrecht zur Anwendung gebracht habe, ohne zuvor seine Vorlagepflicht an den europäischen Gerichtshof zu erfüllen. Die Nichtannahme erfolgte aus verfahrensrechtlichen Gründen, jedoch hat das BVerfG hinsichtlich des vorgenannten Urteils festgestellt, dass eine Verletzung der Vorlagepflicht des BGH aufgrund einer zulässigen Handhabung der entsprechenden unionsrechtlichen Normen nicht angenommen werden könne. Auch hat das BVerfG im Ergebnis bestätigt, dass eine durch die Unanwendbarkeit einer nationalen Vorschrift vor dem Hintergrund von Unionsrecht entstehende Regelungslücke ausschließlich durch Anwendung nationalen Rechts geschlossen werden könne.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Insbesondere mit Urteilen vom 06.04.2016 (Az. VIII ZR 71/10) sowie vom 19.12.2018 (Az. VIII ZR 336/18) hat der BGH seine Rechtsprechung zur materiellrechtlichen Vertragsauslegung sowie der Entbehrlichkeit einer Vorlage an den EuGH erneut bestätigt.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb eine erneute höchstrichterliche Entscheidung über dieselbe Rechtsfrage herbeigeführt werden müsste. Vor diesem Hintergrund ist auch eine Rechtsfortbildung nicht mehr erforderlich, nachdem der BGH eben diese durch die Anwendung der §§ 433, 133, 157 BGB betrieben hat. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung steht ebenfalls nicht zur Disposition, nachdem der BGH seine entsprechende Linie mit weiterem Urteil vom 19.12.2018 bestätigt hat.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 1.338,45 EUR festgesetzt.</p>
346,769
ovgnrw-2022-08-31-16-b-158321
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
16 B 1583/21
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:53"
"2022-10-17T11:10:42"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0831.16B1583.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 21. September 2021 wird zurückgewiesen.</p> <p>Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die dargelegten Gründe beschränkte Überprüfung des angefochtenen Beschlusses führt zu keinem für den Antragsgegner günstigeren Ergebnis.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (Az. 10 K 2646/21) gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 2. August 2021 war hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis (Nr. 1) und hinsichtlich der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins (Nr. 2) wiederherzustellen, weil die im vorliegenden Verfahren vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers ausfällt. Es sprechen gewichtige Gründe dafür, dass seine Klage insoweit Erfolg haben wird, weil die angefochtene Ordnungsverfügung sich hinsichtlich dieser Anordnungen bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist. Der Antragsgegner konnte nicht nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen, weil dieser das unter dem 14. April 2021 angeordnete Gutachten nicht beigebracht hat. Denn der Schluss nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ist nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig ist.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 C 25.04 -, juris, Rn. 19; OVG NRW, Beschlüsse vom 7. März 2019 - 16 E 457/18 -, juris, Rn. 8 f., und vom 25. August 2021 - 16 B 1059/21 -, juris, Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dies ist vorliegend nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner konnte die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gegenüber dem Antragsteller nicht auf § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG stützen. Nach dieser Regelung hat die zuständige Behörde in diesem Fall in der Regel die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung anzuordnen, sobald der Inhaber einer Fahrerlaubnis innerhalb der neuen Probezeit erneut eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen begangen hat. Durch den Einschub „in diesem Fall“ wird auf den vorstehenden Satz Bezug genommen, wonach der Absatz 2 des § 2a StVG nicht anzuwenden ist auf eine mit der Erteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung gemäß Absatz 1 Satz 7 beginnende neue Probezeit. Im Zusammenhang ist die Regelung in § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG demzufolge so zu lesen, dass die zuständige Behörde in der Regel die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung anzuordnen hat, sobald der Inhaber einer Fahrerlaubnis, dessen Fahrerlaubnis zuvor entzogen worden ist, innerhalb der neuen Probezeit erneut eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen begangen hat. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor, weil dem Antragsteller die Fahrerlaubnis nicht entzogen wurde, sondern er freiwillig auf diese verzichtet hat.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Angesichts dieses klaren Wortlauts und des Regelungszusammenhangs in § 2a Abs. 5 StVG ist die Vorschrift keiner erweiternden Auslegung zugänglich.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">A.A. wohl: Hess. VGH, Beschluss vom 18. Dezember 2008 - 2 B 2277/08 -, juris, Rn. 4 ff.; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 27. Januar 2017 - OVG 1 S 69.16 -, juris, Rn. 10 ff.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Regelung in § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners vorliegend auch nicht entsprechend anzuwenden.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die analoge Anwendung der von einer Norm angeordneten Rechtsfolge auf Sachverhalte, die dieser Norm nicht unterfallen, setzt eine planwidrige Regelungslücke voraus. Der Anwendungsbereich der Norm muss wegen eines versehentlichen, mit dem Normzweck unvereinbaren Regelungsversäumnisses des Normgebers unvollständig sein. Eine derartige Lücke darf von den Gerichten im Wege der Analogie geschlossen werden, wenn sich aufgrund der gesamten Umstände feststellen lässt, dass der Normgeber die von ihm angeordnete Rechtsfolge auch auf den nicht erfassten Sachverhalt erstreckt hätte, wenn er diesen bedacht hätte.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 - 2 C 2.13 -, juris, Rn. 17 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Denn es ist nicht festzustellen, dass die dem Wortlaut nach nicht vorgesehene Gleichstellung von Entzug und Verzicht in § 2a Abs. 5 Satz 4 StVG, auf den Satz 5 der Vorschrift verweist, auf einem gesetzgeberischen Versehen beruht.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">So auch: VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Mai 2011 - 6 L 584/11 -, juris, Rn. 6 ff.; VG Koblenz, Beschluss vom 27. März 2020 - 4 L 234/20.KO -, juris, Rn. 17 ff., und Urteil vom 7. April 2022 - 4 K 119/22.KO -, juris, Rn. 24 ff.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 2a StVG Rn. 53; Rebler, DAR 2009, 666; a. A.: VG Mainz, Beschluss vom 18. Januar 2022 - 3 L 5/22.MZ -, juris, Rn. 8 ff.; Trésoret, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. 2022, § 2a StVG Rn. 322 ff.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Bei der in diesem Verfahren nur gebotenen summarischen Prüfung erscheint bereits fraglich, ob überhaupt eine gesetzliche Regelungslücke besteht oder ob in Fällen des vorangegangenen Verzichts einer Fahrerlaubnis eine Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens nach § 2a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 StVG, wenn auch nicht wie bei § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG in der Regel, erfolgen kann, wenn die Gutachtenanordnung nicht bereits auf die allgemeinen Regelungen in § 46 Abs. 3 i. V. m. §§ 11 ff. FeV gestützt werden kann. Nach § 2a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 StVG kann die zuständige Behörde (insbesondere auch) die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung anordnen, wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis innerhalb der Probezeit Zuwiderhandlungen begangen hat, die nach den Umständen des Einzelfalls bereits Anlass zu der Annahme geben, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Ob die Regelung nur eine weitere Klarstellung neben dem ersten Halbsatz („Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 bleibt unberührt“) mit (ggf.) weiteren Voraussetzungen für die Gutachtenanordnung nach den allgemeinen Vorschriften (§ 46 Abs. 3 i. V. m. §§ 11 ff. FeV) beinhaltet oder eine den allgemeinen Regelungen gegenüber eigenständige (ggf. speziellere) Rechtsgrundlage für die Gutachtenanordnung bildet, ist höchstrichterlich nicht geklärt und wird im Übrigen uneinheitlich beantwortet.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. eine selbständige Rechtsgrundlage ablehnend: Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 2a StVG Rn. 47a; Trésoret in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. 2022, § 2a StVG Rn. 290;</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">eine solche annehmend: Bay. VGH, Beschluss vom 14. Februar 2006 - 11 CS 05.1504 - juris, Rn. 38; VG München, Beschluss vom 18. Mai 2005- M 6b S 05.1402 -, juris, Rn. 35, und Urteil vom 11. August 2009 - M 1 K 09.1830 -, juris, Rn. 15; VG Freiburg, Urteil vom 29. Juli 2013 - 4 K 1179/13 -, juris, Rn. 5; Rebler, DAR 2009, 666 (669).</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Für die Annahme, dass § 2a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 StVG eine eigenständige Rechtsgrundlage für eine Gutachtenanordnung darstellt, spricht insbesondere die Regelung in § 11 Abs. 3 Satz 2 FeV, wonach u. a. medizinisch-psychologische Begutachtungen nach § 2a Abs. 4 und 5 und § 4 Abs. 10 Satz 4 StVG von den Ermächtigungen zur Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens in § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV unberührt bleiben. Bei einem solchen Verständnis kann ein Anlass im Sinne der Vorschrift ggf. in einer erneuten schwerwiegenden Zuwiderhandlung bzw. zwei erneuten Zuwiderhandlungen liegen. Denn nach der § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG zugrunde liegenden und ggf. übertragbaren Wertung muss dies nach erfolgter Entziehung der Fahrerlaubnis schon frühzeitig ernsthafte Zweifel an der Kraftfahreignung des Betroffenen auslösen. Für die Frage der Kraftfahreignung macht es insoweit ggf. keinen relevanten Unterschied, ob dem Fahrerlaubnisinhaber die Fahrerlaubnis zuvor entzogen worden ist oder er angesichts einer bevorstehenden Entziehung freiwillig auf diese verzichtet hat, insbesondere, wenn die erneute Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht zielführend ist.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 27. Januar 2017 - OVG 1 S 69.16 -, juris, Rn. 13, 17; Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 5. Dezember 1985, BT-Drs. 10/4490, S. 20 (zu § 2a Abs. 5 StVG).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die zuvor aufgeworfene Frage nach dem Bestehen einer Regelungslücke braucht der Senat aber nicht abschließend zu entscheiden, da eine derartige Lücke, selbst wenn man eine solche annehmen wollte, jedenfalls nicht planwidrig ist.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dies ergibt sich bereits aus der Regelungshistorie des § 2a StVG.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Gesetzgeber hat die Gutachtenanordnung nach vorheriger Entziehung der Fahrerlaubnis in § 2a StVG in den seit Einführung mehr als 35 vergangenen Jahren trotz zahlreicher Änderungen dieser Vorschrift ohne Erweiterung auf Fälle des Verzichts auf die Fahrerlaubnis bestehen lassen, obwohl im Rahmen dieser Änderungen auch im Hinblick auf andere Regelungen eine Gleichstellung von Entziehung der Fahrerlaubnis und Verzicht darauf erfolgt ist.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Mit dem Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Fahrlehrergesetzes vom 13. Mai 1986 (BGBl. I S. 700) wurden mit § 2a StVG Regelungen für den Fall eingeführt, dass Fahranfänger in den beiden ersten Jahren nach Erwerb der Fahrerlaubnis im Straßenverkehr auffällig werden und dadurch vermuten lassen, dass bei ihnen mangelnde Erfahrungsbildung und/oder Risikobereitschaft vorliegen, die auf diesen Gebieten Korrekturen erforderlich machen. Von zentraler Bedeutung ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers dabei die Teilnahme an einem Nachschulungskurs (heute: Aufbauseminar), von der nur diejenigen ausgenommen sein sollen, die aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls schon vor Anordnung einer Nachschulung Zweifel an ihrer Kraftfahreignung auslösen. In diesen Fällen habe die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Eignungsgutachtens anzuordnen und gegebenenfalls die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 2a Abs. 4 StVG). Ausgenommen sei nach § 2a Abs. 5 StVG, der das Verfahren nach verwaltungsbehördlichem oder gerichtlichem Entzug der Fahrerlaubnis regele, ferner auch derjenige, dem bereits die Fahrerlaubnis entzogen worden sei, weil er vor Entziehung oder Neuerteilung bereits an einem Nachschulungskurs habe teilnehmen müssen und erneute Verkehrsverstöße nach bereits einmal erfolgter Entziehung der Fahrerlaubnis schon frühzeitig ernsthafte Zweifel an der Kraftfahreignung des Betroffenen auslösen müssten.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 5. Dezember 1985, BT-Drs. 10/4490, S. 14, 15 und 20.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die diesbezügliche Regelung in § 2a Abs. 5 Satz 3 StVG a. F. (heute: § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG) blieb inhaltlich seitdem im Wesentlichen unverändert und (dem Wortlaut nach) auf Fälle der vorausgehenden Entziehung (auf der Grundlage bestimmter Tatbestände) beschränkt, obwohl der Gesetzgeber zahlreiche Änderungen vorgenommen hat, die zum Teil auch die Gleichstellung des Verzichts mit der Entziehung zum Gegenstand hatten.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Mit dem Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 24. April 1998 (BGBl. I S. 747) etwa erfolgte in § 2a Abs. 5 StVG eine Modifizierung dahingehend, dass vor der Neuerteilung der Fahrerlaubnis auch dann die Teilnahme an einem Aufbauseminar nachzuweisen ist, wenn der Antragsteller nur deshalb nicht an einem angeordneten Aufbauseminar teilgenommen hat oder die Anordnung nur deshalb nicht erfolgt ist, weil er zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet hat (vgl. § 2a Abs. 5 Satz 2 StVG). Ferner wurde hinsichtlich des vorzeitigen Endes der Probezeit und der neuen Probezeit im Umfang der Restdauer der vorherigen nach Neuerteilung der Fahrerlaubnis in § 2a Abs. 1 Sätze 6 und 7 StVG der Verzicht auf die Fahrerlaubnis der vorangegangenen Entziehung gleichgestellt.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es bezüglich dieser Neuregelungen, dass die Regelung in Absatz 1 Satz 6 „klarstellend“ erfolgen solle, nachdem Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe in der Vergangenheit versucht hätten, die Regelungen durch den Verzicht auf die Fahrerlaubnis zu umgehen, da die Regelungen der Fahrerlaubnis auf Probe nach dem Wortlaut in § 2a Abs. 1 StVG nur bei erstmaligem Erwerb der Fahrerlaubnis gelten. Die weitere Regelung wird damit begründet, dass „in Absatz 5 […] ebenfalls der Verzicht auf die Fahrerlaubnis einer Entziehung gleichgestellt“ werde. Habe der Betreffende Zuwiderhandlungen begangen, die zur Anordnung eines Aufbauseminars geführt haben oder geführt hätten, dürfe die Fahrerlaubnis wie bei einer Entziehung erst neu erteilt werden, wenn er an einem Aufbauseminar teilgenommen habe.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 7. Februar 1997, BT-Drs. 13/6914, S. 66 f.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Soweit daraus in der Rechtsprechung zum Teil gefolgert wird, dass die für den Gesetzgeber maßgeblichen Gründe für die Gleichstellung von Entziehung der Fahrerlaubnis und Verzicht auf diese auch bei der Fallgestaltung der Gutachtenanordnung zum Tragen kämen, insbesondere der maßgebliche Gesichtspunkt, dass die Anwendung der für die Entziehung einer Fahrerlaubnis geltenden Regelungen nicht durch einen Verzicht auf die Fahrerlaubnis umgangen werden könnten,</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 18. Dezember 2008- 2 B 2277/08 -, juris, Rn. 6 f.,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">überzeugt dies nicht. Für diese Annahme fehlt es an tragfähigen Anhaltspunkten in der Gesetzesbegründung. Die beabsichtigte Gleichstellung „in Absatz 5“ wird dort durch den Zusatz dahingehend konkretisiert, dass sie sich auf die Teilnahme an einem Aufbauseminar bezieht. Auch die weiteren Ausführungen in der Gesetzesbegründung im Zusammenhang mit den Probezeitregelungen in Absatz 1 des § 2a StVG beziehen sich ausschließlich auf die Dauer der Probezeiten. Sie enthalten weder einen Bezug zu dem hier in Rede stehenden Absatz 5, noch sind sie genereller Natur. Eine Übertragung auf andere Regelungskomplexe kommt daher nicht ohne Weiteres in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Das Argument, dass die Anwendung der für die Entziehung einer Fahrerlaubnis geltenden Regelungen nicht durch einen Verzicht auf die Fahrerlaubnis umgangen werden können solle,</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 18. Dezember 2008- 2 B 2277/08 -, juris, Rn. 7,</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">trägt überdies in der Konstellation der späteren Gutachtenanordnung nicht, weil die Gutachtenanordnung – anders als eine weitere Probezeit oder Teilnahme an einem Aufbauseminar – keine absehbare Maßnahme ist, die durch einen Verzicht auf die Fahrerlaubnis umgangen werden kann. Der Verzicht erfolgt nicht vor der Anordnung des Gutachtens, sondern bereits vor der Neuerteilung der Fahrerlaubnis. Die Gutachtenanordnung setzt nach der Neuerteilung sodann als weiteren Zwischenschritt voraus, dass der Betroffene in der neuen Probezeit erneut eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen begeht. Dieser bei Verzicht auf die Fahrerlaubnis wohl nicht absehbare – jedenfalls nicht regelmäßig eintretende – weitere Umstand als Voraussetzung der späteren Gutachtenanordnung dürfte der Annahme einer (geplanten) Umgehung entgegenstehen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Tragfähige Anhaltspunkte für einen gesetzgeberischen Willen der Gleichstellung des Verzichts und der Entziehung in diesen Fällen finden sich auch in den weiteren Gesetzesänderungen nicht. Durch das Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 19. März 2001 (BGBl. I S. 386) etwa wurde dem Absatz 2a des § 2a StVG der Satz 2 hinzugefügt, wonach die Probezeit sich außerdem um zwei Jahre verlängert, wenn die Anordnung [eines Aufbauseminars] nur deshalb nicht erfolgt ist, weil die Fahrerlaubnis entzogen worden ist oder der Inhaber der Fahrerlaubnis auf sie verzichtet hat. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. Oktober 2000 wird dies wie folgt begründet:</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">„Diese Regelung […] bedarf jedoch insoweit einer Ergänzung, als sie unterlaufen werden kann, weil entweder der Betroffene zwischenzeitlich auf seine Fahrerlaubnis verzichtet hat oder die Fahrerlaubnis aus anderen Gründen (z. B. Alkohol) entzogen wurde. Da in diesen Fällen die Fahrerlaubnis nicht mehr vorhanden ist, kann auch keine Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 2a Abs. 2a ergehen, weil diese Teilnahme den Bestand der Fahrerlaubnis voraussetzt. Es ist jedoch sachlich nicht gerechtfertigt und nicht hinnehmbar, dass in den beiden besagten Fällen die Verlängerung der Probezeit unterbleibt (weil die behördliche Anordnung zur Teilnahme am Aufbauseminar bei Fehlen der Fahrerlaubnis nicht möglich ist).“</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 14/4304, S. 10.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Damit beruhte die Ergänzung auf dem Aspekt des Nichtinnehabens einer Fahrerlaubnis, ohne dass der Grund hierfür von Bedeutung wäre. Auf eine vom Gesetzgeber tatsächlich gewollte, lediglich unvollständig umgesetzte generelle Gleichstellung des Verzichts auf die Fahrerlaubnis und deren Entziehung lässt dies nicht, jedenfalls nicht zwingend schließen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Angesichts dieser – exemplarisch dargestellten – Regelungshistorie spricht nichts dafür, dass es der Gesetzgeber versehentlich versäumt hat, den Verzicht auf die Fahrerlaubnis mit deren Entziehung in § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG gleichzustellen.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Es fehlt auch an der weiter erforderlichen vergleichbaren Interessenlage in allen Fällen des Verzichts. Selbst wenn man für Fälle der Umgehung der Entziehung eine solche annähme, wären bei einer analogen Anwendung von § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG sämtliche Fälle des Verzichts auf die Fahrerlaubnis erfasst, also auch solche, in denen der Betroffene nicht zuvor die erste und zweite Maßnahmenstufe des § 2a Abs. 2 StVG durchlaufen hat. Eine vergleichbare Interessenlage ist in diesen Konstellationen jedoch nicht zu erkennen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Mai 2011 - 6 L 584/11 -, juris, Rn. 15; VG Koblenz, Beschluss vom 27. März 2020 - 4 L 234/20.KO -, juris, Rn. 19.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Gutachtenanordnung erweist sich auch nicht als rechtmäßig, weil der Antragsgegner sie ggf. auf eine andere Rechtsgrundlage hätte stützen können. Denn es kommt nach der Rechtsprechung des Senats darauf an, ob die Voraussetzungen der in der Gutachtenanordnung ausdrücklich genannten Rechtsgrundlage vorliegen,</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. September 2018- 16 B 96/18 -; so auch: Bay. VGH, Beschluss vom 24. August 2010 - 11 CS 10.1139 -, juris, Rn. 55 ff.; Nds. OVG, Beschluss vom 26. September 2019- 12 ME 141/19 -, juris, Rn. 11; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 11 FeV Rn. 44; a. A. (wohl) OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 27. Januar 2017 - OVG 1 S 69.16 -, juris, Rn. 13, 16 f.; offengelassen: BVerwG, Urteil vom 7. April 2022 - 3 C 9.21 -, juris, Rn. 56,</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">was hier für die ausschließlich benannte Rechtsgrundlage des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG nicht der Fall ist.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Denn die Pflicht, eine Gutachtenanforderung zu begründen, dient u. a. dazu, dem Adressaten ein Urteil darüber zu ermöglichen, ob das behördliche Verlangen mit der Rechtsordnung in Einklang steht oder ob er die Gutachtenvorlage verweigern darf, ohne befürchten zu müssen, dass ihm die Fahrerlaubnis unter Berufung auf § 11 Abs. 8 FeV entzogen wird. Diesen Zweck vermag die Begründung der Gutachtenanforderung nur zu erfüllen, wenn sich der Adressat auf die darin enthaltenen Angaben verlassen kann. Das gilt umso mehr, als ihm kein rechtliches Mittel zur Verfügung steht, um die Berechtigung der Gutachtenanforderung vor dem Erlass einer Entziehungsverfügung gerichtlich klären zu lassen. Die Anforderungen an eine formell und materiell rechtmäßige Aufforderung können – abgesehen von Fällen offensichtlicher Unrichtigkeiten wie etwa bei Schreibfehlern (vgl. entsprechend § 42 VwVfG NRW) – nicht durch Überlegungen des Inhalts relativiert werden, der Betroffene werde schon wissen, worum es gehe. Der Fahrerlaubnisinhaber ist insbesondere nicht gehalten, nach Vorschriften zu suchen, die fehlerhaft begründetes behördliches Handeln zu seinen Lasten doch noch rechtfertigen könnten.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. September 2014 - 16 B 912/14 -, juris, Rn. 13 (zur Unbeachtlichkeit von Schreibfehlern); Bay. VGH, Beschlüsse vom 24. August 2010 - 11 CS 10.1139 -, juris, Rn. 60, und vom 25. Juni 2020 - 11 CS 20.791 -, juris, Rn. 31;Schl.-H. VG, Gerichtsbescheid vom 14. Oktober 2014 - 3 A 254/13 -, juris, Rn. 22 f.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. November 2020 - 6 L 1742/20 -, juris, Rn. 23; VG Köln, Beschluss vom 9. Juli 2021- 6 L 765/21 -, juris, Rn. 33, jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Nach alledem ist auch gegen den Ausspruch zur Herausgabe des Führerscheins an den Antragsteller nichts zu erinnern.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,718
vg-gelsenkirchen-2022-08-31-6-k-222821
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6 K 2228/21
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-27T10:01:34"
"2022-10-17T11:10:34"
Urteil
ECLI:DE:VGGE:2022:0831.6K2228.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks H.      X.   .. (Gemarkung T.    , Flur , Flurstück ….) in T.    . Das rund vierzehn Meter breite und rund siebzig Meter tiefe Grundstück ist mit einem Wohnhaus bebaut, dessen Vorderwand in einem Abstand von rund fünf Metern zur Straße aufsteht und dessen Rückwand eine Tiefe von etwa siebzehn Metern erreicht. Hinter dem Haus befanden sich lange Zeit zwei Garagengebäude, die kürzlich abgebrochen worden sind. In der Umgebung finden sich praktisch ausschließlich Wohngebäude. Diese sind zumeist straßennah angeordnet. Die Wohnhäuser H.      X.   … und … bis … sowie das Wohnhaus Im H1.      H2.     … sind allerdings in zweiter Reihe und in einem größeren Abstand zur Straße (Hauptstrang) angeordnet. Das Grundstück des Klägers liegt nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der Flächennutzungsplan stellt Wohnbaufläche dar.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Weitere Einzelheiten der Umgebung zeigt der nachfolgende Kartenausschnitt:</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">An dieser Stelle befindet sich in der Originalentscheidung eine Skizze</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 20. April 2020 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erteilung eines planungsrechtlichen Bauvorbescheides. Geplant ist die Errichtung eines zweigeschossigen Wohnhauses mit Satteldach (40°) und einer Grundfläche von 13 x 7,5 Metern. Das Gebäude soll mit seiner Vorderwand rund 40 Meter von der Straße entfernt aufstehen; die Rückwand soll sich etwa 53 Meter von der Straße entfernt befinden.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Unter dem 30. April 2020 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten negativen Bescheidung der Voranfrage an und erklärte zur Begründung, das Bauvorhaben füge sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche, namentlich der Bebauungstiefe, nicht in die nähere Umgebung ein.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach erfolglosen Einigungsgesprächen der Beteiligten wandte sich der Vater des Klägers in einer Stellungnahme vom 15. Dezember 2020 an die Beklagte und erklärte, in der Umgebung finde sich durchaus eine entsprechende Hinterlandbebauung, nämlich auf den Grundstücken H.      X.   … und … bis … sowie Im H1.      H2.     …. Die Behörde habe die Umgebung viel zu eng eingegrenzt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Bauvorbescheid vom 5. Mai 2021 stellte die Beklagte fest, dass das geplante Vorhaben unzulässig ist. Zur Begründung führte die Behörde aus, als prägende Umgebung seien vorliegend nur das Geviert Im H1.      H2.     .. bis .., H.      X.   .. bis .. und J.  C.    .. bis .. / .. bis .. sowie die Gebäude H.      X.   .. bis .. und B.  X1.          .. einzubeziehen. Auf allen Grundstücken in diesem Bereich seien die Gebäude mehr oder weniger straßennah errichtet; eine Hinterlandbebauung finde sich nicht. Daher füge sich das geplante Vorhaben, das in zweiter Reihe errichtet und mit dem eine erhebliche Bebauungstiefe erreicht werden solle, nicht in die maßgebliche Umgebung ein und löse bodenrechtliche Spannungen aus. Zudem werde mit Blick auf die Zufahrt, die Stellplätze und den rückwärtigen Ruhebereich im Allgemeinen das Gebot der Rücksichtnahme verletzt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">B.  1. Juni 2021 hat der Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er ausführt: Das Baugrundstück liege im unbeplanten Innenbereich und füge sich in den Rahmen der Umgebungsbebauung ein. Die Betrachtung dürfe insoweit nämlich nicht auf das konkrete Straßengeviert beschränkt werden. Auch die unmittelbar gegenüber liegende Bebauung mit den Wohngebäuden … sowie … bis … und das Grundstück J.  H1.      H2.     ../… seien vielmehr in die Betrachtung einzubeziehen und taugten als Vorbild für eine entsprechende Bebauung in zweiter Reihe. Auch werde die städtebauliche Harmonie durch das Vorhaben nicht beeinträchtigt. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot scheide ebenfalls aus, zumal keine Stellplätze in unmittelbarer Nähe des geplanten Wohnhauses angeordnet werden müssten.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt (schriftsätzlich) sinngemäß,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Mai 2021 zu verpflichten, die Bauvoranfrage für die Errichtung eines Wohnhauses auf dem hinteren Teil des Grundstücks H.      X.   … in ….. T.    , Gemarkung T.    , Flur .., Flurstück …., positiv zu bescheiden.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt (schriftsätzlich) sinngemäß,</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Sie wiederholt und vertieft die Begründung ihres Ablehnungsbescheides.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Einzelrichter hat am 25. August 2022 einen Ortstermin durchgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Gericht entscheidet gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) im schriftlichen Verfahren, nachdem die Beteiligten im Ortstermin auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid der Beklagten vom 5. Mai 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO); der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung des beantragten positiven Bauvorbescheides.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ein positiver Bauvorbescheid ist gemäß § 77 Abs. 1 i.V.m. § 74 Abs. 1 Bauordnung (BauO) NRW 2018 zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. Der Errichtung des geplanten Wohnhauses steht jedoch das Bauplanungsrecht entgegen. Denn mit einer Bebauungstiefe von rund 53 Metern geht das geplante Gebäude deutlich über das zulässige Maß hinaus.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Soll ein Vorhaben – wie vorliegend – innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils verwirklicht werden, so ist es gemäß § 34 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) dann zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Maßstabsbildend im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist die Umgebung, soweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und soweit sie ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. Die Grenzen der „näheren Umgebung“ lassen sich dabei nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. Die maßgebliche Umgebung ist im Übrigen für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen. Denn die Merkmale, nach denen sich ein Vorhaben in die Eigenart dieser näheren Umgebung einfügen muss, sind jeweils unabhängig voneinander zu prüfen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 2014 - 4 B 38.13 -, juris (Rn. 7), mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Mit dem in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verwendeten Begriff der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, ist die konkrete Größe der Grundfläche der baulichen Anlage und ihre räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung gemeint. Zur näheren Konkretisierung kann insoweit auf die Begriffsbestimmungen in § 23 Baunutzungsverordnung (BauNVO) zurückgegriffen werden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 16. Juni 2009 - 4 B 50.08 -, juris (Rn. 6), und vom 13. Mai 2014 - 4 B 38.13 -, juris (Rn. 8); OVG NRW, Beschluss vom 14. Dezember 2020 - 2 A 1585/20 -, juris (Rn. 10).</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die überbaubare Grundstücksfläche kann gemäß § 23 Abs. 4 BauNVO unter anderem durch Festsetzung der Bebauungstiefe bestimmt werden. Die Bebauungstiefe ist dabei von der tatsächlichen Straßengrenze zu ermitteln. "Tatsächliche Straßengrenze" in diesem Sinne ist die Grenze der als Erschließungsanlage gewählten öffentlichen Straße.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. August 2019 - 4 B 1.19 -, juris (Rn. 6); OVG NRW, Beschluss vom 14. Dezember 2020 - 2 A 1585/20 -, juris (Rn. 12).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Ob die rückwärtige Bebauung eines Grundstücks zulässig ist, hängt insoweit im Wesentlichen davon ab, in welchem Umfang die den Maßstab bildenden umliegenden Grundstücke eine rückwärtige Bebauung aufweisen.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Bezüglich des Merkmals der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, ist die nähere Umgebung im Regelfall enger zu bemessen als zum Beispiel bei dem Merkmal der Art der baulichen Nutzung, da die von den überbauten Grundstücksflächen ausgehende Prägung in ihrer Reichweite im Allgemeinen hinter der von der Art der baulichen Nutzung ausgehenden Wirkung zurückbleibt.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. August 2014 - 7 A 2666/12 -, juris (Rn. 73), und Beschluss vom 26. Januar 2022 - 7 A 654/21 -, juris (Rn. 4).</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Andererseits ist die Betrachtung nicht zwangsläufig auf den Straßenzug oder das Straßengeviert beschränkt, in dem das Vorhaben verwirklicht werden soll. Vielmehr kann im Einzelfall auch von einer Bebauung jenseits des Gevierts ein Einfluss auf das Vorhabengrundstück ausgehen, das heißt diese den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägen und beeinflussen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. Dezember 2021 - 2 A 2780/20 -, juris (Rn. 15).</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Grundsätzen wird die maßgebliche Umgebung vorliegend in erster Linie von den Gebäuden H.      X.   .. bis .., J.  H1.      H2.     .. bis .. und J.  C.    .. bis .. gebildet. Da diese Gebäude auf der rückwärtigen Seite recht nah zu einander stehen, kann eine wechselseitige Prägung ohne weiteres angenommen werden. Je weiter eines dieser Grundstück im rückwärtigen Bereich bebaut wird, desto näher rückt es an die Nachbargrundstücke heran und vermag deren bodenrechtliche Situation zu beeinflussen. Und auch eine weitere Bebauung des Grundstücks des Klägers wirkt sich unmittelbar auf die genannten Grundstücke aus, weil die bislang unbebaute Freifläche im Kern des Blocks reduziert wird und die damit verbundene Verdichtung den Charakter aller Grundstücke des Blocks verändert.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ob in die prägende Umgebung – wie die Beklagte meint – auch die Gebäude J.  C.    .. bis .. und .., B.  X1.          .. und H.      X.   .. bis .. einzubeziehen sind, kann offen bleiben. Denn keines dieser Gebäude taugt als Vorbild für eine Hinterlandbebauung mit einer Tiefe von vierzig bis fünfzig Metern.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Gebäude H.      X.   … und – sofern es sich bei dem Stichweg auf dem Flustück …. nicht um einen öffentlichen X.   handelt – … bis … wären mit ihrer Tiefe von bis zu siebzig Metern ab dem H1.      X.   (Hauptstrang) zwar einschlägige Vorbilder für das streitgegenständliche Vorhaben. Sie gehören aber aus Sicht des Gerichts nicht zur maßgeblichen Umgebung. Zwischen dem Baugrundstück und diesen Gebäuden befindet sich nicht nur der Grüne X.   , sondern auch die in erster Reihe aufstehenden Wohnhäuser H.      X.   .. bis … Eine wechselseitige Beeinflussung der Hinterlandbebauung östlich des H1.      Weges und der zur Bebauung anstehenden Fläche liegt schon deshalb wenig nahe. Hinzu kommt, dass die genannten Gebäude das Ergebnis einer anders gearteten Bebauungsstruktur östlich des H1.      Weges sind. Wegen der weiter östlich verlaufenden Bundesstraße, welche zur Erschließung von Einzelgrundstücken nicht geeignet ist, bestand in dem fraglichen Bereich nur die Möglichkeit, das Hinterland vom H1.      X.   aus zu erschließen. Zugleich stößt eine auf diese Weise erschlossene Bebauung hier auf keinerlei Probleme, weil sie rückwärtig an die Bundesstraße angrenzt, welche den Block hier nach Osten abschließt. Mit dieser Sondersituation ist die Lage in dem durch die Straßen J.  C.    , H.      X.   und J.  H1.      H2.     gebildeten Block nicht vergleichbar. Eine wechselseitige Prägung ist auch aus diesem H2.     nicht anzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das von dem Kläger angeführte Wohnhaus J.  H1.      H2.     … taugt schon deshalb nicht als Vorbild für das streitgegenständliche Bauvorhaben, weil dieses Gebäude nur eine Bebauungstiefe von rund 43 Metern erreicht und damit rund zehn Meter hinter dem geplanten Wohnhaus des Klägers zurückbleibt. Unabhängig davon zählt aber auch dieses Gebäude nicht zu der das Baugrundstück prägenden Umgebungsbebauung, weil man auch hier eine Sondersituation vorfindet. Wegen seiner Lage an dem Bogen, den die Straße an dieser Stelle beschreibt, hat das Grundstück einen Zuschnitt, der sich von den anderen Grundstücken in der Umgebung unterscheidet. Zugleich grenzt das Grundstück mit seiner Rückseite an die hier verlaufende Bahntrasse, welche die Bebauung nach Westen abschließt. Eine Beeinflussung rückwärtig angrenzender Wohngrundstücke ist damit auch hier ausgeschlossen. Mit dieser besonderen Situation ist das Grundstück des Klägers nicht vergleichbar.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger im Ortstermin noch auf die Bebauung nördlich seines Grundstücks und der Straße J.  H1.      H2.     hingewiesen hat, ist festzustellen, dass sich in den mit Wohngebäuden bebauten Teilen dieses Bereichs ebenfalls kein Vorbild für eine Bebauungstiefe von 53 Metern findet. Etwas anders gilt lediglich für den nordwestlichen Bereich des Blocks, der allerdings mit seinen großflächigen Gewerbebetrieben einer ganz anderen Bebauungsstruktur folgt. Das Gericht ist im Übrigen der Auffassung, dass hinsichtlich des Merkmals „überbaubare Grundstücksfläche“ der gesamte Block nicht zur näheren Umgebung des Baugrundstücks im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB gehört, weil sich eine wechselseitige Prägung hinsichtlich dieses Merkmals nicht feststellen lässt.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Das streitgegenständliche Bauvorhaben, das nach alledem mit seiner Bebauungstiefe den Rahmen der näheren Umgebung überschreitet, ist auch nicht ausnahmsweise zulässig, weil keinerlei städtebauliche Spannungen entstehen könnten. Allerdings können Vorhaben, die den durch die Umgebung gesetzten Rahmen nicht einhalten, im Einzelfall gleichwohl dem Erfordernis des Einfügens im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB genügen, wenn sie im Verhältnis zur Umgebung keine bewältigungsbedürftigen Spannungen begründen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -, juris (Rn. 47), und vom 5. Dezember 2013 - 4 C 5.12 -, juris (Rn. 17); OVG NRW, Beschluss vom 1. Dezember 2010 - 7 A 2904/09 -, juris (Rn. 12).</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Dies lässt sich vorliegend schon angesichts der Enge in dem fraglichen Bereich nicht annehmen. Eine weitere Verdichtung hat hier – wie bereits aufgezeigt – Folgen für alle Grundstücke des Blocks und bedarf der planerischen Ordnung.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">1.              ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">2.              die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">3.              die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">4.              das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">5.              ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
346,620
vg-koln-2022-08-31-15-l-131822
{ "id": 844, "name": "Verwaltungsgericht Köln", "slug": "vg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
15 L 1318/22
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-20T10:01:49"
"2022-10-17T11:10:18"
Beschluss
ECLI:DE:VGK:2022:0831.15L1318.22.00
<h2>Tenor</h2> <ul class="ol"><li><p>1. Der Antrag wird abgelehnt.</p> </li> </ul> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <ul class="ol"><li><p>2. Der Wert des Streitgegenstands wird auf die Wertstufe bis 25.000 Euro festgesetzt.</p> </li> </ul><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO aufzugeben, den regulär mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze zum 01.10.2022 beginnenden Ruhestand der Antragstellerin bis zum 01.01.2023 hinauszuschieben,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt in beiden Fällen voraus, dass der zu Grunde liegende materielle Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht sind (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 294, 920 Abs. 2 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon ist der Antrag unbegründet. Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der von ihr geltend gemachte Anspruch, ihren mit Ende des Monats September 2022 kraft der Regelungen in § 51 Abs. 1 und 2 Bundesbeamtengesetz (BBG) wegen Erreichens der Altersgrenze erfolgenden Eintritt in den Ruhestand hinauszuschieben, steht ihr offenkundig nicht zu. Nach § 53 Abs. 1 BBG kann der Eintritt in den Ruhestand auf Antrag der Beamtin zwar bis zu drei Jahre hinausgeschoben werden. Ein solcher Antrag ist nach § 53 Abs. 1 Satz 2 BBG jedoch spätestens sechs Monate vor dem Eintritt in den Ruhestand zu stellen. Diese Antragsfrist hat die Antragstellerin – unstreitig – nicht eingehalten. Das, was sie zur Begründung ihrer Rechtsauffassung vorträgt, diese Fristversäumnis könne ihr nicht entgegengehalten werden, greift insgesamt nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ohne tatsächliche Grundlage ist zunächst die Behauptung der Antragstellerin, die Antragsgegnerin habe die Umstände geschaffen, die zu der Verfristung geführt haben. Insofern macht die Antragstellerin geltend, ihr im Zuge einer In-sich-Beurlaubung im Jahr 2016 abgeschlossener Arbeitsvertrag habe eine Laufzeit bis zum 26. April 2026 und damit über das Erreichen der beamtenrechtlichen Regelaltersgrenze hinaus. Inwiefern die Antragsgegnerin damit Umstände geschaffen haben soll, die zu der Verfristung geführt haben, erschließt sich schon deswegen nicht, weil der Antragstellerin nach ihren Angaben in dem Verlängerungsantrag vom 20. Juni 2022 bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrags und auch in der Folgezeit bewusst war, dass die Vertragslaufzeit über den Zeitpunkt des Erreichens der Regelaltersgrenze hinaus geht. Dies ist nach ihren Angaben in Gesprächen mit Vorgesetzten auch „[s]pätestens ab dem Jahr 2021 […] immer wieder thematisiert worden“. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf eine zeitliche Parallelität von Vertragslaufzeit und Erreichen der Regelaltersgrenze, das sie von einer rechtzeitigen Antragstellung hätte abhalten können, bestand bei der Antragstellerin demgemäß nicht. Hinzu kommt, dass das Arbeitsverhältnis nach § 6 des Arbeitsvertrags mit dem Ende der In-sich-Beurlaubung endet. Der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses hing also erkennbar vom Fortbestand des Beamtenverhältnisses ab, nicht umgekehrt. Vor diesem Hintergrund greift auch der weitere Einwand der Antragstellerin nicht durch, ihr sei erstmalig in einem Personalgespräch am 14. Juni 2022 bewusstgemacht worden, dass die In-sich-Beurlaubung enden werde. Der Antragstellerin war stets bekannt, wann sie infolge des Erreichens der Regelaltersgrenze in den Ruhestand eintreten würde. Schon deswegen bedurfte es keines früheren Hinweises der Antragsgegnerin.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet all dessen hätte im Übrigen auch ein etwaiges Vertrauen der Antragstellerin auf einen Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses über den Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand mit Erreichen der beamtenrechtlichen Regelaltersgrenze hinaus nicht dazu führen können, dass in ihrem Fall die gesetzliche Antragsfrist des § 53 Abs. 1 Satz 2 BBG unbeachtlich wäre.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg macht die Antragstellerin zudem geltend, die Antragsgegnerin habe sich „aus freien Stücken“ der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit begeben, sich auf die Antragsfrist zu berufen, indem sie den Verlängerungsantrag mit dem Ausgangsbescheid vom 7. Juli 2022 auf der Grundlage einer inhaltlichen Prüfung abgelehnt und sich erstmalig im Widerspruchsbescheid auf eine Verfristung berufen habe. § 53 Abs. 1 Satz 2 BBG solle der Personalverwaltung Zeit zu einer inhaltlichen Prüfung des Antrags verschaffen, welche hier möglich gewesen sei.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Das greift, worauf die Antragsgegnerin zu Recht hinweist, schon deswegen nicht durch, weil die maßgebliche behördliche Entscheidung der Ausgangsbescheid in jener Gestalt ist, die er durch den Widerspruchsbescheids erhalten hat (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Abgesehen davon trifft es auch nicht zu, dass § 53 Abs. 1 Satz 2 BBG eine Prüffrist normiert. Vielmehr dient die Norm der Planungssicherheit des Dienstherrn.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Beck’scher Online-Kommentar zum Beamtenrecht Bund, § 53 BBG, Rn. 11, mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Dieser soll durch eine frühzeitige Antragstellung in die Lage versetzt werden, rechtzeitig personalwirtschaftliche Maßnahmen planen und umsetzen zu können und entsprechende Dispositionen zu treffen. Dass dieses gesetzgeberische Ziel hier verfehlt würde, wenn man die Frist des § 53 Abs. 1 Satz 2 BBG für unbeachtlich hielte, zeigt sich auch an dem Umstand, dass die von der Antragstellerin wahrgenommene Stelle bereits am 20. Juni 2022 ausgeschrieben worden ist; ihr Verlängerungsantrag ging indes erst tags darauf (per E-Mail) ein.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1, Satz 4 Gerichtskostengesetz unter Zugrundelegung des Endgrundgehalts in der Besoldungsgruppe A 9 im Jahr 2022. Von einer Reduzierung des Streitwerts wegen des nur vorläufigen Charakters des Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sieht das Gericht im Hinblick darauf ab, dass das Begehren der Antragstellerin auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
346,597
ovgnrw-2022-08-31-4-a-118819
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
4 A 1188/19
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:08"
"2022-10-17T11:10:14"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0831.4A1188.19.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 13.2.2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Sein Vorbringen weckt keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.10.2020 – 2 BvR 2426/17 –, juris, Rn. 34, m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 – 7 AV 4.03 –, juris, Rn. 9.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem Antrag, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 3.4.2018 zu verpflichten, ihm einen neuen Bezirksschornsteinfeger für die Liegenschaft M.----weg 5 in Q.       zuzuweisen, abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Verpflichtungsklage sei bereits unzulässig, weil der Kläger nicht klagebefugt sei. Für sein Begehren gebe es keine denkbare – geschweige denn drittschützende – Rechtsgrundlage. Das Schornsteinfeger-Handwerksgesetz sehe weder eine Anspruchsnorm vor, wonach ein Betroffener die Zuweisung eines anderen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers begehren könne, noch bestehe eine entsprechende Befugnis für den Beklagten. Die Regelungen des Schornsteinfeger-Handwerksgesetzes beruhten auf dem Grundsatz der Einheit des Kehrbezirks. Die begehrte liegenschaftsbezogene Einzelzuweisung, die denknotwendig zuvor eine (teilweise) Aufhebung der Zuständigkeitsbegründung voraussetze, sehe das Gesetz nicht vor. Die Aufhebung der Bestellung als bevollmächtigter Bezirksschornsteinfeger sei zwar in § 12 SchfHwG geregelt; diese führe jedoch nur zu einer Aufhebung für den gesamten Bezirk. Eine Einzelzuweisung lasse sich auch nicht aus den aufsichtsrechtlichen Befugnissen herleiten, die im Übrigen keinen drittschützenden Charakter zugunsten des Klägers aufwiesen. Eine derartige Aufsichtsmaßnahme stehe der Aufsichtsbehörde nicht zur Verfügung. Die (teilweise) Aufhebung des Kehrbezirks als Aufsichtsmaßnahme stünde in offenem Widerspruch zu den Regelungen der §§ 7 ff. SchfHwG.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts ist nicht ernstlich zweifelhaft. Der Kläger ist nicht klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch das streitgegenständliche Verhalten der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt zu sein. Das ist dann der Fall, wenn nach dem tatsächlichen Klagevorbringen eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers möglich erscheint. Dies ist bereits dann anzunehmen, wenn eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.1.1991 – 1 BvR 207/87 –, BVerfGE 83, 182 = juris, Rn. 44, 48 f.; BVerwG, Urteil vom 10.7.2001 – 1 C 35.00 –, BVerwGE 114, 356 = juris, Rn. 15; OVG NRW, Urteil vom 19.3.2019 – 4 A 1361/15 –, juris, Rn. 91 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Da der Kläger nicht Adressat des von ihm begehrten Verwaltungsakts – der Bestellung eines neuen für ihn zuständigen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers – ist, kommt es darauf an, ob er sich für sein Begehren auf eine öffentlich-rechtliche Norm stützen kann, die nach dem in ihr enthaltenen, durch Auslegung zu ermittelnden Entscheidungsprogramm für die Behörde auch ihn als Dritten schützt.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 10.10.2002 – 6 C 8.01 –, BVerwGE 117, 93 = juris, Rn. 15, und vom 3.8.2000 – 3 C 30.99 –, BVerwGE 111, 354 = juris, Rn. 18, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Subjektive Rechte vermitteln solche Normen, die nicht ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit dienen, sondern zumindest auch dem Schutz individueller Rechte. In diesem Sinn drittschützend ist eine Norm, die das geschützte Recht sowie einen bestimmten und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen lässt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 11.10.2016 – 2 C 11.15 –, BVerwGE 156, 180 = juris, Rn. 27, und vom 10.4.2008 – 7 C 39.07 –, BVerwGE 131, 129 = juris, Rn. 19; OVG NRW, Urteil vom 11.12.2019 – 4 A 738/18 –, juris, Rn. 45, und Beschluss vom 15.4.2021 – 4 E 932/19 –, juris, Rn. 6 f.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Diese Maßstäbe zugrunde gelegt fehlt dem Kläger die Klagebefugnis, weil die aufgezeigten Voraussetzungen offensichtlich und eindeutig nicht gegeben sind. Der Kläger begehrt sinngemäß die Aufhebung der Bestellung des bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers jedenfalls bezogen auf seine Liegenschaft und Bestellung eines neuen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers. Ein solcher Anspruch besteht offensichtlich und eindeutig nicht. Weder lässt sich eine mögliche Anspruchsgrundlage § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 VwVfG NRW entnehmen (hierzu unter 1.) noch kann der Kläger sein Begehren auf aufsichtsrechtliche und andere Normen des Schornsteinfeger-Handwerksgesetzes (hierzu unter 2.) oder auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit den Grundsätzen zur Selbstbindung der Verwaltung (hierzu unter 3.) stützen. Auch eine Berufung auf Art. 13 GG kommt zur Anspruchsbegründung nicht in Betracht (hierzu unter 4.).</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">1. Der Kläger kann sein Begehren – was höchstrichterlich geklärt ist – nicht aus § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwVfG NRW herleiten. Danach darf in einem Verwaltungsverfahren für eine Behörde nicht tätig werden, wer selbst Beteiligter ist. Einem Anspruch auf Feststellung eines Mitwirkungsverbots steht hier nicht nur entgegen, dass § 20 VwVfG NRW kein formelles Ablehnungsrecht vermittelt und die Entscheidung über die Mitwirkung eines Amtswalters als vorbereitende Verfahrenshandlung nur mit der Entscheidung selbst angefochten werden kann (§ 44a VwGO). Auch ist der Anwendungsbereich der Norm hier schon nicht eröffnet, weil der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfeger nicht Beteiligter ist, sondern selbst Behörde. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfeger eine Doppelstellung einnimmt: Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 SchfHwG gehört er als Gewerbetreibender dem Schornsteinfegerhandwerk an, nimmt aber bei der Feuerstättenschau (§ 14 Abs. 1 SchfHwG), anlassbezogenen Überprüfungen (§ 15 SchfHwG) und den ihm nach § 16 SchfHwG obliegenden weiteren Aufgaben öffentliche Aufgaben wahr und ist als solcher Behörde (vgl. § 1 Abs. 2 VwVfG NRW). Eine Behörde ist kein Beteiligter im Sinne von § 13 VwVfG NRW, sondern Trägerin des Verwaltungsverfahrens.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 17.12.2015 – 7 C 5.14 –, BVerwGE 153, 367 = juris, Rn. 24, und vom 7.11.2012 – 8 C 28.11 – BVerwGE 145, 67 = juris, Rn. 15, 17 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfeger steht auch nicht nach § 20 Abs. 1 Satz 2 VwVfG NRW einem Beteiligten gleich. Zum einen kennt die Rechtsordnung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine „institutionelle Befangenheit“ einer Behörde. Zum anderen besteht für eine Gleichstellung des bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers mit einem Beteiligten nach § 20 Abs. 1 Satz 2 VwVfG NRW – selbst unter Berücksichtigung seiner Doppelstellung als Behörde und als eine das Schornsteinfegerhandwerk gewerblich betreibende Person – auch aus gesetzessystematischen Gründen und im Hinblick auf die Regelungsziele des Schornsteinfeger-Handwerksgesetzes kein Anlass. Der Gesetzgeber hat das Risiko einer möglichen Amtsausübung zugunsten eigener Interessen erkannt und dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger in § 18 Abs. 1 SchfHwG die Berufspflicht auferlegt, seine Aufgaben und Befugnisse unparteiisch zu erfüllen. Daraus folgt das Verbot, seine Stellung auszunutzen, um andere Schornsteinfeger oder sonstige Gewerbetreibende im Wettbewerb zu behindern. Einem Verstoß kann mit Aufsichtsmaßnahmen und in schweren Fällen mit der Aufhebung der Bestellung begegnet werden. Nach der gesetzlichen Konzeption wird der Problematik unparteiischer Amtsausübung daher nicht durch den Ausschluss des betroffenen Bezirksschornsteinfegers aus dem Verwaltungsverfahren, sondern durch insbesondere mit disziplinarischen Mitteln durchsetzbare Berufspflichten Rechnung getragen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2015 – 7 C 5.14 –, BVerwGE 153, 367 = juris, Rn. 25 f., m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 12.6.2020 – 4 B 462/20 –, juris, Rn. 11 f.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">2. Der Kläger hat als Dritter offensichtlich auch keinen Anspruch gegen den Beklagten auf eine bestimmte Aufsichtsmaßnahme oder auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über ein etwaiges Einschreiten gegen einen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger gemäß § 21 Abs. 3 SchfHwG. Erfüllen bevollmächtigte Bezirksschornsteinfeger die ihnen nach dem Schornsteinfeger-Handwerksgesetz auferlegten Aufgaben und Pflichten nicht oder nicht ordnungsgemäß, kann danach einem Verstoß mit Aufsichtsmaßnahmen begegnet werden. Auf sich beruhen kann in diesem Zusammenhang, ob die Aufsichtsbehörde über die in § 21 Abs. 3 SchfHwG genannten Maßnahmen hinaus einen nicht unzuverlässigen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger – bei fortbestehender Bestellung – in begründeten Einzelfällen mit weniger einschneidenden Mitteln zur ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung anhalten und ihm etwa die Weisung erteilen kann, sich bei der Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben durch einen sonstigen Beauftragten im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 1 SchfHwG vertreten zu lassen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. ähnlich noch zur alten Rechtslage VG Göttingen, Urteil vom 3.9.1997 – 1 A 1280/95 –, juris, Rn. 27 f.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Aufsicht dient nämlich grundsätzlich nicht der Wahrung individueller Belange, sondern nur dem öffentlichen Interesse.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Beschluss vom 7.7.2021 ‒ AnwZ 1/21 ‒, juris, Rn. 15, unter Bezugnahme auf BVerwG, Beschluss vom 20.10.1992 – 1 B 23.92 –, juris, Rn. 6; OVG NRW, Beschluss vom 19.1.2022 – 4 E 30/22 –, juris, Rn. 7 f., jeweils bezogen auf entsprechende Aufsichtsbefugnisse der Rechtsanwaltskammer über ihre Mitglieder.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Ein drittschützender Charakter kommt in vergleichbarer Weise auch der Ausübung von Aufsichtsmaßnahmen nach § 21 Abs. 3 SchfHwG nicht zu. Soweit sich der Eigentümer eines Grundstücks durch die von einem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger getroffenen Maßnahmen in seinen Rechten verletzt sieht, kann und muss er deswegen hiergegen – also maßnahmenbezogen – diejenigen Rechtsbehelfe ergreifen, die das Prozessrecht diesbezüglich zum Schutz seiner subjektiven Rechte eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Rechtsanspruch auf ein Eingreifen der Dienstaufsichtsbehörde BVerwG, Beschluss vom 9.8.2007 – 1 WB 51.06 –, juris, Rn. 18 f.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes folgt insbesondere nicht aus § 12 Abs. 1 Nr. 2 SchfHwG. Nach dieser den bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger zugleich in seiner Eigenschaft als Gewerbetreibenden nach § 8 Abs. 2 Satz 1 SchfHwG betreffenden Vorschrift ist die Bestellung aufzuheben, wenn Tatsachen nachweislich belegen, dass der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfeger die erforderliche persönliche oder fachliche Zuverlässigkeit für die Ausübung des Amtes nicht besitzt. Nach dem in dieser Vorschrift enthaltenen, durch Auslegung zu ermittelnden Entscheidungsprogramm für die Behörde dient sie nicht auch der Rücksichtnahme auf Interessen eines individualisierbaren, d. h. sich von der Allgemeinheit unterscheidenden Personenkreises. Zu dem hiernach für die Aufhebung der Bestellung für den ganzen übertragenen Bezirk maßgeblichen Entscheidungsprogramm gehören nur generell die Einhaltung der Anforderungen des allgemeinen Handwerks- und Gewerberechts sowie der spezifischen Berufspflichten, die sich gerade aus der Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben eines bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers ergeben.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 7.11.2012 – 8 C 28.11 – BVerwGE 145, 67 – juris, Rn. 17.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Dass zu den Berufspflichten eines bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers, wie bei jeder hoheitlichen Tätigkeit, damit auch die Beachtung der Bindung an Grundrechte gehört, rechtfertigt – ebenso wie bei der beamtenrechtlichen Dienstaufsicht, die allgemein der Durchsetzung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) dient und anerkanntermaßen nicht drittschützend erfolgt – nicht den Schluss, über das Recht zur Fortführung der Tätigkeit bzw. die Aufhebung der Bestellung nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 SchfHwG sei unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Zuverlässigkeit des bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers nach dem hierfür maßgeblichen normativen Entscheidungsprogramm jedenfalls auch im subjektiven Interesse eines abgrenzbaren Kreises Dritter zu entscheiden. Insofern fehlt es an jeglichem normativen Anknüpfungspunkt dafür, der Gesetzgeber, der hierüber zu entscheiden hat, habe insoweit Drittschutz einräumen wollen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Dies ist auch bezogen auf die zugleich in den Blick zu nehmende Gewerbetätigkeit nicht zweifelhaft, zumal seit langem anerkannt ist, dass Zuverlässigkeitsprüfungen nach den einschlägigen Bestimmungen in anderen Bereichen des Gewerberechts gleichfalls nicht einmal ausnahmsweise auch dem Schutz von Interessen eines deutlich von der Allgemeinheit abgegrenzten Kreises bestimmter Dritter dienen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 4.10.1988 – 1 C 72.86 –, BVerwGE 80, 259 = juris, Rn. 28, und Beschluss vom 18.3.1998 – 1 B 33.98 –, juris, Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">3. Angesichts dessen kann der Kläger sich auch nicht durchgreifend auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) berufen. Art. 3 GG gewährt keinen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.2.1993 – 8 C 20.92 –, BVerwGE 92, 153 = juris, Rn. 14, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger unter Berufung auf Vergleichsfälle verlangte liegenschaftsbezogene Abberufung des derzeitigen und die Bestellung eines neuen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers wäre auf der von ihm für einschlägig gehaltenen Grundlage des § 12 Abs. 1 Satz 2 SchfHwG rechtswidrig. Danach hat bei persönlicher oder fachlicher Unzuverlässigkeit eines bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers, von der der Kläger ausgeht, die Aufhebung der für einen ganzen Bezirk geltenden Bestellung zu erfolgen. Eine ausschließlich liegenschaftsbezogene Aufhebung der Bestellung eines für unzuverlässig gehaltenen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers sieht diese Vorschrift nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">4. Schließlich steht dem Kläger offensichtlich und nach keiner Betrachtungsweise ein Anspruch auf die liegenschaftsbezogene Abberufung und Neubestellung eines bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegers gestützt auf Art. 13 GG zu.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Art. 13 Abs.1 GG erklärt die „Wohnung“ für unverletzlich. Die Verfassungsnorm soll die Privatsphäre in räumlicher Hinsicht schützen. In diese dürfen der Staat oder von ihm ermächtigte Dritte grundsätzlich nicht gegen den Willen der Bewohner eindringen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.3.2007 – 1 BvR 2138/05 –, BVerfGK 10, 403 = juris, Rn. 26.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Einschränkung dieses Grundrechts in § 1 Abs. 3 Satz 1 SchfHwG, wonach ein jeder Grundstückseigentümer dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger und sonstigen Beauftragten der zuständigen Behörden für die Durchführung der in den §§ 14, 15 und 26 SchfHwG bezeichneten Tätigkeiten sowie von Tätigkeiten, die durch Landesrecht vorgesehen sind, Zutritt zu den Grundstücken und Räumen zu gestatten hat, finden ihre Rechtfertigung in Art. 13 Abs. 7 GG.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.4.2020 – 4 A 3726/18 –, juris, Rn. 8 ff.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im Interesse der Effektivität der dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger aufgegebenen Gefahrenabwehr ist es auch nicht unverhältnismäßig, Eigentümer bezogen auf dessen hoheitliche Tätigkeit maßnahmenbezogen auf diejenigen Rechtsbehelfe zu verweisen, die das Prozessrecht zum Schutz subjektiver Rechte eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">II. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung des Streitfalls im Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Die Darlegung dieses Zulassungsgrundes setzt die Formulierung einer bestimmten, noch nicht geklärten und für die Rechtsmittelentscheidung erheblichen Frage und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.12.2020 ‒ 4 A 74/19 ‒, juris, Rn. 24 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier. Der Kläger hat schon keine grundsätzlich klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">III. Die Berufung ist weiter nicht wegen des geltend gemachten Verfahrensfehlers in Form der Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen. Dem Verwaltungsgericht musste sich im Hinblick darauf, dass die Klage nach seiner insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung mangels Klagebefugnis als unzulässig abzuweisen war, kein weiterer Aufklärungsbedarf aufdrängen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG und folgt der Streitwertfestsetzung im erstinstanzlichen Verfahren.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.</p>
346,585
vg-schleswig-holsteinisches-2022-08-31-6-a-15921
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6 A 159/21
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-16T10:00:49"
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Urteil
ECLI:DE:VGSH:2022:0831.6A159.21.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Klage wird abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tatbestand<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Kläger wendet sich gegen die Abberufung des Landrats des Kreis A.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Kläger ist Mitglied des Beklagten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Am 31. März 2021 fand eine Abstimmung im Beklagten über die Abberufung des derzeitigen Landrates statt. Ausweislich des Protokolls erklärte der Präsident des Beklagten vor der Abstimmung, dass im Ältestenrat vereinbart worden sei, die Abstimmung ohne Aussprache durchzuführen. Sodann ist weiter im Protokoll festgehalten: „Einwände werden nicht erhoben. Es folgt die Abstimmung.“ Das Abstimmungsergebnis setzte sich ausweislich des Protokolls aus 47 Ja-Stimmen, 0 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen zusammen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 25. April 2021 wandte sich der Kläger an den Präsidenten des Beklagten und rügte die fehlende Aussprache im Plenum am 31. März 2021 vor der Abstimmung über die Abberufung. Darüber hinaus rügte er, dass eine Aussprache auch für den 29. April 2021 nicht vorgesehen sei. Nach der Kreisordnung sei über die Abberufung eines Landrats zweimal zu beraten und zu entscheiden. Auch in der Sitzung am 31. März 2021 sei nicht beraten worden. Vielmehr sei die Abstimmung auf Antrag des Hauptausschusses hin erfolgt, ohne dass eine Begründung vorgelegt worden sei. Hierin erkenne er, der Kläger, eine Verletzung seines Anspruchs auf Beratung. Weil er auch die vorangegangene Abstimmung für unzulässig halte, verlange er eine Wiederholung der Abstimmung vom 31. März 2021 und die Aussetzung der Abstimmung am 29. April 2021.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Am 29. April 2021 fand eine erneute Abstimmung über die Abwahl des Landrates im Beklagten statt. Ausweislich des Protokolls habe auch hier der Präsident des Beklagten erläutert, dass im Ältestenrat vereinbart worden sei, die Abstimmung ohne Aussprache durchzuführen. Sodann ist weiter im Protokoll festgehalten: „Einwände werden nicht erhoben. Es folgt die Abstimmung.“ Das Abstimmungsergebnis setzte sich dem Protokoll zufolge aus 47 Ja-Stimmen, 0 Nein-Stimmen und 4 Enthaltungen zusammen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Unter dem 22. Mai 2021 beschwerte sich der Kläger bei der Kommunalaufsicht und begehrte die Anordnung der Wiederholung der Abstimmung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde wurde mit Schreiben des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung (im Folgenden: Innenministerium) vom 11. Juni 2021 zurückgewiesen. Zur Begründung führte das Innenministerium aus, dass dem Kläger als Kreistagsabgeordneter kein subjektives Recht auf vorherige Beratung zustehe. Eine Aussprache über die Abberufung eines Landrates sei nicht zwingend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Die Rüge des Klägers, dass der Antrag auf Abberufung des Landrates nicht gesondert begründet gewesen sei, ändere an diesem Ergebnis nichts. Die Abberufung stelle sich als Spiegelbild zur Wahl des Landrates dar. Die Mehrheitsentscheidung bei der Wahl müsse so interpretiert werden, dass dem gewählten Landrat das Vertrauen ausgesprochen werde. Umgekehrt sei eine Mehrheitsentscheidung für die Abberufung als der Entzug dieses Vertrauens zu verstehen. Dabei sei es unerheblich, aus welchen Gründen der Landrat das Vertrauen des Kreistages verloren habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Kreistagsabgeordnete könnten darüber hinaus keinen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen des Kreistages einlegen. Nur der Landrat könne im Falle eines Rechtsverstoßes einem Beschluss widersprechen. Darüber hinaus könne die Kommunalaufsichtsbehörde Beschlüsse des Kreistages beanstanden. Auch dies setze jedoch einen Rechtsverstoß voraus, der hier nicht vorliege.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Am 17. Juli 2021 hat der Kläger zunächst gegen den Kreis A Klage erhoben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Nachdem der Kreis A mit Schriftsatz vom 12. August 2021 gegenüber dem Gericht mitgeteilt hatte, nicht der richtige Klagegegner zu sein, hat der Kläger erklärt, die Klage nunmehr gegen den Beklagten zu richten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Der Kläger trägt zur Begründung seiner Klage vor, dass die Abwahl des Landrates rechtswidrig sei, weil sie entgegen der Bestimmungen der Kreisordnung ohne die erforderliche Beratung im Plenum des Kreistages erfolgt sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Er, der Kläger, habe ausdrücklich eine Beratung gefordert, diese sei ihm jedoch verwehrt worden. Als er während der Sitzung am 29. April 2021 seinen Antrag habe begründen wollen, sei ihm das Wort entzogen worden. Das Innenministerium habe bei seiner Entscheidung verkannt, dass er, der Kläger, nicht sein eigenes subjektives Recht mit seinem Verlangen auf neue Abstimmung geltend mache. Vielmehr handele er zur Wahrung seiner Kompetenz, die ihm als Organ bzw. Organmitglied verliehen worden sei. Aus dieser Kompetenz heraus entstehe sein Anspruch auf Beratung. Diese Kompetenz nehme er für den Kreis A wahr. Entgegen der Auffassung des Innenministeriums sei eine Aussprache vor der Abstimmung über die Abwahl des Landrates zwingend notwendig gewesen. Im Gesetzeswortlaut finde sich kein Hinweis darauf, dass von der Voraussetzung einer vorherigen Beratung eine Ausnahme gemacht werden könne. Darüber hinaus gehe die Kommunalaufsicht zu Unrecht davon aus, dass es sich bei der Abwahl des Landrates um das Spiegelbild der Wahl handele. Dies sei schon deswegen nicht der Fall, weil der Landrat anders als bei seiner Wahl nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in zwei Sitzungen mit einem Abstand von 4 Wochen abberufen werden könne.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Es gehe dem Kläger insbesondere darum, die Gründe für die Abberufung des Landrates zu erfahren. Sodann wolle er, dass über die Gründe durch die Mitglieder des Kreistages im Plenum beraten werde, bevor diese eine Entscheidung träfen. So habe der Ältestenrat beschlossen, dass über die Abberufung des Landrates ohne Aussprache entschieden werden solle. Dem Ältestenrat komme jedoch nur eine beratende und unterstützende Funktion zu. Der Kreistag habe nicht beschlossen, die Entscheidung über die Aussprache dem Ältestenrat zu überlassen. Er, der Kläger, habe erst im Nachhinein von dem Beschluss des Ältestenrates erfahren. Der abberufene Landrat selbst solle ausschließlich im Hauptausschuss des Beklagten angehört worden sein, wovon er, der Kläger, auch nur im Nachhinein erfahren habe. Dort seien die Gründe für die Abwahl erörtert und Vertraulichkeit vereinbart worden. Ein Mandat hierzu habe der Hauptausschuss nicht besessen. Stattdessen sei der Kreistag im Anschluss vor vollendete Tatsachen gestellt worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Die Strafermittlungsverfahren gegen den abberufenen Landrat seien mittlerweile eingestellt worden. Ein schwerwiegendes Fehlverhalten könne ihm daher nicht zur Last gelegt werden. Dies habe den Kreistagsabgeordneten bei ihrer Abstimmung über die Abberufung nicht bekannt sein können. Dem abberufenen Landrat sei auch vor dem Hauptausschuss lediglich sein Verhalten im Zusammenhang mit der Impfung vorgeworfen worden. Es sei ungeklärt, weshalb daher nicht öffentlich im Plenum hätte beraten werden können und Vertraulichkeit geboten sein solle, da dieser Sachverhalt zeitnah in der Presse dargestellt worden sei. Darüber hinaus habe der Hauptausschuss nicht erwogen, dass auch der Kreistag nichtöffentlich hätte tagen können. Anders als im Protokoll festgehalten, habe er, der Kläger, bei der zweiten Abstimmung über die Abberufung mit „Nein“ gestimmt. Das Protokoll sei daher unwahr. Im Anschluss hätten Mitglieder des Hauptausschusses erklärt, dass das Verhalten des abberufenen Landrats im Zusammenhang mit den Impfungen „nur die Spitze des Eisberges“ dargestellt habe. Damit hätten noch weiterreichende Gründe für die Abberufung vorgelegen, die jedoch den Kreistagsabgeordneten nicht bekannt gewesen seien. Indem diese Gründe allein im Hauptausschuss erörtert worden seien, hätte für die Kreistagsabgeordneten nicht die Chance bestanden, sich über diese zu informieren bzw. das Vorliegen einer Verfehlung des Landrates zu prüfen. Auch der Vorsitzende seiner Fraktion, der des Klägers, habe eine Auskunft verweigert. Eine weitere Abgeordnete seiner Fraktion, die am 31. August 2021 erstmalig an einer Sitzung des Kreistages teilgenommen habe, sei nicht über die Gründe zur Abwahl informiert worden. Diese fühle sich nunmehr, nachdem sie von den Einstellungen des Straf- und Disziplinarverfahrens gegen den abberufenen Landrat erfahren habe, getäuscht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Der Kläger beantragt<em>:</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">„1. Es wird festgestellt, dass die Abwahl des Landrats XX auf der Sitzung des Kreistags des Beklagten am 29. April 2021 unwirksam ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">2. Der Beklagte wird verurteilt, seine Sitzung vom 29. April 2021 - Abwahl des Landrats XX - mit Abstimmung nach Beratung im Kreistag zu wiederholen.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Der Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die Abwahl des Landrates sei in den gesetzlich vorgeschriebenen beiden Abstimmungen erfolgt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Der Kläger sei bereits vor der Abstimmung am 31. März 2021 rechtzeitig auf die Tagesordnung aufmerksam gemacht worden und habe an der Sitzung des Kreistages teilgenommen. Dort habe es für die Abwahl 47 Ja-Stimmen, keine Gegenstimme und 5 Enthaltungen gegeben. Nachdem der Kläger im Vorwege der Sitzung am 29. April 2021 die fehlende Aussprache am 31. März 2021 gerügt habe, sei ausführlich im Plenum am 29. April 2021 über die Kritik des Klägers beraten worden. Die Politik habe klargestellt, dass es ausführliche Beratungen im Vorfeld gegeben habe. Man habe sich zum Wohle des Kreises, um die Funktionsfähigkeit der Kreisverwaltung aufrechtzuerhalten und um den abberufenen Landrat nicht persönlich zu beschädigen, dazu entschieden, diese Beratungen im Vorfeld stattfinden zu lassen. Der Beschluss über die Abwahl sei schließlich mit dem Ergebnis von 50 Ja-Stimmen, einer Gegenstimme und 0 Enthaltungen gefasst worden. Eine Aussprache sei nicht zwingend vom Gesetz vorgeschrieben. Vielmehr habe der Gesetzgeber das übliche Verfahren beschreiben wollen. Die Formulierung in der Kreisordnung sei insoweit unpräzise. Es gebe daher keinen Anspruch auf Aussprache im Kreistag.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Doch selbst wenn man einen solchen bejahen würde, hätte der Kläger seine Rechte bereits vor der ersten Beschlussfassung am 31. März 2021 geltend machen müssen, wozu er Gelegenheit gehabt habe. Er habe aber seine Frage- und Antwortrechte nicht vollständig ausgeschöpft. Auch aufgrund der Tatsache, dass der Kläger sich trotz der fehlenden Beratung im Anschluss an den Abstimmungen beteiligt habe, ließe sein Rechtsschutzinteresse entfallen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Die Gründe für die Abberufung seien nicht unbekannt gewesen und in den Gremien des Kreistags ausführlich beraten worden. Die Fraktion des Klägers sei sowohl im Ältestenrat als auch im Hauptausschuss vertreten. Der Kläger hätte als Mitglied des Kreistages auch an den Sitzungen des Hauptausschusses teilnehmen und dort reden dürfen. Auch in den Fraktionssitzungen sei intensiv über die Abberufung beraten worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Am 14. April 2022 hat ein Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage stattgefunden. Einen von dem Beklagten vorgeschlagenen Vergleich zur endgültigen Beilegung des Verfahrens hat der Kläger abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Nachdem für den 16. Juni 2022 ein Termin für die Neuwahl eines Landrates für den Kreis A angesetzt worden war, hat der Kläger unter dem 28. Mai 2022 bei der Kammer einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und beantragt, die Durchführung der Neuwahl zu untersagen (Az.: 6 B 20/22). Mit Beschluss vom 13. Juni 2022 hat die Kammer den Antrag abgelehnt. Die gegen diese Entscheidung erhobene Beschwerde hat das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 15. Juli 2022 verworfen (Az. 3 MB 11/22).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Am 16. Juni 2022 ist ein neuer Landrat gewählt worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte zu diesem Verfahren sowie zu dem Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz mit dem Az.: 6 B 20/22 verwiesen.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Entscheidungsgründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Die Klage bleibt ohne Erfolg. Sie ist bereits unzulässig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Der Verwaltungsrechtsweg ist gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) eröffnet. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, weil streitentscheidend die öffentlich-rechtlichen Vorschriften betreffend die Vorschriften über die Abberufung eines Landrates gemäß § 35a der Kreisordnung für Schleswig-Holstein (KrO SH) sind. Die Streitigkeiten zwischen dem Kläger als Kreistagsmitglied und dem Kreistag sind auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Zwar lassen sich die genannten Vorschriften systematisch dem Kommunalverfassungsrecht zuordnen. „Verfassungsrecht“ im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist jedoch nur das Staatsverfassungsrecht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Der Wechsel auf der Beklagtenseite stellt eine subjektive Klageänderung im Sinne von § 91 VwGO dar. Diese erweist sich als sachdienlich, da andernfalls eine erneute Klageerhebung notwendig gewesen wäre. Es liegt auch keine Klageänderung bei verstrichener Klagefrist vor (vgl. zum Vorstehenden Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 91, Rn. 39 f.). Darüber hinaus ist von einer Zustimmung sämtlicher Beteiligter auszugehen. So haben sich sowohl der neue als auch der alte Beklagte nach Klageänderung zur Sache eingelassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Die Klage ist jedoch unzulässig, da dem Kläger die Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO analog fehlt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Der kommunalverfassungsrechtliche Organstreit - vorliegend in Form einer Feststellungsklage - ist oftmals dadurch gekennzeichnet, dass Organe oder Organteile über Bestand und Reichweite zwischen- oder innerorganschaftlicher Rechte streiten. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch im Falle eines solchen Feststellungsbegehrens - wie vorliegend bei dem Antrag zu 1. - des Klägers eine subjektiv-rechtliche Anbindung an die Rechtssphäre des Klägers notwendig ist. Allein dann, wenn dieser zumindest die Möglichkeit darlegen kann, selbst vom Gegenstand seiner Klage betroffen zu sein, ist er befugt, Klage zu erheben (vgl. Pietzecker, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 43, Rn. 28 ff. m.w.N.). Dieses Prinzip gilt auch im Kommunalverfassungsstreit (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 12. August 2019 – Au 7 K 18.1674 –, juris Rn. 25). Ist eine Klage jedoch allein auf die Feststellung einer allein objektiv-rechtlichen Verletzung von Rechtsnormen gerichtet, ohne dass der Kläger für sich darlegen kann, durch rechtswidriges Organhandeln in einer ihm gesetzlich eingeräumten (Innen-)Rechtsposition als Teil jenes Organs verletzt zu sein, liegt auch bei Vorlage eines kommunalverfassungsrechtlichen Organstreits eine unzulässige Popularklage vor (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 1992 – 1 S 2242/91 – juris Rn. 13).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Ein solcher Fall ist hier anzunehmen. Der Kläger wendet sich gegen die Entscheidung des Beklagten, die dieser in zwei Sitzungen mit Zwei-Drittel-Mehrheit getroffen hat, den Landrat abzuberufen. Er selbst war in seiner Person und Amt nicht Gegenstand dieser Beschlüsse, sondern hatte vielmehr als Mitglied des Beklagten Gelegenheit, an den Abstimmungen teilzunehmen bzw. von seinen Rechten als Kreistagsabgeordneter Gebrauch zu machen. Ausweislich des Protokolls hat er dies auch getan. So hat er an beiden Abstimmungen teilgenommen. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Sofern sich der Kläger darauf beruft, dass die KrO SH ihm einen (individuellen) Anspruch darauf zuspricht, dass er nur dann über die Abberufung eines Landrates abstimmen darf, wenn auch zweimal eine Aussprache darüber stattgefunden hat, kann ihm nicht gefolgt werden. Die Abberufung eines Landrates richtet sich nach § 35a KrO. Danach kann durch Beschluss des Kreistags abberufen werden, wer durch Wahl des Kreistags berufen wird. Ein Antrag auf Abberufung kann nur behandelt werden, wenn er auf der Tagesordnung gestanden hat. Der Beschluss bedarf der Mehrheit der anwesenden Kreistagsabgeordneten (Abs. 1). Der Beschluss, mit dem die Kreispräsidentin oder der Kreispräsident oder eine oder einer ihrer oder seiner Stellvertretenden aus dem Vorsitz (Ziff. 1) oder die Landrätin oder der Landrat aus ihrem oder seinem Amt (Ziff. 2) abberufen werden soll, bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Kreistagsabgeordneten (Abs. 2). Über den Antrag, die Landrätin oder den Landrat aus ihrem oder seinem Amt abzuberufen, ist zweimal zu beraten und zu beschließen. Die zweite Beratung darf frühestens vier Wochen nach der ersten stattfinden (Abs. 3).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Insofern sieht Abs. 3 der Vorschrift zwar vor, dass über den Antrag, die Landrätin oder den Landrat aus ihrem oder seinem Amt abzuberufen, zweimal zu beraten und zu beschließen ist. Allerdings vermittelt diese Vorschrift dem einzelnen Kreistagsabgeordneten nicht den individuellen Anspruch auf Durchführung von zwei Aussprachen, den er gerichtlich durchsetzen kann. Vielmehr ist in dieser Regelung eine Verfahrensvorschrift zu erkennen, mit der der Ablauf der Abberufung geregelt werden soll. Subjektive Rechte zugunsten einzelner Abgeordneter gewährt sie nicht. Es ist davon auszugehen, dass die KrO SH die Anfechtung einzelner Beschlüsse des Kreistages abschließend geregelt hat. So sieht § 38 Abs. 1 KrO SH ausdrücklich vor, dass allein der Landrat einem Beschluss des Kreistages zu widersprechen hat. Darüber hinaus steht es gemäß § 62 Abs. 1 KrO SH nur noch der Kommunalaufsichtsbehörde zu, Beschlüsse des Kreises zu beanstanden. Einzelnen Kreistagsabgeordneten ist es dagegen nicht möglich, Beschlüsse des Kreistages einzeln anzufechten bzw. Verfahrensfehler zu rügen. Sie sind an die Mehrheitsentscheidungen in den jeweiligen Gremien gebunden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Ohne Erfolg macht der Kläger darüber hinaus geltend, dass er vor Durchführung der Abstimmung nicht ausreichend über die Gründe informiert gewesen sei, die Anlass zum Abberufungsverfahren gegen den ehemaligen Landrat gewesen seien. Auch diesbezüglich steht dem Kläger keine wehrhafte (Innen-)Rechtsposition zu, die durch die Durchführung der Abstimmungen am 31. März 2021 und 29. April 2021 verletzt sein könnte. Ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Herstellung eines bestimmten Informationsstands im Vorfeld einer Abstimmung ist für die Kammer nicht erkennbar. So kommt es für die Abwahl gemäß § 35a KrO SH zunächst bereits nicht darauf an, weshalb sie erfolgt, sondern dass der Kreistag eine entsprechende Entscheidung trifft. Ein bestimmtes Fehlverhalten eines Funktionsträgers oder ähnliches ist nicht erforderlich. Maßgeblich ist allein, dass der Kreistag das Vertrauen in die Person verloren hat und dies durch - im Falle der Abberufung des Landrates mit einer Zweidrittel-Mehrheit - Abstimmung zum Ausdruck bringt (vgl. Dehn, in: KVR SH / KrO Februar 2018, § 35a Rn. 8).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Dies ist hier geschehen. Der Kreistag hat in zwei Abstimmungen mit deutlicher Mehrheit für die Abberufung des damaligen Landrates gestimmt und damit zum Ausdruck gebracht, sein Vertrauen in dessen Person verloren zu haben. Auf welche Gründe die jeweiligen Abgeordneten ihre Entscheidung im Einzelnen gestützt haben, kommt es dabei nicht an und ist einer gerichtlichen Überprüfung auch insoweit nicht zugänglich, da sich dies nicht mit den Amtsgrundsätzen der Abgeordneten vereinbaren ließe. Nach § 27 Abs. 1 KrO handeln die Kreistagsabgeordneten in ihrer Tätigkeit nach ihrer freien, durch das öffentliche Wohl bestimmten Überzeugung. Wie sie sich diese Überzeugung bilden und worauf genau sie ihre Entscheidungen stützen, ist dabei frei von jeder gerichtlichen Kontrolle. Umgekehrt existiert kein Anspruch eines einzelnen Abgeordneten auf Herstellung eines Kenntnisstandes, aufgrund dessen er sich seine Überzeugung bilden kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>In Bezug hierauf verkennt der Kläger zudem, dass ihm zwar gemäß § 25 KrO ein umfassendes Kontrollrecht zusteht. Die in dieser Vorschrift näher bezeichneten Rechte begründen jedoch einen Anspruch der Kreistagsabgeordneten auf Aufbereitung der von ihnen gewünschten Informationen in bestimmter Form nicht. Ebenso wenig entbindet es sie von ihrer eigenen Mitwirkung zur Herstellung der für ihre Entscheidungen notwendigen Wissengrundlage. So spricht § 25 Abs. 1 KrO ausdrücklich davon, dass den Kreistagsabgeordneten Auskünfte und Akteneinsicht „auf Verlangen“ zu gewähren sind. Damit geht auch die Kreisordnung davon aus, dass den Kreistagsabgeordneten zumindest ein Mindestmaß an eigenem Handeln zumutbar ist, um sich im Vorfeld der Entscheidungen zu informieren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Etwas Anderes könnte sich im Einzelfall höchstens daraus ergeben, sollte sich feststellen lassen, dass den Abgeordneten für ihre Entscheidung im damaligen Zeitpunkt falsche Tatsachen vorgespiegelt wurden. Wird die Abberufung eines Funktionsträgers nämlich mit Tatsachen begründet, so kann die Rechtswidrigkeit der Abberufung damit begründet werden, dass diese nicht der Wahrheit entsprechen (vgl. Dehn, a.a.O.). Eine etwaige Täuschung ist jedoch nicht im Ansatz vorgetragen oder ersichtlich. So rügt der Kläger ausschließlich die fehlende Information bzw. die Tatsache, dass er sich selbst bestimmte Informationen beschaffen musste, nicht aber deren Unwahrheit. Die Einstellung strafrechtlicher und disziplinarrechtlicher Verfahren gegen den ehemals bestellten Landrat spielt dabei keine Rolle, da diese erst im Nachgang zur Abberufung des Landrates erfolgt sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Sofern der Kläger in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass sich für ihn aus den vom Beklagten vorgelegten Unterlagen, in die er, der Kläger, im Kreishaus vor der Abstimmung am 29. April 2021 Einsicht genommen habe, kein Fehlverhalten des damaligen Landrates ergebe, hat er zudem zu erkennen gegeben, entgegen seiner Ausführung in der Klageschrift sehr wohl über die Gründe informiert worden zu sein, die schließlich zur Einleitung des Abberufungsverfahrens geführt haben. Allein die Tatsache, dass er persönlich nach Durchsicht zu der Auffassung gelangt ist, kein Fehlverhalten des ehemaligen Landrates annehmen zu können, begründet nicht die Möglichkeit einer Rechtsverletzung zu seinen Lasten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Nach dem Vorstehenden entscheidet die Kammer über den Antrag zu 2. des Klägers nicht. Entsprechend § 88 VwGO geht sie hierfür davon aus, dass es sich um einen sog. Annex-Antrag handelt, über den nicht zu entscheiden ist, da der Antrag zu 1 ohne Erfolg bleibt. Insofern erübrigt sich eine Entscheidung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Die aus dem Tenor ersichtliche Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO in Verbindung mit § 709 Zivilprozessordnung (ZPO).</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,482
ovgnrw-2022-08-31-19-e-44022
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 E 440/22
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-08T10:01:24"
"2022-10-17T11:09:55"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0831.19E440.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Prozesskostenhilfebeschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin für das erstinstanzliche Klageverfahren zu Recht mit der Begründung abgelehnt, ihre Klage habe keine hinreichende Erfolgsaussicht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Ihre Beschwerde gegen diese Entscheidung hat die Klägerin nicht begründet. Die Überprüfung des angefochtenen Beschlusses von Amts wegen in Bezug auf die Verneinung einer hinreichenden Erfolgsaussicht führt zu keinem anderen Ergebnis. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 PassG hat der Passbewerber die „entsprechenden Nachweise“ zu erbringen, also insbesondere diejenigen, die im Sinn des Satzes 1 zur Feststellung seiner Eigenschaft als deutscher Staatsangehöriger im Sinn des Art. 116 Abs. 1 Alt. 1 GG, § 1 Abs. 4 Satz 1 PassG notwendig sind. Für den Nachweis der in § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StAG vorausgesetzten nach den deutschen Gesetzen wirksamen Anerkennung der Vaterschaft ist am Maßstab der vom Verwaltungsgericht zitierten familienrechtlichen Bestimmungen die genannte Ledigkeitsbescheinigung der Mutter der Klägerin beizubringen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 3. August 2015 ‑ OVG 5 S 9.15 -, juris, Rn. 3 ff.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
346,440
ovgni-2022-08-31-9-la-23421
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
9 LA 234/21
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-07T10:00:58"
"2022-10-17T11:09:48"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig – 8. Kammer – vom 24. August 2021 wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 6.622,39 EUR festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig, – sinngemäß – soweit darin die Klage abgewiesen wurde, bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat mit dem angegriffenen Urteil den Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 2019 aufgehoben, soweit darin ein Betrag von mehr als 6.622,39 EUR festgesetzt worden ist, und hat die Klage im Übrigen abgewiesen. Mit dem genannten Bescheid hatte die Beklagte die Kläger als Eigentümer des Grundstücks „A-Straße“ (Flurstücke G., H. und I. der Flur 5) für die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage „J.“ zwischen Einmündung „K.“ und Einmündung „L.“ zur Zahlung eines Erschließungsbeitrages in Höhe von 7.482,69 EUR herangezogen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Kläger haben den von ihnen allein geltend gemachten Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne dieser Vorschrift sind gegeben, wenn ein die Entscheidung tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Sie sind nicht erst dann gegeben, wenn bei der im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Überprüfung der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als der Misserfolg. Das Zulassungsverfahren hat nicht die Aufgabe, das Berufungsverfahren vorwegzunehmen (BVerfG, Beschluss vom 21.12.2009 – 1 BvR 812/09 – juris Rn. 16). Schlüssige Gegenargumente liegen dann vor, wenn der Antragsteller substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufzeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, Beschluss vom 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substantiiert mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 1.11.2021 – 9 LA 11/20 – juris Rn. 37, vom 16.8.2021 – 9 LA 53/20 –, vom 16.7.2019 – 9 LA 45/18 – juris Rn. 5 m. w. N. und vom 29.11.2018 – 9 LA 63/18 –).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die Richtigkeitszweifel müssen sich allerdings auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen daher nicht vor, wenn zwar einzelne Rechtssätze oder tatsächliche Feststellungen, welche das Urteil tragen, zu Zweifeln Anlass bieten, das Urteil aber im Ergebnis aus anderen Gründen offensichtlich richtig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – juris Rn. 7 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Gemessen hieran haben die Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dargelegt. Sie haben weder einen die Entscheidung tragenden Rechtssatz noch eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat sein Urteil im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Voraussetzungen für die Erhebung eines Erschließungsbeitrags für die Herstellung des einseitigen Gehwegs und der Beleuchtung an der Straße „J.“ lägen vor. Anders als die Fahrbahn der Ortsdurchfahrt der Kreisstraße stehe der Gehweg in der Straßenbaulast der Beklagten. Bis zu der mit dem angefochtenen Bescheid abgerechneten Maßnahme seien weder der Gehweg noch die darauf befindliche Beleuchtung im Sinne von § 10 Abs. 1 Satz 2 b) und e) der Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten vom 2. Juli 2007 (EBS) endgültig hergestellt gewesen. Die Regelung des § 242 Abs. 1 BauGB stehe der Festsetzung eines Erschließungsbeitrags hier nicht entgegen. Der Vortrag der Kläger, die Straße „J.“ sei schon vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes im Jahr 1960 vorhanden gewesen, genüge nicht für die Feststellung, dass es sich um eine vorhandene Erschließungsanlage handele. Die Kammer folge der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, wonach als Mindestanforderung an eine vorhandene Straße insbesondere vorausgesetzt werde, dass die Fahrbahn hinreichend befestigt sei, sich auf einem festen Unterbau finde, eine – wenn auch primitive – Straßenentwässerung und eine Straßenbeleuchtung vorhanden sei, die eine ausreichende Ausleuchtung der Straße und damit einen ungefährdeten Haus-zu-Haus-Verkehr ermögliche. Diese Voraussetzungen seien hier bis zum 29. Juni 1961 nicht erfüllt gewesen. Zumindest habe es noch keine ausreichende Ausleuchtung der Straße „J.“ gegeben. Nach der Ortschronik von M. sei in der Ortschaft (erst) im Jahr 1964 die Straßenbeleuchtung installiert worden. Die Teileinrichtungen Gehweg und Straßenbeleuchtung im streitgegenständlichen Abschnitt der somit nach dem 29. Juni 1961 erstmals errichteten Straße „J.“ seien vor den jetzt abgerechneten Ausbaumaßnamen im Jahr 2010 und 2018 noch nicht endgültig hergestellt gewesen. Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 b) EBS seien Gehwege endgültig hergestellt, wenn sie eine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphalt, Teer, Beton oder einem ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise mit dem technisch notwendigen Unterbau erhalten hätten. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt gewesen. Der Gehweg an der Straße „J.“ sei – wie die von der Beklagten vorgelegten Fotos deutlich zeigten – vor der Ausbaumaßnahme nicht befestigt gewesen und habe eine Oberfläche aus Erde besessen, die teilweise mit Steinen und Schotter durchsetzt sowie mit Gras bewachsen gewesen sei. Auch die Beleuchtungseinrichtung sei zu Recht nach Erschließungsbeitragsrecht abgerechnet worden. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 e) EBS sei die Beleuchtungseinrichtung hergestellt, wenn eine der Größe der Anlage und den örtlichen Verhältnissen angepasste Anzahl von Beleuchtungskörpern hergestellt sei. Zwar habe es in der Vergangenheit bereits Straßenlaternen an der Straße „J.“ gegeben, die nach der Ortschronik in den Jahren nach 1964 errichtet worden seien. Die etwa 50 Jahre alten Laternen hätten nicht den heutigen DIN-Anforderungen genügt und seien zahlenmäßig nicht der Größe der Anlage sowie den örtlichen Verhältnissen angepasst gewesen. Die Beklagte habe für die Ortsdurchfahrt der Kreisstraße gemäß der Verwaltungsvorlage zum Beschluss des Ausbauplans eine „optimale Ausleuchtung“ erzielen wollen. Die Beklagte habe angegeben, dass im Jahr 2010 drei von vier Leuchtköpfen ausgetauscht worden seien und dass im Jahr 2017/2018 vier neue Peitschenmasten gesetzt sowie zusätzlich ein Leuchtkopf erneuert worden seien. Die Beleuchtung habe sich danach bis zum Abschluss der Arbeiten im Jahr 2018 im Zustand der „Unfertigkeit“ befunden und sei erstmals mit dem Setzen der Peitschenmasten satzungsgemäß hergestellt gewesen. Die Beklagte habe jedoch den Aufwand auf die von der Erschließungsanlage erschlossenen Grundstücke nicht in zutreffender Weise nach § 6 Abs. 2 und 3 EBS umgelegt. Das Abrechnungsgebiet müsse auch das Eckgrundstück „J.“ / „K. 1“ (Flurstück N.) umfassen. Entgegen der Auffassung der Kläger seien die weiteren Grundstücke „K. 2 und 3“ aber nicht auch in das Abrechnungsgebiet einzubeziehen, weil sie weder durch die Straße „J.“ noch durch die Straße „K.“ erschlossen würden. Hierbei komme es nicht darauf an, ob es sich nach dem äußeren Erscheinungsbild bei der 66 m langen Straße „K.“ um eine selbständige Erschließungsanlage oder eine unselbständige Zuwegung handele. Die öffentliche Straße „K.“ erfülle mangels befestigter Fahrbahn und Straßenrinnen bereits nicht die Voraussetzungen einer endgültig hergestellten Erschließungsanlage.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Kläger tragen zur Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zunächst vor, dass die streitgegenständliche Straße bereits vor dem Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes vorhanden gewesen sei, so dass es an dem erforderlichen Merkmal der erstmaligen Erschließung fehle. Der Gesetzgeber habe in § 242 Abs. 1 BauGB geregelt, dass für vorhandene Erschließungsanlagen, für die eine Beitragspflicht aufgrund der bis zum 29. Juni 1961 geltenden Vorschriften nicht entstehen konnte, auch nach dem neuen BBauG kein Beitrag erhoben werden könne. Bei der streitgegenständlichen Straße „J.“ handele es sich um einen Abschnitt der historischen Verbindungsstraße zwischen den Ortsteilen M. und O., die seit jeher vorhanden gewesen und als solche auch genutzt worden sei. Sie sei bereits vor 1960 mit einem befestigten Fußweg und mit einer Beleuchtung ausgestattet gewesen. Stehe fest, dass vor Inkrafttreten des BBauG eine funktionstüchtige Straße vorhanden gewesen sei, sei aber offen, ob die Straße dem Inhalt eines nach dem seinerzeitigen Recht für ihre Fertigstellung maßgeblichen, aber nicht mehr auffindbaren Straßenbau-, Straßen- und Baufluchten- oder Bebauungsplans entsprochen habe, trage die Gemeinde für den Fall der Unerweislichkeit des Planinhalts die Feststellungslast mit der Folge, dass die entsprechende Straße als bereits früher endgültig hergestellt anzusehen sei. Auf der Grundlage der Informationen, die sie von älteren Mitbürgern erhalten hätten, gingen sie unverändert davon aus, dass die Hauptstraße bereits vor 1960 eine Beleuchtung aufgewiesen habe, die dem damals üblichen Standard entsprochen habe. Die Beklagte habe hierzu keine Angaben machen können, da der Ortsteil M. erst nach 1960 eingemeindet worden sei und aus der Zeit davor angeblich keine Unterlagen mehr vorhanden seien. In den Behördenunterlagen befinde sich die Rechnung der Firma P. vom 18. November 2010 betreffend den Leuchtenkopfwechsel im Oktober/November 2010. Da die vorhandenen Leuchten zu diesem Zeitpunkt – nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts – bereits mehr als 50 Jahre alt gewesen seien, liege es auf der Hand, dass die Straße bereits vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes mit einer Straßenbeleuchtung ausgestattet gewesen sei. Das Verwaltungsgericht könne sich für die abweichende Annahme, dass die Beleuchtung erstmals im Jahr 1964 installiert worden sei, nicht auf die Ortschronik der Gemeinde M. stützen. Darin heiße es zwar bei der Jahreszahl 1964, dass in diesem Zeitraum u. a. die Straßenbeleuchtung installiert worden sei. Dies stehe ihrem Vortrag, dass eine Straßenbeleuchtung in dem abgerechneten Straßenabschnitt bereits vor 1960 tatsächlich vorhanden gewesen sei, jedoch nicht entgegen, da sich die Chronik nicht konkret auf die Straße „J.“ beziehe und ferner keinen konkreten Zeitpunkt benenne. Weiter sei davon auszugehen, dass auch der Gehweg bereits vor 1960 angelegt und ausreichend befestigt gewesen sei. Auch insoweit sei ihnen von älteren Mitbürgern bestätigt worden, dass der Gehweg bereits vor 1960 mit Schotter befestigt und mit einer feineren wassergebundenen Schicht abgedeckt gewesen sei. Die von der Beklagten vorgelegten Fotos belegten die Richtigkeit dieses Vortrags. Sie zeigten eine ebene, befestigte Fläche. Das Verwaltungsgericht teile nicht mit, worauf es seine abweichende Ansicht stütze, dass der Gehweg nicht befestigt sei und dass seine Oberfläche angeblich aus Erde bestehen solle, die teilweise mit Steinen und Schotter durchsetzt sei. Eine Ortsbesichtigung habe das Verwaltungsgericht nicht durchgeführt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Mit diesem Vorbringen haben die Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung des Verwaltungsgerichts dargelegt. Es lässt sich – mit dem Verwaltungsgericht – nicht feststellen, dass es sich bei der Straße „J.“ um eine vorhandene Erschließungsanlage im Sinne von § 242 Abs. 1 BauGB handelt und dass deswegen die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ausgeschlossen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>§ 242 Abs. 1 BauGB bestimmt, dass für vorhandene Erschließungsanlagen, für die eine Beitragspflicht auf Grund der bis zum 29. Juni 1961 – d. h. bis zum Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes – geltenden Vorschriften nicht entstehen konnte, auch nach dem Baugesetzbuch kein Beitrag – d. h. kein Erschließungsbeitrag – erhoben werden kann. Dies gilt selbst dann, wenn der Ausbauzustand einzelner Teilanlagen einer vorhandenen Straße im Sinne des § 242 Abs. 1 BauGB vor Beginn der straßenbaulichen Maßnahme nicht den Herstellungsmerkmalen einer Erschließungsbeitragssatzung entsprach. Auch in diesem Fall ist eine beitragsrechtlich relevante erstmalige Herstellung unter der Geltung und nach den Bestimmungen des Baugesetzbuchs nicht mehr möglich. Eine Erschließungsanlage ist nämlich entweder insgesamt eine vorhandene oder sie ist es überhaupt nicht. Der eindeutige Wortlaut des § 242 Abs. 1 BauGB hebt ab auf die „Erschließungsanlage“, nicht auf „Teile von Erschließungsanlagen“ wie § 242 Abs. 9 BauGB (vgl. Driehaus/Raden, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 10. Auflage 2018, § 2 Rn. 32, 54).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Welche Teilanlagen in welchem Ausbauzustand bestanden haben müssen, um eine Straße als „vorhandene“ qualifizieren zu können, lässt sich jeweils nur im Einzelfall beurteilen. Gewisse Mindestanforderungen aber wird man allgemein stellen können (vgl. Driehaus/Raden, a. a. O., § 2 Rn. 47). Zu der Frage, wann von einer vorhandenen Erschließungsanlage auszugehen ist, hat der beschließende Senat in seiner Rechtsprechung ausgeführt (vgl. etwa Senatsurteil vom 19.2.2020 – 9 LB 132/17 – juris Rn.117 f.; Senatsbeschlüsse vom 5.5.2011 – 9 LA 85/10 – n. v. und vom 25.7.2007 – 9 LA 399/05 – n. v.):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">„Ob am 29. Juni 1961, dem maßgeblichen Stichtag (vgl. OVG Münster, Urteil vom 19.5.1999 – 3 A 6205/95 – ZMR 1999, 858), eine im Rechtssinn vorhandene Straße bestanden hat, beurteilt sich letztlich immer nach den konkreten Umständen des Einzelfalls (vgl. Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 7. Aufl. 2004, § 2 Rdnr. 35). Als Mindestanforderung wird nach der Rechtsprechung des beschließenden Senats (Beschlüsse vom 25.1.1989 – 9 A 77/87 –, vom 5.3.1996 – 9 M 6654/95 –, vom 24.6.1998 – 9 L 4899/96 –, vom 26.7.1999 – 9 L 2874/99 –, vom 6.9.1999 – 9 L 4564/98 –, vom 9.9.1999 – 9 L 4596/98 – und vom 14.11.2005 – 9 MC 1/05 –) allgemein lediglich vorausgesetzt, dass die Fahrbahn – in Form einer Deckschicht aus Asphalt, Teer, Beton, Pflaster oder einem ähnlichen Material – hinreichend befestigt ist und sich auf einem festen Unterbau befindet, und dass eine – wenn auch primitive – Straßenentwässerung z. B. über offene Gräben (so auch OVG Münster, Beschluss vom 14.4.1993 – 3 A 1114/89 –) sowie eine Straßenbeleuchtung, die eine ausreichende Ausleuchtung der Straße und damit einen ungefährdeten Haus-zu-Haus-Verkehr ermöglicht, vorhanden sind."</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Eine vorhandene Erschließungsanlage setzt somit insbesondere voraus, dass bis zum 29. Juni 1961 eine ausreichende Ausleuchtung der Straße zur Ermöglichung eines ungefährdeten Haus-zu-Haus-Verkehrs vorhanden war. Davon kann bei der Straße „J.“ nicht ausgegangen werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die Beweislast für das Vorhandensein einer funktionstüchtigen Straße – und damit auch für das Vorhandensein einer Straßenbeleuchtung als Mindestvoraussetzung an eine vorhandene Straße – vor dem maßgeblichen Stichtag liegt bei den Klägern. Die Gemeinde trägt zwar die Beweislast für alle in ihren Verantwortungsbereich fallenden, einem Außenstehenden nicht ohne weiteres erkennbaren Merkmale der vorhandenen Straße, insbesondere für ihre Ausbauvorstellungen und ihre Einschätzung der Tauglichkeit des Ausbauzustands der Straße. Dagegen ist es Sache des zu einer Beitragszahlung in Anspruch Genommenen, diejenigen Umstände darzulegen und zu beweisen, die an der Straßenstrecke vor Ort wahrgenommen werden können und die deshalb ihm ebenso gut bekannt sein können wie der Gemeinde. Zu diesen Umständen gehört unter anderem das Vorhandensein einer funktionstüchtigen Straße zum maßgeblichen Stichtag sowie das Vorhandensein und der Umfang der Bebauung auf den Anliegergrundstücken entlang der Straße (vgl. Driehaus/Raden, a. a. O., § 2 Rn. 47; BVerwG, Urteil vom 9.12.1988 – 8 C 72.87 – juris Rn. 17).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die danach beweisbelasteten Kläger haben mit ihrer Zulassungsbegründung nicht hinreichend dargelegt, dass bis zum 29. Juni 1961 eine Straßenbeleuchtung der Straße „J.“ vorhanden gewesen ist. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zu Recht entschieden, dass der Vortrag der Kläger, die Straße „J.“ sei schon vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes im Jahr 1960 vorhanden gewesen, nicht für die Feststellung genügt, dass es sich um eine vorhandene Erschließungsanlage im Sinne von § 242 Abs. 1 BauGB handelt. Es hat insoweit darauf abgestellt, dass es bis zum 29. Juni 1961 zumindest noch keine ausreichende Ausleuchtung der Straße „J.“ gegeben habe, da nach der Ortschronik von M. in der Ortschaft (erst) im Jahr 1964 die Straßenbeleuchtung installiert worden sei. Dem sind die Kläger im Zulassungsverfahren nicht substantiiert entgegengetreten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Zunächst vermögen ihre geäußerten Zweifel an der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Ortschronik von M. nicht zu überzeugen. Es heißt dort bei der Jahreszahl 1964 unter der Überschrift „Einführung Müllabfuhr und Straßenbeleuchtung“, dass in diesem Zeitraum in M. die zentrale Müllabfuhr eingeführt und die Straßenbeleuchtung installiert worden sei. Zwar bezieht sich dieser Eintrag – so der Einwand der Kläger – nicht konkret auf die Straße „J.“. Allerdings kann der Eintrag nur dahingehend verstanden werden, dass in diesem Zeitraum die Straßenbeleuchtung in der gesamten Gemeinde M. – und damit auch in der Straße „J.“ – eingeführt worden ist. Ansonsten wäre – auch vor dem Hintergrund der weiteren Eintragungen in der Ortschronik – ein separater Eintrag für die Straße „J.“ als eine der Hauptstraßen (heutige Kreisstraße) zu erwarten gewesen. Soweit es in der Ortschronik bei der Jahreszahl 1964 weiter heißt, dass „in diesem Zeitraum“ die Straßenbeleuchtung installiert worden sei, wird damit zwar – so der Einwand der Kläger – kein konkreter Zeitpunkt bekannt. Allerdings ist mit diesem Eintrag auszuschließen, dass die Straßenbeleuchtung schon vor dem 29. Juni 1961 vorhanden war. Denn selbst wenn die Installation der Straßenbeleuchtung über den Zeitraum des Jahres 1964 – und so ist die Formulierung nach der Auffassung des Senats zu verstehen – hinausgegangen sein sollte, bezieht sich der Eintrag nach der Auffassung des Senats auf den Beginn der Installation der Straßenbeleuchtung im Jahr 1964 und damit ggf. noch auf die Folgejahre. Wäre mit der Installation der Straßenbeleuchtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt begonnen worden, dann wäre eine frühere Erwähnung in der Ortschronik zu erwarten, die in den Jahren vor 1964 mehrere Einträge enthält.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Dies kann aber auch dahinstehen. Denn jedenfalls haben die Kläger mit ihren Einwänden gegen die Ortschronik von M. nicht – wie jedoch erforderlich – selbst dargelegt und bewiesen, dass bis zum 29. Juni 1961 eine Straßenbeleuchtung der Straße „J.“ vorhanden gewesen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Soweit sie darauf verweisen, dass sie auf der Grundlage der Informationen, die sie von älteren Mitbürgern erhalten hätten, unverändert davon ausgingen, dass die Hauptstraße bereits vor 1960 eine Beleuchtung aufgewiesen habe, die dem damals üblichen Standard entsprochen habe, genügt diese schlichte Annahme nicht den Anforderungen an die ihnen obliegende Darlegungs- und Beweislast. Die Kläger haben insbesondere keine Zeugen mit Namen und Anschrift für die von ihnen aufgestellte Behauptung benannt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht auf Seite 8 des Urteilsabdrucks ausführt, dass die „etwa 50 Jahre alten Laternen“ nicht den heutigen Anforderungen genügten, vermag – entgegen der Auffassung der Kläger – ebenfalls nicht den Beweis dafür liefern, dass bis zum 29. Juni 1961 eine Straßenbeleuchtung der Straße „J.“ vorhanden gewesen ist. Soweit die Kläger aus dieser Passage des Urteils schließen wollen, dass die Leuchten bereits im Jahr 2010 50 Jahre alt gewesen seien mit der Folge, dass die Straße bereits vor 1960 mit einer Beleuchtung ausgestattet gewesen sei, und sie hierfür auf die Rechnung der Firma P. vom 18. November 2010 betreffend den Leuchtenkopfwechsel im Oktober/November 2010 verweisen, kann dem nicht gefolgt werden. Zunächst ist schon nicht ersichtlich, wie das Verwaltungsgericht zu der Auffassung gelangt ist, die Laternen seien „etwa 50 Jahre“ alt gewesen. Aus der Rechnung der Firma P. vom 18. November 2010 ergibt sich dies jedenfalls nicht. Des Weiteren macht die Verwendung des Wortes „etwa“ deutlich, dass das Verwaltungsgericht sich keineswegs auf ein konkretes Alter der Straßenlaternen festlegen und mit der Nennung des Alters auf nicht ein bestimmtes Installationsdatum Bezug nehmen wollte. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zu dem Installationsdatum im selben Absatz, in dem auf die „etwa 50 Jahre alten Laternen“ verwiesen wird, ausgeführt, dass die Straßenlaternen in den Jahren nach 1964 errichtet worden seien. Sein Bezug auf die „etwa 50 Jahre alten Laternen“ soll sich danach erkennbar auf alle Straßenlaternen beziehen, die im Zuge der abgerechneten Baumaßnahme bis zum Jahr 2018 ausgetauscht wurden, d. h. nicht nur auf die Straßenlaternen, die im Jahr 2010 ausgetauscht wurden und auf die sich die Rechnung der Firma P. vom 18. November 2010 bezieht. Zurückgerechnet vom Jahr 2018 sind die etwa 50 Jahre alten Straßenlaternen jedoch erst (deutlich) nach dem 29. Juni 1961 installiert worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Haben die Kläger danach mit ihrer Zulassungsbegründung nicht dargelegt und Beweis angetreten, dass bis zum 29. Juni 1961 eine Straßenbeleuchtung der Straße „J.“ vorhanden gewesen ist, bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Feststellung des Verwaltungsgerichts, wonach es sich bei der Straße „J.“ nicht um eine vorhandene Erschließungsanlage im Sinne von § 242 Abs. 1 BauGB handelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Da vorliegend bereits eine zwingende Mindestvoraussetzung an eine vorhandene Straße – nämlich das Vorhandensein einer Straßenbeleuchtung – nicht erfüllt ist und allein aus diesem Grund nicht von einer vorhandenen Erschließungsanlage im Sinne von § 242 Abs. 1 BauGB ausgegangen werden kann, kommt es folglich nicht auf die von den Klägern weiter aufgeworfene – und von ihnen bejahte – Frage an, ob der Gehweg bereits vor 1960 angelegt und ausreichend befestigt worden ist. Denn eine Erschließungsanlage ist – wie bereits dargelegt – entweder insgesamt eine vorhandene oder sie ist es überhaupt nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die Kläger tragen zur Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiter vor, dass sich das Verwaltungsgericht nicht näher damit auseinandergesetzt habe, dass ein etwa entstandener Erschließungsbeitrag verjährt sei und nicht mehr durchgesetzt werden könne, wenn die erforderlichen Teileinrichtungen der Straße entsprechend des zu diesem Zeitpunkt jeweils geltenden Ausbauprogramms der Gemeinde herstellt seien, die letzte Unternehmerrechnung eingegangen sei und die dadurch in Lauf gesetzte Verjährungsfrist abgelaufen sei. Das Verwaltungsgericht hätte aufklären müssen, wann der Ausbauzustand des Gehwegs und der Beleuchtung hergestellt worden sei, den die Gemeinde mit den streitgegenständlichen Baumaßnahmen verändert habe, welches Ausbauprogramm zu diesem Zeitpunkt in Kraft gewesen sei und ob der ursprüngliche Ausbauzustand diesem Ausbauprogramm entsprochen habe. Dazu lasse sich der Urteilsbegründung nichts entnehmen. In Bezug auf die Beleuchtung gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dass im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Ausbaumaßnahmen bereits vier Laternen vorhanden gewesen seien und dass diese zu diesem Zeitpunkt „etwa 50 Jahre alt“ gewesen seien. Mit der sich daran anschließenden Frage, welches Ausbauprogramm im Zeitpunkt der ursprünglichen Herstellung gegolten und ob die damalige Beleuchtung dem entsprochen habe, habe sich das Verwaltungsgericht nicht ausreichend auseinandergesetzt. Es habe nur erwogen, die alten Laternen hätten nicht den heutigen DIN-Anforderungen entsprochen und sie seien zahlenmäßig nicht der Größe der Anlage sowie den örtlichen Verhältnissen angepasst. Die technische Leistungsfähigkeit der vorhandenen Laternen sei aber nicht an dem heutigen Ausbauprogramm zu messen, sondern an dem Ausbauprogramm, das im Zeitpunkt der Errichtung der Laternen gegolten habe. Für den Fall, dass der Inhalt des damaligen Ausbauprogramms nicht mehr festgestellt werden könne, hätte unterstellt werden müssen, dass die Laternen dem damals geltenden Standard entsprochen haben und dass deren Errichtung das Entstehen der Beitragsschuld ausgelöst habe, sofern diese Voraussetzungen erst nach dem Inkrafttreten des BBauG eingetreten sein sollten. In Bezug auf den Gehweg habe das Verwaltungsgericht ebenfalls unzutreffend erwogen, dass dieser nicht den Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 2 b) EBS entsprochen habe. Die EBS sei im Zeitpunkt der Herstellung des Gehwegs noch gar nicht in Kraft gewesen, da sie erst 2007 beschlossen worden sei. Unabhängig davon treffe es nicht zu, dass die vorhandene Befestigung mit Schotter und einer abschließenden Feinschicht nicht den Anforderungen der EBS entspreche. Danach reiche es aus, dass eine Befestigung mit Platten, Asphalt, Teer, Beton oder einem ähnlichen „Material neuzeitlicher Bauweise“ mit dem technisch notwendigen Unterbau erfolgt sei. Es werde dort nicht verlangt, das die Oberfläche wasserundurchlässig ausgestaltet sein müsse. Eine Schotterschicht mit einer wassergebundenen Feinschicht stellte eine neuzeitliche Bauweise dar, die auch heute noch vielfach Anwendung finde. Es habe sich auch nicht um einen „provisorischen Belag“ gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Auch dieses Vorbringen der Kläger führt nicht auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses der erstinstanzlichen Entscheidung. Jedenfalls im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht entschieden, dass die Straße „J.“ vor den jetzt abgerechneten Ausbaumaßnamen der Jahre 2010 und 2018 noch nicht endgültig hergestellt gewesen ist. Die Frage einer Verjährung stellt sich daher nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Eine Anbaustraße ist – mit dem Ergebnis, dass später nachfolgende Ausbaumaßnahmen nicht mehr nach dem Erschließungsbeitragsrecht abgerechnet werden können – erstmalig endgültig hergestellt, wenn sie erstmals die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm (für die nicht flächenmäßigen Teileinrichtungen) und dem (dieses Teileinrichtungsprogramm bezüglich der flächenmäßigen Teileinrichtungen ergänzenden) Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen Ausbauprogramm entsprechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.10.1995 – 8 C 13.94 – juris Rn. 19; Senatsurteile vom 19.2.2020 – 9 LB 132/17 – juris Rn. 120 und vom 21.5.2019 – 9 LC 110/17 – juris Rn. 62). Es kommt für die erstmalige endgültige Herstellung einer Erschließungsanlage somit ausschließlich darauf an, ob die Gemeinde Straßenbaumaßnahmen durchgeführt hat, mit der die in der Satzung und im Bauprogramm aufgestellten Herstellungsmerkmale verwirklicht worden sind (vgl. Senatsurteil vom 19.2.2020, a. a. O., Rn. 120).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Tritt zeitlich nach der endgültigen Herstellung, aber vor Entstehen der abstrakten Beitragspflichten anstelle der bisherigen gültigen Satzung eine neue Satzung in Kraft, die andere, insbesondere weitergehende Merkmale der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage festlegt, so wird nach dem Sinn des § 133 Abs. 2 BauGB die bereits endgültig hergestellte Erschließungsanlage dadurch nicht in den Zustand der Unfertigkeit zurückversetzt. Es bleibt vielmehr bei der durch die vorhergehende Satzung bewirkten Rechtstatsache, dass die Anlage nach den Merkmalen der bisherigen Satzung endgültig hergestellt ist (vgl. Driehaus/Raden, a. a. O., § 19 Rn. 22; BVerwG, Urteil vom 22.8.1975 – IV C 11.73 – juris Rn. 28).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Eine Gemeinde hat, wenn sie für eine durchgeführte Ausbaumaßnahme Erschließungsbeiträge erhebt, darzutun hat, dass erst und gerade diese Maßnahme die vorher noch unfertige Anlage erstmalig hergestellt hat. Die „Erstmaligkeit" der Herstellung gehört zu den anspruchsbegründenden Tatsachen; sie ist Rechtmäßigkeitsvoraussetzung des Heranziehungsbescheids, und das schließt begrifflich ein, dass die Erschließungsanlage nicht schon vorher endgültig fertiggestellt war. Die Beklagte trifft daher die materielle Beweislast für die Tatsachen, die im Zusammenhang damit stehen, ob der Ausbauzustand der Straße „J.“ bislang (nicht) eine ihren erkennbaren Ausbauabsichten entsprechende erstmalige Herstellung darstellte (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.12.1988 – 8 C 72.87 – juris Rn. 17).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Vorliegend hat die Beklagte ausreichend dargelegt, dass die Straße „J.“ vor den jetzt abgerechneten Ausbaumaßnamen der Jahre 2010 und 2018 noch nicht endgültig hergestellt gewesen ist, weil der Gehweg bislang – entgegen der Auffassung der Kläger – nicht entsprechend dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm der Beklagten bzw. – bis zur Eingemeindung 1974 – dem der Gemeinde M. hergestellt worden ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Den von der Beklagten vorgelegten Fotos ist deutlich zu entnehmen, dass der einseitige Gehweg an der Straße „J.“ vor der Durchführung bzw. dem Abschluss der hier abgerechneten Straßenbaumaßnahme in der Vergangenheit lediglich mit einer Schotterschicht versehen war, die teilweise mit Gras bewachsen war. Zugunsten der Kläger kann unterstellt werden, dass die Schotterschicht zudem mit einer wassergebundenen Feinschicht versehen war. Erst nach dem Ausbauplan 2017 für die nunmehr abgerechneten Maßnahmen sollte der Gehweg in einer Breite von 2,50 m einschließlich 30 cm Sicherheitsstreifen in Betonrechteckpflaster grau bzw. rot errichtet werden. Der vorherige Ausbauzustand mit einer Schotterschicht nebst wassergebundener Feinschicht entsprach zu keinem Zeitpunkt in der Vergangenheit dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm der Beklagten bzw. dem der Gemeinde M..</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat insoweit zwar im Ansatz unzutreffend allein auf § 10 Abs. 1 Satz 2 b) der Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten vom 2. Juli 2007 (EBS 2007) abgestellt, wonach die Gehwege hergestellt sind, wenn sie eine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphalt, Teer, Beton oder einem ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise mit dem technisch notwendigen Unterbau erhalten haben. Das Verwaltungsgericht hat letztlich aber zu Recht entschieden, dass die Merkmale der endgültigen Herstellung vor der Durchführung bzw. dem Abschluss der hier abgerechneten Straßenbaumaßnahme nicht erfüllt waren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Die Merkmale der endgültigen Herstellung müssen in einer Weise bestimmt sein, die es dem Bürger ermöglicht, sich ein eigenes Urteil über die Herstellung der Straße zu bilden. Die gesetzlich gebotene Festlegung der Merkmale der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage soll u. a. dem beitragspflichtigen Bürger sichtbar oder doch erkennbar machen, wann die sein Grundstück erschließende Anlage endgültig hergestellt ist mit der Rechtsfolge, dass seine Beitragspflicht entsteht, sofern deren sonstige rechtliche Voraussetzungen erfüllt sind. Die Realisierung eines Herstellungsmerkmals muss sich demgemäß anhand objektiver, eindeutig erkennbarer Kriterien von den betroffenen Bürgern sicher feststellen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.1.1977 – IV C 84 - 92.74 – juris Rn. 12; OVG NRW, Urteil vom 19.8.1988 – 3 A 1967/86 – juris Rn. 10 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Dies zugrunde gelegt, ist eine Merkmalsregelung, die neben einer Befestigung aus Platten, Pflaster, Asphalt, Teer, Beton auch eine Befestigung aus einem ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise vorsieht, hinreichend bestimmt. In aller Regel ist ohne weiteres ersichtlich, ob ein zur Herstellung des Gehwegs verwendetes ähnliches Material den genannten Materialien nach Substanz und Funktion gleichartig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4.9.1980 – 4 B 119.80, 4 B 120.80 – juris Rn. 12). Mit „ähnliches Material neuzeitlicher Bauweise“ ist ein solches gemeint, das den namentlich aufgeführten Befestigungen aus Platten, Pflaster, Asphalt, Teer und Beton vergleichbar ist (vgl. VGH BW, Urteil vom 26.6.2012 – 2 S 3258/11 – juris Rn. 27).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Der Gehweg der Straße „J.“ hat vor der Durchführung bzw. dem Abschluss der hier abgerechneten Straßenbaumaßnahme nicht die Herstellungsmerkmale einer zeitlich nach der Errichtung der Straßenbeleuchtung geltenden Erschließungsbeitragssatzung erfüllt. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt – unstreitig – keine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphalt, Teer oder Beton. Entgegen der Auffassung der Kläger wies der Gehweg auch keine Befestigung mit einem „ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise“ auf. Der Gehweg war vor Durchführung bzw. dem Abschluss der hier abgerechneten Straßenbaumaßnahme – wie dargelegt – lediglich mit einer Schotterschicht mit einer wassergebundenen Feinschicht versehen. Dabei handelt es sich nicht um ein „ähnliches Material neuzeitlicher Bauweise“. Bei den Befestigungen Platten, Pflaster, Asphalt, Teer und Beton handelt es sich schon jeweils nicht um bloße ungebundene oder wassergebundene Decken wie hier, sondern um gebundene Beläge. Allein deshalb liegt kein „ähnliches“ Material vor. Darüber hinaus sind solche ungebundenen oder wassergebundenen Decken auch in ihrer Funktion nicht mit gebundenen Belägen vergleichbar. Die gebundenen Beläge wie Platten, Pflaster, Asphalt, Teer oder Beton sind gerade auch bei Schlechtwetter ohne wesentliche Einschränkungen nutzbar. Eine ungebundene oder wassergebundene Decke weist demgegenüber einen so deutlich reduzierten Komfort bei der Nutzung auf, dass sie auch von ihrer Funktion her betrachtet nicht mit einem Belag aus Platten, Pflaster, Asphalt, Teer und Beton vergleichbar ist (vgl. VHG BW, Urteil vom 26.6.2012 – 2 S 3258/11 – juris Rn. 28). Ein Bürger konnte von dem alten Gehweg nicht den Eindruck gewinnen, er habe eine feste, ebene und geschlossene Oberfläche (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 19.8.1988 – 3 A 1967/86 – juris Rn. 23).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Der Ausbauzustand des Gehwegs der Straße „J.“ hat nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt in der Vergangenheit dem damals geltenden satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm der Beklagten bzw. – bis zur Eingemeindung – der Gemeinde M. entsprochen, so dass sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts – die sich mit diesem Aspekt jedoch zu Unrecht nicht auseinandersetzt – jedenfalls im Ergebnis als richtig erweist. Alle der EBS 2007 vorhergehenden Erschließungsbeitragssatzungen haben gemeinsam, dass sie eine Befestigung des Gehwegs mit einem gebundenen Belag (Platten, Pflaster, Asphalt o. ä.) voraussetzen, der bis zu den nunmehr abgerechneten Ausbaumaßnahmen jedoch nicht vorlag. Der Gehweg war damit zu keinem Zeitpunkt vor den nunmehr abgerechneten Ausmaßmaßnahmen bereits endgültig hergestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Schon die vor Errichtung der Straßenbeleuchtung im Jahr 1964 geltende Erschließungsbeitragssatzung der Gemeinde M. vom 28. Juni 1961 (EBS 1961) sah in § 7 Abs. 2 vor, dass Bürgersteige und Radfahrwege endgültig hergestellt sind, wenn sie eine Abgrenzung gegen die Fahrbahn und gegeneinander sowie eine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphaltbelag oder eine ähnliche Decke neuzeitlicher Bauweise aufweisen, soweit die Gemeinde nicht beschließt, dass bei einfachen Wohnwegen und Siedlungsstraßen auf die Anlegung erhöhter Bürgersteige verzichtet wird und Gehwege in einfacher Form angelegt werden. Eine gleichlautende Formulierung enthielt § 7 Abs. 2 der Erschließungsbeitragssatzung der Gemeinde M. vom 14. März 1969 (EBS 1969), der durch die 1. Nachtragssatzung vom 13. April 1973 nicht verändert worden ist. Soweit die Kläger meinen, dass die Beitragspflicht danach durch einen Ausbau der „Gehwege in vereinfachter Form“ ausgelöst worden sei, kann dem hier nicht gefolgt werden. Denn auf die in § 7 Abs. 2 EBS 1969 festgelegten Herstellungsmerkmale kann nur dann verzichtet werden, soweit die Gemeinde dies beschließt. Für einen solchen ausdrücklichen Beschluss ist hier nichts ersichtlich. Letztlich kann dies aber auch dahinstehen. Entscheidend ist nämlich, dass nur bei „einfachen Wohnwegen und Siedlungsstraßen“ ein solcher Beschluss, der die Anlegung von Gehwegen in einfacher Form ermöglicht, zulässig ist. Vorliegend handelt es sich – so auch der Vortrag der Kläger – um die Hauptstraße bzw. Verbindungsstraße der Gemeinde M.; es handelt sich um die (heutige) Kreisstraße Q.. Ein Anwendungsfall für die Anlegung von Gehwegen in einfacher Form bei einfachen Wohnwegen und Siedlungsstraßen lag damit nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>§ 10 Abs. 1 b) der nach der Eingemeindung der Gemeinde M. geltenden Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten vom 18. September 1975 (EBS 1975), der weder durch die 1. Änderungssatzung vom 28. September 1978 noch durch die 2. Änderungssatzung vom 7. Dezember 1981 geändert worden ist, sah vor, dass Bürgersteige eine Abgrenzung gegen die Fahrbahn und eine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphalt, Teer, Beton oder einem ähnlichen Material erhalten haben müssen. Diese Voraussetzungen erfüllte der Gehweg der Straße „J.“ vor der Durchführung bzw. dem Abschluss der hier abgerechneten Straßenbaumaßnahme – wie dargelegt – nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Daran hat sich durch die Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten vom 30. August 1988 (EBS 1988) nichts Wesentliches geändert. Nach § 10 Abs. 1 b) EBS 1988 sind die Gehwege und Radwege sowie die mit Kraftfahrzeugen nicht befahrbaren Verkehrsanlagen endgültig hergestellt, wenn sie eine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphalt, Teer, Beton oder einem ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise mit dem technisch notwendigen Unterbau erhalten haben. Auch nach § 10 Abs. 1 Satz 2 b) der 1. Änderungssatzung vom 14. Dezember 1992 sind die Gehwege und Radwege sowie die mit Kraftfahrzeugen nicht befahrbaren Verkehrsanlagen hergestellt, wenn sie eine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphalt, Teer, Beton oder einem ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise mit dem technisch notwendigen Unterbau erhalten haben. Dies war – wie dargelegt – bis zu den nunmehr abgerechneten Ausbaumaßnahmen nicht der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Die – vom Verwaltungsgericht herangezogene – EBS 2007 regelt in § 10 Abs. 1 Satz 2 b) ebenfalls, dass die Gehwege hergestellt sind, wenn sie eine Befestigung mit Platten, Pflaster, Asphalt, Teer, Beton oder einem ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise mit dem technisch notwendigen Unterbau erhalten haben. Dieser Ausbauzustand wurde erst mit den nunmehr abgerechneten Ausbaumaßnahmen erreicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Da die Straße „J.“ vor den nunmehr durchgeführten und abgerechneten Ausbaumaßnahmen noch nicht erstmalig endgültig hergestellt war, weil die Teileinrichtung Gehweg noch nicht entsprechend dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm der Beklagten bzw. – bis zur Eingemeindung – dem der Gemeinde M. hergestellt worden war, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Teileinrichtung Straßenbeleuchtung bereits vor diesem Zeitpunkt endgültig herstellt war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>3.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Die Kläger tragen zur Darlegung ernstlicher Zweifel des angefochtenen Urteils schließlich noch vor, dass das Verwaltungsgericht zwar zutreffend erkannt habe, dass die Beklagte eine unrichtige Abgrenzung des Abrechnungsgebiets vorgenommen habe, indem das Grundstück „K. 1“ nicht einbezogen worden sei. Die Grundstücke „K. 2 und 3“ seien jedoch ebenfalls in das Abrechnungsgebiet einzubeziehen. Der K. weise nur eine Länge von ca. 65 m auf und könne damit keine selbständige Erschließungseinheit sein, sondern stelle sich vielmehr als rechtlich unselbständiger Abzweig der Straße „J.“ dar. Eine bis zu 100 m tiefe, nicht verzweigte Stichstraße sei regelmäßig als unselbständig zu qualifizieren. Soweit das Verwaltungsgericht davon ausgehe, dass die Grundstücke „K. 2 und 3“ weder durch den „K.“ noch die Straße „J.“ erschlossen seien, sei dem von der Beklagten vorgelegten Luftbild zu entnehmen, dass der „K.“ vor dem Flurstück R. ende, das mit dem Gebäude „K. 3“ bebaut sei. Über die am Rande dieses Flurstücks verlaufende private Zuwegung sei auch das weitere Grundstück „K. 2“ zu erreichen. Es handele sich dabei jeweils um die einzige Zugangsmöglichkeit. Auf die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage, ob der K. eine ausreichend befestigte Fahrbahn sowie Straßenrinnen aufweise, komme es nicht an, da die Beklagte nicht die Refinanzierung etwaiger Arbeiten am „K.“ geltend mache, sondern die Kosten des Ausbaus der Straße „J.“. Für die Einbeziehung von Hinterliegergrundstücken, die über keine andere Erschließung verfügten, sei es nicht erforderlich, dass deren Zuwegung die Merkmale einer voll erschlossenen Straße aufweise. Das Verwaltungsgericht habe ferner nicht offenlassen dürfen, ob diese weiteren Grundstücke möglicherweise Bestandteil des Außenbereichs seien. Dies treffe ersichtlich nicht zu. Die nördlich der Straße „K.“ vorhandene Bebauung bilde einen Bebauungszusammenhang im Sinne des § 34 BauGB mit den weiteren Grundstücken, die unmittelbar durch die Straße „J.“ erschlossen würden. Die Grundstücke „K. 2 und 3“ seien daher ebenfalls Bestandteil des unbeplanten Innenbereichs. Schließlich scheitere die Einbeziehung dieser Grundstücke in das Abrechnungsgebiet nicht daran, dass die Straßenfahrbahn in die Baulast des Landkreises falle. Es bleibe unklar, warum die grundsätzlich nur für die Kostentragung erhebliche Frage der Baulastverteilung ein Kriterium dafür sein solle, ob eine von der Straße abzweigende Sackgasse ggf. eine selbständige Erschließungsfunktion habe. Nach der Rechtsprechung seien z. B. Fahrbahn und Bürgersteig einer Ortsdurchfahrt auch dann Bestandteil einer einheitlichen beitragsfähigen Anbaustraße, wenn die Fahrbahn Teil einer klassifizierten Straße sei und daher nicht in die Baulast der Gemeinde falle; daran ändere sich nichts dadurch, dass die Kosten für die Erstellung einer Fahrbahn einer solchen Anbaustraße in gewissem Umfang nicht zum beitragsfähigen Aufwand gehörten. Die Regelung des § 128 Abs. 1 Nr. 2 BBauG bestimme lediglich den Umfang der Kosten, habe jedoch keinen Einfluss auf den in § 127 Abs. 2 Nr. 1 BBauG festgelegten Begriff der Anbaustraße. Demgemäß möge der Umstand, dass die Fahrbahn nicht in die Baulast der Beklagten falle, Bedeutung für den Umfang des umlagefähigen Aufwands haben, nicht jedoch für die Frage, ob es sich bei dem K. um eine rechtlich selbständige Anbaustraße handele.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>Auch mit diesem Vorbringen haben die Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung darzulegen vermocht. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erweist sich in diesem Punkt jedenfalls im Ergebnis als richtig, so dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht bestehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Die Grundstücke „K. 2 und 3“ (Flurstücke R., S. und T.) gehören nicht zu den bevorteilten Grundstücken der Anbaustraße „J.“. Sie liegen nicht – auch nicht als erschlossene Hinterliegergrundstücke – an der Straße „J.“. Die Stichstraße „K.“, an der die Grundstücke „K. 2 und 3“ anliegen, ist zudem kein Bestandteil der Erschließungsanlage „J.“, sondern aus rechtlichen Gründen eine selbständige Erschließungsanlage. Dazu im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Die Grundstücke „K. 2 und 3“ sind keine Anliegergrundstücke der Straße „J.“. Sie grenzen nicht an die Straße „J.“ an. Der Zugang zu den Grundstücken „K. 2 und 3“ erfolgt ausschließlich über die Stichstraße „K.“.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Es handelt sich bei den Grundstücken „K. 2 und 3“ auch nicht um von der Straße „J.“ erschlossene Hinterliegergrundstücke, die deshalb in den Kreis der beitragspflichtigen Grundstücke einzubeziehen wären. Zu den Hinterliegergrundstücken (im weiteren Sinne) gehören auch die Grundstücke, die mit einer Anbaustraße ausschließlich verbunden sind entweder durch einen von ihr abzweigenden, unselbständigen, aber tatsächlich wie rechtlich befahrbaren Privatweg oder durch eine von ihr abzweigende öffentliche, beispielsweise 10 oder 20 m tiefe Zufahrt, die ihrerseits Bestandteil der Anbaustraße ist, ohne bereits als unselbständig befahrbare Sachgasse erschließungsbeitragsrechtlich (als Abschnitt) verselbständigungsfähig zu sein. Diese (Hinterlieger-)Grundstücke werden von der Anbaustraße erschlossen, denn sie bietet ihnen – im ersten Fall über die Vermittlung durch den Privatweg – eine dem bundesrechtlichen Erschließungserfordernis genügende Anfahrtmöglichkeit (vgl. Driehaus Raden, a. a. O., § 17 Rn. 115). Die Stichstraße „K.“ ist kein Privatweg, sondern – zwischen den Beteiligten unstreitig – eine öffentlich gewidmete Gemeindestraße.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Die Stichstraße „K.“ ist auch kein Bestandteil der Erschließungsanlage „J.“, so dass die Grundstücke „K. 2 und 3“ auch nicht aus diesem Grund zu den bevorteilten Grundstücken der Anbaustraße „J.“ gehören. Bei der Stichstraße „K.“ handelt es sich aus rechtlichen Gründen um eine selbständige Erschließungsanlage.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Unabhängig von dem durch die tatsächlichen Verhältnisse vermittelten Gesamteindruck (hierzu etwa Senatsurteil vom 21.5.2019 – 9 LC 110/17 – juris Rn. 88) ist eine befahrbare Stichstraße aus der Sicht des Erschließungsbeitragsrechts eine selbständige Erschließungsanlage, wenn sie ausnahmsweise nicht in der Straßenbaulast des Trägers liegt, dem die Straßenbaulast für die (Haupt-)Erschließungsanlage obliegt, von der die Stichstraße abzweigt (vgl. Driehaus Raden, a. a. O., § 12 Rn. 18 m. w. N.). Ungeachtet ihrer flächenmäßigen Ausdehnung sind stets selbständig befahrbare Sackgassen, die von klassifizierten Straßen abzweigen. Deshalb scheidet beispielsweise die Abrechnung selbst einer nur 50 m langen, zum Anbau bestimmten Stichstraße zusammen mit einem in der Straßenbaulast der Gemeinde liegenden, von der Gemeinde erstmals endgültig hergestellten Gehweg einer Kreisstraße aus (vgl. Driehaus Raden, a. a. O., § 12 Rn. 19).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>Die Stichstraße „K.“ liegt nicht in der Straßenbaulast des Trägers, dem die Straßenbaulast für die Straße „J.“ obliegt, von der der „K.“ abzweigt. Die Stichstraße „K.“ ist eine für den öffentlichen Verkehr gewidmete Gemeindestraße. Träger der Straßenbaulast für die Gemeindestraßen sind nach § 48 Satz 1 NStrG die Gemeinden. Dies ist hier die Beklagte. Bei der Straße „J.“ handelt es sich hingegen um eine Kreisstraße, die Q.. Die Landkreise und kreisfreien Städte sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 NStrG Träger der Straßenbaulast für die Kreisstraßen. Dies ist hier der Landkreis A-Stadt. Es handelt sich daher bei dem „K.“ aus Rechtsgründen um eine selbständige Erschließungsanlage.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>Aus dem von den Klägern zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. August 1986 (– 8 C 58.85 – juris) ergibt sich nichts Anderes. Die Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich das Urteil mit der Frage beschäftigt, ob ein Anliegergrundstück auch dann noch von der zum Anbau bestimmten Straße erschlossen ist, wenn zwischen dem Grundstück und der erstmals hergestellten Anbaustraße ein ca. 30 – 70 cm breiter Grünstreifen liegt, der zivilrechtlich dem Bundesland gehört, das auch Träger der Straßenbaulast und damit der Erschließungslast ist. Darum geht es vorliegend nicht, sondern um die Frage, ob abzweigende Stichstraßen, die in unterschiedlicher Straßenbaulast wie die klassifizierte Straße stehen, selbständige Erschließungsanlagen sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>4.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>Soweit die Kläger abschließend vorsorglich darauf hinweisen, dass der streitgegenständliche Erschließungsbeitragsbescheid nicht in einen Ausbaubeitragsbescheid umgedeutet werden könne, da die Beklagte in ihrem Gemeindegebiet keine Ausbaubeiträge mehr erhebe und die bisher vorhandene Ausbaubeitragssatzung aufgehoben habe, kommt es darauf vorliegend nicht an. Denn da die Straße „J.“ noch nicht aus dem Erschließungsbeitragsrecht entlassen war und daher zu Recht Erschließungsbeiträge erhoben werden, stellt sich die Frage einer Umdeutung nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Da die Kläger das Urteil des Verwaltungsgerichts – sinngemäß – lediglich angegriffen haben, soweit darin die Klage abgewiesen wurde, war der Streitwert auf 6.622,39 EUR festzusetzen. Denn das Verwaltungsgericht hat den Bescheid vom 10. Mai 20219 über 7.482,69 EUR aufgehoben, soweit darin ein Betrag von mehr als 6.622,39 EUR festgesetzt worden ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006939&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,407
ovgnrw-2022-08-31-19-b-94522
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 B 945/22
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-03T10:01:27"
"2022-10-17T11:09:42"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0831.19B945.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert für die Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde des Antragstellers ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO nur die dargelegten Gründe. Diese rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss zu ändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorläufig zu verpflichten, den Antragsteller zum Schuljahr 2022/2023 vorläufig in die Klasse 1 der Städtischen Katholischen Grundschule B.      schule in F.     aufzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit seiner Beschwerde verfolgt der katholisch getaufte Antragsteller mit Wohnsitz in C.      nahe der Stadtgrenze zu F.     seine schon erstinstanzlich verfolgte Argumentation weiter, aus Art. 12 Abs. 3 Satz 2 LV NRW und § 26 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW einen Anspruch darauf zu haben, dass der Schulleiter der B.      schule ihn vorrangig vor den bereits aufgenommenen neun bekenntnisfremden Kindern aus F.     aufnimmt. Mit dieser Argumentation bleibt der Antragsteller erfolglos. Einem Anspruch auf eine in diesem Sinn vorrangige Schulaufnahme steht der zwingende verordnungsrechtliche Aufnahmevorrang gemeindeangehöriger Kinder nach § 1 Abs. 3 Satz 3 AO-GS entgegen. Dieser Aufnahmevorrang gilt auch für den hier vorliegenden Fall eines „nach Anwendung von Satz 1 … verbleibenden Anmeldeüberhanges“ im Sinn des § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS (1.). Dieser generelle verordnungsrechtliche Vorrang gemeindeangehöriger Kinder schränkt den grundsätzlich ebenfalls vorrangigen landesverfassungsrechtlichen Aufnahmeanspruch formell bekenntnisangehöriger Kinder in eine Bekenntnisgrundschule aus Art. 12 Abs. 3 Satz 2, Art. 13 LV NRW, § 26 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW ein (2.).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">1. Im Aufnahmeverfahren der Städtischen Katholischen Grundschule B.      schule zum Schuljahr 2022/2023 hat sich ein unter allen sog. Anspruchskindern im Sinn des § 46 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW, § 1 Abs. 2 Satz 1 AO-GS „verbleibende[r] Anmeldeüberhang“ im Sinn des § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS ergeben. Denn nach der vorrangigen Aufnahme von 47 bekenntnis- und gemeindeangehörigen Kindern verblieben für die 16 angemeldeten bekenntnisfremden gemeindeangehörigen Kinder, für welche die zweizügige B.      schule nächstgelegene Grundschule der gewünschten Schulart in der Gemeinde im Sinn des § 46 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW, § 1 Abs. 2 Satz 1 AO-GS war, nur noch neun freie Schülerplätze (56 abzüglich der 47 erwähnten vorrangigen Aufnahmen). Ergibt sich ein Anmeldeüberhang ausschließlich aus Kindern, für welche die Grundschule nächstgelegene Grundschule der gewünschten Schulart in der Gemeinde ist (sog. Anspruchskinder), bewirkt die Kapazitätsüberschreitung für alle diese Kinder, dass an die Stelle ihres kapazitätsabhängigen gesetzlichen Aufnahmeanspruchs aus § 46 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW, § 1 Abs. 2 Satz 1 AO-GS nur noch ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung tritt und der Schulleiter nach Maßgabe des § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS nach Ermessen über diese Anmeldungen zu entscheiden hat.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 17. August 2021 ‑ 19 B 1325/21 ‑, juris, Rn. 6.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Nach § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS sind im Fall eines nach Anwendung von Satz 1 verbleibenden Anmeldeüberhangs „die Kriterien des Absatzes 3 für die Aufnahmeentscheidung heranzuziehen.“ Ein solcher nach Anwendung von Satz 1 verbleibender Anmeldeüberhang im Sinn des § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS liegt auch dann vor, wenn ‑ wie hier ‑ an einer Bekenntnisgrundschule nach vorrangiger Aufnahme der formell bekenntnisangehörigen Kinder keine ausreichende Restkapazität mehr für alle diejenigen angemeldeten bekenntnisfremden Kinder verbleibt, für welche die Grundschule nächstgelegene Grundschule der gewünschten Schulart in der Gemeinde im Sinn des § 46 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW, § 1 Abs. 2 Satz 1 AO-GS ist.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Juli 2021 ‑ 18 L 1090/21 ‑, juris, Rn. 22 (ohne Erwähnung des § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS).</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Waren danach hier für die Aufnahmeentscheidung über die genannten neun freien Schülerplätze nach § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS „die Kriterien des Absatzes 3 heranzuziehen“, so erfasst diese Verweisung auch den Aufnahmevorrang gemeindeangehöriger Kinder nach § 1 Abs. 3 Satz 3 AO-GS. Hierfür spricht der Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS insofern, als er mit der Formulierung „des Absatzes 3“ pauschal auf die Regelungen in allen Sätzen des § 1 Abs. 3 AO-GS verweist, ohne dabei einzelne Sätze dieses Absatzes auszunehmen. Vor allem aber sprechen der Sinn und Zweck dieser Verweisung für dieses umfassende Verständnis, weil es dem Schulleiter auch im Fall eines unter den sog. Anspruchskindern „verbleibenden Anmeldeüberhangs“ eine Entscheidung nach vollständig denselben Maßstäben ermöglicht, die auch im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 1 Abs. 3 AO-GS für die „andere[n] Kinder“ gelten, für welche eine andere Grundschule die nächstgelegene Grundschule der gewünschten Schulart in der Gemeinde ist. Insbesondere ermöglicht ihm dieses Verständnis auch bei einem „verbleibenden Anmeldeüberhang“ die Berücksichtigung von Härtefällen nach § 1 Abs. 3 Satz 4 AO-GS. Demgegenüber rechtfertigt allein die Wortwahl, dass die „Kriterien“ des Abs. 3 „heranzuziehen“ seien, kein engeres Verständnis der Verweisung in § 1 Abs. 2 Satz 4 AO-GS dahin, sie ziele nur auf die in § 1 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 bis 5 AO-GS normierten Aufnahmekriterien, zu denen die Gemeindezugehörigkeit nicht gehört.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ebenso im Ergebnis in der Einzelfallsubsumtion VG Köln, Beschluss vom 8. Juli 2021 ‑ 10 L 1001/21 ‑, n. v., S. 7 des Beschlusses.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. Mit diesem Inhalt gestaltet der generelle verordnungsrechtliche Vorrang gemeindeangehöriger Kinder aus § 1 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 3 AO-GS bei der Aufnahme in eine Grundschule mit Anmeldeüberhang den grundsätzlich ebenfalls vorrangigen landesverfassungsrechtlichen Aufnahmeanspruch formell bekenntnisangehöriger Kinder in eine Bekenntnisgrundschule aus Art. 12 Abs. 3 Satz 2, Art. 13 LV NRW, § 26 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW näher und ‑ im Verhältnis von gemeindeangehörigen zu gemeindefremden Kindern ‑ einschränkend aus, ohne dass diese Ausgestaltung bei summarischer Prüfung der Landesverfassung widerspricht. Nach Art. 12 Abs. 3 Satz 2 LV NRW und § 26 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW werden in Bekenntnisschulen Kinder des katholischen oder des evangelischen Glaubens oder einer anderen Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen. Das Nähere bestimmt ein Gesetz (Art. 12 Abs. 4 LV NRW). Wegen des religiösen Bekenntnisses darf im Einzelfalle keinem Kinde die Aufnahme in eine öffentliche Schule verweigert werden, falls keine entsprechende Schule vorhanden ist (Art. 13 LV NRW).</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Prägende Merkmale des landesverfassungsrechtlichen Begriffs der Bekenntnisschule in Art. 12 Abs. 3 Satz 2 LV NRW sind sowohl der bekenntnisgebundene Charakter der Schulerziehung (materielle Homogenität) als auch die weitgehend einheitliche formelle Zugehörigkeit der Lehrer- und Schülerschaft zur jeweiligen Religionsgemeinschaft (formelle Homogenität). Nur im Grundsatz gehört zur formellen Homogenität, dass formell der Religionsgemeinschaft angehörende Kinder ihre Schulaufnahme vorrangig vor bekenntnisfremden Kindern beanspruchen können und Art. 12 Abs. 3 Satz 2 LV NRW jenen Kindern einen im Grundsatz vorbehaltlosen Zugang zu Schulen ihres Bekenntnisses gewährt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 21. März 2016 ‑ 19 B 996/15 ‑, NVwZ-RR 2016, 581, juris, Rn. 13, 47 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Diesen im Grundsatz vorbehaltlosen Zugang von bekenntnisangehörigen Kindern zu Schulen ihres Bekenntnisses hat der Gesetz- und Verordnungsgeber mit dem generellen verordnungsrechtlichen Aufnahmevorrang gemeindeangehöriger Kinder nach § 1 Abs. 3 Satz 3 AO-GS konkretisierend eingeschränkt. Diese Verordnungsbestimmung bewirkt im Fall eines Anmeldeüberhangs für Bekenntnis- und Gemeinschaftsgrundschulen gleichermaßen, dass der Schulleiter gemeindeangehörige Kinder vorrangig vor gemeindefremden Kindern aufnehmen muss, und zwar unabhängig von einer etwaigen Bekenntniszugehörigkeit. Bei summarischer Prüfung erscheint diese Verordnungsbestimmung landesverfassungsrechtlich durch den Gesetzesvorbehalt in Art. 12 Abs. 4 LV NRW zugelassen und durch Sachgründe gerechtfertigt.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Offen gelassen in OVG NRW, Beschluss vom 21. März 2016, a. a. O., Rn. 10.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Kann danach der Gesetzgeber nähere Regelungen zu Bekenntnisschulen treffen, so beruht § 1 Abs. 3 Satz 3 AO-GS auf der gesetzlichen Grundlage in § 46 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW. Danach kann der Verordnungsgeber u. a. die „Aufnahmekriterien bei einem Anmeldeüberhang“ in der jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsordnung regeln. Der danach verordnungsrechtlich bestimmte, auch im Verhältnis bekenntnisangehöriger wie bekenntnisfremder Kinder zu beachtende Vorrang der Gemeindeangehörigkeit bringt die besondere auch schulorganisatorisch-institutionelle Bedeutung der Gemeinden als Träger der Schulen gemäß § 78 Abs. 1 SchulG NRW zum Ausdruck.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Die Bedeutung der Schulaufnahme für den Antragsteller, auf die es nach § 47, § 52 Abs. 1 GKG für die Streitwertfestsetzung ankommt, bestimmt der Senat in ständiger Ermessenspraxis in Anlehnung an Nr. 1.5 Satz 1 und Nr. 38.4 des Streitwertkatalogs 2013 (NWVBl. 2014, Sonderbeilage Januar, S. 11) im vorläufigen Rechtsschutzverfahren mit der Hälfte des Auffangwerts nach § 52 Abs. 2 GKG, also 2.500,00 Euro.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschlüsse vom 9. August 2022 ‑ 19 B 861/22 ‑, juris, Rn. 8, vom 17. März 2022 ‑ 19 B 56/22 ‑, juris, Rn. 10 m. w. N., vom 27. Mai 2021 ‑ 19 E 428/21 ‑, NVwZ-RR 2021, 696, juris, Rn. 5, und vom 30. November 2016 ‑ 19 B 1066/16 -, NWVBl. 2017, 122, juris, Rn. 47.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,400
vg-koln-2022-08-31-22-l-91322a
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22 L 913/22.A
"2022-08-31T00:00:00"
"2022-09-02T10:01:24"
"2022-10-17T11:09:41"
Beschluss
ECLI:DE:VGK:2022:0831.22L913.22A.00
<h2>Tenor</h2> <p>1.</p> <p>Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</p> <p>2.</p> <p>Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wird abgelehnt.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Antragsteller.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.0000 in J.    geborene Antragsteller besitzt die Staatsangehörigkeit der Republik Türkei. Er verließ mit einem von der Republik Polen am 13. Dezember 2021 ausgestellten und vom 24. Dezember 2021 bis zum 15. Januar 2022 gültigen Schengen-Visum nach eigenen Angaben am 28. Dezember 2021 die Türkei. Er flog zunächst von Istanbul nach Warschau. Am Flughafen in Warschau wurden dem Antragsteller von den polnischen Behörden Fingerabdrücke abgenommen. Anschließend flog er weiter nach Düsseldorf. Von dort aus fuhr er mit dem Zug nach Paris, wo er sich etwa 20 Tage aufhielt. Er reiste dann nach Belgien und anschließend weiter nach Amsterdam. Am 10. März 2022 reiste er schließlich in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte bei der Landeserstaufnahmeeinrichtung NRW in Bochum ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am 12. März 2022 schriftlich Kenntnis erlangte.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Bundesamt hörte den Antragsteller am 2. Mai 2022 an. Der Antragsteller trug hierbei im Wesentlichen vor, dass sein eigentliches Ziel Deutschland gewesen sei. Hier lebten ein Onkel sowie einige Bekannte. Wie er gehört habe, hasse man in Polen Ausländer. Außerdem gebe es dort Diskriminierung. Am 3. Mai 2022 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an die Republik Polen, welches diese mit Schreiben vom 17. Mai 2022 annahm.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 18. Mai 2022 (Gesch.-Z.: 0000000-000), dem Antragsteller am 25. Mai 2022 ausgehändigt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 2). Es ordnete die Abschiebung nach Polen an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Wegen des von der Republik Polen ausgestellten Schengen-Visums sei diese für den Asylantrag des Antragstellers zuständig. Ein Übergang der Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland wegen systemischer Mängel des polnischen Asylsystems sei nicht gegeben. Der Zugang zu einem funktionierenden Asylverfahren und adäquater Versorgung sei in Polen auch für Dublin-Rückkehrer gewährleistet. Zudem sei nach den Erkenntnissen des Bundesamtes die medizinische Versorgung von Asylbewerbern sichergestellt. Dass ein Onkel des Antragstellers in Deutschland lebe, rechtfertige nicht die Ausübung des Selbsteintrittsrechts, da es sich bei diesem nicht um einen Familienangehörigen im Sinne der Dublin-III-Verordnung handle.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat am 27. Mai 2022 Klage erhoben und den vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seines Eilantrags führt er im Wesentlichen aus: Angesichts der aktuellen Situation in Polen sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das polnische Asylsystem den europarechtlichen Mindestanforderungen nicht entspreche.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller beantragt,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2022 gerichteten Anfechtungsklage 22 K 3240/22.A anzuordnen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">den Antrag abzulehnen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den angefochtenen Bescheid. Darüber hinaus trägt sie im Wesentlichen vor: Es stehe fest, dass die Überstellung durchgeführt werden könne. Zwar habe die Republik Polen am 25. Februar 2022 vorsorglich erklärt, dass Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung zunächst nicht mehr entgegengenommen würden. Unter dem 23. Juni 2022 habe sie jedoch mitgeteilt, dass Überstellungen ab dem 1. August 2022 wieder angenommen würden. Darüber hinaus sei nach derzeitigem Sachstand nicht davon auszugehen, dass sich durch die bereits erfolgten und noch zu erwartenden Flüchtlingsbewegungen die Aufnahme und die Lebensbedingungen für Dublin-Rückkehrende in der Republik Polen so weitreichend verändern und verschlechtern würden, dass von einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszugehen sei.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens und des Verfahrens 22 K 3240/22.A sowie des im Klageverfahren beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamts verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der zulässige, insbesondere fristgemäß gestellte Antrag ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat nach den allgemeinen Grundsätzen zu § 80 Abs. 5 VwGO bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwischen dem sich aus der Regelung des § 75 AsylVfG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids und dem Interesse der jeweiligen Antragstellerin bzw. des jeweiligen Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung ihres bzw. seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragstellerin bzw. des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als voraussichtlich rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend hat die gegen Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes gerichtete Anfechtungsklage des Antragstellers unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage voraussichtlich keinen Erfolg. Denn diese erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Daher überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen anderen Staat, der nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) zuständig ist (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG), an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier mit hoher Wahrscheinlichkeit vor.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Das Bundesamt ist zutreffend von der Zuständigkeit der Republik Polen für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers ausgegangen. Diese ergibt sich vorliegend aus Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO, denn die Republik Polen hat dem Antragsteller am 13. Dezember 2021 ein vom 24. Dezember 2021 bis zum 15. Januar 2022 gültiges Schengen-Visum ausgestellt. Das Bundesamt hat auch nach Maßgabe von Art. 21 Dublin-III-VO rechtzeitig ein Aufnahmegesuch an die Republik Polen gerichtet. Polen wiederum hat auch rechtzeitig innerhalb von zwei Monaten gemäß Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO auf das Aufnahmegesuch geantwortet und sich für zuständig erklärt.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Zuständigkeit ist auch entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsätze 2 und 3 Dublin-III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen. Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">In Bezug auf Polen liegen derzeit keine wesentlichen Gründe für die Annahme vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende in der Situation des Antragstellers systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Hierzu hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf im Beschluss vom 10. August 2022 – 12 L 1303/22.A – folgendes ausgeführt (juris, Rn. 47 bis 106):</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">„Das Gemeinsame Europäische Asylsystem geht auf der Grundlage des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten davon aus, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie der EU-Grundrechtecharta finden. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Antragsteller oder Schutzberechtigte bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. [...] Die Überstellung eines Antragstellers oder Schutzberechtigten in einen Mitgliedstaat ist in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta zu erfahren. [...] Dabei ist es für die Anwendung von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta gleichgültig, ob das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betreffenden Person zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss besteht. [...] Insoweit ist das zuständige Gericht verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Derartige Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 der EU-Grundrechtecharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. [...] Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs können systemische Mängel in diesem Sinne erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein, ihm also nicht unbekannt sein können. [...] Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person reichen nicht aus, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Das Fehlen familiärer Solidarität ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not. Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta nicht aus. Schließlich kann der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt ist, eine gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta verstoßende Behandlung zu erfahren. [...] Ein Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta liegt daher erst vor, wenn die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, insbesondere eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren und zu waschen (‚Bett, Brot, Seife‘). [...] Der Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta muss dabei unabhängig vom Willen des Betroffenen drohen. Er liegt mithin nicht vor, wenn der Betroffene nicht den Versuch unternimmt, sich unter Zuhilfenahme der bescheidenen Möglichkeiten und gegebenenfalls unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes eine Existenz aufzubauen. [...] Nach diesen Vorgaben ist in Bezug auf Polen nach aktuellem Kenntnisstand nicht davon auszugehen, dass dem Antragsteller im Falle seiner Überstellung in dieses Land mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im eben beschriebenen Sinne droht. Dem Gericht liegen keine Erkenntnisse vor, die den Schluss rechtfertigen könnten, dass in Polen für Dublin-Rückkehrer in der Situation des Antragstellers systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen bestehen. [...] Der Antragsteller wird in Polen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Zugang zum Asylverfahren haben. Ungeachtet der Frage, ob gegenüber Ausländern, die nicht über amtliche Grenzübergänge ins Land gekommen sind, an der belarussisch-polnischen Grenze illegale Pushbacks stattfinden, [...] liegen jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Dublin-Rückkehrer entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) ohne eine Entscheidung über ihren Asylantrag in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. Es gibt keine Berichte über Zugangshindernisse zum Verfahren für Dublin-Rückkehrer. Personen, die im Rahmen der Dublin-Bestimmungen nach Polen zurückkehren, können bei der Grenzwache einen Asylantrag stellen oder die Wiedereröffnung eines etwaigen vorherigen Verfahrens beantragen. Eine Wiedereröffnung ist innerhalb von neun Monaten ab Einstellung möglich. Sind diese neun Monate verstrichen, wird der Antrag als Folgeantrag betrachtet und auf Zulässigkeit geprüft. [...] Für Asylbewerber besteht ab dem Zeitpunkt der Registrierung (nach Antragstellung) in einem der Erstaufnahmezentren ein Recht auf Versorgung während des gesamten Verfahrens, inklusive einer ersten Beschwerde. Asylbewerber, die in einem Zentrum leben, erhalten Unterkunft, Mahlzeiten, Taschengeld, Geld für Hygieneartikel und eine Einmalzahlung für Bekleidung. Asylbewerber, die außerhalb der Aufnahmezentren leben, erhalten eine finanzielle Beihilfe. Beide Gruppen erhalten einen Polnisch-Sprachkurs und Unterrichtsmaterialien, Unterstützung für Schulkinder, Geld für notwendige Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und medizinische Versorgung. [...] Eine andere Bewertung der Situation für Asylsuchende in Polen ist auch nicht im Hinblick auf einen aktuellen Bericht von ProAsyl geboten.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. ProAsyl, "Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden", vom 28. Juli 2022, abrufbar unter: https://www.proasyl.de/news.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Darin wird zwar argumentiert, Schutzsuchende, die von Polen nach Deutschland weitergeflohen seien, dürften nicht nach Polen zurückgeschoben werden, weil sie dort absehbar systematisch inhaftiert würden und die Haftbedingungen für Geflüchtete in Polen menschenunwürdig und erniedrigend sein könnten. Dies lässt sich der angegebenen Quelle in dieser Allgemeinheit aber nicht entnehmen. Nach dem AIDA-Bericht Polen 2021, Update May 2022, ist eine Inhaftierung zwar in allen Asylverfahren möglich, besonders im Falle eines illegalen Grenzübertritts und auch im Falle eines Transfers unter dem Dublin-Regime.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. AIDA Country Report: Poland, 2021 Update, Mai 2022, S. 91, abrufbar unter: https://asylumineurope.org.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Nach den weiteren Ausführungen des Berichts betreffen Inhaftierungen aber in erster Linie Personen nach ihrer illegalen Einreise über die polnisch-belarussische Grenze.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. AIDA Country Report: Poland, 2021 Update, Mai 2022, S. 88, abrufbar unter: https://asylumineurope.org.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen des Berichts lassen jedenfalls nicht den Schluss zu, dass auch Dublin-Rückkehrer systematisch inhaftiert und unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht werden. Es kann folglich nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Polen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit inhaftiert werden wird.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse und der zum Zeitpunkt der Entscheidung allgemein zugänglichen Informationen ist zudem davon auszugehen, dass dem Antragsteller auch für den Fall, dass er in Polen internationalen Schutz erhalten sollte, keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta droht. Die Situation anerkannter Schutzberechtigter im zuständigen Mitgliedstaat ist auch bei sogenannten Dublin-Rückkehrern bereits in den Blick zu nehmen. [...] Die Lebensverhältnisse für international Schutzberechtigte in Polen stellen sich nicht allgemein als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK dar. Ein vom Willen der Schutzberechtigten unabhängiger ‚Automatismus der Verelendung‘ lässt sich nicht feststellen. [...] Anerkannten Schutzberechtigten droht in Polen nicht automatisch die Obdachlosigkeit. Sie haben das Recht, sich noch für maximal zwei Monate nach der endgültigen Entscheidung über ihren Asylantrag in den Aufnahmezentren aufzuhalten. Der polnische Staat stellt Schutzberechtigten keine Wohnung zur Verfügung und es herrscht generell ein Mangel an Sozialwohnungen, sowohl für polnische Staatsbürger als auch für Schutzberechtigte. Einige Gemeinden bieten jedes Jahr Wohnungen speziell für Schutzberechtigte an. Berichten zufolge vermieten aber viele Vermieter nicht gerne an Flüchtlinge bzw. verlangen höhere Mieten. Viele NGOs meine, Flüchtlinge würden sich in Polen Obdachlosigkeit und Armut gegenüber sehen. Hierzu gibt es aber keine belastbaren Zahlen. [...] Schutzberechtigte haben wie polnische Bürger zwar vollen Zugang zum Arbeitsmarkt, in der Praxis sind jedoch fehlende Sprachkompetenz und Qualifikation der Flüchtlinge sowie Diskriminierung ein Problem. Schutzberechtigte können binnen 60 Tagen ab Statuszuerkennung die Teilnahme an einem speziellen Individual Integration Program (IPI), das von den Poviat Family Support Centers (PCPR) angeboten wird, beantragen. Integrationshilfe wird für 12 Monate gewährt. Sie umfasst unter anderem eine Beihilfe für Polnisch-Kurse, Übernahme der Krankenversicherung und Sozialberatung. Abhängig von der Haushaltsgröße erhalten die Teilnehmer zwischen 158 und 317 Euro pro Person in den ersten sechs Monaten und zwischen 149 und 288 Euro pro Person in den zweiten sechs Monaten. Die Teilnehmer werden auch bei der Arbeitssuche und bei der Suche nach Wohnraum unterstützt, gegebenenfalls wird eine Beihilfe für das Mieten einer Wohnung gezahlt. [...] Schutzberechtigte haben wie polnische Bürger Zugang zum allgemeinen polnischen Sozialsystem und können Sozialhilfe erhalten, wenn sie eine gewisse Einkommensgrenze nicht überschreiten. Sie haben ebenfalls Zugang zu verschiedenen Familienbeihilfen. In der Praxis bestehen aber auch hier oft Zugangsprobleme aufgrund von mangelnden Sprachkenntnissen, mangelndem Wissen über ihre Rechte und administrative Hürden. [...] International Schutzberechtigte haben ein Recht auf medizinische Versorgung wie polnische Staatsbürger, was bedeutet, dass sie grundsätzlich eine Krankenversicherung haben müssen. Während sie eine Integrationshilfe beziehen, müssen sie sich arbeitslos melden und werden von der öffentlichen Hand krankenversichert. Nach Ende der Integrationshilfe muss die Krankenversicherung entweder von einem etwaigen Arbeitgeber, dem zuständigen Arbeitsamt (wenn der Betreffende arbeitslos gemeldet ist) oder vom Schutzberechtigten selbst übernommen werden. Die administrativen Hürden für den Zugang zu medizinischer Versorgung in Polen gelten als hoch und langwierig. [...] Selbst wenn sich danach die Situation für Dublin-Rückkehrende bzw. für anerkannt Schutzberechtigte in Polen schwieriger darstellt als in Deutschland, ergibt sich hieraus keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK. Es ist zu berücksichtigen, dass Dublin-Rückkehrer bzw. Schutzberechtigte nicht grundsätzlich schlechter gestellt sind als polnische Staatsbürger. Ein vom eigenen Willen des Asylsuchenden bzw. Schutzberechtigten unabhängiger Automatismus der Verelendung bei einer Rückkehr nach Polen lässt sich nach dem Vorstehenden jedenfalls nicht feststellen. Eine möglicherweise zu besorgende Verschlechterung auch der wirtschaftlichen Situation in Polen im Gegensatz zur Situation in Deutschland ist dem Antragsteller angesichts der oben aufgezeigten hohen Hürden für die Annahme systemischer Mängel zumutbar und rechtlich tolerierbar.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Eine andere Bewertung ist auch nicht im Hinblick auf den derzeit fortdauernden Ukrainekrieg und die sich hieraus ergebenden Flüchtlingsbewegungen nach Polen geboten. Zwar sind nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 ca. 4,8 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen geflohen, die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine, die für vorübergehenden Schutz oder ähnliche nationale Schutzsysteme in Polen registriert sind, beträgt (Stand: 18. Juli 2022) indes ‚nur‘ 1.235.000.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Flüchtlingssituation in der Ukraine, abrufbar unter: https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine/location/10781, Stand: 19. Juli 2022.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Ferner ist festzustellen, dass zwischen dem 27. Februar 2022 und 9. März 2022 täglich noch zwischen 100.000 und (in der Spitze) 140.000 Menschen zum Schutz vor dem Krieg nach Polen eingereist sind, die täglichen Einreisezahlen seit Mitte März 2022 aber deutlich gesunken sind. Sie lagen seit dem 28. März 2022 bei täglich zwischen 9.000 und 28.000 Personen und zuletzt nur zwischen 16.000 und 21.000 Personen pro Tag.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Flüchtlingssituation in der Ukraine, abrufbar unter: https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine/location/10781, Stand: 19. Juli 2022.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Zuletzt ist auch eine verstärkte Rückkehr der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in ihr Herkunftsland zu verzeichnen. So haben in der Zeit vom 10. Mai 2022 bis zum 19. Juli 2022 täglich zwischen 20.000 und 30.000 Grenzübertritte in die Ukraine stattgefunden.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Flüchtlingssituation in der Ukraine, abrufbar unter: https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine/location/10781, Stand: 19. Juli 2022.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zu berücksichtigen ist ferner, dass Schutzsuchende aus der Ukraine aufgrund des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates der Europäischen Union vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes nicht das üblicherweise vorgesehene Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern in einem vereinfachten Verfahren einen europaweit gültigen vorübergehenden Schutz mit entsprechendem Zugang zum Arbeitsmarkt und etwaigen Sozialleistungen erhalten (können). Die Aktivierung der Richtlinie 2001/55/EG vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (Massenzustrom-Richtlinie) soll eine ausgewogene Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten fördern.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. Art. 1 der Richtlinie 2001/55/EG (Massenzustrom-Richtlinie); ferner Erwägungsgründe 16 und 20 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 vom 4. März 2022.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Schutzsuchenden aus der Ukraine zu einem beachtlichen Teil in privat organisierten Unterkünften untergebracht werden oder weiterreisen, was im März 2022 dazu führte, dass die von lokalen polnischen Behörden eingerichteten Unterkunftszentren mit einer Kapazität für ca. 280.000 Menschen weitgehend unbewohnt geblieben sind.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Situation in der Ukraine: Flash-Update Nr. 1 vom 8. März 2022, S. 4, abrufbar unter: https://data.unhcr.org/en/documents/details/91208, Stand: 26. Juli 2022; VG Lüneburg, Beschluss vom 3. Mai 2022 – 5 B 31/22 –, juris, S. 8 f. des Urteilabdrucks.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Dem Gericht liegen keine Berichte oder andere Erkenntnismittel vor, wonach es derzeit zu einer Überforderung des polnischen Asylsystems kommen soll, etwa durch Engpässe bei der Flüchtlingsunterbringung und -versorgung. [...] Der Antragsteller hat keine aktuellen Erkenntnisse benannt, die die vorstehenden Ausführungen zu den Lebensbedingungen von Asylbewerbern und Personen mit internationalem Schutzstatus in Polen in Frage stellen könnten. Individuelle, in der Person des Antragstellers liegende besondere Gründe, die im Falle der Rückkehr nach Polen als Asylbewerber oder der Zuerkennung internationalen Schutzes hinsichtlich der dann zu erwartenden Lebensverhältnisse auf eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK schließen lassen könnten, liegen nicht vor.“</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Dieser Einschätzung schließt sich der hier zur Entscheidung berufene Einzelrichter nach eingehender Auswertung der vom VG Düsseldorf herangezogenen Erkenntnismittel, insbesondere des auch im vorliegenden Verfahren vom Antragsteller vorgelegten Berichts von ProAsyl sowie des „AIDA Country Report: Poland, 2021 Update, Mai 2022“, vollumfänglich an. Zwar ist dem Antragsteller zuzugeben, dass die benannten Berichte durchaus geeignet sind, Zweifel in Bezug auf die Europarechtskonformität des polnischen Asylsystems zu wecken. Insgesamt liegen jedoch keine hinreichend belastbaren Zahlen und/oder Fakten vor, auf deren Grundlage ein Abweichen vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden könnte.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Ein Zuständigkeitsübergang ergibt sich auch nicht aus Art. 17 Dublin-III-VO. Die Antragsgegnerin hat von ihrem in dieser Vorschrift geregelten Selbsteintrittsrechts ausdrücklich keinen Gebrauch gemacht. Zwar erweist sich die im angefochtenen Bescheid enthaltene Begründung insoweit als ermessensfehlerhaft. Nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung). Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts steht im Ermessen der Antragsgegnerin. Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht gemäß § 114 Satz 1 VwGO auch, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. So liegt der Fall hier. Ausgehend von der in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Ermessensfehlerlehre</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">(vgl. Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Band VwGO (Stand: Februar 2022), VwGO § 114, Rn. 56 ff. m. w. N.)</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">liegt hier ein Fall des sogenannten Ermessensfehlgebrauchs vor. Das Bundesamt hat zwar innerhalb der von Art. 17 Dublin-III-VO vorgegebenen Grenzen sein Ermessen ausgeübt. Die Entscheidungsfindung, konkret die Entscheidung, vom Selbsteintrittsrecht keinen Gebrauch zu machen, erweist sich jedoch als ermessensfehlerhaft, weil sie den Zweck der Ermächtigung verfehlt. Der Zweck der Ermächtigung ergibt sich unter anderem aus Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO. Danach kann der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Artikeln 8 bis 11 und 16 nicht zuständig ist. Zwar betrifft diese Vorschrift die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO dem Wortlaut nach nicht unmittelbar; der darin ausdrücklich angesprochene humanitäre Grund der Zusammenführung von Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung stellt aber bei systematischer Auslegung von Art. 17 Dublin-III-VO sowie unter Berücksichtigung des 17. Erwägungsgrundes der Dublin-III-VO auch bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts einen maßgeblichen und relevanten Gesetzeszweck dar, den es bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts zu beachten gilt. Hiervon geht im Übrigen auch das Bundesamt selbst aus, wenn es auf Seite 9 des angefochtenen Bescheids den Sachvortrag des Antragstellers, wonach dessen Onkel in Deutschland lebe, im Rahmen der Ausübung des Selbsteintrittsrechts prüft. Die entsprechenden Ausführungen des Bundesamts sind aber insofern ermessensfehlerhaft, als es die Ausübung des Selbsteintrittsrechts mit der Begründung ablehnt, dass es sich bei dem in Deutschland lebenden Onkel des Antragstellers nicht um einen Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 lit. g) Dublin-III-VO handele. Wie oben bereits dargestellt, zielt Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO jedoch auf die Zusammenführung von Personen „jeder verwandtschaftlichen Beziehung“ ab. Hier war also nicht auf den Begriff „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 lit. g) Dublin-III-VO, sondern auf den Begriff „Verwandter“ im Sinne von Art. 2 lit. h) Dublin-III-VO abzustellen. Danach meint der Begriff „Verwandter“ u.a. den volljährigen Onkel des Antragstellers. Das Bundesamt hat also verkannt, dass auch der Umstand eines in Deutschland lebenden Onkels des Antragstellers im Rahmen der Ausübung des Selbsteintrittsrechts hätte berücksichtigt werden müssen.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Dies führt im Ergebnis jedoch nicht zur Zuständigkeit der Antragsgegnerin. Dem Antragsteller steht insoweit (lediglich) ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu, weil für eine Ermessensreduzierung auf null hier nichts ersichtlich. Mit Blick auf die Möglichkeit der Antragsgegnerin, im Hauptsacheverfahren die Ermessenserwägungen nach Maßgabe von § 114 Satz 2 VwGO zu ergänzen, wirkt sich der festgestellte Ermessensfehler im Rahmen der Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO nicht zugunsten des Antragstellers aus.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Einer Überstellung des Antragstellers nach Polen stehen nach derzeitigem Kenntnisstand auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegen. Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes aus § 60 Abs. 5 AufenthG ist nach dem zuvor Gesagten nichts ersichtlich. Es liegt auch kein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Anhaltspunkte dafür, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sein könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt für ein der Abschiebung nach Polen entgegenstehendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das im Rahmen einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG ausnahmsweise von der Antragsgegnerin auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen wäre.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen auch im Übrigen keine Bedenken, so dass die Abschiebung des Antragstellers nach Polen gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden kann. Die Überstellung des Antragstellers nach Polen ist nach allem rechtlich zulässig und auch tatsächlich möglich. Polen hatte mit Rundschreiben vom 25. Februar 2022 zwar alle eingehenden Dublin-Transfers bis auf weiteres suspendiert. Inzwischen haben die zuständigen polnischen Behörden mit Rundschreiben vom 23. Juni 2022 aber mitgeteilt, ab dem 1. August 2022 Dublin-Transfers nach Polen wieder aufzunehmen. Ungeachtet dessen hatte die Republik Polen im vorliegenden Fall mit Schreiben vom 17. Mai 2022 und damit nach dem Rundschreiben vom 25. Februar 2022 das Aufnahmegesuch vom 3. Mai 2022 ausdrücklich angenommen und der Aufnahme des Antragstellers zugestimmt.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
346,820
olgham-2022-08-30-5-ws-23122
{ "id": 821, "name": "Oberlandesgericht Hamm", "slug": "olgham", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
5 Ws 231/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-10-05T10:02:08"
"2022-10-17T11:10:48"
Beschluss
ECLI:DE:OLGHAM:2022:0830.5WS231.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Beschluss des Landgerichts Essen vom 24.05.2022 wird aufgehoben, soweit darin die Herausgabe folgender Gegenstände an den Insolvenzverwalter angeordnet wird:</p> <p>Automarke01 Karosse Kar01 Model Mod01 (..) FIN FIN01</p> <p>Automarke01 Karosse Kar02 (..) FIN FIN02</p> <p>Automarke01 Mod02 FIN FIN03.</p> <p>Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet verworfen.</p> <p>Die Gebühren für das Beschwerdeverfahren werden auf 1/2 ermäßigt. Die notwendigen Auslagen der Staatskasse, der Beteiligten und der Angeklagten tragen die Angeklagte und die Staatskasse zu je 1/2.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Angeklagte und Beschwerdeführerin war Geschäftsführerin der A GmbH in B. Geschäftsgegenstand der Gesellschaft war das Reparieren und Restaurieren sowie die Vermietung von Kraftfahrzeugen aller Art und der Handel mit Fahrzeugteilen. Am 05.02.2019 stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft. Dieses wurde in der Folge eröffnet und Rechtsanwalt C aus B zum Insolvenzverwalter bestellt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 20.05.2021 erhob die Staatsanwaltschaft Essen Anklage u.a. gegen die Beschwerdeführerin und legte dieser verschiedene Urkunds-, Betrugs- und Insolvenzdelikte zur Last. Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Anklageschrift Bezug genommen. Das Landgericht Essen ließ die Anklage mit Beschluss vom 18.01.2022 zur Hauptverhandlung zu.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens hatte das Amtsgericht Essen am 04.05.2020 einen Durchsuchungsbeschluss betreffend eine Halle an der Cstraße 00 in E zum Zwecke der Sicherstellung von Beweismitteln angeordnet. An dieser Adresse befand sich seit dem Jahr 2018 die Werkstatt der A GmbH. Die Gesellschaft hatte diesbezüglich am 21.12.2017 einen Mietvertrag mit der Angeklagten geschlossen, die zugleich Vermieterin war.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Durchsuchung wurde am 14.05.2020 durchgeführt. Neben Geschäftsunterlagen wurden die im Tenor genauer bezeichneten zwei Automarke01 Karosserien sowie das im Tenor bezeichnete Fahrzeug sichergestellt.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 19.05.2020 beantragte der Insolvenzverwalter die Herausgabe der Karosserien und des Fahrzeuges. Die Angeklagte beantragte mit Schriftsatz vom 20.11.2021 ihrerseits, die Karosserien und Fahrzeuge an sie herauszugeben. Wegen der Begründung der Anträge wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die I. Große Strafkammer – Wirtschaftsstrafkammer – des Landgerichts Essen hat mit Beschluss vom 24.05.2022 den Antrag der Angeklagten auf Herausgabe der Karosserien und des Fahrzeuges zurückgewiesen und angeordnet, dass diese an den Insolvenzverwalter herauszugeben sind. Ferner hat es Herausgabeanordnungen bzgl. diverser Unterlagen getroffen. Betreffend die Karosserien bzw. das Fahrzeug hat das Landgericht zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Antrag der Angeklagten auf Herausgabe gemäß § 111n Abs. 1 StPO habe keinen Erfolg, da die Voraussetzungen der Herausgabe nicht offenkundig seien. Es gebe hinreichende Verdachtsmomente dafür, dass die Karosserien und das Fahrzeug zur Insolvenzmasse der A GmbH und nicht zum Privatvermögen der Angeklagten gehören. So befänden sich sowohl der Automarke01 Mod02 als auch die beiden Automarke01-Karossen auf einer Inventurliste der Gesellschaft vom 05.09.2018, welche angeblich für eine Versicherung gefertigt worden sei, sowie auf einer anlässlich einer „Exklusivvereinbarung – Unternehmensvermittlung“ vom 22.11.2012 gefertigten Aufstellung. Ferner hätten sich die Gegenstände und das Fahrzeug innerhalb der von der Gemeinschuldnerin gemieteten Räumlichkeiten befunden, was angesichts der Vermutung des § 1006 BGB auf deren Eigentum schließen lasse. Die Ausführungen der Angeklagten dazu, dass auf den genannten Auflistungen auch Privateigentum aufgeführt worden sei, seien wenig plausibel und ferner nicht geeignet, die tatsächlichen Gewahrsamsverhältnisse zu widerlegen. Gleiches gelte betreffend weiterer von der Angeklagten vorgelegter Unterlagen. Diese beträfen sämtlich behauptete Verpflichtungsgeschäfte und berührten die tatsächlichen Gewahrsams- oder Besitzverhältnisse nicht. Auch die von der Angeklagten angeführte „Präambel“ vom 22.06.2012 nach der der Automarke01 Mod02 von der Sacheinlage bei Gründung der GmbH ausgenommen worden sein solle, sei nicht geeignet, eine Eigentümerstellung der Angeklagten nachzuweisen, da der Sachgründungsbericht sowie der Gesellschaftsvertrag der GmbH vom selben Tage diese Einschränkung gerade nicht enthielten. Ferner ergebe sich die Eigentümerstellung nicht aus der von der Angeklagten vorgelegten Sicherungsvereinbarung der GmbH mit der Fbank G vom 25.10.2012, welche im Widerspruch zu dem vorgelegten Kaufvertrag vom 22.06.2012 stehe, nach dem der Wagen bereits zu diesem Zeitpunkt der Angeklagten verkauft und übergeben worden sein solle. Zur Herausgabe an den Insolvenzverwalter hat das Landgericht sodann ausgeführt, diese sei gemäß § 111n Abs. 1 StPO anzuordnen, da dieser offenkundig letzter Gewahrsamsinhaber gewesen sei. Die Kammer orientiere sich bei dem Begriff der Offenkundigkeit an den gesetzlichen Vermutungen, damit richte sich gemäß § 1006 BGB die Zuordnung maßgeblich danach, wer den letzten Besitz innegehabt habe. Dies sei für die angemieteten Hallen, in denen sich die sichergestellten Karosserien und das Fahrzeug befunden hätten, zweifelsfrei die Gemeinschuldnerin. Die Angeklagte habe die Vermutung aus § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB weder erschüttert noch wiederlegt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Angeklagte hat sowohl persönlich am 03.06.2022 als auch durch Schriftsatz ihres Verteidigers vom 02.06.2022 gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Fahrzeuge bzw. Karossen hätten zum Zeitpunkt der Beschlagnahme im Gewahrsam der Angeklagten gestanden. Die Karosserien und das Fahrzeug hätten sich in den nicht an die Gesellschaft vermieteten Hallenteilen und damit in ihrem Gewahrsam befunden. Zur Verdeutlichung dessen, welche Räumlichkeiten des Hallenkomplexes Gegenstand des Mietvertrages gewesen seien, hat die Angeklagte in dem dem Mietvertrag mit der Gesellschaft angefügten Grundriss die nach ihrer Auffassung vermieteten Flächen nachträglich durch Schraffierungen markiert. Weiter hat sie vorgetragen, der Mietvertrag sei durch sie bereits zum 31.12.2019 gekündigt, die Hallen im Anschluss vollständig leergeräumt und vor der Sicherstellung bereits erneut vermietet worden. Die Gemeinschuldnerin habe daher zum Zeitpunkt der Sicherstellung auch an den zunächst durch sie angemieteten Räumlichkeiten keinen Gewahrsam mehr gehabt. Hinsichtlich der Sicherungsübereignung an die Fbank G hat die Angeklagte darauf hingewiesen, dass diese nicht durch die Gesellschaft, sondern durch sie persönlich erfolgt sei. Im Hinblick auf die im Beschluss des Landgerichts in Bezug genommenen Listen hat sie ausgeführt, es handele sich nicht um eine Inventurliste, sondern um eine Liste, die für die Versicherung erstellt worden sei, auf welcher sämtliche in den Räumlichkeiten befindliche Gegenstände unabhängig von der Eigentumslage, also sowohl Gesellschafts- als auch Privat- und Kundenwagen, aufgeführt worden seien. Die weitere Liste „Exklusivvereinbarung – Unternehmensvermittlung“ vom 22.11.2012 habe auch Privatfahrzeuge aufgeführt, da auch deren Verkauf im Raum gestanden habe. Ferner hat die Angeklagte vorgetragen, der Automarke01 Mod02 sei ihr am 26.05.2012 übereignet worden. Wegen der weiteren Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat am 20.06.2022 beschlossen, der Beschwerde nicht abzuhelfen. Die A GmbH sei offenkundig letzte Gewahrsamsinhaberin gewesen. Dies ergebe sich für die Automarke01 Karosse Kar01 Model Mod01 (..) FIN FIN01 sowie den Automarke01 Mod02 bereits daraus, dass diese in Hallenteilen gestanden hätten, die Teil des Mietvertrages gewesen seien. Die vorgenannte Automarke01 Karosserie habe in einem insgesamt an die Gesellschaft vermieteten Raum befunden (Raum 1 nach der Lichtbildmappe zur Durchsuchung am 14.05.2020). Zwar sei der Raum, in dem sich bei der Durchsuchung der Automarke01 Mod02 sowie die Automarke01 Karosse Kar02 (..) FIN FIN02 befanden (Raum 3 nach der Lichtbildmappe zur Durchsuchung am 14.05.2020), nach den Angaben der Angeklagten nur teilweise an die Gemeinschuldnerin vermietet gewesen. Das Fahrzeug mit der FIN FIN02 habe dort aber ausweislich der bei der Durchsuchung gefertigten Lichtbilder im Bereich vor dem Treppenabgang und damit in dem vermieteten Teil des Raumes gestanden. Lediglich die Karosserie mit der FIN FIN03 (hierbei handelt es sich um den Automarke01 Mod02) habe in dem nicht an die Gesellschaft vermieteten Teil des Raumes 3 gestanden. Tatsächlich habe es aber keine räumliche Trennung der Bereiche gegeben. Der gesamte Raum 3 sei ausweislich der Lichtbilder als Lagerraum und zum Lackieren von Fahrzeugen genutzt worden und damit dem Geschäftsbereich der Gesellschaft zuzuordnen. Aus der von der Angeklagten vorgetragenen Kündigung des Mietverhältnisses ergebe sich hinsichtlich der Gewahrsamsverhältnisse nichts anderes, da das Übergabeprotokoll erst auf den 06.06.2020 datiere. Der Vortrag der Angeklagten, die Hallen seien bei Übergabe leer gewesen in Zusammenhang mit der Eingabe von Fotos vom 03.01.2020, auf welchen leere Hallen zu sehen seien, sei unverständlich. Dies decke sich ersichtlich nicht mit dem bei der Durchsuchung vorgefundenen Zustand. Soweit die Angeklagte im Rahmen der Beschwerde erstmals vortrage, die Übereignung des Automarke01 Mod02 habe am 26.05.2012 stattgefunden, so sei die Angeklagte zu diesem Zeitpunkt aufgrund der ausweislich des Gründungsberichts bereits mit Wirkung zum 01.01.2012 erfolgten Übertragung auf die Gemeinschuldnerin nicht mehr zur Verfügung über den Pkw berechtigt gewesen. Angesichts der Auflistung des Automarke01 Mod02 sowie der beiden Karosserien in der Inventurlisteaus dem Jahr 2018 sei auch die dingliche Berechtigung der Gemeinschuldnerin offenkundig.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Angeklagte hat mit Schriftsätzen ihres Verteidigers vom 29.06.2022 und 29.07.2022 ergänzend Stellung genommen. Sie hat unter anderem vorgetragen, die von der Kammer dargestellten Situationsdarstellungen stimmten nicht oder die Standflächen der Fahrzeuge seien durch die Polizeibeamten verändert worden. Die Übereignung am 26.05.2012 sei berechtigt erfolgt. Der Sachgründungsbericht sei nicht beurkundet oder Gegenstand des Gesellschaftsvertrags geworden. Die Angeklagte hat ihren Vortrag, es handele sich bei der Liste aus dem Jahr 2018 nicht um eine Inventurliste, wiederholt und dahingehend vertieft, die Inventurlisten seien von ihr stets handschriftlich verfasst worden. Wegen der weiteren Ausführungen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Schriftsätze Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Sowohl die Angeklagte als auch der Insolvenzverwalter haben ergänzend Stellung genommen. Letzterer hat im Wesentlichen vorgetragen, er habe ausfindig gemacht, dass die Automarke01 Karosse Kar02 (..) FIN FIN02 im Jahr 2015 von der A GmbH gekauft worden sei, und einen diesbezüglichen Kaufvertrag vorgelegt. Die Angeklagte hat ihren Vortrag wiederholt und vertieft. Ergänzend hat sie insbesondere ausgeführt, das Objekt an der Cstraße sei durch den Insolvenzverwalter am 05.05.2020 bzw.06.05.2020 komplett geräumt worden. Dies ergebe sich aus dem entsprechenden Protokoll, das versehentlich auf den 06.06.2020 datiert worden sei. Wegen der weiten Ausführungen wird im Übrigen auf den Schriftsatz Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die – ausweislich ihrer Begründung auf die Herausgabe der im Tenor genannten Fahrzeuge bzw. Fahrzeugteile beschränkte - gemäß §§ 304, 111o Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässig erhobene Beschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">1.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Eine Herausgabe der Karosserien sowie des Automarke01 Mod02 sowohl an den Insolvenzverwalter als auch an die Angeklagte hat derzeit zu unterbleiben.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">a.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 111n Abs. 1 StPO wird eine sichergestellte Sache, die für Zwecke des Strafverfahrens nicht mehr benötigt wird, grundsätzlich an den letzten Gewahrsamsinhaber herausgegeben. Abweichend hiervon wird die Sache gemäß § 111n Abs. 3 StPO an einen Dritten herausgegeben, wenn der Herausgabe an den Gewahrsamsinhaber der Anspruch des Dritten entgegensteht und dieser bekannt ist. Gemäß § 111n Abs. 4 StPO erfolgt die Herausgabe jedoch nur, wenn ihre Voraussetzungen offenkundig sind. Die Voraussetzungen müssen dabei in allen Fällen des § 111n StPO offenkundig im Sinne von offensichtlich sein, was sich daraus ergibt, dass diese Voraussetzung nunmehr in einem gesonderten Absatz geregelt wurde (vgl. Köhler, in Meyer-Goßner /Schmitt, StPO, 65. Aufl., 2022, § 111n Rn. 16). Die Offenkundigkeit setzt voraus, dass der Berechtigte aufgrund der Aktenlage feststeht oder er seine Berechtigung nachweist – z.B. durch einen zivilrechtlichen Titel (BT-Drs. 18/9525, 83). Die Frage der Offenkundigkeit ist anhand aller im Entscheidungszeitpunkt vorhandenen Beweismittel zu beurteilen, eine Beschränkung auf eine bestimmte Art der Erkenntnisgewinnung, wie in den §§ 244, 245 StPO, ist dem Willen des Gesetzgebers im Rahmen des § 111n StPO nicht zu entnehmen. (vgl. BT-Drs. 18/9525, 83; LG Rostock, Beschluss vom 09.04.2018 – 18 Qs 32/18 – beck online). Allerdings ist in Anbetracht dessen, dass Herausgabeanordnungen nach § 111n StPO dem gerichtlichen Erkenntnisverfahren typischerweise vorgreifen und dazu führen können, dass sich davon abweichende Ergebnisse praktisch nicht mehr umsetzen lassen, der nötige Grad an Sicherheit für die Annahmen, auf deren Grundlage eine Entscheidung nach § 111n StPO getroffen wird, auch aus teleologischen Gründen hoch anzusetzen (vgl. LG Rostock a.a.O.)</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Ist bei Zugrundelegung dieses Maßstabes nicht offenkundig, wem die Sache zusteht, darf sie nicht herausgegeben werden, weil sie dann weiterhin für die Zwecke des Strafverfahrens benötigt wird, in dem eine gerichtliche Entscheidung über ihre Einziehung zu treffen ist (vgl. Köhler, a.a.O., Rn. 8; Huber, in BeckOK, StPO, 44. Edition, Stand: 01.07.2022 Rn. 15). Dies ist vorliegend der Fall.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zwar soll es bei einem Fehlen der Offenkundigkeit in Fällen, in denen die beschlagnahmte Sache – wie hier – ausschließlich als nicht mehr benötigtes Beweismittel sichergestellt wurde, nach teils vertretener Ansicht abweichend von Vorstehendem bei der Grundregel des § 111n Abs. 1 StPO, also der Herausgabe an den letzten Gewahrsamsinhaber, bleiben. Dies jedoch wiederum dann nicht, wenn die beschlagnahmte Sache als Gegenstand einer selbständigen Einziehung in Betracht kommt (vgl. BT-Drs. 18/9525, 84; Spillecke, in Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., 2019, § 111n Rn. 10; LG Rostock, a.a.O.). Vorliegend ist aber – wie sogleich auszuführen sein wird – bereits der letzte Gewahrsamsinhaber nicht offenkundig. Ferner kommt eine Einziehung der sichergestellten Gegenstände in Betracht. Die Herausgabeverlangen sind daher auch unter Zugrundelegung dieser Auffassung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">b.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht offenkundig, wer zum Zeitpunkt der Sicherstellung der Karosserien und des Pkws Gewahrsamsinhaber gewesen ist.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Automarke01 Karosse Kar02 (..) FIN FIN02 sowie des Automarke01 Mod02 ist nach Aktenlage bereits nicht offenkundig im Sinne von offensichtlich, ob sich diese in an die Gemeinschuldnerin vermieteten Hallenbereichen befanden. Soweit das Landgericht insoweit darauf abgestellt hat, die Karosserie habe sich ausweislich der bei der Durchsuchung gefertigten Lichtbilder im Bereich vor dem Treppenabgang und damit in dem vermieteten Bereich befunden, vermag der Senat auf den Lichtbildern einen Treppenabgang bereits nicht zu erkennen. Sofern sich dessen vermutliche Lage aus dem Abgleich der Lichtbilder mit dem Bauplan ergeben kann, ist dies jedenfalls nicht offenkundig.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Unabhängig hiervon steht jedoch bereits die Frage, welche Hallenteile Gegenstand des Mietvertrages gewesen sind, nach der Aktenlage nicht offenkundig fest. Die nunmehr mittels Schraffierungen durch die Angeklagte vorgenommenen Markierungen sind nicht Teil des Mietvertrages gewesen. Dieser enthält lediglich eine Quadratmeterzahl und nimmt Bezug auf einen Plan, der den gesamten Bauplan der Hallen ohne die nachträglichen Markierungen zeigt. Welche genauen Flächen damit Gegenstand des Mietvertrages gewesen sind, ist damit nicht offenkundig festzustellen, zumal die Angeklagte den Abschluss des Mietvertrages sowohl für die Gesellschaft als auch persönlich als Vermieterin vorgenommen hat.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist auch bezüglich solcher Flächen, die als vermietet anzusehen sind, die Gewahrsamslage zum Zeitpunkt der Sicherstellung nicht offenkundig. Aus dem Vortrag der Angeklagten ergibt sich, die Hallen seien nach Kündigung des Mietverhältnisses vollständig leer geräumt und die bei der Durchsuchung vorgefundenen Gegenstände erst im Anschluss eingebracht worden. Bis zu welchem Zeitpunkt die Gemeinschuldnerin nach Kündigung des Mietverhältnisses Besitz an den Hallen behalten hat, steht nach der Aktenlage nicht fest. Wenn auch der Besitz an den Mieträumlichkeiten mit Ende des Mietverhältnisses nicht automatisch erlischt, so ist andererseits nicht notwendig davon auszugehen, dass dieser bis zur Zeichnung eines Übergabeprotokolls durch den Mieter fortbesteht. Es ist vielmehr ebenso möglich, dass der Besitz bereits zuvor endet, weil der Mieter – sei es durch eigenmächtige Handlungen des Vermieters – die tatsächliche Zugriffsmöglichkeit auf die Mietsache verliert. Dies ist vorliegend aufgrund des Vortrages der Angeklagten möglicherweise der Fall gewesen. Aus dem Umstand, dass zum Zeitpunkt der Durchsuchung zahlreiches Werkstattzubehör in den Hallen vorhanden war, lässt sich ebenfalls kein hinreichend sicherer Schluss auf die Gewahrsamsverhältnisse ziehen. Denn es ist nicht offenkundig, wem diese Gegenstände (Hebebühnen, Lackierzubehör etc.) zuzuordnen sind, zumal der Zeuge H in seiner Vernehmung bekundet hat, auch der Mitangeklagte I habe in Teilen der Halle „geschraubt“. Auch aus dem Übergabeprotokoll datiert auf den 06.06.2020 lässt sich nicht offenkundig auf die Gewahrsamsverhältnisse schließen. Dies folgt – unabhängig von der Bewertung der Frage, ob das Schriftstück eine Übergabe der Mieträumlichkeiten dokumentiert – bereits daraus, dass die Angeklagte vorträgt, das Protokoll sei falsch datiert. Tatsächlich habe die Übergabe am 05. bzw. 06.05.2020 und damit abweichend von der erfolgten Datierung vor der Sicherstellung stattgefunden.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">c.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ferner bestehen auch keine offenkundigen Rechte der Angeklagten oder der Gesellschaft an den sichergestellten Karosserien und dem Fahrzeug.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat dies betreffend mögliche Rechte der Angeklagten mit zutreffender Begründung ausgeführt, auf welche zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird. Soweit die Angeklagte darauf hingewiesen hat, das Landgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, die Sicherungsübereignung sei durch die GmbH erfolgt, ergibt sich hieraus nichts anderes. Angesichts der zahlreichen im Ermittlungsverfahren vorgelegten den Erwerb und die Übertragung der Karosserien und das Fahrzeug betreffenden Unterlagen, die teils im Widerspruch zueinander stehen, steht die dingliche Berechtigung an diesen nach der Aktenlage nicht offensichtlich fest und ist damit nicht offenkundig. Die Auflistung der Karosserien und des Fahrzeugs auf der „Inventur 08.18-2.xlsx“ genannten Liste vom 05.09.2018 sowie auf der Liste zur „Exklusivvereinbarung – Unternehmensvermittlung“ vom 22.11.2012 sprechen zwar für eine Zuordnung in das Gesellschaftsvermögen. Offensichtlich ist diese jedoch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Angeklagten dazu, aus welchen Gründen die Listen auch Privatgegenstände enthalten hätten, sowie des Umstands, dass die Karosserien und das Fahrzeug auf den bei der Akte befindlichen handschriftlichen Inventurlisten nicht aufgeführt sind, ebenfalls nicht.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Da die Herausgabeanordnung an den Insolvenzverwalter aufgehoben wurde, dauert die Beschlagnahme fort (vgl. Spillecke in: KK-StPO, 8. Aufl., § 111 n Rdn. 10).</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">2.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 4 StPO.</p>
346,794
vg-stuttgart-2022-08-30-2-k-147221
{ "id": 160, "name": "Verwaltungsgericht Stuttgart", "slug": "vg-stuttgart", "city": 90, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
2 K 1472/21
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:35"
"2022-10-17T11:10:45"
Urteil
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p><p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <h2>Tatbestand</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt von der Beklagten die Erteilung einer Baugenehmigung zur Neuerrichtung eines Zweifamilienwohnhauses.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Er ist Eigentümer des Grundstücks A. im Stadtbezirk Mitte der Beklagten (im Folgenden: Vorhabengrundstück). Es ist bebaut mit einem Mehrfamilienwohnhaus und liegt im Geltungsbereich zweier einfacher Bebauungspläne der Beklagten aus den 1920er-Jahren sowie des Baustaffelplans 1935/500 der Beklagten vom 01.08.1935, der für das Grundstück als Art der baulichen Nutzung „Baustaffel 6 - Wohngebiet und Kleinhausgebiet“ nach der Ortsbausatzung der Beklagten vom 25.06.1935 festsetzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Im Januar 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erteilung eines Bauvorbescheids über die Neubebauung seines Grundstücks; diesen Antrag nahm er im März 2017 nach Hinweisen auf Mängel des Antrags und seiner Unterlagen zurück. Im Februar 2019 beantragte er die Erteilung einer Baugenehmigung und nahm auch diesen Antrag nach Hinweisen auf Mängel im April 2019 zurück. Einen weiteren Bauantrag stellte er im August 2019, welchen die Beklagte mit Bescheid vom 09.10.2019 zurückwies.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Im Februar 2020 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut, ihm eine Baugenehmigung für die Neuerrichtung eines Zweifamilienwohnhauses zu erteilen und reichte hierzu Bauvorlagen ein. Nunmehr habe er alle Hinweise der Beklagten befolgt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit Schreiben vom 05.03.2020 wies ihn die Beklagte auf rund 30 Mängel seines Antrags hin und forderte ihn zu deren Beseitigung bis zum 26.03.2020 auf, da sein Bauantrag anderenfalls zurückgewiesen werden müsse. Diese Frist wurde mehrfach verlängert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Am 06.05.2020 reichte der Kläger überarbeitete Antragsunterlagen bei der Beklagten ein und gab an, damit allen Beanstandungen Rechnung getragen zu haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit Bescheid vom 13.05.2020 wies die Beklagte den Bauantrag des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, zwar habe der Kläger seine Bauvorlagen überarbeitet und ergänzt, dabei jedoch die ihm übermittelten Beanstandungen nicht vollständig abgearbeitet. So sei der Lageplan nicht ergänzt und geändert worden. Die Abstandsflächenberechnung und die geforderte vollständige Vermaßung des Gebäudes sowie die Geländedarstellung in den Bauzeichnungen seien nach wie vor unvollständig<br/>oder nicht nachvollziehbar. Geforderte Bestätigungen sowie zusätzliche Unterlagen seien nicht vorgelegt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Nach Zustellung dieses Bescheids am 15.05.2020 erhob der Kläger am 15.06.2020 Widerspruch. Zur Begründung machte er geltend, er habe alle berechtigten Beanstandungen abgearbeitet, was er im Einzelnen darlegte. Die Forderung nach Übersendung eines Datenblatts für eine innenliegende Wärmepumpe sei dagegen unberechtigt. Zudem werde im Zurückweisungsbescheid auf Beanstandungen Bezug genommen, die man ihm gegenüber nie geltend gemacht habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Mit Bescheid vom 04.02.2021 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte es aus, die Landesbauordnung ermächtige die zuständige Baurechtsbehörde zur Zurückweisung eines Bauantrags, falls diesem unvollständige oder nicht der Form entsprechende Bauvorlagen angefügt seien, der Bauherr auf solche hingewiesen werde, aber innerhalb einer gesetzten Frist die gerügten Mängel nicht beseitige. Die Anforderungen an Art, Inhalt, Beschaffenheit und Anzahl der Bauvorlagen ergebe sich aus der Verfahrensverordnung. Nach diesen Maßgaben habe der Bauantrag des Klägers zurückgewiesen werden können, da dieser nicht alle von der Beklagten zu Recht gerügten Mängel seiner Bauvorlagen beseitigt habe. Insbesondere fehle seine Ergänzung bzw. Änderung des Lageplans, die Flächenberechnung und die Abstandsflächenberechnung (insoweit sei eine übersichtliche Darstellung der einzelnen Abstandsflächen und angesetzten Höhen vorzulegen). Weiter fehle die zu Recht geforderte korrekte Vermaßung des Gebäudes; sie sei zu beiden Seiten der Gebäudeecken straßenseitig vorzunehmen. Zudem seien die Bauzeichnungen unvollständig und es fehle am geforderten Datenblatt zur geplanten Wärmepumpe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Nach Zustellung des Widerspruchsbescheids am 24.02.2021 hat der Kläger Klage erhoben. Zu deren Begründung macht er geltend, die Beanstandungen auf Seite 2 des Beklagtenschreibens vom 05.03.2020 seien ihm nie zugegangen. Ungeachtet dessen habe er allen dort enthaltenen zulässigen Anforderungen genügt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="12"/>die Beklagte unter Aufhebung deren Bescheids vom 13.05.2020 und des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 04.02.2021 zu verpflichten, über seinen Bauantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="14"/>die Klage abzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Zur Erwiderung macht sie geltend, zu Unrecht behaupte der Kläger, er habe nicht alle Seiten ihres Beanstandungsschreibens vom 05.03.2020 erhalten. Sämtliche auf Seite 2 dieses Schreibens aufgelisteten Mängel habe er nicht behoben und zudem eine auf Seite 3 geforderte Unterlage, das Datenblatt der geplanten Wärmepumpe, nicht vorgelegt. Allerdings sei einzuräumen, dass manche der damaligen Beanstandungen fehlerhaft gewesen seien. Es blieben aber bis heute folgende Mängel der derzeitigen Bauvorlagen:</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>- der Steg vom Erdgeschoss zur Terrasse sei im Lageplan entgegen der Vorgaben der LBOVVO nicht in roter Farbe eingezeichnet, obgleich er ein neues Bauteil sei,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>- im Abstandsflächenplan seien keine Vermaßungen der seitlichen Grenzabstände des geplanten Stegs eingetragen, obgleich dieser abstandsflächenrelevant sei,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>- hinsichtlich der unterirdischen Bauteile widersprächen sich Lageplan und Grundriss UG, was die Anzahl der Räume betreffe,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>- die Dicke der Erdbedeckung auf den unterirdischen Anlagen sei nicht vermaßt,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>- die Abstandsflächenberechnungen im Abstandsflächenplan seien nicht nachvollziehbar,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>- das bestehende und das geplante Gelände seien nicht hinreichend dargestellt; eine Farbigkeit dieser Darstellung könne zur besseren Übersichtlichkeit verlangt werden,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="22"/>- die Vermaßung der Gebäudehöhen sei nicht zu beiden Seiten der Gebäudeecken straßenseitig eingezeichnet worden und es fehle auch eine Maßkette,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="23"/>- auf der Schnittzeichnung fehle der Steg,</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>- auch bei einer im Gebäudeinneren angebrachten Wärmepumpe sei deren Datenblatt vorzulegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle der Kammer zugestimmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagtenvertreterin noch ausgeführt, für die Bauherren sei es ein Service, wenn diese nicht nur auf formale sondern auch inhaltliche Mängel frühestmöglich hingewiesen würden. Aus Datenblättern zu den Außenwerten von Wärmpumpen könne das Amt auf Werte bei deren Innenanbringung zurückschließen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Wegen der Einzelheiten des Vorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Akten der Beklagten und des Regierungspräsidiums Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table> <h2>Entscheidungsgründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Die Klage, über die der Berichterstatter anstelle der Kammer entscheiden kann (§ 87a Abs. 2 u. 3 VwGO), ist zulässig (dazu I.), dringt aber in der Sache nicht durch (dazu II.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>I. Zu Recht hat der Kläger einen Bescheidungsantrag (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) formuliert. Ein solcher Antrag ist zwar regelmäßig nur bei Entscheidungen möglich, die im Ermessen der Behörde stehen, was bei der Erteilung einer Baugenehmigung nicht der Fall ist (vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 LBO). Hier liegt aber ein Ausnahmefall eines sogenannten „steckengebliebenen“ Genehmigungsverfahrens vor, da noch weitere Ermittlungen der Behörde notwendig sind (vgl. dazu OVG Nieders., Urt. v. 15.05.2009 - 12 LC 55/07 - juris; OVG NRW, Urt. v. 19.06.2007 - 8 A 2677/06 - juris). Die Beklagte hat den Bauantrag des Klägers bisher sachlich nicht geprüft. So fehlt noch die Beteiligung der Angrenzer (vgl. § 55 Abs. 1 LBO). Diese Prüfung nachzuholen ist nicht Aufgabe des Berichterstatters. Der Sache fehlte daher die für einen Verpflichtungsausspruch nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Spruchreife, sodass nur der Bescheidungsantrag in Betracht kommt (so auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 03.07.1997 - 8 S 3476/96 - juris; Urt. d. Kammer v. 02.12.2020 - 2 K 1901/19 - unveröff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>II. Die zulässige Bescheidungsklage dringt aber in der Sache nicht durch. Die Zurückweisung des Bauantrags des Klägers durch die Beklagte ist rechtmäßig, so dass dessen Neubescheidung nicht in Betracht kommt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Die Beklagte kann sich für ihre Zurückweisungsentscheidung auf eine wirksame Rechtsgrundlage berufen (dazu 1.), deren Voraussetzungen erfüllt sind (dazu 2.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>1. Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid ist § 54 Abs. 1 Satz 2 LBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 LBO hat die Baurechtsbehörde innerhalb von zehn Arbeitstagen nach Eingang den Bauantrag und die Bauvorlagen auf Vollständigkeit zu überprüfen. Sind sie unvollständig oder entsprechen sie nicht den Formanforderungen, ist dem Bauherrn unverzüglich mitzuteilen, welche Ergänzungen erforderlich sind und dass der Bauantrag ohne Behebung der Mängel innerhalb der dem Bauherrn gesetzten angemessenen Frist zurückgewiesen werden kann (§ 54 Abs. 1 Satz 2 LBO in seiner Fassung vom 01.08.2019; Wortlaut der vorherigen Fassung: „Sind sie unvollständig oder weisen sie sonstige erhebliche Mängel auf“). Der zum 01.08.2019 neu aufgenommene § 54 Abs. 1 Satz 3 LBO bestimmt dagegen, wenn der Bauantrag gemäß den eingereichten Bauvorlagen nicht genehmigungsfähig ist, aber die notwendigen Änderungen oder Ergänzungen keinen neuen Bauantrag erfordern, soll dem Bauherrn die Gelegenheit zur Nachbesserung gegeben werden; bis zum Eingang der nachgebesserten Bauvorlagen bei der Baurechtsbehörde sind alle Fristabläufe gehemmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Damit wird seit dem 01.08.2019 noch deutlicher als zuvor, dass eine Zurückweisungsentscheidung nur dann möglich ist, wenn Bauantrag oder Bauvorlagen unvollständig sind oder an Formmängeln leiden (so auch VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 01.03.2022 - 8 S 387/21 - unveröff.; vgl. auch LT-Drs. 16/6293, S. 26). Bei allen sonstigen Mängeln ist mit einer inhaltlichen Ablehnung zu reagieren (ähnlich wohl Sauter, LBO, Stand Dez. 2021, § 54 Rn. 5 u. 8).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Zu Recht weist die Beklagte daher nach Eingang von Antrag und Bauvorlagen umfassend auf deren Mängel aller Art hin. Wegen unterschiedlicher Rechtsfolgen (vgl. nochmals den Unterschied zwischen den Sätzen 2 und 3 des § 54 Abs. 1 LBO) wäre schon an dieser Stelle eine Differenzierung der Hinweise und deren Rechtsfolgen nach diesen beiden Mangelarten hilfreich. Im Zurückweisungsbescheid selbst ist zu subsumieren, ob behauptete Mängel des Antrags und seiner Bauvorlagen dem Bereich der Unvollständigkeit oder jenem der Formmängel zuzuordnen sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Welche Bauvorlagen und sonstige Dokumente notwendig und welche Formanforderungen an diese zu stellen sind, bestimmt über § 53 Abs. 1 LBO die Verordnung der Landesregierung und des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen über das baurechtliche Verfahren (Verfahrensverordnung zur Landesbauordnung - LBOVVO) vom 13.11.1995 in der Fassung vom 21.12.2021. § 2 Abs. 1 LBOVVO legt dabei fest, welche Bauvorlagen einem Bauantrag im Regelfall anzufügen sind. Nach 2 Abs. 3 Nr. 1 LBOVVO kann die Baurechtsbehörde zudem weitere Unterlagen verlangen, wenn diese zur Beurteilung des Vorhabens erforderlich sind. Die genauen Anforderungen an die Bauvorlagen ergeben sich also nicht abstrakt aus der genannten Verordnung, sondern sind mit Blick auf das jeweilige Vorhaben zu bestimmen (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 22.09.2020 - 13 K 3129/19 - juris Rn. 54; Urt. d. Kammer v. 19.04.2022 - 2 K 5932/20 - unveröff.). § 3 LBOVVO aber auch weitere Bestimmungen der Verordnung normieren Formanforderungen. <span style="text-decoration:underline">Unvollständigkeit</span> nach § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 LBO liegt somit insbesondere dann vor, wenn eine in der Verfahrensverordnung geforderte Bauvorlage fehlt, wozu auch gehört, dass sie nicht in der erforderlichen Anzahl eingereicht wird (vgl. Sauter, a.a.O., § 54 Rn. 4). Weitergehend wird man noch von Unvollständigkeit sprechen können, wenn eine erforderliche Bauvorlage, z.B. eine Schnittzeichnung (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 2 LBOVVO), zwar in der erforderlichen Anzahl eingereicht wird, aber etwa nur die Hälfte des geplanten Gebäudes abbildet. <span style="text-decoration:underline">Formmängel</span> nach § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 LBO liegen etwa vor, wenn die in § 4 Abs. 5 Satz 2 LBOVVO vorgeschriebene Farbgebung missachtet wird. Dabei reicht ein verbliebener Mangel der einen oder der anderen Kategorie aus, um die Klage gegen einen Zurückweisungsbescheid abzuweisen, nicht aber ein Mangel nach § 54 Abs. 1 Satz 3, § 58 Abs. 1 LBO, der nur zu einer inhaltlichen Ablehnung des Bauantrags ermächtigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>2. Nach diesen Maßgaben ist die Zurückweisung des Bauantrags des Klägers im Ergebnis nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Zwar rügt die Beklagte insbesondere mit ihrer Klageerwiderung auch Mängel seines Antrags, die nicht von § 54 Abs. 1 Satz 2 LBO umfasst sind (dazu a). Doch jedenfalls eine Unvollständigkeit und ein Formmangel bestehen nach wie vor (dazu b), so dass weitere behauptete formale Mängel dahingestellt bleiben können (dazu c).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>a) Wenn die Beklagte etwa rügt, der Kläger habe Abstandsflächen eines bestimmten Bauteils, hier eines Stegs, nicht im Abstandsflächenplan eingezeichnet, dieser hierzu erwidert, der Steg sei überhaupt nicht abstandsflächenrelevant, führen die Beteiligten erkennbar einen Streit um die Genehmigungsfähigkeit oder jedenfalls Abstandsflächenrelevanz eines Teilaspekts des Vorhabens des Klägers. Wie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem unter Geltung von § 54 Abs. 1 Satz 2 LBO a.F. gegen die Beklagte gerichteten Verfahren betont hat, kann von einer formalen Unvereinbarkeit mit den Vorschriften der Verfahrensverordnung aber „nicht ohne Weiteres schon dann ausgegangen werden, wenn im Abstandsflächenplan nicht die `rechtlich richtigen´ Abstandsflächen dargestellt sind“ (so Beschl. v. 01.03.2022 - 8 S 387/21 - unveröff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>b) Der Kläger hat im Lageplan seiner Bauvorlagen ein auch nach seinen Angaben neues Bauteil, einen Steg zwischen Erdgeschoss und Terrasse, in weißer Farbe und nicht, wie es § 4 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 LBO LBOVVO vorsieht, in roter Farbe eingezeichnet. Darin liegt ein Formmangel nach § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 LBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Weiter wird von ihm mit der Ostansicht seiner Bauvorlagen nur an einem der beiden Eckpunkte die Wandhöhe angegeben und nicht, wie § 6 Abs. 2 Nr. 3 LBOVVO es vorschreibt, an beiden Eckpunkten. Somit ist die Ostansicht unvollständig im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 LBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>c) Vor diesem Hintergrund kann u.a. dahinstehen, ob auch zur Unvollständigkeit des Bauantrags des Klägers führt, dass er kein Datenblatt zum von ihm gewünschten Wärmepumpenmodell vorgelegt hat. Zwar erwähnt die Verfahrensverordnung zur Landesbauordnung eine solche Pflicht nicht explizit. § 2 Abs. 3 Satz 1 LBOVVO ermächtigt die Beklagte aber zur Forderung weiterer Unterlagen vom Bauherrn, wenn diese zur Beurteilung des Vorhabens erforderlich sind. Die Rechtsprechung betont, befinde sich der in den Bauvorlagen eingezeichnete Aufstellort einer Luft-Wärmepumpe in einer kritischen Nähe zur angrenzenden Wohnbebauung, müsse die Baugenehmigung das gestattete Ausmaß der Geräuschimmissionen durch Inhalts- oder Nebenbestimmungen konkret festlegen (vgl. VGH Bad.-Württ. Beschl. v. 30.01.2019 - 5 S 1913/18 - juris; Beschl. d. Kammer v. 18.02.2022 - 2 K 5478/21 - juris). Als Anhaltspunkt zur Bestimmung der kritischen Nähe können die empfohlenen Mindestabstände aus dem "Leitfaden für die Verbesserung des Schutzes gegen Lärm bei stationären Geräten" der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI) dienen. Diese hängen vom Schalleistungspegel des Pumpenmodells ab. Vor diesem Hintergrund ist die Beklagte bei einer in den Bauvorlagen eingezeichneten Außenaufstellung von Wärmepumpen regelmäßig gehalten, das Datenblatt des Herstellers zum jeweiligen Pumpenmodell anzufordern. Nichts Anderes dürfte beim Vorhaben des Klägers gelten, wo sich der eingezeichnete Aufstellungsort in einem Innenraum befindet. Auch von diesem aus kann die Wärmepumpe durch ihren Ansaugstutzen mit Geräuschen auf Nachbargrundstücke einwirken, wenn auch reduziert, so dass die Anforderung des Datenblatts mit dem Schalleistungspegel für Abschätzungen der Beklagten häufig erforderlich sein wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Weiter dürften auf Grund des nachbarschützenden Gehalts der erforderlichen Abstandsflächentiefen hohe Anforderungen an die Erkennbarkeit von altem und neuem Geländeverlauf, Wandhöhen- und Wandhöhenabschnitten sowie die Nachvollziehbarkeit der Berechnungen der jeweiligen Abstandsflächentiefen gestellt werden können, damit der Bauherr nicht das Risiko läuft, dass ein Gericht insoweit von der nachbarrechtswidrigen Unbestimmtheit seiner Baugenehmigung ausgeht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>III. Da der Kläger unterliegt, hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§ 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 VwGO), sind nicht erkennbar.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Die Klage, über die der Berichterstatter anstelle der Kammer entscheiden kann (§ 87a Abs. 2 u. 3 VwGO), ist zulässig (dazu I.), dringt aber in der Sache nicht durch (dazu II.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>I. Zu Recht hat der Kläger einen Bescheidungsantrag (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) formuliert. Ein solcher Antrag ist zwar regelmäßig nur bei Entscheidungen möglich, die im Ermessen der Behörde stehen, was bei der Erteilung einer Baugenehmigung nicht der Fall ist (vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 LBO). Hier liegt aber ein Ausnahmefall eines sogenannten „steckengebliebenen“ Genehmigungsverfahrens vor, da noch weitere Ermittlungen der Behörde notwendig sind (vgl. dazu OVG Nieders., Urt. v. 15.05.2009 - 12 LC 55/07 - juris; OVG NRW, Urt. v. 19.06.2007 - 8 A 2677/06 - juris). Die Beklagte hat den Bauantrag des Klägers bisher sachlich nicht geprüft. So fehlt noch die Beteiligung der Angrenzer (vgl. § 55 Abs. 1 LBO). Diese Prüfung nachzuholen ist nicht Aufgabe des Berichterstatters. Der Sache fehlte daher die für einen Verpflichtungsausspruch nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Spruchreife, sodass nur der Bescheidungsantrag in Betracht kommt (so auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 03.07.1997 - 8 S 3476/96 - juris; Urt. d. Kammer v. 02.12.2020 - 2 K 1901/19 - unveröff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>II. Die zulässige Bescheidungsklage dringt aber in der Sache nicht durch. Die Zurückweisung des Bauantrags des Klägers durch die Beklagte ist rechtmäßig, so dass dessen Neubescheidung nicht in Betracht kommt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Die Beklagte kann sich für ihre Zurückweisungsentscheidung auf eine wirksame Rechtsgrundlage berufen (dazu 1.), deren Voraussetzungen erfüllt sind (dazu 2.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>1. Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid ist § 54 Abs. 1 Satz 2 LBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 LBO hat die Baurechtsbehörde innerhalb von zehn Arbeitstagen nach Eingang den Bauantrag und die Bauvorlagen auf Vollständigkeit zu überprüfen. Sind sie unvollständig oder entsprechen sie nicht den Formanforderungen, ist dem Bauherrn unverzüglich mitzuteilen, welche Ergänzungen erforderlich sind und dass der Bauantrag ohne Behebung der Mängel innerhalb der dem Bauherrn gesetzten angemessenen Frist zurückgewiesen werden kann (§ 54 Abs. 1 Satz 2 LBO in seiner Fassung vom 01.08.2019; Wortlaut der vorherigen Fassung: „Sind sie unvollständig oder weisen sie sonstige erhebliche Mängel auf“). Der zum 01.08.2019 neu aufgenommene § 54 Abs. 1 Satz 3 LBO bestimmt dagegen, wenn der Bauantrag gemäß den eingereichten Bauvorlagen nicht genehmigungsfähig ist, aber die notwendigen Änderungen oder Ergänzungen keinen neuen Bauantrag erfordern, soll dem Bauherrn die Gelegenheit zur Nachbesserung gegeben werden; bis zum Eingang der nachgebesserten Bauvorlagen bei der Baurechtsbehörde sind alle Fristabläufe gehemmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Damit wird seit dem 01.08.2019 noch deutlicher als zuvor, dass eine Zurückweisungsentscheidung nur dann möglich ist, wenn Bauantrag oder Bauvorlagen unvollständig sind oder an Formmängeln leiden (so auch VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 01.03.2022 - 8 S 387/21 - unveröff.; vgl. auch LT-Drs. 16/6293, S. 26). Bei allen sonstigen Mängeln ist mit einer inhaltlichen Ablehnung zu reagieren (ähnlich wohl Sauter, LBO, Stand Dez. 2021, § 54 Rn. 5 u. 8).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Zu Recht weist die Beklagte daher nach Eingang von Antrag und Bauvorlagen umfassend auf deren Mängel aller Art hin. Wegen unterschiedlicher Rechtsfolgen (vgl. nochmals den Unterschied zwischen den Sätzen 2 und 3 des § 54 Abs. 1 LBO) wäre schon an dieser Stelle eine Differenzierung der Hinweise und deren Rechtsfolgen nach diesen beiden Mangelarten hilfreich. Im Zurückweisungsbescheid selbst ist zu subsumieren, ob behauptete Mängel des Antrags und seiner Bauvorlagen dem Bereich der Unvollständigkeit oder jenem der Formmängel zuzuordnen sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Welche Bauvorlagen und sonstige Dokumente notwendig und welche Formanforderungen an diese zu stellen sind, bestimmt über § 53 Abs. 1 LBO die Verordnung der Landesregierung und des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen über das baurechtliche Verfahren (Verfahrensverordnung zur Landesbauordnung - LBOVVO) vom 13.11.1995 in der Fassung vom 21.12.2021. § 2 Abs. 1 LBOVVO legt dabei fest, welche Bauvorlagen einem Bauantrag im Regelfall anzufügen sind. Nach 2 Abs. 3 Nr. 1 LBOVVO kann die Baurechtsbehörde zudem weitere Unterlagen verlangen, wenn diese zur Beurteilung des Vorhabens erforderlich sind. Die genauen Anforderungen an die Bauvorlagen ergeben sich also nicht abstrakt aus der genannten Verordnung, sondern sind mit Blick auf das jeweilige Vorhaben zu bestimmen (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 22.09.2020 - 13 K 3129/19 - juris Rn. 54; Urt. d. Kammer v. 19.04.2022 - 2 K 5932/20 - unveröff.). § 3 LBOVVO aber auch weitere Bestimmungen der Verordnung normieren Formanforderungen. <span style="text-decoration:underline">Unvollständigkeit</span> nach § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 LBO liegt somit insbesondere dann vor, wenn eine in der Verfahrensverordnung geforderte Bauvorlage fehlt, wozu auch gehört, dass sie nicht in der erforderlichen Anzahl eingereicht wird (vgl. Sauter, a.a.O., § 54 Rn. 4). Weitergehend wird man noch von Unvollständigkeit sprechen können, wenn eine erforderliche Bauvorlage, z.B. eine Schnittzeichnung (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 2 LBOVVO), zwar in der erforderlichen Anzahl eingereicht wird, aber etwa nur die Hälfte des geplanten Gebäudes abbildet. <span style="text-decoration:underline">Formmängel</span> nach § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 LBO liegen etwa vor, wenn die in § 4 Abs. 5 Satz 2 LBOVVO vorgeschriebene Farbgebung missachtet wird. Dabei reicht ein verbliebener Mangel der einen oder der anderen Kategorie aus, um die Klage gegen einen Zurückweisungsbescheid abzuweisen, nicht aber ein Mangel nach § 54 Abs. 1 Satz 3, § 58 Abs. 1 LBO, der nur zu einer inhaltlichen Ablehnung des Bauantrags ermächtigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>2. Nach diesen Maßgaben ist die Zurückweisung des Bauantrags des Klägers im Ergebnis nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Zwar rügt die Beklagte insbesondere mit ihrer Klageerwiderung auch Mängel seines Antrags, die nicht von § 54 Abs. 1 Satz 2 LBO umfasst sind (dazu a). Doch jedenfalls eine Unvollständigkeit und ein Formmangel bestehen nach wie vor (dazu b), so dass weitere behauptete formale Mängel dahingestellt bleiben können (dazu c).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>a) Wenn die Beklagte etwa rügt, der Kläger habe Abstandsflächen eines bestimmten Bauteils, hier eines Stegs, nicht im Abstandsflächenplan eingezeichnet, dieser hierzu erwidert, der Steg sei überhaupt nicht abstandsflächenrelevant, führen die Beteiligten erkennbar einen Streit um die Genehmigungsfähigkeit oder jedenfalls Abstandsflächenrelevanz eines Teilaspekts des Vorhabens des Klägers. Wie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem unter Geltung von § 54 Abs. 1 Satz 2 LBO a.F. gegen die Beklagte gerichteten Verfahren betont hat, kann von einer formalen Unvereinbarkeit mit den Vorschriften der Verfahrensverordnung aber „nicht ohne Weiteres schon dann ausgegangen werden, wenn im Abstandsflächenplan nicht die `rechtlich richtigen´ Abstandsflächen dargestellt sind“ (so Beschl. v. 01.03.2022 - 8 S 387/21 - unveröff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>b) Der Kläger hat im Lageplan seiner Bauvorlagen ein auch nach seinen Angaben neues Bauteil, einen Steg zwischen Erdgeschoss und Terrasse, in weißer Farbe und nicht, wie es § 4 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 LBO LBOVVO vorsieht, in roter Farbe eingezeichnet. Darin liegt ein Formmangel nach § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 LBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Weiter wird von ihm mit der Ostansicht seiner Bauvorlagen nur an einem der beiden Eckpunkte die Wandhöhe angegeben und nicht, wie § 6 Abs. 2 Nr. 3 LBOVVO es vorschreibt, an beiden Eckpunkten. Somit ist die Ostansicht unvollständig im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 LBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>c) Vor diesem Hintergrund kann u.a. dahinstehen, ob auch zur Unvollständigkeit des Bauantrags des Klägers führt, dass er kein Datenblatt zum von ihm gewünschten Wärmepumpenmodell vorgelegt hat. Zwar erwähnt die Verfahrensverordnung zur Landesbauordnung eine solche Pflicht nicht explizit. § 2 Abs. 3 Satz 1 LBOVVO ermächtigt die Beklagte aber zur Forderung weiterer Unterlagen vom Bauherrn, wenn diese zur Beurteilung des Vorhabens erforderlich sind. Die Rechtsprechung betont, befinde sich der in den Bauvorlagen eingezeichnete Aufstellort einer Luft-Wärmepumpe in einer kritischen Nähe zur angrenzenden Wohnbebauung, müsse die Baugenehmigung das gestattete Ausmaß der Geräuschimmissionen durch Inhalts- oder Nebenbestimmungen konkret festlegen (vgl. VGH Bad.-Württ. Beschl. v. 30.01.2019 - 5 S 1913/18 - juris; Beschl. d. Kammer v. 18.02.2022 - 2 K 5478/21 - juris). Als Anhaltspunkt zur Bestimmung der kritischen Nähe können die empfohlenen Mindestabstände aus dem "Leitfaden für die Verbesserung des Schutzes gegen Lärm bei stationären Geräten" der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI) dienen. Diese hängen vom Schalleistungspegel des Pumpenmodells ab. Vor diesem Hintergrund ist die Beklagte bei einer in den Bauvorlagen eingezeichneten Außenaufstellung von Wärmepumpen regelmäßig gehalten, das Datenblatt des Herstellers zum jeweiligen Pumpenmodell anzufordern. Nichts Anderes dürfte beim Vorhaben des Klägers gelten, wo sich der eingezeichnete Aufstellungsort in einem Innenraum befindet. Auch von diesem aus kann die Wärmepumpe durch ihren Ansaugstutzen mit Geräuschen auf Nachbargrundstücke einwirken, wenn auch reduziert, so dass die Anforderung des Datenblatts mit dem Schalleistungspegel für Abschätzungen der Beklagten häufig erforderlich sein wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Weiter dürften auf Grund des nachbarschützenden Gehalts der erforderlichen Abstandsflächentiefen hohe Anforderungen an die Erkennbarkeit von altem und neuem Geländeverlauf, Wandhöhen- und Wandhöhenabschnitten sowie die Nachvollziehbarkeit der Berechnungen der jeweiligen Abstandsflächentiefen gestellt werden können, damit der Bauherr nicht das Risiko läuft, dass ein Gericht insoweit von der nachbarrechtswidrigen Unbestimmtheit seiner Baugenehmigung ausgeht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>III. Da der Kläger unterliegt, hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§ 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 VwGO), sind nicht erkennbar.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
346,680
ovgnrw-2022-08-30-9-a-129417
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
9 A 1294/17
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-23T10:01:14"
"2022-10-17T11:10:29"
Urteil
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0830.9A1294.17.00
<h2>Tenor</h2> <p>Das Verfahren wird eingestellt, soweit es von den Beteiligten übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist. Insoweit ist das angegriffene Urteil wirkungslos.</p> <p>Das angefochtene Urteil wird geändert. Die Ordnungsverfügung der Bezirksregierung L.    vom 16. Juli 2015 wird aufgehoben, soweit sie den Tee der Sorte „Gemischter Kräutertee" betrifft.</p> <p>Von den Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen trägt der Kläger 1/6 und das beklagte Land 5/6.</p> <p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p> <p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist ein Großhändler für türkische Lebensmittel. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Verfügung der Bezirksregierung L.    , mit der ihm das Inverkehrbringen von Tees der Marke E.     mit der Bezeichnung „G.    “ in sechs verschiedenen Sorten mit der Begründung untersagt worden ist, es handele sich um zulassungspflichtige, jedoch nicht zugelassene Arzneimittel. Die Tees befinden sich in einzeln kuvertierten Beuteln mit je 2 g der jeweiligen Teemischung.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 1. August 2012 übersandte das Regierungspräsidium E.         der Bezirksregierung L.    mehrere im Rahmen der amtlichen Lebensmittelüberwachung gefertigte Untersuchungsberichte des I.          Landeslabors vom 20. und 21. Juni 2012 betreffend Tees der Marke E.     mit dem Hinweis, die mit dem Zusatz „G.    “ bezeichneten Tees würden wegen des Gehalts an Sennesblättern als nicht zugelassene Arzneimittel eingestuft, und der Bitte um Prüfung, ob dem Lieferanten, der Firma P.  -C.  C1.     & P1.      GbR, das Inverkehrbringen untersagt werde.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gegenstand des Prüfberichtes Nr. 123008951 vom 20. Juni 2012 ist ein als E.     G.    Maydanozlu Limonlu (im Folgenden: Petersilie /Zitrone) bezeichneter Tee. Untersucht wurde der Gehalt an Sennosiden in der Probe sowie im verzehrfertigen Getränk. Die Gehaltsbestimmung erfolgte nach den Angaben im Untersuchungsbericht jeweils nach der HPLC-Methode (= Hochleistungsdünnschichtchromatographie). Die Gehaltsbestimmung ergab für die Probe berechnet auf 100 g insgesamt 496 mg (= 4,96 mg je 1 g Teemischung) Sennoside. Für das fertige Getränk wurde ein Anteil von insgesamt 8,5 mg Sennosiden ermittelt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Prüfbericht Nr. 123010952 vom 21. Juni 2012 betrifft den „E.     G.    mixed herbal tea“ (im Folgenden: gemischter Kräutertee). Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist der 25. Juli 2013. Die Zutaten sind laut Prüfbericht: Sennesblätter, Anis, (...) und Kirschstängel. Die Gehaltsmessung ergab für die Probe jeweils bezogen auf 100 g einen Anteil von insgesamt 919 mg Sennosiden (= 9,19 mg je 1 g Teemischung) und für das fertige Getränk insgesamt 12,5 mg.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Prüfbericht Nr. 123010949 vom gleichen Tag betrifft den gemischten Kräutertee (MHD 27. Februar 2014). Dessen Zutaten sind Kirschstängel, Sennesblätter, Anis (...). Die Gehaltsmessung ergab für die Probe jeweils bezogen auf 100 g einen Anteil von insgesamt 303 mg Sennosiden (= 3,03 mg je 1 g Teemischung) und für das fertige Getränk insgesamt 6 mg.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 8. August 2012 teilte die Bezirksregierung L.    dem Kläger mit, dass der Tee E.     G.    Petersilie/Zitrone einen zu hohen Anteil an Sennesblättern (Sennosid-Gehalt) aufweise und daher als nicht zugelassenes Arzneimittel eingestuft werde, und hörte ihn zu einer beabsichtigten Maßnahme nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG an. Mit an den Prozessbevollmächtigten des Klägers gerichtetem weiteren Schreiben vom 19. November 2012 gab sie ergänzend an, bei dem fraglichen Tee sei ein Gehalt von 12,5 mg Sennosiden je Beutel ermittelt worden. Da die Aufbereitungsmonographie der Kommission E eine Tagesdosis von 20-60 mg Sennosiden empfehle, sei schon beim Verzehr von zwei Tassen von einer pharmakologischen Wirkung auszugehen. Ein solcher Tee dürfe weder bei Darmverschluss noch bei akut entzündlichen Erkrankungen des Darms oder bei Kindern angewendet werden. Um den Tee weiter vertreiben zu dürfen, müsse sichergestellt werden, dass die Tagesdosis von 20 mg nicht überschritten werde. Es gebe jedoch keine Warnhinweise oder Dosisbeschränkungen auf dem Produkt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Stadt H.             die Bezirksregierung L.    mit Schreiben vom 22. November 2012 darüber informiert hatte, dass sie einer in F.     ansässigen Firma das Inverkehrbringen von sennesblätterhaltigen G.    -Tees der Marke E.     (Kräutertee, Tee mit Aprikose und Tee mit Zitrone) untersagt habe, weil dieser Pflanzenbestandteil apothekenpflichtig sei und die Produkte zudem als Arzneimittel eingestuft würden, bat die Bezirksregierung L.    den Kläger mit Schreiben vom 5. Dezember 2012 unter Wiederholung ihrer Ausführungen aus dem Schreiben vom 19. November 2012 hinsichtlich der Tees E.     G.    mit Aprikose, E.     G.    Petersilie/Zitrone und E.     G.    gemischter Kräutertee um Stellungnahme.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2012 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Bezugnahme auf das Schreiben der Bezirksregierung L.    vom 19. November 2012 mit, dass beabsichtigt sei, auf den Tee ‑ laut der Betreffzeile des Schriftsatzes handelte es sich um den gemischten Kräutertee ‑ den Hinweis aufzubringen: „Der Tee darf weder bei Darmverschluss noch bei akut entzündlichen Erkrankungen des Darms oder bei Kindern angewendet werden. Es wird darauf hingewiesen, dass nur ein Teebeutel pro Tag verzehrt werden darf.“ Die Bezirksregierung L.    bestätigte daraufhin unter dem 20. Dezember 2012, dass in diesem Fall aus arzneimittelrechtlicher Sicht keine Bedenken mehr bestünden.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 10. Januar 2013 wies die Bezirksregierung L.    den Kläger darauf hin, dass noch keine Stellungnahme zu ihrem Schreiben vom 5. Dezember 2012 erfolgt sei und der Verkauf der in diesem Schreiben genannten Teezubereitungen daher sofort einzustellen sei. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers teilte daraufhin mit, dass der Tee in der beanstandeten G.    nicht weiter vertrieben werde.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Anfang 2015 bat die Bezirksregierung L.    den Kläger zunächst um Zusendung der Original-Verpackungen von insgesamt sechs G.    -Tees und mit weiterem Schreiben vom 5. März 2015 um Listen mit genauen Mengenangaben der jeweiligen Zutaten für jede Sorte E.     G.    Tee, der Sennesblätter enthalte und den der Kläger vertreibe. Hierzu teilte der Kläger mit, die Zusammensetzung der Tees sei nach Angaben des in der Türkei ansässigen Herstellers seit dem Jahre 2012 gleich geblieben und lägen der Bezirksregierung L.    daher vor. Auf die Mitteilung der Bezirksregierung L.    , dass sie über keine Mengenangaben verfüge, reichte der Kläger entsprechende Listen für die Tees Aprikose, Erdbeere, Petersilie/Zitrone, Maistroddeln/Maisseide, Kirschstängel und gemischter Kräutertee ein. Diese weisen die Zutat Sennesblätter jeweils als Hauptzutat aus; der prozentuale Anteil schwankt je nach Teesorte zwischen 30 % und 49,5 %.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 28. Mai 2015 hörte die Bezirksregierung L.    den Kläger zu der beabsichtigten Untersagung des Inverkehrbringens aller sechs Teesorten an. Zur Begründung führte sie aus, nach der Standardzulassung liege die empfohlene Tagesdosis bei 0,75 g Sennesblättern. Da die Tees zwischen 0,6 g und 0,99 g Sennesblätter je Teebeutel enthielten, sei beim vorhersehbaren Verzehr von einer pharmakologischen Wirkung auszugehen. Zudem seien Sennesblätter apothekenpflichtig. In einem nachfolgenden Telefonat teilte die Ehefrau des Klägers mit, dass sie die zwei Teesorten ‑ Maistroddeln und Kirschstängel ‑ mit einem Anteil von über 0,75 g nicht weiter vertreiben würden und bat um Mitteilung, ob die übrigen vier Teesorten weiterhin verkauft werden dürften. Mit Schreiben vom 4. Juni 2015 gab sie ergänzend an, mit dem Produzenten in der Türkei zu besprechen, dass der Anteil an Sennesblättern in den Sorten Maistroddeln und Kirschstängel angepasst werde.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Unter dem 3. Juni 2015 bat die Bezirksregierung L.    das Bundesinstitut für Arzneimittel und N.  um Informationen, ab welchem Anteil Sennesblätter eine pharmakologische Wirkung erzielen würden und ab welchem Anteil diese apothekenpflichtig seien. Mit Mail vom 23. Juni 2015 teilte das BfArM mit, Sennesblätter seien unabhängig von ihrer Dosierung apothekenpflichtig, und wies darauf hin, dass nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts L.    vom 28. April 2015 ‑ 7 K 395/13 ‑ eine pharmakologische Wirkung ab einer Schwelle von 80% unterhalb der Grenze zur therapeutischen Wirksamkeit einsetze.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 16. Juli 2015 untersagte die Bezirksregierung L.    dem Kläger gestützt auf § 69 Abs. 1 Satz 1 (und 2) Nr. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 AMG das Inverkehrbringen der Tees E.     G.    in den Sorten Aprikose, Erdbeere, Petersilie/Zitrone, Maistroddeln/Maisseide, Kirschstängel und gemischter Kräutertee und drohte ihm für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,- EUR pro Zuwiderhandlung an.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte sie aus, bei den Tees handele es sich um Funktionsarzneimittel. Sennesblätter gehörten zu den am häufigsten gebrauchten pflanzlichen Abführmitteln zur kurzfristigen Anwendung bei Obstipation. Eine Ernährungs- oder Genussfunktion sei hingegen nicht belegt, eine Verwendung in Lebensmitteln nicht bekannt. Nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse beeinflusse der in den Tees vorhandene Gehalt an Sennesblättern die Körperfunktionen mittels pharmakologischer Wirkung. Senna gelte gemäß der Anlage 1b zu § 7 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel unabhängig von der Dosierung als apothekenpflichtig und sei daher vom Verkehr außerhalb der Apotheke ausgeschlossen. Die nach Standardzulassung empfohlene Tagesdosis zur Erzielung der erwünschten abführenden Wirkung betrage 0,75 mg Sennesblätter. Gemäß der Aufbereitungsmonographie der Kommission E des Bundesgesundheitsamts „Senna“ betrage die empfohlene mittlere Tagesdosis 20-60 mg Sennoside. Ein typischer sennesblätter-haltiger Abführtee enthalte als arzneilich wirksamen Bestandteil 500-600 mg Sennesblätter pro Filterbeutel und sei auf einen Hydroxyanthracenderivat-Gehalt von 15 mg pro Filterbeutel eingestellt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts L.    sei eine pharmakologische Wirkung eines Produkts belegt, wenn dieses unterhalb der therapeutischen Wirksamkeitsschwelle dosiert werde. Denn die pharmakologische Wirkung setze nicht abrupt erst mit Beginn der therapeutischen Wirksamkeit ein. In der Regel steige die Wirkung eines Arzneimittels mit zunehmender Dosis an. Ausgehend von einer Schwelle von 80% von 0,75 g Sennesblättern werde auch einer Dosis von 0,6 g pharmakologische Wirkung zugesprochen. Dies betreffe alle Tees, da diese einen Anteil von 0,6 bis 0,99 g Sennesblätter enthielten. Dass die Tees nennenswerte pharmakologische Wirkungen besäßen, werde letztlich auch durch den von dem Kläger aufgebrachten Warnhinweis auf der Verpackung bejaht, der andernfalls überflüssig wäre.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger sei als verantwortlicher Inverkehrbringer im Sinne des § 4 Abs. 17 AMG auch der richtige Adressat der Untersagungsverfügung. Diese entspreche dem Grundsatz pflichtgemäßen Ermessens. Der Vorrang arzneimittelrechtlicher Vorschriften (Zweifelsfallregelung) und die grundsätzlich von ohne die erforderliche Zulassung in den Verkehr gebrachten Arzneimitteln ausgehende Gefahr seien bei der Ermessensausübung berücksichtigt worden. Die Maßnahme sei auch verhältnismäßig. Insbesondere werde der Kläger nicht über Gebühr beeinträchtigt, da er lediglich Arzneimittel ohne Zulassung nicht mehr in den Verkehr bringen dürfe.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 7. August 2015 Klage erhoben. Zur Begründung hat er geltend gemacht, der Anteil an Sennesblättern im Tee lasse keinen Schluss auf eine Arzneimitteleigenschaft zu, da diese nicht verzehrt würden. Maßgeblich sei allein die Konzentration von Sennosiden im fertigen Teeprodukt (Aufguss). Eine physiologische Funktion durch eine pharmakologische oder metabolische Wirkung habe der Tee nicht. Aus dem Warnhinweis auf der Verpackung folge nichts anderes. Dieser sei ausschließlich auf Veranlassung der Bezirksregierung L.    aufgebracht worden, ohne dass zuvor abschließende Untersuchungen erfolgt seien. Die Bezirksregierung sei daher gehalten gewesen, Gutachten zur Sennosid-Konzentration im Teeaufguss einzuholen. Die Eigenschaft als Lebensmittel im Sinne von § 1 LMBG folge im Übrigen bereits daraus, dass die Tees als Genussmittel in den Verkehr gebracht würden. Denn entscheidend für die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel oder als Lebensmittel sei seine an objektive Merkmale anknüpfende überwiegende Zweckbestimmung, wie sie sich für einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher darstelle. Die Eigenschaft als Genussmittel werde hier dadurch belegt, dass sechs verschiedene Geschmacksrichtungen angeboten würden und die Tees vielzählige weitere Bestandteile wie Wacholder und Hagebutte enthielten. Für vier Tee-Sorten seien keine Gutachten eingeholt worden. Aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung der Tees seien Rückschlüsse von den untersuchten Tees auf die anderen Sorten nicht zulässig. Das Urteil des Verwaltungsgerichts L.    vom 28. April 2015 ‑ 7 K 395/13 ‑ sei nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar. Zum einen liege hier der ermittelte Wert nicht nur knapp unterhalb der empfohlenen Menge, zum anderen folge schon aus der genannten Entscheidung, dass eine Teezubereitung mit dem Einsatz von Extrakten nicht vergleichbar sei.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">die Ordnungsverfügung der Bezirksregierung L.    vom 16. Juli 2015 aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat die Bezirksregierung L.    über die Ausführungen im Bescheid hinaus vorgetragen, an der damaligen Einschätzung, es bestünden aus arzneimittelrechtlicher Sicht keine Bedenken gegen das Inverkehrbringen der Tees, sofern diese mit einem Warnhinweis zu Gegenanzeigen bei bestimmten Darmerkrankungen und zur Anwendung bei Kindern gekennzeichnet seien, werde aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts L.    vom 28. April 2015 ‑ 7 K 395/13 ‑ nicht festgehalten. Diese Kennzeichnung mache aus einem Arzneimittel kein Lebensmittel. Da der Kläger der Kennzeichnung zugestimmt habe, gehe offenbar auch er von einem gewissen gesundheitlichen Risiko aus und spreche dem Präparat damit indirekt eine pharmakologische Wirksamkeit zu. Es werde davon ausgegangen, dass die Gutachten des I.          Landeslabors noch aktuell seien, weil der Kläger mitgeteilt habe, dass die Zusammensetzung der Tees seit 2012 unverändert sei. In den Gutachten sei auch der Sennosidgehalt im fertigen Tee aufgeführt. Auf diesen stütze sich der Bescheid. Es bestehe kein Zweifel daran, dass der Sennosidgehalt im fertigen Tee geringer sei als in der unzubereiteten Droge. Nach der Monographie der Kommission E betrage die empfohlene mittlere Tagesdosis 20-60 mg Sennoside. Der nach den Gutachten ermittelte Gehalt an Sennosiden im Aufguss liege zwar unter der Tagesdosis der Monographie. Bei einem als Lebensmittel deklarierten, für den Verbraucher harmlos erscheinenden Produkt sei jedoch nicht auszuschließen, dass die empfohlene Tagesmenge überschritten werde. Die pharmakologische Wirksamkeit setze zudem nicht abrupt erst mit Beginn der therapeutischen Wirksamkeit ein. Außerdem sei nicht auszuschließen, dass die Tees von Kindern unter 10 Jahren verzehrt würden. Bei einem langfristigen Verzehr sei mit einem erhöhten Kaliumverlust zu rechnen, der zur Verstärkung einer Darmträgheit führen könne. Dieser Effekt werde bei Einnahme bestimmter Medikamente, z. B. Diuretika, die von einer nicht unerheblichen Anzahl der Verbraucher eingenommen würden, noch verstärkt. Der Kaliummangel könne sich in Schwindel, Müdigkeit, Kopfschmerzen oder Übelkeit manifestieren, möglich seien auch Muskelkrämpfe, Lähmungserscheinungen und Kreislaufprobleme. Ein ausgeprägter Kaliummangel könne in Herzrhythmusstörungen münden. Nach der Monographie der Kommission E sei aufgrund fehlender toxikologischer Untersuchungen ein Verzehr durch Schwangere und Stillende zu unterlassen. Aus diesen Gründen und zum Schutz der Verbraucher sei eine Abgabe über Apotheken dringend erforderlich, um eine Beratung hinsichtlich der Nebenwirkungen, Kontraindikationen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sicherzustellen. In der Stoffliste des Bundes und der Länder würden Sennesblätter als Arzneistoff geführt und aufgrund bekannter Risiken nicht für eine Verwendung in Lebensmitteln empfohlen. Die Tees würden in türkischen Supermärkten gemeinhin als Schlankheitstees angepriesen; der Verbraucher sehe sie daher als Produkte an, die einen unerwünschten körperlichen Zustand bekämpften. Dass die Tees in verschiedenen Geschmacksrichtungen angeboten würden, rechtfertige nicht ihre Einordnung als Genussmittel. Gerade im Bereich der Abführmittel treffe dies auch auf Arzneimittel zu.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die streitgegenständlichen Teemischungen seien Funktionsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit a) AMG. Denn die ‑ in unterschiedlichen Anteilen zwischen 30 % und 49,5 % - enthaltenen Blätter der Senna-Pflanze seien gemeinhin ein Stoff, der im menschlichen Körper angewendet werde, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Sennesblätter zählten zu den am häufigsten gebrauchten pflanzlichen Abführmitteln. Dies finde seinen Ausdruck in der Standardzulassung 7399.99.99 des BfArM, die Teezubereitungen aus Sennesblättern diesem Anwendungsgebiet zuweise. Die Prüfung u. a. der Wirksamkeit sei bei einer Standardzulassung antizipiert. Dies schließe als notwendige Voraussetzung die Arzneimitteleigenschaft des Stoffs ein. Die Standardzulassung fuße ihrerseits auf der Monographie der Kommission E vom 21. Juli 1993, die Sennesblättern, bestehend aus den getrockneten Fiederblättchen von Cassia senna LINNÉ, das Anwendungsgebiet „Obstipation“ zuweise. Zu den pharmakologischen Eigenschaften verweise die Monographie auf laxierende Effekte der Sennoside bzw. deren aktiver Metaboliten im Dickdarm, vorwiegend aufgrund einer Beeinflussung der Colonmotilität im Sinne einer Hemmung der stationären und einer Stimulierung der propulsiven Kontraktionen. Unterstrichen werde die pharmazeutische Verwendung des Stoffs durch seine Apothekenpflicht gemäß Anlage 1b zu § 7 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel. Dem stünden nicht ansatzweise Anhaltspunkte für eine Verwendung von Senna als Lebens- und Genussmittel gegenüber. Daher sei eine Prüfung, ob die Wirkungen der streitigen Produkte nicht über diejenigen hinausgingen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel aufweise, nicht möglich.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Annahme einer pharmakologischen Wirkung der Tees werde auch nicht dadurch relativiert, dass ausweislich der Ergebnisse des I.          Landeslabors die Tees Sennosid-Gehalte im Aufguss zwischen 8,5 mg und 12,5 mg aufwiesen und damit unter der Tagesdosis der Monographie der Kommission E von 20-30 mg lägen. Zum einen schwankten die in den wissenschaftlichen Quellen genannten Dosen und lägen teils unter denen der Monographie von 1993. So beschrieben die neueren europäischen HMPC- und ESCOP-Monographien Dosierungen zwischen 15 bis 30 mg Hydroxyanthracenderivate (berechnet als Sennosid B), die WHO-Monographie gar nur 10-30 mg. Auch könne die Dosierung durch den Anwender problemlos erhöht werden. Gerade die Darreichung mittels Teebeutel lade hierzu ein. Zum anderen sei ein Beleg therapeutischer Wirksamkeit keine Voraussetzung für die Einstufung als Funktionsarzneimittel. Fehle der Nachweis therapeutischer Wirksamkeit unterhalb einer bestimmten Dosisschwelle, sei die Annahme eines Funktionsarzneimittels keineswegs ausgeschlossen. Werde ein Stoff mit nachgewiesenen arzneimitteltypischen Funktionen knapp unterhalb der therapeutischen Wirksamkeitsschwelle dosiert, spreche eine Vermutung dafür, dass auch dieses Erzeugnis eine pharmakologische Wirkung aufweise. Denn diese setze nicht abrupt erst mit Beginn der therapeutischen Wirksamkeit ein, sondern sei schon unterhalb dieser Schwelle vorhanden. In der Regel steige die Wirkung eines Arzneimittels mit zunehmender Dosis an, wobei erst an einem bestimmten Punkt die Schwelle zum therapeutischen Erfolg überschritten sei (Dosis-Wirkungs-Beziehung). Dass das Produkt bereits pharmakologische Wirkungen mit einem nennenswerten Einfluss auf die physiologischen Funktionen besäße, gestehe der Kläger letztlich selbst zu, indem er eine Notwendigkeit für den aufgenommenen Warnhinweis bejaht und die Tagesdosis zu beschränken gesucht habe. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, dass die Hinweise letztlich auf die Intervention der Bezirksregierung zurückgegangen seien. Dies habe auf der Annahme einer Gleichsetzung von Wirksamkeit und pharmakologischer Wirkung beruht, die rechtlich so nicht zutreffe. Wer daher Mittel mit arzneimitteltypischer Funktion auf den Markt bringe und dabei die Dosierung geringfügig unter die einer belegten therapeutischen Wirkung setze, müsse den Anschein pharmakologischer Wirkung entkräften, wenn er sein Produkt ohne Zulassung vertreiben wolle. Die Arzneimittelüberwachungsbehörde sei in einem derartigen Fall nicht gehalten, Daten über die pharmakologische Wirkung in beliebigen Bereichen unterhalb der Wirksamkeitsschwelle zu generieren. Diese stünden naturgemäß nicht zur Verfügung. Daten über ein Produkt zu liefern, sei in erster Linie Sache des Inverkehrbringers. Der Einordnung als Funktionsarzneimittel stehe nicht entgegen, dass der Kläger dem Produkt keine therapeutische, sondern nur Genussfunktion beimesse. Als Arzneimittel schieden nur solche Produkte aus, die sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränkten, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit zuträglich zu sein, wie etwa Drogen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Bezirksregierung L.    habe kein Ermessen zugestanden, von einem Eingreifen abzusehen, da das unerlaubte Inverkehrbringen von Arzneimitteln nach § 96 Nr. 5 AMG ein Straftatbestand sei. Der Kläger sei als Großhändler, der die Tees im Sinne des § 4 Abs. 17 AMG in Verkehr bringe, auch richtiger Adressat der Ordnungsverfügung.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil hat der Kläger fristgerecht die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 19. Februar 2019 hat der vormals zuständige 13. Senat die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der Berufung macht der Kläger geltend, die Bezirksregierung L.    gehe unter Zugrundelegung der in den Zutatenlisten des Herstellers aufgeführten prozentualen Anteile der einzelnen Zutaten am Gesamtprodukt von der Menge an Sennesblättern im Teebeutel aus. Maßgeblich sei jedoch die Konzentration an Sennosiden im fertigen Teeaufguss. Diese liege nach den Gutachten des I.          Landeslabors jedoch unter den von wissenschaftlichen Quellen genannten Werten von 20-30 mg oder 15-30 mg. Dies treffe auch auf die zwischenzeitlich vom Chemischen- und Veterinäruntersuchungsamt (CVUA) Rhein-Ruhr-Wupper (RRW) untersuchten Tees der Sorten gemischter Kräutertee und Petersilie/Zitrone zu, deren Lieferant er sei. Bei dem ferner untersuchten Tee Maishaar handele es sich um einen völlig anderen Tee, der von ihm nicht vertrieben werde. Werde die therapeutische Wirksamkeitsschwelle nicht erreicht, könne nicht von einer pharmakologischen Wirkung ausgegangen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setze die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel voraus, dass die ihm zugeschriebenen Wirkungen durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt seien. Hierfür trage die Bezirksregierung die Darlegungs- und Beweislast, da sie sich auf eine Norm der Eingriffsverwaltung stütze. Belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse habe diese jedoch nicht benannt. Für die Einstufung als Arzneimittel sei unerheblich, dass der Anwender die Dosis problemlos erhöhen könne. Eine möglicherweise uferlose Anwendung durch den Verbraucher könne nicht Maßstab für den Eingriff in die Berufsfreiheit sein, zumal eine damit einhergehende Gefährdung auf viele Lebensmittel zutreffe. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, er gestehe mit dem Aufdruck eines Warnhinweises selbst zu, dass die Tees pharmakologische Wirkungen hätten, übersehe, dass auch auf anderen Lebensmitteln, etwa Energydrinks oder solchen mit einer Phenylalaninquelle, Warnhinweise aufgebracht seien. Außerdem sei maßgeblich die konkrete Zusammensetzung der Tees, die aus wesentlich mehr Stoffen als aus Sennesblättern bestünden. Dass die Teemischungen neben anderem zwischen 30 und 49,5 % Sennesblätter enthielten, mache deutlich, dass die Aufnahme von Sennosiden aus den Sennesblättern ebenso unspezifisch sei wie dies bei Lebensmitteln der Fall sei. Es gehe nicht um eine Steuerungsfunktion von außen. Die Bezirksregierung habe schließlich das ihr durch § 69 Abs. 1 AMG eröffnete Entschließungsermessen nicht erkannt. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Behörde komme angesichts der Strafbarkeit des Inverkehrbringens nicht zugelassener Arzneimittel nach § 96 Nr. 5 AMG ein Ermessen, von einem Eingreifen abzusehen, grundsätzlich nicht zu, verstoße gegen die Gewaltenteilung. Die Untersagung des Inverkehrbringens sei unverhältnismäßig. Ein ggf. auch weiter konkretisierter Warnhinweis sei ausreichend und genüge auch bei anderen Lebensmitteln, insbesondere Energydrinks. Die Untersagung des Vertriebs eines gesamten Teesortiments komme zudem einer Berufswahlregelung nahe. Die Zwangsgeldandrohung sei unbestimmt. Ein Zwangsgeld sei für den Fall der Zuwiderhandlung angedroht worden. Es sei jedoch nicht konkretisiert worden, wann ein einzelner Fall eines solchen Verstoßes vorliegen solle.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">In der Berufungsverhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, soweit die Ordnungsverfügung sich bezieht auf die Teesorten Kirschstängel, Erdbeere, Maistroddeln, Aprikose und Petersilie/Zitrone.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und die Verfügung der Bezirksregierung L.    vom 16. Juli 2015 aufzuheben, soweit Gegenstand der Tee der Sorte „Gemischter Kräutertee“ ist.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beantragt,</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Bezirksregierung L.    macht geltend, sie habe nicht vom Gewicht der Sennesblätter auf den Sennosidgehalt geschlossen, sondern den Sennosidgehalt im Teeaufguss entsprechend den Prüfberichten des I.          Landeslabors zugrunde gelegt. Für die Wirkung relevant seien nicht die einzelnen Sennoside A bis F, sondern das Gemisch aus verschiedenen Hydroxyanthracenderivaten. Die Sennoside A und B besäßen in der Regel den höchsten Anteil an den Gesamthydroxyanthracenglykosiden. Unter Einbeziehung aller Sennoside dürfte der Anteil an wirksamen Bestandteilen im Tee höher sein als der vom I.          Landeslabor gemessene. Die Wirkstoffbestimmung durch das I1.         Landeslabor nach der HPLC-Methode entspreche der aktuellen Monographie des Europäischen Arzneibuchs, in der der Gehalt an Gesamthydroxyanthracenglykosiden im Vergleich zur vorhergehenden Ausgabe, bei der die Gehaltsbestimmung photometrisch erfolgt sei, von mindestens 2,5 % auf mindestens 2,0 % in der getrockneten Droge gesenkt worden sei. Die bekannten Dosierangaben bezögen sich allerdings auf den Gehalt an Hydroxyanthracenglykosiden in der eingesetzten Drogenmenge (Teebeutel), nicht aber auf den Gehalt im zubereiteten Tee. Außerdem gehe es zulasten des Klägers, dass er den Sennosidgehalt in den von ihm vertriebenen Teemischungen nicht verlässlich angeben könne.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten haben im Verlauf des zweitinstanzlichen Verfahrens diverse Untersuchungsberichte zu den Tees eingereicht.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ein an den Landrat des Kreises V.    gerichteter Prüfbericht des CVUA RRW vom 18. Juli 2019 (Prüfbericht Nr. 2019-8320208) betrifft den Tee gemischter Kräutertee (MHD 21. Juni 2020). Die Quantifizierung der Sennoside erfolgte mittels hochauflösender Massenspektrometrie (LC-Orbitrap-MS) und ergab für Sennosid B einen Wert von 1,58 (+/- 0,24) mg und für Sennosid A von 1,28 (+/- 0,19) mg je Gramm Teemischung. Ein Teebeutel von 2 g Gewicht enthält dem Bericht nach daher 5,72 mg Sennoside (Addition der Einzelwerte x 2). Ferner weist der Bericht darauf hin, dass eine eindeutige Zuordnung weiterer Peaks im Chromatogramm zu weiteren Sennosiden und anderen Anthrachinonderivaten ohne geeignete Referenzsubstanzen nicht möglich sei und daher in der vorliegenden Probe von einem höheren Hydroxyanthracenderivat-Gehalt auszugehen sei.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der an die Stadt L.    gerichtete, in gleicher Weise erstellte Prüfbericht des CVUA RRW vom 8. Juni 2022 (Nr. 2022-7200167) betrifft den Tee gemischter Kräutertee (MHD 25. Oktober 2024) und weist für den Teebeutel einen Gesamtwert von 2,6 mg Sennosiden aus.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Bezirksregierung L.    Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren wird in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben. Die teilweise Wirkungslosigkeit des erstinstanzlichen Urteils ergibt sich aus § 173 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Im noch anhängigen Umfang hat die Berufung des Klägers Erfolg. Die Klage ist insoweit zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung der Bezirksregierung L.    vom 16. Juli 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit dem Kläger unter entsprechender Zwangsgeldandrohung das Inverkehrbringen des Tees E.     G.    gemischter Kräutertee untersagt worden ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage der angefochtenen Ordnungsverfügung ist § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AMG. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Denn die Untersagungsverfügung stellt ihrem Inhalt nach einen Dauerverwaltungsakt dar, da sie sich nicht in dem Verlangen eines einmaligen Tuns oder Unterlassens erschöpft. Bei der Beurteilung derartiger Dauerverwaltungsakte haben die Gerichte die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zugrunde zu legen, wenn ‑ wie hier ‑ das materielle Recht nichts Abweichendes bestimmt.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. September 2013 ‑ 3 C 15.12 ‑, juris Rn. 9, und vom 22. Januar 1998 ‑ 3 C 6.97 -, juris Rn. 18; OVG NRW, Beschluss vom 25. September 2013 ‑ 13 A 523/11 ‑, juris Rn. 24; Nds. OVG, Urteil vom 23. März 2006 ‑ 11 LC 180/05 ‑, juris Rn. 43; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 8. Dezember 2010 ‑ 9 S 783/10 -, juris Rn. 17; Hess. VGH, Beschluss vom 14. Februar 1996 ‑ 11 TG 1144/95 ‑, juris Rn. 2.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AMG treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, wenn die erforderliche Zulassung oder Registrierung für das Arzneimittel nicht vorliegt. Die Voraussetzungen für eine Verbotsverfügung auf dieser Grundlage liegen jedoch nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Bei dem Tee E.     G.    gemischter Kräutertee handelt es sich nicht ‑ was vorliegend allein im Streit steht ‑ um ein sog. Funktionsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst b) der Richtlinie 2001/83/EG.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">I. Zu den Funktionsarzneimitteln nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b) der Richtlinie 2001/83/EG zählen alle Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">1. Notwendige Voraussetzung für die Annahme eines Funktionsarzneimittels ist, dass das Erzeugnis die physiologischen Funktionen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch (a.) durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung (b.) nachweisbar (c.) und in nennenswerter Weise (d.) positiv beeinflussen kann.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 -, juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">a. Ausgangspunkt für die Beurteilung der physiologischen Auswirkungen eines Stoffes ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH der bestimmungsgemäße Gebrauch des Erzeugnisses. Es ist daher ohne Belang, dass das Erzeugnis in einer höheren als der auf dem Beipackzettel oder in der Verzehrempfehlung auf der Verpackung angegebenen Dosierung eine nennenswerte physiologische Wirkung haben kann. Unerheblich ist auch, ob Verbraucher dazu neigen könnten, Erzeugnisse in höheren Dosierungen zu konsumieren als vom Hersteller angegeben, und ob mit einer Überdosierung Gesundheitsgefahren einhergehen. Denn fast alle Erzeugnisse sind potentiell gesundheitsschädlich, wenn sie im Übermaß aufgenommen werden.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 30. April 2009 ‑ C-27/08 (BIOS Naturprodukte) -, Rn. 22, vom 15. Januar 2009 ‑ C-140/07 (Hecht-Pharma) ‑, Rn. 42, und vom 29. April 2004 ‑ C-150/00 (Kommission ./. Österreich) -, Rn. 75; vgl. auch BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2009 ‑ 3 C 5.09  juris Rn. 15, und vom 1. März 2012 ‑ 3 C 15.11 ‑, juris Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">b. Das Erzeugnis muss eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung haben.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Begriffe der ‑ hier nur in Betracht kommenden ‑ pharmakologischen (aa.) oder metabolischen (bb.) Wirkung sind weder im Arzneimittelgesetz noch in der Richtlinie 2001/83/EG definiert.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">aa. Für die Beantwortung der Frage, ob ein Produkt pharmakologisch wirkt, kann nach der Rechtsprechung des EuGH insoweit als zweckdienlicher Anhaltspunkt auf die von der Europäischen Kommission herausgegebenen Leitlinien ‑ und damit insbesondere die sog. „Borderline-Leitlinie“ (European Union, Medical Devices: Guidance Document, MEDDEV 2.1/3 rev 3, dort Ziffer A.2.1.1, S. 6),</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter: https://ec.europa.eu/docsroom/documents/10328/attachments/1/translations ‑,</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">zurückgegriffen werden.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 6. September 2012 ‑ C-308/11 (Chemische Fabrik Kreussler) ‑, Rn. 25 f.; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 20. Mai 2021 ‑ 3 C 19.19 ‑, juris Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Danach ist unter einer pharmakologischen Wirkung eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen des betreffenden Stoffes und einem ‑ gewöhnlich als Rezeptor bezeichneten ‑ Zellbestandteil zu verstehen, die entweder zu einer direkten Reaktion führt oder die Reaktion auf einen anderen Agenten blockiert. Eine Dosis-Wirkungs-Korrelation ist dabei ein ‑ wenn auch nicht zwingender ‑ Indikator für eine pharmakologische Wirkungsweise.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 28. Oktober 2021 ‑ 13 A 1376/17 ‑, juris Rn. 76.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Diese Definition ist jedoch nicht abschließend. Nach der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH genügt darüber hinaus jede Wechselwirkung zwischen der in einem Erzeugnis enthaltenen Substanz und einem beliebigen im Körper des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteil, sofern diese bewirkt, dass physiologische Funktionen beim Menschen wiederhergestellt, korrigiert oder beeinflusst werden.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 6. September 2012 ‑ C-308/11 (Chemische Fabrik Kreussler) ‑, Rn. 31 f. und Tenorziffer 2.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">bb. Auch hinsichtlich der Bestimmung des Begriffs der metabolischen Wirkung lassen sich der vorgenannten Borderline-Leitlinie (dort Ziffer A.2.1.1, S. 6) Anhaltspunkte entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. Oktober 2021 ‑ 13 A 2432/18 -, juris Rn. 65 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Danach wird unter einer metabolischen Wirkung eine Wirkungsweise verstanden, die eine Veränderung einschließlich des Stoppens, des Starts oder der Änderung der Geschwindigkeit der normalen biochemischen Prozesse beinhaltet, die an der normalen Körperfunktion beteiligt sind und dafür zur Verfügung stehen. Die Tatsache, dass ein Erzeugnis selbst verstoffwechselt wird, bedeutet nicht, dass es seine bestimmungsgemäße Hauptwirkung auf metabolische Weise erreicht.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">c. Der Begriff des Funktionsarzneimittels erfasst ‑ anders als der des Präsentationsarzneimittels ‑ nur diejenigen Erzeugnisse, deren pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung ‑ in der angegebenen Dosierung ‑ wissenschaftlich festgestellt wurden und die tatsächlich dazu bestimmt bzw. geeignet sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder die physiologischen Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder in einer positiven Weise zu beeinflussen.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Juli 2014 ‑ C-358/13 und C-181/14 (Markus D. u. a.) ‑, Rn. 36, 38 (zur positiven Wirkung), vom 6. September 2012 ‑ C-308/11 (Chemische Fabrik Kreussler) ‑, Rn. 30, und vom 15. Januar 2009 ‑ C-140/07 (Hecht-Pharma) -, Rn. 25 f.; BVerwG, Urteil vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 -, juris Rn. 17.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Ist der Nachweis der Arzneimitteleigenschaft im Sinne des Art. 1 Nr. 2 Buchst. b) der Richtlinie 2001/83/EG für ein Erzeugnis nicht geführt, so ist die Richtlinie auf dieses Produkt nicht anwendbar. Aus der sog. Zweifelsfallregelung in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG folgt nichts anderes. Diese ist nicht dahin zu verstehen, dass ein Produkt, bei dem es an den entsprechenden Feststellungen fehlt, im Zweifelsfall ein Arzneimittel ist. Vielmehr beruht diese Regelung auf dem Postulat, dass das Produkt die Voraussetzungen eines Arzneimittels erfüllt und dient gerade nicht der Überwindung von Zweifeln an der Arzneimitteleigenschaft.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 15. Januar 2009 ‑ C-140/07 (Hecht-Pharma) ‑, Rn. 24 ff.; BVerwG, Urteil vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 ‑, juris Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus kann ein Erzeugnis nicht gleichzeitig Arzneimittel und Lebensmittel sein. Denn nach Art. 2 Abs. 3 Buchst. d) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 (BasisVO) gehören Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG und 92/73/EWG ‑ jetzt der Richtlinie 2001/83/EG ‑ nicht zu den Lebensmitteln.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch BVerwG, Urteile vom 17. September 2021 ‑ 3 C 20.20 ‑, juris Rn. 28, und vom 1. März 2012 ‑ 3 C 15.11 ‑, juris Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Der Nachweis einer therapeutischen Wirksamkeit des Erzeugnisses ist für die Annahme eines Funktionsarzneimittels hingegen nicht erforderlich. Denn die Arzneimitteldefinition setzt nicht voraus, dass die Erzeugnisse eindeutig bestimmbare therapeutische und prophylaktische Eigenschaften aufweisen, deren Wirkung sich auf bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert, bzw. dass sie zur Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens angewandt werden können.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 15. Dezember 2016 ‑ C-700/15 (LEK) -, Rn. 35, und vom 10. Juli 2014 ‑ C-358/13 und C-181/14 (Markus D. u. a.) ‑, Rn. 36.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Der Begriff der therapeutischen Wirksamkeit stammt vielmehr aus den Regelungen über die Zulassung eines Arzneimittels. Er ist auf die klinische Prüfung der vom Arzneimittelhersteller beanspruchten Indikation bezogen und passt nicht für die vorgelagerte Fragestellung, ob einem Erzeugnis überhaupt die Eignung zukommt, die physiologischen Funktionen positiv zu beeinflussen. Daher bezieht sich auch der vom EuGH geforderte wissenschaftliche Nachweis nicht auf eine therapeutische Wirkung, sondern nur auf die Frage, ob der Stoff geeignet ist, dem Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich der menschlichen Gesundheit zuträglich zu sein.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 ‑, juris Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die therapeutische Wirksamkeit berechtigt jedoch im Wege eines Erst-Recht-Schlusses zur Annahme einer physiologischen Wirkung.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2009 ‑ 3 C 5.09 ‑, juris Rn. 16, und vom 25. Juli 2007 ‑ 3 C 21.06 ‑, juris Rn. 26.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">d. Nicht alle Erzeugnisse, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, können als Funktionsarzneimittel eingestuft werden. Das Kriterium der Eignung, physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen, setzt voraus, dass die entsprechenden Auswirkungen des Erzeugnisses bei normalem Gebrauch nennenswert sind. Werden die Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers nicht wirklich beeinflusst, liegt kein Funktionsarzneimittel vor.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 30. April 2009 ‑ C-27/08 (BIOS Naturprodukte) ‑, Rn. 21, 23, und vom 15. Januar 2009 ‑ C-140/07 (Hecht-Pharma) ‑, Rn. 41 f.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Da die physiologische Wirkung nicht für Arzneimittel spezifisch ist, sondern auch auf Lebensmittel (Nahrungsergänzungsmittel) zutrifft, scheidet zudem die Annahme eines Funktionsarzneimittels aus, wenn die nennenswerten Auswirkungen des Erzeugnisses auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 15. November 2007 ‑ C-319/05 (Kommission ./. BRD) ‑, Rn. 63 ff.; BVerwG, Urteil vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 ‑, juris Rn. 20.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">2. Die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel erfordert bei Vorliegen der vorstehend genannten Voraussetzungen eine Gesamtbetrachtung. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels nach der Funktion fällt, von Fall zu Fall zu treffen. Dabei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften ‑ wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen ‑, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 3. Oktober 2013 ‑ C-109/12 (Laboratoires Lyocentre) ‑, Rn. 42, vom 6. September 2012 ‑ C-308/11 (Chemische Fabrik Kreussler) ‑, Rn. 34, vom 30. April 2009 ‑ C-27/08 (BIOS Naturprodukte) ‑, Rn. 18, und vom 15. Januar 2009 ‑ C-140/07 (Hecht-Pharma) -, Rn. 39.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen dieser Einzelfallprüfung sind die pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften eines Erzeugnisses der Faktor, auf dessen Grundlage ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zu beurteilen ist, ob es im Sinne der Definition des Funktionsarzneimittels im oder am menschlichen Körper zur Wiederherstellung, Korrektur oder Beeinflussung der physiologischen Funktionen angewandt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 3. Oktober 2013 ‑ C-109/12 (Laboratoires Lyocentre) ‑, Rn. 43, und vom 30. April 2009 ‑ C-27/08 (BIOS Naturprodukte) ‑, Rn. 20.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Die weiteren Merkmale des Erzeugnisses haben keine für ein Arzneimittel nach der Funktion konstitutive Wirkung. Der fehlende Nachweis einer nennenswerten Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung kann durch die anderen Kriterien daher nicht ersetzt werden. Diese sind vielmehr als Korrektiv heranzuziehen, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2009 ‑ 3 C 5.09 ‑, juris Rn. 18, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 30. April 2009 ‑ C-27/08 (BIOS Naturprodukte) ‑, Rn. 24 (zu Gesundheitsgefahren).</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die nennenswerten Auswirkungen des Erzeugnisses auf die physiologischen Funktionen sind somit nur ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt. Sie führen daher nicht zwangsläufig zur Arzneimitteleigenschaft.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 ‑, juris Rn. 19 und 31, sowie vom 17. August 2017 ‑ 3 C 18.15 ‑, juris Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung sind auch die möglichen Gesundheitsrisiken bei der Verwendung zu berücksichtigen. Diesen kommt in Fällen, in denen die Auswirkungen eines Erzeugnisses im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungs- und Arzneimitteleigenschaft liegen, besonderes Gewicht für die Beurteilung zu. Eine Einstufung als Arzneimittel ist hier angesichts der damit verbundenen Einschränkungen und Behinderungen des freien Warenverkehrs nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz der Gesundheit erforderlich ist.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 ‑, juris Rn. 30, 32 f.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">II. Von dem Vorstehenden ausgehend ist nicht wissenschaftlich nachgewiesen, dass der Tee E.     G.    gemischter Kräutertee aufgrund des in ihm enthaltenen Anteils an Sennesblättern bzw. deren Wirkstoffe, den Sennosiden, die physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers nennenswert durch eine pharmakologische oder metabolische Wirkung beeinflusst.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">1. Eine biochemische Wirkweise im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG, Art. 1 Nr. 2 Buchst. b) der Richtlinie 2001/83/EG ist bei den in dem Tee enthaltenen Sennesblättern dem Grunde nach zu bejahen. Offen bleiben kann dabei, ob die Sennesblätter bzw. deren Wirkstoffe, die Sennoside, ihrer Funktionsweise nach pharmakologisch oder metabolisch wirken. Jedenfalls wirken sie ‑ in Abgrenzung zu Medizinprodukten ‑ nicht rein physikalisch.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Sennesblätter enthalten als Wirkstoffe Dianthronglykoside (Sennoside), die zur Gruppe der antiabsortiv und sekretagog wirkenden Laxantien gehören. Sie werden nach der Passage des Magen-Darm-Traktes im Dick- bzw. Enddarm durch bakterielle Enzyme in die wirksamen Metaboliten (Rhein-Anthron) gespalten, die durch direkten Kontakt mit der Darmschleimhaut wirken (Kontaktlaxantien). Dabei hemmen die aktiven Metaboliten die stationären und stimulieren die propulsiven Kontraktionen der glatten Dickdarmmuskulatur, so dass es zu einem beschleunigten Transit kommt. Die verkürzte Kontaktzeit verringert außerdem die Flüssigkeitsresorption. Gleichzeitig werden die Sekretionsprozesse beeinflusst: Die Wasser- und Elektrolytabsorption in die Kolonepithelzellen wird gehemmt und der Einstrom von Elektrolyten und Wasser in das Darmlumen gefördert und damit eine Volumenzunahme erreicht.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Vgl. Wichtl, Teedrogen und Phytopharmaka, 6. Aufl. 2016, S. 605; Kommission E, Monographie: Sennae folium (Sennesblätter), BAnz vom 21. Juli 1993, Nr. 133 S. 6618, bestätigt durch Standardzulassung Nr. 7399.99.99 (BR-Drs. 229/00 vom 14. April 2000 S. 12 (Nr. 7.12.1) und S. 13 (Nr. 7.12.3); HMPC, Assessment report on Senna alexandrina Mill (Cassia senna L.; Cassia angustfolia Vahl), folium and fructus, Ziffer 3.1.5, S. 29; Kommentar zum Europäischen Arzneibuch 10.1/0206, 67. Lieferung 2021; Update senna, DAZ 2005, Nr. 13, S. 107.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">2. Es fehlt aber an einer wissenschaftlich nachgewiesenen nennenswerten Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch den Tee E.     G.    gemischter Kräutertee. Die Schwelle von 10 mg Hydroxyanthracenderivaten, berechnet als Sennosid B, ab der von einer therapeutischen Wirksamkeit auszugehen ist (a.), erreicht der Tee in der vom Hersteller angegebenen Dosierung im Aufguss nicht (b). Belastbare wissenschaftliche Daten, die einen Rückschluss auf eine nennenswerte Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen unterhalb von 10 mg zuließen, liegen nicht vor (c.).</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">a. Eine therapeutische Wirksamkeit und damit ‑ im Wege eines Erst-Recht-Schlusses ‑ auch eine nennenswerte Beeinflussung der physiologischen Funktionen ist für Sennesblätter bzw. sennesblätterhaltige Erzeugnisse ab einem Gehalt von mindestens 10 mg Hydroxyanthracenderivaten, berechnet als Sennosid B, durch die Monographie des Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) der European Medicines Agency vom 25. September 2018 (European Union herbal monograph on Senna alexandrina Mill. (Cassia senna L.; Cassia angustifolia Vahl) folium), bestätigt mit Addendum vom 26. Januar 2022,</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter: https://www.ema.europa.eu/en/medicines/herbal/sennae-folium,</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">wissenschaftlich nachgewiesen. Offen bleiben kann , ob diese Monographie im vorliegenden Zusammenhang rechtlich bindend ist.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG L.    , Urteil vom 5. Juli 2011 ‑ 7 K 8612/09 ‑, juris Rn. 49 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 2. November 2017 ‑ 13 LB 31/14  ‑, juris Rn. 73 unter Bezugnahme auf VG L.    ; Knöss, Monographien als Richtschnur, in: Pharmazeutische Zeitung online, Ausgabe 13/2014; vgl. auch Winnands/Kügel, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 22 Rn. 91.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls kommt der Monographie des HMPC, ebenso wie den Monographien der Kommissionen D und E,</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 ‑ 3 C 10.09 ‑, juris Rn. 25 und vom 25. Juli 2007 ‑ 3 C 22.06 ‑, juris Rn. 33,</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">die Bedeutung eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu, von dem abzuweichen hier kein Anlass besteht.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Dem HMPC, das nach Art. 16h Abs. 1 Satz 1 und 2 der Richtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/24/EG bei der EMA eingerichtet worden ist, kommt gemäß Art. 16h Abs. 1 Buchst. a Spiegelstrich 4 und Buchst. b jew. i. V. m. Abs. 3 der Richtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/24/EG die Aufgabe zu, u. a. gemeinschaftliche Monographien für traditionelle pflanzliche Arzneimittel sowie gemeinschaftliche Pflanzenmonographien zu erstellen. Es handelt sich um ein sachverständig besetztes Gremium (vgl. Art. 16h Abs. 2 Richtlinie 2001/83/EG), das die Monographien ‑ wie die zugehörigen Literaturlisten und Bewertungsberichte verdeutlichen ‑ auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstands und in Auseinandersetzung mit den herangezogenen wissenschaftlichen Publikationen erstellt. Im Regelfall wird von der Richtigkeit der in den Monographien enthaltenen Angaben auszugehen sein, sofern nicht ausnahmsweise bessere und/oder aktuellere wissenschaftliche Erkenntnisse eine andere Bewertung rechtfertigen.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Danach ist auf der Grundlage der in der Monographie des HMPC vom 25. September 2018 enthaltenen Dosierungsempfehlung davon auszugehen, dass Sennoside eine therapeutische Wirksamkeit und damit auch eine nennenswerte Beeinflussung der physiologischen Funktionen ab 10 mg Hydroxyanthracenderivaten, berechnet als Sennosid B, entfalten. Zwar ist damit eine Absenkung der Untergrenze gegenüber derjenigen in der vorhergehenden Monographie aus dem Jahr 2006 erfolgt, die auf der Grundlage der im zugehörigen Assessment-Report angeführten Expertenmeinungen, klinischen Studien und der toxikologischen Daten, die Anlass für den Bescheid des BfArM vom 21. Juni 1996 (BAnz vom 5. Juli 1996, Nr. 123, S. 7581 f.) waren, noch einen Dosisbereich zwischen 15 und 30 mg angegeben hatte.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Vgl. Assessment report on cassia senna L. and cassia angustifolia vahl, Folium vom 27. April 2007, S. 7, abrufbar unter: https://www.ema.europa.eu/en/medicines/herbal/sennae-folium.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Diese Absenkung hat das HMPC mit dem verfolgten Ansatz begründet, die Wirkstoffmenge zu minimieren, und sich hinsichtlich der Wirksamkeit der herabgesenkten Dosis von den Dosierungen der auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln bestätigt gesehen.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Vgl. Assessment report on Senna alexandrina Mill. (Cassia senna L.; Cassia angustifolia Vahl), folium and fructus, vom 25. September 2018, S. 21.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte dafür, dass diese Bewertung nicht zutrifft, sind nicht erkennbar. Vielmehr nennt auch die ‑ weiterhin gültige ‑ Monographie der Weltgesundheitsorganisation (WHO monographs on selected medicinal plants, Volume 1, 1999) eine zur Behandlung einer Obstipation geeignete Wirkstoffmenge zwischen 10 und 30 mg Sennoside, berechnet als Sennosid B (S. 247).</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Zudem weist der Assessment report des HMPC (S. 21) darauf hin, dass die Werte zu den in Sennesblättern enthaltenen Hydroxyanthracenderivaten nunmehr in Übereinstimmung mit dem Gehalt an Hydroxyanthracenderivaten aus der Pflanze Aloe stehen, die in der HMPC-Monographie zu „Aloe barbadensis“ vom 22. November 2016 zur Anwendung bei Obstipation angegeben sind. Diese wiederum entsprechen denen der aktuellen Monographie der European Scientific Cooperative On Phytotherapie (ESCOP) zu Aloe („Aloe barbadensis“) aus dem Jahr 2014, die ebenfalls Gehalte zwischen 10 und 30 mg Hydroxyanthracenderivate nennt.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Die Monographie der Kommission E „Sennae folium (Sennesblätter)“ aus dem Jahr 1993 (BAnz vom 21. Juli 1993, Nr. 133, S. 6618) nennt zwar Gehaltsmengen von 20 bis 30 mg Hydroxyanthracenderivaten. Sie enthält aber den Hinweis, dass die Darreichungsform auch eine geringere als die übliche Tagesdosis erlauben sollte, der zeigt, dass die Kommission E bereits damals davon ausging, auch niedrigere Dosen könnten zur Behandlung der Obstipation wirksam sein. Vergleichbares enthält der Bescheid des BfArM vom 21. Juni 1996 (BAnz vom 5. Juli 1996, Nr. 123, S. 7581 f.). Darüber hinaus ist die wissenschaftliche Bewertung der Wirkungen eines Stoffes nicht statisch. Mit Blick auf den Umstand, dass die Monographie der Kommission E nicht aktualisiert worden ist, ihr daher noch der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Jahr 1993 zugrunde liegt, bietet sie keine Grundlage für die Annahme, die auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse erstellte Monographie des HMPC sei unzutreffend.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">b. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung enthält der Tee „E.     G.    gemischter Kräutertee“ in der vom Hersteller angegebenen Dosierung von einem Teebeutel je Tag im hergestellten Aufguss nicht einen Gehalt von mindestens 10 mg Hydroxyanthracendrivaten, der die Feststellung rechtfertigte, dass die physiologischen Funktionen nennenswert beeinflusst werden.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Über dem Wert von 10 mg Sennosiden lag einzig der Aufguss des gemischten Kräutertees mit dem MHD 25. Juli 2013, der Gegenstand des Prüfberichts Nr. 123010952 des I.          Landeslabors vom 21. Juni 2012 ist. Die Rezeptur dieses Tees war jedoch bereits damals nicht mehr aktuell. Der am gleichen Tag vom I.          Landeslabor untersuchte gemischte Kräutertee mit dem MHD 27. Februar 2014 (Prüfbericht Nr. 123010949) führte die Zutat „Sennesblätter“ anders als der zuvor genannte Tee nicht mehr an erster, sondern an zweiter Stelle des Zutatenverzeichnisses auf. Die laut Prüfbericht im Aufguss dieses Tees festgestellte Menge an Sennosiden betrug insgesamt 6 mg und lag daher ‑ auch unter Berücksichtigung der Unterschiede der Untersuchungsmethoden des I.          Landeslabors einerseits (HPLC) und der Monographie des HMPC andererseits (photometrisch) - unterhalb der genannten Grenze. Die in der jüngsten Zeit erfolgten Untersuchungen durch das CVUA RRW, die sich ohnehin nur zum Sennosidgehalt im Teebeutel verhalten, nicht aber zu der Menge im Aufguss, haben nochmals geringere Werte ergeben. So weist der Prüfbericht des CVUA RRW vom 18. Juli 2019 (Prüfbericht Nr. 2019-8320208) für den Tee mit dem MHD 21. Juni 2020 einen Gehalt von 5,72 mg im Teebeutel aus und der Prüfbericht vom 8. Juni 2022 (Nr. 2022-7200167), betreffend einen Tee mit dem MHD 25. Oktober 2024, einen Gesamtwert von 2,6 mg Sennosiden.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Der Einwand der Bezirksregierung L.    im Schriftsatz vom 28. Juli 2022, die „bekannten Dosierangaben“ bezögen sich auf den Sennosidgehalt im Teebeutel, ist mit Blick auf die vorliegenden Werte unmaßgeblich und im Übrigen nicht nachvollziehbar. Zum einen fehlt es an dahingehenden Angaben in der Monographie des HMPC, die im Übrigen nicht speziell zu Tees erstellt worden ist, sondern sich allgemein zu Erzeugnissen verhält, die Wirkstoffe aus Sennesblättern enthalten (hierzu zählen u. a. Tabletten, Kapseln, Sirup und Früchtewürfel). Zum anderen kann bei einem Produkt, das nicht zur äußerlichen Anwendung vorgesehen ist, sondern verzehrt werden muss, um Wirkung zu entfalten, naturgemäß nur die aufgenommene Menge an Wirkstoffen eine ‑ pharmakologische oder metabolische ‑ Wirkung entfalten. Schon aus diesem Grund reicht es auch nicht aus, aus den in Zutatenlisten des Herstellers aufgeführten prozentualen Anteilen der einzelnen Zutaten am Gesamtprodukt die Menge an Sennesblättern im Teebeutel auszurechnen, worauf die Bezirksregierung L.    in der Ordnungsverfügung abgestellt hat. Anderes kann zwar in Fällen standardisierter Teezubereitungen gelten, d. h. bei Verwendung von Sennesblättern, die einen gleichbleibenden geprüften Wirkstoffgehalt aufweisen. Dies ist vorliegend jedoch auch nach Auffassung der Bezirksregierung L.    nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Soweit die Bezirksregierung L.    weiter geltend macht, die diversen Untersuchungen - auch des I.          Landeslabors nach der HPLC-Methode - erfassten nur die Sennoside A und B, maßgeblich seien jedoch alle Sennoside, und mit dieser Begründung von einem ‑ unspezifisch ‑ höheren Wert ausgehen will, ist darauf hinzuweisen, dass dieselbe Unschärfe den in den Monographien ausgewiesenen Werten zugrunde liegen dürfte. Jedenfalls ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass den Monographien Berechnungsmethoden zugrunde liegen, die in der Praxis der Untersuchungsämter und privaten Labore nicht zur Verfügung stehen. Im Übrigen hat sich jedenfalls das Institut für pharmazeutische und angewandte Analytik (InphA, Untersuchung zum Kirschstängeltee vom 11. April 2018) in der Lage gesehen, die Sennosidmessung im Einklang mit der Untersuchungsmethode, die der Monographie des HMPC zugrunde liegt,</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">vgl. Assessment report on Senna alexandrina Mill. (Cassia senna L.; Cassia angustifolia Vahl), folium and fructus, S. 21 (Ziffer 2.3),</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">photometrisch zu bestimmen.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">c. Belastbare wissenschaftliche Daten, die einen Rückschluss auf eine nennenswerte Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen durch Hydroxyanthracenderivate unterhalb einer Wirkstoffmenge von 10 mg zuließen, hat die Bezirksregierung L.    nicht benannt; sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Zwar liegt es nahe, dass ein Erzeugnis ‑ wie vom Verwaltungsgericht angenommen - auch „knapp unterhalb“ der Schwelle zur therapeutischen Wirksamkeit eine physiologische Wirkung entfaltet. Abgesehen davon, dass die vage Bezeichnung „knapp unterhalb“ zur Abgrenzung eines Lebensmittels von einem Arzneimittel von vornherein untauglich ist, handelt es sich bei diesem Ansatz um eine bloße Vermutung, die den geforderten Nachweis nicht ersetzen kann.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte für weitere Sachverhaltsermittlungen zu der Frage, ob auch Sennoside in einer Menge, die im derzeit vertriebenen Tee(beutel) der Sorte gemischter Kräutertee vorhanden sind, nennenswerte Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen haben, sind nicht erkennbar. In einer solchen Situation ist es auch mit Blick auf die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§§ 86 Abs. 1 Satz 1, 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht Aufgabe der Verwaltungsgerichte, weitere Ermittlungen anzustellen, was hier auf die Durchführung einer klinischen Studie hinauslaufen würde. Die Folge der danach verbleibenden Unerweislichkeit der Arzneimitteleigenschaft des E.     G.    Tees „gemischter Kräutertee“ trägt im vorliegenden Fall der Untersagung nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG das beklagte Land.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2009 ‑ 3 C 5.09 ‑, juris Rn. 17; vgl. auch Urteil vom 7. November 2019 ‑ 3 C 19.18 -, juris Rn. 14 (zu § 54 LFGB).</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Insoweit gilt auch hier der allgemeine Grundsatz, dass derjenige, der aus einer Norm eine ihm günstige Rechtsfolge ableitet, die materielle Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen der Norm ‑ hier namentlich das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels - trägt.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">3. Dass Senna in der Anlage 1b der Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel aufgeführt ist, ist entgegen der Auffassung der Bezirksregierung L.    ohne Bedeutung für die Frage, ob es sich bei dem Tee um ein (Funktions-) Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b) der Richtlinie 2001/83/EG handelt. Der Verordnung lässt sich lediglich entnehmen, dass der „Stoff“ Senna (vgl. § 3 Nr. 2 AMG) Arzneimittel sein kann; es lässt sich aber aus dieser Verordnung nicht schließen, dass Präparate, die die in Anlage 1b der Verordnung genannten Stoffe enthalten, schon deshalb Arzneimittel wären. Sie sind es trotz dieser Stoffe nicht, wenn sie nicht zu den in § 2 Abs. 1 AMG genannten Zwecken bestimmt sind oder sonst die Voraussetzungen des § 2 AMG erfüllen. Der Begriff des Arzneimittels ist in dem ermächtigenden Arzneimittelgesetz (vgl. § 48 Abs. 2 AMG) definiert und wird in der Verordnung über die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln vorausgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1994 ‑ 3 C 2.93 ‑, juris Rn. 40.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Ein anderes Verständnis wäre zudem mit dem Arzneimittelbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b) der Richtlinie 2001/83/EG nicht zu vereinbaren. Denn der Anlage 1b der Verordnung unterfallen die dort aufgeführten Pflanzen dosisunabhängig und damit ungeachtet des Umstandes, ob und in welcher Menge sie tatsächlich nennenswert auf die menschlichen physiologischen Funktionen einwirken.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">4. Ist danach nicht von einer nennenswerten Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch den gemischten Kräutertee in der bestimmungsgemäßen Dosierung auszugehen, kommt den von der Bezirksregierung L.    angeführten möglichen Gesundheitsrisiken für die Frage der Arzneimitteleigenschaft keine Relevanz zu. Diese haben erst bei Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels im Rahmen der dann gebotenen Gesamtbetrachtung Bedeutung.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Der Senat weist allerdings darauf hin, dass bei Erreichen der Schwelle von 10 mg Sennosiden im Teeaufguss die Gesamtbetrachtung anhand aller über die Zusammensetzung und Wirkung hinausgehenden weiteren Merkmale des Erzeugnisses, insbesondere der Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, dazu führen dürfte, dass ein Arzneimittel vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist im Hinblick auf die Modalitäten des Gebrauchs, den Umfang der Verbreitung von Sennesblättern und deren Bekanntheit bei Verbrauchern maßgeblich, dass weder vorgetragen noch erkennbar ist, dass Sennesblätter als Lebensmittel verzehrt werden bzw. dem Verbraucher als Lebensmittel bekannt sind. Sie gehören vielmehr zu den am häufigsten gebrauchten pflanzlichen Abführmitteln (vgl. Wichtl, Teedrogen und Phytopharmaka, 6. Aufl. 2016, S. 605) und sind in Deutschland seit Jahrzehnten als Arzneimittel bekannt (siehe auch BVerwG, Urteil vom 16. Februar 1971 ‑ I C 25.66 ‑, juris). Die Darreichungsform entsprechender Präparate umfasst neben Tabletten, Kapseln, Sirup und Früchtewürfeln insbesondere Tees, die von zahlreichen Firmen angeboten werden. Vor diesem Hintergrund lässt der Umstand, dass es sich bei den Produkten um Tees handelt, nicht den Schluss zu, der Verbraucher erwarte allein aufgrund der Darreichungsform ein Lebensmittel.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Anders als bei Erzeugnissen im Grenzbereich zwischen Lebens- bzw. Nahrungsergänzungsmittel und Arzneimittel dürfte etwaigen Gesundheitsrisiken bei einem therapeutisch wirksamen Produkt kein maßgebliches Gewicht zukommen. Darüber hinaus ist auf der Grundlage der bereits genannten wissenschaftlichen Quellen (insbesondere des Assessment reports des HMPC, der Monographie der WHO und des Bescheids des BfArM vom 21. Juni 1996) nicht ersichtlich, dass von derartigen Tees bei bestimmungsgemäßem Gebrauch keine Gefahren für die Gesundheit ausgehen. Zusammengenommen folgt aus diesen Angaben, dass sennesblätterhaltige Präparate sowohl von Kindern jedenfalls unter 10 Jahren als auch von Schwangeren und Stillenden (vorbehaltlich abweichender ärztlicher Einschätzung) nicht eingenommen werden dürfen. Zudem sind die Erzeugnisse kontraindiziert bei Darmverschluss, akut-entzündlichen Erkrankungen des Darms, abdominalen Schmerzen unbekannter Ursache und weiteren Erkrankungen. Die zahlreichen Gegenanzeigen belegen, dass die Wirkstoffe in derartigen Tees auch bei Einhaltung der Dosisangabe nicht gesundheitlich unbedenklich sind, sondern ‑ wenn auch nur für bestimmte Personenkreise ‑ potentiell mit Gefahren für die Gesundheit verbunden sind. Dass diesen Gesundheitsgefahren durch Warnhinweise auf lebensmittelrechtlicher Grundlage (vgl. Art. 14 Abs. 3 Buchst. b) der Verordnung Nr. 178/2002/EG) ausreichend begegnet werden könnte, erscheint zweifelhaft.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Von dem Vorstehenden ausgehend ist auch die auf die §§ 55 Abs. 1, 60 und 63 VwVG NRW gestützte und auf den allein noch streitigen gemischten Kräutertee bezogene Zwangsgeldandrohung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO. Soweit gemäß § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des erledigten Teils des Verfahrens (fünf Teesorten) nach billigem Ermessen zu entscheiden ist, ist es sachgerecht, dem Kläger hinsichtlich des Tees der Sorte Kirschstängel und dem beklagen Land hinsichtlich der übrigen vier Teesorten die Kosten aufzuerlegen. Für den Kirschstängeltee weist der Untersuchungsbericht des InPhA vom 11. April 2018 einen Wert von 17,7 mg Hydroxyanthracenglykoside aus, der deutlich über der Schwelle der therapeutischen Wirksamkeit liegt und bei dem nach dem Vorstehenden auch eine Gesamtbetrachtung voraussichtlich zu keiner abweichenden Beurteilung der Arzneimitteleigenschaft geführt hätte. Hinsichtlich der anderen Tees wiederum wiesen sämtliche vorgelegten Untersuchungsberichte entweder Werte im Aufguss oder im Beutel unter 10 mg oder im Beutel knapp oberhalb der Grenze von 10 mg auf, die jedoch keinen sicheren Schluss auf die im Aufguss befindliche Menge zuließen.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.</p>
346,660
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9 A 353/19
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-22T10:01:42"
"2022-10-17T11:10:26"
Urteil
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0830.9A353.19.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Berufung wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p> <p>Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p> <p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten um die Angaben „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung (Faltschachtel) und dem Etikett eines Hustensaftes sowie die Angaben “ohne Alkohol (Ethanol)“, “enthält keinen Alkohol (Ethanol)“, „enthält kein Ethanol“ in der Gebrauchs- und Fachinformation. Soweit Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens auch Hustentropfen waren, ist das Verfahren durch Senatsbeschluss vom 20. Mai 2022 abgetrennt und unter dem Aktenzeichen 9 A 1027/22 fortgeführt worden.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erteilte der Klägerin am 22. Januar 2008 die Zulassung für das Fertigarzneimittel „Aspecton forte Hustensaft“ (Zulassungsnummer 00000.00.00). Nachfolgend wurde die Änderung der Bezeichnung in „Aspecton DS Hustensaft“ und später „Aspecton Hustensaft“ angezeigt. Zuletzt zeigte die Klägerin unter dem 18. Mai 2021 die Änderung der Bezeichnung in „Thymian Hustensaft L.      N.          “ an, die mit Bescheid vom 27. Juli 2021 genehmigt wurde. Dieses Produkt ist aktuell nicht im Handel.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Arzneimittel enthält als Wirkstoff einen Dickextrakt aus Thymiankraut (1,7-2,5:1), Auszugsmittel: Ammoniaklösung 10 % (m/m), Glycerol 85 % (m/m), Ethanol 90 % (V/V), Wasser (1:20:70:109). Das im Auszugsmittel für den Thymiankrautextrakt enthaltene Ethanol wird im Herstellungsverfahren fast vollständig wieder entfernt. In der Extraktzubereitung befindet sich laut Spezifikation Ethanol nur noch in einer Menge von unter 0,10 %. In einer maximalen Einzeldosis des Fertigarzneimittels von 10 ml Hustensaft sind maximal 1,32 mg Ethanol enthalten. Als sonstiger Bestandteil ist Sorbitol als Süßstoff enthalten. Das Arzneimittel enthält nicht mehr natürlichen Zucker als der Ausgangsstoff Thymian; während des Herstellungsverfahrens wird kein Zucker zugesetzt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Arzneimittel wird angewendet „zur Besserung der Beschwerden bei Erkältungskrankheiten der Atemwege mit zähflüssigem Schleim, zur Besserung der Beschwerden bei akuter Bronchitis“. Es ist auch zur Anwendung bei Kindern ab 1 Jahr zugelassen und nicht verschreibungspflichtig.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">In dem durch den Zulassungsbescheid vom 22. Januar 2008 zugelassenen Text für die äußere Umhüllung (Faltschachtel) und das Etikett befand sich der Hinweis „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“. In der Gebrauchsinformation war unter Ziffer 6 - nach der Angabe der sonstigen Bestandteile - der Hinweis enthalten: „Aspecton forte Hustensaft enthält keinen Alkohol (Ethanol)“. Im Abschnitt „Weitere Hinweise“ der Gebrauchsinformation war der folgende Text aufgeführt: „Aspecton forte Hustensaft ist ohne Alkohol (Ethanol) und daher auch für Patienten geeignet, die Alkohol (Ethanol) vermeiden müssen.“ In der Fachinformation hieß es unter Ziffer 6.1 nach der Liste der sonstigen Bestandteile: „Hinweis: Aspecton forte Hustensaft enthält kein Ethanol.“</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit fristgerechtem Verlängerungsantrag vom 18. Juli 2012 legte die Klägerin gleichlautende Informationstexte und Texte für die äußere Umhüllung und das Etikett vor. Dem nach vorheriger Anhörung ergangenen Verlängerungsbescheid vom 3. Juni 2015, zugestellt am 9. Juni 2015, waren u. a. die folgenden Auflagen beigefügt:</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">F1.: Die Angaben „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ sind auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett zu streichen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">F3.: In den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation sind die Hinweise „…enthält keinen Alkohol“ zu streichen und können durch den Hinweis „Das Ethanol des Auszugsmittels wurde weitestgehend entfernt.“ ersetzt werden.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">F4.: In der Packungsbeilage ist unter weitere Hinweise der Satz: „ ... ist ohne Alkohol (Ethanol) und daher auch für Patienten geeignet, die Alkohol (Ethanol) vermeiden müssen“ zu streichen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">In der Begründung zu Auflage F1. wurde ausgeführt, der Hinweis zur Alkohol- und Zuckerfreiheit sei nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG nicht als „weitere Angabe“ zulässig, weil er in der EU-„Guideline on the excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“ (CPMP/463/00) nicht vorgesehen und bei dem apothekenpflichtigen Arzneimittel auch nicht notwendig sei. Die Angaben seien auch geeignet, das Produkt gegenüber vergleichbaren Arzneimitteln hervorzuheben, und daher werbewirksame Aussagen. Zur Begründung der in den Auflagen F3. und F4. vorgesehenen Streichungen wurde ausgeführt, auch wenn das Ethanol aus dem Auszugsmittel wieder entfernt werde, blieben immer kleine Restmengen zurück. Außerdem zähle auch das enthaltene Propylenglykol zu den Alkoholen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Den dagegen eingelegten Widerspruch wies das BfArM durch Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2015, zugestellt am 22. Dezember 2015, zurück.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Am 20. Januar 2016 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Köln Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Die Auflagen F1., F3. und F4. seien rechtswidrig. Die Beklagte habe die beanstandeten Hinweise in der erstmaligen Zulassung genehmigt. Eine Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung eines genehmigten Textes sei nicht ersichtlich. Es sei auch fraglich, ob im Hinblick auf „Entwarnungshinweise“ eine Auflagenbefugnis nach § 28 Abs. 2 AMG bestehe, denn durch die Entwarnung bestehe keine Gefahr für die Qualität und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln. Es sei weiter fraglich, ob die Beklagte das ihr durch § 28 Abs. 2 AMG eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt, insbesondere die atypischen Besonderheiten des vorliegenden Falles hinreichend beachtet habe. Die Beklagte orientiere sich an abstrakten Guidelines oder Äußerungen von Expertengremien sowie einer möglichen Vorbildwirkung für andere Verfahren statt den konkreten Einzelfall zu prüfen. Die Auflagen seien unverhältnismäßig. Eine Änderung der im Rahmen der Erstzulassung für rechtmäßig gehaltenen Texte, ohne dass sich die Sach- oder Rechtslage geändert habe, verwirre die Patienten und Vertreter der Fachkreise und führe zu einer unnötigen wirtschaftlichen Belastung der Klägerin.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die beanstandeten Hinweise seien als sonstige Angaben nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG, § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG und § 11a Abs. 1 Satz 6 AMG zulässig. Sie stünden mit der Anwendung des Arzneimittels in Zusammenhang und seien für die gesundheitliche Aufklärung wichtig. Hierzu genüge es, dass die Angaben der gesundheitlichen Aufklärung dienlich seien. Dies sei bei allen Angaben der Fall, die das Einnahmeverhalten, die Compliance, verbesserten. Insbesondere sei die Angabe „Ohne Alkohol (Ethanol)“ geboten, weil sie die aus der Sicht eines durchschnittlich informierten, verständigen Patienten verwirrende Pflichtangabe zum Extraktionsmittel „Ethanol“ klarstelle. Der Unsicherheit könne auch nicht durch die Abgabe in der Apotheke hinreichend begegnet werden. Der Entwarnungspflicht könne der pharmazeutische Unternehmer nur dadurch nachkommen, dass er auf der Faltschachtel einen kurzen und prägnanten Hinweis anbringe, wie es „ohne Alkohol“ sei. Dies werde vom Verbraucher dahingehend verstanden, dass der etwa noch vorhandene Alkohol keinen nennenswerten Effekt entfalte, und sei daher auch inhaltlich zutreffend. Die Excipients-Guideline schreibe nur Warnungen vor und enthalte daher keine abschließende Regelung im Hinblick auf Entwarnungshinweise. Auch der Hinweis „ohne Zuckerzusatz“ sei zulässig. Die Angabe enthalte eine für alle Verbrauchergruppen, insbesondere aber für Diabetiker, wichtige und verständliche Mitteilung und verbessere das Einnahmeverhalten.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Es handele sich auch nicht um unzulässige werbliche Aussagen. Das Merkmal des werbewirksamen Effekts dürfe nicht in die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes zur Zulässigkeit von weiteren Angaben hineingelesen werden, weil dies vorliegend keine Grundlage in Art. 62 der Richtlinie 2001/83/EG finde. Bei Hustensaft bestehe auch die Besonderheit, dass wegen der Produktkategorie sowie der sirupartigen Konsistenz das Vorhandensein von Zucker angenommen werde, sodass eine Entwarnung erforderlich sei. Es sei ein Anliegen des öffentlichen Gesundheitsschutzes, auf Produkte ohne zahnschädigenden Zucker hinzuweisen, wenn zahlreiche zuckerhaltige Produkte auf dem Markt seien. Schließlich sei die zurückhaltende Präsentation des Arzneimittels von der Beklagten im Rahmen der Ermessensentscheidung überhaupt nicht berücksichtigt worden. Der Hinweis auf die Alkohol- und Zuckerfreiheit befinde sich auf der Rückseite der Verpackung unter den Einnahmehinweisen und sei damit für den Patienten auch bei der Platzierung im Sichtwahlbereich der Apotheken nicht erkennbar.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Auflagen F1., F3. und F4. im Verlängerungsbescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 3. Juni 2015 für das Fertigarzneimittel „Aspecton Hustensaft“ in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2015 aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Die Auflagenbefugnis ergebe sich aus § 28 Abs. 2 AMG. Die Feststellung einer konkreten Gefährdung sei bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 und Abs. 2 AMG nicht erforderlich. Der Umstand, dass die beanstandeten Hinweise zuvor genehmigt worden seien, sei nicht bedeutsam. Die Verlängerung nach § 31 AMG diene auch der Kontrolle der Zulassungsentscheidung, soweit es nicht um die Beurteilung der Wirksamkeit gehe.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Texte seien unzulässig. Der Gesetzgeber habe sich dafür entschieden, das Vorhandensein von potentiell gesundheitsschädlichen Zusatzstoffen in Fertigarzneimitteln, also auch von Alkohol und Zucker, ausschließlich positiv zu normieren. Falls derartige Stoffe in einer gesundheitsrelevanten Menge beigefügt seien, müsse nach § 10 Abs. 2 AMG, § 11 Abs. 2 AMG ein Warnhinweis aufgenommen werden. Die Arzneimittelwarnhinweisverordnung sowie die europäische Excipients-Guideline bestimmten abschließend, für welche Art und Menge von Stoffen ein Warnhinweis verpflichtend sei.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Hinweis auf das Fehlen von Alkohol auf Etikett und Faltschachtel sei nicht als „weitere Angabe“ zulässig, weil die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG nicht erfüllt seien. Er sei schon unrichtig, weil das Arzneimittel Alkohol in sehr geringer Menge enthalte. Ein Stoff, der in einer nicht gesundheitsgefährdenden Menge enthalten sei, könne auch nicht für die Anwendung eines Arzneimittels von Bedeutung sein. Eine „Risikokommunikation“ müsse daher nicht stattfinden. Die Verbesserung der Compliance könne durch solche Hinweise nicht erreicht werden. Eine Angabe, die auf das Fehlen eines bestimmten Stoffes hinweise, sei zudem grundsätzlich werblich. Diese Auffassung werde auf europäischer Ebene geteilt, etwa im Hinblick auf „Gluten“. Der Hinweis befinde sich zwar auf der Rückseite der Faltschachtel, sei aber durch Schrift und Form deutlich von dem übrigen Text abgehoben und habe damit auch durch die Gestaltung einen werbenden Charakter. Im vorliegenden Fall bestehe zwar die Besonderheit, dass für die Herstellung des Wirkstoffs Ethanol als Auszugsmittel verwendet werde und daher auch auf der äußeren Umhüllung genannt werden müsse, und zwar ungeachtet der im Endprodukt noch enthaltenen Restmengen von Ethanol. Die hierdurch möglicherweise entstehenden Fragen würden seitens der Klägerin jedoch in einer völlig unrealistischen und überzogenen Weise dargestellt. Auch die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ auf dem Etikett sei nicht als „weitere Angabe“ zulässig. Da Zucker nicht in einer warnhinweispflichtigen Menge enthalten sei, sei der Hinweis nicht für die gesundheitliche Aufklärung der Verbraucher wichtig. Die Regelungen zur Kennzeichnung von diätetischen Lebensmitteln seien aufgehoben worden. Lediglich der Zusatz „zuckerfrei“ werde in den europäischen Arbeitsgruppen zur Formulierung der Informationstexte bei zentral zugelassenen Arzneimitteln diskutiert und im Einzelfall als zulässig erachtet. Die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ sei ebenfalls als werbliche Aussage einzuordnen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Aus denselben Gründen sei auch der Hinweis auf das Fehlen von Alkohol in der Packungsbeilage sowie der Fachinformation unzulässig. Er sei nicht zutreffend. Da der Alkoholgehalt unterhalb der Schwelle für einen Warnhinweis liege, gebe es auch keine Rechtsgrundlage für diese Angabe. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 d AMG dürften unter Ziffer 6 der Gebrauchsinformation nur im Arzneimittel aufzulistende Bestandteile genannt werden. Eine Negativangabe sei nicht vorgesehen. Im Feld „Weitere Hinweise“ sei nur die Aussage zulässig, wonach Alkohol im Arzneimittel nur noch in einer sehr geringen Menge vorhanden sei. Auch in der Fachinformation könne das Fehlen von Alkohol keinesfalls unter Ziffer 6.1 „Liste der sonstigen Bestandteile“ aufgeführt werden, da die Menge des noch enthaltenen Alkohols nicht als sonstiger Bestandteil zu nennen sei.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 27. November 2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte sei gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 in Verbindung mit § 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG berechtigt gewesen, der Klägerin durch die Auflage F1. die Streichung des Hinweises „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett des Behältnisses aufzugeben, weil dieser nicht nach § 10 AMG zulässig sei. Zulässig seien weitere Angaben nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG, wenn sie einen Bezug zur Anwendung des konkreten Arzneimittels und damit in erster Linie gebrauchssichernde Funktion hätten. Fehlende Bestandteile, wie z.B. Alkohol oder Zucker, hätten keine Auswirkung auf die Gesundheit des Patienten und entsprechende Hinweise seien daher für die Anwendung des Arzneimittels nicht relevant. Darüber hinaus ergebe sich aus der Zweckbestimmung der verschiedenen Informationstexte und der Konzeption der gesetzlichen Regelungen in §§ 10 ff. AMG, die in Übereinstimmung mit den Art. 54 ff. Richtlinie 2001/83/EG auszulegen seien, eine abschließende Regelung zur Angabe der sonstigen Bestandteile eines Arzneimittels auf der äußeren Umhüllung oder dem Etikett. Die Angabe „ohne Alkohol“ sei zudem irreführend, weil das Endprodukt geringe Restmengen Ethanol aus der Arzneimittelherstellung enthalte. Auch die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ sei mit § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG nicht vereinbar. Zwar bestehe im Hinblick auf die Zahngesundheit sowie für Diabetiker ein anerkennenswertes Informationsinteresse von Patienten. Der Hinweis auf den fehlenden Zuckerzusatz könne jedoch in der Packungsbeilage gegeben werden. Wegen der fehlenden Vereinbarkeit mit § 10 AMG habe das BfArM nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG die Streichung anordnen dürfen. Einer zusätzlichen konkreten Gefahr für die Arzneimittelsicherheit bedürfe es bei der Anwendung der Auflagenermächtigung nicht. Auch die Ermessensentscheidung sei rechtlich nicht zu beanstanden, die Auflage F1. sei nicht unverhältnismäßig.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Auflagen F3. und F4. seien ebenfalls rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Regelungen sei § 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 i. V .m. § 28 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 2a AMG. Die Klägerin verwende auch in der Packungsbeilage und der Fachinformation die pharmazeutisch unzutreffende und irreführende Formulierung „ohne Alkohol“. Der Begriff „ohne Alkohol“ könne in der Packungsbeilage nur dann synonym mit einer irrelevanten Restmenge benutzt werden, wenn insofern eine einheitliche Definition durch die hierfür zuständige Europäische Kommission im Rahmen der Excipients-Guideline vorliegen würde. Dies sei jedoch bislang nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Dagegen hat die Klägerin die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt und ergänzt sie ihr erstinstanzliches Vorbringen und führt im Wesentlichen aus: Die ursprünglich genehmigten Angaben klärten über unverständliche Pflichttexte und irrige Verbrauchererwartungen, auch aufgrund der Produktkategorie, auf, es seien beträchtliche Mengen Alkohol und Zucker im Produkt enthalten. Die Pflichtangabe „Ethanol 90 % (V/V)“ auf der Umverpackung werde vom Verbraucher teilweise mit Alkohol in Verbindung gebracht, was auch durch den kräftigen Kräutergeschmack unterstützt werde. Die sirupartige Konsistenz des Hustensaftes suggeriere einen hohen Zuckergehalt. Die Angabe „ohne Alkohol (ohne Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ habe einen gebrauchssichernden Bezug zur Anwendung des konkreten Arzneimittels durch den Kranken, weil damit ungewöhnlichem Einnahmeverhalten (z.B. Einnahme von zu geringen Mengen oder Nichteinnahme zur Nacht) vorgebeugt werde. Das Informationsbedürfnis erkenne auch das Verwaltungsgericht an. Die Vermittlung der sachlichen und inhaltlich zutreffenden Informationen sei auch keine Werbung. Die Information „ohne Alkohol“ sei aus Sicht eines Patienten zutreffend, der daraufhin davon ausgehe, dass das Produkt keinen negativen gesundheitlichen Effekt auf ihn haben könne und auch für Patienten geeignet sei, die Alkohol vermeiden müssten. Dass einige Moleküle Alkohol im Produkt enthalten sein möchten, im Übrigen weniger als in vielen Lebensmitteln, sei für ihn vollkommen irrelevant. Die hier gewählte Art und Weise der Risikokommunikation über Entwarnungen sei marktüblich und funktioniere, d. h. sie werde vom Verbraucher verstanden, und besonders für vulnerable Patientengruppen von Bedeutung.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, Entwarnungshinweise seien grundsätzlich nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG nicht zulässig, sei vom Wortlaut sowie vom Sinn und Zweck der Vorschrift nicht gedeckt. Hier werde offenbar ein zusätzliches Kriterium der Notwendigkeit in die Vorschrift hineingelesen. Art. 62 der Richtlinie 2001/83/EG in seiner nationalen Umsetzung sei keine Ausnahmevorschrift zu Pflichtangaben, sondern eine selbständige Regelung zur Zulässigkeit freiwilliger zusätzlicher Angaben. Aus der englischen und französischen Fassung ergebe sich der Sinn und Zweck der Vorschrift, ergänzende freiwillige Angaben zu erlauben, die für den Patienten nützlich seien („useful“, „utiles“). Eine einengende Auslegung der Bestimmung sei auch nach Art. 60 der Richtlinie 2001/83/EG nicht zulässig. Die Angaben „ohne Alkohol“ und „ohne Zuckerzusatz“ wiesen darauf hin, dass das Produkt keine relevanten, wahrnehmbaren Mengen an Alkohol enthalte und ihm kein Zucker zugesetzt worden sei, was für Patienten, Eltern und Fachkreise eine nützliche Information sei. Die kurze Botschaft sei auf das Wesentliche begrenzt, daher auch keine Werbung, und habe sich bewährt.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Mit dem Hinweis „ohne Alkohol“ werde die auch in der aktuellen Excipients-Guideline vorgesehene Information transportiert, dass die geringe Alkoholmenge im Arzneimittel keine wahrnehmbaren Auswirkungen habe. Im Übrigen konkretisiere die Guideline lediglich Pflichtangaben (Mindestangaben) zu Arzneiträgerstoffen - soweit diese gezielt und funktionsmäßig im Endprodukt eingesetzt und nicht nur als Extraktionsmittel verwendet und verdampft würden - und enthalte keine abschließende, bindende Konkretisierung zu freiwilligen zusätzlichen Angaben nach Art. 62 der Richtlinie 2001/83/EG. Sogar im Hinblick auf Pflichtangaben zu Ethanol als Auszugsmittel stehe sie nur gleichberechtigt neben anderen Guidelines (z.B. zur Herbal Declaration Guideline). Umgekehrt lasse sich aus den Vorgaben der Guideline zu Gluten, Kalium und Natrium ableiten, dass Informationen über das Fehlen von Stoffen (Entwarnungen), auch und gerade wenn unbedenkliche Molekülmengen noch im Produkt enthalten seien, wichtig sein könnten. Es liege auch keine Irreführung vor, da die verbleibenden Moleküle für den Patienten irrelevant seien.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Ferner dürften die gleichlautenden Tatbestandsmerkmale in § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG (Umverpackung) und § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG (Packungsbeilage) nicht unterschiedlich ausgelegt werden. Wegen des Pflichthinweises zu Ethanol auf der Umverpackung müsse auch die Information über den fehlenden Alkoholgehalt dort erfolgen dürfen. Für den befürchteten „Dammbruch“ sei nichts erkennbar, zumal es um Besonderheiten von Phytopharmaka gehe, nicht aber um Angaben wie halal und koscher oder Biosiegel. Schließlich sei § 28 AMG bei reinen Zweckmäßigkeitserwägungen unanwendbar und die Auflage unverhältnismäßig.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und die Auflagen F1., F3. und F4. im Verlängerungsbescheid des BfArM vom 3. Juni 2015 für das Fertigarzneimittel „Aspecton Hustensaft“ in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2015 aufzuheben,</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">hilfsweise,</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Beweis zu erheben über die Frage, dass nach dem jeweils bestehenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ mit der Anwendung des streitgegenständlichen Produkts im Zusammenhang stehen und für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und insbesondere keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information vermitteln.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung verweist sie auf das erstinstanzliche Verfahren, das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 28. September 2021 - 7 K 5222/18 - zu Gluten und trägt ergänzend vor: Seit der Urteilsverkündung habe das BfArM eine nennenswerte Anzahl von pharmazeutischen Unternehmen abschließend davon überzeugen können, ihre vergleichbaren „frei von“-Kennzeichnungen auf äußeren Umhüllungen ihrer Arzneimittel auch durchaus bekannter Marken zu entfernen. Bei Zulassungs- und Verlängerungsanträgen oder Änderungsanzeigen würden entsprechende Beanstandungen ausgesprochen. Damit werde dem Gleichheitssatz genügt. Für die Verständlichkeit von Wirkstoffangaben sei es nicht erforderlich, dass Verbraucher diese im Einzelnen zutreffend einordnen könnten. Das streitgegenständliche Arzneimittel sei nicht zuckerfrei; dass kein Zucker zugesetzt werde, sei für den Ist-Zustand des Arzneimittels irrelevant. Ein Informationsbedürfnis bestimmter Adressaten werde nicht bestritten. Der Klägerin gehe es aber um die Platzierung der Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung bzw. dem Etikett. Mit anderen Worten und damit in einer sowohl verständlichen als auch zutreffenden Art und Weise seien diese Informationen an anderer Stelle der informativen Texte möglich. Die Guidelines seien als Auslegungshilfe beachtlich. Es streite für die Auffassung der Beklagten, dass für die Angaben „ohne Alkohol“ und “ohne Zuckerzusatz“ keine Regelungen seitens der Gremien getroffen worden seien. Das Verwaltungsgericht Köln habe in der Gluten-Entscheidung bekräftigt, dass § 10 Abs. 1 Satz 5 und § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG als Ausnahmebestimmung eng zu interpretieren seien und die weiteren Angaben einen besonderen Bezug zur genehmigten Anwendung des Arzneimittels, insbesondere zum Anwendungsgebiet und den Modalitäten der Einnahme des Präparats, haben müssten.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">A. Die Klage ist gemäß § 42 Abs. 1 VwGO als Anfechtungsklage gegen die dem Verlängerungsbescheid des BfArM beigefügten Auflagen statthaft,</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">vgl. nur BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2010 - 3 C 25.09 -, A&R 2010, 186 = juris Rn. 12, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">und auch im Übrigen zulässig.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">B. Die Klage ist aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Auflagen F1., F3. und F4. im Verlängerungsbescheid des BfArM vom 3. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2015 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">I. Rechtsgrundlage für die Auflagen ist § 28 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 2a AMG.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">1. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 AMG kann die zuständige Bundesoberbehörde die Zulassung mit Auflagen verbinden. Auflagen können angeordnet werden, um sicherzustellen, dass die Kennzeichnung der Behältnisse und äußeren Umhüllungen den Vorschriften des § 10 AMG (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG), die Packungsbeilage den Vorschriften des § 11 AMG (§ 28 Abs. 2 Nr. 2 AMG) und die Fachinformation den Vorschriften des § 11a AMG entspricht (§ 28 Abs. 2 Nr. 2a AMG).</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen in § 28 Abs. 2 Nr. 1 bis 2a AMG erfassen nicht nur die Pflichtangaben, sondern ermöglichen Auflagen auch bezüglich der weiteren Angaben, die - wenn der pharmazeutische Unternehmer hiervon Gebrauch macht - den Zulässigkeitsvoraussetzungen in § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG, § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG, § 11a Abs. 1 Satz 6 AMG entsprechen müssen.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. November 2013 ‑ 13 A 2895/11 -, MedR 2015, 203 = juris Rn. 47.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Auflagenbefugnis gilt ferner nicht nur bei erstmaliger Zulassung, sondern auch für die - hier erfolgte - Verlängerung der Zulassung nach § 31 Abs. 3 AMG.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, NWVBl. 2020, 460 = juris Rn. 25 ff.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">2. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, steht der Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 2a AMG als Rechtsgrundlage für die Auflagen F1., F3. und F4. nicht entgegen, dass das BfArM die beanstandeten Angaben, die teilweise auf eine vergleichsweise Einigung im Klageverfahren VG Köln 7 K 705/05 zurückgehen, ursprünglich mit der Zulassung vom 22. Januar 2008 akzeptiert hat. Einer Ermächtigung zu einem Teilwiderruf oder einer Teilrücknahme eines Verwaltungsakts bedarf es insoweit entgegen der Auffassung der Klägerin nicht.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Im Verfahren der Verlängerung der Zulassung ist zu prüfen, ob die gesetzlichen Vorgaben der §§ 10, 11 und 11a AMG eingehalten werden. Das Arzneimittelgesetz hat dies allerdings nicht als Versagungsgrund für die Zulassungsverlängerung eines Arzneimittels ausgestaltet, sondern hierfür das mildere Mittel der Auflagenbefugnis vorgesehen.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 26.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Eine Änderung der Sach- oder Rechtslage ist dementsprechend keine Voraussetzung für den Erlass einer solchen Auflage. Mit der Zulassung eines Arzneimittels wird insoweit kein Vertrauenstatbestand geschaffen. Dies zeigt auch die nicht durch weitere Voraussetzungen eingeschränkte Befugnis nach § 28 Abs. 1 Satz 4 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 bis 2a AMG, jederzeit nach der Erteilung einer arzneimittelrechtlichen Zulassung Auflagen anordnen zu können, also auch nachträgliche Auflagen im Hinblick auf die Kennzeichnung und die Informationstexte, wenn diese nicht mit den Vorschriften der §§ 10 bis 11a AMG übereinstimmen.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">3. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Auflagen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier bei Erlass des Widerspruchsbescheids.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Dies entspricht allgemeinen Grundsätzen bei Anfechtungsklagen, wenn sich aus dem maßgebenden materiellen Recht - wie hier - für die Zeitpunktfrage nichts anderes ergibt. Damit ist im vorliegenden Verfahren zu klären, ob bei Erlass des Widerspruchsbescheids die beanstandeten Hinweise unzulässig und die Auflagen rechtmäßig waren. Dies bedeutet zugleich, dass die Beklagte die Auflagen nicht von sich aus unter Kontrolle halten und fortdauernd überprüfen muss.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 17. September 2021 - 3 C 20.20 -, juris Rn. 13 (für einen Feststellungsbescheid nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG).</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">II. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung von Auflagen nach § 28 Abs. 2 AMG sind sowohl hinsichtlich der Auflage F1. (dazu 1.) als auch der Auflagen F3. und F4. (dazu 2.) gegeben.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">1. Die Auflage F1., wonach die Angaben „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett zu streichen sind, stellt im Sinne von § 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG sicher, dass die Kennzeichnung der Behältnisse und äußeren Umhüllungen den Vorschriften des § 10 AMG entspricht. Die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ ist ebenso gemäß § 10 AMG unzulässig (dazu a.) wie die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ (dazu b.).</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">a. Die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett entspricht nicht den Vorgaben des § 10 AMG.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Sie ist - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - keine arzneimittelrechtliche Pflichtangabe im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 8 oder § 10 Abs. 2 AMG. Warnhinweise im Sinne der letztgenannten Vorschrift forderte die bei Erlass des Widerspruchsbescheids geltende Arzneimittelwarnhinweisverordnung (vom 21. Dezember 1984 in der vom 29. September 1990 bis zum 31. Mai 2022 geltenden Fassung) erst ab 0,05 g Ethanol in der maximalen Einzelgabe nach der Dosierungsanleitung (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a, § 2 Abs. 1 Nr. 1). Hier beträgt der Gehalt aber lediglich 1,32 mg in der maximalen Einzeldosis von 10 ml Hustensaft, also rund 0,001 g. Zudem geht es nicht um einen Hinweis auf Ethanol, sondern auf das Fehlen des Stoffes.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ auch nicht als weitere Angabe nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG zulässig.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG sind weitere Angaben, die - wie hier - nicht durch eine Verordnung der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union vorgeschrieben oder bereits nach einer solchen Verordnung zulässig sind, zulässig, soweit sie mit der Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang stehen, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und den Angaben nach § 11a AMG nicht widersprechen.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 26; Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, 131. Lief. 2016, § 10 Anm. 74.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Wegen des Zusammenhangs mit der Anwendung des Arzneimittels sind nur solche Informationen wichtig für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten, die eine gebrauchssichernde Funktion haben.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. August 2013 ‑ 13 A 2862/12 -, juris Rn. 5; Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, Arzneimittelgesetz, 3. Auflage 2022, § 10 Rn. 48; Zimmermann, in: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Auflage 2020, § 28 Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Mit der restriktiven Zulassung weiterer Angaben soll verhindert werden, dass die Patienten von den Pflichtinformationen abgelenkt werden, mit denen die ordnungsgemäße Anwendung des Arzneimittels erreicht werden soll.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 13, sowie Vorlagebeschluss vom 8. November 2018 - 3 C 2.17 -, juris Rn. 22; OVG NRW, Beschlüsse vom 26. Oktober 2015 - 13 A 2598/14 -, A&R 2015, 277 = juris Rn. 17, und vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 37; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2012 - I ZR 161/11 -, PharmR 2013, 491 = juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Kennzeichnung des Behältnisses und der äußeren Umhüllung bestimmt die Identität des Arzneimittels nach seiner stofflichen Zusammensetzung und Herkunft. Zu Deklarationsangaben zur stofflichen Zusammensetzung treten Angaben hinzu, die grundlegende Informationen für die Anwendung des Arzneimittels liefern.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. Fuhrmann, in: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, a. a. O., § 8 Rn. 9; Kloesel/Cyran, a. a. O., § 10 Anm. 1.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Anforderungen an zulässige ergänzende Angaben sind daher streng.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. OLG München, Beschluss vom 9. April 2020 - 29 U 5126/19 -, PharmR 2020, 406 = juris Rn. 3; OLG Frankfurt, Urteil vom 24. Mai 2018 - 6 U 46/17 -, A&R 2018, 185 = juris Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Für die gesundheitliche Aufklärung wichtig im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG sind allerdings nicht nur Informationen, die unverzichtbar sind. Denn Informationen, die für eine sichere Anwendung des Arzneimittels erforderlich sind, gehören bereits zu den Pflichtangaben. Ausreichend ist vielmehr, dass die Angaben zur sachgerechten Anwendung des Arzneimittels förderlich sind und ihnen damit eine gebrauchssichernde Funktion zukommt. Dies wird umso eher anzunehmen sein, je dichter der Zusammenhang der freiwilligen Angabe zu den gesetzlich angeordneten Pflichtinformationen ist. Grundsätzlich zulässig sind daher Erläuterungen zu den Wirkungszusammenhängen sowie Anwendungshinweise zur Herbeiführung des gewünschten Behandlungserfolgs.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 8. November 2018 - 3 C 2.17 -, juris Rn. 22 f.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Bei der Bestimmung der Anforderungen an die Zulässigkeit weiterer Angaben ist Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG zu berücksichtigen. § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG dient der Umsetzung dieser Bestimmung und ist deshalb richtlinienkonform auszulegen.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. August 2013 - 13 A 2862/12 -, PharmR 2013, 463 = juris Rn. 5, und vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 13, 20.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Nach Art. 60 Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 (ABl. L 311 vom 28. November 2001, S. 67) dürfen die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von Arzneimitteln in ihrem Hoheitsgebiet nicht aus Gründen, die mit der Etikettierung oder der Packungsbeilage zusammenhängen, untersagen oder verhindern, sofern diese mit den Vorschriften dieses Titels übereinstimmen. Nach Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Richtlinie 2004/27/EG vom 31. März 2004 (ABl. L 136 vom 30. April 2004, S. 34) können die äußere Umhüllung und die Packungsbeilage zur Veranschaulichung einiger der in den Artikeln 54 und 59 Absatz 1 genannten Informationen Zeichen oder Piktogramme sowie weitere mit der Zusammenfassung der Merkmale des Erzeugnisses zu vereinbarende Informationen enthalten, die für den Patienten wichtig sind; nicht zulässig sind Angaben, die Werbecharakter haben können.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die letztgenannte Vorschrift verlangt keine unionsrechtskonforme Auslegung des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG dahingehend, dass aus Gründen des Unionsrechts weniger strenge Anforderungen an weitere Hinweise bei der Kennzeichnung von Arzneimitteln als die vorstehend beschriebenen zu stellen sind.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Offen gelassen von OVG NRW, Beschluss vom 5. August 2013 - 13 A 2862/12, a. a. O., juris Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Wichtig für den Patienten im Sinne von Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG sind nur solche Informationen, die einen Bezug zur Anwendung des konkreten Arzneimittels durch den Kranken und damit in erster Linie eine gebrauchssichernde Funktion haben. Dass die Informationen auch unionsrechtlich der gesundheitlichen Aufklärung in Bezug auf die Anwendung des konkreten Arzneimittels dienen müssen, folgt schon aus der Verwendung des Worts „Patienten“ statt des Begriffs „Verbraucher“. Ferner ergibt sich dieses Verständnis aus Sinn und Zweck der Kennzeichnungsbestimmungen, im Interesse der Gesundheitsvorsorge und Arzneimittelsicherheit die Patienten zu unterrichten, damit sie das Arzneimittel auf der Grundlage vollständiger und verständlicher Informationen ordnungsgemäß anwenden können.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. August 2013 - 13 A 2862/12 -, a. a. O., juris Rn. 5 ff., und vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 21; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2012 - I ZR 161/11 -, a. a. O., juris Rn. 10; Kloesel/Cyran, a. a. O., § 10 AMG Anm. 1; Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, a. a. O., § 10 Rn. 3 und 47 ff.; kritisch Rehmann, Arzneimittelgesetz, 5. Auflage 2020, § 10 Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Diese Zielrichtung lässt sich auch aus den Erwägungsgründen der Richtlinie 2001/83/EG in ihrer ursprünglichen Fassung ableiten, deren Erwägungsgrund 2 zunächst den allgemeinen Gesetzeszweck des wirksamen Schutzes der öffentlichen Gesundheit betont. Nach Erwägungsgrund 40 müssen die Bestimmungen über die Unterrichtung der Patienten ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleisten, so dass die Arzneimittel auf der Grundlage vollständiger und verständlicher Informationen ordnungsgemäß angewandt werden können.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der ursprüngliche Wortlaut des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG, wonach die Angaben „für die gesundheitliche Aufklärung wichtig“ sein mussten, durch die Richtlinie 2004/27/EG in „für den Patienten wichtig“ geändert worden ist. Dass damit eine sachliche Änderung, insbesondere eine weitergehende Zulassung von freiwilligen Angaben gewollt war, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Für den Patienten ist das wichtig, was seiner gesundheitlichen Aufklärung in Bezug auf die Anwendung des konkreten Arzneimittels dient. Aus den Erwägungsgründen und sonstigen Materialien ergibt sich ebenfalls nichts dafür, dass eine gebrauchssichernde Funktion nicht mehr verlangt oder anderweitig die Anforderungen an weitere Angaben gelockert werden sollten. Dem Erwägungsgrund 16 des Kommissionsentwurfs zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG (KOM(2001) 404 endg., ABl. C 75 E vom 26. März 2002, S. 216) lässt sich zwar das Anliegen der EU-Kommission entnehmen, den Informationsbedürfnissen und Erwartungen von Patienten nachzukommen, zugleich wird aber auch hier der Zusammenhang mit der ordnungsgemäßen Verwendung des Arzneimittels betont und ist von strengen Bedingungen die Rede. In den verabschiedeten Erwägungsgründen der Richtlinie 2004/27/EG heißt es zudem lediglich, im Zusammenhang mit der ordnungsgemäßen Verwendung des Arzneimittels sollten die Rechtsvorschriften über die Verpackung auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen angepasst werden (Erwägungsgrund 21). Daraus lässt sich insgesamt nicht ableiten, dass in Bezug auf weitere Angaben nun großzügigere Maßstäbe gelten sollten, zumal mit der Richtlinie 2004/27/EG umfangreiche Änderungen der Art. 54 ff. Richtlinie 2001/83/EG verabschiedet worden sind.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Von einer inhaltlichen Änderung ist auch der nationale Gesetzgeber offenbar nicht ausgegangen, der die Änderung des Art. 62 durch die Richtlinie 2004/27/EG in § 10 Abs. 1 AMG dahingehend in nationales Recht umgesetzt hat, dass aus der Formulierung „für die gesundheitliche Aufklärung wichtig“ im damaligen § 10 Abs. 1 Satz 3 AMG „für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig“ im neuen § 10 Abs. 1 Satz 4 AMG wurde.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">§ 10 AMG in der ab dem 6. September 2005 gültigen Fassung des 14. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 29. August 2005; dazu BT-Drs. 15/5316, S. 7, 31 und 34; vgl. auch Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, a. a. O., § 10 Rn. 47.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die vorstehenden Ausführungen zum Verständnis des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG zugrunde gelegt, lässt sich schließlich entgegen der Auffassung der Klägerin ein gegenüber § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG weiteres Verständnis der Richtlinienvorgabe auch nicht daraus entnehmen, dass andere Sprachfassungen des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG, etwa die englische und französische, formulieren, dass die Informationen für den Patienten „nützlich“ („useful“, „utiles“) sein müssen.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Den so verstandenen Anforderungen an weitere Angaben genügt die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ auf der Faltschachtel und dem Etikett des Hustensaftes nicht.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Diese Information ist schon deshalb für den Patienten weder wichtig noch nützlich, weil sie nicht zutrifft. Denn es ist unstreitig noch eine geringe Menge Alkohol (Ethanol) im Endprodukt enthalten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht haben die Beteiligten sich anhand einer Berechnung des BfArM darauf verständigt, dass beim Hustensaft maximal 1,32 mg Ethanol in einer Einzeldosis von 10 ml enthalten ist. Ob dies, wie die Klägerin im Berufungsverfahren betont, nur wenige Moleküle sind, kann dahinstehen. Dass die Menge gering ist und - wovon die Beteiligten übereinstimmend ausgehen - keine gesundheitlichen Auswirkungen hat, vermag nichts daran zu ändern, dass der Hinweis pharmazeutisch nicht korrekt ist.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus steht die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ nicht mit der Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang und hat keine Bedeutung für die Gesundheit des Patienten. Es fehlt die gebrauchssichernde Funktion.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">So auch Pannenbecker, in: Kügel/Müller/ Hofmann, a. a. O., § 10 Rn. 48.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Die Anwendung des Hustensaftes hängt nicht davon ab, dass ein bestimmter Stoff in ihm nicht bzw. nur in einer äußerst geringen, gesundheitlich unbedenklichen Menge enthalten ist. Ein nicht enthaltener Stoff hat naturgemäß auch keine Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten. Für Patienten und deren gesundheitliche Aufklärung wichtig wäre nur die Information, dass Alkohol/Ethanol in einer Menge enthalten ist, die gesundheitliche Auswirkungen haben bzw. etwa für Kinder oder Alkoholiker von Bedeutung sein kann. Gebrauchssichernd ist dementsprechend der in der Arzneimittelwarnhinweisverordnung - in der im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids geltenden Fassung mit Gültigkeit bis zum 31. Mai 2022 - auf der Grundlage von § 10 Abs. 2 AMG vorgesehene Warnhinweis auf Alkohol ab 0,05 g pro maximaler Einzeldosis. Demgegenüber betrifft es grundsätzlich nicht die korrekte Anwendung eines Arzneimittels oder die Aufklärung über bestehende Risiken, dass ein bestimmter Stoff darin nicht enthalten ist.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Anders als von der Klägerin angenommen, ist für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG auch nicht jeder Hinweis wichtig, der die Compliance erhöht, also den Fehlgebrauch oder einen Verzicht auf die notwendige Einnahme des Arzneimittels verhindert, und insoweit der gesundheitlichen Aufklärung dienlich ist.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">So aber auch Kloesel/Cyran, a. a. O., § 10 Anm. 74, § 11 Anm. 82.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die Angabe muss vielmehr, wie ausgeführt, mit der konkreten Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang stehen; für die Anwendung ist aber die Kenntnis über den fehlenden Alkoholgehalt nicht erforderlich. Ließe man jeden Hinweis zu, der das Einnahmeverhalten verbessern könnte, führte dies auch dazu, dass die Aufmerksamkeit des Patienten nicht hinreichend auf die Pflichtangaben gerichtet wäre. Ihnen kommt primär die Aufgabe zu, eine korrekte, der Dosierungsanleitung entsprechende Einnahme zu sichern.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Grund ist auch nicht ausreichend, dass es sich um eine nützliche Information handeln mag, die für den Anwender des Hustensaftes von Interesse ist. Ein Informationswunsch von Verbrauchern ist nicht gleichzusetzen mit dem Erfordernis, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten im Zusammenhang mit der Anwendung des Arzneimittels wichtig zu sein.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 36.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Der Hinweis „ohne Alkohol“ ist auch nicht aus dem von der Klägerin angeführten Grund für die gesundheitliche Aufklärung wichtig, dass Patienten bzw. Mütter von Patienten im Kindesalter durch den Pflichthinweis zu Ethanol auf der Verpackung verunsichert seien. Ob tatsächlich in einem beachtlichen Maße diese Verunsicherung bei einem bloßen Hinweis auf ein Extraktionsmittel besteht, zumal bei einem Arzneimittel, das für Kinder ab einem Jahr zugelassen ist, bedarf keiner Aufklärung. Es ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass die im von der Klägerin geschilderten Maße verunsicherten Personen durch den Hinweis „ohne Alkohol“ aufgeklärt und damit zur (korrekten, der Dosierungsanleitung entsprechenden) Einnahme veranlasst würden. Denn es bleibt für diesen durch den Pflichthinweis zu Ethanol verunsicherten Personenkreis unklar und widersprüchlich, warum einerseits Ethanol aufgeführt wird und andererseits kein Alkohol enthalten sein soll. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend angeführt hat, wird dies bestätigt durch die bei der Klägerin nach ihren Angaben eingegangenen Rückfragen aus einer Zeit, als das Arzneimittel mit den hier streitgegenständlichen „ohne“-Angaben im Verkehr war. Die Verunsicherung könnte zur Überzeugung des Senats allenfalls durch eine Erklärung der Art beseitigt werden, dass Ethanol ein Auszugsmittel im Herstellungsprozess ist, das Endprodukt aber nur noch eine geringe Restmenge enthält, die keine wahrnehmbaren oder jedenfalls keine gesundheitlichen Auswirkungen hat. Diese Aufklärung vermag der bloße Hinweis „ohne Alkohol“ nicht zu leisten. Die Kritik der Klägerin an der Pflichtangabe zu Ethanol als Auszugsmittel ist im Übrigen hier unbeachtlich, denn diese Angabe ist nicht streitgegenständlich.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Aus der von den Beteiligten angeführten Excipients-Guideline „Excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“ der EU-Kommission ergibt sich nichts zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des weiteren Hinweises „ohne Alkohol (Ethanol)“. Die auf Art. 65 Richtlinie 2001/83/EG gestützte Leitlinie in der bei Erlass des Widerspruchsbescheids geltenden, bis zum 1. März 2018 gültigen Fassung aus Juli 2003 (CPMP/463/00) nebst Annex,</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">abrufbar von: https://www.ema.europa.eu/en/annex-european-commission-guideline-excipients-labelling-package-leaflet-medicinal-products-human,</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">sieht lediglich Warnungen in Bezug auf bestimmte Stoffe, unter anderem auch Ethanol, vor. Sie war überdies in Deutschland insoweit schon deshalb nicht rechtsverbindlich, als sich die Verpflichtung zu Warnungen bei rein national zugelassenen Arzneimitteln bis zum 31. Mai 2022 aus der Arzneimittelwarnhinweisverordnung ergab. Zu „ohne..“- oder „frei von…“-Angaben verhält sich die Leitlinie nicht, die auch bei der Nennung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen in der Einleitung (Introduction, Seite 1) Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG nicht erwähnt. Nur wenn Stoffe wahrnehmbare Auswirkungen haben und im Annex gelistet sind, sind sie auf dem Etikett zu deklarieren (Seite 2 unten). Zudem findet die Guideline keine Anwendung auf Rückstände von Stoffen, die aus dem Herstellungsprozess resultieren oder als Extraktionsmittel verwendet werden (Seite 2 oben).</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Annex der Leitlinie bei anderen Stoffen (etwa Kalium oder Natrium) unterhalb bestimmter Schwellenwerte die Angabe vorsieht, das Arzneimittel sei „nahezu“ (Englisch: „essentially“) kaliumfrei/natriumfrei. Der Auffassung der Klägerin, das belege, dass bei nur geringen Molekülmengen an Ethanol ohne wahrnehmbare Auswirkungen „frei von…“-Informationen wichtig seien, folgt der Senat nicht. Denn eine Angabe wie bei Kalium oder Natrium ist für Ethanol gerade nicht vorgesehen. Darüber hinaus sind die für die Packungsbeilage vorgegebenen Hinweise mit der hier streitgegenständlichen „ohne…“-Angabe auf Verpackung und Etikett auch inhaltlich nicht vergleichbar. Denn ihnen voranzustellen ist laut Annex der Guideline jeweils die Aussage, das Arzneimittel enthalte Kalium/Natrium in einer Menge von weniger als … pro Dosiereinheit. Zudem macht es einen Unterschied, ob ein Arzneimittel als „nahezu“ frei von einem bestimmten Stoff bezeichnet oder die Formulierung „ohne“ verwendet wird.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Die Neufassung der Guideline „Excipients in the labelling and package leaflet of medicinal products for human use“ aus März 2022 (SANTE-2017-11668),</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">https://health.ec.europa.eu/system/files/2018-03/guidelines_excipients_march2018_en_0.pdf,</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">nebst Annex vom 22. November 2019, Revision 2 (Stand 22. Juli 2022, EMA/CHMP/302620/2017),</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/annex-european-commission-guideline-excipients-labelling-package-leaflet-medicinal-products-human_en-1.pdf,</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">ist zwar nach der Änderung der Arzneimittelwarnhinweisverordnung zum 1. Juni 2022 und der nachfolgend erlassenen Gemeinsamen Bekanntmachung des BfArM und des Paul-Ehrlich-Instituts über Warnhinweise zu Bestandteilen von Arzneimitteln vom 31. Mai 2022 verbindlich umzusetzen.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit zu einer Verordnung zur Aufhebung der Arzneimittel-Warnhinweisverordnung und zur Änderung der Apothekenbetriebsordnung vom 2. Juli 2021, S. 1, 5 und 7.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Die Excipients-Guideline in ihrer aktuellen Fassung ist aber nach Auffassung des Senats wegen des hier maßgeblichen Zeitpunkts der letzten Behördenentscheidung schon nicht berücksichtigungsfähig.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man aber mit der Klägerin der Auffassung wäre, sie könne herangezogen werden, weil es sich um Wissen handele, das auch bereits im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung vorgelegen habe,</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">vgl. in diese Richtung auch OVG NRW, Urteil vom 28. Oktober 2021 - 13 A 1376/17 -, PharmR 2022, 112 = juris Rn. 27,</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">führte dies zu keinem anderen Ergebnis. Zu freiwilligen Angaben im Sinne von Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG verhält auch sie sich nicht, sondern sieht, wie die Klägerin zu Recht betont, weiterhin lediglich (warnende) Pflichtangaben vor. Bei Ethanol ist im Annex im Bereich von 0 bis zu 15 mg/kg pro Dosis der Hinweis in der Packungsbeilage vorgegeben, welche Menge Ethanol pro Dosiereinheit enthalten ist. Anschließend ist dies in vergleichbaren Verzehrmengen (in ml) von Bier oder Wein anzugeben und schließlich der Satz anzufügen: „Die geringe Alkoholmenge in diesem Arzneimittel hat keine wahrnehmbaren Auswirkungen“. Für die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Hinweises „ohne Alkohol (Ethanol)“ lässt sich daraus nichts ableiten. Ferner gilt weiterhin, dass bei der Verwendung von Ethanol im Herstellungsprozess (z. B. bei der Beschichtung von Tabletten) oder als Extraktionsmittel, das verdampft wird, keine Notwendigkeit besteht, Ethanol in der Packungsbeilage zu erwähnen (S. 2 sowie Kommentar im Annex zu Ethanol).</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch die Besonderheitenliste des BfArM, Stand 1. Juni 2022, Zusatzinformationen.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Auch aus den Änderungen im Annex zu anderen Stoffen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die freiwillige Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ zulässig wäre. So ist für Gluten aus Weizenstärke nun die Angabe in der Packungsbeilage vorgesehen, das Arzneimittel enthalte nur sehr geringe Mengen Gluten und es gelte als „glutenfrei“. Daraus lässt sich nichts für die generelle Zulässigkeit von „ohne..“-Angaben, erst recht nicht für die Zulässigkeit des „ohne Alkohol (Ethanol)“-Hinweises auf der Faltschachtel und dem Etikett im Streitfall ableiten.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Auch die weiter im Verfahren von den Beteiligten angeführten Dokumente der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) rechtfertigen keine andere Betrachtung. Sie sind rechtlich unverbindlich und darüber hinaus für den vorliegenden Streitfall ganz überwiegend inhaltlich ohne Aussagekraft. Die Empfehlungen der Working Group on Quality Review of Documents (QRD) „Recommendations on pack design and labelling for centrally authorised non-prescription human medicinal products“ (vom 10. März 2011, EMA/275297/2010) beziehen sich auf zentral durch die EMA zugelassene Arzneimittel. Die Fragen und Antworten zu Gluten („Questions and answers on wheat starch containing gluten in the context of the revision of the guideline on Excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“, EMA/CHMP/704219/2013) betreffen schon einen nicht vergleichbaren Stoff, zu dem inzwischen auch die Excipients-Guideline die oben wiedergegebene Empfehlung enthält. Die Fragen und Antworten zu Ethanol („Questions and answers on Ethanol in the context of the revision of the guideline on Excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“ vom 23. Januar 2014, CPMP/463/00),</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/questions-answers-ethanol-context-revision-guideline-excipients-label-package-leaflet-medicinal_en.pdf,</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">enthalten Vorschläge für die Überarbeitung des Annexes der Excipients-Guideline, der aus den vorstehend angeführten Gründen für die hier streitige Frage unergiebig ist; zur Zulässigkeit von Hinweisen wie „ohne Alkohol (Ethanol)“ verhalten sie sich ebenfalls nicht. Entsprechendes gilt für das Dokument des CHMP zum wissenschaftlichen Hintergrund „Information for the package leaflet regarding ethanol used as an excipient in medicinal products for human use“ (vom 20. September 2018, EMA/CHMP/43486/2018),</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/information-package-leaflet-regarding-ethanol-used-excipient-medicinal-products-human-use_en.pdf.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Die Arbeitsgruppe QRD hat sich zwar in der Sitzung vom 2. März 2016 (EMA, Minutes of the eighty-seventh meeting of the „Working group on Quality Review of Documents“, EMA/189974/2016) dahingehend geäußert, dass Hinweise wie gluten-/alkohol-/zuckerfrei als Werbung eingestuft würden und von keinem zusätzlichen Wert seien. Diese Einschätzung ist allerdings nicht nur unverbindlich, sondern zudem durch die Überarbeitung der Excipients-Guideline überholt.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Ist die Angabe danach schon aus diesen Gründen gemäß § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG unzulässig, kommt es nicht darauf an, ob sie auch als Werbeaussage im Sinne von Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG - in richtlinienkonformer Anwendung des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG - unzulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">b. Auch die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ auf der Faltschachtel und dem Etikett ist arzneimittelrechtlich unzulässig.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Sie ist zwar - anders als der Hinweis „ohne Alkohol (Ethanol)“ - zutreffend, da dem Produkt im Herstellungsverfahren unstreitig kein Zucker zugesetzt wird. Der Senat geht auch nicht davon aus, dass die Angabe den falschen Eindruck vermittelt, der Hustensaft enthalte kaum oder keinen Zucker. Die Information ist aber schon deshalb nicht für den Patienten und dessen gesundheitliche Aufklärung wichtig, weil sie nichts über den tatsächlichen Zuckergehalt des Produkts und im Übrigen auch nichts über etwaige Zuckerersatzstoffe im Produkt aussagt. Der streitgegenständliche Hustensaft enthält jedenfalls natürlichen Zucker aufgrund des Wirkstoffs Thymian. Abgesehen davon enthält er auch das Süßungsmittel Sorbitol. Der Umstand, dass im Herstellungsverfahren kein Zucker zugesetzt wurde, ist auch für die Anwendung des Arzneimittels nicht von Bedeutung. Er hat keine gebrauchssichernde Funktion.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man davon ausgeht, der Zuckergehalt des Hustensaftes sei so gering, dass er keine negativen gesundheitlichen Effekte habe, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Auch hier gilt die obige Erwägung zum Hinweis „ohne Alkohol (Ethanol)“, dass ein nicht enthaltener Stoff auch keine Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten hat.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus dem von der Klägerin angeführten Gesichtspunkt der Zahngesundheit, der bei Hustensäften aufgrund der mit der Produktkategorie verbundenen Verbrauchererwartung eine Rolle spiele. Ob Patienten oder ihre Eltern bei Hustensäften aufgrund der Konsistenz und/oder des Geschmacks davon ausgehen, dass diese Zucker enthalten, kann dahinstehen. Es ist für die Frage der Zulässigkeit des Hinweises auf den fehlenden Zuckerzusatz nicht relevant. Die Angabe eines beachtlichen Zuckergehalts (und der daraus folgenden Konsequenzen für die Zahnpflege) stünde im Zusammenhang mit der Anwendung des Arzneimittels und diente der Aufklärung über dessen Risiken. Umgekehrt gilt dies hingegen nicht. Enthält ein Arzneimittel keinen zahnschädigenden Zucker, ist hinsichtlich der Zahnhygiene auch nichts zu beachten und der Patient über kein Risiko aufzuklären. Dass der Hinweis auf die Zuckerfreiheit die Compliance erhöhen mag, genügt ebenfalls aus den bereits zum Ethanol ausgeführten Gründen nicht den tatbestandlichen Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">c. Dem in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisantrag der Klägerin, „Beweis zu erheben über die Frage, dass nach dem jeweils bestehenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ mit der Anwendung des streitgegenständlichen Produkts im Zusammenhang stehen und für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und insbesondere keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information vermitteln“, musste der Senat nicht nachkommen.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Der Beweisantrag ist bereits wegen mangelnder Substantiierung unzulässig. Unsubstantiierten Beweisanträgen muss das Gericht nicht nachgehen. Die gebotene Substantiierung besteht in der Nennung eines bestimmten Beweismittels und in der Behauptung einer bestimmten Tatsache. Unsubstantiiert sind aber nicht nur Beweisanträge, die das Beweisthema nicht hinreichend konkretisieren, sondern auch Beweisanträge, die dazu dienen sollen, unsubstantiierte Behauptungen zu stützen, etwa solche, die erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage erhoben worden sind. Das Substantiierungsgebot verlangt, dass die Tatsache vom Antragsteller mit einem gewissen Maß an Bestimmtheit als wahr und mit dem angegebenen Beweismittel beweisbar behauptet wird. Finden sich im gesamten Prozessstoff keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die aufgestellte Behauptung und gibt der Antragsteller für eine von ihm angestellte Vermutung nicht die geringste tatsächliche Grundlage an, darf das Gericht den Schluss ziehen, die Behauptung sei „aus der Luft gegriffen“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden. In einem derartigen Fall geht es dem Antragsteller nur darum, ermitteln zu lassen, ob seine auf keine Anhaltspunkte gestützte Behauptung nicht vielleicht doch wahr ist.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. September 2012 - 5 B 30.12 -, juris Rn. 9, vom 2. November 2007 - 7 BN 3.07 -, juris Rn. 5, und vom 29. März 1996 - 11 B 21.95 -, juris Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Hier hat die Klägerin mit der Formulierung ihres Beweisantrags entgegen § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO in entsprechender Anwendung schon kein bestimmtes Beweismittel bezeichnet. Es ist auch nicht ohne weiteres erkennbar, mit welchem Beweismittel die von ihr mit dem Beweisantrag aufgestellte Behauptung verifiziert werden könnte. Zwar dürfte es der Klägerin um die Einholung eines Sachverständigengutachtens gehen und ist ferner die namentliche Benennung eines Sachverständigen nicht geboten. Auch spricht einiges dafür, dass hinsichtlich des mit „insbesondere“ eingeleiteten Teilaspekts der Beweisfrage die Einholung eines medizinischen und/oder pharmazeutischen Sachverständigengutachtens begehrt wird. Allerdings ist gänzlich unklar und von der Klägerin auch nicht weiter in der mündlichen Verhandlung thematisiert worden, welche weiteren Aspekte sie mit der umfassender formulierten Beweisfrage geklärt haben möchte und welche Einrichtungen, Institutionen oder Wissenschaftler welcher Fachrichtung insoweit über Erkenntnisse verfügen könnten.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Ferner handelt es sich bei der Tatsache, dass die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information (zu dem streitgegenständlichen Produkt) vermittelt, um eine unsubstantiierte, ohne tatsächliche Anhaltspunkte aufgestellte Behauptung. Denn die Beteiligten haben sich im erstinstanzlichen Verfahren darauf verständigt, dass in einer maximalen Einzeldosis von 10 ml Hustensaft 1,32 mg Ethanol enthalten sind, weshalb - wie oben ausgeführt - die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ pharmazeutisch unzutreffend ist. Die bloße Behauptung, es handle sich lediglich um wenige Moleküle an Ethanol, bietet keine tatsächliche Grundlage dafür, dass entgegen den erstinstanzlichen Erklärungen der Hustensaft kein Ethanol mehr enthält.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Was die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ angeht, ist die Beweistatsache als erwiesen und damit nicht mehr beweisbedürftig anzusehen, § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 StPO analog. Dass dieser Hinweis inhaltlich zutrifft und damit keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information vermittelt, steht nicht im Streit und hat der Senat auch angenommen.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Abgesehen davon ist der Beweisantrag deshalb abzulehnen, weil er hinsichtlich des Beweisthemas unzulässig ist. Er ist nicht auf die Ermittlung einer Tatsache, sondern auf die Beantwortung einer Rechtsfrage gerichtet, die einer Beweiserhebung nicht zugänglich, sondern durch das Gericht zu beantworten ist (vgl. § 244 Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO analog).</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1988 ‑ 2 BvR 1324/87 -, BayVBl. 1988, 268 = juris Rn. 14; OVG NRW, Beschluss vom 23. September 2009 - 13 A 987/09 -, juris Rn. 15; Julius, in: Gercke/ Julius/ Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Auflage 2019, § 244 Rn. 28 und 45.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Mit dem benannten Beweisthema, ob die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ mit der Anwendung des streitgegenständlichen Produkts im Zusammenhang stehen und für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind, werden exakt die in § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG genannten Tatbestandsvoraussetzungen wiedergegeben. Ob die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ diese im Streitfall erfüllen, ist nicht durch eine Beweiserhebung zu ermitteln, sondern durch das Gericht zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">2. Die Auflagen F3. und F4., wonach in den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation die Hinweise zum fehlenden Alkohol/Ethanol zu streichen sind, stellen sicher, dass die Packungsbeilage den Vorschriften des § 11 AMG (§ 28 Abs. 2 Nr. 2 AMG) und die Fachinformation den Vorschriften des § 11a AMG entspricht (§ 28 Abs. 2 Nr. 2a AMG).</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Dass die Auflage F3. in den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation die Streichung des Hinweises „…enthält keinen Alkohol“ fordert, der Wortlaut der eingereichten Texte aber „enthält keinen Alkohol (Ethanol)“ in der Gebrauchsinformation und „enthält kein Ethanol“ in der Fachinformation lautet, ist unerheblich. Dass die Beklagte die Streichung dieser Texte fordert, lässt sich dem Bescheid zweifelsfrei entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Die beanstandeten Hinweise, bei denen es sich nicht um Pflichtangaben handelt, sind unzulässig. Weitere Angaben in der Packungsbeilage (§ 11 Abs. 1 Satz 7 AMG) und der Fachinformation (§ 11a Abs. 1 Satz 6 AMG) sind - soweit sie nicht (wie hier) durch eine Verordnung der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union vorgeschrieben oder bereits nach einer solchen Verordnung zulässig sind - zulässig, soweit sie mit der Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang stehen, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und den Angaben nach § 11a AMG nicht widersprechen.</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Die tatbestandlichen Voraussetzungen entsprechen damit denen des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG. Zulässig sind nur gebrauchssichernde Informationen.</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Vgl. Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, a. a. O., § 11 Rn. 52, § 11a Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Bei der an die Patienten gerichteten Packungsbeilage ergibt sich dies auch daraus, dass ihr der Zweck zukommt, eine sachgerechte Anwendung des Arzneimittels zu gewährleisten. Sie soll dem Patienten alle Informationen geben, die für eine ordnungsgemäße Anwendung des Arzneimittels und die mit der Anwendung verbundenen Risiken von Bedeutung sind.</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kloesel/Cyran, a. a. O., § 11 Anm. 1 und 82; Fuhrmann, in: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, a. a. O., § 8 Rn. 9.</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">In ähnlicher Weise kommt der an das heilberuflich tätige Fachpublikum adressierten Fachinformation die Funktion zu, den Fachkreisen die für eine sichere Anwendung des Arzneimittels notwendigen wissenschaftlichen Informationen zu geben.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kloesel/Cyran, a. a. O., § 11a Anm. 2.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Die restriktive Zulassung weiterer Angaben soll auch bei der Gebrauchs- und Fachinformation verhindern, dass die Verwender von den Pflichtinformationen abgelenkt werden. Dies gilt nicht nur für die Packungsbeilage, sondern auch für die Fachinformation. Auch sie ist auf die Anwendung des Arzneimittels bezogen. Zulässig sind etwa solche Angaben, mit denen die Wirkungsweise des Arzneimittels nachvollzogen werden kann. Angaben, die keinen Zusammenhang mit dem therapeutischen Einsatz des Arzneimittels aufweisen, gehören hingegen nicht in die Fachinformation.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 ‑ 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 13 ff.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend sind die Hinweise in der Gebrauchs- und Fachinformation nicht nach § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG und § 11a Abs. 1 Satz 6 AMG als weitere Angaben zulässig. Es gelten die Ausführungen zu § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG entsprechend, auf die Bezug genommen wird (siehe Ziff. II.1.a).</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Bei der Fachinformation fällt zudem besonders ins Gewicht, dass der Hinweis, es sei kein Ethanol enthalten, pharmazeutisch unzutreffend ist. Denn für die entsprechend vorgebildeten Fachkreise ist die Information, es sei kein Ethanol enthalten, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten nicht hilfreich, wenn gleichzeitig erkennbar ist, dass Ethanol als Auszugsmittel verwendet wurde. Auch hier gilt, dass wichtig für die Anwendung des Arzneimittels nur die Angabe sein kann, dass die im Arzneimittel enthaltene Restmenge an Ethanol so gering ist, dass sie keine wahrnehmbaren und damit auch keine gesundheitlichen Auswirkungen hat.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Sollte der Hilfsbeweisantrag auch auf die beanstandeten Angaben in der Gebrauchs- und Fachinformation zielen, gelten die obigen Ausführungen hier entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">III. Die angefochtenen Auflagen sind auch frei von Ermessensfehlern. Nach § 28 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 2a AMG „kann“ das BfArM bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen Auflagen erteilen.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Ein Entschließungsermessen kommt der Behörde insoweit aber schon nicht zu. Ist die Auflage - wie hier - erforderlich, um die Übereinstimmung der Kennzeichnung, der Packungsbeilage und der Fachinformation mit den gesetzlichen Vorgaben sicherzustellen, besteht die Verpflichtung zur Anordnung einer Auflage.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 27 f., vorausgehend ausführlich dazu OVG NRW, Urteil vom 7. November 2018 - 13 A 3140/17 -, juris Rn. 64 ff.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Auf die Feststellung einer konkreten Gefährdung kommt es nicht an. Ebenso wenig bedarf es einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die etwa die wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahme für den pharmazeutischen Unternehmer in den Blick nimmt.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Es ist deshalb auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zu prüfen, ob das BfArM die Streichung vergleichbarer Hinweise auch gegenüber anderen pharmazeutischen Unternehmen angeordnet hat bzw. dies beabsichtigt. Ob auch eine Verpflichtung der Beklagten zur Anordnung nachträglicher Auflagen gem. § 28 Abs. 1 Satz 4 AMG in Altfällen besteht, die nicht aus Anlass eines Verlängerungsantrags oder im Rahmen einer Änderungsanzeige zur Prüfung stehen, ist daher ebenfalls unerheblich.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 30 f.</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Davon abgesehen hat die Beklagte im Berufungsverfahren mitgeteilt, dass sie in Zulassungs- oder Verlängerungsverfahren oder bei Änderungsanzeigen entsprechende „frei von“-Hinweise im Rahmen von Anhörungen oder Widerspruchsverfahren beanstande und dies von der pharmazeutischen Industrie ganz überwiegend akzeptiert werde. Für eine Ungleichbehandlung ist damit auch nichts ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Die Ausübung des Auswahlermessens ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Es ist nicht ersichtlich, wie den Verstößen gegen die Vorgaben der §§ 10, 11 und 11a AMG anders abgeholfen werden könnte als durch eine Streichung der Hinweise. Ermessensfehler sind auch nicht erkennbar, soweit nach der Auflage F3. der Hinweis in den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation durch den Hinweis „Das Ethanol des Auszugsmittels wurde weitestgehend entfernt.“ ersetzt werden kann. Die Klägerin wird zur Aufnahme dieses Hinweises nicht verpflichtet („kann“). Vielmehr ist er als bloßer Formulierungsvorschlag zu verstehen, der dem Anliegen der Klägerin Rechnung tragen soll, etwaigen Fehlvorstellungen von Patienten und Fachpersonal infolge der Pflichtangaben zum Ethanol entgegenzuwirken. Dies wird bestätigt durch die Ausführungen im Widerspruchsbescheid, wonach es sich um einen „Textvorschlag“ handele, der im Rahmen der weiteren Angaben unterhalb der Pflichtangaben „aufgeführt werden könnte“.</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist zuzulassen, da die Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO grundsätzliche Bedeutung hat. Die Zulässigkeit von „ohne Alkohol“- und „ohne Zuckerzusatz“-Hinweisen sowie vergleichbaren weiteren Angaben, dabei vorgelagert insbesondere die Frage nach dem Verständnis des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG und ggf. einer unionsrechtskonformen erweiternden Auslegung der §§ 10 Abs. 1 Satz 5, 11 Abs. 1 Satz 7, 11a Abs. 1 Satz 6 AMG, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht geklärt und voraussichtlich für eine Vielzahl von Fällen von Bedeutung.</p>
346,659
ovgnrw-2022-08-30-9-a-102722
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9 A 1027/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-22T10:01:42"
"2022-10-17T11:10:25"
Urteil
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0830.9A1027.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Berufung wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p> <p>Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p> <p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten um die Angaben „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung (Faltschachtel) und dem Etikett von „B.        Hustentropfen“ sowie die Angaben “frei von Alkohol (Ethanol)“, “enthalten kein Alkohol (Ethanol)“, „enthalten kein Ethanol“ in der Gebrauchs- und Fachinformation.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erteilte der Firma L.      N.          GmbH - der vormaligen Klägerin - am 22. Januar 2008 die Zulassung für das Fertigarzneimittel „B.        forte Hustentropfen“ (Zulassungsnummer 65616.00.00). Zwischenzeitlich wurde die Bezeichnung in „B.        Hustentropfen“ geändert. Diese Zulassung wurde im November 2020 an die jetzige Klägerin übertragen. Mit Schriftsatz vom 23. März 2022 teilte diese mit, sie führe als Rechtsnachfolgerin der vorherigen Zulassungsinhaberin und Klägerin das Verfahren fort. Am 20. Mai 2022 stimmte die Beklagte dem zu.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Arzneimittel enthält als Wirkstoff einen Dickextrakt aus Thymiankraut (1,7-2,5:1), Auszugsmittel: Ammoniaklösung 10 % (m/m), Glycerol 85 % (m/m), Ethanol 90 % (V/V), Wasser (1:20:70:109). Das im Auszugsmittel für den Thymiankrautextrakt enthaltene Ethanol wird im Herstellungsverfahren fast vollständig wieder entfernt. In der Extraktzubereitung befindet sich laut Spezifikation Ethanol nur noch in einer Menge von unter 0,10 %. In einer maximalen Einzeldosis des Fertigarzneimittels von 2,3 ml Hustentropfen sind maximal 2,16 mg Ethanol enthalten. Das Arzneimittel enthält nicht mehr natürlichen Zucker als der Ausgangsstoff Thymian; während des Herstellungsverfahrens wird kein Zucker zugesetzt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Arzneimittel wird angewendet „zur Besserung der Beschwerden bei Erkältungskrankheiten der Atemwege mit zähflüssigem Schleim, zur Besserung der Beschwerden bei akuter Bronchitis“. Es ist auch zur Anwendung bei Kindern ab 1 Jahr zugelassen und nicht verschreibungspflichtig.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">In dem durch den Zulassungsbescheid vom 22. Januar 2008 zugelassenen Text für die äußere Umhüllung (Faltschachtel) und das Etikett befand sich der Hinweis „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“. In der Gebrauchsinformation war unter Ziffer 6 - nach der Angabe der sonstigen Bestandteile - der Hinweis enthalten: „B.        forte Hustentropfen enthalten kein Alkohol (Ethanol)“. Im Abschnitt „Weitere Hinweise“ der Gebrauchsinformation war der folgende Text aufgeführt: „B.        forte Hustentropfen sind frei von Alkohol (Ethanol) und daher auch für Patienten geeignet, die Alkohol (Ethanol) vermeiden müssen.“ In der Fachinformation hieß es unter Ziffer 6.1 nach der Liste der sonstigen Bestandteile: „Hinweis: B.        forte Hustentropfen enthalten kein Ethanol.“</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit fristgerechtem Verlängerungsantrag vom 18. Juli 2012 legte die vormalige Klägerin gleichlautende Informationstexte und Texte für äußere Umhüllung und Etikett vor. Dem nach vorheriger Anhörung ergangenen Verlängerungsbescheid vom 3. Juni 2015, zugestellt am 9. Juni 2015, waren u. a. die folgenden Auflagen beigefügt:</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">F1.: Die Angaben „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ sind auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett zu streichen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">F3.: In den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation sind die Hinweise „…enthält keinen Alkohol“ zu streichen und können durch den Hinweis „Das Ethanol des Auszugsmittels wurde weitestgehend entfernt.“ ersetzt werden.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">F4.: In der Packungsbeilage ist unter weitere Hinweise der Satz: „ ... ist ohne Alkohol (Ethanol) und daher auch für Patienten geeignet, die Alkohol (Ethanol) vermeiden müssen“ zu streichen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">In der Begründung zu Auflage F1. wurde ausgeführt, der Hinweis zur Alkohol- und Zuckerfreiheit sei nach § 10 Abs. 1 Satz 4 AMG nicht als „weitere Angabe“ zulässig, weil sie in der EU-„Guideline on the excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“ (CPMP/463/00) nicht vorgesehen und bei dem apothekenpflichtigen Arzneimittel auch nicht notwendig sei. Die Angaben seien auch geeignet, das Produkt gegenüber vergleichbaren Arzneimitteln hervorzuheben, und daher werbewirksame Aussagen. Zur Begründung der in den Auflagen F3. und F4. vorgesehenen Streichungen wurde ausgeführt, auch wenn das Ethanol aus dem Auszugsmittel wieder entfernt werde, blieben immer kleine Restmengen zurück. Außerdem zähle auch das enthaltene Propylenglykol zu den Alkoholen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Den dagegen eingelegten Widerspruch wies das BfArM durch Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 2016 zurück.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Am 27. Januar 2016 hat die vormalige Klägerin beim Verwaltungsgericht Köln Klage erhoben (7 K 433/16). Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Die Auflagen F1., F3. und F4. seien rechtswidrig. Die Beklagte habe die beanstandeten Hinweise in der erstmaligen Zulassung genehmigt. Eine Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung eines genehmigten Textes sei nicht ersichtlich. Es sei auch fraglich, ob im Hinblick auf „Entwarnungshinweise“ eine Auflagenbefugnis nach § 28 Abs. 2 AMG bestehe, denn durch die Entwarnung bestehe keine Gefahr für die Qualität und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln. Es sei weiter fraglich, ob die Beklagte das ihr durch § 28 Abs. 2 AMG eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt, insbesondere die atypischen Besonderheiten des vorliegenden Falles hinreichend beachtet habe. Die Beklagte orientiere sich an abstrakten Guidelines oder Äußerungen von Expertengremien sowie einer möglichen Vorbildwirkung für andere Verfahren statt den konkreten Einzelfall zu prüfen. Die Auflagen seien unverhältnismäßig. Eine Änderung der im Rahmen der Erstzulassung für rechtmäßig gehaltenen Texte, ohne dass sich die Sach- oder Rechtslage geändert habe, verwirre die Patienten und Vertreter der Fachkreise und führe zu einer unnötigen wirtschaftlichen Belastung der Klägerin.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die beanstandeten Hinweise seien als sonstige Angaben nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG, § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG und § 11a Abs. 1 Satz 6 AMG zulässig. Sie stünden mit der Anwendung des Arzneimittels in Zusammenhang und seien für die gesundheitliche Aufklärung wichtig. Hierzu genüge es, dass die Angaben der gesundheitlichen Aufklärung dienlich seien. Dies sei bei allen Angaben der Fall, die das Einnahmeverhalten, die Compliance, verbesserten. Insbesondere sei die Angabe „Ohne Alkohol (Ethanol)“ geboten, weil sie die aus der Sicht eines durchschnittlich informierten, verständigen Patienten verwirrende Pflichtangabe zum Extraktionsmittel „Ethanol“ klarstelle. Der Unsicherheit könne auch nicht durch die Abgabe in der Apotheke hinreichend begegnet werden. Der Entwarnungspflicht könne der pharmazeutische Unternehmer nur dadurch nachkommen, dass er auf der Faltschachtel einen kurzen und prägnanten Hinweis anbringe, wie es „ohne Alkohol“ sei. Dies werde vom Verbraucher dahingehend verstanden, dass der etwa noch vorhandene Alkohol keinen nennenswerten Effekt entfalte, und sei daher auch inhaltlich zutreffend. Die Excipients-Guideline schreibe nur Warnungen vor und enthalte daher keine abschließende Regelung im Hinblick auf Entwarnungshinweise. Auch der Hinweis „ohne Zuckerzusatz“ sei zulässig. Die Angabe enthalte eine für alle Verbrauchergruppen, insbesondere aber für Diabetiker, wichtige und verständliche Mitteilung und verbessere das Einnahmeverhalten.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Es handele sich auch nicht um unzulässige werbliche Aussagen. Das Merkmal des werbewirksamen Effekts dürfe nicht in die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes zur Zulässigkeit von weiteren Angaben hineingelesen werden, weil dies vorliegend keine Grundlage in Art. 62 der Richtlinie 2001/83/EG finde. Schließlich sei die zurückhaltende Präsentation des Arzneimittels von der Beklagten im Rahmen der Ermessensentscheidung überhaupt nicht berücksichtigt worden. Der Hinweis auf die Alkohol- und Zuckerfreiheit befinde sich auf der Rückseite der Verpackung unter den Einnahmehinweisen und sei damit für den Patienten auch bei der Platzierung im Sichtwahlbereich der Apotheken nicht erkennbar.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das Verwaltungsgericht dieses Verfahren mit dem Verfahren 7 K 324/16 („B.        Hustensaft“) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und diese Verfahren unter dem Aktenzeichen 7 K 324/16 fortgeführt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die vormalige Klägerin hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">die Auflagen F1., F3. und F4. im Verlängerungsbescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 3. Juni 2015 für das Fertigarzneimittel „B.        Hustentropfen“ in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2016 aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Die Auflagenbefugnis ergebe sich aus § 28 Abs. 2 AMG. Die Feststellung einer konkreten Gefährdung sei bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 und Abs. 2 AMG nicht erforderlich. Der Umstand, dass die beanstandeten Hinweise zuvor genehmigt worden seien, sei nicht bedeutsam. Die Verlängerung nach § 31 AMG diene auch der Kontrolle der Zulassungsentscheidung, soweit es nicht um die Beurteilung der Wirksamkeit gehe.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Texte seien unzulässig. Der Gesetzgeber habe sich dafür entschieden, das Vorhandensein von potentiell gesundheitsschädlichen Zusatzstoffen in Fertigarzneimitteln, also auch von Alkohol und Zucker, ausschließlich positiv zu normieren. Falls derartige Stoffe in einer gesundheitsrelevanten Menge beigefügt seien, müsse nach § 10 Abs. 2 AMG, § 11 Abs. 2 AMG ein Warnhinweis aufgenommen werden. Die Arzneimittelwarnhinweisverordnung sowie die europäische Excipients-Guideline bestimmten abschließend, für welche Art und Menge von Stoffen ein Warnhinweis verpflichtend sei.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Hinweis auf das Fehlen von Alkohol auf Etikett und Faltschachtel sei nicht als „weitere Angabe“ zulässig, weil die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG nicht erfüllt seien. Er sei schon unrichtig, weil das Arzneimittel Alkohol in sehr geringer Menge enthalte. Ein Stoff, der in einer nicht gesundheitsgefährdenden Menge enthalten sei, könne auch nicht für die Anwendung eines Arzneimittels von Bedeutung sein. Eine „Risikokommunikation“ müsse daher nicht stattfinden. Die Verbesserung der Compliance könne durch solche Hinweise nicht erreicht werden. Eine Angabe, die auf das Fehlen eines bestimmten Stoffes hinweise, sei zudem grundsätzlich werblich. Diese Auffassung werde auf europäischer Ebene geteilt, etwa im Hinblick auf „Gluten“. Der Hinweis befinde sich zwar auf der Rückseite der Faltschachtel, sei aber durch Schrift und Form deutlich von dem übrigen Text abgehoben und habe damit auch durch die Gestaltung einen werbenden Charakter. Im vorliegenden Fall bestehe zwar die Besonderheit, dass für die Herstellung des Wirkstoffs Ethanol als Auszugsmittel verwendet werde und daher auch auf der äußeren Umhüllung genannt werden müsse, und zwar ungeachtet der im Endprodukt noch enthaltenen Restmengen von Ethanol. Die hierdurch möglicherweise entstehenden Fragen würden seitens der Klägerin jedoch in einer völlig unrealistischen und überzogenen Weise dargestellt. Auch die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ auf dem Etikett sei nicht als „weitere Angabe“ zulässig. Da Zucker nicht in einer warnhinweispflichtigen Menge enthalten sei, sei der Hinweis nicht für die gesundheitliche Aufklärung der Verbraucher wichtig. Die Regelungen zur Kennzeichnung von diätetischen Lebensmitteln seien aufgehoben worden. Lediglich der Zusatz „zuckerfrei“ werde in den europäischen Arbeitsgruppen zur Formulierung der Informationstexte bei zentral zugelassenen Arzneimitteln diskutiert und im Einzelfall als zulässig erachtet. Die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ sei ebenfalls als werbliche Aussage einzuordnen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Aus denselben Gründen sei auch der Hinweis auf das Fehlen von Alkohol in der Packungsbeilage sowie der Fachinformation unzulässig. Er sei nicht zutreffend. Da der Alkoholgehalt unterhalb der Schwelle für einen Warnhinweis liege, gebe es auch keine Rechtsgrundlage für diese Angabe. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 d AMG dürften unter Ziffer 6 der Gebrauchsinformation nur im Arzneimittel aufzulistende Bestandteile genannt werden. Eine Negativangabe sei nicht vorgesehen. Im Feld „Weitere Hinweise“ sei nur die Aussage zulässig, wonach Alkohol im Arzneimittel nur noch in einer sehr geringen Menge vorhanden sei. Auch in der Fachinformation könne das Fehlen von Alkohol keinesfalls unter Ziffer 6.1 „Liste der sonstigen Bestandteile“ aufgeführt werden, da die Menge des noch enthaltenen Alkohols nicht als sonstiger Bestandteil zu nennen sei.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 27. November 2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte sei gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 in Verbindung mit § 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG berechtigt gewesen, der Klägerin durch die Auflage F1. die Streichung des Hinweises „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett des Behältnisses aufzugeben, weil dieser nicht nach § 10 AMG zulässig sei. Zulässig seien weitere Angaben nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG, wenn sie einen Bezug zur Anwendung des konkreten Arzneimittels und damit in erster Linie gebrauchssichernde Funktion hätten. Fehlende Bestandteile, wie z.B. Alkohol oder Zucker, hätten keine Auswirkung auf die Gesundheit des Patienten und entsprechende Hinweise seien daher für die Anwendung des Arzneimittels nicht relevant. Darüber hinaus ergebe sich aus der Zweckbestimmung der verschiedenen Informationstexte und der Konzeption der gesetzlichen Regelungen in §§ 10 ff. AMG, die in Übereinstimmung mit den Art. 54 ff. Richtlinie 2001/83/EG auszulegen seien, eine abschließende Regelung zur Angabe der sonstigen Bestandteile eines Arzneimittels auf der äußeren Umhüllung oder dem Etikett. Die Angabe „ohne Alkohol“ sei zudem irreführend, weil das Endprodukt geringe Restmengen Ethanol aus der Arzneimittelherstellung enthalte. Auch die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ sei mit § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG nicht vereinbar. Zwar bestehe im Hinblick auf die Zahngesundheit sowie für Diabetiker ein anerkennenswertes Informationsinteresse von Patienten. Der Hinweis auf den fehlenden Zuckerzusatz könne jedoch in der Packungsbeilage gegeben werden. Wegen der fehlenden Vereinbarkeit mit § 10 AMG habe das BfArM nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG die Streichung anordnen dürfen. Einer zusätzlichen konkreten Gefahr für die Arzneimittelsicherheit bedürfe es bei der Anwendung der Auflagenermächtigung nicht. Auch die Ermessensentscheidung sei rechtlich nicht zu beanstanden, die Auflage F1. sei nicht unverhältnismäßig.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Auflagen F3. und F4. seien ebenfalls rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Regelungen sei § 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 i. V .m. § 28 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 2a AMG. Die Klägerin verwende auch in der Packungsbeilage und der Fachinformation die pharmazeutisch unzutreffende und irreführende Formulierung „ohne Alkohol“. Der Begriff „ohne Alkohol“ könne in der Packungsbeilage nur dann synonym mit einer irrelevanten Restmenge benutzt werden, wenn insofern eine einheitliche Definition durch die hierfür zuständige Europäische Kommission im Rahmen der Excipients-Guideline vorliegen würde. Dies sei jedoch bislang nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Dagegen hat die Klägerin die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt und ergänzt sie ihr erstinstanzliches Vorbringen und führt im Wesentlichen aus: Die ursprünglich genehmigten Angaben klärten über unverständliche Pflichttexte und irrige Verbrauchererwartungen, auch aufgrund der Produktkategorie, auf, es seien beträchtliche Mengen Alkohol und Zucker im Produkt enthalten. Die Pflichtangabe „Ethanol 90 % (V/V)“ auf der Umverpackung werde vom Verbraucher teilweise mit Alkohol in Verbindung gebracht, was auch durch den kräftigen Kräutergeschmack unterstützt werde. Die Angabe „ohne Alkohol (ohne Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ habe einen gebrauchssichernden Bezug zur Anwendung des konkreten Arzneimittels durch den Kranken, weil damit ungewöhnlichem Einnahmeverhalten (z.B. Einnahme von zu geringen Mengen oder Nichteinnahme zur Nacht) vorgebeugt werde. Das Informationsbedürfnis erkenne auch das Verwaltungsgericht an. Die Vermittlung der sachlichen und inhaltlich zutreffenden Informationen sei auch keine Werbung. Die Information „ohne Alkohol“ sei aus Sicht eines Patienten zutreffend, der daraufhin davon ausgehe, dass das Produkt keinen negativen gesundheitlichen Effekt auf ihn haben könne und auch für Patienten geeignet sei, die Alkohol vermeiden müssten. Dass einige Moleküle Alkohol im Produkt enthalten sein möchten, im Übrigen weniger als in vielen Lebensmitteln, sei für ihn vollkommen irrelevant. Die hier gewählte Art und Weise der Risikokommunikation über Entwarnungen sei marktüblich und funktioniere, d. h. sie werde vom Verbraucher verstanden, und besonders für vulnerable Patientengruppen von Bedeutung.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, Entwarnungshinweise seien grundsätzlich nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG nicht zulässig, sei vom Wortlaut sowie vom Sinn und Zweck der Vorschrift nicht gedeckt. Hier werde offenbar ein zusätzliches Kriterium der Notwendigkeit in die Vorschrift hineingelesen. Art. 62 der Richtlinie 2001/83/EG in seiner nationalen Umsetzung sei keine Ausnahmevorschrift zu Pflichtangaben, sondern eine selbständige Regelung zur Zulässigkeit freiwilliger zusätzlicher Angaben. Aus der englischen und französischen Fassung ergebe sich der Sinn und Zweck der Vorschrift, ergänzende freiwillige Angaben zu erlauben, die für den Patienten nützlich seien („useful“, „utiles“). Eine einengende Auslegung der Bestimmung sei auch nach Art. 60 der Richtlinie 2001/83/EG nicht zulässig. Die Angaben „ohne Alkohol“ und „ohne Zuckerzusatz“ wiesen darauf hin, dass das Produkt keine relevanten, wahrnehmbaren Mengen an Alkohol enthalte und ihm kein Zucker zugesetzt worden sei, was für Patienten, Eltern und Fachkreise eine nützliche Information sei. Die kurze Botschaft sei auf das Wesentliche begrenzt, daher auch keine Werbung, und habe sich bewährt.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Mit dem Hinweis „ohne Alkohol“ werde die auch in der aktuellen Excipients-Guideline vorgesehene Information transportiert, dass die geringe Alkoholmenge im Arzneimittel keine wahrnehmbaren Auswirkungen habe. Im Übrigen konkretisiere die Guideline lediglich Pflichtangaben (Mindestangaben) zu Arzneiträgerstoffen - soweit diese gezielt und funktionsmäßig im Endprodukt eingesetzt und nicht nur als Extraktionsmittel verwendet und verdampft würden - und enthalte keine abschließende, bindende Konkretisierung zu freiwilligen zusätzlichen Angaben nach Art. 62 der Richtlinie 2001/83/EG. Sogar im Hinblick auf Pflichtangaben zu Ethanol als Auszugsmittel stehe sie nur gleichberechtigt neben anderen Guidelines (z.B. zur Herbal Declaration Guideline). Umgekehrt lasse sich aus den Vorgaben der Guideline zu Gluten, Kalium und Natrium ableiten, dass Informationen über das Fehlen von Stoffen (Entwarnungen), auch und gerade wenn unbedenkliche Molekülmengen noch im Produkt enthalten seien, wichtig sein könnten. Es liege auch keine Irreführung vor, da die verbleibenden Moleküle für den Patienten irrelevant seien.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Ferner dürften die gleichlautenden Tatbestandsmerkmale in § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG (Umverpackung) und § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG (Packungsbeilage) nicht unterschiedlich ausgelegt werden. Wegen des Pflichthinweises zu Ethanol auf der Umverpackung müsse auch die Information über den fehlenden Alkoholgehalt dort erfolgen dürfen. Für den befürchteten „Dammbruch“ sei nichts erkennbar, zumal es um Besonderheiten von Phytopharmaka gehe, nicht aber um Angaben wie halal und koscher oder Biosiegel. Schließlich sei § 28 AMG bei reinen Zweckmäßigkeitserwägungen unanwendbar und die Auflage unverhältnismäßig.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Mit Trennungsbeschluss vom 20. Mai 2022 hat der Senat das Verfahren hinsichtlich der „B.        Hustentropfen“ abgetrennt und mit dem neuen Aktenzeichen 9 A 1027/22 und der neuen Klägerin fortgeführt.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und die Auflagen F1., F3. und F4. im Verlängerungsbescheid des BfArM vom 3. Juni 2015 für das Fertigarzneimittel „B.        Hustentropfen“ in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2016 aufzuheben,</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">hilfsweise,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Beweis zu erheben über die Frage, dass nach dem jeweils bestehenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ mit der Anwendung des streitgegenständlichen Produkts im Zusammenhang stehen und für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und insbesondere keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information vermitteln.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung verweist sie auf das erstinstanzliche Verfahren, das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 28. September 2021 - 7 K 5222/18 - zu Gluten und trägt ergänzend vor: Seit der Urteilsverkündung habe das BfArM eine nennenswerte Anzahl von pharmazeutischen Unternehmen abschließend davon überzeugen können, ihre vergleichbaren „frei von“-Kennzeichnungen auf äußeren Umhüllungen ihrer Arzneimittel auch durchaus bekannter Marken zu entfernen. Bei Zulassungs- und Verlängerungsanträgen oder Änderungsanzeigen würden entsprechende Beanstandungen ausgesprochen. Damit werde dem Gleichheitssatz genügt. Für die Verständlichkeit von Wirkstoffangaben sei es nicht erforderlich, dass Verbraucher diese im Einzelnen zutreffend einordnen könnten. Das streitgegenständliche Arzneimittel sei nicht zuckerfrei; dass kein Zucker zugesetzt werde, sei für den Ist-Zustand des Arzneimittels irrelevant. Ein Informationsbedürfnis bestimmter Adressaten werde nicht bestritten. Der Klägerin gehe es aber um die Platzierung der Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung bzw. dem Etikett. Mit anderen Worten und damit in einer sowohl verständlichen als auch zutreffenden Art und Weise seien diese Informationen an anderer Stelle der informativen Texte möglich. Die Guidelines seien als Auslegungshilfe beachtlich. Es streite für die Auffassung der Beklagten, dass für die Angaben „ohne Alkohol“ und “ohne Zuckerzusatz“ keine Regelungen seitens der Gremien getroffen worden seien. Das Verwaltungsgericht Köln habe in der Gluten-Entscheidung bekräftigt, dass § 10 Abs. 1 Satz 5 und § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG als Ausnahmebestimmung eng zu interpretieren seien und die weiteren Angaben einen besonderen Bezug zur genehmigten Anwendung des Arzneimittels, insbesondere zum Anwendungsgebiet und den Modalitäten der Einnahme des Präparats, haben müssten.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">A. Die Klage ist gem. § 42 Abs. 1 VwGO als Anfechtungsklage gegen die dem Verlängerungsbescheid beigefügten Auflagen statthaft,</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">vgl. nur BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2010 - 3 C 25.09 -, A&R 2010, 186 = juris Rn. 12, m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">und auch im Übrigen zulässig.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">B. Die Klage ist aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Auflagen F1., F3. und F4. im Verlängerungsbescheid des BfArM vom 3. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2016 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">I. Rechtsgrundlage für die Auflagen ist § 28 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 2a AMG.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">1. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 AMG kann die zuständige Bundesoberbehörde die Zulassung mit Auflagen verbinden. Auflagen können angeordnet werden, um sicherzustellen, dass die Kennzeichnung der Behältnisse und äußeren Umhüllungen den Vorschriften des § 10 AMG (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG), die Packungsbeilage den Vorschriften des § 11 AMG (§ 28 Abs. 2 Nr. 2 AMG) und die Fachinformation den Vorschriften des § 11a AMG entspricht (§ 28 Abs. 2 Nr. 2a AMG).</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen in § 28 Abs. 2 Nr. 1 bis 2a AMG erfassen nicht nur die Pflichtangaben, sondern ermöglichen Auflagen auch bezüglich der weiteren Angaben, die - wenn der pharmazeutische Unternehmer hiervon Gebrauch macht - den Zulässigkeitsvoraussetzungen in § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG, § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG, § 11a Abs. 1 Satz 6 AMG entsprechen müssen.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. November 2013 ‑ 13 A 2895/11 -, MedR 2015, 203 = juris Rn. 47.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Auflagenbefugnis gilt ferner nicht nur bei erstmaliger Zulassung, sondern auch für die - hier erfolgte - Verlängerung der Zulassung nach § 31 Abs. 3 AMG.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, NWVBl. 2020, 460 = juris Rn. 25 ff.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">2. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, steht der Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 2a AMG als Rechtsgrundlage für die Auflagen F1., F3. und F4. nicht entgegen, dass das BfArM die beanstandeten Angaben, die teilweise auf eine vergleichsweise Einigung im Klageverfahren VG Köln 7 K 705/05 zurückgehen, ursprünglich mit der Zulassung vom 22. Januar 2008 akzeptiert hat. Einer Ermächtigung zu einem Teilwiderruf oder einer Teilrücknahme eines Verwaltungsakts bedarf es insoweit entgegen der Auffassung der Klägerin nicht.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Im Verfahren der Verlängerung der Zulassung ist zu prüfen, ob die gesetzlichen Vorgaben der §§ 10, 11 und 11a AMG eingehalten werden. Das Arzneimittelgesetz hat dies allerdings nicht als Versagungsgrund für die Zulassungsverlängerung eines Arzneimittels ausgestaltet, sondern hierfür das mildere Mittel der Auflagenbefugnis vorgesehen.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 26.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Eine Änderung der Sach- oder Rechtslage ist dementsprechend keine Voraussetzung für den Erlass einer solchen Auflage. Mit der Zulassung eines Arzneimittels wird insoweit kein Vertrauenstatbestand geschaffen. Dies zeigt auch die nicht durch weitere Voraussetzungen eingeschränkte Befugnis nach § 28 Abs. 1 Satz 4 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 bis 2a AMG, jederzeit nach der Erteilung einer arzneimittelrechtlichen Zulassung Auflagen anordnen zu können, also auch nachträgliche Auflagen im Hinblick auf die Kennzeichnung und die Informationstexte, wenn diese nicht mit den Vorschriften der §§ 10 bis 11a AMG übereinstimmen.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">3. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Auflagen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier bei Erlass des Widerspruchsbescheids.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Dies entspricht allgemeinen Grundsätzen bei Anfechtungsklagen, wenn sich aus dem maßgebenden materiellen Recht - wie hier - für die Zeitpunktfrage nichts anderes ergibt. Damit ist im vorliegenden Verfahren zu klären, ob bei Erlass des Widerspruchsbescheids die beanstandeten Hinweise unzulässig und die Auflagen rechtmäßig waren. Dies bedeutet zugleich, dass die Beklagte die Auflagen nicht von sich aus unter Kontrolle halten und fortdauernd überprüfen muss.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 17. September 2021 - 3 C 20.20 -, juris Rn. 13 (für einen Feststellungsbescheid nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG).</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">II. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung von Auflagen nach § 28 Abs. 2 AMG sind sowohl hinsichtlich der Auflage F1. (dazu 1.) als auch der Auflagen F3. und F4. (dazu 2.) gegeben.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">1. Die Auflage F1., wonach die Angaben „Ohne Alkohol (Ethanol)/Ohne Zuckerzusatz“ auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett zu streichen sind, stellt im Sinne von § 28 Abs. 2 Nr. 1 AMG sicher, dass die Kennzeichnung der Behältnisse und äußeren Umhüllungen den Vorschriften des § 10 AMG entspricht. Die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ ist ebenso gemäß § 10 AMG unzulässig (dazu a.) wie die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ (dazu b.).</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">a. Die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ auf der äußeren Umhüllung und dem Etikett entspricht nicht den Vorgaben des § 10 AMG.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Sie ist - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - keine arzneimittelrechtliche Pflichtangabe im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 8 oder § 10 Abs. 2 AMG. Warnhinweise im Sinne der letztgenannten Vorschrift forderte die bei Erlass des Widerspruchsbescheids geltende Arzneimittelwarnhinweisverordnung (vom 21. Dezember 1984 in der vom 29. September 1990 bis zum 31. Mai 2022 geltenden Fassung) erst ab 0,05 g Ethanol in der maximalen Einzelgabe nach der Dosierungsanleitung (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a, § 2 Abs. 1 Nr. 1). Hier beträgt der Gehalt aber lediglich 2,16 mg in der maximalen Einzeldosis von 2,3 ml Hustentropfen, also rund 0,002 g. Zudem geht es nicht um einen Hinweis auf Ethanol, sondern auf das Fehlen des Stoffes.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ auch nicht als weitere Angabe nach § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG zulässig.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG sind weitere Angaben, die - wie hier - nicht durch eine Verordnung der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union vorgeschrieben oder bereits nach einer solchen Verordnung zulässig sind, zulässig, soweit sie mit der Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang stehen, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und den Angaben nach § 11a AMG nicht widersprechen.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 26; Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, 131. Lief. 2016, § 10 Anm. 74.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Wegen des Zusammenhangs mit der Anwendung des Arzneimittels sind nur solche Informationen wichtig für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten, die eine gebrauchssichernde Funktion haben.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. August 2013 ‑ 13 A 2862/12 -, juris Rn. 5; Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, Arzneimittelgesetz, 3. Auflage 2022, § 10 Rn. 48; Zimmermann, in: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Auflage 2020, § 28 Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Mit der restriktiven Zulassung weiterer Angaben soll verhindert werden, dass die Patienten von den Pflichtinformationen abgelenkt werden, mit denen die ordnungsgemäße Anwendung des Arzneimittels erreicht werden soll.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 13, sowie Vorlagebeschluss vom 8. November 2018 - 3 C 2.17 -, juris Rn. 22; OVG NRW, Beschlüsse vom 26. Oktober 2015 - 13 A 2598/14 -, A&R 2015, 277 = juris Rn. 17, und vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 37; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2012 - I ZR 161/11 -, PharmR 2013, 491 = juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Kennzeichnung des Behältnisses und der äußeren Umhüllung bestimmt die Identität des Arzneimittels nach seiner stofflichen Zusammensetzung und Herkunft. Zu Deklarationsangaben zur stofflichen Zusammensetzung treten Angaben hinzu, die grundlegende Informationen für die Anwendung des Arzneimittels liefern.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. Fuhrmann, in: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, a. a. O., § 8 Rn. 9; Kloesel/Cyran, a. a. O., § 10 Anm. 1.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Anforderungen an zulässige ergänzende Angaben sind daher streng.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. OLG München, Beschluss vom 9. April 2020 - 29 U 5126/19 -, PharmR 2020, 406 = juris Rn. 3; OLG Frankfurt, Urteil vom 24. Mai 2018 - 6 U 46/17 -, A&R 2018, 185 = juris Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Für die gesundheitliche Aufklärung wichtig im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG sind allerdings nicht nur Informationen, die unverzichtbar sind. Denn Informationen, die für eine sichere Anwendung des Arzneimittels erforderlich sind, gehören bereits zu den Pflichtangaben. Ausreichend ist vielmehr, dass die Angaben zur sachgerechten Anwendung des Arzneimittels förderlich sind und ihnen damit eine gebrauchssichernde Funktion zukommt. Dies wird umso eher anzunehmen sein, je dichter der Zusammenhang der freiwilligen Angabe zu den gesetzlich angeordneten Pflichtinformationen ist. Grundsätzlich zulässig sind daher Erläuterungen zu den Wirkungszusammenhängen sowie Anwendungshinweise zur Herbeiführung des gewünschten Behandlungserfolgs.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 8. November 2018 - 3 C 2.17 -, juris Rn. 22 f.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Bei der Bestimmung der Anforderungen an die Zulässigkeit weiterer Angaben ist Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG zu berücksichtigen. § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG dient der Umsetzung dieser Bestimmung und ist deshalb richtlinienkonform auszulegen.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. August 2013 - 13 A 2862/12 -, PharmR 2013, 463 = juris Rn. 5, und vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 13, 20.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Nach Art. 60 Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 (ABl. L 311 vom 28. November 2001, S. 67) dürfen die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von Arzneimitteln in ihrem Hoheitsgebiet nicht aus Gründen, die mit der Etikettierung oder der Packungsbeilage zusammenhängen, untersagen oder verhindern, sofern diese mit den Vorschriften dieses Titels übereinstimmen. Nach Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Richtlinie 2004/27/EG vom 31. März 2004 (ABl. L 136 vom 30. April 2004, S. 34) können die äußere Umhüllung und die Packungsbeilage zur Veranschaulichung einiger der in den Artikeln 54 und 59 Absatz 1 genannten Informationen Zeichen oder Piktogramme sowie weitere mit der Zusammenfassung der Merkmale des Erzeugnisses zu vereinbarende Informationen enthalten, die für den Patienten wichtig sind; nicht zulässig sind Angaben, die Werbecharakter haben können.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die letztgenannte Vorschrift verlangt keine unionsrechtskonforme Auslegung des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG dahingehend, dass aus Gründen des Unionsrechts weniger strenge Anforderungen an weitere Hinweise bei der Kennzeichnung von Arzneimitteln als die vorstehend beschriebenen zu stellen sind.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Offen gelassen von OVG NRW, Beschluss vom 5. August 2013 - 13 A 2862/12, a. a. O., juris Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Wichtig für den Patienten im Sinne von Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG sind nur solche Informationen, die einen Bezug zur Anwendung des konkreten Arzneimittels durch den Kranken und damit in erster Linie eine gebrauchssichernde Funktion haben. Dass die Informationen auch unionsrechtlich der gesundheitlichen Aufklärung in Bezug auf die Anwendung des konkreten Arzneimittels dienen müssen, folgt schon aus der Verwendung des Worts „Patienten“ statt des Begriffs „Verbraucher“. Ferner ergibt sich dieses Verständnis aus Sinn und Zweck der Kennzeichnungsbestimmungen, im Interesse der Gesundheitsvorsorge und Arzneimittelsicherheit die Patienten zu unterrichten, damit sie das Arzneimittel auf der Grundlage vollständiger und verständlicher Informationen ordnungsgemäß anwenden können.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. August 2013 - 13 A 2862/12 -, a. a. O., juris Rn. 5 ff., und vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 21; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2012 - I ZR 161/11 -, a. a. O., juris Rn. 10; Kloesel/Cyran, a. a. O., § 10 AMG Anm. 1; Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, a. a. O., § 10 Rn. 3 und 47 ff.; kritisch Rehmann, Arzneimittelgesetz, 5. Auflage 2020, § 10 Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Diese Zielrichtung lässt sich auch aus den Erwägungsgründen der Richtlinie 2001/83/EG in ihrer ursprünglichen Fassung ableiten, deren Erwägungsgrund 2 zunächst den allgemeinen Gesetzeszweck des wirksamen Schutzes der öffentlichen Gesundheit betont. Nach Erwägungsgrund 40 müssen die Bestimmungen über die Unterrichtung der Patienten ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleisten, so dass die Arzneimittel auf der Grundlage vollständiger und verständlicher Informationen ordnungsgemäß angewandt werden können.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der ursprüngliche Wortlaut des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG, wonach die Angaben „für die gesundheitliche Aufklärung wichtig“ sein mussten, durch die Richtlinie 2004/27/EG in „für den Patienten wichtig“ geändert worden ist. Dass damit eine sachliche Änderung, insbesondere eine weitergehende Zulassung von freiwilligen Angaben gewollt war, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Für den Patienten ist das wichtig, was seiner gesundheitlichen Aufklärung in Bezug auf die Anwendung des konkreten Arzneimittels dient. Aus den Erwägungsgründen und sonstigen Materialien ergibt sich ebenfalls nichts dafür, dass eine gebrauchssichernde Funktion nicht mehr verlangt oder anderweitig die Anforderungen an weitere Angaben gelockert werden sollten. Dem Erwägungsgrund 16 des Kommissionsentwurfs zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG (KOM(2001) 404 endg., ABl. C 75 E vom 26. März 2002, S. 216) lässt sich zwar das Anliegen der EU-Kommission entnehmen, den Informationsbedürfnissen und Erwartungen von Patienten nachzukommen, zugleich wird aber auch hier der Zusammenhang mit der ordnungsgemäßen Verwendung des Arzneimittels betont und ist von strengen Bedingungen die Rede. In den verabschiedeten Erwägungsgründen der Richtlinie 2004/27/EG heißt es zudem lediglich, im Zusammenhang mit der ordnungsgemäßen Verwendung des Arzneimittels sollten die Rechtsvorschriften über die Verpackung auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen angepasst werden (Erwägungsgrund 21). Daraus lässt sich insgesamt nicht ableiten, dass in Bezug auf weitere Angaben nun großzügigere Maßstäbe gelten sollten, zumal mit der Richtlinie 2004/27/EG umfangreiche Änderungen der Art. 54 ff. Richtlinie 2001/83/EG verabschiedet worden sind.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Von einer inhaltlichen Änderung ist auch der nationale Gesetzgeber offenbar nicht ausgegangen, der die Änderung des Art. 62 durch die Richtlinie 2004/27/EG in § 10 Abs. 1 AMG dahingehend in nationales Recht umgesetzt hat, dass aus der Formulierung „für die gesundheitliche Aufklärung wichtig“ im damaligen § 10 Abs. 1 Satz 3 AMG „für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig“ im neuen § 10 Abs. 1 Satz 4 AMG wurde.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">§ 10 AMG in der ab dem 6. September 2005 gültigen Fassung des 14. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 29. August 2005; dazu BT-Drs. 15/5316, S. 7, 31 und 34; vgl. auch Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, a. a. O., § 10 Rn. 47.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Die vorstehenden Ausführungen zum Verständnis des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG zugrunde gelegt, lässt sich schließlich entgegen der Auffassung der Klägerin ein gegenüber § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG weiteres Verständnis der Richtlinienvorgabe auch nicht daraus entnehmen, dass andere Sprachfassungen des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG, etwa die englische und französische, formulieren, dass die Informationen für den Patienten „nützlich“ („useful“, „utiles“) sein müssen.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Den so verstandenen Anforderungen an weitere Angaben genügt die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ auf der Faltschachtel und dem Etikett der Hustentropfen nicht.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Diese Information ist schon deshalb für den Patienten weder wichtig noch nützlich, weil sie nicht zutrifft. Denn es ist unstreitig noch eine geringe Menge Alkohol (Ethanol) im Endprodukt enthalten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht haben die Beteiligten sich anhand einer Berechnung des BfArM darauf verständigt, dass bei den Hustentropfen maximal 2,16 mg Ethanol in einer Einzeldosis von 2,3 ml enthalten ist. Ob dies, wie die Klägerin im Berufungsverfahren betont, nur wenige Moleküle sind, kann dahinstehen. Dass die Menge gering ist und - wovon die Beteiligten übereinstimmend ausgehen - keine gesundheitlichen Auswirkungen hat, vermag nichts daran zu ändern, dass der Hinweis pharmazeutisch nicht korrekt ist.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus steht die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ nicht mit der Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang und hat keine Bedeutung für die Gesundheit des Patienten. Es fehlt die gebrauchssichernde Funktion.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">So auch Pannenbecker, in: Kügel/Müller/ Hofmann, a. a. O., § 10 Rn. 48.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Die Anwendung der Hustentropfen hängt nicht davon ab, dass ein bestimmter Stoff in ihnen nicht bzw. nur in einer äußerst geringen, gesundheitlich unbedenklichen Menge enthalten ist. Ein nicht enthaltener Stoff hat naturgemäß auch keine Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten. Für Patienten und deren gesundheitliche Aufklärung wichtig wäre nur die Information, dass Alkohol/Ethanol in einer Menge enthalten ist, die gesundheitliche Auswirkungen haben bzw. etwa für Kinder oder Alkoholiker von Bedeutung sein kann. Gebrauchssichernd ist dementsprechend der in der Arzneimittelwarnhinweisverordnung - in der im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids geltenden Fassung mit Gültigkeit bis zum 31. Mai 2022 - auf der Grundlage von § 10 Abs. 2 AMG vorgesehene Warnhinweis auf Alkohol ab 0,05 g pro maximaler Einzeldosis. Demgegenüber betrifft es grundsätzlich nicht die korrekte Anwendung eines Arzneimittels oder die Aufklärung über bestehende Risiken, dass ein bestimmter Stoff darin nicht enthalten ist.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Anders als von der Klägerin angenommen, ist für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG auch nicht jeder Hinweis wichtig, der die Compliance erhöht, also den Fehlgebrauch oder einen Verzicht auf die notwendige Einnahme des Arzneimittels verhindert, und insoweit der gesundheitlichen Aufklärung dienlich ist.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">So aber auch Kloesel/Cyran, a. a. O., § 10 Anm. 74, § 11 Anm. 82.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Die Angabe muss vielmehr, wie ausgeführt, mit der konkreten Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang stehen; für die Anwendung ist aber die Kenntnis über den fehlenden Alkoholgehalt nicht erforderlich. Ließe man jeden Hinweis zu, der das Einnahmeverhalten verbessern könnte, führte dies auch dazu, dass die Aufmerksamkeit des Patienten nicht hinreichend auf die Pflichtangaben gerichtet wäre. Ihnen kommt primär die Aufgabe zu, eine korrekte, der Dosierungsanleitung entsprechende Einnahme zu sichern.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Grund ist auch nicht ausreichend, dass es sich um eine nützliche Information handeln mag, die für den Anwender der Hustentropfen von Interesse ist. Ein Informationswunsch von Verbrauchern ist nicht gleichzusetzen mit dem Erfordernis, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten im Zusammenhang mit der Anwendung des Arzneimittels wichtig zu sein.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Januar 2016 - 13 A 2552/13 -, juris Rn. 36.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Der Hinweis „ohne Alkohol“ ist auch nicht aus dem von der Klägerin angeführten Grund für die gesundheitliche Aufklärung wichtig, dass Patienten bzw. Mütter von Patienten im Kindesalter durch den Pflichthinweis zu Ethanol auf der Verpackung verunsichert seien. Ob tatsächlich in einem beachtlichen Maße diese Verunsicherung bei einem bloßen Hinweis auf ein Extraktionsmittel besteht, zumal bei einem Arzneimittel, das für Kinder ab einem Jahr zugelassen ist, bedarf keiner Aufklärung. Es ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass die im von der Klägerin geschilderten Maße verunsicherten Personen durch den Hinweis „ohne Alkohol“ aufgeklärt und damit zur (korrekten, der Dosierungsanleitung entsprechenden) Einnahme veranlasst würden. Denn es bleibt für diesen durch den Pflichthinweis zu Ethanol verunsicherten Personenkreis unklar und widersprüchlich, warum einerseits Ethanol aufgeführt wird und andererseits kein Alkohol enthalten sein soll. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend angeführt hat, wird dies bestätigt durch die bei der Klägerin nach ihren Angaben eingegangenen Rückfragen aus einer Zeit, als das Arzneimittel mit den hier streitgegenständlichen „ohne“-Angaben im Verkehr war. Die Verunsicherung könnte zur Überzeugung des Senats allenfalls durch eine Erklärung der Art beseitigt werden, dass Ethanol ein Auszugsmittel im Herstellungsprozess ist, das Endprodukt aber nur noch eine geringe Restmenge enthält, die keine wahrnehmbaren oder jedenfalls keine gesundheitlichen Auswirkungen hat. Diese Aufklärung vermag der bloße Hinweis „ohne Alkohol“ nicht zu leisten. Die Kritik der Klägerin an der Pflichtangabe zu Ethanol als Auszugsmittel ist im Übrigen hier unbeachtlich, denn diese Angabe ist nicht streitgegenständlich.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Aus der von den Beteiligten angeführten Excipients-Guideline „Excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“ der EU-Kommission ergibt sich nichts zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des weiteren Hinweises „ohne Alkohol (Ethanol)“. Die auf Art. 65 Richtlinie 2001/83/EG gestützte Leitlinie in der bei Erlass des Widerspruchsbescheids geltenden, bis zum 1. März 2018 gültigen Fassung aus Juli 2003 (CPMP/463/00) nebst Annex,</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">abrufbar von: https://www.ema.europa.eu/en/annex-european-commission-guideline-excipients-labelling-package-leaflet-medicinal-products-human,</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">sieht lediglich Warnungen in Bezug auf bestimmte Stoffe, unter anderem auch Ethanol, vor. Sie war überdies in Deutschland insoweit schon deshalb nicht rechtsverbindlich, als sich die Verpflichtung zu Warnungen bei rein national zugelassenen Arzneimitteln bis zum 31. Mai 2022 aus der Arzneimittelwarnhinweisverordnung ergab. Zu „ohne..“- oder „frei von…“-Angaben verhält sich die Leitlinie nicht, die auch bei der Nennung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen in der Einleitung (Introduction, Seite 1) Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG nicht erwähnt. Nur wenn Stoffe wahrnehmbare Auswirkungen haben und im Annex gelistet sind, sind sie auf dem Etikett zu deklarieren (Seite 2 unten). Zudem findet die Guideline keine Anwendung auf Rückstände von Stoffen, die aus dem Herstellungsprozess resultieren oder als Extraktionsmittel verwendet werden (Seite 2 oben).</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Annex der Leitlinie bei anderen Stoffen (etwa Kalium oder Natrium) unterhalb bestimmter Schwellenwerte die Angabe vorsieht, das Arzneimittel sei „nahezu“ (Englisch: „essentially“) kaliumfrei/natriumfrei. Der Auffassung der Klägerin, das belege, dass bei nur geringen Molekülmengen an Ethanol ohne wahrnehmbare Auswirkungen „frei von…“-Informationen wichtig seien, folgt der Senat nicht. Denn eine Angabe wie bei Kalium oder Natrium ist für Ethanol gerade nicht vorgesehen. Darüber hinaus sind die für die Packungsbeilage vorgegebenen Hinweise mit der hier streitgegenständlichen „ohne…“-Angabe auf Verpackung und Etikett auch inhaltlich nicht vergleichbar. Denn ihnen voranzustellen ist laut Annex der Guideline jeweils die Aussage, das Arzneimittel enthalte Kalium/Natrium in einer Menge von weniger als … pro Dosiereinheit. Zudem macht es einen Unterschied, ob ein Arzneimittel als „nahezu“ frei von einem bestimmten Stoff bezeichnet oder die Formulierung „ohne“ verwendet wird.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Die Neufassung der Guideline „Excipients in the labelling and package leaflet of medicinal products for human use“ aus März 2022 (SANTE-2017-11668),</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">https://health.ec.europa.eu/system/files/2018-03/guidelines_excipients_march2018_en_0.pdf,</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">nebst Annex vom 22. November 2019, Revision 2 (Stand 22. Juli 2022, EMA/CHMP/302620/2017),</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/annex-european-commission-guideline-excipients-labelling-package-leaflet-medicinal-products-human_en-1.pdf,</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">ist zwar nach der Änderung der Arzneimittelwarnhinweisverordnung zum 1. Juni 2022 und der nachfolgend erlassenen Gemeinsamen Bekanntmachung des BfArM und des Paul-Ehrlich-Instituts über Warnhinweise zu Bestandteilen von Arzneimitteln vom 31. Mai 2022 verbindlich umzusetzen.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit zu einer Verordnung zur Aufhebung der Arzneimittel-Warnhinweisverordnung und zur Änderung der Apothekenbetriebsordnung vom 2. Juli 2021, S. 1, 5 und 7.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Die Excipients-Guideline in ihrer aktuellen Fassung ist aber nach Auffassung des Senats wegen des hier maßgeblichen Zeitpunkts der letzten Behördenentscheidung schon nicht berücksichtigungsfähig.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man aber mit der Klägerin der Auffassung wäre, sie könne herangezogen werden, weil es sich um Wissen handele, das auch bereits im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung vorgelegen habe,</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">vgl. in diese Richtung auch OVG NRW, Urteil vom 28. Oktober 2021 - 13 A 1376/17 -, PharmR 2022, 112 = juris Rn. 27,</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">führte dies zu keinem anderen Ergebnis. Zu freiwilligen Angaben im Sinne von Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG verhält auch sie sich nicht, sondern sieht, wie die Klägerin zu Recht betont, weiterhin lediglich (warnende) Pflichtangaben vor. Bei Ethanol ist im Annex im Bereich von 0 bis zu 15 mg/kg pro Dosis der Hinweis in der Packungsbeilage vorgegeben, welche Menge Ethanol pro Dosiereinheit enthalten ist. Anschließend ist dies in vergleichbaren Verzehrmengen (in ml) von Bier oder Wein anzugeben und schließlich der Satz anzufügen: „Die geringe Alkoholmenge in diesem Arzneimittel hat keine wahrnehmbaren Auswirkungen“. Für die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Hinweises „ohne Alkohol (Ethanol)“ lässt sich daraus nichts ableiten. Ferner gilt weiterhin, dass bei der Verwendung von Ethanol im Herstellungsprozess (z. B. bei der Beschichtung von Tabletten) oder als Extraktionsmittel, das verdampft wird, keine Notwendigkeit besteht, Ethanol in der Packungsbeilage zu erwähnen (S. 2 sowie Kommentar im Annex zu Ethanol).</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch die Besonderheitenliste des BfArM, Stand 1. Juni 2022, Zusatzinformationen.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Auch aus den Änderungen im Annex zu anderen Stoffen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die freiwillige Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ zulässig wäre. So ist für Gluten aus Weizenstärke nun die Angabe in der Packungsbeilage vorgesehen, das Arzneimittel enthalte nur sehr geringe Mengen Gluten und es gelte als „glutenfrei“. Daraus lässt sich nichts für die generelle Zulässigkeit von „ohne..“-Angaben, erst recht nicht für die Zulässigkeit des „ohne Alkohol (Ethanol)“-Hinweises auf der Faltschachtel und dem Etikett im Streitfall ableiten.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Auch die weiter im Verfahren von den Beteiligten angeführten Dokumente der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) rechtfertigen keine andere Betrachtung. Sie sind rechtlich unverbindlich und darüber hinaus für den vorliegenden Streitfall ganz überwiegend inhaltlich ohne Aussagekraft. Die Empfehlungen der Working Group on Quality Review of Documents (QRD) „Recommendations on pack design and labelling for centrally authorised non-prescription human medicinal products“ (vom 10. März 2011, EMA/275297/2010) beziehen sich auf zentral durch die EMA zugelassene Arzneimittel. Die Fragen und Antworten zu Gluten („Questions and answers on wheat starch containing gluten in the context of the revision of the guideline on Excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“, EMA/CHMP/704219/2013) betreffen schon einen nicht vergleichbaren Stoff, zu dem inzwischen auch die Excipients-Guideline die oben wiedergegebene Empfehlung enthält. Die Fragen und Antworten zu Ethanol („Questions and answers on Ethanol in the context of the revision of the guideline on Excipients in the label and package leaflet of medicinal products for human use“ vom 23. Januar 2014, CPMP/463/00),</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/questions-answers-ethanol-context-revision-guideline-excipients-label-package-leaflet-medicinal_en.pdf,</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">enthalten Vorschläge für die Überarbeitung des Annexes der Excipients-Guideline, der aus den vorstehend angeführten Gründen für die hier streitige Frage unergiebig ist; zur Zulässigkeit von Hinweisen wie „ohne Alkohol (Ethanol)“ verhalten sie sich ebenfalls nicht. Entsprechendes gilt für das Dokument des CHMP zum wissenschaftlichen Hintergrund „Information for the package leaflet regarding ethanol used as an excipient in medicinal products for human use“ (vom 20. September 2018, EMA/CHMP/43486/2018),</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/information-package-leaflet-regarding-ethanol-used-excipient-medicinal-products-human-use_en.pdf.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Die Arbeitsgruppe QRD hat sich zwar in der Sitzung vom 2. März 2016 (EMA, Minutes of the eighty-seventh meeting of the „Working group on Quality Review of Documents“, EMA/189974/2016) dahingehend geäußert, dass Hinweise wie gluten-/alkohol-/zuckerfrei als Werbung eingestuft würden und von keinem zusätzlichen Wert seien. Diese Einschätzung ist allerdings nicht nur unverbindlich, sondern zudem durch die Überarbeitung der Excipients-Guideline überholt.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Ist die Angabe danach schon aus diesen Gründen gemäß § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG unzulässig, kommt es nicht darauf an, ob sie auch als Werbeaussage im Sinne von Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG - in richtlinienkonformer Anwendung des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG - unzulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">b. Auch die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ auf der Faltschachtel und dem Etikett ist arzneimittelrechtlich unzulässig.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Sie ist zwar - anders als der Hinweis „ohne Alkohol (Ethanol)“ - zutreffend, da dem Produkt im Herstellungsverfahren unstreitig kein Zucker zugesetzt wird. Der Senat geht auch nicht davon aus, dass die Angabe den falschen Eindruck vermittelt, die Hustentropfen enthielten kaum oder keinen Zucker. Die Information ist aber schon deshalb nicht für den Patienten und dessen gesundheitliche Aufklärung wichtig, weil sie nichts über den tatsächlichen Zuckergehalt des Produkts aussagt. Die streitgegenständlichen Hustentropfen enthalten natürlichen Zucker aufgrund des Wirkstoffs Thymian. Der Umstand, dass im Herstellungsverfahren kein Zucker zugesetzt wurde, ist auch für die Anwendung des Arzneimittels nicht von Bedeutung. Er hat keine gebrauchssichernde Funktion.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man davon ausgeht, der Zuckergehalt der Hustentropfen sei so gering, dass er keine negativen gesundheitlichen Effekte habe, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Auch hier gilt die obige Erwägung zum Hinweis „ohne Alkohol (Ethanol)“, dass ein nicht enthaltener Stoff auch keine Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten hat.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus dem von der Klägerin angeführten Gesichtspunkt der Zahngesundheit, wobei schon zweifelhaft erscheint, dass dieser Aspekt auch für Hustentropfen in Betracht kommt, die im Unterschied zu Hustensaft keine sirupartige Konsistenz aufweisen. Ob Patienten oder ihre Eltern bei Hustentropfen davon ausgehen, dass diese Zucker enthalten, kann dahinstehen. Es ist für die Frage der Zulässigkeit des Hinweises auf den fehlenden Zuckerzusatz nicht relevant. Die Angabe eines beachtlichen Zuckergehalts (und der daraus folgenden Konsequenzen für die Zahnpflege) stünde im Zusammenhang mit der Anwendung des Arzneimittels und diente der Aufklärung über dessen Risiken. Umgekehrt gilt dies hingegen nicht. Enthält ein Arzneimittel keinen zahnschädigenden Zucker, ist hinsichtlich der Zahnhygiene auch nichts zu beachten und der Patient über kein Risiko aufzuklären. Dass der Hinweis auf die Zuckerfreiheit die Compliance erhöhen mag, genügt ebenfalls aus den bereits zum Ethanol ausgeführten Gründen nicht den tatbestandlichen Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">c. Dem in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisantrag der Klägerin, „Beweis zu erheben über die Frage, dass nach dem jeweils bestehenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ mit der Anwendung des streitgegenständlichen Produkts im Zusammenhang stehen und für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und insbesondere keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information vermitteln“, musste der Senat nicht nachkommen.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Der Beweisantrag ist bereits wegen mangelnder Substantiierung unzulässig. Unsubstantiierten Beweisanträgen muss das Gericht nicht nachgehen. Die gebotene Substantiierung besteht in der Nennung eines bestimmten Beweismittels und in der Behauptung einer bestimmten Tatsache. Unsubstantiiert sind aber nicht nur Beweisanträge, die das Beweisthema nicht hinreichend konkretisieren, sondern auch Beweisanträge, die dazu dienen sollen, unsubstantiierte Behauptungen zu stützen, etwa solche, die erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage erhoben worden sind. Das Substantiierungsgebot verlangt, dass die Tatsache vom Antragsteller mit einem gewissen Maß an Bestimmtheit als wahr und mit dem angegebenen Beweismittel beweisbar behauptet wird. Finden sich im gesamten Prozessstoff keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die aufgestellte Behauptung und gibt der Antragsteller für eine von ihm angestellte Vermutung nicht die geringste tatsächliche Grundlage an, darf das Gericht den Schluss ziehen, die Behauptung sei „aus der Luft gegriffen“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden. In einem derartigen Fall geht es dem Antragsteller nur darum, ermitteln zu lassen, ob seine auf keine Anhaltspunkte gestützte Behauptung nicht vielleicht doch wahr ist.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. September 2012 - 5 B 30.12 -, juris Rn. 9, vom 2. November 2007 - 7 BN 3.07 -, juris Rn. 5, und vom 29. März 1996 - 11 B 21.95 -, juris Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Hier hat die Klägerin mit der Formulierung ihres Beweisantrags entgegen § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO in entsprechender Anwendung schon kein bestimmtes Beweismittel bezeichnet. Es ist auch nicht ohne weiteres erkennbar, mit welchem Beweismittel die von ihr mit dem Beweisantrag aufgestellte Behauptung verifiziert werden könnte. Zwar dürfte es der Klägerin um die Einholung eines Sachverständigengutachtens gehen und ist ferner die namentliche Benennung eines Sachverständigen nicht geboten. Auch spricht einiges dafür, dass hinsichtlich des mit „insbesondere“ eingeleiteten Teilaspekts der Beweisfrage die Einholung eines medizinischen und/oder pharmazeutischen Sachverständigengutachtens begehrt wird. Allerdings ist gänzlich unklar und von der Klägerin auch nicht weiter in der mündlichen Verhandlung thematisiert worden, welche weiteren Aspekte sie mit der umfassender formulierten Beweisfrage geklärt haben möchte und welche Einrichtungen, Institutionen oder Wissenschaftler welcher Fachrichtung insoweit über Erkenntnisse verfügen könnten.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Ferner handelt es sich bei der Tatsache, dass die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information (zu dem streitgegenständlichen Produkt) vermittelt, um eine unsubstantiierte, ohne tatsächliche Anhaltspunkte aufgestellte Behauptung. Denn die Beteiligten haben sich im erstinstanzlichen Verfahren darauf verständigt, dass in einer maximalen Einzeldosis von 2,3 ml Hustentropfen maximal 2,16 mg Ethanol enthalten sind, weshalb - wie oben ausgeführt - die Angabe „ohne Alkohol (Ethanol)“ pharmazeutisch unzutreffend ist. Die bloße Behauptung, es handle sich lediglich um wenige Moleküle an Ethanol, bietet keine tatsächliche Grundlage dafür, dass entgegen den erstinstanzlichen Erklärungen die Hustentropfen kein Ethanol mehr enthalten.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Was die Angabe „ohne Zuckerzusatz“ angeht, ist die Beweistatsache als erwiesen und damit nicht mehr beweisbedürftig anzusehen, § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 StPO analog. Dass dieser Hinweis inhaltlich zutrifft und damit keine medizinisch-pharmazeutisch fehlerhafte Information vermittelt, steht nicht im Streit und hat der Senat auch angenommen.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Abgesehen davon ist der Beweisantrag deshalb abzulehnen, weil er hinsichtlich des Beweisthemas unzulässig ist. Er ist nicht auf die Ermittlung einer Tatsache, sondern auf die Beantwortung einer Rechtsfrage gerichtet, die einer Beweiserhebung nicht zugänglich, sondern durch das Gericht zu beantworten ist (vgl. § 244 Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO analog).</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1988 ‑ 2 BvR 1324/87 -, BayVBl. 1988, 268 = juris Rn. 14; OVG NRW, Beschluss vom 23. September 2009 - 13 A 987/09 -, juris Rn. 15; Julius, in: Gercke/ Julius/ Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Auflage 2019, § 244 Rn. 28 und 45.</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Mit dem benannten Beweisthema, ob die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ mit der Anwendung des streitgegenständlichen Produkts im Zusammenhang stehen und für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind, werden exakt die in § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG genannten Tatbestandsvoraussetzungen wiedergegeben. Ob die Angaben „ohne Alkohol (Ethanol)/ohne Zuckerzusatz“ diese im Streitfall erfüllen, ist nicht durch eine Beweiserhebung zu ermitteln, sondern durch das Gericht zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">2. Die Auflagen F3. und F4., wonach in den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation die Hinweise zum fehlenden Alkohol/Ethanol zu streichen sind, stellen sicher, dass die Packungsbeilage den Vorschriften des § 11 AMG (§ 28 Abs. 2 Nr. 2 AMG) und die Fachinformation den Vorschriften des § 11a AMG entspricht (§ 28 Abs. 2 Nr. 2a AMG).</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Dass die Auflage F3. in den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation die Streichung des Hinweises „…enthält keinen Alkohol“ fordert, der Wortlaut der eingereichten Texte aber „enthalten kein Alkohol (Ethanol)“ in der Gebrauchsinformation und „enthalten kein Ethanol“ in der Fachinformation lautet, ist unerheblich. Dass die Beklagte die Streichung dieser Texte fordert, lässt sich dem Bescheid zweifelsfrei entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Die beanstandeten Hinweise, bei denen es sich nicht um Pflichtangaben handelt, sind unzulässig. Weitere Angaben in der Packungsbeilage (§ 11 Abs. 1 Satz 7 AMG) und der Fachinformation (§ 11a Abs. 1 Satz 6 AMG) sind - soweit sie nicht (wie hier) durch eine Verordnung der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union vorgeschrieben oder bereits nach einer solchen Verordnung zulässig sind - zulässig, soweit sie mit der Anwendung des Arzneimittels im Zusammenhang stehen, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten wichtig sind und den Angaben nach § 11a AMG nicht widersprechen.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Die tatbestandlichen Voraussetzungen entsprechen damit denen des § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG. Zulässig sind nur gebrauchssichernde Informationen.</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Vgl. Pannenbecker, in: Kügel/Müller/Hofmann, a. a. O., § 11 Rn. 52, § 11a Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Bei der an die Patienten gerichteten Packungsbeilage ergibt sich dies auch daraus, dass ihr der Zweck zukommt, eine sachgerechte Anwendung des Arzneimittels zu gewährleisten. Sie soll dem Patienten alle Informationen geben, die für eine ordnungsgemäße Anwendung des Arzneimittels und die mit der Anwendung verbundenen Risiken von Bedeutung sind.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kloesel/Cyran, a. a. O., § 11 Anm. 1 und 82; Fuhrmann, in: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, a. a. O., § 8 Rn. 9.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">In ähnlicher Weise kommt der an das heilberuflich tätige Fachpublikum adressierten Fachinformation die Funktion zu, den Fachkreisen die für eine sichere Anwendung des Arzneimittels notwendigen wissenschaftlichen Informationen zu geben.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kloesel/Cyran, a. a. O., § 11a Anm. 2.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Die restriktive Zulassung weiterer Angaben soll auch bei der Gebrauchs- und Fachinformation verhindern, dass die Verwender von den Pflichtinformationen abgelenkt werden. Dies gilt nicht nur für die Packungsbeilage, sondern auch für die Fachinformation. Auch sie ist auf die Anwendung des Arzneimittels bezogen. Zulässig sind etwa solche Angaben, mit denen die Wirkungsweise des Arzneimittels nachvollzogen werden kann. Angaben, die keinen Zusammenhang mit dem therapeutischen Einsatz des Arzneimittels aufweisen, gehören hingegen nicht in die Fachinformation.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 ‑ 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 13 ff.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend sind die Hinweise in der Gebrauchs- und Fachinformation nicht nach § 11 Abs. 1 Satz 7 AMG und § 11a Abs. 1 Satz 6 AMG als weitere Angaben zulässig. Es gelten die Ausführungen zu § 10 Abs. 1 Satz 5 AMG entsprechend, auf die Bezug genommen wird (siehe Ziff. II.1.a).</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Bei der Fachinformation fällt zudem besonders ins Gewicht, dass der Hinweis, es sei kein Ethanol enthalten, pharmazeutisch unzutreffend ist. Denn für die entsprechend vorgebildeten Fachkreise ist die Information, es sei kein Ethanol enthalten, für die gesundheitliche Aufklärung der Patienten nicht hilfreich, wenn gleichzeitig erkennbar ist, dass Ethanol als Auszugsmittel verwendet wurde. Auch hier gilt, dass wichtig für die Anwendung des Arzneimittels nur die Angabe sein kann, dass die im Arzneimittel enthaltene Restmenge an Ethanol so gering ist, dass sie keine wahrnehmbaren und damit auch keine gesundheitlichen Auswirkungen hat.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Sollte der Hilfsbeweisantrag auch auf die beanstandeten Angaben in der Gebrauchs- und Fachinformation zielen, gelten die obigen Ausführungen hier entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">III. Die angefochtenen Auflagen sind auch frei von Ermessensfehlern. Nach § 28 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 2a AMG „kann“ das BfArM bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen Auflagen erteilen.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Ein Entschließungsermessen kommt der Behörde insoweit aber schon nicht zu. Ist die Auflage - wie hier - erforderlich, um die Übereinstimmung der Kennzeichnung, der Packungsbeilage und der Fachinformation mit den gesetzlichen Vorgaben sicherzustellen, besteht die Verpflichtung zur Anordnung einer Auflage.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 27 f., vorausgehend ausführlich dazu OVG NRW, Urteil vom 7. November 2018 - 13 A 3140/17 -, juris Rn. 64 ff.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Auf die Feststellung einer konkreten Gefährdung kommt es nicht an. Ebenso wenig bedarf es einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die etwa die wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahme für den pharmazeutischen Unternehmer in den Blick nimmt.</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Es ist deshalb auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zu prüfen, ob das BfArM die Streichung vergleichbarer Hinweise auch gegenüber anderen pharmazeutischen Unternehmen angeordnet hat bzw. dies beabsichtigt. Ob auch eine Verpflichtung der Beklagten zur Anordnung nachträglicher Auflagen gem. § 28 Abs. 1 Satz 4 AMG in Altfällen besteht, die nicht aus Anlass eines Verlängerungsantrags oder im Rahmen einer Änderungsanzeige zur Prüfung stehen, ist daher ebenfalls unerheblich.</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 3 C 22.18 -, a. a. O., juris Rn. 30 f.</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Davon abgesehen hat die Beklagte im Berufungsverfahren mitgeteilt, dass sie in Zulassungs- oder Verlängerungsverfahren oder bei Änderungsanzeigen entsprechende „frei von“-Hinweise im Rahmen von Anhörungen oder Widerspruchsverfahren beanstande und dies von der pharmazeutischen Industrie ganz überwiegend akzeptiert werde. Für eine Ungleichbehandlung ist damit auch nichts ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Die Ausübung des Auswahlermessens ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Es ist nicht ersichtlich, wie den Verstößen gegen die Vorgaben der §§ 10, 11 und 11a AMG anders abgeholfen werden könnte als durch eine Streichung der Hinweise. Ermessensfehler sind auch nicht erkennbar, soweit nach der Auflage F3. der Hinweis in den Texten für die Packungsbeilage und die Fachinformation durch den Hinweis „Das Ethanol des Auszugsmittels wurde weitestgehend entfernt.“ ersetzt werden kann. Die Klägerin wird zur Aufnahme dieses Hinweises nicht verpflichtet („kann“). Vielmehr ist er als bloßer Formulierungsvorschlag zu verstehen, der dem Anliegen der Klägerin Rechnung tragen soll, etwaigen Fehlvorstellungen von Patienten und Fachpersonal infolge der Pflichtangaben zum Ethanol entgegenzuwirken. Dies wird bestätigt durch die Ausführungen im Widerspruchsbescheid, wonach es sich um einen „Textvorschlag“ handele, der im Rahmen der weiteren Angaben unterhalb der Pflichtangaben „aufgeführt werden könnte“.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist zuzulassen, da die Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO grundsätzliche Bedeutung hat. Die Zulässigkeit von „ohne Alkohol“- und „ohne Zuckerzusatz“-Hinweisen sowie vergleichbaren weiteren Angaben, dabei vorgelagert insbesondere die Frage nach dem Verständnis des Art. 62 Richtlinie 2001/83/EG und ggf. einer unionsrechtskonformen erweiternden Auslegung der §§ 10 Abs. 1 Satz 5, 11 Abs. 1 Satz 7, 11a Abs. 1 Satz 6 AMG, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht geklärt und voraussichtlich für eine Vielzahl von Fällen von Bedeutung.</p>
346,621
vg-koln-2022-08-30-19-l-84022
{ "id": 844, "name": "Verwaltungsgericht Köln", "slug": "vg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 L 840/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-20T10:01:50"
"2022-10-17T11:10:18"
Beschluss
ECLI:DE:VGK:2022:0830.19L840.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>1. Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>    Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, ihn zu einem Anteil von 60% auf die Leitstelle 371/12 umzusetzen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Er ist zulässig, aber unbegründet. Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch – d.h. ein subjektiv-öffentliches Recht auf das begehrte Verwaltungshandeln – und einen Anordnungsgrund – die Eilbedürftigkeit – glaubhaft gemacht hat, §§ 123 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO. Wird mit dem Antrag – wie hier – die Vorwegnahme der Hauptsache begehrt, kommt diese im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise aus Gründen effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) in Betracht, nämlich dann, wenn das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache für den Antragsteller schlechthin unzumutbar wäre. Dies setzt unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs voraus, dass das Rechtsschutzbegehren in der Hauptsache schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich anzustellenden summarischen Prüfung bei Anlegung eines strengen Maßstabes an die Erfolgsaussichten erkennbar Erfolg haben wird. Außerdem muss der Antragsteller - im Rahmen des Anordnungsgrundes - glaubhaft machen, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">St. Rspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.09.2017 – 1 WDS-VR 4.17 –, juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist entgegen der Auffassung des Antragstellers auch gegeben, denn die Frage der Vorwegnahme der Hauptsache bezieht sich auf die Verwirklichung des mit dem Antrag geltend gemachten Begehrens und nicht darauf, ob die Antragsgegnerin die streitgegenständliche Maßnahme auch zu einem späteren Zeitpunkt umsetzen kann.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Auf dieser Grundlage hat der Antragsteller schon einen Anordnungsanspruch für die begehrte Untersagung seiner Umsetzung nicht glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Umsetzungsverfügung vom 24.08.2022 ist weder offensichtlich formell noch offensichtlich materiell rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Umsetzungsverfügung ist offensichtlich formell rechtmäßig. Die Gleichstellungsbeauftragte wurde nach § 18 LGG NRW beteiligt. Auch der Personalrat hat der Umsetzung am 24.08.2022 gemäß §§ 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, 66 LPVG NRW zugestimmt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Umsetzung ist auch nicht offensichtlich materiell rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Umsetzung eines Beamten ist die das statusrechtliche und das funktionelle Amt im abstrakten Sinn unberührt lassende Zuweisung eines anderen Dienstpostens (funktionelles Amt im konkreten Sinn) innerhalb der Behörde. Die darin liegende Organisationsentscheidung des Dienstherrn hat der Beamte auf Grund seiner allgemeinen Gehorsamspflicht (vgl. § 35 Satz 2 BeamtStG, § 58 LBG NRW) zu befolgen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 28.06.2013 – 1 B 1373/12 –, juris Rn. 10 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gegen die Entziehung dienstlicher Aufgaben bzw. des innegehabten Dienstpostens ist der Beamte in erheblich geringerem Maße rechtlich geschützt als gegen die Entziehung des Amtes im statusrechtlichen Sinne (etwa durch Beendigung des Beamtenverhältnisses) und auch des funktionellen Amtes im abstrakten Sinn (etwa durch Versetzung). Er hat zwar Anspruch auf Übertragung eines seinem Amt im statusrechtlichen Sinn entsprechenden funktionellen Amtes, eines „amtsgemäßen Aufgabenbereichs“. Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gemäß Art. 33 Abs. 5 GG umfassen jedoch nicht ein Recht des Beamten auf unveränderte und ungeschmälerte Ausübung des ihm übertragenen Dienstpostens. Der Beamte muss vielmehr eine Änderung seines dienstlichen Aufgabenbereichs durch Umsetzung oder andere organisatorische Maßnahmen nach Maßgabe seines Amtes im statusrechtlichen Sinn hinnehmen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 28.06.2013 – 1 B 1373/12 –, juris Rn. 12 f. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Danach kann der Dienstherr aus jedem sachlichen Grund den Aufgabenbereich des Beamten ändern, solange diesem ein amtsangemessener Aufgabenbereich verbleibt. Besonderheiten des bisherigen Amtes, wie z.B. eine Vorgesetztenfunktion, Leitungsbefugnisse, Beförderungsmöglichkeiten oder ein etwaiges gesellschaftliches Ansehen, haben dabei keine das Ermessen des Dienstherrn bei der Änderung des Aufgabenbereichs einschränkende Wirkung. Die Ermessenserwägungen des Dienstherrn können daher verwaltungsgerichtlich im Allgemeinen nur daraufhin überprüft werden, ob sie durch Ermessensmissbrauch maßgebend geprägt sind. Danach bleibt die Prüfung grundsätzlich darauf beschränkt, ob die Gründe des Dienstherrn seiner tatsächlichen Einschätzung entsprachen und nicht nur vorgeschoben sind, um eine in Wahrheit allein und maßgebend auf anderen Beweggründen beruhende Entscheidung zu rechtfertigen, oder ob sie aus anderen Gründen willkürlich sind. Eine Einengung des Ermessens ist auf besonders gelagerte Verhältnisse beschränkt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 28.06.2013 – 1 B 1373/12 –, juris Rn. 14 f. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Für den Rechtsschutz gegen eine (rechtswidrige) Umsetzung ist zu unterscheiden, in welcher Hinsicht die Umsetzung fehlerbehaftet ist; (nur) insoweit kann der Beamte beanspruchen, dass der ihn belastende Fehler ausgeräumt wird. So kann der Entzug des bisherigen Dienstpostens fehlerhaft sein und deshalb einen Anspruch auf Rückübertragung dieses Dienstpostens auslösen, ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der Umsetzung im Übrigen ankäme. Es kann aber auch die Entbindung von den bisherigen Dienstaufgaben rechtsfehlerfrei sein und (nur) die Übertragung des neuen Dienstpostens schützenswerte Rechte des Beamten, insbesondere seinen Anspruch auf amtsangemessene Beschäftigung, verletzen; sein Anspruch beschränkt sich dann auf eine neue ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen dienstlichen Einsatz.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 21.03.2019 – 6 B 1459/18 –, juris Rn. 11 f. m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes ist die Umsetzungsentscheidung rechtsfehlerfrei.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Sie erfolgte nicht aus sachwidrigen Gründen, denn ein sachlicher, dienstlicher Grund für die Umsetzung liegt in der desolaten Personalsituation bei der Leitstelle 371/12, die die Sicherstellung des gesetzlich erforderlichen Leitstellenbetriebs (§ 7 RettG NRW, § 28 BHKG NRW) gefährdet.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin hat ihr Ermessen auch im Übrigen nicht missbräuchlich ausgeübt. Soweit der Antragsteller vorträgt, mit der Umsetzung werde ihm die Möglichkeit genommen sich auf Beförderungsmöglichkeiten als Löschbootführer zu bewerben, dringt er damit nicht durch, denn Beförderungsmöglichkeiten schränken das Ermessen der Beklagten bei der Umsetzung von vorneherein nicht ein.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg wendet der Antragsteller in diesem Zusammenhang auch ein, der „Entzug“ der Möglichkeit des Erlangens des Löschbootpatentes sei an dem Leistungsgrundsatz zu messen. Mit der Zulassung zur Ausbildung zum Löschbootführer bzw. der Umsetzung zur Feuerwache 00 hat der Antragsteller keine schutzwürdige Rechtsposition erlangt, die an Art. 33 Abs. 2 GG zu messen wäre. Der Antragsteller wurde zur Ableistung der Ausbildung gleichwertig zur Feuerwache 00 umgesetzt. Nach Erlangung des Patents kann er sich zwar auf höherwertige Stellen als Löschbootführer bewerben. Die Auswahlentscheidung für ein höherwertiges Amt wird aber erst zu diesem Zeitpunkt getroffen und ist damit nicht „vorverlagert“.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin hat den Umstand, dass der Antragsteller sich noch in der Ausbildung zur Erlangung des Löschbootpatents befindet, im Übrigen hinreichend in ihrer Entscheidung berücksichtigt. Sie hat sich über die Anforderung an die Ableistung der erforderlichen praktischen Ausübung der Binnenschifffahrt bei der zuständigen Behörde informiert und dementsprechend den Antragsteller mit 40 % seiner Arbeitskraft auf seinem alten Dienstposten bei der Feuerwache 00 belassen. Sie hat die Interessen des Antragstellers damit ausreichend in ihre Erwägungen miteingestellt. Selbst wenn der Antragsteller das Löschbootpatent aber erst nach längerer Zeit erwerben oder gegebenenfalls gar nicht erlangen könnte, würde dies die Umsetzungsentscheidung nicht rechtsfehlerhaft machen. Der Antragsteller hat keinen unbedingten Anspruch darauf, dass er die Ausbildung zum Löschbootführer beenden kann. Die Antragsgegnerin kann vielmehr anderen Belangen im Rahmen ihres Ermessens den Vorzug geben. Danach kommt es nicht darauf an, ob der Antragsteller mit einem Stellenanteil von 40 % die praktische Ausübung der Binnenschifffahrt für das Löschbootpatent in der vorgegebenen Zeit ableisten kann. Davon unabhängig dürfte die praktische Ausbildung des Antragstellers nicht die von ihm geschilderte Maximalzeit von 7,5 Jahren dauern, da er seine Ausbildung bereits im Mai 2020 begonnen hat und daher nur für den ab dem 17.09.2022 bestehenden Ausbildungsteil die praktische Ausbildung strecken muss.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller dringt auch nicht damit durch, die Antragsgegnerin habe den Bedarf an der Ausbildung von Löschbootführern zur Deckung des diesbezüglichen Personalbedarfs nicht in ihre Abwägung miteingestellt. Auf diesen im öffentlichen Interesse bestehenden Belang kann der Antragsteller sich bereits nicht berufen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Auch ein Anordnungsgrund ist zu verneinen. Bei Umsetzungsverfügungen ist zunächst grundsätzlich zu berücksichtigen, dass diese jederzeit rückgängig gemacht werden bzw. abgeändert werden können. Ein endgültiger Rechtsverlust kann insofern bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens grundsätzlich nicht eintreten.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 14.01.2009 – 1 B 1286/08 –, juris Rn. 17.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Eine andere Bewertung ergibt sich vorliegend auch nicht daraus, dass der Antragsteller dadurch gegebenenfalls die begonnene Ausbildung zum Löschbootführer nicht abschließen kann. Dies stellt keinen schweren und unzumutbaren Nachteil dar. Der Abbruch der Ausbildung ist dem Antragsteller nicht unzumutbar. Er kann die Ausbildung bei der auch von der Antragsgegnerin angestrebten Rückumsetzung nach Ablauf von drei Jahren wieder aufnehmen und auf dem bereits erworbenen Wissen aufbauen.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Da der Antragsteller mit seinem Antrag die Vorwegnahme der Hauptsache begehrt, hat die Kammer von einer Reduzierung des für das Hauptsacheverfahren anzusetzenden Streitwertes abgesehen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
346,547
ovgnrw-2022-08-30-7-b-92522
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7 B 925/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:29"
"2022-10-17T11:10:06"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0830.7B925.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750.- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Gründe für eine Änderung der angefochtenen Entscheidung, mit der es das Verwaltungsgericht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung der Klage 3 K 278/22 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 21.6.2021 anzuordnen, hat die Antragstellerin nicht dargetan. Der Senat ist dabei nach § 146 Abs. 4 VwGO grundsätzlich auf die Prüfung des innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist erfolgten Vorbringens beschränkt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Einwand der Antragstellerin, das Feuerwehrgerätehaus sei nach der Erweiterung nicht gebietsverträglich, die vom Bundesverwaltungsgericht dafür geforderte Funktion sei nicht gegeben, der Brandschutzplan gebe zur Frage des effektiven Brandschutzes in der näheren Umgebung nichts her, diese Frage hätte aufgeklärt werden müssen, bleibt erfolglos.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat für den Fall, dass es sich bei der maßgeblichen näheren Umgebung um ein faktisches Dorfgebiet handeln sollte, die Gebietsverträglichkeit des Feuerwehrgerätehauses als Anlage für Verwaltungen bejaht. Dem ist die Antragstellerin mit ihrem Vorbringen nicht entgegen getreten. Aber auch dann, wenn zugunsten der Antragstellerin die maßgebliche nähere Umgebung des Vorhabens als faktisches allgemeines Wohngebiet einzustufen wäre, ergäbe sich nichts anderes. Das ist nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Ein Feuerwehrgerätehaus, das nach Größe und Ausstattung maßgeblich auch dem effektiven Brandschutz in der näheren Umgebung dient, ist im allgemeinen Wohngebiet gebietsverträglich.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.3.2022 - 4 C 6.20 -, juris.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach den vom Verwaltungsgericht anhand der Aktenlage getroffenen Feststellungen dient das Feuerwehrgerätehaus auch nach seiner Erweiterung dem Unterstellen von zwei Einsatzfahrzeugen. Aus der "Allgemeinen Anlage" zum Bauantrag ergebe sich, dass der Anbau nichts an der Zahl der Einsatzfahrzeuge vor Ort sowie der Anzahl der erforderlichen Stellplätze ändere. Dass eine Feuerwache der freiwilligen Feuerwehr mit - lediglich - zwei Einsatzfahrzeugen nicht zumindest "auch" dem effektiven Brandschutz in der näheren Umgebung dient, hat die Antragstellerin nicht dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin geltend macht, die Umsetzung der angefochtenen Baugenehmigung führe zu einem insgesamt bedrängenden Bild ihres 1984 unter Denkmalschutz gestellten Hofes als Gesamtensemble, rechtfertigt auch dieses Vorbringen kein anderes Ergebnis. Ein von der Antragstellerin damit in der Sache geltend gemachter vorhabenbedingter Eingriff in den denkmalrechtlichen Umgebungsschutz ist hier nicht erkennbar und auch nicht hinreichend dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Als Erscheinungsbild eines Denkmals ist nach § 9 Abs. 1 Buchst. b DSchG NRW a. F. der von außen sichtbare Teil des Denkmals geschützt, an dem jedenfalls der sachkundige Betrachter den Denkmalwert, der dem Denkmal innewohnt, abzulesen vermag; das Erscheinungsbild ist von Vorhaben in der engeren Umgebung des Denkmals nur dann betroffen, wenn die Beziehung des Denkmals zu seiner engeren Umgebung für den Denkmalwert von Bedeutung ist. Zur Ermittlung des Denkmalwertes im Einzelfall ist in erster Linie auf die Eintragung in der Denkmalliste und die ihr beigefügte Begründung abzustellen. Ein subjektives Recht des Denkmaleigentümers, die Baugenehmigung eines benachbarten Vorhabens anzufechten, setzt voraus, dass der nach diesen Maßstäben ermittelte Denkmalwert durch das angegriffene Vorhaben erheblich beeinträchtigt wird.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu namentlich OVG NRW, Urteil vom 8.3.2012 - 10 A 2037/11 -,  BRS 79 Nr. 210 = BauR 2012, 1781.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen dürfte dem denkmalgeschützten Eigentum der Antragstellerin kein Umgebungsschutz zustehen, der durch das Vorhaben der Beigeladenen erheblich beeinträchtigt wird. Der Eintragung in die Denkmalliste und ihrer Begründung lässt sich lediglich entnehmen, dass das als Baudenkmal eingetragene Fachwerkhaus in Weilerswist-Metternich in unmittelbarer Nähe zur Kirche und Burg N.          eine städtebaulich bedeutende Position einnimmt und bedeutend für die Geschichte des Menschen ist. Seine Erhaltung liegt danach aus architekturgeschichtlichen, volkskundlichen und städtebaulichen Gründen im öffentlichen Interesse. Dass über das eigentliche Fachwerkhaus hinaus auch dessen Beziehung zu seiner Umgebung zum Erhalt des Denkmalwertes des Baudenkmals unter Schutz gestellt wird, lässt sich dieser Eintragung nicht entnehmen. Dass die - von dem Grundstück der Antragstellerin aus betrachtete rückwärtige - Erweiterung des Feuerwehrgerätehauses das Erscheinungsbild des Baudenkmals selbst beeinträchtigen könnte, hat die Antragstellerin im Übrigen auch nicht dargelegt. Dies gilt auch hinsichtlich des von der Antragstellerin thematisierten Zusatzscheinwerfers, der massiv das denkmalgeschützte Hotelensemble beeinträchtige. Das folgt schon daraus, dass ein "Zusatzscheinwerfer" nach den vorliegenden Verwaltungsvorgängen nicht Genehmigungsgegenstand ist.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ob die verfahrensmäßige Beteiligung der zuständigen Denkmalschutzbehörde und ggf. die Erteilung einer denkmalrechtlichen Erlaubnis erforderlich gewesen wären, ist unter dem Blickwinkel des Nachbarrechtsschutzes nicht entscheidungsrelevant.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Verweis der Antragstellerin auf § 9 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW 2018 und die Gesetzesbindung der Verwaltung verfängt nicht. Diese Regelung dient ausschließlich dem öffentlichen Interesse und nicht dem Nachbarschutz.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. Henke in Spannowsky/Saurenhaus, BeckOK, Bauordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, 11. Edition, § 9 Rn. 26.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand, das Verwaltungsgericht habe die Grundsätze über das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme fehlerhaft angewandt. Die Antragstellerin macht dazu geltend, nach Abschluss der genehmigten Bauarbeiten sei mit um ein Vielfaches höheren Lärmimmissionen sowie mit einer Ausweitung des Fuhrparks zu rechnen, es werde erkennbar mehr Fahrzeuge, mehr Personal und deshalb mehr Verkehr geben, das Verwaltungsgericht gehe ohne Begründung davon aus, dass sich der Fuhrpark nicht vergrößere. Entgegen diesem Vorbringen hat das Verwaltungsgericht zugrunde gelegt, mit dem genehmigten An- und Umbau des vorhandenen Feuerwehrgerätehauses dürften keine neuen und lärmintensiveren Betriebsabläufe verbunden sein. So hat es ausgeführt, der "Allgemeinen Anlage" zum Bauantrag sei zu entnehmen, dass der Anbau nichts an den Einsatzfahrzeugen vor Ort ändere. Durch die Erweiterung und den Umbau des Feuerwehrgerätehauses erhöhe sich deshalb auch nicht die Anzahl der erforderlichen und vorhandenen Stellplätze, die sich nach der Anzahl der Sitzplätze in den Einsatzfahrzeugen bemesse. Ausweislich des Brandschutzbedarfsplans der Beigeladenen für die Jahre 2019 - 2024 erfolge der Umbau vielmehr ersichtlich zur Beseitigung von diversen Missständen. Diese der Aktenlage entsprechenden Annahmen hat die Antragstellerin mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht erschüttert.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin geltend macht, mit dem Vorhaben werde zumindest der bisherige und nach ihrem Dafürhalten schon im Bestand rechtswidrige Zustand manifestiert, fehlt es an der Darlegung eines Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Der Senat verweist zur Begründung auf die umfangreichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Beschluss. Dort hat es u. a. ausgeführt, das Störpotential des Feuerwehrgerätehauses beschränke sich nach der zum Gegenstand der Baugenehmigung gemachten Betriebsbeschreibung lediglich auf Nutzungen, die nach Dauer und Art es praktisch ausgeschlossen erscheinen ließen, dass es zu unzumutbaren Lärmeinwirkungen auf dem Grundstück der Antragstellerin kommen werde. Im Hinblick auf die Einsatzfahrten unter Alarmbedingungen mit Licht- und Tonsignal sei aufgrund der besonderen Funktion der Freiwilligen Feuerwehr von einer gesteigerten sozialen Adäquanz der durch sie verursachten Betriebsgeräusche vor allem bei Alarmausfahrten auszugehen. Letztere Annahme beruht auf der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein Westfalen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Aspekt der sozialen Adäquanz der mit einem Standort der Freiwilligen Feuerwehr verbundenen Geräuschimmissionen: OVG NRW, Urteil vom 23.9.2019 - 10 A 1114/17, juris, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zudem hat das Verwaltungsgericht darauf verwiesen, dass nach den unbestrittenen Angaben der Beigeladenen es nur zu sehr wenigen Einsatzfahrten zu den besonders lärmempfindlichen Nachtstunden komme, nämlich im Jahr 2019 elf sowie 2019 und 2021 jeweils sechs nächtliche Einsätze. Dem ist die Antragstellerin auch mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht entgegengetreten.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da sie im Beschwerdeverfahren keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
346,546
ovgnrw-2022-08-30-1-a-341420
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1 A 3414/20
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-14T10:01:29"
"2022-10-17T11:10:06"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0830.1A3414.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf die Wertstufe bis 3.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">I. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers auf rückwirkende Zahlung der sog. Polizeizulage ab dem 22. März 2012 mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung der sog. Polizeizulage. Der ablehnende Bescheid der Generalzolldirektion L.    vom 27. Februar 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2019 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem geltend gemachten Anspruch des Klägers stehe die (noch verbliebene) Bestandskraft des Bescheides der Bundesfinanzdirektion X.    vom 11. April 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2015 entgegen, mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung der sog. Polizeizulage für die Zeit ab dem 22. März 2012 bereits abgelehnt habe. Diese Bescheidung entspreche dem Antrag des Klägers vom 20. Januar 2014, wie die Beklagte ihn habe verstehen dürfen. Schon dessen Wortlaut sei eine Beschränkung auf die Zeit ab dem 1. Januar 2014 nicht zu entnehmen. Zudem beziehe der Antrag sich ausdrücklich auf die zum 22. März 2012 erfolgte Rechtsänderung. Auch in Reaktion auf den Ablehnungsbescheid habe der Kläger in der Widerspruchsbegründung vom 24. September 2014 dieses Verständnis des Antrags nicht in Abrede gestellt. Erst im Rahmen der mündlichen Verhandlung in dem zugehörigen Verfahren VG Münster 5 K 1182/15 am 29. April 2016 habe der Kläger seinen zunächst offen formulierten Klageantrag, ihm „die Polizeizulage zu zahlen“ auf den Zeitpunkt ab dem 1. Januar 2014 konkretisiert. Dieses Verständnis werde auch vom Kläger geteilt, der in der Klagebegründung vom 13. Januar 2020 erklärt habe, es habe zu jeglichem Zeitpunkt, insbesondere auch für die Beklagte, unstreitig festgestanden, dass Regelungsgegenstand die Rückwirkung der Auszahlung ab dem 22. März 2012 gewesen sei. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, weil stets streitig gewesen sei, ob die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung vorgelegen hätten, nicht jedoch aber der Zeitraum. Der Annahme einer teilweisen Bestandskraft stehe auch nicht entgegen, dass das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 29. April 2016 – 5 K 1182/15 – den Bescheid der Bundesfinanzdirektion X.    vom 11. April 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2015 aufgehoben und der Senat mit Urteil vom 16. Februar 2018 – 1 A 1248/16 – die Berufung der Beklagten zurückgewiesen habe. Schon dem Tenor des erstinstanzlichen Urteils lasse sich entnehmen, dass sich die gerichtliche Aufhebung lediglich auf die Zeit ab dem 1. Januar 2014 beziehe. Dies werde anhand der zur Auslegung heranzuziehenden Urteilsgründe bestätigt. Ungeachtet dessen sei – nach dem vom Kläger selbst favorisierten Verständnis – der von der Beklagten beschiedene Streitgegenstand, der Zeitraum vom 22. März 2012 bis zum 31. Dezember 2013, zu keinem Zeitpunkt rechtshängig geworden. Über nicht rechtshängig gewordene Streitgegenstände könne nicht rechtskräftig entschieden werden. Auf die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob die Berufung der Beklagten auf die Einrede der Verjährung treuwidrig sei, komme es nicht an. Die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Wiederaufgreifen bzw. Wiederaufnahme des bestandskräftig abgeschlossenen Verfahrens habe, sei nicht Gegenstand des Verfahrens.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">II. Die Berufung hiergegen ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. Die Berufung kann gemessen hieran nicht wegen der zunächst geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger trägt zur Begründung des Zulassungsantrags vor, anders als vom Verwaltungsgericht angenommen, habe der Bescheid vom 11. April 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 16. April 2015 bezogen auf den Zeitraum vom 22. März 2012 bis zum 31. Dezember 2013 nicht in (Teil)Bestandskraft erwachsen können. Dieser Bescheid habe entweder nur den Zeitraum ab dem 1. Januar 2014 betroffen oder sei durch das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 29. April 2016 insgesamt aufgehoben worden oder der Eintritt der Bestandskraft sei wegen eines Verstoßes der Beklagten in der damaligen mündlichen Verhandlung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen. Damit dringt der Kläger nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a) Der die Zahlung der sog. Polizeizulage ablehnende Bescheid vom 11. April 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2015 betrifft unzweifelhaft auch den Zeitraum vom 22. März 2012 bis zum 31. Dezember 2013. Der Bescheid enthält den ausdrücklichen Hinweis, er ergehe auf den Antrag des Klägers, ihm die Stellenzulage ab dem 22. März 2012 zu gewähren. Die Beklagte durfte zwanglos davon ausgehen, dass der Kläger genau dies in dem Schreiben vom 20. Januar 2014 beantragen wollte. Eine andere Auslegung des Inhalts dieses Schreibens scheidet bei objektiver Betrachtung aus. Es trifft zwar zu, dass der Kläger bis zur mündlichen Verhandlung am 29. April 2016 keine konkreten Angaben zu dem gewünschten Anspruchszeitraum gemacht hat. Es ist aber abwegig mit der Zulassungsbegründung anzunehmen, es sei dem Kläger „vordergründig“ darum gegangen, das Bestehen des Anspruchs „grundsätzlich“ zu klären (wohl) mit der Folge, dass bis zur mündlichen Verhandlung am 29. April 2016 gar kein Zeitraum in Frage gestanden haben soll. Dass der Kläger von Anfang an eine rückwirkende Auszahlung der Zulage ab dem 22. März 2012 begehrte, folgt ohne weiteres daraus, dass er in seinem Antrag die ab diesem Tag geltende Neuregelung der Nr. 9 der Vorbemerkungen zu BBesO A/B (Anlage I zum BBesG) in Bezug genommen hat, und ausdrücklich um „Anweisung“, also um Zahlung, der Zulage gebeten hat. Der Kläger ist dem deutlichen Hinweis der Beklagten auch weder im Widerspruchsverfahren noch in dem anschließenden – auf Gewährung und damit auf Zahlung der Polizeizulage – gerichteten verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren entgegengetreten. Er hat im Gegenteil noch im vorliegenden Klageverfahren erstinstanzlich unter dem 13. Januar 2020 erklärt, auch, wenn er selbst nie angegeben habe, ab welchem Zeitpunkt er die Zahlungen verlange, sei zwischen ihm und der Beklagten immer unstreitig gewesen, dass es um eine Rückwirkung ab dem 22. März 2012 gegangen sei. Zu dieser eindeutigen Äußerung verhält sich die Zulassungsbegründung nicht. Es besteht kein Anlass, den Wahrheitsgehalt dieser ursprünglichen Äußerung des Klägers in Frage zu stellen. Sie war für die (damalige) Argumentation des Klägers, die Erhebung der Klage im August 2015 habe auch bezogen auf den Anspruchszeitraum ab dem 22. März 2012 den Eintritt der Verjährung gehemmt, wesentlich und unabdingbar. Der ohne jede Begründung davon abweichende Zulassungsvortrag, der Umstand, dass er den Anspruch zeitlich nie konkretisiert habe, bedinge, dass der Zeitraum ab dem 22. März 2012 nicht von dem Bescheid erfasst gewesen worden sei und damit auch nicht in Bestandskraft habe erwachsen können, ist ersichtlich ausschließlich dem geänderten rechtlichen Kontext des Urteils geschuldet und damit rein verfahrensangepasst.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">b) Die Beklagte hat den Bescheid vom 11. April 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2015 – anders als der Kläger wohl meint – in der mündlichen Verhandlung vom 29. April 2016 bezogen auf den Zeitraum vom 22. März 2012 bis zum 31. Dezember 2013 auch nicht aufgehoben. Es kann nicht im Ansatz davon die Rede sein, die Parteien seien sich in der mündlichen Verhandlung oder zu einem anderen Zeitpunkt einig gewesen, dass der angefochtene Bescheid sich nur (noch) auf den Zeitraum ab dem Jahr 2014 beziehe. Es ist vielmehr (erneut) abwegig anzunehmen, die Vertreterin der Beklagten habe mit dem Hinweis, der Kläger sei erst ab dem 1. Januar 2014 in einem Bereich verwendet worden, in dem vollzugspolizeilich geprägte Tätigkeiten wahrgenommen, würden, den Bescheid entsprechend abändern wollen. Für eine solche Vorgehensweise der Beklagten bestand kein vernünftiger Grund. Der Hinweis untermauert nämlich im Gegenteil gerade die Ansicht der Beklagten, dass ein Anspruch des Klägers (auch in dem Zeitraum vor dem 1. Januar 2014) nicht bestand und der ablehnende Bescheid (insoweit aus weiteren Gründen) rechtmäßig war. Die Klägervertreterin hat auch ersichtlich nicht einer (nicht erfolgten) Änderung des Bescheides Rechnung getragen. Sie ist vielmehr offenkundig der Einschätzung der Beklagtenvertreterin gefolgt, die Klage habe für den Zeitraum vor dem 1. Januar 2014 auch aus anderen Gründen keine Aussicht auf Erfolg, und hat die Klage entsprechend – so die Zulassungsbegründung – „begrenzt“. Der Kläger hat damit die ursprünglich umfassend erhobene Klage bezogen auf den Zeitraum vom 22. März 2012 bis zum 31. Dezember 2013 inzident zurückgenommen. Die Rechtshängigkeit des Anspruchs und damit wohl auch die Hemmung der Verjährung sind damit (insoweit) rückwirkend entfallen. Nach der teilweisen Klagerücknahme konnten die angefochtenen Bescheide im Urteil auch von vorneherein nur noch aufgehoben werden, soweit sie den (allein noch rechtshängigen) Zeitraum ab dem 1. Januar 2014 betrafen. Es ist unschädlich, dass dieser aus den Entscheidungsgründen ersichtliche Umstand im Tenor des Urteils vom 26. April 2016 nicht ausdrücklich ausgesprochen wurde. Ebenso kommt es nicht darauf an, dass das Verwaltungsgericht das Verfahren nach der teilweisen Klagerücknahme nicht (deklaratorisch) nach § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt und die entsprechenden Kosten dem Kläger auferlegt hat.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">c) Auch die Annahme des Klägers in der Zulassungsbegründung, die Beklagte habe gegen den Grundsatz von Treu und Glauben im Sinne des § 242 BGB verstoßen, indem sie durch eine falsche Angabe darauf hingewirkt habe, dass der Klageantrag begrenzt werde, und sich sodann auf das Argument zurückziehe, der Verwaltungsakt sei für den Zeitraum davor in Bestandskraft erwachsen, trifft nicht zu. Die Beklagte hat sich nicht treuwidrig oder widersprüchlich verhalten. Dass der angefochtene Bescheid vom 11. April 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2015 bezogen auf den Zeitraum vom 22  März 2012 bis zum 31. Dezember 2013 in Bestandskraft erwachsen ist, beruht damit nicht auf der (zutreffenden oder falschen) rechtlichen Einschätzung der Beklagten, sondern auf der freien Entscheidung des Klägers, sein Klagebegehren einzuschränken. Es stand dem Kläger ungeachtet der Frage, ob die Einschätzung der Beklagtenvertreterin richtig oder falsch war, frei, ob er der Einschätzung folgt, es fehle für den Zeitraum vor dem 1. Januar 2014 schon an der erforderlichen Verwendung des Klägers, und ob er sein Klagebegehren entsprechend anpasst. Wie oben dargestellt, konnte der Kläger jedenfalls nicht ernsthaft annehmen, die Beklagte halte bei der von ihr angenommenen Sachlage nicht (mehr) an der – aus ihrer Sicht noch zusätzlich bestätigten – Ablehnung fest.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. Die Berufung weist ist nach alledem auch nicht die von dem Kläger aus den in der Sache gleichen Gründen geltend gemachten besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">3. Die Berufung ist schließlich auch nicht wegen der noch geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Februar 2018– 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32, und vom 13. Oktober 2011 – 1 A 1925/09 –, juris, Rn. 31 f., m. w. N.; ferner Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 127, 142 ff., 149 und 151 ff.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">In Anwendung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger aufgeworfene Fragen, welchen Umfang der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten aus dem Jahr 2014 bzw. der Tenor des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 29. April 2016 – 5 K 1182/15 – haben, ist schon nicht grundsätzlicher Natur. Sie können nur – wie oben unter 1. a) und b) geschehen – anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls beantwortet werden. Nichts anderes gilt für die weitere Frage, wie das Verhalten der Beklagten (in der mündlichen Verhandlung vom 29. April 2016) zu bewerten ist, vgl. dazu oben unter 1. c).</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 GKG (je 133,75 Euro monatlich für den Zeitraum von März 2012 bis einschließlich Dezember 2013 = 22 Monate = 2.942,50 Euro).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
346,483
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19 E 463/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-08T10:01:24"
"2022-10-17T11:09:55"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0830.19E463.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Prozesskostenhilfebeschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin für das erstinstanzliche Klageverfahren zu Recht mit der Begründung abgelehnt, ihre beabsichtigte Klage habe keine hinreichende Erfolgsaussicht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zunächst ohne Rechtsfehler angenommen, eine noch zu erhebende Klage wäre wegen Versäumung der einmonatigen Klagefrist nach § 74 VwGO unzulässig. Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheid der Bezirksregierung vom 23. Februar 2022 wurde der Klägerin am 25. Februar 2022 zugestellt. Vor Ablauf der Klagefrist am 25. März 2022 hat die Klägerin keine Klage erhoben. Ebenfalls rechtsfehlerfrei ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Klägerin sei keine Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist nach § 60 VwGO zu gewähren. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann ‑ wie Verwaltungsgericht zutreffend ausführt ‑ nur gewährt werden, wenn eine Klägerin bis zum Ablauf der maßgeblichen Frist ein vollständiges Prozesskostenhilfegesuch mit allen dazugehörigen Unterlagen eingereicht hat. Denn nur unter diesen formellen Voraussetzungen hat die Partei alles getan, was von ihr zur Wahrung der Frist erwartet werden konnte, und ist es gerechtfertigt, die dennoch eingetretene Fristversäumnis als unverschuldet anzusehen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Beschluss vom 5. November 2013 ‑ 1 BvR 2544/12 ‑, NJW 2014, 681, juris, Rn. 10; BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2004 ‑ 6 PKH 15.03 ‑, DÖV 2004, 537, juris, Rn. 5 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 10. Januar 2022 ‑ 19 A 3054/21 ‑, juris, Rn. 6, und vom 1. März 2021 ‑ 19 A 252/21.A ‑, juris, Rn. 6.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Diese Anforderungen hat die Klägerin nicht erfüllt. Erst mit Schreiben vom 6. April 2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht am 8. April 2022, hat die Klägerin einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt. Entgegen ihrer Auffassung ist hingegen das Schreiben vom 21. März 2022, mit dem sie beim Verwaltungsgericht einen „Antrag auf Bewilligung von Beratungshilfe durch eine Beratungsperson vom Amtsgericht“ gestellt hat, kein derartiger Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Dies hat ihr der zuständige Mitarbeiter des Verwaltungsgerichts in seinem Schreiben vom 23. März 2022 ausdrücklich mitgeteilt und darauf hingewiesen, es werde beim Verwaltungsgericht nichts Weiteres veranlasst, die Klägerin solle sich mit dem Anliegen an das Amtsgericht wenden. Das Schreiben enthält den Zusatz, dass die Klägerin es ausdrücklich mitteilen solle, falls sie einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe stellen möchte. Eine solche ausdrückliche Antragstellung ist erst am 8. April 2022 erfolgt. Entgegen der Rüge der Beschwerde, das gerichtliche Schreiben vom 23. März 2022 enthalte keine Frist, hat das Verwaltungsgericht mit dem genannten Schreiben auch kein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin dahingehend begründet, eine förmliche Antragstellung sei ohne jegliche Fristeinhaltung möglich.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
346,478
olgce-2022-08-30-3-ws-38322
{ "id": 603, "name": "Oberlandesgericht Celle", "slug": "olgce", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
3 Ws 383/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-08T10:01:10"
"2022-10-17T11:09:55"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Sache wird zu neuer Entscheidung – auch über die Kosten und Auslagen des Beschwerdeverfahrens – an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Das Landgericht Hannover verurteilte den Beschwerdeführer am 12. Dezember 2019 wegen schwerer sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und mit Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Zugleich ordnete die Strafkammer die Sicherungsverwahrung an. Mit Beschluss vom 18. Mai 2020 verwarf der Bundesgerichtshof die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Beschwerdeführers mit der Maßgabe, dass die tateinheitliche Verurteilung wegen Bedrohung entfiel.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Seit dem 19. Mai 2020 befindet sich der Beschwerdeführer in Strafhaft, wobei die Freiheitsstrafe bis zum 23. Juni 2020 in der JVA H., im Anschluss bis zum 3. Mai 2021 in der JVA S. und seit dem 4. Mai 2021 wieder in der JVA H. vollstreckt wird. Zwei Drittel der Strafe werden am 25. Mai 2023 vollstreckt sein; als Strafende ist der 25. Mai 2025 notiert. Im Anschluss ist der Vollzug der Sicherungsverwahrung vorgesehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Mit dem angefochtenen Beschluss vom 10. Juni 2022 hat die 2. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover nach Einholung einer Stellungnahme der JVA H. vom 28. April 2022 festgestellt, dass die dem Verurteilten von der Vollzugsbehörde in dem Zeitraum vom 19. Mai 2020 bis zum 10. Juni 2022 angebotene Betreuung den gesetzlichen Anforderungen des § 66c Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprochen habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Gegen diesen Beschluss wendet sich der Verurteilte mit seiner Beschwerde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>1. Die Beschwerde des Verurteilten ist zulässig, insbesondere nach § 119a Abs. 5 StVollzG statthaft und rechtzeitig erhoben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>2. Sie hat auch in der Sache (zumindest vorläufigen) Erfolg und führt zur Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts sowie zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Denn der angefochtene Beschluss erweist sich als durchgreifend verfahrensfehlerhaft. Die tatsächlichen Feststellungen im Beschluss des Landgerichts genügen nicht den strengen gesetzlichen Anforderungen, im Verfahren der vollzugsbegleitenden gerichtlichen Kontrolle.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>a) Nach § 119a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 2 StVollzG ist in der gerichtlichen Entscheidung der Sach- und Streitstand seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt zusammenzustellen (§ 119a Abs. 6 S. 3 iVm § 115 Abs. 1 S. 2). Bei der Frage, welche Anforderungen an die Begründungstiefe der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zu stellen sind, ist in den Blick zu nehmen, dass nach § 119a Abs. 7 StVollzG alle Gerichte bei nachfolgenden Entscheidungen an die rechtskräftigen Feststellungen im Überprüfungsverfahren nach § 119a StVollzG gebunden sind. Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, dass der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer die Reichweite der Bindungswirkung aus der Begründung heraus entnommen werden kann. Es handelt sich bei der gesetzlichen Darstellungsverpflichtung nach § 119a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 2 StVollzG bereits deshalb nicht um eine die Qualität der juristischen Arbeitsweise charakterisierende Stilfrage, sondern um einen elementaren Verfahrensbestandteil (KG Berlin, Beschluss vom 25. Februar 2020 – 2 Ws 183/19 –, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Daher ist es erforderlich, dass die Gründe, die für die richterliche Überzeugungsbildung zum Sachverhalt und für dessen rechtliche Beurteilung maßgebend gewesen sind, in der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer so wiedergegeben werden, dass sie sowohl vom Betroffenen, der Vollzugsbehörde, als auch von künftigen Gerichten ohne aufwändige eigene Bemühungen erfasst und verstanden werden können (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 2 Ws 111/21 –, juris; KG Berlin, Beschl. v. 6. Dezember 2018 – 2 Ws 233/18 -, juris; BeckOK Strafvollzugsrecht Bund, Graf, 21. Edition, Stand: 01.02.2022, § 119a, Rn. 9). Hierzu gehört zunächst die Darstellung, auf welcher Grundlage die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten erfolgt ist (OLG Koblenz, Beschluss vom 6. Februar 2020 – 4 Ws 859/19 –, juris). Es bedarf weiter einer nachvollziehbaren Darstellung des Störungsbildes und der Defizite des Gefangenen, denen mit der Behandlung begegnet werden soll, der Wiedergabe des Ergebnisses der Behandlungsuntersuchung und aller – den Überprüfungszeitraum betreffenden – Vollzugspläne; soweit indizierte Betreuungsmaßnahmen nicht angeboten wurden oder angebotene Betreuungsmaßnahmen nicht umgesetzt werden konnten, sind die Gründe hierfür differenziert zu erläutern (vgl. KG Berlin a.a.O). Zur Zusammenstellung des Sach- und Streitstands gehört auch die Vorstellung der Person des Verurteilten, soweit sie für die Beurteilung der Behandlungsindikation und Therapieplanung erforderlich ist (OLG Koblenz a.a.O.). Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer nach § 119a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 StVollzG müssen insgesamt den Anforderungen genügen, die § 267 StPO an die Begründung strafrechtlicher Urteile stellt (Brandenburgisches Oberlandesgericht a.a.O., KG Berlin a.a.O.), und sind Bezugnahmen daher grundsätzlich nicht statthaft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>b) Den dargestellten Anforderungen wird der angefochtene Beschluss in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist bereits nicht zu entnehmen, warum gegen den Beschwerdeführer überhaupt die Maßregel der Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Die Beschlussgründe erschöpfen sich in einer kurzen Wiedergabe des der Verurteilung vom 12.12.2019 zugrundeliegenden Tatgeschehens sowie dem Hinweis, dass bei dem Verurteilten ein lange eingeschliffenes Verhaltensmuster vorliege und dieser Merkmale einer hoch ausgeprägten Psychopathie aufweise. Die erforderlichen Ausführungen zu § 66 Abs. 1 Nr. 2-4 StGB, mithin zu den Vorstrafen des Beschwerdeführers, zu der Frage, ob er in der Vergangenheit schon wegen Straftaten der in § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB genannten Art Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und warum die Gesamtwürdigung seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich war, fehlen jedoch gänzlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus mangelt es insgesamt an einer hinreichenden Darlegung der Person des Verurteilten, denn diese wäre hier erforderlich gewesen, um überhaupt eine Beurteilung der Behandlungsindikation und Therapieplanung vornehmen zu können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Der Beschluss lässt ferner eine hinreichende Wiedergabe der den Überprüfungszeitraum betreffenden Vollzugspläne vermissen. Insoweit erschöpfen sich die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer in einer nicht ausreichenden stichwortartigen Mitteilung der „im Vollzugsplan“ vorgesehenen Behandlungsziele und Behandlungsmaßnahmen sowie der Angabe, der Verurteilte sei mit der Vollzugsplankonferenz vom 16. März 2021 der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Hannover zugewiesen worden. Diese Schilderung legt zwar nahe, dass es sich insoweit um den ersten, nach Durchführung des Aufnahmeverfahrens erstellten Vollzugsplan handelte; die angefochtene Entscheidung lässt jedoch die Angabe vermissen, ob eine Fortschreibung des erwähnten Vollzugsplanes erfolgte und wenn ja, welchen Inhalt die Fortschreibung hatte. Dies wäre vorliegend erforderlich gewesen, denn es erscheint äußerst naheliegend, dass im maßgeblichen Prüfungszeitraum eine Fortschreibung des Vollzugsplanes erfolgte. Zwar ist den Beschlussgründen nicht zu entnehmen, welche Frist zur Fortschreibung des Vollzugsplanes durch die Justizvollzugsanstalt festgelegt wurde. § 9 Abs. 3 S. 2 NJVollzG enthält zudem keine gesetzliche Frist, innerhalb derer der Vollzugsplan fortzuschreiben ist. Dies bleibt vielmehr der Anstalt vorbehalten, die je nach Vollzugsdauer und Umständen des Einzelfalles die Überprüfungsfrist festzulegen hat (vgl. OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 04935). Insoweit wird jedoch teilweise eine Höchstfrist von nur 6 Monaten angenommen und nur bei sehr langen Haftstrafen wird eine Jahresfrist für angemessen erachtet (vgl. BeckOK Strafvollzug Nds/Gescher/Gittermann, 19. Ed. 1.3.2022, NJVollzG § 9 Rn. 23).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Es mangelt weiter an einer hinreichend präzisen Wiedergabe, welche Diagnose bei dem Verurteilten gestellt wurde und welche Persönlichkeitscharakteristika bei ihm vorliegen. Der pauschale Hinweis darauf, der Verurteilte weise Merkmale einer hoch ausgeprägten Psychopathie auf, ist unzureichend, denn der Beschluss lässt die Wiedergabe der entsprechenden Urteilsausführungen ebenso vermissen wie die Mitteilung der genauen Ergebnisse des in der JVA durchgeführten diagnostischen Verfahrens sowie der Ausführungen des im Erkenntnisverfahrens mit der Exploration des Beschwerdeführers beauftragten Sachverständigen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Schließlich erweist sich auch die Darstellung der dem Verurteilten im Überprüfungszeitraum zugekommenen Betreuungsmaßnahmen als unzureichend. Insoweit ist im Ausgangspunkt zu bemerken, dass dem Senat die Beurteilung, ob die erwähnten Behandlungsangebote den gesetzlichen Anforderungen aus § 66c StGB entsprochen haben, angesichts der defizitären Beschreibung der Person des Verurteilten im angefochtenen Beschluss nicht möglich ist. Zudem fehlen jegliche Informationen dazu, wann die erwähnten Einzelgespräche mit der zuständigen Psychologin begonnen wurden und in welchem Zeitraum der Verurteilte an der persönlichkeitsorientierten Gruppe teilnahm. Ob und wenn ja welche Betreuungsangebote dem Verurteilten während des Vollzuges der Freiheitsstrafe vom 23. Juni 2020 bis zum 3. Mai 2021 in der JVA S. gemacht wurden, bleibt unklar. Zudem fehlt die erforderliche Mitteilung, warum die psychotherapeutische Einzeltherapie am 20. Dezember 2021 zunächst beendet werden musste.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>c) Die aufgezeigten Mängel nötigen zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer zur erneuten Entscheidung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Ein dies gestattender Verfahrensmangel liegt im Kontrollverfahren gem. § 119a StVollzG trotz der dem Senat an sich zustehenden umfassenden Prüfungs- und Entscheidungskompetenz vor, wenn die erstinstanzliche Entscheidung Mängel aufweist, die dazu führen, dass von einer den maßgeblichen Sachverhalt berücksichtigenden und den relevanten Verfahrensgegenstand betreffenden Sachentscheidung nicht mehr gesprochen werden kann (KB Berlin a.a.O., Koblenz a.a.O.). So liegt der Fall hier. Denn anhand der Entscheidungsbegründung wird deutlich, dass die Strafvollstreckungskammer elementare Bestandteile des ihr gesetzlich zugewiesenen Prüfungsauftrages missachtet hat. Eine erstmalige Sachentscheidung durch den Senat würde insoweit eine Umgehung des gesetzlich vorgesehenen Instanzenzuges darstellen und den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Verurteilten auf Gewährung umfassenden Rechtschutzes verkürzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Für die neu zu treffende Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass eine Ausdehnung des zutreffend festgestellten Beginns des gesetzlich bestimmten Überprüfungszeitraums über zwei Jahre hinaus nicht in Betracht kommt (Senat, Beschluss vom 23. Juni 2022, Az.: 3 Ws 147/22). Im Übrigen wird die Strafvollstreckungskammer bei der neu zu treffenden Entscheidung das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung zu beachten haben. Dieses erfordert eine lückenlose Aufklärung der Behandlungsangebote im gesamten Prüfungszeitraum, d.h. auch des Zeitraumes vor Antritt einer Sozialtherapie. Hierzu bedarf es jedenfalls der Einholung sämtlicher Vollzugspläne im Prüfungszeitraum sowie etwaiger erstatteter Gutachten im Verlaufe des Vollzuges.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE268052022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,472
vg-schleswig-holsteinisches-2022-08-30-12-b-4222
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12 B 42/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-08T10:00:43"
"2022-10-17T11:09:54"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0830.12B42.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 16.372,20 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Anträge der Antragstellerin,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu untersagen, die ausgeschriebene Stelle einer Schulleiterin an der Grundschule A-Stadt ... mit einem Mitbewerber zu besetzen, solange nicht über ihre Bewerbung bestandskräftig entschieden ist,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">hilfsweise den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sie im Auswahlverfahren über die ausgeschriebene Stelle einer Schulleiterin an der Grundschule A-Stadt ... bei der Auswahl zu berücksichtigen und sie in das Auswahlverfahren einzubeziehen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">hilfsweise das Verfahren zu ihrer Beurteilung im Zusammenhang mit ihrer Bewerbung um die ausgeschriebene Stelle einer Schulleiterin an der Grundschule A-Stadt ... fortzusetzen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>sind unzulässig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der Antragstellerin steht sowohl in Hinblick auf den gestellten Hauptantrag, als auch in Bezug auf die beiden Hilfsanträge kein (qualifiziertes) Rechtsschutzinteresse zu. Mit ihrem Einwand, dass die noch zu treffende Auswahlentscheidung bereits jetzt rechtswidrig sei, da sie in dem Auswahlverfahren nicht berücksichtigt werde, kann sie nicht durchdringen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Das Eilverfahren nach § 123 VwGO ist prinzipiell geeignet, den aus Art. 33 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG resultierenden Bewerbungsverfahrensanspruch zu sichern. Insbesondere ist der Eingriff in den Bewerbungsverfahrensanspruch unterlegener Bewerber aus Gründen der beamtenrechtlichen Ämterstabilität mit dem Grundrecht auf wirkungsvollen gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG nur dann vereinbar, wenn unterlegene Bewerber ihren Bewerbungsverfahrensanspruch vor der Ernennung in der grundrechtlich gebotenen Weise gerichtlich geltend machen können. Es muss mithin sichergestellt sein, dass ein unterlegener Bewerber die Auswahlentscheidung des Dienstherrn vor der beamtenrechtlichen Ernennung in einem gerichtlichen Verfahren überprüfen lassen kann, das den inhaltlichen Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG genügt. Insoweit muss der Dienstherr zunächst die Auswahlentscheidung vor deren Vollziehung den unterlegenen Bewerbern mitteilen. Der Dienstherr darf den ausgewählten Bewerber indes erst ernennen, wenn feststeht, dass ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung innerhalb angemessener Frist nicht gestellt wurde oder ein dahingehend gestellter Antrag aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keinen Erfolg hatte (vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 04.11.2010 – 2 C 16.09 –, juris Rn. 31 ff. m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Da die Auswahlentscheidung jedoch vorliegend noch nicht getroffen worden ist, begehrt die Antragstellerin vorbeugenden Rechtsschutz gegen die noch zu treffende Auswahlentscheidung des Antragsgegners. Die von der Antragstellerin gerügte Entscheidung des Antragsgegners, sie im Auswahlverfahren nicht zu berücksichtigen, stellt eine verwaltungsinterne Zwischenentscheidung nach § 44a VwGO dar, gegen die sie sich nicht isoliert wenden kann (vgl. Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17.06.2013 – 1 M 59/13 –, juris Rn. 11; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 25.01.2021 – 3 CE 20.3148 –, juris Rn. 16). Gleiches gilt für die Entscheidung des Antragsgegners, die Beurteilung der Antragstellerin einstweilig zurückzustellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Eine Rechtsvereitelung ist nach alledem nicht ernstlich zu befürchten. Der Antragstellerin ist vielmehr zuzumuten, die ihr schriftlich mitzuteilende Entscheidung des Antragsgegners über die Stellenbesetzung abzuwarten und erst im Fall ihres Unterliegens innerhalb der üblichen Zwei-Wochen-Frist rechtzeitig um gerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen. Soweit die Antragstellerin befürchtet, dass ihre Bewerbung unberücksichtigt bleibe und sie keine Mitteilung über den Ausgang des Verfahrens erhalten werde, ist darauf zu verweisen, dass der Antragsgegner zugesichert hat, sie im Falle des Abschlusses des Auswahlverfahrens rechtzeitig zu benachrichtigen. Da die Auswahlentscheidung noch nicht getroffen wurde, ist zum derzeitigen Zeitpunkt auch noch nicht absehbar, ob etwaig bestehende Mängel noch behoben werden oder das Verfahren überhaupt bis zum Ende durchgeführt und nicht ggf. abgebrochen wird. Der Antragstellerin entstehen keinerlei Nachteile, wenn sie darauf verwiesen wird, die Auswahlentscheidung abzuwarten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1, Satz 4, § 63 Abs. 2 GKG und beträgt ein Viertel der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge des angestrebten Amtes mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen (vgl. Oberverwaltungsgericht des Landes Schleswig-Holstein, Beschluss vom 21.10.2019 – 2 MB 3/19 –, juris Rn. 90 m.w.N.).</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,409
vg-dusseldorf-2022-08-30-15-nc-1322
{ "id": 842, "name": "Verwaltungsgericht Düsseldorf", "slug": "vg-dusseldorf", "city": 413, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
15 Nc 13/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-03T10:01:28"
"2022-10-17T11:09:43"
Beschluss
ECLI:DE:VGD:2022:0830.15NC13.22.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Der Antrag wird abgelehnt.</strong></p> <p><strong>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <p><strong>Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>beschlossen:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Antrag wird abgelehnt.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das vorläufige Rechtsschutzgesuch hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Unbeschadet etwaiger Bedenken gegen seine Zulässigkeit ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung jedenfalls unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Diese Voraussetzungen sind hier jedenfalls schon mangels eines glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs nicht erfüllt (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks"><strong>A.</strong> Hinsichtlich eines außerkapazitären Studienplatzes ist der geltend gemachte Anspruch auf vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin im 2. Fachsemester, der auf Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Sozialstaatsprinzip beruht, nicht gegeben; die für den Studiengang Humanmedizin (Vorklinik) bestehende Ausbildungskapazität ist erschöpft.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Wissenschaftsverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen hat die Zahl der Studienplätze für das 2. Fachsemester des Studiengangs Humanmedizin an der Antragsgegnerin im Sommersemester 2022 – auf der Grundlage der von der Antragsgegnerin für das Studienjahr 2021/2022 durchgeführten Kapazitätsberechnung – durch die Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen in höheren Fachsemestern an den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen zum Studienjahr 2021/2022 vom 9. August 2021 (GV. NRW. S. 991), geändert durch Verordnung vom 22. Januar 2022 (GV. NRW. S. 52), auf 400 festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Auf der Basis der von der Antragsgegnerin vorgelegten Unterlagen ergibt sich zwar tatsächlich eine höhere Aufnahmekapazität für das 2. Fachsemester; die vorhandenen Studienplätze sind jedoch sämtlich belegt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Kapazitätsberechnung für das Studienjahr 2021/2022 für den Studiengang Humanmedizin, dessen Plätze in einem zentralen Vergabeverfahren vergeben werden, hat die Antragsgegnerin gemäß § 12 der Verordnung zur Ermittlung der Aufnahmekapazität an Hochschulen in Nordrhein-Westfalen für Studiengänge außerhalb des zentralen Vergabeverfahrens (Kapazitätsverordnung NRW 2017) vom 8. Mai 2017 (GV. NRW. S. 591), geändert durch Verordnung vom 15. April 2021 (GV. NRW. S. 440) weiterhin die Vorschriften der zuletzt durch die Verordnung vom 18. August 2021 (GV. NRW. S. 1036) maßgeblich geänderten Fassung der Verordnung über die Kapazitätsermittlung, die Curricularnormwerte und die Festsetzung von Zulassungszahlen (KapVO) vom 25. August 1994 (GV. NRW. S. 732) zu Grunde gelegt und damit auch die nach § 5 Abs. 1 und Abs. 3 KapVO gemäß den Kapazitätserlassen der Wissenschaftsverwaltung vom 11. Februar 2021 und vom 22. Juni 2021 zum Berechnungsstichtag 1. März 2021 erhobenen und zum 15. September 2021 überprüften Daten.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dies begegnet keinen Bedenken. Zwar wird das Medizinstudium an der Antragsgegnerin für Studierende, die sich seit dem Wintersemester 2013/2014 für den Studiengang Humanmedizin mit dem Abschluss Staatsexamen für das 1. Fachsemester eingeschrieben haben bzw. einschreiben, nicht mehr als Regelstudiengang mit der klassischen Aufteilung in vorklinischen und klinischen Studienabschnitt, sondern als Modellstudiengang durchgeführt (§§ 1 ff., 40 der Studien- und Prüfungsordnung für den Modellstudiengang Medizin an der Antragsgegnerin vom 7. Oktober 2013, Amtl. Bekanntmachungen Nr. 24/2013 vom 21. Oktober 2013, in der Fassung der Zweiten Ordnung zur Änderung der Studien- und Prüfungsordnung vom 27. September 2019, Amtl. Bekanntmachungen Nr. 36/2019 vom 27. September 2019, verfügbar auf www.hhu.de). Die Ausbildung im Modellstudiengang unterscheidet sich in Struktur, Ausbildungsinhalten, Ausbildungsformen (Veranstaltungsarten) und Dauer grundlegend vom Regelstudiengang (§ 41 der Approbationsordnung für Ärzte vom 27. Juni 2002 (BGBl. I S. 2405), zuletzt geändert durch Art. 2 der Verordnung vom 22. September 2021 (BGBl. I S. 4335), nachfolgend: ÄApprO).</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gemäß §§ 1 Abs. 2 Satz 1, 21 KapVO, Art. 6 Abs. 2 Satz 2 des Staatsvertrages über die Hochschulzulassung vom 4. April 2019 (GV. NRW. S. 830), § 41 ÄApprO darf bei der Erprobung eines neuen Studiengangs die Ausbildungskapazität losgelöst von den Regelungen des Zweiten Abschnitts der Kapazitätsverordnung festgesetzt werden. Das danach bestehende Ermessen muss die Wissenschaftsverwaltung unter Berücksichtigung der Grundrechte der Hochschule und der Hochschullehrer aus Art. 5 Abs. 3 GG, der Grundrechte der Studienbewerber aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und der eingeschriebenen Studierenden aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie des öffentlichen Interesses an der Reform der ärztlichen Ausbildung ausüben. Hiervon ausgehend ist es nicht ermessensfehlerhaft, wenn in der Umstellungs- und Erprobungsphase des Modellstudiengangs die Kapazität nach dem früheren Regelstudiengang berechnet wird, um dem Orientierungs- und Neuordnungsprozess Zeit zu geben. Etwas anderes müsste nur dann gelten, wenn diese Art der Kapazitätsberechnung die wahre Ausbildungskapazität erkennbar verfehlte. Dafür fehlen aber jegliche Anhaltspunkte; im Gegenteil gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die fiktive Berechnung kapazitätsfreundlich ist.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Beschluss vom 12. September 2014 – 13 B 776/14 –, juris, Rdnr. 5, und Beschlüsse vom 31. März 2004 – 13 C 20/04 – und vom 28. Mai 2004 – 13 C 20/04 –, jeweils juris.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Modellstudiengang an der Antragsgegnerin befindet sich nach wie vor in der Erprobungsphase (vgl. §§ 4, 5 Abs. 1 der Studienordnung für den Modellstudiengang Humanmedizin). Er ist mit Verfügung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 6. Juli 2017 – der Kammer vorgelegt im Verfahren 15 Nc 73/18 – unter der Bedingung laufender wie auch abschließender Evaluation bis zum 30. September 2023 verlängert worden. Eine verfassungswidrige Untätigkeit des nordrhein-westfälischen Verordnungsgebers ist damit aktuell nicht gegeben. Im Übrigen wäre auch in diesem Falle die Kapazität unter Rückgriff auf die vorhandenen, sachlich am nächsten liegenden Berechnungsvorgaben für den Regelstudiengang zu bestimmen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">VerfGH des Landes Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. September 2020 – 36.20VB-2 u.a. –, juris, Rdnr. 24 ff., 30 ff.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Nach den Vorschriften der KapVO ist die Ausbildungskapazität der Lehreinheit durch eine Gegenüberstellung von Lehrangebot (I.) und Lehrnachfrage (II.) festzustellen sowie die abschließende Überprüfung des Berechnungsergebnisses nach den Bestimmungen des 3. Abschnitts der Kapazitätsverordnung (III.) vorzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"><strong>I. <span style="text-decoration:underline">Lehrangebot</span></strong></p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das in Deputatstunden (DS) gemessene (unbereinigte) Lehrangebot einer Lehreinheit ist gemäß §§ 8 Abs. 1 Satz 1, 9 KapVO anhand der für die ihr zugeordneten Stellen des wissenschaftlichen und künstlerischen Lehrpersonals und der sonstigen Lehrpersonen jeweils geltenden Regellehrverpflichtungen zu ermitteln.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kapazitätsverordnung ist damit auf der Lehrangebotsseite geprägt vom sog. Stellenprinzip. Es besagt, dass bei der Ermittlung des Lehrangebots nicht von der tatsächlichen Zahl der Lehrpersonen und ihren jeweiligen individuellen Lehrverpflichtungen auszugehen ist, sondern von der Zahl der Personalstellen und der auf diese Stellen entfallenden (im Einzelfall möglicherweise zu vermindernden) Regellehrverpflichtungen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 1984 – 1 BvR 580/83 u.a. –, juris, Rdnr. 73, und Beschluss vom 3. Juni 1980 – 1 BvR 967/78 –, juris, Rdnr. 48 ff; BVerwG, Urteile vom 20. April 1990 – 7 C 51.87 –, juris, Rdnr. 13, und - 7 C 74.87 -, juris, Rdnr. 5, und Beschluss vom 20. Januar 1988 – 7 B 47.87 –, juris, Rdnr. 3.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Das bei der Lehrangebotsberechnung prinzipiell anzuwendende (abstrakte) Stellenprinzip gilt indes nicht ausnahmslos. Es ist etwa dann zu durchbrechen, wenn eine Lehrpersonalstelle, die nach ihrer Gruppenzugehörigkeit mit einer bestimmten (niedrigeren) Regellehrverpflichtung versehen ist, "dauerhaft" mit einer Lehrperson besetzt ist, für die individuell eine höhere Lehrverpflichtung gilt, weil die Stelle durch eine solche Besetzung faktisch einer Stellengruppe zugeordnet wird, für die nach ihrem Amts- bzw. Dienstinhalt eine höhere Regellehrverpflichtung gilt. Übersteigt die persönliche Lehrverpflichtung eines Stelleninhabers das der Stellenkategorie entsprechende Lehrdeputat, so ist die kapazitätserhöhende Differenz zwischen dem Regellehrdeputat und der persönlichen Lehrverpflichtung als das der Lehreinheit zusätzlich zur Verfügung stehende Lehrdeputat auszuweisen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 24. Juni 2022 – 13 B 121/22 –, juris, Rdnr. 15 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Grundsätzen kann offen bleiben, ob auf der Basis der Annahmen und Berechnungen der Kammer in den Beschlüssen betreffend die Zulassungsstreitigkeiten zum 1. Fachsemester des Wintersemesters 2021/2022 von einem unbereinigten Lehrdeputat von 383 DS auszugehen ist,</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">vgl. Beschluss vom 11. Januar 2022 – 15 Nc 62/21 –, nrwe.de = juris,</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">oder ob die Aufnahmekapazität für das 1. Fachsemester des vergangenen Wintersemesters gemäß den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Juni 2022 im nachgehenden Beschwerdeverfahren,</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">– 13 B 121/22 u.a. – und – 13 B 98/22 u.a. –, nrwe.de = juris,</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">wegen der Annahme eines zusätzlich aufgrund faktischer Stellenumwandlung zur Verfügung stehenden Lehrangebots von insgesamt 3,5 DS und mangels Annahme einer Verrechungsmöglichkeit im Zusammenhang mit dem für fünf durch das Dekanat ausgewiesene Stellen „Akademische Räte ohne ständige Lehraufgaben“ angesetzten zusätzlichen Deputat von 20 DS auf der Grundlage eines zur Verfügung stehenden unbereinigten (höheren) Lehrdeputats von 386,5 DS zu berechnen ist.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Denn auch die auf der Basis eines unbereinigten Lehrdeputats von 386,5 DS errechnete jährliche Aufnahmekapazität ist durch die von der Antragsgegnerin für das 2. Fachsmester vorgenommenen Rückmeldungen im Sommersemester 2022 erschöpft.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Das unbereinigte Lehrdeputat ist mangels berücksichtigungsfähiger Lehrauftragsstunden lediglich zu bereinigen um den sich kapazitätsmindernd auswirkenden Dienstleistungsbedarf nicht der Lehreinheit Vorklinik zugeordneter Studiengänge (§ 11 KapVO).</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Den Dienstleistungsbedarf hat die Wissenschaftsverwaltung gemäß der Formel nach Ziff. I. 2. (2) der Anlage 1 zur KapVO, wonach sich der Aufwand für einen nicht zugeordneten Studiengang (Dienstleistung) je Semester aus der Multiplikation der durch zwei geteilten Studienanfängerzahlen (A<sub>q</sub>/2) mit dem Ca<sub>q</sub>, d.h. dem im Rahmen der Quantifizierung eines Studiengangs abgestimmten Curricularanteil der betreffenden Fremdlehreinheit ergibt, wie folgt berechnet:</p> <span class="absatzRechts">33</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p><strong>Bezeichnung des nicht zugeordneten Studiengangs</strong></p> </td> <td><p><strong>Ca<sub>q</sub></strong></p> </td> <td><p><strong>A<sub>q</sub>/2</strong></p> </td> <td><p><strong>Ca<sub>q</sub> x A<sub>q</sub>/2</strong></p> </td> </tr> <tr><td><p>Medizinische Physik (BA)                  Lehreinheit Physik</p> </td> <td><p>0,04</p> </td> <td><p>16,50</p> </td> <td><p>0,66</p> </td> </tr> <tr><td><p>Pharmazie    (Staatsexamen)Lehreinheit Pharmazie</p> </td> <td><p>0,04</p> </td> <td><p>57,50</p> </td> <td><p>2,30</p> </td> </tr> <tr><td><p>Zahnmedizin (Staatsexamen)Lehreinheit Zahnmedizin</p> </td> <td><p>0,87</p> </td> <td><p>23,50</p> </td> <td><p>20,45</p> </td> </tr> <tr><td><p>Toxikologie (Master) Lehreinheit Klinisch-Theoretische Medizin</p> </td> <td><p>0,07</p> </td> <td><p>8,50</p> </td> <td><p>  0,60</p> </td> </tr> <tr><td><p>Molekulare Biomedizin (Master)Lehreinheit Klinisch-theoretische Medizin</p> </td> <td><p>0,04</p> </td> <td><p>20,00</p> </td> <td><p>  0,80</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>Summe</strong></p> </td> <td></td> <td></td> <td><p><strong>24,81</strong></p> </td> </tr> </tbody> </table> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Rechtliche Bedenken gegen die in die Berechnung der Dienstleistungsexporte für die genannten Studiengänge eingestellten Berechnungsparameter Ca<sub>q</sub> und A<sub>q</sub>/2 sind weder dargetan noch nach summarischer Prüfung ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Einzelnen Beschluss der Kammer vom 11. Januar 2022 – 15 Nc 62/21 –, nrwe.de = juris.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Damit beträgt das bereinigte Lehrangebot der Lehreinheit Vorklinische Medizin je Semester gemäß Formel 3 der Anlage 1 zur KapVO</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">386,5 DS – 24,81 = 361,69 DS.</span></p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><strong>II. <span style="text-decoration:underline">Lehrnachfrage und Aufnahmekapazität</span></strong></p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der für die ordnungsgemäße Ausbildung eines Studierenden in dem Studiengang erforderliche und gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 KapVO durch den Curricularnormwert (CNW) bestimmte Aufwand aller beteiligten Lehreinheiten ist ebenfalls rechtlich zutreffend in die Kapazitätsberechnung eingeflossen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Nach § 13 Satz 2 KapVO sind für den Studiengang Medizin (Vorklinischer Teil) ‑ Abschluss „Staatsexamen“ ‑ bei der Berechnung der jährlichen Aufnahmekapazität allein die in der Anlage 2 zur KapVO aufgeführten Curricularnormwerte (CNW) anzuwenden.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Für die weitere Berechnung der personellen Aufnahmekapazität ist der CNW des Regelstudiengangs Medizin (Vorklinischer Teil) von 2,42 gemäß § 13 Abs. 4 Satz 1 KapVO auf die am Lehrangebot für den Studiengang beteiligten Lehreinheiten aufzuteilen, wobei der Teil der Lehrnachfrage bzw. des CNW, der auf die Lehreinheit entfällt, welcher der Studiengang zugeordnet ist, als (Curricular-)Eigenanteil (Ca<sub>p</sub>) und der Leistungsanteil anderer Lehreinheiten für den Studiengang als (Curricular-) Fremdanteil (Ca<sub>q</sub>) bezeichnet wird.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt ist der CNW von 2,42 zu mindern um die ihrerseits nach summarischer Prüfung dem Grunde und der Höhe nach rechtlich nicht zu beanstandenden Curricular(fremd)anteile (Ca<sub>q</sub>) für Dienstleistungsimporte durch die nachfolgend aufgeführten Lehreinheiten,</p> <span class="absatzRechts">43</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Klinisch-theoretische Medizin</p> </td> <td><p>in Höhe von 0,15 Ca<sub>q</sub></p> </td> </tr> <tr><td><p>Klinisch-praktische Medizin</p> </td> <td><p>in Höhe von 0,14 Ca<sub>q</sub></p> </td> </tr> <tr><td><p>Physik</p> </td> <td><p>in Höhe von 0,15 Ca<sub>q</sub></p> </td> </tr> <tr><td><p>Chemie</p> </td> <td><p>in Höhe von 0,15 Ca<sub>q</sub></p> </td> </tr> <tr><td><p>Biologie</p> </td> <td><p>in Höhe von 0,05 Ca<sub>q</sub></p> </td> </tr> <tr><td><p>Zentrale Einrichtungen (KUBUS und USZ)</p> </td> <td><p>in Höhe von 0,01 Ca<sub>q</sub></p> </td> </tr> </tbody> </table> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">und damit in einer Gesamtsumme um 0,65 Ca<sub>q</sub>.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Einzelnen Beschluss der Kammer vom 11. Januar 2022 – 15 Nc 62/21 –, nrwe.de = juris; zur Unbedenklichkeit der angesetzten Fremdanteile, die denen des Studienjahres 2013/2014 entsprechen, und zur Unbedenklichkeit der Berechnung des Eigenanteils: Beschlüsse der Kammer vom 9. Dezember 2013 – 15 Nc 31/13 u.a. –, juris, Rdnr. 115.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Aus dem sich hiernach ergebenden Curriculareigenanteil von 1,77 und dem bereinigten Lehrdeputat von 361,69 DS ergibt sich in Anwendung der in Anlage 1 zur KapVO angeführten Formel 5 eine jährliche Aufnahmekapazität von</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">(2 x 361,69 DS) : 1,77 = 408,68927</span></p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">bzw. gerundet 409 Studienplätzen.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks"><strong>III. <span style="text-decoration:underline">Überprüfung des Berechnungsergebnisses</span></strong></p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der gemäß § 14 Abs. 3 Nr. 3 KapVO durchzuführenden Überprüfung des Berechnungsergebnisses erhöht sich gemäß § 16 KapVO (Schwundquote) die Zahl der Studienplätze für das 1. Fachsemester auf 422.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Der mit 1/0,97 in die Überprüfung eingestellte und von Antragstellerseite nicht substantiiert angegriffene Schwundausgleichsfaktor ist nach Überprüfung auch ohne weitere Sachaufklärung rechtlich nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Einzelnen Beschluss der Kammer vom 11. Januar 2022 – 15 Nc 62/21 –, nrwe.de = juris.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Bei Multiplikation mit dem Schwundausgleichsfaktor von 1/0,97 ergibt sich eine personalbezogene Jahresaufnahmekapazität für Studienanfänger (1.Fachsemester) von</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">409 x (1/0,97) = 421,64948</span> Studienplätzen,</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">gerundet 422 Studienplätzen.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Bei einer dem Schwundausgleichsfaktor von 0,97 entsprechenden durchschnittlichen semesterlichen Verbleibequote von 97,97 % entfallen auf das 2. Fachsemester</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">422 x 0,9797 = 413,4334</span></p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">gerundet 413 Studienplätze.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks"><strong>IV. <span style="text-decoration:underline">Besetzung</span></strong></p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Ausweislich der dienstlichen Erklärung der Antragsgegnerin vom 13. April 2022 waren am 13. April 2022 allein aufgrund der Rückmeldungen von im Wintersemester 2021/2022 in das 1. Fachsemester eingeschriebenen Studierenden 409 Studienplätze besetzt. Gemäß dem Schriftsatz vom 29. Juli 2022 sind durch Rückmeldung zu diesem Zeitpunkt zudem weitere 4 Studienplätze im 2. Fachsemester, insgesamt also 413 Studienplätze besetzt gewesen.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Belegung dieser vier weiteren Studienplätze durch Rückmeldung im Laufe des hiesigen gerichtlichen Verfahrens ist rechtlich nicht zu beanstanden und damit kapazitätswirksam. Sie beruht auf der in den eingangs zitierten Beschwerdeentscheidungen des OVG NRW ausgesprochenen Verpflichtung der Antragsgegnerin, vier weitere Studienbewerber aus dem Kreis der Beschwerdeführer des Wintersemesters 2021/2022 vorläufig zum Studium der Humanmedizin nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2021/2022 im 1. Fachsemester zuzulassen. Dem entsprechend sind nach Durchführung eines Losverfahrens vier Studierende rückwirkend zum Wintersemester 2021/2022 vorläufig eingeschrieben worden. Alle vier Studierenden haben sich zwischenzeitlich für das Sommersemester 2022 zurückgemeldet.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Keinen Bedenken begegnet auch, dass die Antragsgegnerin die zunächst nur vorläufigen Zulassungen und Einschreibungen der vier erfolgreichen Antragsteller des Wintersemesters nunmehr in endgültige umgewandelt hat. Studienbewerber, die im Sommersemester 2022 ihre Zulassung in ein höheres Fachsemester begehren, werden dadurch nicht in ihren Rechten verletzt. Anhaltspunkte dafür, dass die Umwandlung willkürlich erfolgt ist, bestehen nicht. Angesichts der einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren entsprechenden Begründung der Beschlüsse des OVG NRW vom 24. Juni 2022 ist die Entscheidung der Antragsgegnerin, in Abwägung von Kosten und Nutzen das Risiko eines Unterliegens in den – durch die sämtlich schon in erster Instanz anwaltlich vertretenen Studienbewerber – zu erwartenden Hauptsacheverfahren nicht einzugehen und damit auf eine endgültige Klärung der Rechtslage im Klageverfahren zu verzichten, als sachlich veranlasst rechtlich zu billigen.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob eine weitere – wohl verspätet erfolgte – Rückmeldung in das zweite Fachsemester (Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 18. August 2022) kapazitätsdeckende Wirkung hat, kommt es damit nicht an.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen stünden auch dann keine Studienplätze im 2. Fachsemester für die Vergabe zur Verfügung, wenn man die vier nachträglichen Rückmeldungen als kapazitätsrechtlich unwirksam ansähe. Ausweislich der dienstlichen Erklärung der Antragsgegnerin vom 13. April 2022 waren an diesem Tage im 4. Fachsemester 403 Studierende eingeschrieben. Bei einer jährlichen Aufnahmekapazität von 422 Studierenden im 1. Fachsemester beläuft sich die Kapazität im 4. Fachsemester lediglich auf (422 x 0,9797 x 0,9797 x 0,9797 =) 396,81838, gerundet 397 Studienplätze. In entsprechender Anwendung von § 34 Abs. 3  der Verordnung über die Vergabe von Studienplätzen in Nordrhein-Westfalen (VergabeVO NRW) vom 13. November 2020 (GV. NRW. S. 1060), zuletzt geändert durch Verordnung vom 23. Mai 2022 (GV. NRW. S. 739), verringert sich die Zulassungszahl für das 2. Fachsemester damit um (403 – 397 =) 6 auf (413 – 6 =) 407 Studienplätze. Diese 407 Studienplätze waren bereits am 13. April 2022 durch reguläre Rückmelder belegt. Eine Belegung sämtlicher im 2. Fachsemester vorhandener Studienplätze ergibt sich auch in dem Fall, dass die – mit Schriftsatz vom 18. August 2022 mitgeteilte – im Laufe des Semesters erfolgte Beurlaubung eines/r Studierenden zu berücksichtigen wäre. Denn auch eine um (402 – 397 =) 5 verringerte Zahl an Studienplätzen im 2. Fachsemester (413 – 5 = 408) ist seit dem 13. April 2022 durchgehend belegt.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"><strong>B.</strong> Soweit hilfsweise die Zulassung zum Studium innerhalb der festgesetzten Ausbildungskapazität begehrt wird, folgt aus den genannten Belegungszahlen, dass auch dort keine unbesetzten Studienplätze für die gerichtliche Vergabe vorhanden sind. Da sämtliche 413 Studienplätze durch Rückmeldung vergeben worden sind, stehen Studienplätze für die innerkapazitäre Zulassung von neu durch die Antragsgegnerin aufzunehmenden Bewerbern nicht zur Verfügung. Denn nach § 34 Abs. 2 VergabeVO wird die Zahl der an einer Hochschule in ein höheres Fachsemester aufzunehmenden Bewerberinnen und Bewerber (Zulassungszahl) auf den Unterschied zwischen der festgesetzten Zahl von Studienplätzen (Auffüllgrenze) und der Zahl der Studierenden, die sich innerhalb einer von der Hochschule zu bestimmenden Frist zur Fortsetzung ihres Studiums zurückgemeldet haben (Rückmeldungen), festgesetzt. Unerheblich ist, dass die Festsetzung der Studienplatzzahl im 2. Fachsemester für das Sommersemester 2022 (400) durch die Anlage 6 zur Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen in höheren Fachsemestern an den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen zum Studienjahr 2021/2022 vom 9. August 2021 i.d.F. vom 22. Januar 2022 bislang nicht geändert und an die tatsächliche Kapazität an Studienplätzen (413) angepasst worden ist. Denn der Entscheidung in Kapazitätsstreitigkeiten sind wegen des Verordnungscharakters der insoweit anzuwendenden Bestimmungen die den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden und nicht die normativ festgelegten Zulassungszahlen zu Grunde zu legen. Das Fehlen einer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden verordnungsrechtlichen Festsetzung allein begründet demnach keinen inner- oder außerkapazitären Zulassungsanspruch von Studienbewerbern.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks"><strong>C.</strong> Die – weiter hilfsweise beantragte – Zulassung in ein niedrigeres, mithin das 1. Fachsemesters scheidet schon deshalb aus, weil angesichts des Jahreszulassungsbetriebs der Antragsgegnerin zum Sommersemester keine Studienplätze im 1. Fachsemester vergeben werden.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks"><strong>D.</strong> Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG und berücksichtigt die Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, nach der auch in vorläufigen Rechtsschutzverfahren betreffend die Zulassung zum Studium, deren Ziel sich selbst bei einer (nur) angestrebten Beteiligung an einem Losverfahren weitestgehend auf die Vorwegnahme der Hauptsache richtet, der für das Hauptsacheverfahren maßgebliche Streitwertbetrag von 5.000,00 Euro anzusetzen ist.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2017 – 13 C 14/17 –, juris, Rdnr. 33, und Beschluss vom 13. November 2019 – 13 E 951/19.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">(1)       Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">(2)       Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
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29 L 1703/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-03T10:01:28"
"2022-10-17T11:09:42"
Beschluss
ECLI:DE:VGD:2022:0830.29L1703.22.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Der Antrag wird abgelehnt.</strong></p> <p><strong>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <p><strong>Der Streitwert wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der am 8. August 2022 sinngemäß gestellte Antrag,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>die aufschiebende Wirkung der Klage 29 K 5603/22 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 00. Juli 2022 anzuordnen,</strong></p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 00. August 2022 (29 K 5603/22) gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes entfällt. Dies ist hier der Fall, da die Klage des Antragstellers hinsichtlich Ziffer 1 des Bescheides vom 00. Juli 2022 gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 20a Abs. 5 Satz 4 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Ziffer 2 des Bescheides entfällt die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 Gesetz über die Justiz im Land Nordrhein-Westfalen (Justizgesetz Nordrhein-Westfalen – JustG NRW).</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist aber unbegründet. Das Gericht macht von der ihm durch § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eingeräumten Befugnis, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt anzuordnen, Gebrauch, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das private Interesse des Betroffenen, von Vollziehungsmaßnahmen (vorerst) verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Durchsetzung der getroffenen Maßnahme überwiegt. Bei der Interessenabwägung spielt neben der gesetzgeberischen Grundentscheidung die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des zu vollziehenden Verwaltungsakts eine wesentliche Rolle. Ergibt diese – im Rahmen des Eilrechtsschutzes allein mögliche und gebotene summarische – Prüfung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, da an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts grundsätzlich kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich der Verwaltungsakt hingegen als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt nach der gesetzgeberischen Wertung das behördliche Vollzugsinteresse. Erscheinen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen, ist die Entscheidung auf der Grundlage einer umfassenden Folgenabwägung vorzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe fällt die Interessenabwägung vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus. Die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 00. Juli 2022 ist nach summarischer Prüfung rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Denn bei dem angeordneten Betretungs- und Tätigkeitsverbot handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 20. Juli 2022 – 5 L 585/22.NW –, juris Rn. 20; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, 6. Aufl. 2022, IfSG § 20a Rn. 118.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage des in Ziffer 1 des Bescheides angeordneten Betretungs- und Tätigkeitsverbotes ist § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG. Nach dieser Vorschrift kann das Gesundheitsamt unter anderem einer Person, die trotz einer Anforderung nach § 20a Abs. 5 Satz 1 IfSG keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung oder eines dort genannten Unternehmens dienenden Räume betritt oder in einer solchen Einrichtung oder einem solchen Unternehmen tätig wird. § 20a Abs. 5 Satz 1 IfSG sieht wiederum vor, dass die in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Personen dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung oder das jeweilige Unternehmen befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG vorzulegen haben. Gemäß § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG müssen Personen, die in den in § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 IfSG im Einzelnen genannten Einrichtungen oder Unternehmen des Pflege- und Gesundheitssektors tätig sind, ab dem 15. März 2022 über einen Impf- und Genesenennachweis im Sinne des § 22a Abs. 1 oder Abs. 2 IfSG verfügen, es sei denn sie können aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden (vgl. § 20a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 4 IfSG).</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Eine Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften, insbesondere des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG, vermag die Kammer im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht festzustellen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, die – wie hier im Fall einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage – im Ergebnis darauf hinausläuft, eine Regelung in einem formellen Gesetz gegenüber einem Antragsteller jedenfalls vorläufig nicht anzuwenden, ist an besondere Voraussetzungen geknüpft. Zwar sind die Fachgerichte in Bezug auf ein formelles Gesetz durch Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung nicht vorweggenommen wird. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes würde den Eintritt von Nachteilen während der Durchführung des Hauptsacheverfahrens verhindern.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juli 2022 – 13 B 1466/21 –, juris Rn. 71 f. (im Zusammenhang mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bezüglich § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, wonach Personen, die keinen Nachweis über eine Masernimpfung bzw. eine entsprechende Immunität vorlegen, nicht in bestimmten Einrichtungen beschäftigt werden dürfen) unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1992 – 1 BvR 1028/91 –, juris Rn. 29 und BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2010 – 7 VR 5.10 –, juris Rn. 10 (im Zusammenhang mit einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ein solches Vorgehen kann bei formellen Gesetzen aber nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 100 Abs. 1 GG erfolgen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juli 2022 – 13 B 1466/21 –, juris Rn. 73 f. und Beschluss vom 27. April 2009 – 16 B 539/09 –, juris Rn. 34 ff.; in diesem Sinne auch: OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 2013 – 1 B 1316/12 –, juris Rn. 8 ff.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Erforderlich ist mithin, dass das beschließende Gericht von der Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Vorschriften überzeugt ist. Dies bedeutet im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, dass der Grundrechtsverstoß offenkundig ist.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juli 2022 – 13 B 1466/21 –, juris Rn. 75 f. m.w.N.; siehe auch VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 20. Juli 2022 – 5 L 585/22:NW –, juris Rn. 24 f. im Zusammenhang mit einem Betretungsverbot nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG („offensichtliche“ bzw. „greifbare“ Verfassungswidrigkeit der Norm).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Eine solche offenkundige Verfassungswidrigkeit des § 20a IfSG vermag die Kammer derzeit nicht festzustellen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kommt dem Gesetzgeber bei der Gestaltung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Allerdings müssen sich die getroffenen Maßnahmen auf hinreichend tragfähige tatsächliche und wissenschaftliche Erkenntnisse stützen lassen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u.a. –, juris Rn. 171.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Auf dieser Grundlage hat das BVerfG mit Beschluss vom 27. April 2022 entschieden, dass die Entscheidung des Gesetzgebers für die Einführung einer einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht bezüglich einer Covid-19-Immunität gemäß § 20a IfSG in der konkreten Situation der Pandemie im Winter 2021 und nach Maßgabe der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Erkenntnislage zu den Wirkungen der Covid-19-Schutzimpfungen sowie zu den großen Gefahren für Leben und Gesundheit vulnerabler Personen auch unter Berücksichtigung der hiermit für die Betroffenen verbundenen Eingriffstiefe verfassungsrechtlich tragfähig war. Nach damaliger überwiegender fachlicher Einschätzung sei von einer erheblichen Reduzierung der Infektions- und Transmissionsgefahr durch die Covid-19-Impfung ausgegangen worden.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris, insb. Rn. 157 ff., 173 f.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Zwar führt das BVerfG in dieser Entscheidung weiter aus, dass die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung zunächst nur aus einer ex-ante-Perspektive im Hinblick auf die verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten zu beurteilen ist. Gleichwohl könne eine zunächst verfassungskonforme Regelung später mit Wirkung für die Zukunft verfassungswidrig werden, wenn ursprüngliche Annahmen des Gesetzgebers nicht mehr trügen, weil sie durch nachträgliche Erkenntnisse oder Entwicklungen erschüttert würden. Bestehe dagegen eine Situation der Ungewissheit fort, weil es insbesondere auch der Wissenschaft nicht gelinge, die Erkenntnislage zu verbessern, wirke sich dies nicht ohne Weiteres auf die verfassungsrechtliche Beurteilung des weiteren Vorgehens aus.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 235 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u.a. –, juris Rn. 177.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Bei Zugrundelegung der dargestellten Maßstäbe ist die Vorschrift des § 20a IfSG auch bis zum Zeitpunkt dieser gerichtlichen Entscheidung nicht durch die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens offenkundig in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">So auch VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 20. Juli 2022 – 5 L 585/22.NW –, juris Rn. 23 ff.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Das BVerfG führt in seinem Beschluss vom 27. April 2022 bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung aus, die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose, die verfügbaren Impfstoffe würden auch gegenüber der Omikron-Variante des Coronavirus SARS-CoV-2 eine noch relevante Schutzwirkung entfalten, sei durch die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens nach Verabschiedung des Gesetzes ausweislich der Stellungnahmen der im dortigen Verfahren als sachkundige Dritte angehörten Fachgesellschaften nicht durchgreifend erschüttert worden. Dies gelte insbesondere auch für die gesetzgeberische Prognose, die verfügbaren Impfstoffe könnten vor einer Infektion schützen und – sollten sich Betroffene gleichwohl infizieren – zu einer Reduzierung des Transmissionsrisikos beitragen. Es sei weiterhin davon auszugehen, dass eine Impfung jedenfalls einen relevanten – wenn auch mit der Zeit abnehmenden – Schutz vor einer Infektion auch mit der aktuell vorherrschenden Omikron-Variante des Coronavirus biete. Dabei sei auch nicht erkennbar, dass die Impfwirksamkeit so sehr reduziert wäre, dass die Verwirklichung des mit dem angegriffenen Gesetz verfolgten Zwecks des Schutzes vulnerabler Menschen nur noch in einem derart geringen Maße gefördert würde, dass im Rahmen der Abwägung den widerstreitenden Interessen der von der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht Betroffenen von Verfassungs wegen der Vorrang gebühren müsste. Zwar sei nach wie vor fachwissenschaftlich nicht gesichert, in welchem Maße die Schutzwirkung der Impfung mit der Zeit und abhängig von weiteren Faktoren konkret abnehme. Auch bestünden keine gesicherten Erkenntnisse zur genauen Höhe des reduzierten Transmissionsrisikos. Die bisherigen Annahmen des Gesetzgebers seien aber auch nicht grundlegend erschüttert, sodass sein insoweit bestehender Einschätzungs- und Prognosespielraum fortbestehe.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 184 f., 237 ff.; siehe auch OVG NRW, Beschluss vom 14. April 2022 – 13 B 96/22 –, juris Rn. 48 ff. und Beschluss vom 29. März 2022 – 13 B 1441/21 –, juris Rn. 28 ff.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Hiervon geht die Kammer auch zum maßgeblichen Zeitpunkt dieser gerichtlichen Entscheidung weiter aus. Die wissenschaftliche Erkenntnislage hat sich seit Ergehen der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht derart geändert, dass die ursprüngliche Annahme des Gesetzgebers, eine Impfung gegen das Coronavirus schütze in nennenswertem Umfang vor einer Infektion und einer weiteren Transmission des Virus, unzutreffend geworden und deshalb nunmehr von einer offenkundigen materiellen Verfassungswidrigkeit des § 20a IfSG auszugehen wäre.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">So auch VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 20. Juli 2022 – 5 L 585/22.NW –, juris Rn. 26 ff.; im Ergebnis auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Juli 2022 – 2 L 820/22 –, juris Rn. 8 ff.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Tragbare wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach Impfungen keinerlei Einfluss auf die Infektionstätigkeit haben, sind derzeit nicht ersichtlich und auch von dem Antragsteller nicht dargelegt worden. Nach den Ausführungen des Robert Koch-Instituts (im Folgenden: RKI), der nationalen Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG), auf seiner Internetseite stellt sich die derzeitige Erkenntnislage vielmehr wie folgt dar:</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Covid-19-mRNA-Impfstoffe Comirnaty (BioNTech/Pfizer) und Spikevax (Moderna) und der Vektor-Impfstoff JCOVDEN (Johnson & Johnson) böten vor der Omikron-Variante weniger Schutz als vor der sog. Delta-Variante, die das Infektionsgeschehen in Deutschland zuvor dominiert hatte. Die Studienergebnisse zeigten, dass die Wirksamkeit nach zwei Impfstoffdosen (Grundimmunisierung) gegenüber jeglicher oder symptomatischer Erkrankung durch die Omikron-Variante insgesamt gering sei und zudem mit der Zeit deutlich nachlasse. Durch eine Auffrischimpfung könne die Schutzwirkung verbessert werden. Gegen schwere Erkrankungen biete die Impfung weiterhin einen guten Schutz. Die Datenlage deute darauf hin, dass auch hier die Schutzwirkung nach der Grundimmunisierung abfalle, jedoch weniger stark als im Vergleich zu jeglichen bzw. symptomatischen Erkrankungen. Nach einer Auffrischimpfung sei die Wirksamkeit gegenüber schweren Erkrankungen erneut hoch. Daten wiesen auch nach Auffrischimpfung auf einen nachlassenden Schutz vor (symptomatischer) Infektion über die Zeit hin. Die hohe Schutzwirkung gegenüber schweren Infektionen bleibe aber mindestens über sechs bis neun Monate nach der Auffrischimpfung bestehen. Über die Transmission, das heißt die Virusübertragung, unter Omikron gebe es bisher keine ausreichenden Daten; sie scheine bei Geimpften weiterhin reduziert zu sein, wobei das Ausmaß der Reduktion nicht vollständig geklärt sei. Haushaltsstudien aus Norwegen und Dänemark zeigten, dass eine Impfung auch unter vorherrschender Zirkulation der Omikron-Variante die Übertragbarkeit um ca. 6 bis 21 % nach Grundimmunisierung und nach Auffrischimpfung um weitere 5 bis 20 % reduziere.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. RKI, Wie wirksam sind die Covid-19-Impfstoffe?, Stand: 18. August 2022, abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html, zuletzt abgerufen am 30. August 2022.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich in zwei – bisher nicht im Volltext veröffentlichten – Beschlüssen vom 7. Juli 2022 (Az. 1 WB 2.22 und 1 WB 5.22), die Beschwerden von zwei Luftwaffenoffizieren gegen die Verpflichtung, die Covid-19-Impfung zu dulden, betrafen, nach einer von ihm durchgeführten umfangreichen Sachverständigenanhörung der Bewertung des BVerfG angeschlossen, dass die Impfung gegenüber der nunmehr vorherrschenden Omikron-Variante nach wie vor eine noch relevante Schutzwirkung im Sinne einer Verringerung der Infektion und Transmission habe.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. die zu den beiden Entscheidungen veröffentlichten Pressemitteilungen des BVerwG vom 7. Juli 2022, abrufbar unter https://www.bverwg.de/pm/2022/44, zuletzt abgerufen am 30. August 2022.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Anordnung des Betretungs- und Tätigkeitsverbotes in Ziffer 1 des Bescheides ist formell rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner ist gemäß § 20a Abs. 5 Satz 1 und Satz 3, § 2 Nr. 14, § 54 Satz 1 IfSG i.V.m. § 4 Abs. 1 Gesetz zur Regelung besonderer Handlungsbefugnisse im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler oder landesweiter Tragweite und zur Festlegung der Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz (Infektionsschutz- und Befugnisgesetz – IfSBG-NRW) als Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die Einrichtung befindet, in der der Antragsteller tätig ist, für die Anordnung des Betretungs- und Tätigkeitsverbotes zuständig. Insbesondere hat der Antragsgegner seine Anordnung auf diejenigen Einrichtungen des im S. –L. O.     ansässigen Arbeitgebers des Antragstellers beschränkt, die sich im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners, das heißt im Kreis W.       , befinden. Dies gilt vor allem für den aktuellen Einsatzort des Antragstellers in U.          . Dass der Antragsgegner insoweit nicht allein auf den Sitz des M.   -W1.         I.                I1.      abgestellt hat, der ausweislich seines Schreibens an den Antragsgegner vom 00. Mai 2022 (Beiakte Heft 2 Bl. 196 f.) seine Unterstützungsleistungen in zehn Kreisen, der Städteregion B.      und sechs kreisfreien Städten anbietet, ist rechtlich nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Verfügung ist auch in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen. Insbesondere hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 00. Mai 2022 sowohl dem Antragsteller als auch dem M.   –W1.  I.                I1.      als Arbeitgeber des Antragstellers im Sinne des § 28 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW) Gelegenheit gegeben, zu der beabsichtigten Anordnung eines Betretungs- und Tätigkeitsverbotes gegenüber dem Antragsteller Stellung zu nehmen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Anhörung auch des Arbeitgebers im Rahmen des der Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG vorangehenden Verwaltungsverfahrens BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand: 1. Juli 2022, IfSG § 20a Rn. 205 f.; Kießling, Infektionsschutzgesetz, 3. Aufl. 2022, IfSG § 20a Rn. 83.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Anordnung in Ziffer 1 des Bescheides ist nach summarischer Prüfung auch materiell rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Regelung genügt zunächst den Anforderungen des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW. Danach muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Dies ist der Fall, wenn die durch den Verwaltungsakt getroffene Regelung hinreichend klar, verständlich und in sich widerspruchsfrei ist. Davon ist auszugehen, wenn der Adressat und die mit dem Vollzug befasste Behörde und deren Organe aufgrund der Entscheidungssätze und der Begründung des Verwaltungsakts sowie der sonst für die Betroffenen erkennbaren Umstände ersehen können, was genau durch den Verwaltungsakt gefordert wird und ggf. zu vollstrecken ist. Im Einzelnen richten sich die Anforderungen an die notwendige Bestimmtheit nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden materiellen Rechts. Demnach ist ein Verwaltungsakt nicht schon dann unbestimmt, wenn seine Regelung für eine mit dem jeweiligen Sachbereich nicht vertraute Person nicht ohne weiteres verständlich ist. Entscheidend ist vielmehr, ob der Adressat und die mit dem Vollzug befassten Behörden den Entscheidungsgehalt auf Grund der Gesamtumstände des Einzelfalls zutreffend erfassen und ihr künftiges Verhalten danach ausrichten können.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2015 – 13 A 1215/12 –, juris Rn. 57 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 37 Rn. 5 ff.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt, ist die in Ziffer 1 des Bescheides getroffene Anordnung hinreichend bestimmt. Insbesondere ist der Regelungsgehalt der Anordnung jedenfalls in Zusammenschau mit der Begründung des Bescheides hinreichend klar. So heißt es im Tenor des Bescheides unter Ziffer 1 zwar, dass dem Antragsteller untersagt werde, die Einrichtungen des M.   -W1.         I.                I1.      im Kreis W.       „zu betreten <span style="text-decoration:underline">oder</span> dort tätig zu werden“ (Hervorhebung durch das Gericht). Im Zusammenhang mit der ebenfalls zu berücksichtigenden Begründung des Bescheides wird aber hinreichend deutlich, dass der Antragsgegner gegenüber dem Antragsteller ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesprochen hat und diese beiden Möglichkeiten nicht in einem Alternativverhältnis stehen. So versteht im Übrigen ausweislich der Klage- und Antragsschrift vom 8. August 2022 auch der Antragsteller die Anordnung.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG sind erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Zunächst ist der Anwendungsbereich des § 20a IfSG eröffnet. Gemäß § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG müssen Personen, die in den dort im Einzelnen aufgeführten Einrichtungen oder Unternehmen tätig sind, ab dem 15. März 2022 über einen Impf- oder Genesenennachweis nach § 22a Abs. 1 oder Abs. 2 IfSG verfügen. Hierzu zählen nach § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG Personen, die in voll- oder teilstationären Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen oder in vergleichbaren Einrichtungen tätig sind. Hiervon erfasst sind etwa besondere Wohnformen für Menschen mit Behinderungen.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 20/188 S. 38; Tabbara, Die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Angeboten der Behindertenhilfe in: NZS 2022, 171 (173).</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Tätig ist eine Person in der entsprechenden Einrichtung immer dann, wenn sie regelmäßig, das heißt nicht nur für wenige Tage, und nicht nur zeitlich vorübergehend, das heißt nicht nur jeweils wenige Minuten, sondern über einen längeren Zeitraum, in der Einrichtung beschäftigt ist.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand: 1. Juli 2022, IfSG § 20a Rn. 61; siehe auch BT-Drs. 20/188, S. 38.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Lediglich in den Fällen, in denen jeglicher Kontakt zu den gefährdeten Personengruppen, das heißt zu den behandelten, betreuten, gepflegten oder untergebrachten Personen, ausgeschlossen werden kann und auch keine regelmäßigen Kontakte zu dem betreuenden Personal bestehen, kann eine Tätigkeit verneint werden.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand: 1. Juli 2022, IfSG § 20a Rn. 60.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Erfasst werden neben ärztlichem und pflegerischem Personal auch sonstige Betreuungskräfte sowie andere dort tätige Personen, wie zum Beispiel Hausmeister oder Transport-, Küchen- oder Reinigungspersonal.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 20/188, S. 38.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Behindertenhilfe sind vor allem auch die Berufsgruppen umfasst, die neben dem eigentlichen Pflegepersonal in Wahrnehmung ihrer Aufgaben Kontakt mit den Leistungsberechtigten haben, beispielsweise Heilerziehungspfleger, Sonderpädagogen, Heilpädagogen, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter und Inklusions- und Rehabilitationspädagogen.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. Tabbara, Die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Angeboten der Behindertenhilfe in: NZS 2022, 171 (174).</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt, unterfällt die Tätigkeit des Antragstellers dem Anwendungsbereich des § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG. Der Antragsteller ist im Assistenz- und Betreuungsdienst des M.   -W1.         I.         I1.      an deren Standort C.        Straße 00 in U.          tätig. Der M.   -Verbund I.   I1.      bietet ausweislich seines Internetauftritts I.                I1.      für Erwachsene mit geistiger Behinderung. Dazu zählt etwa das Wohnen in einer Betreuten Wohngemeinschaft, wie am Standort C.        Straße in U.          .</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. https://hph.lvr.de/de/nav_main/home/startseite.html, zuletzt abgerufen am 30. August 2022.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Laut des Schreibens des Arbeitgebers des Antragstellers vom 00. Mai 2022 hat der Antragsteller dort direkten und täglichen Kundenkontakt. Kunden und Kundinnen seien Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Ein Kontakt mit diversen Personengruppen sei unumgänglich, um der Aufgabenerfüllung nachzukommen.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund ergibt sich etwas anderes auch nicht im Hinblick darauf, dass der Antragsteller im Verwaltungsverfahren mit Schreiben vom 00. Mai 2022 (Beiakte Heft 1 Bl. 6 ff.) geltend gemacht hat, er arbeite nicht in der Pflege, sondern im pädagogischen Bereich und verbringe „einen großen Teil“ seiner alltäglichen Arbeit am Computer mit Dokumentationen und Verwaltungstätigkeit. Entscheidend ist insofern – wie dargelegt –, dass er im Rahmen seiner Tätigkeit regelmäßig direkten Kontakt mit vulnerablen Personengruppen hat. Dies ist von dem Antragsteller selbst auch nicht in Frage gestellt worden.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen für ein Einschreiten des Antragsgegners nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG liegen vor. Der Antragsteller hat auf die entsprechende Anforderung des Antragsgegners mit Schreiben vom 00. März 2022 keinen Immunitätsnachweis im Sinne des § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG vorgelegt.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Für den Antragsteller greift auch nicht der Ausnahmetatbestand des § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG. Danach gilt die Nachweispflicht des § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden können. Hiervon werden Fälle erfasst, in denen an sich Nachweisverpflichtete aus medizinischen Gründen aufgrund ihrer individuellen medizinischen Vorgeschichte und Konstitution durch die Covid-19-Schutzimpfung ein konkretes Risiko der Eigengefährdung eingehen würden.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 145.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind nach derzeitigem Sach- und Streitstand in der Person des Antragstellers nicht erfüllt. Soweit der Antragsteller im Verwaltungsverfahren gegenüber dem Antragsgegner unter Vorlage einer von ihm selbst verfassten „Kontraindikationserklärung“ vom 00. Mai 2022 (Beiakte Heft 1 Bl. 11) sinngemäß geltend gemacht hat, er wolle sich wegen möglicher Impfnebenwirkungen, insbesondere im Hinblick auf mögliche allergische Reaktionen, derzeit nicht gegen das Coronavirus impfen lassen, hat er damit eine medizinische Kontraindikation im dargelegten Sinne nicht ausreichend dargetan. Sein Vortrag bleibt insoweit vollkommen unsubstantiiert. Das von dem Antragsteller vorgelegte Schreiben von Herrn Dr. med. I2.    -V.      N.    vom 00. Dezember 2021 (Beiakte Heft 1 Bl. 10) ist für eine Substantiierung des Vortrags des Antragstellers nicht ansatzweise geeignet. Ungeachtet des fragwürdigen inhaltlichen Aussagegehalts des mit „Ärztliches Attest für jeden Menschen über das Vorliegen von allgemeinen und speziellen Kontraindikationen gegen die Verabreichung einer Impfung gegen die SARS-CoV-2-Virus-assoziierte Erkrankung“ überschriebenen Schreibens fehlt es diesem auch an jeglichem Bezug zum Einzelfall des Antragstellers.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen wäre dem Antragsgegner durch den Antragsteller im Falle des tatsächlichen Vorliegens einer medizinischen Kontraindikation im Sinne des § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG als Nachweis gemäß § 20a Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 IfSG ein ärztliches Zeugnis hierüber vorzulegen gewesen. Ein solches stellt das Schreiben von Dr. med. N.    vom 00. Dezember 2021 aus den dargelegten Gründen offensichtlich nicht dar.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat nach im Eilverfahren allein möglicher und gebotener summarischer Prüfung auch das ihm im Rahmen des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG zustehende Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht nach § 114 Satz 1 VwGO auch, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des BVerfG legt der § 20a Abs. 5 IfSG zugrundeliegende Regelungszweck, vulnerable Personen zu schützen, sowohl die Anforderung des Nachweises als auch – bei dessen nicht rechtzeitiger Vorlage – den Erlass einer Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG in der Regel nahe. Vorbehaltlich besonders gelagerter Einzelfälle dürfe daher für das Gesundheitsamt letztlich kein relevanter Spielraum bestehen.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 85; in diesem Sinne auch Kießling, Infektionsschutzgesetz, 3. Aufl. 2022, IfSG § 20a Rn. 83.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">In den Blick zu nehmen ist aber auch, dass der Gesetzgeber für bereits zum 15. März 2022 in einer von § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Einrichtung tätige Personen – wie den Antragsteller – kein sich unmittelbar kraft Gesetzes ergebendes Betretungs- oder Tätigkeitsverbot geregelt, sondern dessen Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG gerade von einer ermessensgeleiteten Einzelfallentscheidung des Gesundheitsamts abhängig gemacht hat. Die zuständige Behörde muss das ihr eingeräumte Ermessen (rechtmäßig) ausüben und darf dessen Grenzen nicht über- oder unterschreiten. Darüber hinaus muss sich das Gesundheitsamt des Eingriffs seiner Maßnahmen in die Grundrechte der betroffenen Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 GG bewusst sein.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 147, 215; siehe auch BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand: 1. Juli 2022, IfSG § 20a Rn. 197.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt hier kein Ermessensfehler vor.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Ausweislich der Begründung des Bescheides war sich der Antragsgegner des ihm zustehenden Ermessens bewusst und hat im Rahmen der Ausübung dieses Ermessens auch die Belange des Antragstellers, insbesondere die von ihm im Verwaltungsverfahren geltend gemachten, gewürdigt.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Es bestehen im Eilverfahren auch keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des angeordneten Betretungs- und Tätigkeitsverbotes. Die Anordnung ist zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Das Betretungs- und Tätigkeitsverbot dient einem legitimen Zweck, nämlich dem Schutz von Gesundheit und Leben der von dem Antragsteller betreuten und im Hinblick auf eine Covid-19-Erkrankung als besonders vulnerabel einzustufenden Personen (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 154 f. in Bezug auf die legitimen Ziele der Vorschrift des § 20a IfSG.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Menschen mit einer Behinderung sind in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. Sie unterliegen in Heimen und Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko und tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an Covid-19 zu sterben.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 1 BvR 1541/20 –, juris Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Sie haben einen erhöhten Unterstützungs- und Betreuungsbedarf und können ihre Kontakte nur schwer beeinflussen. Durch eine gemeinsame räumliche Unterbringung, die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten und/oder häufig länger andauerndem nahem physischen Kontakt bei Betreuungstätigkeiten durch wechselndes Personal ist das Risiko einer Infektion zusätzlich erhöht. Bei Menschen mit geistigen Behinderungen, die Zeit in Einrichtungen verbringen, ergibt sich ein nachweislich erhöhtes Expositions- und Infektionsrisiko zudem dadurch, dass sie aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigungen das strikte Einhalten von Hygiene- und Abstandsregelungen häufig nicht eigenverantwortlich sicherstellen können.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 20/188, S. 1.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Das gegenüber dem Antragsteller angeordnete Betretungs- und Tätigkeitsverbot ist zur Erreichung dieses legitimen Zwecks voraussichtlich auch geeignet. Das ist im verfassungsrechtlichen Sinne schon dann der Fall, wenn mit Hilfe der Maßnahme der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. Es ist nicht erforderlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch erreicht wird oder jedenfalls erreichbar ist.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 166.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt, ist es nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner davon ausgeht, das Betretungs- und Tätigkeitsverbot gegenüber dem Antragsteller, der keinen Immunitätsnachweis im Hinblick auf das Coronavirus vorgelegt hat, diene dem Schutz der von ihm betreuten, besonders vulnerablen Personen. Insbesondere ist nach derzeitigem Sach- und Streitstand – wie dargelegt – die Annahme, dass die vorhandenen Impfstoffe eine noch relevante Schutzwirkung im Hinblick auf eine Infektion und eine weitere Transmission des Virus haben, weiterhin tragfähig. Dies ist auch nicht deshalb anders zu bewerten, weil der Antragsteller erstmals in diesem Verfahren behauptet, seines Wissens seien bis auf eine Person alle Personen, mit denen er im Rahmen seiner Tätigkeit Kontakt habe, selbst (mehrfach) gegen das Coronavirus geimpft. Denn auch insofern ist weiterhin davon auszugehen, dass mit einer Impfung (auch) des Antragstellers eine Reduzierung des Infektions- und Transmissionsrisikos einhergeht.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Das Betretungs- und Tätigkeitsverbot ist auch erforderlich. Ein aus Sicht des Antragstellers weniger eingriffsintensives, zur Zweckerreichung ebenso geeignetes Mittel ist nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Es ist in diesem Zusammenhang zunächst rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner kumulativ ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot gegenüber dem Antragsteller ausgesprochen hat. Zwar kann die isolierte Anordnung eines Betretungsverbotes nach den Erwägungen des BVerfG ein milderes Mittel gegenüber der (zusätzlichen) Anordnung eines Tätigkeitsverbotes darstellen, da Mitarbeitern ohne einen Immunitätsnachweis dann eine berufliche Tätigkeit etwa im Home-Office weiter möglich wäre.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 215.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vorliegend hat der Antragsgegner dennoch zu Recht ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesprochen. Denn nach der Stellungnahme des Arbeitgebers des Antragstellers im Verwaltungsverfahren besteht für den Antragsteller keine alternative Einsatzmöglichkeit. Insbesondere sei eine Verlagerung seiner Tätigkeiten, die im direkten und täglichen Kundenkontakt stattfänden, ins Home-Office ausgeschlossen.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Siehe in diesem Zusammenhang auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Juli 2022 – 2 L 820/22 –, juris Rn. 25 ff.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund kann sich der Antragsteller nicht mit Erfolg darauf berufen, er verbringe „einen großen Teil“ seiner Arbeitszeit am Computer mit Dokumentationen und Verwaltungstätigkeit. Insbesondere dürfte auf der Grundlage der Angaben seines Arbeitgebers Vieles dafür sprechen, dass diese Arbeiten gerade an Tätigkeiten in direktem Kontakt mit betreuten Personen anknüpfen, das heißt wegfallen, falls der Antragsteller keinen Kontakt zu diesen Personen mehr hat.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Auch der Vortrag des Antragstellers im Verwaltungsverfahren, er unterziehe sich vor jedem Arbeitstag einem Corona-Test und im Umgang mit den von ihm betreuten Personen bestehe eine Maskenpflicht, stellt die Erforderlichkeit des angeordneten Betretungs- und Tätigkeitsverbotes nicht durchgreifend in Frage. Denn sowohl eine regelmäßige Testung als auch die Einhaltung sonstiger Hygienemaßnahmen stellen keinen gleichwertigen Schutz wie eine Immunisierung dar, gerade bei Kontakt mit besonders vulnerablen Personen.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu im Einzelnen BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 192 ff., 197 und Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u.a. –, juris Rn. 210; siehe auch OVG NRW, Beschluss vom 22. Dezember 2021 – 13 B 1858/21.NE –, juris Rn. 67 ff., 71 ff.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Die streitgegenständliche Regelung erweist sich schließlich nach summarischer Prüfung auch als angemessen. Die mit der Regelung für den Antragsteller verbundenen Nachteile stehen nicht außer Verhältnis zu den bezweckten Vorteilen.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Zwar greift das angeordnete Betretungs- und Tätigkeitsverbot erheblich in das Recht des Antragstellers auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein und betrifft zudem seine Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG. Die getroffene Anordnung begründet zwar keinen Impfzwang, sondern überlässt dem Antragsteller letztlich die Entscheidung, den erforderlichen Nachweis zu erbringen. Sie stellt den Antragsteller aber de facto vor die Wahl, entweder seine bisherige Tätigkeit zumindest zwischenzeitlich aufzugeben und damit die im Verwaltungsverfahren geltend gemachten finanziellen Einbußen hinzunehmen oder aber in die Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität durch die Impfung einzuwilligen.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 206 ff. in Bezug auf die Angemessenheit der Vorschrift des § 20a IfSG.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Es ist jedoch nach summarischer Prüfung dennoch nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner durch seine Anordnung dem Schutz von Leib und Leben der von dem Antragsteller betreuten Personen gegenüber den Rechten des Antragstellers den Vorrang eingeräumt hat. Bei den durch das Betretungs- und Tätigkeitsverbot geschützten Schutzgütern handelt es sich um Verfassungsgüter von überragendem Stellenwert.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 217 ff. in Bezug auf die Angemessenheit der Regelung des § 20a IfSG.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Die von dem Antragsteller betreuten Personen sind zudem im Rahmen der Corona-Pandemie – wie dargelegt – in besonderem Maße schutzbedürftig. Dies gilt auch, soweit sie selbst gegen das Coronavirus geimpft sein sollten. Denn die besondere Schutzbedürftigkeit von Menschen mit geistigen Behinderungen ergibt sich auch daraus, dass sie – unabhängig von einem eigenen Impfschutz – unter anderem deshalb einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt sind, weil sie aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigungen häufig nicht in der Lage sind, Hygiene- und Abstandsregelungen strikt einzuhalten.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Eingriffstiefe auf Seiten des Antragstellers zum einen dadurch abgemildert wird, dass das angeordnete Betretungs- und Tätigkeitsverbot – entsprechend der Geltungsdauer der zugrundeliegenden Rechtsgrundlage des § 20a IfSG, der zum 1. Januar 2023 außer Kraft tritt (vgl. Art. 2 Nr. 1 und 2a i.V.m. Art. 23 Abs. 4 des Gesetzes zur Stärkung der Impfprävention gegen Covid-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie) – bis zum 31. Dezember 2022 befristet ist. Zum anderen gilt die Anordnung auch nur bis zur Vorlage eines Nachweises im Sinne des § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG. Damit besteht für den Antragsteller insbesondere die Möglichkeit, ein ärztliches Zeugnis über das Vorliegen einer medizinischen Kontraindikation im Sinne des § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG vorzulegen. Im Übrigen ist bezüglich des Auftretens von gravierenden Folgen einer Impfung gegen das Coronavirus – wie sie der Antragsteller augenscheinlich befürchtet – von einer nur sehr geringen Wahrscheinlichkeit auszugehen.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu im Einzelnen BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 222, 230 ff. in Bezug auf die Angemessenheit der Vorschrift des § 20a IfSG.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner bei der Anordnung des Betretungs- und Tätigkeitsverbotes den Aspekt der Versorgungssicherheit im Hinblick auf die von dem Antragsteller betreuten Personen nicht hinreichend gewürdigt hätte.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu diesem Gesichtspunkt VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 20. Juli 2022 – 5 L 585/22.NW –, juris Rn. 61; Berneith, Die sogenannte „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ des § 20a IfSG als weitere Herausforderung für die Gesundheitsämter in: COVuR 2022, 135 (138).</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Denn der Arbeitgeber des Antragstellers hat in seinem Schreiben vom 00. Mai 2022 ausdrücklich mitgeteilt, dass ein mögliches Betretungs- und Tätigkeitsverbot für den Antragsteller durch geeignete interne Maßnahmen und die Übertragung von Aufgaben auf andere Personen kompensiert werden könne.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Auch die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 2 des Bescheides begegnet nach summarischer Prüfung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Antragsgegner hat diese rechtmäßig auf der Grundlage von §§ 55 Abs. 1 Var. 2, 57 Abs. 1 Nr. 2, 60 Abs. 1 und 63 Verwaltungsvollstreckungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW) erlassen. Insbesondere lag mit der Anordnung in Ziffer 1 des Bescheides ein vollziehbarer Verwaltungsakt im Sinne des § 55 Abs. 1 Var. 2 VwVG NRW vor, da ein Rechtsmittel gegen das Betretungs- und Tätigkeitsverbot gemäß § 20a Abs. 5 Satz 4 IfSG keine aufschiebende Wirkung hat. Auch die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes von 500,- Euro je Zuwiderhandlung ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten (§ vgl. § 58 Abs. 1 VwVG NRW) nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Kammer legt mangels anderweitiger Anhaltspunkte den Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG zugrunde. Von einer Reduzierung des Streitwertes auf die Hälfte des in der Hauptsache maßgeblichen Streitwertes entsprechend Ziffer 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit,</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">NVwZ 2013, Beilage 2/2013, 57 ff.,</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">wird abgesehen, da die angegriffene Ordnungsverfügung nur bis zum 31. Dezember 2022 gilt und der Antrag des Antragstellers damit inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache abzielt.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">(1)       Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">(2)       Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
346,398
ovgni-2022-08-30-13-ps-20822
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
13 PS 208/22
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-02T10:00:52"
"2022-10-17T11:09:41"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>Beschluss</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Der ehrenamtliche Richter A., A-Straße, A-Stadt, wird mit Wirkung vom 1. Januar 2023 von seinem Amt als Beamtenbeisitzer im Fachsenat für Disziplinarsachen des Landes bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht entbunden.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Entbindung des ehrenamtlichen Richters vom Amt des Beamtenbeisitzers beruht auf §§ 4, 46 NDiszG und § 24 Abs. 3 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p><strong>1.</strong> Gemäß § 4 NDiszG ist der beschließende Senat in entsprechender Anwendung des § 24 Abs. 3 Satz 1 VwGO nach erfolgter Anhörung des ehrenamtlichen Richters (§ 24 Abs. 3 Satz 2 VwGO) dazu berufen, die Entscheidung über dessen Entbindung zu treffen (vgl. Senatsbeschl. v. 1.7.2014 - 13 PS 90/14 -, V.n.b. Umdruck S. 1; Bieler/Lukat/Struß, NDiszG, § 46 Rn. 13 (Stand: November 2017)).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p><strong>2.</strong> Nach § 46 Abs. 1 Nr. 4 NDiszG ist ein ehrenamtlicher Richter von seinem Amt als Beamtenbeisitzer zu entbinden, wenn er nach seiner Bestellung nicht mehr Landesbeamter ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p><strong>a.</strong> Der ehrenamtliche Richter A. ist als Landrat Hauptverwaltungsbeamter des Landkreises A-Stadt (§§ 7 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 4, 80 Abs. 6 Satz 1 und 2 NKomVG) und als solcher zwar kein Landesbeamter im Sinne des § 1 Nr. 1 NBG (Beamter des Landes Niedersachsen), sondern Kommunalbeamter im Sinne des § 1 Nr. 2 NBG (Beamter einer Gemeinde oder eines Gemeindeverbands, vgl. zu letzterem §§ 2 Abs. 3, 3 Abs. 1 NKomVG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>§ 46 Abs. 1 Nr. 4 NDiszG ist ungeachtet seines Wortlauts (vgl. zur Wortlautgrenze bei Auslegungen: BVerfG, Beschl. v. 28.7.2015 - 2 BvR 2558/14 -, juris Rn. 46 m.w.N.) aber dahin auslegen, dass ein ehrenamtlicher Richter von seinem Amt als Beamtenbeisitzer nicht nur dann zu entbinden ist, wenn er nach seiner Bestellung nicht mehr Landesbeamter im Sinne des § 1 Nr. 1 NBG ist, sondern auch dann, wenn er nach seiner Bestellung nicht mehr Kommunalbeamter im Sinne des § 1 Nr. 2 NBG oder nicht mehr Körperschaftsbeamter im Sinne des § 1 Nr. 3 NBG (Beamter einer sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts) ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Gesetzessystematisch korrespondieren die in § 46 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 NDiszG genannten Gründe für die Entbindung vom Amt des Beamtenbeisitzers mit den in § 43 Abs. 1 NDiszG bestimmten Voraussetzungen für die Bestellung zum Beamtenbeisitzer. Nach letztgenannter Vorschrift muss der ehrenamtliche Richter ein dort genannter Beamter auf Lebenszeit oder auf Zeit sein und bei seiner Bestellung seinen dienstlichen Wohnsitz im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts haben, bei dem er als Beamtenbeisitzer bestellt werden soll. Fällt eine oder fallen beide dieser Voraussetzungen nach der Bestellung weg, ist der ehrenamtliche Richter - im Falle des § 46 Abs. 1 Nr. 3 NDiszG auf seinen eigenen Antrag (vgl. Senatsbeschl. v. 22.12.2017 - 13 PS 431/17 -, juris Rn. 1) und im Falle des 46 Abs. 1 Nr. 4 NDiszG auf Antrag des Präsidenten des Verwaltungsgerichts (vgl. Senatsbeschl. v. 30.7.2021 - 13 PS 330/21 -, V.n.b. Umdruck S. 1) - von seinem Amt zu entbinden (vgl. Niedersächsische Landesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des niedersächsischen Disziplinarrechts, LT-Drs. 15/1130, S. 74 f.; Niedersächsischer Landtag, Schriftlicher Bericht zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des niedersächsischen Disziplinarrechts, LT-Drs. 15/2260, S. 17).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Während die Regelung zu den Entbindungsgründen in § 46 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 NDiszG seit ihrer Einführung durch das Gesetz zur Neuordnung des niedersächsischen Disziplinarrechts (NDiszNOG) vom 13. Oktober 2005 (Nds. GVBl. S. 296) unverändert geblieben ist, wurde die Regelung zu den Bestellungsvoraussetzungen in § 43 Abs. 1 NDiszG durch den Landesgesetzgeber aber geändert. Nach ihrer Einführung durch das NDiszNOG lautete sie zunächst <em>"Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter müssen unmittelbare oder mittelbare Landesbeamtinnen oder Landesbeamte auf Lebenszeit oder auf Zeit sein und bei ihrer Bestellung ihren dienstlichen Wohnsitz (§ 15 des Bundesbesoldungsgesetzes) im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts haben."</em> Diese Regelung nahm Bezug auf die Bezeichnung der Beamten in § 2 Abs. 2 NBG in der bis zum 31. März 2009 gültigen Fassung, wonach ein Beamter, der das Land zum Dienstherrn hat, als unmittelbarer Landesbeamter, und ein Beamter, der eine Gemeinde, einen Landkreis oder eine der Aufsicht des Landes unterstehende andere Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts zum Dienstherrn hat, als mittelbarer Landesbeamter bezeichnet worden war. Nach der Änderung der Bezeichnung der Beamten durch § 1 NBG in der ab dem 1. April 2009 geltenden Fassung (<em>"Dieses Gesetz gilt … für die Beamtinnen und Beamten 1. des Landes (Landesbeamtinnen und Landesbeamte), 2. der Gemeinden und Gemeindeverbände (Kommunalbeamtinnen und Kommunalbeamte) sowie 3. der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts (Körperschaftsbeamtinnen und Körperschaftsbeamte)."</em>) nahm der Landesgesetzgeber mit Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes zur Neuregelung des Beamtenversorgungsrechts sowie zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften vom 17. November 2011 (Nds. GVBl. S. 422) eine Folgeänderung in § 43 Abs. 1 NDiszG vor und bestimmte dort: <em>"Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter müssen Landesbeamtinnen oder Landesbeamte, Kommunalbeamtinnen oder Kommunalbeamte oder Körperschaftsbeamtinnen oder Körperschaftsbeamte auf Lebenszeit oder auf Zeit sein und bei ihrer Bestellung ihren dienstlichen Wohnsitz (§ 15 des Bundesbesoldungsgesetzes) im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts haben." </em>Diese Folgeänderung in § 43 Abs. 1 NDiszG war allein redaktioneller Art (vgl. Niedersächsische Landesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Überleitung und Änderung des Beamtenversorgungsrechts sowie zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften, LT-Drs. 16/3207, S. 154 (zu Art. 5 Nr. 4 des Gesetzentwurfs); Niedersächsischer Landtag, Beschlussempfehlung zum Entwurf eines Gesetzes zur Überleitung und Änderung des Beamtenversorgungsrechts sowie zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften, LT-Drs. 16/4150, S. 129). Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber durch die Änderung den zuvor bestehenden Gleichlauf zwischen den Bestellungsvoraussetzungen des § 43 Abs. 1 NDiszG und den Entbindungsvoraussetzungen des § 46 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 NDiszG beseitigen und nur noch den Wegfall der Eigenschaft als Landesbeamter, aber nicht mehr den Wegfall der Eigenschaft als Kommunal- oder Körperschaftsbeamter als Grund für die Entbindung vom Amt des Beamtenbeisitzers ansehen wollte, ergeben sich aus den Gesetzesmaterialien nicht ansatzweise. Vielmehr drängt sich dem Senat der Eindruck auf, dass - in den ohnehin nur lückenhaften Regelungen der materiellen Entbindungsgründe und des förmlichen Entbindungsverfahrens im Ersten Kapitel des Vierten Teils des Niedersächsischen Disziplinargesetzes (§§ 41 bis 47 NDiszG; vgl. hierzu bspw. Senatsbeschl. v. 22.12.2017 - 13 PS 431/17 -, juris Rn. 1; Bieler/Lukat/Struß, NDiszG, § 46 Rn. 12 f. (Stand: November 2021)) - die naheliegende redaktionelle Folgeänderung auch des § 46 Abs. 1 Nr. 4 NDiszG im Gesetzgebungsverfahren schlicht übersehen wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Für die hier vorgenommene Auslegung des § 46 Abs. 1 Nr. 4 NDiszG sprechen schließlich Sinn und Zweck dieses Entbindungsgrundes und der damit korrespondierenden Bestellungsvoraussetzung des § 43 Abs. 1 NDiszG. Die hiernach bestehenden statusrechtlichen Anforderungen an den Beamtenbeisitzer sind begründet in dessen besonderer Sachkunde und sollen sicherstellen, dass aktive Beamte ihre Kenntnisse und Erfahrungen des Wesens, der Anforderungen und der Abläufe der öffentlichen Verwaltung in die verwaltungsgerichtliche Spruchpraxis in Disziplinarsachen einbringen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.1.2013 - BVerwG 2 B 89.11 -, juris Rn. 5 m.w.N.). Dies gilt in gleicher Weise für Landes-, Kommunal- und Körperschaftsbeamte, die als Beamtenbeisitzer tätig werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p><strong>b.</strong> Der ehrenamtliche Richter A. hat mit Schreiben vom 2. August 2022 mitgeteilt, dass er mit Ablauf des 31. Dezember 2022 seine Tätigkeit als Landrat des Landkreises A-Stadt beenden wird. Somit wird er ab dem 1. Januar 2023 nicht mehr Kommunalbeamter sein. Er ist deshalb nach der vom Senat vorgenommenen Auslegung des § 46 Abs. 1 Nr. 4 NDiszG auf den Antrag des Präsidenten des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. August 2022 nach Anhörung mit Wirkung vom 1. Januar 2023 von seinem Amt zu entbinden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Der Beschluss ist entsprechend § 24 Abs. 3 Satz 3 VwGO unanfechtbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006919&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,384
vg-koln-2022-08-30-22-l-133522a
{ "id": 844, "name": "Verwaltungsgericht Köln", "slug": "vg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
22 L 1335/22.A
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-01T10:01:39"
"2022-10-17T11:09:39"
Beschluss
ECLI:DE:VGK:2022:0830.22L1335.22A.00
<h2>Tenor</h2> <table cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p> </td> </tr> </tbody> </table><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der sinngemäße Antrag der Antragsteller,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 4634/22.A gegen die in Ziffer 5. des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: „Bundesamt“) vom 3. August 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf das Verwaltungsgericht auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Aussetzung der Abschiebung nur dann anordnen, wenn nach der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Der Begriff der „ernstlichen Zweifel“ i. S. v. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG entspricht dabei dem übereinstimmenden Begriff in Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG. Die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme darf danach nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Überprüfung im Hauptsacheverfahren wahrscheinlich nicht standhält.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93 –, juris, Rn. 99.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Entscheidung über einen solchen Antrag ist im Hinblick auf den durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz auch zu prüfen, ob die Begründung des Bundesamts für die Ablehnung des Asylantrag als offensichtlich unbegründet verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt bzw. ob die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrag als offensichtlich unbegründet vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2008 – 2 BvR 1819/07 –, juris, Rn. 11 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid des Bundesamts vom 3. August 2022 stützt sich zur Begründung der „Offensichtlichkeit“ auf § 30 Abs. 1 AsylG. Danach ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter offensichtlich nicht vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet setzt insoweit voraus, dass nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Bundesamts vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Asylbegehrens geradezu aufdrängt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2008 – 2 BvR 1819/07 –, juris, Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran liegen die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragsteller nicht vor. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand und insbesondere unter Berücksichtigung der von den Antragstellern in ihren Anhörungen beim Bundesamt gemachten und im gerichtlichen Verfahren in Bezug genommenen Angaben spricht alles dafür, dass das Bundesamt den Antrag der Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Asylanerkennung sowie den Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt und zugleich zu Recht festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. für die Asylanerkennung (Art. 16a Abs. 1 GG) und die Zuerkennung subsidiären Schutzes hat das Bundesamt zu Recht nach § 30 Abs. 1 AsylG als offensichtlich nicht gegeben erachtet. Gründe, die ernstliche Zweifel an dieser Beurteilung wecken könnten, sind nicht ersichtlich und von den Antragstellern auch nicht vorgetragen worden. Die Antragsteller haben übereinstimmend angegeben, dass ihr unerfüllter Kinderwunsch und die Hoffnung auf eine Kinderwunschbehandlung in Deutschland den Hauptgrund ihrer Antragstellung darstellen. Weiterhin haben sie vorgetragen, dass sie sich dem familiären Druck im Zusammenhang mit ihrer bisherigen Kinderlosigkeit und insbesondere der hiermit verbundenen Häme des Bruders des Antragstellers zu 1. entziehen wollten. Das Bundesamt hat in Bezug auf diese Angaben der Antragsteller zu Recht angenommen, dass es sich hierbei offenkundig um keine flüchtlings- bzw. asylrelevante Verfolgung handelt und sich aus diesen Lebensumständen kein Anspruch auf subsidiären Schutz ergibt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die entsprechenden Ausführungen im Bescheid des Bundesamts Bezug verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG. Die Antragsteller sind diesen Ausführungen des Bundesamts im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht substantiiert entgegengetreten. Zudem haben die Antragsteller weder in ihren Anhörungen beim Bundesamt noch im hiesigen Verfahren Anhaltspunkte vorgetragen, die auf das Vorliegen von Verfolgungshandlungen, die an flüchtlings- bzw. asylrelevante Merkmale – namentlich ihre Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – anknüpfen, schließen lassen. Die Antragsteller haben eine politische oder religiöse Verfolgung im Rahmen ihrer Anhörungen vielmehr sogar jeweils ausdrücklich verneint.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren nunmehr erstmals vortragen, der Antragsteller zu 1. habe Sorge, in Aserbaidschan künftig wegen des „offenen Konflikts mit Armenien“ zum Wehrdienst eingezogen zu werden, ergeben sich auch hieraus keine ernstlichen Zweifel an der Beurteilung des Bundesamts, dass dem Antragsteller zu 1. offensichtlich keine Flüchtlingseigenschaft i. S. v. § 3 AsylG zuzuerkennen ist. Schließlich hat jeder Staat grundsätzlich das Recht, eine Streitkraft zu unterhalten und seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst dieser Streitkraft heranzuziehen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">VG Köln, Urteil vom 7. Dezember 2021 – 6 K 11240/17.A –, juris, Rn. 19; VG Ansbach, Urteil vom 21. Januar 2022 – AN 16 K 17.30737 –, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Im Zusammenhang mit der potentiellen Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft kommt einer drohenden Einziehung zum Wehrdienst regelmäßig nur dann Bedeutung zu, wenn die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfüllt sind. Hiernach kann eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, bei dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, als Verfolgung i. S. v. § 3a Abs. 1 AsylG gelten. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erkennbar nicht gegeben und wurden seitens der Antragsteller auch nicht vorgetragen. Die Antragsteller geben nicht einmal an, dass der Antragsteller zu 1. einen Einberufungsbefehl erhalten habe. Es handelt sich bei der geäußerten Sorge mithin um eine vage Vermutung, der Antragsteller zu 1. könne in Zukunft zum Militärdienst eingezogen werden. Dieser Vermutung fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage. Auch wenn der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach aus dem Jahr 2020 derzeit wieder aufzuflammen droht, hat der Antragsteller zu 1. jedenfalls nicht zur Überzeugung des Gerichts dargelegt, dass er deswegen aller Voraussicht nach eingezogen wird und die Einheit, der er angehören würde, mit hoher Wahrscheinlichkeit Kriegsverbrechen i. S. v. § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG, wie es § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfordert, begehen wird.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Siehe zu den Anforderungen im Hinblick auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG: BVerwG, Beschluss vom 7. November 2019 – 1 B 77/19 –, juris, Rn. 5; BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2019 – 1 C 10/18 –, juris, Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Ferner bestehen auch keine ernstlichen Zweifel an der Beurteilung des Bundesamts im Hinblick auf die mangelnde subsidiäre Schutzberechtigung der Antragsteller. Derartige Zweifel ergeben sich auch nicht daraus, dass die Antragsteller im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren nunmehr vortragen, sie könnten nicht nach Aserbaidschan zurückkehren, da der Bruder des Antragstellers zu 1. weiterhin „streitlustig“ sei und die übrige Verwandtschaft aus diesem Grund von einer Rückkehr nach Aserbaidschan abrate. Denn selbst wenn man diesen Vortrag als wahr unterstellt, ergibt sich auch hieraus offensichtlich kein Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes i. S. v. § 4 AsylG.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nur subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Rechtlich beachtlich ist die Gefahr eines solchen Schadens gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG nur, wenn sie von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 –, juris, Rn. 6 m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">keine Ausschlussgründe nach § 4 Abs. 2 AsylG vorliegen und der Betroffene nicht in einem Teil seines Herkunftslandes effektiven Schutz vor diesem drohenden ernsthaften Schaden finden kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1, §§ 3d, 3e AsylG).</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Vorliegend kommt es – wenn überhaupt – nur in Betracht, die Häme bzw. die nicht näher beschriebene „Streitlust“ des Bruders des Antragstellers zu 1. als erniedrigende Behandlung i. S. v. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu qualifizieren. Selbst wenn man im Ergebnis zu dieser Auffassung gelangt, scheitert die rechtliche Beachtlichkeit dieser Einordnung jedoch an den Anforderungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG. Hiernach handelt es sich bei einem nichtstaatlichen Akteur, wie dem Bruder des Antragstellers zu 1., nur dann um einen Akteur, von dem die Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgehen kann, wenn erwiesenermaßen weder der Staat selbst (§ 3c Nr. 1 AsylG) noch Parteien oder Organisationen, die den jeweiligen Staat oder einen wesentlichen Teil dessen Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG), in der Lage oder willens sind, dem Betroffenen Schutz vor einem ernsthaften Schaden i. S. d. § 3d AsylG i. V. m. § 4 Abs. 3 Satz 2 AsylG zu bieten. Gemäß § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG muss dieser Schutz wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz nach § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG dann gewährleistet, wenn die Akteure i. S. v. § 3c Nr. 1 und 2 AsylG geeignete Schritte einleiten, um die Gefahr eines ernsthaften Schadens zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die die Gefahr eines ernsthaften Schadens begründen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach der Erkenntnislage des hiesigen Gerichts ist davon auszugehen, dass die aserbaidschanische Strafrechtspflege den vorstehenden Anforderungen grundsätzlich gerecht wird. Hieran vermag auch der Umstand, dass das aserbaidschanische Justizsystem hinter den Anforderungen des Europarats zurückbleibt, nichts zu verändern, da sich diese Bewertung im Wesentlichen aus der unsachgemäßen Handhabung von Verfahren mit politischer Bedeutung durch die aserbaidschanische Justiz ergibt.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Qualität der Strafrechtspflege bzw. des Justizsystems in Aserbaidschan insgesamt: Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Aserbaidschan, Stand: 10. Dezember 2020, S. 9 ff.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Ein solches Szenario steht vorliegend aber gerade nicht in Rede. Vielmehr geht es bei den Auseinandersetzungen der Antragsteller mit dem Bruder des Antragstellers zu 1. um einen innerfamiliären Konflikt ohne jedwede politische Dimension. Sofern die Schmähungen des Bruders als solche strafrechtliche Relevanz aufweisen oder gar in Gewalt umschlagen sollten, ist davon auszugehen, dass die aserbaidschanischen Strafverfolgungsbehörden nach entsprechender Alarmierung hierauf angemessen reagieren. Soweit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgetragen wird, die Polizeibehörden würden sich in Aserbaidschan in derartige Konflikte per se nicht einmischen, handelt es sich um eine bloße Behauptung, die die Antragsteller nicht im erforderlichen Maße substantiiert haben.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Über die vorstehenden Ausführungen hinaus dürfte für die Antragsteller auch eine innerstaatliche Fluchtalternative i. S. d. § 3e AsylG bestehen. Es ist den Antragsstellern – soweit erforderlich – zuzumuten, an einem anderen Ort Aserbaidschans internen Schutz zu suchen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Ferner bestehen auch keine ernstliche Zweifel hinsichtlich der Feststellung des Bundesamts, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Auch insoweit sind Gründe, die ernstliche Zweifel an dieser Beurteilung wecken könnten, nicht ersichtlich. Insbesondere ergeben sich solche Gründe auch nicht daraus, dass die Antragsteller vortragen, die Antragstellerin zu 2. sei wegen des unerfüllten Kinderwunsches „sehr depressiv“ und „psychisch gestört“. Grundsätzlich kann zwar die Gefahr, dass sich eine Krankheit im Zielstaat als nicht behandelbar erweist, eine erhebliche konkrete Gefahr i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und damit ein Abschiebungsverbot darstellen. Dies setzt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG allerdings voraus, dass es sich um eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung handelt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Die Frage, ob die vorgetragenen Beeinträchtigungen der Antragstellerin zu 2. eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG zu begründen vermögen – wogegen einiges spricht –, kann vorliegend dahinstehen. Denn nach § 60 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG muss der Ausländer derartige Erkrankungen durch qualifizierte ärztliche Bescheinigungen glaubhaft machen. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG soll diese ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes, den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Gemessen an diesen Maßstäben haben die Antragsteller die Erkrankungen der Antragstellerin zu 2., die sie pauschal als „Depression“ und „psychische Störung“ bezeichnen, erkennbar nicht in ausreichendem Maße glaubhaft gemacht. Schließlich haben die Antragsteller dem hiesigen Gericht bisher nicht einmal ein einfaches ärztliches Attest im Hinblick etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen der Antragstellerin zu 2. vorgelegt.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung i. V. m. der gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe des Bescheides (vgl. Ziffer 5. des angegriffenen Bescheides) unterliegt zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ebenfalls keinen ernstlichen Zweifeln, da das Bundesamt zugleich die Vollziehung der Abschiebungsandrohung im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens ausgesetzt und so den unionsrechtlichen Anforderungen an einen wirksamen Rechtsbehelf Genüge getan hat.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. insoweit: EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 – C-181/16 –, juris, Rn. 61 f.; EuGH, Beschluss vom 5. Juli 2018 – C-269/18 –, juris, Rn. 49 f.; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 – 1 C 19.19 –, juris, Rn. 54 ff.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.</p>
346,383
ovgnrw-2022-08-30-19-a-40821
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19 A 408/21
"2022-08-30T00:00:00"
"2022-09-01T10:01:38"
"2022-10-17T11:09:38"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0830.19A408.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Berufungszulassung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet. Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Der Kläger macht in seinem Antrag ausschließlich den Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend. Aus dem fristgerechten Zulassungsvorbringen ergeben sich jedoch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn dieser Vorschrift.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. statt vieler BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 7. Juli 2021 ‑ 1 BvR 2356/19 ‑, NVwZ-RR 2021, 961, juris, Rn. 23, vom 16. April 2020 ‑ 1 BvR 2705/16 ‑, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 21, und Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff.; VerfGH NRW, Beschlüsse vom 13. Oktober 2020 ‑ VerfGH 82/20.VB-2 ‑, juris, Rn. 19, und vom 17. Dezember 2019 ‑ VerfGH 56/19.VB-3 -, NVwZ-RR 2020, 377, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zu der Bewertung der Leistungen des Klägers im Beurteilungsbereich „Sonstige Leistungen“ im Fach Englisch, die unter anderem zugrunde legen, dass in diesem Beurteilungsbereich eine mündliche Mitarbeit im Unterricht erwartet und verlangt werden konnte, begegnet der Kläger mit dem neuen Vortrag, seine mündliche Mitarbeit sei nicht ausreichend gewürdigt worden, weshalb es an einer ermessensfehlerfreien Bewertung fehle. Diese Annahme trifft nicht zu. In dem Verwaltungsvorgang sind mehrere fachlich begründete Stellungnahmen der Englischlehrerin enthalten, die sich mit den schriftlichen wie auch sonstigen Leistungen und dort unter anderem mit der mündlichen Mitarbeit des Klägers befassen. Gemäß einer Erklärung der Englischlehrerin vom 16. Mai 2018 (Beiakte Heft 1, Bl. 74) habe der Kläger viele verpasste Inhalte ‑ was für ihn ungewöhnlich sei ‑ nicht nachgearbeitet und nur selten im Unterricht mitgearbeitet. Im Rahmen einer weiteren, undatierten Stellungnahme (Beiakte Heft 1, Bl. 108) führt die Englischlehrerin zudem aus, dass sich die „Bewertung der mündlichen Note … schlichtweg in der nicht erbrachten Leistung in den anwesenden Stunden sowie in den nicht wahrgenommenen Angeboten zum Erbringen von Leistung“ begründe. Dabei habe sie ihren „pädagogischen Spielraum … voll zu seinen Gunsten ausgeschöpft“ (Beiakte Heft 1, Bl. 106) und dem Kläger mehrfach Unterstützung sowie Alternativen zur Feststellung des Leistungsstands bei nicht zu vertretener Leistungserbringung angeboten (vgl. insoweit die Erläuterungen in Beiakte Heft 1, Bl. 48 f., Bl. 106 ff.), wie es § 48 Abs. 4 SchulG NRW ermöglicht.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die weitergehenden Würdigungen des Verwaltungsgerichts, die Mathematiklehrerin habe es bestritten, dem Kläger eine Woche vor der Festsetzung acht Punkte in Aussicht gestellt zu haben, und ungeachtet dessen würde hieraus kein rechtlicher Anspruch erwachsen, werden durch das Zulassungsvorbringen nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt. Der Kläger wiederholt insoweit lediglich sein erstinstanzliches Vorbringen, dass die Mathematiklehrerin ihm die Bewertung der mündlichen Mitarbeit mit acht Punkten seines Erachtens verbindlich mitgeteilt habe, setzt sich mit den diesbezüglichen Ausführungen in dem angegriffenen Urteil aber nicht auseinander. Entsprechendes gilt auch für das weitere Vorbringen des Klägers, die spontane Herabsetzung sei in dem Verwaltungsvorgang nicht ausreichend begründet worden. Ungeachtet dessen, dass der Kläger hiermit die gegenteilige Annahme des Verwaltungsgerichts lediglich bestreitet, ohne seine Auffassung näher zu begründen oder konkrete Anhaltspunkte darzulegen, um Zweifel an der Würdigung im Urteil zu wecken, trifft dieser Einwand ebenfalls nicht zu. Dem Verwaltungsvorgang (Beiakte Heft 1, Bl. 109) ist nicht nur die Aussage der Mathematiklehrerin zu entnehmen, dem Kläger in einem Gespräch mitgeteilt zu haben, für die sonstige Mitarbeit im Fach Mathematik sieben Punkte zu erhalten, sondern auch Erwägungen, die aus schulfachlicher Sicht für die Notenbildung entscheidend waren (Beiakte Heft 1, Bl. 166 ff.).</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Schließlich zieht der Kläger auch die rechtliche und tatsächliche Würdigung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich seiner Bewertung im Fach Sport nicht durchgreifend in Zweifel. Danach sei es rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Sportlehrerin bei der Bewertung der beiden Referate des Klägers das Fehlen eines mündlichen Vortrags sowie einer praktischen Durchführung mit den Mitschülern berücksichtigt habe, wie es das Leistungsbewertungskonzept des Berufskollegs an der M.------straße in L.    für das Fach Sport der Jahrgangsstufe 12 bei langfristig sportunfähigen Schülern verlange. Dass der Kläger an den beiden für die Vorstellung vorgesehenen Tagen krank gewesen sei, entschuldige nicht, dass er sich weder mit der Sportlehrerin für einen Ersatztermin in Verbindung gesetzt noch dass er bei der Schule beantragt habe, von der Pflicht zum mündlichen Vortrag und zur praktischen Durchführung befreit zu werden. Mit dieser Argumentation im angegriffenen Urteil setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht auseinander. Der Kläger wiederholt lediglich, dass er nach Abgabe der beiden Referate an den Tagen des Sportunterrichts krank gewesen und es ihm deshalb nicht möglich gewesen sei, sich mit der Sportlehrerin in Verbindung zu setzen und einen Ersatztermin zu finden. Er legt jedoch weder substantiiert dar noch macht er glaubhaft, dass und weshalb es ihm an den fraglichen Tagen oder danach nicht möglich gewesen sein soll, den Kontakt zu der Sportlehrerin zu suchen, um die praktische Durchführung der Referate und mündliche Überprüfung im Unterricht oder nach gesonderter Terminvereinbarung zu ermöglichen. Einen solchen Versuch, den zu Recht bereits das Verwaltungsgericht verlangt hat, hat der Kläger ausweislich des Verwaltungsvorgangs nicht unternommen. Dies geht aus einer darin enthaltenen undatierten Stellungnahme seiner Sportlehrerin (Beiakte Heft 1, Bl. 105) hervor, die deshalb nach eigenem Bekunden von einer fehlenden Erbringung der Ersatzleistungen ausgegangen sei. Auf deren Bedeutung habe sie den Kläger mehrfach hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger darüber hinaus im Berufungszulassungsverfahren erstmalig die Behauptung aufstellt, die Klassenkoordinatorin habe ihm mitgeteilt, dass er weder am Sportunterricht teilnehmen noch dort erscheinen müsse, die Sportnote würde aus dem Zeugnis herausgestrichen, ist dies jedenfalls nicht glaubhaft gemacht worden. Die angekündigte Vorlage einer Tonbandaufnahme genügt weder zur Glaubhaftmachung noch könnte einer mündlichen Äußerung der Klassenkoordinatorin – ungeachtet der Frage der rechtlichen Zulässigkeit einer Aufnahme des gesprochenen Wortes – ein rechtlich relevanter Dispens von der Unterrichtsteilnahme entnommen werden. Zudem hat der Kläger in diesem Zusammenhang selbst eingeräumt, dass ihm im Nachgang des behaupteten Gesprächs auf seine eigene Initiative hin die Möglichkeit eingeräumt wurde, am Sportunterricht teilnehmen zu können. Ein ärztliches Attest zur Begründung einer Unmöglichkeit der Anwesenheit im Sportunterricht oder sogar einer generellen Verhinderung, die Schule zu besuchen, die der Erbringung der geforderten Ersatzleistungen im Sinn des § 48 Abs. 4 SchulG NRW entgegengestanden hätte, hat der Kläger nicht vorgelegt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,892
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123 C 60/21
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-10-12T10:01:24"
"2022-10-17T11:10:59"
Urteil
ECLI:DE:AGSU1:2022:0829.123C60.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beklagten werden verurteilt, der Erhöhung der Nettomiete für die in der Moselstraße X, 2. Obergeschoss, 53842 Troisdorf belegene Wohnung von bisher monatlich 560,00 € netto zzgl. Nebenkostenvorauszahlung auf nunmehr monatlich 622,50 € netto zzgl. Nebenkostenvorauszahlung mit Wirkung ab dem 01.03.2021 zuzustimmen.</p> <p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p> <p>Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger als Gesamtschuldner 25% und die Beklagten als Gesamtschuldner 75%.</p> <p>Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung der jeweils anderen Partei wegen der Kosten abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages, wenn nicht diese vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Kläger sind Vermieter, die Beklagten sind Mieter der im Tenor näher bezeichneten Wohnung. Gem. § 4 Nr. 1 des Mietvertrages zahlen die Beklagten seit Beginn des Mietverhältnisses zum 01.06.2007 eine monatliche Nettokaltmiete von 560,00 EUR pro Monat. Bei der Wohnung handelt es sich um eine Maisonette-Dachgeschosswohnung. Mit Schreiben vom 30.12.2020 forderten die Kläger die Beklagten zur Zustimmung und zur Zahlung einer erhöhten Nettokaltmiete von 644,00 EUR mit Wirkung ab dem 01.03.2021 auf. Zur Ortsüblichkeit der begehrten Miete bezogen sich die Kläger im Mieterhöhungsverlangen auf drei in ihrem Eigentum stehende Vergleichswohnungen:</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1) Troisdorf, Moselstraße X, 1. Obergeschoss rechts, 77,00 m2, Miete 8,57 EUR pro m2 = monatlich 660,00 EUR.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">2) Troisdorf, Moselstraße Y, 1. Obergeschoss rechts, 85,00 m2, Miete 8,47 EUR pro m2 = monatlich 720,00 EUR.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">3) Troisdorf, Moselstraße Z, 1. Obergeschoss, 78,00 m2, Miete 8,72 EUR pro m2 = monatlich 680,00 EUR.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten widersprachen der Erhöhung mit Schreiben vom 26.2.2021.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Kläger beantragen,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">die Beklagten zu verurteilen, der Erhöhung der Nettomiete für die in der Moselstraße X, 2. Obergeschoss, 53842 Troisdorf belegene Wohnung von bisher monatlich 560,00 EUR netto zzgl. Nebenkostenvorauszahlung auf nunmehr monatlich 644,00 EUR netto zzgl. Nebenkostenvorauszahlung mit Wirkung ab dem 01.03.2021 zuzustimmen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten beantragen,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">              die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlich Sachverständigengutachtens des Sachverständigen C, welches dieser in der Sitzung vom 8.8.2022 mündlich erläutert hat. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 21.3.2022 (Blatt 160ff. der Akten) sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 8.8.2022 (Blatt 329ff. der Akten) verwiesen. Auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst eingereichter Unterlagen wird ergänzend Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das formell ordnungsgemäße Mieterhöhungverlangen der Kläger ist überwiegend erfolgreich. Die ortsübliche Vergleichsmiete für die streitgegenständliche Wohnung beträgt 7,98€/qm netto kalt. Die Beklagten sind zur Zustimmung zur Mieterhöhung auf nunmehr 622,50 € monatlich netto-kalt ab dem 1.3.2021 verpflichtet.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die ortsübliche Vergleichsmiete wird gemäß § 558 Abs. 2 BGB gebildet aus den üblichen Entgelten, die in der Gemeinde oder einer vergleichbaren Gemeinde für Wohnraum vergleichbarer Art, Größe, Ausstattung, Beschaffenheit und Lage einschließlich der energetischen Ausstattung und Beschaffenheit in den letzten sechs Jahren vereinbart worden ist. Diese hat der Sachverständige C in seinem Gutachten zutreffend mit 7,98 €/qm netto kalt ermittelt.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Für die Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete hat der Sachverständige C zunächst 11 Vergleichswohnungen aus seinem Datenbestand herangezogen und vergleichend bewertet. Nach der Bewertung beträgt den Mittelwert der Nettokaltmieten dieser Wohnungen 8,59 €/qm netto kalt. Die vergleichende Bewertung der Wohnungen ist übersichtlich und gut nachvollziehbar. Wegen der Einzelheiten wird auf die entsprechenden Passagen des Gutachtens, Blatt 177-185 der Akten verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Anschließend hat der die streitgegenständliche Wohnung nach dem Troisdorfer Mietspiegel von 2021 bewertet und anhand des Mietspiegels eine durchschnittliche übliche Vergleichsmiete von 6,70€/qm netto kalt ermittelt. Nach dem Troisdorfer Mietspiegel 2021 (Seite 13) könne die tatsächlich für eine bestimmte Wohnung gezahlte Miete jedoch vom Durchschnitt abweichen. Für die ortsübliche Vergleichsmiete könne - gemäß Mietspiegel Troisdorf 2021 - also nicht ein bestimmter Wert angegeben werden, der dann genau einzuhalten wäre. Laut Troisdorfer Mietspiegel 2021 sei eine Mietwertspanne von rd. +/-15 % vom/zum Durchschnittswert ortsüblich. Für die zu bewertende Wohnung sei - lt. Mietspiegel - eine Mietwertspanne von5,66 E/qm - 7,71 E/qm ortsüblich. Der Mietwert der hier in Rede stehenden Wohnung bewege sich oberhalb des ermittelten Durchschnittswertes von 6,70 E/qm. Bei der Ermittlung der durchschnittlichen ortsüblichen Vergleichsmiete laut Mietspiegel unberücksichtigten, Merkmale (Maisonette-Wohnung (Haus in Haus), zusätzlich Gäste-WC, Dachterrasse, Isolierverglasung, keine freiliegenden Versorgungs- und Entsorgungsleitungen,  Kabelanschluss, Kacheln oder gleichwertige Versiegelung im Nassbereich,  abschließbarer Fahrradabstellraum) sei vorliegend ein Zuschlag von rund 10 % zum Durchschnitts-Mietwert angemessen/sachgerecht. Laut Mietspiegel 2021 ergebe sich für die Wohnung eine Vergleichsmiete von 7,36 €/qm netto kalt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die festgestellte ortsübliche Vergleichsmiete von 7,98€/qm netto kalt ergebe sich aus dem arithmetischen Mittel der anhand der Vergleichswohnungen und des Mietspiegels ermittelten Werte.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Den Einwand der Beklagten, dass die vom Sachverständigen erhöhend angeführten Merkmale nach dem Mietspiegel 2021 der Stadt Troisdorf erhoben und ausgewertet worden seien, jedoch keinen plausiblen oder keinen signifikanten Einfluss auf das Mietniveau aufgewiesen hätten, hat der Sachverständige in seinen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung vom 8.8.2021 nachvollziehbar ausgeräumt.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Troisdorfer Mietspiegel gebe – jedenfalls für die streitgegenständliche Wohnungsgröße – die ortsübliche Vergleichsmiete nicht zutreffend wieder. Die Berücksichtigung von Faktoren, wie etwa Gäste WC oder Dachterrasse bereits im Mittelwert sei nicht plausibel. Auffallend sei, dass die Vergleichsmiete im Mietspiegel für 2021 unter den Werten des Mietspiegels von 2014 liege. Gerade im städtischen Bereich müsse eigentlich mit einer Preissteigerung von mindestens 10% zu rechnen sein. Die Datenerhebung im Troisdorfer Mietspiegel dürfte nicht korrekt sein. Über die Ursachen könne er nur spekulieren. Möglich sein könnte, dass auf Daten von Wohngeldbeziehern überproportional zurückgegriffen worden sei. Wenn man hier die wohnwertbestimmenden Merkmale vergleichsweise in den Bonner Mietspiegel einordne, so ergäbe sich durch den Bonner Mietspiegel ein Zuschlag von 1,21 €. Das sei auch nachvollziehbar. Völlig unplausibel sei, dass bei einer Wohnung mit Ofenheizung  kein Abschlag zu machen sei. Wohnungen wie die vorliegende mit Dachterrasse und Gäste WC ließen sich deutlich besser vermieten als Wohnungen ohne. Gerade für diese beiden Faktoren, seien Zuschläge zwingend. Die angeführten 11 Vergleichswohnungen, wiesen alle eine deutlich höhere Miete auf. Wohnungen, wie die von den Beklagten bewohnte für 6 oder 7 € pro Quadratmeter konnte er in Troisdorf gar nicht finden.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Diese Ausführungen überzeugen das Gericht vollumfänglich. Die nicht vorhandenen oder nur minimalen Preissteigerungen im Vergleich der Troisdorfer Mietspiegel von 2014 und 2021 für die streitgegenständliche Wohnungsgröße sind angesichts der gerichtsbekannten Preissteigerungen auf dem Wohnungsmarkt, insbesondere im städtischen Bereich in den letzten 8 Jahren unverständlich und unrealistisch. Die vom Sachverständigen dargestellten Mieten der 11 Vergleichswohnungen sind hingegen nachvollziehbar und realistisch. Das Gericht geht daher davon aus, dass die von dem Sachverständigen im Gutachten ermittelte ortsübliche Vergleichsmiete von 7,98€/qm eher zugunsten der Beklagten von der tatsächlichen ortsüblichen Vergleichsmiete abweicht. Eine durch den Mietspiegel der Stadt Troisdorf von 2021 begründete Vermutung (§558 d Abs. 3 BGB) ist für die streitgegenständliche Wohnung jedenfalls widerlegt.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 ZPO, die Nebenbestimmungen aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird auf 1.008,00 EUR festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsbehelfsbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung für jeden zulässig, der durch dieses Urteil in seinen Rechten benachteiligt ist,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">1. wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,00 EUR übersteigt oder</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Berufung in dem Urteil durch das Amtsgericht zugelassen worden ist.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Berufung muss <strong>innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung</strong> dieses Urteils bei dem Landgericht Bonn, Wilhelmstr. 21, 53111 Bonn, eingegangen sein. Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklärung, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde, enthalten.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist, sofern nicht bereits in der Berufungsschrift erfolgt, binnen zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils gegenüber dem Landgericht Bonn zu begründen.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Parteien müssen sich vor dem Landgericht Bonn durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere müssen die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift von einem solchen unterzeichnet sein.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.</p>
346,622
lagham-2022-08-29-5-ta-22322
{ "id": 794, "name": "Landesarbeitsgericht Hamm", "slug": "lagham", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Arbeitsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
5 Ta 223/22
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-09-20T10:01:51"
"2022-10-17T11:10:19"
Beschluss
ECLI:DE:LAGHAM:2022:0829.5TA223.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin vom 20.06.2022 gegen den Prozesskostenhilfebeschluss des Arbeitsgerichts Herne vom 16.06.2022 - 4 Ca 897/22 - wird der Beschluss abgeändert.</p> <p>Der Klägerin wird für das Verfahren Prozesskostenhilfe in vollem Umfang mit Wirkung zum 02.06.2022 unter Beiordnung von Rechtsanwalt A. aus B bewilligt.</p> <p>Die Bewilligung erfolgt mit der Maßgabe, dass die Klägerin monatliche Raten aus ihrem Einkommen in Höhe von 143,00 € zu zahlen hat.</p> <p>Der Ratenbeginn wird durch das Arbeitsgericht festgesetzt.</p> <p>Kosten werden für die Entscheidung nicht erhoben.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Die Klägerin hatte unter dem 24.05.2022 eine Zahlungsklage auf Zahlung des April-Gehaltes erhoben und hierfür die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Das Verfahren endete am 14.06.2022 durch ein Versäumnisurteil.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Anhand der vorgelegten Unterlagen ergab sich ein einzusetzendes Einkommen von 573,56€, woraus sich eine monatliche Rate von 286,00 € ergab bei zu erwartenden Prozesskosten von 715,19 €, so dass sich nicht mehr als vier Raten ergeben hätten, um die Prozesskosten zu tilgen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 16.06.2022 wurde daher die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt entsprechend § 115 Abs. 4 ZPO. Gegen diesen Beschluss wandte sich die Klägerin mit der am 20.06.2022 bei Gericht eingegangenen sofortigen Beschwerde. Hier verwies sie auf ein Parallelverfahren bei derselben Kammer des erkennenden Arbeitsgerichts, aufgrund dessen bereits eine Ratenzahlung in Höhe von 286,00 € mit Beschluss vom 13.06.2022 im dortigen Prozesskostenhilfeverfahren angeordnet worden war und vertrat die Auffassung, diese Rate sei bei den Belastungen zu berücksichtigen, zumal der vorliegende Beschluss nach dem im Parallelverfahren ergangen sei.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das dortige Verfahren war am 31.03.2022 eingeleitet worden. Es beinhaltete die Erhebung einer Kündigungsschutzklage sowie die Vergütungsansprüche für den Monat März 2022. Das Verfahren endete am 26.04.2022 mit einem Vergleich, der die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.04.2022 sowie die Zahlung der Vergütung für März 2022 vorsah.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Vergütungsansprüche der Klägerin wurden laut Arbeitsvertrag jeweils zum 10. des Folgemonates fällig.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 08.07.2022 erging eine Nichtabhilfe-Entscheidung mit der Begründung, dass die im Parallelverfahren ermittelten Raten tatsächlich noch nicht gezahlt würden.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">II. Die sofortige Beschwerde ist nach den §§ 46 Abs. 2 Satz 3, 78 Satz 1 ArbGG, 127 Abs. 2 Satz 2 und 3, 567 ff ZPO zulässig. Die einmonatige Notfrist gem. § 127 Abs. 2 Satz 3 ZPO ist gewahrt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1. Die sofortige Beschwerde ist auch in der Sache begründet.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">a) Das Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG gebietet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht, dass diejenigen, die über keine materiellen Mittel verfügen, um Prozesskosten zu tragen, mit denjenigen, denen solche Mittel zur Verfügung stehen, völlig gleichgestellt werden, sondern verlangt eine weitgehende Angleichung mit denen, die ihre Prozessaussichten vernünftig abwägen und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigen. Es ist deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich, Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung im Sinne des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die entsprechende Prüfung darf jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zu verlagern.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen. Das gilt für die Prüfung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung ebenso wie für die Feststellung der Bedürftigkeit derjenigen, die Prozesskostenhilfe beantragen, was in § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO als weitere Voraussetzung für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe genannt ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Februar 2020, 1 BvR 1975/18, Rn. 14, juris unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 2007, 1 BvR 2007/07, juris, Rn. 19; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014, 1 BvR 1671/13, Rn. 15).</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Daher hat auch die Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse mit dem gebotenen Augenmaß zu erfolgen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">b) Insofern hat das Arbeitsgericht zunächst zu Recht darauf abgestellt, dass grundsätzlich nur solche Belastungen einer Partei zu berücksichtigen sind, die nicht nur numerisch als Verbindlichkeiten vorhanden sind, sondern von dieser auch bedient werden. Schulden, die entweder gestundet sind oder von der Partei schlicht ignoriert werden, können den Lebensunterhalt nicht beeinträchtigten, wenn das zur Verfügung stehende Einkommen nicht durch die Erbringung aktuell zu leistender Abzahlungen minimiert wird (allg. Rechtsprechung auch der Beschwerdekammern des LAG Hamm, siehe nur aus neuerer Zeit LAG Hamm, Beschluss vom 23. März 2018, 5 Ta 135/17, juris;  Beschluss vom 6. August 2015, 5 Ta 415/15, juris jeweils m.w.N.).</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nach Auffassung der Kammer darf ein solcher Grundsatz aber nicht schematisch angewandt werden. Vorliegend ist der Sachverhalt dadurch geprägt, dass die Klägerin aufgrund des Verhaltens der Arbeitgeberin gezwungen war, mehrere Verfahren nacheinander gegen diese zu führen, um berechtigte Entgeltansprüche durchzusetzen. Die daraus resultierenden Kosten können von ihr derzeit noch gar nicht getilgt werden, da Verfahrenskosten im arbeitsgerichtlichen Verfahren erst nach einer Kostenentscheidung bzw. dem Ende des Verfahrens fällig werden gem. §§ 6 Abs. 3, 9 GKG. Die Fälligkeit der Kosten des Parallelverfahrens bestand daher zwar zum Zeitpunkt der Entscheidung im hiesigen Verfahren, konnten aber mangels Zustellung eines Zahlungsplanes noch nicht getilgt werden.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">c) Voraussetzung für die Entstehung einer Zahlungspflicht im Rahmen der Prozesskostenhilfe ist neben der Ratenzahlungsanordnung als solcher, dass der Zahlungsbeginn festgesetzt und ein Zahlungsplan übersandt wurde. Die Partei hat die dann fällig werdenden Monatsraten auch grundsätzlich zu leisten. Tut sie dies in der Hoffnung auf ein erfolgreiches Beschwerdeverfahren nicht, läuft sie Gefahr, dass die bewilligte Prozesskostenhilfe wegen eines mehr als dreimonatigen Zahlungsrückstandes gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 5 ZPO aufgehoben wird (LAG Hamm, Beschluss vom 12. Februar 2019, 14 Ta 358/18, Rn. 13, juris).</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dies ändert aber nichts daran, dass ab der Zustellung des Zahlungsplanes fällige Forderungen vorliegen. Die Fälligkeit war vorliegend im Parallelprozess auf den 01.08.2022. festgesetzt worden. Zu dem Zeitpunkt, zu dem ein weiterer Zahlungsplan im vorliegenden Prozess zugestellt würde, wären somit zwei fällige Forderungen gegeben, die gleichzeitig getilgt werden müssten. Dasselbe gälte übrigens auch bei einer Ablehnung der Prozesskostenhilfe für dann gegenüber dem Prozessbevollmächtigten direkt zu tilgender Teil- oder Gesamtbeträge.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nicht gewillt wäre, die angeordneten Raten zu zahlen, sind nicht ersichtlich. Eine Beschwerde bezüglich der im Parallelverfahren festgesetzten Raten wurde nicht erhoben (zu einem vergleichbaren Fall, bei dem die Partei Beschwerde eingelegt hatte, weshalb die Raten zunächst nicht berücksichtigt wurden OVG Lüneburg, Beschluss vom 14. Februar 2020 , 10 PA 166/19, juris).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zu beachten ist hierbei auch die Vorschrift des § 120 Abs. 1 S. 2 ZPO, der zwar ausdrücklich nur die Festsetzung von Raten im Hinblick auf absehbar entfallende Belastungen regelt. Allerdings kann diese Bestimmung nach Auffassungen in der Literatur auch dann angewandt werden, wenn es sich um absehbare tatsächliche Belastungen handelt, etwa die höhere Miete für einen bei Bewilligung der Prozesskostenhilfe bereits abgeschlossenen Mietvertrag (siehe hierzu Schultzky-Zöller, 33. Aufl., 2020, § 120 Rz. 6; Musielak/Voit/Fischer, 19. Aufl. 2022, ZPO § 120 Rn. 6 m.w.N.).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dieser Auffassung schließt sich die Beschwerdekammer jedenfalls für Fälle dieser eindeutigen Art an, in denen das Bestehen der Verbindlichkeit unbestritten ist und im Fall der Prozesskostenhilfe auch in jedem Fall der Nichtzahlung eine Beitreibung erfolgen würde, anderenfalls die Prozesskostenhilfe wegen Ratenrückstands gem. § 124 Abs. 1 Ziff. 5 ZPO aufgehoben würde.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Missbrauch einer derartigen Handhabung lässt sich in der Weise ausschließen, dass die Anrechenbarkeit (Erforderlichkeit, zu erwartende tatsächliche Tilgung) der begründeten Verpflichtung besonders genau geprüft wird, um zu vermeiden, dass eine Partei bewusst Verpflichtungen erzeugt, die ihre Leistungsfähigkeit einschränken.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">d) Somit scheint es nach Ansicht der Beschwerdekammer angezeigt, die bereits feststehenden Raten im Parallelverfahren im konkreten Einzelfall bereits zu berücksichtigen. Anderenfalls würde eine Partei, die jeweils aufgrund Nichtleistung ihrer berechtigten Ansprüche gezwungen ist, Klage zu erheben, ohne dass sie aufgrund der Fälligkeitszeitpunkte in der  Lage ist, eine bereits anhängige Klage zur Kostenminimierung zu erweitern, gehindert, Folgeansprüche geltend zu machen, da sie es sich schlicht nicht mehr leisten könnte. Jedenfalls wäre diese Möglichkeit von dem von ihr nicht zu beeinflussenden Zeitablauf der Bearbeitung des Prozesskostenhilfeverfahrens durch das Gericht abhängig.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Eben diese Situation hat sich vorliegend auch verwirklicht. Zum Zeitpunkt des Vergleiches im Parallelverfahren war das hier eingeklagte Entgelt für den April 2022 noch nicht fällig, so dass, nachdem das Entgelt für den April 2022 ausgeblieben ist, nach dessen Fälligkeit Klage zu erheben war.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">2) Nach der von dem Arbeitsgericht vorgenommenen Berechnung, die nicht angegriffen wurde und nach Ansicht der Kammer korrekt erfolgt ist, ergibt sich ein anrechenbares Einkommen von 573,56 €. Zieht man hiervon die Raten im Parallelverfahren 4 Ca 587/22 in Höhe von 286,00 € ab, ergibt sich ein verbleibendes Einkommen von 287,56 € und damit gem. § 115 Abs. 2 S. 1 ZPO eine Rate in Höhe von 143,78 €, abzurunden auf 143,00 €  x vier Raten ergeben 572,00 € und damit mehr als vier Raten zur Tilgung der Verfahrenskosten von 715,19 €.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben, denn ein Grund für die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. § 574 Abs. 2 und 3 ZPO) besteht nicht.</p>
346,598
olgd-2022-08-29-5-uf-19721
{ "id": 820, "name": "Oberlandesgericht Düsseldorf", "slug": "olgd", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
5 UF 197/21
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-09-16T10:02:09"
"2022-10-17T11:10:15"
Beschluss
ECLI:DE:OLGD:2022:0829.5UF197.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Teilbeschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Mönchengladbach vom 19.10.2021 aufgehoben, soweit er die Folgesache eheliches Güterrecht betrifft (Tenor S. 3 des Beschlusses von „In der Folgesache eheliches Güterrecht“ bis „Der darüber hinausgehende Widerantrag zu Ziff. I.1. und 2. wird zurückgewiesen“). Insoweit wird die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung – auch über die gesamten Kosten des Beschwerdeverfahrens – an das Amtsgericht Mönchengladbach zurückverwiesen.</p> <p>Die weitergehende  Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die am 00.01.1949 geborene Antragstellerin und der am 00.10.1946 geborene Antragsgegner schlossen am 24.08.1970 die Ehe und lebten fortan im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Spätestens seit Juli 2016 leben sie voneinander getrennt, wobei der Trennungszeitpunkt streitig ist.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Seit dem 23.03.2018 ist das vorliegende Scheidungsverfahren rechtshängig, in dem die Antragstellerin die Folgesachen Zugewinnausgleich und Unterhalt anhängig gemacht hat und den Antragsgegner im Wege des Stufenantrags auf Zahlung von Zugewinnausgleich sowie nachehelichem Unterhalt in Anspruch nimmt. Beide Folgesachen befinden sich in der Auskunftsstufe.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Zum Zugewinnausgleich</span></p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">In der Folgesache Zugewinnausgleich hatten die Beteiligten wechselseitig Auskunftsanträge gestellt, die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 08.07.2019 (Bl. 1 GÜ-Heft), der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 04.02.2021 (Bl. 54 GÜ-Heft). Die Beteiligten hatten zunächst versucht, eine gütliche Einigung über den Zugewinnausgleich zu erzielen; die Bemühungen scheiterten jedoch Anfang des Jahres 2021. Die Antragstellerin hat daraufhin unter dem 01.02.2021 das Parallelverfahren AG Mönchengladbach 39 F 29/21 (= OLG Düsseldorf II-5 UF 199/21) mit dem Ziel der vorzeitigen Aufhebung der Zugewinngemeinschaft (§ 1384 BGB) anhängig gemacht.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hat es für zulässig erachtet, auch nach Stellung des Aufhebungsantrags i.S.v. § 1386 BGB den Stufenantrag zum Zugewinnausgleich zunächst im Scheidungsverbund weiterzuverfolgen. Nach ihrer Auffassung führe erst die Rechtskraft des Beschlusses über die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft dazu, dass das bislang im Scheidungsverbund anhängige Verfahren nicht weiter als Folgesache geführt werden könne.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber hat der Antragsgegner die Auffassung vertreten, dass der Verbundantrag zum Zugewinnausgleich unzulässig werde, sobald der Antrag auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft gestellt sei.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat in den beiden Verfahren zeitgleich Entscheidungen verkündet.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">In der Parallelsache 39 F 29/21 hat es mit Beschluss vom 19.10.2021 die Zugewinngemeinschaft der Beteiligten vorzeitig aufgehoben. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners hat der Senat mit Beschluss vom 28.04.2022 (II-5 UF 199/21) zurückgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 123 ff der Beiakten Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Verbundverfahren hat das Amtsgericht durch den angefochtenen Teilbeschluss vom 19.10.2021 den beiderseitigen Auskunftsanträgen in der Folgesache Zugewinnausgleich teilweise stattgegeben. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 70 ff GA Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsgegner seinen erstinstanzlichen Zurückweisungsantrag weiter. Er vertritt die Auffassung, dass der Verbundantrag der Antragstellerin zum Zugewinn jedenfalls mit Rechtskraft des im Parallelverfahren ergangenen Beschlusses unzulässig geworden sei. Denn eine rechtskräftige Entscheidung in einem Verfahren nach § 1386 BGB führe zur Auflösung des Verbunds von Scheidungs- und Zugewinnausgleichsverfahren, weil keine Entscheidung mehr für den Fall der Scheidung zu treffen sei.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin verteidigt den angefochtenen Teilbeschluss. Zwar sei mit Rechtskraft des Beschlusses über die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft das Verbundverfahren zum Zugewinnausgleich nachträglich unzulässig geworden und damit Erledigung eingetreten. Dies habe aber lediglich zur Folge, dass das Zugewinnausgleichsverfahren nunmehr als selbständiges Verfahren fortzuführen sei. Damit werde die Auskunftsstufe keinesfalls hinfällig.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat die Akten des Amtsgerichts Mönchengladbach 39 F 29/21 (=II-5 UF 199/21) beigezogen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Zum nachehelichen Unterhalt:</span></p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Während des Getrenntlebens hatte der Antragsgegner an die Antragstellerin zuletzt einen monatlichen Barunterhalt von rund 10.000 € gezahlt und darüber hinaus weitere Naturalleistungen erbracht. Nach dem Scheitern der Vergleichsverhandlungen über den Zugewinnausgleich wurde auch der Ehegattenunterhalt zum Streitpunkt zwischen den Beteiligten. Mit anwaltlichem Schreiben vom 17.05.2021 ließ die Antragstellerin den Antragsgegner zur Auskunftserteilung über sein Einkommen auffordern.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">In Reaktion darauf kündigte der Antragsgegner mit anwaltlichem Schreiben vom 28.05.2021 (Bl. 37 UE-Heft) die Überweisung eines Betrags von 1.000.000 € an die Antragstellerin an, welcher zu verrechnen sei „auf die etwaigen Ansprüche Ihrer Mandantin auf Trennungs- und gegebenenfalls nachehelichen Unterhalt sowie als Vorausleistung auf den Zugewinnausgleichanspruch Ihrer Mandantin“. Die Rückforderung einer etwaigen Überzahlung behielt er sich dabei zunächst vor, verzichtete aber später mit anwaltlichem Schreiben vom 22.06.2021 ausdrücklich auf diesen Vorbehalt (Bl. 27 UE-Heft). Die Überweisung der 1.000.000 € erfolgte am 01.06.2021 unter Angabe des Verwendungszwecks „Zahlg unter Vorbeh gem RA Schr vom 28.05.2021 auf TU, neU und GÜ“ (Kontoauszug Bl. 26 UE-Heft).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Mit anwaltlichem Schreiben vom 09.06.2021 (Bl. 39 UE-Heft) bestätigte die Antragstellerin den Zahlungseingang. Sie stellte sich auf den Standpunkt, dass sie für nicht mehr als drei Monate verpflichtet sei, Unterhaltsvorauszahlungen entgegenzunehmen, zumal diese ja auch unter dem Vorbehalt der Rückforderung geleistet worden seien. Entsprechend werde sie von den erhaltenen 1.000.000 € jeweils 9.000 € auf den Trennungsunterhalt für die kommenden drei Monate und den Restbetrag von 973.000 € auf den Zugewinnausgleich verrechnen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Sodann hat die Antragstellerin – ebenfalls unter dem 09.06.2021 – die Folgesache nachehelicher Unterhalt anhängig gemacht und den Antragsgegner im Wege des Stufenantrags auf Auskunftserteilung und Zahlung nachehelichen Unterhalts in Anspruch genommen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat beantragt, den Stufenantrag zurückzuweisen. Nach seiner Auffassung stehe der Antragstellerin nach Erhalt der 1.000.000 € kein Anspruch auf Ehegattenunterhalt mehr zu, da ihr Unterhaltsbedarf damit auf viele Jahre gedeckt und sie mithin nicht bedürftig sei. Damit bedürfe es auch keiner Auskunft mehr über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Durch den angefochtenen Teilbeschluss hat das Amtsgericht dem  Auskunftsantrag der Antragstellerin stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt:</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Auskunftsanspruch bestehe dem Grunde nach als Vorstufe für einen etwaigen Unterhaltsanspruch. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners sei aufgrund der Zahlung von 1.000.000 € ein Anspruch auf Ehegattenunterhalt nicht vollständig ausgeschlossen. Es könne nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden,  dass es sich um Vermögen handele, welches die Antragstellerin zur Deckung ihres Unterhaltsbedarfs verwenden könne, da zwischen den Beteiligten Uneinigkeit darüber bestehe, ob die Zahlung auf einen Unterhalts- oder den Zugewinnausgleichsanspruch zu verrechnen sei. Überdies hänge der Bedarf des Unterhaltsberechtigten davon ab, wie sich die individuellen wirtschaftlichen Verhältnisse im Rahmen einer Gesamtabwägung darstellten. Um überhaupt erst einmal abschätzen zu können, in welchem Umfang gegebenenfalls eine Unterhaltsverpflichtung bestehe, bedürfe es der begehrten Auskunft über das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten. Allenfalls dann wäre eine Auskunft nicht geschuldet, wenn deren Ergebnis den Unterhaltsanspruch unter keinen Umständen beeinflussen könne. Für unbegrenzt leistungsfähig habe sich der Antragsgegner allerdings nicht erklärt.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsgegner seinen erstinstanzlichen Zurückweisungsantrag weiter. Er macht geltend:</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Entgegen der im angefochtenen Beschluss vertretenen Auffassung habe er sehr wohl erklärt, „unbegrenzt leistungsfähig“ zu sein. Er habe in erster Instanz zwar den Begriff nicht verwendet, jedoch sei sein Vortrag über seine erheblich überdurchschnittlichen Einkommensverhältnisse nicht anders zu verstehen gewesen. Vorsorglich bezeichne er sich in der Beschwerdeinstanz nun auch ausdrücklich als „unbegrenzt leistungsfähig“.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Auch aus anderen Gründen sei die von der Antragstellerin begehrte Auskunft ohne Relevanz für Bestand und Höhe des Unterhaltsanspruchs:</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Selbstverständlich sei die Antragstellerin aufgrund der von ihm, dem Antragsgegner, getroffenen Zahlungsbestimmungen verpflichtet, den erhaltenen Betrag zur Deckung ihres Unterhaltsbedarfs zu verwenden. Vermutlich werde dieser bis an ihr Lebensende, jedenfalls aber noch für viele Jahre reichen, so dass sie gegenwärtig nicht unterhaltsbedürftig sei.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Angesichts seines weit überdurchschnittlichen Einkommens könne sie einen Unterhaltsbedarf in der Größenordnung der zuletzt geleisteten monatlichen Zahlungen ohnehin nicht als Quotenbedarf, sondern nur im Wege der konkreten Bedarfsberechnung darlegen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Schließlich sei ein etwaiger Unterhaltsanspruch zeitlich zu begrenzen. In Anbetracht dessen, dass die Beteiligten nicht erst – wie von der Gegenseite behauptet – seit Juli 2016, sondern bereits seit Ostern 1995 voneinander getrennt lebten und er seither durchgehend Trennungsunterhalt zahle, sowie angesichts fehlender ehebedingter Nachteile auf Seiten der Antragstellerin führe die Billigkeitsabwägung gemäß § 1578 b BGB dazu, den Anspruch auf Ehegattenunterhalt bereits ab Rechtskraft der Scheidung entfallen zu lassen.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin verteidigt den angefochtenen Beschluss. Sie bestreitet, dass eine Trennung bereits im Jahr 1995 erfolgt sei. Hiergegen spreche bereits, dass die Beteiligten bis zum Jahr 2016 eine gemeinsame Steuererklärung abgegeben hätten.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat die Beteiligten mit Beschluss vom 04.05.2022 darauf hingewiesen, dass die Beschwerde des Antragsgegners nach derzeitigem Stand erfolgversprechend sei. Denn der von der Antragstellerin im Wege der Stufenklage anhängig gemachte Leistungsantrag auf Zahlung eines „noch im Einzelnen zu beziffernden Unterhalts ab Rechtskraft der Scheidung“ sei abweisungsreif, ohne dass es dafür noch auf die begehrte Auskunft ankäme. Die Antragstellerin sei derzeit und auch auf lange Sicht nicht bedürftig, nachdem sie vom Antragsgegner am 01.06.2021 eine Zahlung in Höhe von 1.000.000 € erhalten habe mit der Bestimmung, diese auf den Trennungs- und nachehelichen Unterhalt zu verrechnen und im Übrigen als Vorausleistung auf den Zugewinnausgleichsanspruch anzusehen. Selbst wenn man von einem monatlichen Unterhaltsbedarf der Antragstellerin in Höhe von 10.000 € ausgehe, reiche der zugewandte Geldbetrag, um ihren Bedarf bis einschließlich September 2029 sicherzustellen. Der Scheidungsausspruch werde voraussichtlich deutlich früher rechtskräftig werden, so dass ein Antrag auf Festsetzung von nachehelichem Unterhalt „ab Rechtskraft der Scheidung“ keine Aussicht auf Erfolg habe.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Dies bedeute allerdings nicht, dass die Antragstellerin keinen Auskunftsanspruch gegen den Antragsgegner habe, sondern nur, dass die Geltendmachung des Auskunftsanspruchs im Wege des Stufenantrags verbunden mit einem Leistungsantrag auf Unterhaltszahlung ab Rechtskraft der Scheidung keinen Erfolg verspreche. Aussicht auf Erfolg habe demgegenüber die Verbindung des Auskunftsantrags mit einem Antrag auf Feststellung, dass sie berechtigt sei, von den erhaltenen 1.000.000 € einen monatlichen Betrag in noch zu beziffernder Höhe für den nachehelichen Unterhalt zu verwenden, da auf diese Weise sowohl die Eigenschaft als Stufenantrag als auch der Scheidungsverbund erhalten blieben.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Denn ein Auskunftsanspruch aus §§ 1580, 1605 BGB stehe der Antragstellerin gegen den Antragsgegner auch angesichts der erhaltenen Zahlung von 1.000.000 € grundsätzlich zu. Schon weil diese nach den vom Antragsgegner getroffenen Zahlungsbestimmungen zunächst auf den Ehegattenunterhalt und dann auf den Zugewinnausgleich zu verrechnen sei, müsse die Antragstellerin in die Lage versetzt werden, den ihr monatlich zustehenden Unterhalt zu errechnen. Das diene nicht nur der langfristigen Finanzplanung, sondern sei auch von Bedeutung für eine etwaige Anrechnung von Vorausempfängen im Zugewinnausgleich gemäß § 1380 BGB.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Auf den Hinweis des Senats hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 23.05.2022 – unter Aufrechterhaltung ihres Antrags auf Zurückweisung der Beschwerde des Antragsgegners – ihren Stufenantrag geändert. Anstelle des bisherigen Leistungsantrags (Antrag zu 3. der Antragsschrift vom 09.06.2021) stellt sie nunmehr einen Antrag auf Feststellung,</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">dass sie berechtigt ist, ab Rechtskraft der Scheidung von den erhaltenen 1.000.000 € einen monatlichen Betrag in noch zu beziffernder Höhe für den nachehelichen Unterhalt zu verwenden.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hält an seinem Beschwerdeantrag auf Zurückweisung des Auskunftsantrags der Antragstellerin fest.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Er ist der Auffassung, dass der Stufenantrag auch nach erfolgter Antragsänderung zurückzuweisen sei. Der nunmehr auf der letzten Stufe gestellte Feststellungsantrag sei unzulässig. Es fehle zunächst an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis, da gegenwärtig mangels Bedürftigkeit kein Unterhaltsanspruch bestehe und künftige Ansprüche nicht feststellungsfähig seien. Außerdem sei ein berechtigtes Interesse der Antragstellerin an der begehrten Feststellung nicht ersichtlich. Nach den von ihm getroffenen Zahlungsbestimmungen dürfe sie die 1.000.000 € zunächst für ihren Trennungsunterhaltsbedarf und dann nach Rechtskraft der Scheidung für ihren nachehelichen Unterhaltsbedarf vollumfänglich verbrauchen; der zugewandte Betrag stünde ihr vollständig zur freien Verfügung. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass er sich zu keinem Zeitpunkt darauf berufen habe, dass die Zahlung von 1.000.000 € ganz oder teilweise gemäß § 1380 BGB auf die Zugewinnausgleichsforderung anzurechnen sei. § 1380 BGB finde hier auch keine Anwendung, da die Zahlung erst nach Zustellung des Scheidungsantrags geleistet worden sei.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Auch in der Sache habe der Feststellungsantrag keine Aussicht auf Erfolg, da der Antragstellerin – wie dargelegt – in Anwendung des § 1578 b BGB kein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt zustehe. Da sie wider besseres Wissen an dem von ihr behaupteten Trennungszeitpunkt im Juli 2016 festhalte, obwohl er, der Antragsgegner, bereits seit 27 Jahren in einer verfestigten Lebensgemeinschaft mit seiner aktuellen Partnerin lebe, sei zudem der Verwirkungstatbestand des § 1579 Nr. 3 BGB erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde hat in der Sache nur den aus dem Tenor ersichtlichen vorläufigen Teilerfolg.</p> <span class="absatzRechts">40</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">1. <span style="text-decoration:underline">Zugewinnausgleich</span></p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">In Bezug auf die Auskunftserteilung zum Zugewinnausgleich ist der angefochtene Beschluss – wie der Senat bereits in seinem Hinweisbeschluss vom 04.05.2022 ausgeführt hat – gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 7 ZPO i.V.m. § 117 Abs. 2 S. 1 FamFG aufzuheben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuweisen, ohne dass es dazu des Antrags eines Beteiligten bedürfte (§ 538 Abs. 2 S. 3 ZPO). Denn das Amtsgericht hat unter Verstoß gegen §§ 137 Abs. 1, 142 Abs. 1 FamFG eine unzulässige Teilentscheidung erlassen.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Teilentscheidungen über Folgesachen im Scheidungsverbund sind gemäß § 142 Abs. 1 FamFG grundsätzlich unzulässig. Eine Ausnahme gilt für Stufenanträge in Folgesachen, bei denen lediglich die Entscheidung über die Leistungsstufe im Verbundbeschluss zu erfolgen hat, während über die Auskunftsstufe vorab durch Teilbeschluss zu entscheiden ist (BGH FamRZ 1982, 151f). Ein Stufenantrag in einer Nicht-Folgesache darf demgegenüber nicht im Scheidungsverbund durch Teilbeschluss beschieden werden, sondern ist zuerst zwingend gemäß § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 145 ZPO aus dem Verbund zu trennen und als isoliertes selbständiges Verfahren zu führen, bevor in zulässiger Weise ein Teilbeschluss über die Auskunftsstufe ergehen kann.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft durch den im Parallelverfahren ergangenen, rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts vom 19.10.2021 führt zwangsläufig dazu, dass das bislang im Scheidungsverbund anhängige Verfahren über den Zugewinnausgleich nicht weiter als Folgesache geführt werden kann, da hier keine Entscheidung mehr für den Fall der Scheidung zu treffen ist, wie dies § 137 Abs. 2 FamFG voraussetzt (BGH, FamRZ 2019, 1045 f, Rz. 9; Sachs / Völlings, Vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft während rechtshängiger Folgesachen Güterrecht, FamRB 2015, 255f). Das Zugewinnausgleichsverfahren ist daher aus dem Scheidungsverbund herauszulösen und isoliert fortzuführen (BGH, a.a.O.), was nach Auffassung des Senats im Wege der Verfahrenstrennung nach §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. 145 ZPO zu erfolgen hat (Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, 7. Aufl., Rn. 344; Schneider, Kostenentscheidung und Verfahrenswert im Verfahren auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft, NZFam 2021, 647). Der Senat sieht sich jedoch an einer Verfahrenstrennung dadurch gehindert, dass in der Beschwerdeinstanz nur zwei einzelne Folgesachen anhängig sind, während sich der übrige Scheidungsverbund noch in der ersten Instanz befindet.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat im vorliegenden Verbundverfahren und im Parallelverfahren über die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft zeitgleich zwei nicht miteinander zu vereinbarende Entscheidungen verkündet. Durch die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft im Verfahren 39 F 29/21 hat es die Voraussetzung dafür geschaffen, dass das im Scheidungsverbund anhängige Zugewinnausgleichsverfahren – nach Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses – dort nicht weiter als Folgesache geführt werden konnte. Gleichwohl hat  das Amtsgericht die Folgesache Güterrecht im Verbund belassen und den angefochtenen Teilbeschluss betreffend die Auskunftserteilung in den Folgesachen Güterrecht und nachehelicher Unterhalt erlassen. Richtigerweise hätte vor Erlass einer die Folgesache Güterrecht betreffenden Entscheidung im Scheidungsverbundverfahren zunächst der Ausgang des Beschwerdeverfahrens in der Parallelsache 39 F 29/21 abgewartet werden müssen, da nur im Fall eines erfolgreichen Rechtsmittels das Zugewinnausgleichsverfahren im Scheidungsverbund verblieben wäre. Im Fall der Zurückweisung der Beschwerde hätte das Amtsgericht das Zugewinnausgleichsverfahren demgegenüber gemäß §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. 145 ZPO abtrennen und gesondert darüber verhandeln und entscheiden müssen.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dies wird vom Amtsgericht nun nachzuholen sein.</p> <span class="absatzRechts">47</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">2. <span style="text-decoration:underline">nachehelicher Unterhalt</span></p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Soweit sich der Antragsgegner gegen die Verpflichtung zur Auskunftserteilung über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse in der Folgesache nachehelicher Unterhalt wendet, ist seine Beschwerde unbegründet. Der Antragstellerin steht gegen den Antragsgegner ein Auskunftsanspruch aus §§ 1580, 1605 BGB zu, den sie nach erfolgter Antragsänderung auch im Scheidungsverbund im Wege des Stufenantrags geltend machen kann.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">1.              Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der nunmehr von der Antragstellerin auf der letzten Stufe gestellte Feststellungsantrag zulässig.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">a)              Die begehrte Feststellung, dass die Antragstellerin berechtigt ist, ab Rechtskraft der Scheidung von den erhaltenen 1.000.000 € einen monatlichen Betrag in noch zu beziffernder Höhe für den nachehelichen Unterhalt zu verwenden, betrifft ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis, nämlich die Unterhaltsbeziehung der Beteiligten, welche mit der Zahlung von 1.000.000 € keineswegs beendet worden ist, zumal die Zahlung ausdrücklich zur Deckung des Unterhaltsbedarfs der Antragstellerin erfolgte.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">b)              Ein Feststellungsinteresse der Antragstellerin ist gegeben. Auch nach Erhalt der 1.000.000 € benötigt sie die Information über die Höhe des ihr monatlich zustehenden Unterhalts für ihre Finanzplanung. Zwar ist sie in der Verwendung des Geldbetrages grundsätzlich frei und darf ihn auch für unterhaltsfremde Zwecke verwenden. Auf den Verbrauch des zugewandten Betrages und eine damit einhergehende erneute Bedürftigkeit wird sie sich in einem künftigen Unterhaltsverfahren gegenüber dem Antragsgegner allerdings nur dann berufen können, wenn sie das Geld entsprechend der Zweckbestimmung für ihren Unterhalt verbraucht hat. Hierzu muss sie die Höhe ihres Unterhaltsanspruchs kennen oder – durch die begehrte Auskunft – zumindest in die Lage versetzt werden, den ihr monatlich zustehenden Unterhalt selbst zu errechnen.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass der zugewandte Betrag nach der vom Antragsgegner mit Anwaltsschreiben vom 28.05. und 22.06.2021 getroffenen Leistungsbestimmung zwar vorrangig für die Deckung des Unterhaltsbedarfs im Rahmen von Trennungs- und nachehelichem Unterhalt verwendet werden soll, ein etwa überschießender Betrag jedoch als Vorausleistung auf den Zugewinnausgleich zu verrechnen ist. Damit benötigt die Antragstellerin die begehrte Information auch für das zwischen den Beteiligten anhängige Zugewinnausgleichsverfahren. Auch wenn der Antragsgegner zutreffend darauf hinweist, dass die Zahlung von 1.000.000 € keinen Vorausempfang im Sinne von § 1380 BGB darstellt, weil sie erst nach Zustellung des Scheidungsantrags erfolgt ist (vgl. Grüneberg/Siede, BGB, 81. Auflage, § 1380 Rn. 5), so dient sie doch der Erfüllung des Zugewinnausgleichsanspruchs. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsgegner nunmehr darauf verzichten möchte, sich auf die (teilweise) Erfüllung des Zugewinnausgleichsanspruchs infolge der Zahlung von 1.000.000 € zu berufen. Denn nach seiner Auffassung steht einem Anspruch der Antragstellerin auf nachehelichen Unterhalt sowohl der Befristungseinwand aus § 1578 b BGB als auch der Verwirkungseinwand aus § 1579 Nr. 3 BGB entgegen, so dass der Anspruch auf Ehegattenunterhalt spätestens mit Rechtskraft des Scheidungsausspruchs wegfalle. Zu diesem Zeitpunkt dürfte der zugewandte Betrag jedoch noch nicht vollständig für den laufenden Unterhalt der Antragstellerin verbraucht sein. Es ist nicht anzunehmen, dass der Antragsgegner ihr den dann noch vorhandenen Restbetrag ohne Anrechnung auf den Zugewinnausgleich überlassen möchte.</p> <span class="absatzRechts">54</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">2. Der Auskunftsantrag der Antragstellerin ist auch begründet. Ein  Auskunftsanspruch aus §§ 1580, 1605 BGB steht ihr gegen den Antragsgegner auch angesichts der erhaltenen Zahlung von 1.000.000 € grundsätzlich zu.</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">a)      Entgegen der Auffassung des Antragsgegners steht der Umstand, dass er sich in der Beschwerdeinstanz für „unbeschränkt leistungsfähig“ erklärt hat, dem Anspruch aus § 1580 BGB nicht entgegen. Denn einer solchen Erklärung ist regelmäßig nur zu entnehmen, dass der Unterhaltspflichtige darauf verzichtet, den Einwand fehlender oder eingeschränkter Leistungsfähigkeit zu erheben. Damit steht aber noch nicht fest, dass auch der Unterhaltsbedarf ohne Rücksicht auf die Höhe des Einkommens ermittelt werden kann. Denn auch wenn das Familieneinkommen über das Doppelte des höchsten Einkommensbetrags der Düsseldorfer Tabelle hinausgeht, kann der Unterhaltsberechtigte seinen Unterhaltsanspruch nach der Quotenmethode berechnen (zu den Voraussetzungen im Einzelnen BGH FamRZ 2018, 260ff, Rz. 17). Um für diesen Fall die vollständige Verwendung des Einkommens für seinen Lebensbedarf darzulegen, ist die Einkommensauskunft des Unterhaltspflichtigen von Relevanz, sodass dieser auch hier zur Auskunftserteilung verpflichtet ist (BGH, a.a.O., Rz. 25).</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">b)      Auch der Befristungseinwand nach § 1578 b BGB sowie der Verwirkungseinwand nach § 1579 Nr. 3 BGB stehen einem Auskunftsanspruch nach §§ 1605 Abs. 1 S. 1 i.V.m. 1580 S. 2 BGB regelmäßig nicht entgegen. Denn zu den maßgeblichen Gesichtspunkten für die nach §§ 1578 b bzw. 1579 BGB zu treffende Ermessensentscheidung gehören auch die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Unterhaltspflichtigen (Münchener Kommentar zum BGB / Maurer, 9. Aufl., § 1580, Rn. 31ff). Lediglich dann, wenn bereits ohne weitere Erhebungen beurteilt werden kann, dass offenkundig kein Unterhaltsanspruch besteht, ist auch keine Auskunft zu erteilen. Ist hingegen zu den Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 1578 b oder 1579 BGB noch Beweis zu erheben, besteht regelmäßig auch ein Auskunftsanspruch aus § 1580 BGB (Münchener Kommentar zum BGB / Maurer, a.a.O., Rn. 22).</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier. Denn der Antragsgegner stützt seinen Befristungseinwand maßgeblich darauf, dass die Beteiligten bereits seit 1995 getrennt leben, und seinen Verwirkungseinwand darauf, dass die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren bewusst falsche Angaben zum Trennungszeitpunkt gemacht hat. Beides wird von der Antragstellerin substantiiert bestritten, so dass das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 1578 b, 1579 BGB nicht ohne Beweisaufnahme festgestellt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens ist im Fall der Aufhebung und Zurückverweisung der unteren Instanz zu überlasen. Das gilt auch, wenn das Rechtsmittelgericht – wie hier – die Sache nur teilweise zurückverweist und im Übrigen selbst in der Sache entscheidet (Anders / Gehle / Göertz, ZPO, 80. Aufl., § 97, Rn. 75; Münchener Kommentar zur ZPO / Schulz, 6. Aufl., § 97, Rn. 17; Stein / Jonas, ZPO, 23. Aufl. § 97, Rn. 8; differenzierend: Zöller / Herget, ZPO, 34. Aufl., § 8, Rn. 8).</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde sind nicht gegeben.</p>
346,500
ovgnrw-2022-08-29-2-b-54222
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2 B 542/22
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-09-09T10:01:16"
"2022-10-17T11:09:58"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0829.2B542.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragsteller tragen – als Gesamtschuldner – die Kosten des Beschwerdeverfahrens, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde der Antragssteller hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht auf eine Änderung der angefochtenen Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den mit der Beschwerde weiterverfolgten Antrag,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage vom 15. Juli 2021 – 9 K 3630/21 – gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 17. Juni 2021 anzuordnen,</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">im Wesentlichen mit der Begründung ablehnt, überwiegende Gesichtspunkte sprächen dafür, dass die Klage keinen Erfolg haben werde, weil die streitige Baugenehmigung nicht zum Nachteil der Antragsteller gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts verstoße. Die Baugenehmigung sei nicht zu ihren Lasten unbestimmt. Zwar lasse das zur Genehmigung gehörende Nutzungskonzept einige Fragen offen, wie etwa zu den Details der Aufnahme in die Wohngruppe oder die Überlassung der einzelnen Appartements. Unabhängig von der Ausgestaltung im Einzelnen, sei die Nutzung indes als eine in dem Gebiet zulässige Wohnnutzung anzusehen, so dass letztlich hinreichend vorhersehbar sei, was der Bauherr dürfe und was die Nachbarn zu dulden hätten. Das Vorhaben verstoße auch nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts. Zwar lägen das Grundstück der Antragsteller und der westliche Teil des Vorhabengrundstücks jeweils im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. I/T0 "Im U.         " vom 26. Mai 1965. Das Vorhaben entspreche aber (im Wesentlichen) den Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art der Nutzung, der ein "reines Wohngebiet" festsetze. Letztlich müsse bei der Frage, ob der Wohnbegriff des § 3 BauNVO 1962 auch Wohngebäude umfasse, die der Betreuung und Pflege der Bewohner dienten, danach differenziert werden, inwieweit – trotz erfolgender Betreuung und Pflege – noch die für das "Wohnen" konstituierenden Merkmale erfüllt seien. Dies sei nach den Umständen des Einzelfalls zu beantworten. Gemessen an diesen Anforderungen betreffe das zugelassene Vorhaben ein zulässiges Wohngebäude. Das Nutzungskonzept und die weiteren zur Baugenehmigung gehörenden Unterlagen belegten, dass es sich bei der genehmigten Nutzung trotz gewisser Unklarheiten und offener Fragen um eine Wohnnutzung handele. Von den Merkmalen, welche den Begriff des Wohnens konstitutiv ausmachten, sei zunächst die selbstbestimmte Häuslichkeit gegeben. Jedem Bewohner stehe ein eigener Wohnraum mit eigenem Bad und jedenfalls mit Anschlüssen für eine eigene kleine Küche zur Verfügung. Die Inanspruchnahme des Angebots einer ambulanten Betreuung "rund um die Uhr" solle nur nach Bedarf erfolgen. Ein durch betriebliche Arbeitsabläufe und Organisation "fremdbestimmter" Tagesablauf sei ebenfalls nicht vorgesehen. Die Häuslichkeit sei zudem auf Dauer angelegt und das Merkmal der Freiwilligkeit des Aufenthaltes gegeben. Ein Gebietsgewährleistungsanspruch sei auch nicht gegeben, soweit der Bebauungsplan Nr. I/T0 nach § 2 Abs. 1 lit. k. der textlichen Festsetzungen den Bau von Familienheimen vorsehe, weil die Antragsgegnerin eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilt habe. Denn das Bestehen eines Gebietsgewährleistungsanspruchs sei schon dann zu verneinen, wenn – was hier der Fall sei – die Erteilung einer planungsrechtlichen Ausnahme zulässig sei, wobei unerheblich sei, ob die Erteilung im Einzelfall bereits erfolgt bzw. fehlerfrei sei. Ungeachtet dessen sei bezüglich der Befreiung nicht zu erkennen, dass diese die nachbarlichen Interessen der Antragsteller nicht hinreichend berücksichtigt habe. Das Vorhaben verstoße auch nicht zulasten der Antragsteller gegen sonstige nicht die Art der Nutzung betreffende nachbarschützende Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. I/T0. Nach dem Gesamteindruck der Festsetzungen des Bebauungsplans sei die Ausweisung der Flächen für Stellplätze und Garagen, über die die genehmigte Stellplatzanlage hinausgehe, nur aus städtebaulichen Gründen erfolgt und ihr auch sonst keine nachbarschützende Wirkung beizumessen. Darüber hinaus habe die Antragsgegnerin von dieser Festsetzung ohne Verstoß gegen Nachbarrechte eine Befreiung erteilt. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufgrund der Lage und Anordnung der Stellplätze liege nicht vor. Die Vorlage eines schalltechnischen Gutachtens sei nicht erforderlich gewesen. Angesichts der tatsächlichen Verhältnisse auf dem Vorhabengrundstück gingen von den in drei Reihen angeordneten insgesamt 16 Stellplätzen keine unzumutbaren Beeinträchtigungen aus. Zwar befände sich die von der Straße aus gesehen letzte Reihe der Stellplätze schon auf der Höhe des Grundstücks der Antragsteller, das in diesem Bereich den nach Süden ausgehenden nicht besonders großen Garten habe. Der nächstgelegene Stellplatz weise jedoch einen Abstand von mehr als 6 m zur Grundstücksgrenze auf. Des Weiteren sei die Umgebung des Vorhabengrundstücks und des Grundstücks der Antragsteller deutlich durch straßennah errichtete Stellplatzanlagen vorgeprägt. Zudem sei der betroffene Grundstückteil schon bisher nicht völlig frei von Fahrzeugbewegungen und kraftfahrzeugbedingten Immissionen gewesen. Denn auf dem Vorhabengrundstück habe eine 45 m lange Zufahrt zu einer Garage bestanden. Hinweise auf ungewöhnlich häufige Fahrzeugbewegungen fehlten. Das zugelassene Vorhaben erweise sich auch nicht wegen seiner Größe und seiner Nähe zum Grundstück der Antragsteller sowie des Umstands, dass das Vorhabengrundstück bislang deutlich weniger intensiv bebaut gewesen sei, als rücksichtslos.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diesen im Einzelnen weitergehend begründeten Ausführungen setzt die Beschwerde nichts Durchgreifendes entgegen, was im Ergebnis eine andere Bewertung der Interessenlage im Eilverfahren begründet.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Zwar greifen die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zum fehlenden Gebietsgewährleistungsanspruch bei summarischer Prüfung möglicherweise zu kurz. Dies trifft insbesondere die Annahme, ein Gebietserhaltungsanspruch komme auch nicht aufgrund des Umstands in Betracht, dass § 2 Abs. 1 lit. k. der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. I/T0 für den westlichen Teil des Vorhabengrundstücks den Bau von Familienheimen vorsehe. Daraus resultiert indes im Ergebnis keine andere Interessenabwägung. Denn die Erfolgsaussichten der Klage erweisen sich dessen unbeschadet allenfalls als offen (1.) und die offene Abwägung der Interessen unter Berücksichtigung namentlich der gesetzgeberischen Grundentscheidung in § 212a Abs. 1 BauGB fällt zu Lasten der Antragsteller aus (2.).</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">1. Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens spricht jedenfalls nichts Überwiegendes für einen Erfolg der Klage im Hauptsacheverfahren.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">a) Dies gilt zunächst für den geltend gemachten Gebietserhaltungsanspruch.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">aa) Der Annahme des Verwaltungsgerichts, bei dem streitgegenständlichen Vorhaben handele es sich bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung im Schwerpunkt noch um eine in einem reinen Wohngebiet nach der Baunutzungsverordnung 1962 zulässige Wohnnutzung und nicht um eine soziale Einrichtung, die dort weder allgemein noch ausnahmsweise genehmigungsfähig ist, überzeugt bei summarischer Prüfung.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Abzustellen ist zur Abgrenzung dieser Nutzungsarten darauf, welches Nutzungskonzept grundsätzlich verwirklicht werden soll und ggf. welche der unterschiedlichen Nutzungsunterformen dem Vorhaben sein bodenrechtliches Gepräge gibt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 25. März 1996 - 4 B 302.95 -, BRS 58 Nr. 56 = juris Rn. 12, vom 26. Juli 2005 - 4 B 33.05 -, BauR 2005, 1754 = juris Rn. 5, und vom 20. Dezember 2016 – 4 B 49.16 -, BRS 84 Nr. 58 = juris Rn. 7; OVG NRW, Beschluss vom 4. Juni 2020 – 2 B 417/20 –, juris Rn. 5; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 18. Dezember 2018 - 8 A 11049/18 -, BauR 2019, 628 = juris Rn. 13; zusammenfassend Külpmann, DVBl. 2020, 657; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Kommentar, Stand Februar 2017, § 3 BauNVO Rn. 36 ff.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Diesen schon vom Verwaltungsgericht zutreffend gewählten Ansatz stellt die Beschwerde nicht durchgreifend in Frage.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Aus dem Umstand, dass in der Baunutzungsverordnung 1990 unter § 3 Abs. 4 die Bestimmung aufgenommen wurde, dass zu den zulässigen Wohngebäuden im reinen Wohngebiet auch solche gehören, die ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege ihrer Bewohner dienen, lassen sich andere Abgrenzungskriterien nicht ableiten. Insbesondere lässt sich daraus – anders als die Beschwerde meint - nicht etwa folgern, der Verordnungsgeber sei davon ausgegangen, dass unter der Geltung vorangegangener Fassungen der Baunutzungsverordnung in reinen Wohngebieten ein Gebäude schon in dem vom Verwaltungsgericht vorgestellten Fall unzulässig sei, dass eine Betreuung und Pflege der Bewohner in einem Gesamtzusammenhang angeboten wird, in dem die konstitutiven Merkmale eines Wohnens überwiegen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zutreffend hat das Verwaltungsgericht herausgestellt, dass die bundesrechtliche Vorschrift des § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 durchaus als Auslegungshilfe für den Begriff des Wohngebäudes im Sinn von § 3 BauNVO 1962 Bedeutung erlangen kann und nach der übereinstimmenden allgemeinen Rechtsauffassung Wohngebäude im Sinne dieser Vorschrift auch solche sein können, die der Betreuung und Pflege der Bewohner dienen. Entscheidend ist, ob trotz der Betreuung und Pflege noch die Merkmale erfüllt sind, die das "Wohnen" konstituieren. Unter dieser Voraussetzung gehört zum Wohnen auch das Wohnen mit Betreuung und Pflege.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 25. März 1996 - 4 B 302.95 -, ZfBR 1996, 228 = juris Rn. 11, und vom 20. Dezember 2016 – 4 B 49.16 -, BRS 84 Nr. 58 = juris Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 23. Juli 1998 – 10 B 1319/98 –, juris Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Letztlich muss also danach differenziert werden, inwieweit - trotz erfolgender Betreuung und Pflege - noch die für das "Wohnen" konstituierenden Merkmale erfüllt sind, was sich nur nach den Umständen des Einzelfalls beantwortet. Entscheidend ist das genehmigte Nutzungskonzept und seine grundsätzliche Verwirklichung und nicht etwa das individuelle und mehr oder weniger spontane Verhalten einzelner Bewohner. Kein Wohnen liegt vor, wenn nach dem konkreten Betriebskonzept der Betreuungsaspekt das Vorhaben bauplanungsrechtlich prägt, die bloße Unterbringung und fremdbestimmte Verwahrung und Behandlung überwiegen, namentlich, wenn der betreute Bewohner seine nähere Umgebung nicht wenigstens in einem Mindestmaß wohnartig selbst gestalten kann.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch die Beschwerde stellt das der Sache nach nicht ernsthaft in Abrede. Sie kritisiert vielmehr im Kern die getroffene Bewertung im Einzelfall und befürchtet, dass in der Wohngruppe Pflege- und Betreuungsleistungen den wesentlichen Inhalt der Nutzung ausmachten und verweist auf die von der Beigeladenen erstinstanzlich vorgelegten nachgereichten "konzeptionellen Eckpunkte" vom 3. August 2020.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Diese Befürchtung ist jedenfalls bei summarischer Prüfung unbegründet. Danach spricht hier jedenfalls nichts Überwiegendes dafür, dass das Verwaltungsgericht fehlerhaft davon ausgegangen wäre, die in dem Vorhabengebäude nach der streitigen Baugenehmigung vorgestellte Nutzungseinheit "Wohngruppe mit 12 Appartements" sei in der genehmigten Ausgestaltung durch die Merkmale einer Wohnnutzung geprägt. Die bloße Unterbringung und fremdbestimmte Verwahrung und Behandlung stünden nicht im Vordergrund. Auch insoweit folgt der Senat den gut nachvollziehbaren Erwägungen des Verwaltungsgerichts nach Auswertung des Beschwerdevorbringens, das im Grundsatz nicht über die bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragenen Einwände hinausgeht, mit denen sich das Verwaltungsgericht eingehend befasst hat. Tragfähige Anknüpfungspunkte für die Befürchtung der Beschwerde, auf der Grundlage der Genehmigung werde sich eine reine krankenhausähnliche Pflegeeinrichtung entwickeln, ergeben sich nach Aktenlage nicht. Den sich in diesem Zusammenhang ggf. stellenden Fragen mag im Hauptsacheverfahren weiter nachgegangen werden.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls für die Bewertung im Eilverfahren bleibt entscheidend, dass die Appartements zur Einzelnutzung vorgesehen sind und Bad sowie Küchenanschlüsse aufweisen; jedes Ein-Raum-Appartement dient danach zur uneingeschränkten Nutzung der Bewohner/innen und soll von diesen selbst gestaltet werden; das schließt die Entscheidung ein, ob von den Küchenanschlüssen Gebrauch gemacht wird. Auch wird in der zum Gegenstand der Genehmigung gewordenen ergänzenden Baubeschreibung eine gemeinschaftliche (aber in gewissem Ausmaß individuelle) Wohnform hervorgehoben, die mit einer überwiegend fremdbestimmten Pflegeform nicht in Einklang gebracht werden könnte. Von einem einer Wohnnutzung entgegenstehenden fremdbestimmten Tagesablauf kann erst dann gesprochen werden, wenn die Einrichtung mit ihren durch die Funktionsfähigkeit bedingten Ansprüchen die Lebensführung der (Mit-)Bewohner bestimmt.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Juli 1998 - 10 B 1319/98 -, juris Rn. 20.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Eine Betreuung ist hier konzeptionell indes - wie auch das Verwaltungsgericht hervorgehoben hat - nur nach Bedarf und Anforderung vorgesehen. Eine zwangsweise Unterbringung ist nicht vorgestellt und es spricht auch sonst nichts gegen eine Freiwilligkeit der Nutzung. In der zur Genehmigung gewordenen ergänzenden Betriebsbeschreibung ist herausgestellt, Mieter/innen würden je nach Bedarf von der Pflege- und Betreuungsdienst C.        GmbH betreut. Sie nutzen die Gemeinschaftsküche, Ess- und Wohnzimmerbereich gemeinsam privat. Letztlich unterscheidet sich der Aufenthalt in der genehmigten Wohngruppe trotz des Umstands, dass die Bewohner regelmäßig pflegebedürftig sein sollen, nicht von dem Aufenthalt eines pflegebedürftig gewordenen Menschen in seiner bisherigen, angestammten Wohnung und fehlen auch sonst Anhaltspunkte dafür, dass nicht individuelle gesundheitliche Beeinträchtigungen der Bewohner, sondern die Einrichtung mit ihren durch die Funktionsfähigkeit bedingten Ansprüchen die Lebensführung der Bewohner bestimmen soll. Die "konzeptionellen Eckpunkte" vom 3. August 2020 führen auf keine andere Bewertung. Auch dort ist u. a. herausgestellt: "Das Leben in der Wohngruppe soll durch eine möglichst individuelle Gestaltung des Wohnumfeldes, der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises geprägt sein." (3. Gliederungspunkt, 2. Satz) Außerdem erfolgt die pflegerische Versorgung auch nur "ambulant". Darüber hinaus datiert die zum Bestandteil der Baugenehmigung gewordene Betriebsbeschreibung vom 21. April 2021, während die "Konzeptionellen Eckpunkte" zeitlich älter (3. August 2020) sind; überdies handelt es sich hierbei auch nur um einen "Entwurf", der nicht zum Gegenstand der Genehmigung geworden ist. Eine abschließende Klärung auch der Frage, ob es zur Absicherung des in der Baubeschreibung zum Ausdruck gebrachten Wohnschwerpunktes der vorgestellten Pflege-Wohn-Gemeinschaft aus Gründen der Bestimmtheit einer weitergehenden konzeptionellen Absicherung in der Genehmigung bedürfte, kann aus Sicht des Senates dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">bb) Soweit der Bebauungsplan Nr. I/S4 nach § 2 Abs. 1 lit. k. der textlichen Festsetzungen für den westlichen Teil des Vorhabengrundstücks den Bau von Familienheimen vorsieht, spricht ebenfalls nach derzeitigem Erkenntnisstand nichts Überwiegendes für einen das Klageergebnis zugunsten der Antragsteller vorzeichnenden Nachbarrechtsverstoß. Die Klärung der in diesem Zusammenhang auftretenden Fragen sind dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Das betrifft zunächst die Frage des Regelungsgehalts der Festsetzung, insbesondere ihrer drittschützenden Ausrichtung, von deren fortdauernden Wirksamkeit jedenfalls im Eilverfahren auszugehen ist (1). Ginge es um eine nachbarschützende Festsetzung, wäre die Befreiung im Klageverfahren einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen, was zu der Frage führte, ob die Befreiung, die in dem Genehmigungsbescheid ausgesprochen worden ist, trotz Fehlens einer ausdrücklichen Begründung in jeglicher Hinsicht rechtmäßig erfolgt ist (2), was hier indes zumal mit Blick darauf dahinstehen mag, dass Überwiegendes dafür spricht, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung vorliegen (3) und im Rahmen der Interessenabwägung auch mögliche und erwartbare inhaltliche Änderungen der Genehmigungs- und Befreiungsentscheidung während des Klageverfahrens berücksichtigt werden können.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">(1) Die Familienheimklausel des Bebauungsplans Nr. I/T0 kann ihre gesetzliche Grundlage allein in § 9 Abs. 1 Nr. 1g) BBauG finden, wonach der Bauungsplan für das Bauland, also die nach § 1 Abs. 2 BauNVO gegliederten Baugebiete, die überwiegend für die Bebauung mit Familienheimen vorgesehenen Flächen festsetzt. Die gesetzliche Regelung nahm damit - wie die Nachfolgeregelung in § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB 1976 – auf die Begrifflichkeit des Familienheims in § 7 II. WoBauG vom 27. Juni 1956 (BGBl. 1956, 523 ff.) Bezug. Die Definition der darunter fallenden Eigenheime, Kaufeigenheime und Kleinsiedlungen findet sich in §§ 9 und 10 II. WoBauG 1956. Allen Definitionen gemein ist die Begrenzung auf höchstens zwei Wohnungen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch: BVerwG, Urteil vom 8. Oktober 1998 – 4 C 1.97 – BVerwGE 107, 256 ff. = juris Rn. 24 f.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Baunutzungsverordnung 1962 enthielt in § 3 Abs. 4 darüber hinaus die Möglichkeit, für reine Wohngebiete festzusetzen, dass nur Wohngebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen zulässig sind. Die Festsetzungsermächtigung des § 9 Abs. 1 Nr. 1 g) BBauG knüpfte demgegenüber an die in § 89 Abs. 3 II. WoBauG begründete Verpflichtung der Gemeinden an und verdeutlichte damit, dass im Rahmen der Bauleitplanung zu der Eigentumsbildung und Schaffung von Familienheimen beigetragen werden sollte. Darin dürfte sich der Regelungsgehalt der Vorschrift allerdings erschöpft und die Ermächtigung somit in erster Linie wohnungsbaurechtliche Gründe und nicht den Ausgleich möglicher Bodennutzungskonflikte verfolgt haben.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Hintergründen und der praktischen Bedeutung der gesetzlichen Regelung: Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, § 9 BauGB, Rn. 74; Löhr, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB 2. Auflage 1987, Rn. 29 sowie 1. Auflage 1985 Rn. 29; OVG Berlin, Beschluss vom 25 Februar 1988 – 2 S 1.88 -, BRS 48 Nr. 167 (= juris nur Leitsatz).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Entsprechend dürfte eine auf diese Norm gestützte Festsetzung im Bebauungsplan – anders als die Baugebietsfestsetzung selbst – nicht schon kraft Bundesrechts Drittschutz entfalten.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Baugebietsfestsetzung grundlegend: BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 – 4 C 28.91 –, BVerwGE 94, 151 ff. = juris Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund sowie im Hinblick darauf, dass in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig – und, wie gesagt, so auch hier – von der Wirksamkeit der Festsetzungen des genannten Bebauungsplans auszugehen ist, bedarf es vorliegend keines weiteren Eingehens darauf, ob die textliche Festsetzung, die u.a. in den mit WRIIg gekennzeichneten Gebieten im vorliegenden Baugebiet ausschließlich ("nur") Familienwohnheime zulässt, sich im Rahmen einer Rechtsgrundlage hält, die die Festsetzung von Flächen, die <em>überwiegend</em> für die Bebauung mit Familienheimen vorgesehen sind, erlaubt, zumal die entsprechenden (zeitgenössischen) Kommentierungen davon ausgingen, dass jedenfalls in gewissem Umfang auch durchaus andere Bauten (als Familienheime) zulässig waren.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. z. B. Schütz/Fürstenberg, Kommentar zum Bundesbaugesetz, 3. Auflage 1970, S. 82 und Knaup/Ingenstau, Bundesbaugesetz mit Kommentar, 4. Auflage 1970, § 9 Rn. 14 i. V. m. § 1 Rn. 12.                    </p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Ob eine solche Regelung – ihre Wirksamkeit unterstellt - insbesondere mit Blick auf eine ggfs. implizierte Zwei-Wohnungs-Klausel gemäß § 3 Abs. 4 BauNVO 1962 über ihren objektiv-rechtlichen Kerngehalt hinaus auch Nachbarschutz vermittelt, ist jedenfalls im Einzelfall durch Auslegung des jeweiligen Bebauungsplans zu klären.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Zwei-Wohnungs-Klausel: BVerwG Urteile vom 16. September 1993 – 4 C 28.91 –, BVerwGE 94, 151-163, juris Rn. 11, und vom 26. September 1991 – 4 C 5.87 –, BVerwGE 89, 69 -, juris Rn. 27; Beschlüsse vom 9. März 1993 – 4 B 38.93 –, juris Rn. 3, und vom 9. Oktober 1991 - 4 B 137.91 -, juris Rn. 5, OVG NRW, Urteil vom 18. April 1991 – 11 A 696/87 -, juris Rn. Rn. 52; vgl. zur Auslegung einer Familienheimklausel auch: Saarl. OVG, Beschlüsse vom 13. März 2006 – 2 W 37/05 –, juris Rn. 23, vom 20. Dezember 2005 – 2 W 33/05 –, juris Rn. 11 und vom 22. August 1994 – 2 W 30/94 –, juris Rn. 7; Urteil vom 3. Juni 1980 – II R 110/79-, BRS 36, Nr. 198; Thür. OVG, Beschluss vom 26. Juli 1996 – 1 EO 662/95 -. juris Rn. 58.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Hierfür spricht jedenfalls aufgrund der dem Senat vorliegenden Unterlagen derzeit nichts Greifbares. Der vorliegende Erläuterungsbericht verhält sich zur aufgeworfenen Frage nicht konkret und es fällt zugleich auf, dass der Plangeber bei Satzungsbeschluss zum Änderungsplan Mitte Juli 1986 keinen Anlass gesehen hat, für den überplanten Teilbereich des hier in Rede stehenden Baufensters ebenso wenig wie für die südlicher gelegenen mit WR IIg überplanten Bereiche gestützt auf § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB 1976 an der Familienheimkausel festzuhalten oder gestützt auf § 3 Abs. 4 BauNVO 1977 die zugelassenen Wohnungen auf zwei zu begrenzen. Die ggf. weitere diesbezügliche Aufklärung mag dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, in dessen Rahmen zur Ermittlung etwaiger drittschützender Rechtspositionen, die derzeit weder festgestellt, ebenso wenig allerdings auch ausgeschlossen werden können, auch die Beiziehung weiterer Aufstellungsvorgänge ggfs. auch des Änderungsplans Nr. I/T 0-4 hilfreich sein könnte.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">(2) (Nur) Wenn der Familienheimklausel drittschützende Wirkung beizumessen sein sollte, mögen allerdings die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu kurz greifen, dass ein Bestehen eines Gebietsgewährleistungsanspruchs in diesem Zusammenhang schon dann zu verneinen sei, wenn - was hier der Fall sei - die Erteilung einer planungsrechtlichen Ausnahme zulässig sei, wobei unerheblich sei, ob die Erteilung im Einzelfall bereits erfolgt bzw. fehlerfrei sei. Insbesondere bliebe unklar, worauf sich eine Ausnahme stützen sollte. Denn der Bebauungsplan selbst sieht andere Wohngebäude als die, die in seinem Verständnis "Familienheime" sind, für das einschlägige WR-Gebiet gerade nicht ausdrücklich als Ausnahme vor. Eine Ermächtigung zur Erteilung einer Ausnahme ließe sich allenfalls aus der Überschrift der – hier unterstellt als wirksam angesehenen - Festsetzung ableiten, die "nur" von "überwiegend" für die Bebauung mit Familienheimen vorgesehenen Flächen spricht. Dies liegt allerdings dann, wenn man aus der Klausel zugleich den Willen des Plangebers für eine Zwei-Wohnungs-Klausel nach Maßgabe des § 3 Abs. 4 BauNVO 1962 ableiten könnte, auf erste Sicht jedenfalls nicht nahe.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im Weiteren wäre dann einzustellen, dass eine Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans auf den Rechtsbehelf des Nachbarn hin in vollem Umfang nachzuprüfen ist, d. h. jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung führt. Insbesondere hat der Nachbar – anders als bei einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB – einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Befreiung. Es kommt nicht nur darauf an, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen und die Abweichung objektiv unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Denn bei der Befreiung wird an die Stelle der festgesetzten eine konkrete andere baurechtliche Ordnung gesetzt und damit im Rahmen der Ermessensentscheidung ein anderer Interessenausgleich vorgenommen.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. März 2022 – 4 C 6.20 –, juris Rn. 21, Beschluss vom 27. August 2013 – 4 B 39.13, juris Rn. 3, jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Insoweit griffe die Hilfserwägung des Verwaltungsgerichts, dass ungeachtet dessen bezüglich der Befreiung auch nicht zu erkennen sei, dass sie nachbarliche Interessen der Antragsteller nicht hinreichend berücksichtige, möglicherweise ebenfalls zu kurz.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Zugleich genügte auch die von der Antragsgegnerin im Genehmigungsbescheid ausgesprochenen Befreiung von der Festsetzung "nur Familienheime" davon ausgehend möglicherweis nicht den Anforderungen, was für sich schon - eine nachbarschützende Wirkung der Familienheimklausel und deren Fortwirkung unterstellt bzw. vorausgesetzt – die Nachbarrechtswidrigkeit der angegriffenen Genehmigung begründen dürfte. Denn es findet sich in der Befreiungsentscheidung kein Hinweis darauf, welcher Befreiungstatbestand vorliegen soll, welche Erwägungen angestellt und ob nachbarliche Belange gewürdigt worden sind.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">(3) Allerdings unterliegt es nach Aktenlage keinen Zweifeln, dass die Entscheidung die vorbereitende planungsrechtliche Stellungnahme vom 7. Juni 2021 nachzeichnet, die dezidierte Erwägungen zu den Befreiungsvoraussetzungen auch hinsichtlich der Befreiung von der Festsetzung "Familienheime" enthält und bei summarischer Prüfung eine Befreiungsentscheidung jedenfalls bei entsprechender Vertiefung/Verdeutlichung der Ermessenserwägungen voraussichtlich tragen dürfte, was im Rahmen der im Eilverfahren geforderten Interessenabwägung Berücksichtigung finden kann, zumal diese ggf. auch noch nachträglich zum Bestandteil der Befreiung gemacht werden kann.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB dürften vorgelegen haben. Nach dieser Vorschrift kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Ob die Grundzüge der Planung durch die Abweichung eines Bauvorhabens von einer hiernach maßgeblichen Festsetzung berührt werden, lässt sich nicht allgemeingültig festlegen. Entscheidend ist die jeweilige Planungssituation und damit der jeweilige Bebauungsplan, aus der bzw. dem sich ergibt, ob die Abweichung dem konkreten planerischen Grundkonzept zuwiderläuft oder nicht. Die Grundzüge der Planung werden dabei nicht erst dann berührt, wenn das konkrete Vorhaben städtebauliche Spannungen auslöst. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. Läuft eine Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider, kann eine Befreiung nicht als "Vehikel" dafür herhalten, die von der Gemeinde seinerzeit getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Eine Befreiung darf - jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind - nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen. Zu den Grundzügen der Planung zählen also (nur) die tragenden Bestandteile der Planungskonzeption, die nicht außer Acht gelassen werden können, ohne dass das Planungskonzept in Frage gestellt wird. Dabei mag es zwar sein, dass in der Regel bei einer Änderung der Nutzungsart die Grundzüge der Planung berührt werden. Ohne Bedenken kann jedoch eine Ausnahme von dieser Regel angenommen werden, wenn lediglich eine qualitativ und quantitativ geringfügige Änderung erfolgt, ohne den Bebauungsplan im Übrigen in Frage zu stellen, d. h. wenn es sich lediglich um eine Randkorrektur handelt, die das ursprüngliche Planungskonzept nicht berührt.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2012 - 4 C 14.10 -, BVerwGE 142, 1 = BauR 2012, 900 = juris Rn. 22, Beschlüsse vom 15. März 2000 – 4 B 18.00 –, juris Rn. 5, vom 29. Juli 2008 – 4 B 11.08 –, juris Rn. 4 und vom 15. März 2000 – 4 B 18/00 –, juris Rn. 6; OVG NRW, Beschluss vom 19. Januar 2021 – 2 A 2911/20 –, juris Rn. 10, m. w. N; Nds. OVG, Beschluss vom 11. März 2022 – 1 LA 95/21 –, juris Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Davon dürfte hier auszugehen sei. In Rede steht eine Randkorrektur im Übergangsbereich zu dem im Juli 1986 vom Rat beschlossenen Bebauungsplan Nr. I/T0-4, der eine entsprechende Familienklausel oder Zwei-Wohnungs-Klausel – wie bereits erwähnt - gerade nicht (mehr) vorsieht. Hieraus dürfte zugleich die Besonderheit des Vorhabengrundstücks resultieren, so dass sich die für die Befreiung maßgeblichen Gründe nicht Gleichermaßen in einer solchen Vielzahl gleichgelagerter Fälle anführen ließen, dass die Regelung – so sie denn noch wirksam sein sollte – ihre Steuerungsfunktion für den Planbereich – etwa die Baureihe der Antragsteller - im Übrigen verlöre.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu diesem Aspekt insbesondere OVG Hamburg, Beschluss vom 5. Juni 2009 – 2 Bs 26/09 -, juris Rn. 6; Nds. OVG, Beschluss vom 11. März 2022 – 1 LA 95/21 –, juris Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">cc) Ohne Erfolg macht die Beschwerde weiter einen Verstoß der Stellplatzanlage gegen die Vorgaben des Bebauungsplans Nr. I/T0 und die Rechtswidrigkeit der insoweit mit der Baugenehmigung erteilten Befreiung geltend. Wie bereits das Verwaltungsgericht im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat, ist schon nicht ersichtlich, dass die Vorgaben des Bebauungsplans Nr. I/T0, der im hier streitigen Bereich straßennah eine kleinere Fläche für Gemeinschaftsstellplätze und für Gemeinschaftsgaragen vorsieht, in Verbindung mit den Regelungen in § 2 Abs. 1 lit. i., wonach Flächen für Stellplätze und Garagen im Bebauungsplan besonders dargestellt sind, oder/und § 2 Abs. 1 lit. e. der textlichen Festsetzungen, Drittschutz zugunsten der Antragsteller entfalten sollten, wonach nicht überbaubare Grundstücksflächen unter Berücksichtigung des zu erhaltenden Strauch- und Baumbestandes gärtnerisch anzulegen und zu unterhalten sind sowie auf ihnen Nebenanlagen im Sinne des § 14 BauNVO sowie bauliche Anlagen unzulässig sind, soweit sie nach Landesrecht im Bauwich oder in den Abstandsflächen zulässig sind.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Beschränkung des Umfangs der Stellplatz- und Garagenfläche hinsichtlich der Tiefe von der Straßen aus gesehen resultierte hier in erster Linie aus der Lage der festgesetzten Baufenster, in denen nach der Vorstellung des Plangebers Wohngebäude in geschlossener Bauweise entstehen sollten. Andere als allgemeine städtebaulichen Gestaltungsinteressen sind aus den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich. Nichts anderes folgt daraus, dass auf der Fläche weiter in das Baufenster hineinragend (nur) Gemeinschaftsgaragen vorgestellt sind. Ein Schutzwille, den Grundstückseigentümern des festgesetzten reinen Wohngebiets einen über die rechtlichen Vorgaben des Rücksichtnahmegebots hinausgehenden Schutzanspruch einzuräumen, lässt sich daraus nicht ableiten. Dies gilt in Sonderheit für Grundstücke – wie das der Antragssteller - jenseits der geschlossenen Baureihe, dem die Stellplatz- und Garagenflächen nach der Vorstellung des Plangebers zugeordnet sind. Entsprechend geht auch der Hinweis der Beschwerde ins Leere, dass der historische Satzungsgeber durch die Festsetzungen reiner Wohngebiete zum Ausdruck gebracht habe, dass er besonderes ruhige Wohnlagen haben schaffen wollen. Dies allein begründet noch keinen weitergehenden, von der konkreten Betroffenheit unabhängigen Drittschutz hinsichtlich der Lage von – wie hier - wohnzugehörigen Gemeinschaftsstellplätzen und –garagen. In der Begründung zum Bebauungsplan Nr. I/T 0-4 findet sich zudem unter A.2 (Seite 12) der Hinweis, nach den bisherigen Planfestsetzungen sei die Errichtung von Garagen und Stellplätzen nur innerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen oder auf dafür besonders ausgewiesenen Grundstücksflächen zulässig, um den im Plangebiet vorhandenen Baumbestand weitestgehend erhalten zu können. Das deckt sich mit der in § 2 Abs. 1 lit. e. Satz 1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. I/S4 herausgestellten Pflicht, die nicht überbaubaren Flächen unter Berücksichtigung des zu erhaltenden Strauch- und Baumbestandes gärtnerisch anzulegen und zu unterhalten. Fehlt es am Drittschutz haben die Antragsteller nur einen Anspruch darauf, dass die erteilte Befreiung nachbarliche Belange hinreichend berücksichtigt, d. h. die Grenzen der baurechtlichen Rücksichtnahme gewahrt sind, wovon das Verwaltungsgericht hier mit überzeugenden Ausführungen ausgegangen ist.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">b) Dafür, dass die Baugenehmigung hinsichtlich der Auswirkungen der Stellplatzanlage wegen Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot nachbarrechtswidrig wäre, spricht nach Aktenlage nichts Überwiegendes. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts hierzu überzeugen bei summarischer Prüfung, und es ist den Antragstellern zuzumuten, die endgütige Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat - wie auch die Beschwerde nicht substantiiert in Abrede stellt - die einschlägigen Rechtsgrundsätze zutreffend angeführt und seiner Bewertung zugrunde gelegt, nach denen sich die Frage beantworten lässt, ob die Nutzung von Stellplätzen oder Garagen in ihrer Nachbarschaft unzumutbare Belästigungen durch Lärm oder Gerüche hervorruft. Die Bewertung hat anhand aller für den Einzelfall bedeutsamen Umstände und nicht abstrakt und generell nach festen Merkmalen zu erfolgen. Dabei kommt es entscheidend auf die konkrete Situation an, in der sich die Belästigungen auswirken können. Vor allem der Standort der Stellplätze oder Garagen im Hinblick auf ihre Lage und Nähe zu den Nachbargrundstücken, die Art und die Empfindlichkeit der dort stattfindenden Nutzungen sowie etwaige Vorbelastungen sind zu berücksichtigen. Neben der Frage nach möglichen Vorbelastungen und nach der Empfindlichkeit sowie Schutzwürdigkeit betroffener Grundstücksbereiche ist schließlich für die Bewertung der Zumutbarkeit auch der Umfang der zu erwartenden Belästigungen von Bedeutung.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Einzelheiten etwa: OVG NRW, Beschluss vom 26. August 2020 - 10 B 1010/20 -, juris Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die daran orientierte Einzelfallbewertung des Verwaltungsgerichts ist nachvollziehbar begründet und verdeutlicht jedenfalls, dass in den gegebenen Grundstücksverhältnissen kein Anlass besteht, von dem gesetzlich in § 212a Abs. 1 BauGB bei einer Nachbarklage regelmäßig vorgesehenen Vorrang der Vollzugsinteressen des Bauherren zu Lasten der Beigeladenen abzuweichen.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat sich bei seiner Bewertung nicht allein auf die "apodiktische Aussage" beschränkt, technisch-rechnerische ermittelte Immissionswerte seien für die Beurteilung nicht ausschlaggebend. Vielmehr hat es überzeugend aus den Gesamtumständen abgeleitet, dass die Lärmbelastungen für die Antragsteller in den gegebenen Grundstücksverhältnissen zumutbar sind. Neben der straßennahen Lage der Anlage hat es insbesondere eingestellt, dass nur mit einem Teil der Anlage die Höhe des Grundstücks erreicht und insbesondere nicht ersichtlich ist, weshalb die Lärmauswirkungen der Stellplatznutzung entscheidend über das hinausgehen sollten, was bei einer reinen Wohnnutzung üblich und hinzunehmen wäre. Entsprechend war auch eine weitere schalltechnische Untersuchung zur Abklärung, ob das hier ggf. in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerte Rücksichtnahmegebot gewahrt bleibt, nach Aktenlage nicht erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ein anderer Maßstab folgt auch nicht aus § 12 Abs. 2 BauNVO 1962, wonach in reinen Wohngebieten Stellplätze nur für den durch die zugelassene Nutzung verursachten Bedarf zulässig sind. Denn die von der angegriffenen Baugenehmigung erfasste Stellplatzanlage ist dem Wohngebäude zugeordnet und ausgehend von 18 Wohnungen sowie einer Wohn(gemeinschafts)einheit mit 12 Appartements sicherlich nicht auf eine über die zugelassene Nutzung hinausgehenden Bedarf angelegt. Sie stellt sich nach Aktenlage, auch soweit sie den Stellplatzbedarf der Wohngruppe abdeckt, gerade bei summarischer Prüfung nicht als einer gewerblichen Einheit zugeordnet dar. Auch sonst spricht nichts dafür, dass es zu ungewöhnlich häufigen Fahrzeugbewegungen kommen wird.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Anhand der vorliegenden Pläne und der im Internet frei zugänglichen Satellitenbilder (etwa über <span style="text-decoration:underline">www.xyz   -online.de</span>) erscheinen auch die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu bestehenden Vorbildern straßennaher Stellplatz- / Garagenanlagen in der näheren Umgebung nachvollziehbar und der Hinweis auf eine ehemals vorhandene Zufahrt zu einer Garage jedenfalls vertretbar. Die alte Zufahrt führte anders als die zur geplanten Stellplatzanlage am Garten der Antragsteller in voller Länge vorbei, bediente allerdings nur eine Garage, wie auch das Verwaltungsgericht nicht etwa verkannt hat. Die Garagenzufahrt war ersichtlich nur ein weiterer Aspekt für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass sich die zu erwartenden Auswirkungen der Stellplatzanlage auf das Grundstück der Antragsteller voraussichtlich im Rahmen dessen halten werden, was die Antragsteller in den gegebenen Grundstücksverhältnissen hinzunehmen haben. Davon, dass das Verwaltungsgericht trotz erfolgter Inaugenscheinnahme die relevante Grundstückssituation fehlgewichtet hat, ist hier nicht auszugehen. Insbesondere wird nicht der komplette Zu- und Abgangsverkehr zur Stellplatzanlage an der Grundstücksgrenze der Antragsteller vorbeigeführt. Die erste Reihe der Stellplätze wird von der C1.            Straße aus erreicht und allein die letzte Reihe befindet sich schon auf der Höhe des Gartenbereichs.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">2. Die mit Blick auf den herausgestellten Klärungsbedarf im Hauptsacheverfahren vorzunehmende allgemeine Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragsteller aus. Anhaltspunkte, dass sich in den gegebenen Grundstücksverhältnissen eine Verfestigung gebietsfremder Nutzung während des Hauptsacheverfahrens weitergehend realisieren wird, fehlen. Auch benennt die Beschwerde keine konkreten unzumutbaren Beeinträchtigungen bei Realisierung des Vorhabens, die zu tragen den Antragstellern bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar wären. Vor diesem Hintergrund sowie unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Grundentscheidung in § 212a Abs. 1 BauGB und der nicht auszuschließenden Möglichkeit der Nachsteuerung der Genehmigung bzw. der Befreiungsentscheidung während des Hauptsacheverfahrens überwiegt das Suspensivinteresse der Antragsteller nicht das Interesse der Antragsgegnerin sowie das der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der Baugenehmigung, wobei allerdings klarzustellen ist, dass letztere vor Bestandskraft der angegriffenen Baugenehmigung auf eigenes Risiko baut.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 und 3, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, den Antragstellern auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese einen Antrag gestellt und sich damit auch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,473
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11 B 81/22
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-09-08T10:00:45"
"2022-10-17T11:09:54"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0829.11B81.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Wert des Streitgegenstands wird auf 15.000,00 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine ihm drohende Abschiebung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller ist türkischer Staatsbürger. Er reiste spätestens im Jahr 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein, nachdem er sich zuvor mit einem – zwischenzeitlich abgelaufenen – Visum in Polen aufhielt. Am 16. April 2021 heiratete er die türkische Staatsangehörige xy A. (geb. xy) in A-Stadt. Die Ehefrau des Antragstellers brachte am 27. März 2021 eine Tochter namens xy zur Welt, für welche der Antragsteller die Vaterschaft anerkannte. Die gemeinsame Tochter erhielt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 Satz 1 AufenthG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Mit E-Mail vom 16. April 2021 beantragte der Antragsteller die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG, hilfsweise nach § 25 Abs. 5 AufenthG, weiter hilfsweise nach jeder sonst in Betracht kommenden Rechtsgrundlage. Er verwies auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie das hieraus resultierende Ausreisehindernis. Mit Schreiben vom 31. Mai 2021 wiederholte er seinen Antrag und begründete diesen weitergehend. Ziel des Antrages sei es, dem Antragsteller, seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter ein gemeinsames Leben in A-Stadt zu ermöglichen, ohne dass es hierfür der Durchführung des Visumverfahrens bedürfe. Aus der Schutzwürdigkeit der Beziehung zwischen dem Kind und den beiden Eltern und der diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung ergebe sich eine rechtliche Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 sowie § 25 Abs. 5 AufenthG. Der Antragsteller verwies auf das zu beachtende Kindeswohl und darauf, dass seine Ehefrau über einen Aufenthaltstitel nach § 38a AufenthG verfüge.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller verlangte vom Antragsgegner am 18. Mai 2022 zudem, ihm eine Bescheinigung nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bzw. eine Duldungsbescheinigung auszustellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Mit Bescheid vom 18. Juni 2021 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Gleichzeitig wies er den Antragsteller an, die Bundesrepublik Deutschland bis zum 16. Juli 2021 zu verlassen. Er drohte für den Fall der Nichtbefolgung der Ausreiseaufforderung die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot im Sinne von § 11 Abs. 1 AufenthG befristete er für den Fall der Abschiebung auf ein Jahr. Zur Begründung führte er unter anderem an, dass der Antragsteller nicht mit dem erforderlichen Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Das von Polen ausgestellte nationale Visum genüge hierfür nicht. Von dem Visumerfordernis könne nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden. Gegenteiliges folge auch nicht aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Im Übrigen sei das „Ausnahmeermessen“ eng auszulegen. Der geregelten Einreise komme ein hohes öffentliches Interesse zu. Wartezeiten würden alle Antragsteller gleichermaßen treffen. Es lägen auch Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller das Visumverfahren vorsätzlich umgangen habe. Er sei illegal in der Bundesrepublik gewesen und habe sich erst bei der Ausländerbehörde gemeldet, als die Eheschließung unmittelbar bevorstand. Ein Rechtsanspruch aus § 39 AufenthV könne schon deswegen nicht geltend gemacht werden, weil der Antragsteller nicht über ein nationales Visum bzw. eine Aufenthaltserlaubnis verfüge.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller erhob hiergegen mit Schreiben vom 26. Juni 2021 Widerspruch. Er beanstandete im Wesentlichen, dass der Antragsgegner im Rahmen seiner Erwägungen zur Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens unberücksichtigt lasse, dass eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nur im Bundesgebiet erteilt werden könne und nicht im Wege des Visumverfahrens. Insoweit sei zum Zwecke der Familienzusammenführung vielmehr § 30 Abs. 1 AufenthG in den Blick zu nehmen. Angesichts des Umstands, dass es sich bei der Tochter des Antragstellers um einen Säugling mit intensivem Betreuungsbedarf handele, sei jedoch in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen, dass die Ehefrau des Antragstellers ohne die Anwesenheit des Antragstellers im Bundesgebiet den Lebensunterhalt der Familie weiterhin sichern könne. Im Übrigen würde sich das Visumverfahren prognostisch auf einen Zeitraum erstrecken, der sogar für die Eheleute eine unzumutbar lange Trennung bedeute. Es sei aber zentral auf die Sicht des Kindes abzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei bei sehr kleinen Kindern auch die Dauer eines regulären Visumverfahrens nicht zumutbar. Dies lasse der Antragsgegner im Rahmen seiner Ermessensausübung unberücksichtigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2022 wies der Antragsgegner den Widerspruch des Antragstellers als unbegründet zurück. Er wiederholte insoweit im Wesentlichen seine Ausführungen aus dem Ausgangsbescheid. Ergänzend wies der Antragsgegner in Bezug auf die Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens darauf hin, dass der Antragsteller zwar mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Kind zusammenwohne. Es lägen jedoch keine Erklärungen des Antragstellers zu seinem Erziehungs- und Betreuungsanteil, der Beteiligung an den allgemeinen häuslichen Belangen und der Unterstützung der Kindsmutter vor. Die Ausübung der Beschäftigung sei dem Antragsteller untersagt, weswegen er keine materiellen Unterhaltsleistungen erbringen könne. Es könne auch nicht erkannt werden, dass eine kurzzeitige Trennung von in der Regel bis zu drei Monaten zur Durchführung des ordnungsgemäßen Visumverfahrens in dem vorliegenden Einzelfall unzumutbar wäre. Der Antragsteller habe es in der Hand, das Visumverfahren so kurz und familienverträglich wie möglich zu gestalten. Schließlich könnten auch keine Duldungsgründe erkannt werden. Der Antragsgegner erkläre sich jedoch bereit, bei Vorlage eines zeitnahen Termins beim Auswärtigen Amt in der Türkei, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller hat hieraufhin am 12. Juni 2022 Klage erhoben und gleichzeitig um Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung wiederholt er sein Vorbringen aus dem Vorverfahren. Ergänzend und vertiefend führt er aus, dass ein strikter Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bestehe, der sich aus §§ 29, 30 Abs. 1 AufenthG ergebe. Der Antragsteller verfüge insbesondere über die erforderlichen Sprachkenntnisse. Der Lebensunterhalt werde durch die Erwerbstätigkeit der Ehefrau des Antragstellers sichergestellt. Ein Ausweisungsinteresse liege nach der Einstellung des Strafverfahrens wegen unerlaubter Einreise nach § 153 Abs. 1 StPO nicht vor. Dieselben Gesichtspunkte seien auch im Rahmen des Anspruchs nach § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV zu berücksichtigen. Es bedürfe insoweit keiner Ermessensausübung des Antragsgegners, was dieser an keiner Stelle erörtere.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Die Nachholung des Visumverfahrens sei dem Antragsteller jedenfalls nicht zumutbar. Der Antragsgegner habe die Erteilung einer Vorabzustimmung schon zu einem früheren Zeitpunkt ausgeschlossen. Es sei auch nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit festzustellen, dass der Antragsteller das zu beantragende Visum erhält. Die Durchführung des Visumverfahrens stelle nämlich die ökonomischen Erteilungsvoraussetzungen in Frage, da die Ehefrau des Antragstellers während dessen Abwesenheit nicht in der Lage sei, fortgesetzt ihrer Erwerbstätigkeit nachzugehen und gleichzeitig allein die Betreuung des gemeinsamen Kindes sicherzustellen. Von Verfassungs wegen sei der Antragsgegner verpflichtet gewesen, zu begründen, warum die Nachholung des Visumverfahrens im Ausland nur eine vorübergehende und keine dauerhafte Trennung zur Folge habe. Im Übrigen sei die Ermessensausübung zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht habe klargestellt, dass im Rahmen der Eltern-Kind-Beziehung die Sicht des Kindes zu berücksichtigen sei und hier insbesondere, dass ein noch sehr kleines Kind betroffen sei. Der Antragsgegner habe schließlich einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG kategorisch verneint, das Ergebnis jedoch nicht begründet. In dem vorliegenden Fall dränge sich aufgrund des schutzwürdigen Eltern-Kind-Verhältnisses gerade die Annahme eines aus Art. 6 GG abgeleiteten Ausreisehindernisses auf. Zweifel an der Schutzwürdigkeit der Verbindung zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter seien nicht auszumachen. Die Familie lebe in einem Haushalt. Die Ehefrau des Antragstellers gehe einer Erwerbstätigkeit nach, die den Lebensunterhalt der Familie sichere. Dem Antragsteller komme die Aufgabe der Kinderbetreuung zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, ihm bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Klagverfahrens eine Bescheinigung nach § 59 Abs. 7 Halbsatz 2 AufenthV i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, hilfsweise eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 4 AufenthG auszustellen und im Hinblick auf den Antragsteller von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Er verweist zur Begründung darauf, dass Duldungsgründe nicht offensichtlich seien. Es sei gleichwohl angeboten worden, eine Duldung bis zur Ausreise zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und den vom Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsvorgang Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bleibt insgesamt ohne Erfolg. Der Antragsgegner ist auf den Antrag des Antragstellers weder im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, gegenüber dem Antragsteller einstweilen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen (siehe hierzu unter 1.) noch dem Antragsteller eine Bescheinigung nach § 59 Abs. 7 Halbsatz 2 AufenthV i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG (siehe hierzu unter 2.) beziehungsweise nach § 60a Abs. 4 AufenthG (siehe hierzu unter 3.) auszustellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig, soweit der Antragsteller mit dem vorliegenden Antrag sinngemäß begehrt (vgl. § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO), den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm gegenüber für die Dauer des Hauptsacheverfahrens (Az. 11 A 183/22) von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Der Sicherungszweck des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann unter anderem dann statthafterweise geltend gemacht werden, wenn – wie hier – das Hauptsacheverfahren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis betrifft und der Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet werden soll, die Abschiebung vorübergehend und für die Dauer des Verfahrens auszusetzen (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 10.06.2020 – 4 MB 16/20 –, juris Rn. 5). Allerdings kommt eine solche Sicherung nur ausnahmsweise in Betracht. Denn ein verfahrensabhängiges Bleiberecht soll nach der gesetzlichen Wertung der § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 1 und 2, § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG grundsätzlich nicht eintreten, wenn der Antrag weder eine fiktive Erlaubnis oder Duldung nach § 81 Abs. 3 AufenthG noch die Anordnung einer Fortgeltung nach § 81 Abs. 4 AufenthG zur Folge hat. Ausnahmsweise anders verhält es sich, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung, die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, einem möglicherweise Begünstigten zugutekommt (OVG Schleswig, Beschl. v. 02.03.2020 – 4 MB 5/20 –, juris Rn. 10 f. [zu § 25 Abs. 5 AufenthG] m.w.N.; OVG Bautzen, Beschl. v. 13.08.2021 - 3 B 277/21 -, juris Rn. 30 f. [auch zu § 25a AufenthG]; OVG Lüneburg, Beschl. v. 25.04.2019 - 13 ME 86/19 -, juris Rn. 4 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>a) Sicherungsfähig wäre danach grundsätzlich der geltend gemachte Anspruch nach § 25 Abs. 5 AufenthG, da dieser einen Aufenthalt im Bundesgebiet bedingt. Der Antrag ist insoweit jedoch unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Antragsteller hat das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Dem Antragsteller steht gegenüber dem Antragsgegner kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 25 Abs. 5 AufenthG zur Seite. Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Insoweit fehlt es bereits an der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise. Eine tatsächliche Unmöglichkeit der Ausreise ist vom Antragsteller weder behauptet noch sonst für die Kammer erkennbar. Die Ausreise ist dem Antragsteller auch nicht rechtlich unmöglich, ihr steht insbesondere nicht Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK entgegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. hierzu etwa BVerfG, Beschl. v. 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04 –, juris Rn. 17 ff. m.w.N. und v. 22.05.2018 - 2 BvR 941/18 -, juris Rn. 5 m.w.N. sowie stattgebender Kammerbeschl. v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 –, juris Rn. 41 m.w.N.) gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers bzw. der Trägerin des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine bzw. ihre familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Für die Entfaltung dieser ausländerrechtlichen Schutzwirkungen ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern entscheidend, wobei eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist. Soweit der Umgang mit einem Kind betroffen ist, ist zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist davon auszugehen, dass das Kind beide Eltern braucht und der spezifische Erziehungsbeitrag eines Elternteils nicht durch die Betreuung des Kindes durch den anderen Elternteil oder dritte Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes hat. Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden – etwa weil ihm im Herkunftsland flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht –, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.04.1989 – 2 BvR 1169/84 –, juris Rn. 44). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen nicht vor, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18 f. m.w.N.; OVG Bautzen, Beschl. v. 16.12.2010 – 3 B 191/10 –, juris Rn. 6). Auch aus dem Umstand, dass die anderen Familienmitglieder über (befristete oder unbefristete) Aufenthaltstitel verfügen, folgt noch nicht, dass eine gemeinsame Rückkehr von vornherein unzumutbar ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18; vgl. auch OVG Sachsen, Beschl. v. 16.12.2010 – 3 B 191/10 –, juris Rn. 6). Für das Recht der Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK gilt im Ergebnis nichts Anderes (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18 sowie VGH Mannheim, Beschl. v. 05.07.2018 – 11 S 1224/18 –, juris Rn. 24 f. m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Gemessen an diesen Grundsätzen stehen einer Ausreise des Antragstellers Art. 6 Abs. 1 und 2 GG oder Art. 8 EMRK nicht entgegen. Es ist zwar davon auszugehen, dass Art. 6 GG vorliegend die Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller, seiner Tochter und der Kindsmutter schützt, da diese in einem gemeinsamen Haushalt leben und damit angesichts fehlender gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass eine persönliche Verbundenheit zwischen dem ein Jahr und vier Monate alten Kind und seinen Eltern besteht, auf deren (durchgängiger) Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. zu letzterem etwa OVG Schleswig, Beschl. v. 22.08.2020 – 4 MB 48/19, juris Rn. 10 [in Bezug auf ein 1 Jahr und 9 Monate altes Kind] sowie OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.10.2016 – OVG 12 S 25.16 –, juris Rn. 12 m.w.N.). Durch eine Ausreise des Antragstellers muss in diese Lebensgemeinschaft jedoch nicht eingegriffen werden, denn es ist sowohl dem Kind als auch der Kindsmutter möglich und zumutbar, gemeinsam mit dem Antragsteller auszureisen und die familiäre Lebensgemeinschaft in der Türkei zu führen. Es ist nichts dafür vorgetragen oder ersichtlich, dass die Lebens- und Erziehungsgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden kann. Sowohl die Ehefrau des Antragstellers als auch die gemeinsame Tochter der Eheleute sind – nach allen erkennbaren Umständen – türkische Staatsangehörige. Dass eine Rückkehr in die Türkei einem der Familienangehörigen nicht zumutbar sein könnte, ist nicht vorgetragen und auch sonst nicht aus den Akten ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Anhaltspunkte für eine besondere Verwurzelung des Antragstellers, seiner Ehefrau und des gemeinsamen Kindes in der Bunderepublik Deutschland, mit der diese faktisch Inländern gleichzustellen wären, so dass ihnen das Verlassen des Bundesgebietes gegebenenfalls nicht zugemutet werden könnte, sind gleichermaßen nicht erkennbar. Der Antragsteller befindet sich, soweit dies aus den Verwaltungsvorgängen ersichtlich wird, erst seit Mai 2020 (vgl. Bl. 26 d. Beiakte „A“) in der Bundesrepublik Deutschland und geht hier keiner Beschäftigung nach. Das im März 2021 geborene Kind ist erst ein Jahr und vier Monate alt, so dass eine verfestigte Integration bereits altersbedingt noch nicht stattfinden konnte. Der Aufenthalt der Ehegattin des Antragstellers, die über eine Aufenthaltserlaubnis § 38a AufenthG verfügt und in der Bundesrepublik Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgeht, erscheint zwar aufenthaltsrechtlich längerfristig gesichert. Allein daraus folgt jedoch nicht, dass ihre Integration in der Bundesrepublik Deutschland bereits derart verfestigt ist, dass ihr eine Ausreise unzumutbar wäre. Weitergehend hat der Antragsteller hierzu nicht vorgetragen. Es ist auch nicht ersichtlich, über welchen Zeitraum sich die Ehefrau des Antragstellers bereits in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hat. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Eingewöhnung in der Türkei, der dortige (Wieder-)Aufbau des Privatlebens und die Eingliederung in das Wirtschaftsleben für den im erwerbsfähigen Alter befindlichen Antragsteller sowie dessen in einem entsprechenden Alter befindliche Ehefrau unmöglich oder unzumutbar sein könnten (vgl. zur sog. Dimension der „Entwurzelung“ Beschl. der Kammer v. 21.04.2022 – 11 B 67/22 –, juris Rn. 27), sind weder hinreichend vorgetragen noch sonst nicht ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>b) Soweit sich der Antragsteller darauf beruft, dass ihm ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs nach §§ 29, 30 Abs. 1 AufenthG zustünde, kann er diesen Anspruch im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO entsprechend der vorstehenden Maßgaben nicht geltend machen. Dem steht bereits entgegen, dass der erstrebte vorläufige Rechtszustand auf eine Duldung, das heißt eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung im Sinne von § 60a AufenthG hinausliefe. Damit erhielte die Duldung die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts. Das entspräche jedoch nicht der Systematik des Aufenthaltsgesetzes. Voraussetzungen und Reichweite des verfahrensabhängigen Bleiberechts hat der Gesetzgeber im Einzelnen und im Grundsatz abschließend in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelt. Die dort geregelte Fiktionswirkung kommt dem Antragsteller unstreitig nicht zu Gute. Tritt jedoch keine Fiktionswirkung ein, so besteht grundsätzlich kein verfahrensabhängiges Bleiberecht, das heißt der Betroffene hat das Verfahren auf Erteilung des Aufenthaltstitels von seinem Heimatland aus zu betreiben (vgl. so bereits Beschl. d. Kammer v. 28.01.2022 – 11 B 10008/21 –, Rn. 49 sowie v. 27.07.2022 – 11 B 80/22 –, juris Rn. 30, jeweils m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Etwas anderes ergibt sich im Ergebnis auch nicht, wenn man unterstellt, dass der Antragsteller durch den vorliegenden Antrag eine Rechtsposition aus § 39 Abs. 5 AufenthV in Verbindung mit § 30 Abs. 1 AufenthG sichern möchte. Es ist nämlich weder hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht noch sonst für die Kammer ersichtlich, dass der Antragsteller über § 39 Abs. 5 AufenthV berechtigt wäre, den von ihm begehrten Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einzuholen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn seine Abschiebung nach § 60a AufenthG ausgesetzt wäre und er auf Grund einer Eheschließung oder der Begründung einer Lebenspartnerschaft im Bundesgebiet oder der Geburt eines Kindes während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hätte. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist jedoch nicht hinreichend erkennbar, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erworben hat. Hierfür müsste die Ehefrau des Antragstellers die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllen. In Betracht kommt insoweit lediglich § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 lit. f) bzw. d). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 lit. f) AufenthG ist es erforderlich, dass der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt und die eheliche Lebensgemeinschaft bereits in dem Mitgliedstaat der Europäischen Union bestand, in dem der Ausländer die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat. Zwar ist die Ehefrau des Antragstellers im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG. Der Antragsteller hat jedoch nicht – was erforderlich wäre – glaubhaft gemacht, dass die eheliche Lebensgemeinschaft in dem Mitgliedstaat der Europäischen Union bestand, in dem seine Ehefrau die Rechtsstellung einer langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat. Es ist vor dem Hintergrund der am 16. April 2021 in der Bundesrepublik Deutschland erfolgten Heirat der Eheleute auch sonst nicht erkennbar, dass dies der Fall gewesen wäre. Auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 1 lit. d) AufenthG ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Die Ehefrau des Antragstellers müsste hiernach seit zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzen und die Aufenthaltserlaubnis dürfte nicht mit einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 AufenthG versehen oder die spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht auf Grund einer Rechtsnorm ausgeschlossen sein. Der Antragsteller hat bereits nicht näher dazu vorgetragen, wann seiner Ehefrau erstmals eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist. Entsprechende Unterlagen hat der Antragsteller zur Glaubhaftmachung nicht beigebracht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch nichts anderes aus dem Vortrag des Antragstellers dazu, dass ihm der begehrte Aufenthaltstitel im Sinne von §§ 29, 30 Abs. 1 AufenthG ohne Nachholung des Visumverfahrens zu erteilen sei. Ein sicherungsfähiger Anspruch besteht auch insoweit nicht. Zwar kann von der Anforderung der Einreise mit dem erforderlichen Visum (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) grundsätzlich gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Der Antragsteller hat im Sinne der vorstehenden Ausführungen, auf welche die Kammer insoweit Bezug nimmt, jedoch bereits keinen (strikten) Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 29, 30 Abs. 1 AufenthG glaubhaft gemacht. Dass sich die Nachholung eines Visumverfahrens aufgrund der familiären Bindungen des Antragstellers zu seiner Frau und seiner Tochter angesichts von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK als unzumutbar darstellt, ist im Übrigen ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Der Ehefrau des Antragstellers und der gemeinsamen Tochter ist es im Sinne der vorstehenden Ausführungen vielmehr zumutbar, den Antragsteller in die Türkei zu begleiten und die Familieneinheit dort zu leben. In einer derartigen Verfahrenskonstellation bedarf es keiner weitergehend begründeten gerichtlichen Prognose dazu, warum die Verweisung auf die Nachholung des Visumverfahrens vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung zur Folge hat (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 09.12.2021 – 2 BvR 1333/21 –, juris Rn. 51 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>c) Lediglich ergänzend ist auszuführen, dass – unabhängig von der Sicherungsfähigkeit eines derartigen Anspruchs im Rahmen eines Antrages nach § 123 Abs. 1 VwGO – auch kein Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG glaubhaft gemacht ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Es fehlt jedenfalls am Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne der Norm. Eine außergewöhnliche Härte liegt nur dann vor, wenn die Verweigerung des Aufenthaltsrechts im Lichte des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (BVerwG, Urt. v. 30.07.2013 – 1 C 15.12 –, juris Rn. 12 und Urt. v. 10.03.2011 – 1 C 7.10 –, juris Rn. 10). Der Antragsteller kann die Lebenshilfe für seine Tochter, die noch kein eigenständiges Leben führen kann, nicht ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland, sondern vielmehr auch in der Türkei erbringen. Die Kammer nimmt diesbezüglich auf die vorstehenden Ausführungen Bezug, die insoweit entsprechend gelten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>d) Der Antragsteller hat weiterhin keinen Anspruch auf eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sich aus nationalen Gesetzen, einschließlich Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (Haedicke, in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - rechtl. Unmöglichkeit, Stand: 08.10.2020, Rn. 1). Der Abschiebung des Antragstellers steht nach den vorstehenden Ausführungen insbesondere nicht der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK entgegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>2. Soweit der Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung eine Verpflichtung des Antragsgegners begehrt, ihm eine Bescheinigung nach § 59 Abs. 7 Halbsatz 2 AufenthV i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auszustellen, ist der zulässige Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO mangels eines Anordnungsanspruchs unbegründet. Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt der Aufenthaltstitel für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines gerichtlichen Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Hierüber ist dem Ausländer eine entsprechende Bescheinigung im Sinne des § 59 Abs. 7 Halbsatz 2 AufenthV auszustellen. Der Antragsteller vermag aus den vorgenannten Normen jedoch bereits deswegen keinen Anordnungsanspruch herzuleiten, weil ihm nach allen für die Kammer erkennbaren Umständen bislang kein Aufenthaltstitel erteilt worden ist. Ein Ausländer, der bisher keinen Aufenthaltstitel besaß, der ihm die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gestattet hätte, kann sich auf § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht berufen (Kluth, in: BeckOK AuslR, AufenthG, Stand: 34. Ed. 01.07.2022, § 84 Rn. 34 m.w.N.). Das „Fortbestehen“ eines „Aufenthaltstitels“ (vgl. Wortlaut des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) setzt nämlich unzweifelhaft voraus, dass dem jeweiligen Ausländer in der Vergangenheit bereits ein Aufenthaltstitel ausgestellt worden ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>3. Soweit der Antragsteller schließlich hilfsweise beantragt, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm eine Duldungsbescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG auszustellen, bleibt der Antrag ebenfalls ohne Erfolg. Zwar ist der Antrag auch insoweit nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Es fehlt gleichwohl an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs. Nach § 60a Abs. 4 AufenthG ist dem Ausländer über die Aussetzung der Abschiebung eine Bescheinigung auszustellen. Eine derartige Aussetzung liegt im Falle des Antragstellers indes nicht vor. Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch darauf, dass er nach § 60a AufenthG geduldet wird. Diesbezüglich nimmt die Kammer auf die vorstehenden Ausführungen Bezug.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Nach alledem war der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz nicht gegeben, § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 39 Abs. 1 GKG, wobei die Kammer hinsichtlich des Begehrens auf vorläufige Untersagung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie in Bezug auf die Ausstellung einer Bescheinigung nach § 59 Abs. 7 Halbsatz 2 AufenthV i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und nach § 60 Abs. 4 AufenthG jeweils den Auffangwert in Höhe von 5.000,00 € in Ansatz gebracht hat.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,456
vghbw-2022-08-29-3-s-14921
{ "id": 161, "name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg", "slug": "vghbw", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
3 S 149/21
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-09-07T10:01:32"
"2022-10-17T11:09:51"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 22. Oktober 2020 – 7 K 7297/19 – wird abgelehnt.</p><p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.</p><p>Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung eines positiven Bauvorbescheids für die Umnutzung eines Betriebsgebäudes zu einem Wohngebäude.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks Flst.-Nr. ..., K... Straße ... in Heidelberg-.... Das Grundstück gehörte ehemals zum Staatswald und wurde nach Aktenlage im Jahr 1956 vom Land Baden-Württemberg an die Deutsche Bundespost verkauft, die hierauf nach Erteilung einer Ausnahmegenehmigung der Forstdirektion Nordbaden ein Verstärkergebäude errichtete. Nach Aufgabe dieser Nutzung wurde das Grundstück an eine Privatperson veräußert und im Jahr 2017 vom Kläger erworben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Am 17.07.2018 beantragte der Kläger den Erlass eines Bauvorbescheids unter anderem zu der Frage, „ob eine Umnutzung des Betriebsgebäudes zu Wohngebäude denkbar“ sei. Nach Einholung einer Stellungnahme ihres Landwirtschafts- und Forstamts lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 21.03.2018 im Wesentlichen mit der Begründung ab, das nicht privilegierte Gebäude befinde sich im Außenbereich. Öffentliche Belange stünden zwar nicht entgegen; die Erschließung sei aber rechtlich nicht gesichert. Außerdem sei der erforderliche Waldabstand von 30 m nicht gewahrt. Die Erteilung einer Ausnahme sei nicht möglich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben. Mit Urteil vom 22.10.2020 wies das Verwaltungsgericht die Klage im Wesentlichen mit der Begründung ab, der Augenschein habe ergeben, dass das Gebäude nur ca. 10,30 m von dem als Wald einzustufenden Bewuchs entfernt sei. Der Ausnahmetatbestand des § 4 Abs. 3 Satz 2 LBO liege nicht vor, weil es sich bei der beabsichtigten Nutzungsänderung nicht um eine bauliche Änderung im Sinne diese Vorschrift handele, die nur bautechnische Änderungen zur Bestandssicherung erfasse. Eine Ausnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 3 LBO i.V.m. § 56 Abs. 3 LBO, eine Abweichung nach § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO oder eine Befreiung nach § 56 Abs. 5 LBO komme wegen der vom umgebenden Wald ausgehenden Gefahren für Leben und Gesundheit - etwa durch Windbruch - nicht in Betracht. Auch eine gesicherte Erschließung im Sinne des § 4 Abs. 1 LBO sei nicht gegeben. Das Grundstück liege nur an einem Forstweg. Für eine öffentlich-rechtlich gesicherte Zufahrt sei eine Baulast erforderlich. Ein Notwegerecht nach § 917 BGB sei nicht ausreichend und bestehe auch nicht. Der Forst Baden-Württemberg habe die Einräumung eines Notwegerechts unter den vorliegenden Umständen abgelehnt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>Das Urteil ist dem Kläger am 9.12.2020 zugestellt worden. Er hat am 06.01.2021 einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, den er mit am 05.02.2021 beim Verwaltungsgerichtshof eingegangenem Schriftsatz vom selben Tag begründet hat.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>II.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Der zulässige, insbesondere rechtzeitig gestellte und begründete Antrag hat keinen Erfolg. Der sinngemäß geltend gemachte Zulassungsgrund des Bestehens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist nicht dargelegt und liegt nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="7"/>1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind gegeben, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten derart in Frage gestellt wird, dass ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens möglich erscheint (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; Senatsbeschl. v. 11.5.2015 - 3 S 2420/14 - juris Rn. 15). Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erfordert eine substantiierte Auseinandersetzung mit der erstinstanzlichen Entscheidung (vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2015 - 3 S 2420/14 - juris Rn. 15).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>2. Nach diesem Maßstab bestehen keine ernstlichen Richtigkeitszweifel.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>a) Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht habe sich zu Unrecht auf den Standpunkt gestellt, dass die Bestimmung des § 4 Abs. 3 Satz 2 2. Alt. LBO lediglich bautechnische Änderungen, nicht aber Nutzungsänderungen privilegiere. Bei einer Nutzungsänderung handele es sich um ein Minus gegenüber baulichen Änderungen. Nach § 2 Abs. 13 LBO seien Nutzungsänderungen sämtlichen baulichen Tätigkeiten gleichgestellt. Auch das bestehende Gebäude habe einen Aufenthaltszweck gehabt, da dort ein Aufenthaltsraum und eine Sanitäranlage vorhanden seien. Der Waldeigentümer habe keinen Anspruch darauf, dass der Baumwurfbereich von jeglicher Bebauung freigehalten werde (Bezugnahme auf VG München, Urt. v. 3.11.2015 - M 1 K 15.3173 - juris). Aufgrund besonderer Umstände - etwa der Hauptwindrichtung -  komme ein geringerer Abstand in Betracht; hier herrsche die Windrichtung von Westen vor, während sich der Baumbewuchs im Osten befinde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>Diese Einwände greifen nicht durch.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>(1) Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 LBO müssen bauliche Anlagen mit Feuerstätten von Wäldern, Mooren und Heiden mindestens 30 m entfernt sein; die gleiche Entfernung ist mit Gebäuden von Wäldern sowie mit Wäldern von Gebäuden einzuhalten. Der Zulassungsantrag stellt die Feststellung des Verwaltungsgerichts nicht mehr in Frage, dass das Grundstück des Klägers an drei Seiten von Wald, insbesondere auch von hohen Tannen, umgeben ist und der regelmäßig einzuhaltende Abstand von 30 m bei weitem unterschritten wird. Diese Feststellungen werden auch durch die bei den Akten befindlichen Fotografien untermauert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="12"/>Zutreffend ist das Verwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass der Ausnahmetatbestand des § 4 Abs. 3 Satz 2 LBO nicht vorliegt. Das Waldabstandsgebot gilt danach nicht für Gebäude, die nach den Festsetzungen des Bebauungsplans mit einem geringeren Abstand als nach Satz 1 zulässig sind, sowie für bauliche Änderungen rechtmäßig bestehender baulicher Anlagen. Das Grundstück liegt nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans. Bei dem vom Kläger geplanten Vorhaben handelt sich auch nicht um eine bauliche Änderung einer rechtmäßig bestehenden baulichen Anlage. Das Verwaltungsgericht geht zu Recht davon aus, dass eine Nutzungsänderung - wie die vom Kläger angestrebte Nutzung des Gebäudes als Wohngebäude anstelle eines Betriebsgebäudes für Telekommunikationszwecke - keine bauliche Änderung i. S. des § 4 Abs. 3 Satz 2 2. Alt. LBO ist. Wie das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung zutreffend ausgeführt hat, dient der Ausnahmetatbestand des § 4 Abs. 3 Satz 2 LBO der Bestandssicherung. Es soll ermöglicht werden, dass die Bausubstanz von bestandsgeschützten Gebäuden in notwendigem Umfang modernisiert und angepasst werden kann, auch wenn das bestandsgeschützte Gebäude den nach derzeitiger Rechtslage erforderlichen Waldabstand nicht einhält (vgl. LT-Drs. 14/5013 v. 19.8.2009 S. 37; Schlotterbeck in Schlotterbeck/Hager/Busch/Gammerl, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 8. Aufl. 2020, § 4 Rn. 23). Eine Nutzungsänderung betrifft aber die Zweckbestimmung einer baulichen Anlage, nicht deren Substanz (Sauter, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, Stand April 2022, § 2 Rn. 129). Sie ist dementsprechend im Verhältnis zur Änderung einer baulichen Anlage kein „minus“, sondern ein „aliud“. Anderes ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 13 Nr. 1 LBO. Diese Bestimmung stellt nach ihrem eindeutigen Wortlaut die Nutzungsänderung (nur) der Errichtung, nicht aber der Änderung baulicher Anlagen gleich. Außerdem gilt die Gleichstellung von Nutzungsänderungen mit der Errichtung baulicher Anlagen ohnehin nur insoweit, als in den Einzelvorschriften der Landesbauordnung nicht Abweichendes geregelt ist (Spannowsky in BeckOK Bauordnungsrecht BW, 21. Ed. 1.5.2022, § 2 LBO Rn. 101).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>Auch die weitere Tatbestandsvoraussetzung, dass es sich um eine rechtmäßig bestehende bauliche Anlage handeln muss, liegt nicht vor. Eine bauliche Anlage besteht nur dann rechtmäßig im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 2 2. Alt. LBO, wenn sie baurechtlichen Bestandsschutz genießt (Schlotterbeck in Schlotterbeck/Hager/Busch/Gammerl, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 8. Aufl. 2020, § 4 Rn. 23). Abgesehen davon, dass der geplante Umbau eines technischen Betriebsgebäudes in ein Wohngebäude über eine notwendige Bestandssicherung und Modernisierung hinausgeht - wie das Verwaltungsgericht im Einzelnen ausgeführt hat -, wird die Zulässigkeit einer Nutzungsänderung durch bauliche Maßnahmen nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Vorschrift mithin durch den Umfang des Bestandsschutzes begrenzt. Nach der Rechtsprechung des Senats genießt eine genehmigungspflichtige Nutzung aber nur dann Bestandsschutz, wenn sie von einer Baugenehmigung gedeckt ist (Senatsurt. v. 9.11.2020 - 3 S 2590/18 - VBlBW 2021, 326 und juris Rn. 84). Bestandsschutz gewährleistet, dass sich die rechtmäßige Nutzung einer baulichen Anlage auch gegen neues entgegenstehendes Recht durchsetzt. Bestandsschutz genießt aber grundsätzlich nur die nach Art und Umfang unveränderte rechtmäßige Nutzung (BVerwG, Beschl. v. 09.09.2002 - 4 B 52/02 - juris, Urt. v. 25.03.1988 - 4 C 21/85 - juris). Dient die Baumaßnahme der Verwirklichung einer Nutzung, die nicht genehmigt und daher nicht vom Bestandsschutz gedeckt ist, handelt es sich mithin nicht mehr um die Änderung einer rechtmäßig bestehenden baulichen Anlage im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 2 LBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Der Zulassungsantrag bestreitet nicht, dass das Betriebsgebäude nicht zu Wohnzwecken genehmigt war. Soweit er darauf hinweist, dass darin eine sanitäre Anlage und ein Aufenthaltsraum für die Bediensteten vorhanden waren, spricht dies allenfalls für einen Aufenthalt zu betrieblichen Zwecken, nicht aber für einen Daueraufenthalt zu Wohnzwecken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>(2) Der Senat ist mit dem Verwaltungsgericht auch der Auffassung, dass keine besonderen Umstände vorliegen, die die vom Wald ausgehenden Gefahren für Leib und Leben sowie erhebliche Sachwerte im Brandfall oder durch Windbruch verringern und daher die Zulassung eines geringeren Waldabstands im Wege einer Ausnahme (§ 4 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 56 Abs. 3 LBO), einer Abweichung (§ 56 Abs. 2 Nr.1 LBO) oder einer Befreiung (§ 56 Abs. 5 LBO) rechtfertigen könnten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>Eine Ausnahme vom gesetzlich vorgeschriebenen Waldabstand ist mit öffentlichen Belangen im Sinne von § 56 LBO nur dann vereinbar, wenn durch sie die vom Schutzzweck der von §§ 4 Abs. 3 Satz 1 LBO, 3 Abs. 1 LBO erfassten Schutzgüter nicht oder nicht nennenswert beeinträchtigt werden (vgl. zu § 57 LBO a.F. Senatsurt. v. 2.11.1989 - 3 S 1927/89 - BRS 49 Nr. 82 und juris <nur Ls>) Eine Ausnahme vom in § 4 Abs. 3 Satz 1 LBO vorgeschriebenen Waldabstand kann daher regelmäßig nur dann gestattet werden, wenn eine atypische Gefahrensituation gegeben ist. Diese kann sich etwa aus der Topographie ergeben oder dann, wenn sich die vom Wald durch Baumsturz ausgehenden Gefahren nicht bis zum jeweiligen Bauvorhaben auswirken können, weil die dort wachsenden Bäume standortbedingt keine entsprechende Größe erreichen (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.10.2017 -  8 S 576/16 - juris Rn. 8; Urt. v. 8.10.1993 - 8 S 1578/93 - juris Ls. und Rn. 20; Urt. v. 31.08.1995 - 8 S 1719/95 - juris Rn. 22). Eine besondere topographische Situation, die eine Ausnahme zuließe, wäre etwa gegeben, wenn das Baugrundstück höher läge als der Wald; nach Aktenlage liegt das Grundstück jedoch unterhalb des Waldhangs. Hinzu kommt die erhebliche Unterschreitung des vorgeschriebenen Waldabstands, zumal es keinen Anhalt dafür gibt, dass die Wuchshöhe der Bäume, namentlich der Tannen, auf die gegebene Entfernung des Gebäudes vom Waldrand von ca. 10 m beschränkt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>Im Hinblick auf den Einwand des Klägers, dass Westwind vorherrsche, der Wald aber im Osten des Grundstücks liege, hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die in der mündlichen Verhandlung anwesenden Forstbeamten hätten überzeugend dargelegt, dass sich die Fallrichtung von Bäumen nur schwer vorhersagen lasse und keineswegs immer mit der jeweiligen Windrichtung übereinstimme. Der Forst Baden-Württemberg hat dies in der Antragserwiderung nochmals vertieft und schlüssig und detailliert dargelegt, dass das Grundstück des Klägers auch aufgrund der Hanglage und des Wuchsverhaltens der höheren Bäume im vollen Umfang in der Baumwurfzone liege. Dem hat der Zulassungsantrag nichts Durchgreifendes entgegengesetzt. Da es für die Erteilung einer Ausnahme auf die Umstände des konkreten Falles ankommt, lässt sich aus der vom Zulassungsantrag in Bezug genommenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts München (Urt. v. 3.11.2015 - M 1 K 15.3173 -) nichts für den vorliegenden Fall herleiten, zumal dieses Verfahren die Klage eines Waldeigentümers gegen eine heranrückende Wohnbebauung und somit eine andere rechtliche Konstellation betraf. Dass entgegen der Auffassung des Zulassungsantrags auch gesunde Bäume auf einem stabilen Waldboden im Fall von höherer Gewalt umstürzen oder brechen können, liegt auf der Hand. Warum die vom Verwaltungsgericht und von den Forstsachverständigen befürchteten Gefahren „im Wesentlichen theoretischer Natur“ sein sollen, erschließt sich dem Senat nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>(3) Auch die vom Zulassungsantrag angeführte Möglichkeit zum Erlass von Auflagen verpflichtet die Baurechtsbehörde nicht zur Erteilung einer Ausnahme. Eine Ausnahme kommt auch unter Auflagen nicht in Betracht, wenn (weiterhin) die Gefahr besteht, dass Personen beim Umstürzen von Bäumen zu Schaden kommen. Danach kommt eine Ausnahme regelmäßig nicht in Betracht, wenn Gebäude dazu bestimmt sind, dauerhaft bewohnt oder regelmäßig von Menschen betreten zu werden. In diesem Fall können weder Haftungsausschlüsse noch besondere bauliche Vorkehrungen - wie etwa die Ertüchtigung des Gebäudes - eine Ausnahme rechtfertigen, zumal die Regelung des § 4 Abs. 3 Satz 1 LBO nicht nur das Bauwerk selbst, sondern auch dessen Bewohner und den unmittelbaren Freibereich schützen soll. Auch mit Zustimmung des Eigentümers erfolgende Eingriffe in den Waldbestand sind nicht geeignet, eine Durchbrechung des grundsätzlichen Bauverbots zu rechtfertigen (vgl. zum Ganzen Senatsurteil v. 2.11.1989 - 3 S 1927/89 - juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.4.1990 - 8 S 3123/89 - juris Rn. 42; Urt. v. 16.3. 1994 - 8 S 1716/93 - juris Rn. 45; Urt. v. 8.10.1993 - 8 S 1578/93 - juris; Sauter, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, Stand April 2022, § 4 Rn. 41 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>Die vom Kläger angebotene regelmäßige Kontrolle der Standsicherheit der Waldbäume ist danach nicht geeignet, die Gefahren durch umstürzende Bäume in erforderlichem Umfang zu minimieren. Denn im Falle höherer Gewalt können auch gesunde Bäume umstürzen oder brechen. Außerdem wäre die notwendige Folge von Sicherheitskontrollen, dass nicht mehr standsichere Bäume unverzüglich gefällt werden müssten. Abgesehen von den damit verbundenen personellen und finanziellen Belastungen für den Waldeigentümer dient die Erteilung einer Ausnahme dazu, atypischen Gefahrensituationen gerecht zu werden, nicht aber dazu, in den Waldbestand einzugreifen oder den Waldrand zurückzudrängen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 8.10.1993 - 8 S 1578/93 - juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>Aus den genannten Gründen ist auch eine Abweichung oder Befreiung nicht mit öffentlichen Belangen vereinbar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>(4) Schließlich ist das Waldabstandsgebot bzw. die Versagung einer Ausnahme auch kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Klägers, wie der Zulassungsantrag geltend macht. Das Bauordnungsrecht ist eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentumsrechts im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Baufreiheit wird nur nach Maßgabe des einfachen Rechts gewährt (vgl. Senatsurt. v. 9.11.2020 - 3 S 2590/18 - VBlBW 2021, 326 und juris Rn. 63 ff.). Da das Waldabstandsgebot dem Schutz von Leben, Gesundheit und erheblichen Sachwerten dient, ist für eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nichts ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="22"/>b) Die Einwände des Zulassungsantrags gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass keine öffentlich-rechtlich gesicherte Zufahrt gegeben ist, gehen ebenfalls fehl. Die Erschließung des Grundstücks des Klägers ist nicht gesichert im Sinne des § 4 Abs. 1 LBO. Nach dieser Vorschrift dürfen Gebäude nur errichtet werden, wenn das Grundstück in angemessener Breite an einer befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche liegt oder eine befahrbare, öffentlich-rechtlich gesicherte Zufahrt zu einer befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche hat. Der Zulassungsantrag räumt ein, dass das Grundstück des Klägers nicht an einer öffentlichen Verkehrsfläche liegt. Es verfügt auch nicht über eine befahrbare, öffentlich-rechtlich gesicherte Zufahrt zu einer öffentlichen Verkehrsfläche. Hierfür wäre die Eintragung einer Baulast erforderlich (Senatsurt. v. 3.8.2011 - 3 S 1371/10 - juris Rn. 20).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="23"/>Soweit der Zulassungsantrag darauf hinweist, dass der Forstweg mit Rettungsfahrzeugen befahrbar sei und der Kläger einen Anspruch auf die Einräumung eines Notwegerechts habe, verkennt er die Notwendigkeit einer öffentlich-rechtlichen Sicherung der Zufahrt, die das Verwaltungsgericht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtshofs zutreffend verneint hat. Zudem hat der Beigeladene die Einräumung eines Notwegerechts nach § 917 BGB unter den vorliegenden Umständen abgelehnt.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>III.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, weil dieser im Zulassungsverfahren einen Antrag gestellt hat und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="25"/>Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG und folgt dem von den Beteiligten nicht beanstandeten Ansatz des Verwaltungsgerichts.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="26"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr></table>
346,411
ovgnrw-2022-08-29-19-a-154022a
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 A 1540/22.A
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-09-03T10:01:29"
"2022-10-17T11:09:43"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0829.19A1540.22A.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn einer der in § 78 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AsylG genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Zu den Darlegungsanforderungen nach der inhaltsgleichen Regelung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Beschluss vom 28. März 2022 ‑ 1 B 9.22 ‑, juris, Rn. 21 ff. (zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2022 ‑ 19 A 657/22.A ‑, AuAS 2022, 150, juris, Rn. 3, vom 18. Mai 2022 ‑ 19 A 532/22.A ‑, juris, Rn. 6, und vom 9. Februar 2022 ‑ 19 A 544/21.A ‑, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügen die durch den Kläger aufgeworfenen Fragen nicht. Der Kläger hält für grundsätzlich bedeutsam die Fragen:</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">1. Sind im Rahmen einer Anfechtungsklage Umstände zu berücksichtigen, die nach Erlass des Verwaltungsakts eintraten, wenn er durch diese Umstände rechtswidrig geworden ist?</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">2. Entsteht das Aufenthaltsrecht eines Asylantragstellers, wenn ihm Abschiebungsverbote zuerkannt werden oder die Abschiebung in sein Heimatland untersagt wird, mit der Stellung des Asylantrags (Antrag auf internationalen Schutz)?</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">3. Sind Duldungsgründe im Rahmen einer Rückkehrentscheidung nach dem AsylG zu berücksichtigen?</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">4. Ist die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Rückführungsrichtlinie?</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">5. Ist das Kindeswohl im Rahmen einer Rückkehrentscheidung ‑ hier Abschiebungsandrohung ‑ mit zu berücksichtigen?</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">6. Sperren inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse wie etwa eine dauernde Reiseunfähigkeit, eine Beschäftigungsduldung, eine abgeschlossene Ausbildung oder familiäre Gründe oder sonstige vergleichbare Gründe den Erlass einer Abschiebungsandrohung in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland?</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">7. Ist das BAMF für die Prüfung des Kindeswohls im Rahmen der Abschiebungsandrohung zuständig?</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">8. Hat das BAMF im Rahmen der Verfügung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 AufenthG Kindeswohl und Duldungsgründe zu berücksichtigen und selbst zu prüfen?</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die aufgrund ihres sachlichen Zusammenhangs gemeinsam zu betrachtenden Fragen zu 3. bis 8. führen nicht zur Berufungszulassung. Der Zulassungsantrag legt nicht dar, inwieweit sich diese Fragen für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich gestellt haben und welche konkreten inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse es nicht berücksichtigt haben soll. Hat das Verwaltungsgericht inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse einzelfallbezogen verneint, ist die vom Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Rechtsfrage in der Regel entscheidungsunerheblich, ob die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt vor ihrem Erlass zur Prüfung solcher Hindernisse verpflichtet ist.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8. Juni 2022 ‑ 1 C 24.21 ‑, juris, Rn. 16 ff.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Verwaltungsgericht hat jene Fragen letztlich im Ergebnis dahinstehen lassen, aber gleichwohl ‑ unter Unterstellung, die Abschiebungsandrohung sei eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt müsse stets die rechtlich geschützten Interessen als inlandsbezogene oder tatsächliche Vollstreckungshindernisse bei einer Rückkehrentscheidung prüfen ‑ festgestellt, dass hier weder die Verfahrensgarantien des Art. 5 der Richtlinie noch Grundrechte des Klägers, insbesondere das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens oder sonstige Rechte durch die Abschiebungsandrohung verletzt wären (S. 33 f. des Urteils).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Auch die Fragen zu 1. und 2. führen nicht zur Berufungszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Der Zulassungsantrag (S. 2 des Zulassungsantrags) führt insoweit aus, dass das Verwaltungsgericht die letzte mündliche Verhandlung als maßgeblichen Zeitpunkt für die Entscheidung verkenne. Auch wenn man davon ausgehe, dass es sich um eine Anfechtungsklage handele, müssten die neu hinzugetretenen Umstände berücksichtigt werden, um die Bestätigung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts und damit Amtshaftungsansprüche zu vermeiden (Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 15. November 1967 ‑ 1 C 43.67 ‑ zu einer Gewerbeuntersagung). Auch sei nach den Entscheidungsgründen des Verwaltungsgerichts maßgeblich, wann das Aufenthaltsrecht der Kindesmutter (der Lebensgefährtin des Klägers) und damit die familiären Bindungen der gemeinsamen Kinder (der Kläger in den Verfahren 19 A 1400/22.A = 5 K 907/19.A VG Münster und 19 A 1422/22.A = 5 K 1045/20.A VG Münster) entstanden seien. Das Aufenthaltsrecht der Mutter sei mit Stellung des Schutzgesuchs entstanden und damit vor Erlass der Abschiebungsandrohung des Klägers (S. 3 des Zulassungsantrags). Mit diesem Vorbringen wird ‑ auch in Zusammenschau mit den weiteren im Zusammenhang mit den übrigen Grundsatzfragen erhobenen Einwendungen ‑ eine Klärungsbedürftigkeit der Fragen nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Weise dargelegt. Die zentrale Annahme des Verwaltungsgerichts, Art. 5 der Rückführungsrichtlinie fordere allenfalls die Berücksichtigung der etwaig einschlägigen Belange „vor Erlass“ der Abschiebungsandrohung, im Übrigen bleibe es für nachfolgend eingetretene Belange bei der bisherigen Einordnung als etwaiges inlandsbezogenes Abschiebungshindernis (S. 37 des Urteils), stellt das Zulassungsvorbringen nur pauschal und ohne substantiierte Auseinandersetzung mit der vom Verwaltungsgericht zur Begründung dieser Annahme herangezogenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Frage. Unabhängig davon unterlässt der Zulassungsantrag bezogen auf die Fragen zu 1. und 2. eine ‑ nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG gebotene ‑ Auseinandersetzung mit der eingehenden Argumentation des Verwaltungsgerichts zu den Auswirkungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Lebensgefährtin des Klägers und Mutter der gemeinsamen Kinder (S. 34 bis 36 des Urteils).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Weiter unabhängig davon ist die Frage zu 1. in dieser Allgemeinheit auch deshalb nicht klärungsfähig, weil ihre Beantwortung vom jeweiligen Rechtsgebiet und dem maßgeblichen materiellen Recht abhängt, auf dessen Grundlage der angefochtene Verwaltungsakt ergeht. Selbst wenn man die Frage nur auf einen belastenden Verwaltungsakt auf asylrechtlicher Grundlage bezieht, ist sie aus § 77 Abs. 1 AsylG ohne Weiteres zu bejahen. Ob das Verwaltungsgericht diese Vorschrift im vorliegenden Einzelfall zutreffend angewandt hat, ist für die Beantwortung der Grundsatzfrage unerheblich. Für die Frage zu 2. gilt Entsprechendes: Auch sie ist aus dem Gesetz heraus ohne Weiteres zu bejahen, weil der Aufenthalt des Ausländers bei der Stellung des Asylantrags ab Ausstellung des Ankunftsnachweises gemäß § 63a Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes gestattet ist (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Für die Beantwortung auch dieser Grundsatzfrage ist unerheblich, wann im vorliegenden Einzelfall nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils das Aufenthaltsrecht der Kindesmutter entstanden ist.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
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Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0829.10A2845.20A.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine bisher obergerichtlich nicht geklärte tatsächliche Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer obergerichtlichen Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer entsprechenden Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf deren Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit sowie auf ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2018 – 4 A 3232/18.A –, juris, Rn. 2 f., mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Februar 2017       – 4 A 685/14.A –, juris, Rn. 5 f., mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Danach legt der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der von ihm formulierten Fragen:</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1. Besteht für belutschische Asylantragsteller, die sich während eines längeren Aufenthalts in der BRD durch die Teilnahme an öffentlichen gegen den pakistanischen Staat gerichteten und durch Angehörige von belutschischen Unabhängigkeitsbewegungen (wie Baloch National Movement, Free Balochistan Movement, Baloch Republican Party, Baloch Student Organisation Azad) organisierten Demonstrationen und Protestaktionen politisch gegen den pakistanischen Staat, gegen das sogenannte „Verschwindenlassen“ von belutschischen Bürgern und für ein freies Belutschistan engagiert haben, unabhängig davon, ob und in welchem Maße sie sich bereits in ihrem Heimatland nachweislich politisch im Rahmen der belutschischen Unabhängigkeitsbewegung engagiert haben, im Falle einer Rückkehr oder einer zwangsweisen Rückführung über einen pakistanischen Flughafen mit dem Grad beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, unmittelbar bei Ankunft auf dem Flughafen im Rahmen der Einreisekontrolle Eingriffen im Sinne des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG, insbesondere längerer Haft und schwerer körperlicher Misshandlung bis hin zur extralegalen Tötung im Wege des sogenannten „Verschwindenlassens“, durch staatliche Behörden ausgesetzt zu sein?</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. Besteht für belutschische Asylantragsteller aufgrund ihrer Ethnie und/oder nachgesagter separatistischer Einstellung nach einem längeren Auslandsaufenthalt im Falle einer Rückkehr oder einer zwangsweisen Rückführung über einen pakistanischen Flughafen mit dem Grad beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, unmittelbar bei Ankunft auf dem Flughafen im Rahmen der Einreisekontrolle Eingriffen im Sinne des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG, insbesondere Haft, Folter und schwerer körperlicher Misshandlung bis hin zur extralegalen Tötung im Wege des sogenannten „Verschwindenlassens“, durch staatliche Behörden ausgesetzt zu sein?</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">nicht dar.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Kläger zeigt nicht auf, dass die unter 2. aufgeworfene Frage, ob Belutschen allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit im Fall der Rückkehr nach Pakistan eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung – konkret bereits im Zusammenhang mit der Einreise nach Pakistan – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, klärungsbedürftig sein könnte. Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung,</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 23. Dezember 2002 – 1 B 42.02 –, juris, Rn. 5, Urteile vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 –, juris, Rn. 20, und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 –, juris, Rn. 17 ff.,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts vorliegen könnten. Mit den von dem Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Auffassung in Bezug genommenen entsprechenden Ausführungen in den Urteilen der Verwaltungsgerichte Frankfurt (Oder), Augsburg und Potsdam setzt sich der Kläger schon nicht auseinander. Er benennt zwar verschiedene Erkenntnismittel, wie beispielsweise einen Bericht der Baloch Human Rights Organization (BHRO), wonach im Zusammenhang mit dem Vorgehen des pakistanischen Staates in Belutschistan in zahlreichen Fällen Menschen entführt und getötet wurden. Über die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte und darüber, ob die Gruppenverfolgung landesweit droht, ist damit jedoch noch nichts ausgesagt. Dies gilt ebenfalls, soweit der Kläger auf einzelne Tötungen politisch nicht aktiver Belutschen, die dem pakistanischen Staat zuzurechnen seien, hinweist. Auch aus der von dem Kläger angeführten Auskunft von Amnesty International vom 20. Februar 2019 lässt sich nichts dafür entnehmen, dass jeder belutschische Asylantragsteller bei seiner Rückkehr nach Pakistan allein wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit am Flughafen oder zu einem späteren Zeitpunkt landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt sein könnte, unrechtmäßig verhaftet, körperlich misshandelt oder getötet zu werden.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger zeigt auch die Klärungsbedürftigkeit der Frage 1, ob belutschischen Volkszugehörigen, die sich im Ausland in der von ihm beschriebenen Weise politisch betätigen, im Fall der Rückkehr nach Pakistan eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung     – konkret bereits im Zusammenhang mit der Einreise nach Pakistan – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, nicht auf. Er meint, wie sich aus seinen diesbezüglichen Erläuterungen in seinem Schriftsatz vom 12. Oktober 2020 ergibt, dass alle Anhänger einer in Deutschland agierenden belutschischen politischen Gruppierung und nicht nur – dies hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt – politische Aktivisten mit bestimmten Profilen den von ihm beschriebenen Gefahren ausgesetzt seien. Die von ihm insoweit angeführten Erkenntnismittel liefern jedoch keine für die Annahme einer Klärungsbedürftigkeit ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die von ihm aufgeworfene Frage in seinem Sinne zu beantworten sein könnte. Umso weniger bieten sie Anzeichen dafür, dass die aufgeworfene Frage in ihrer Allgemeinheit überhaupt einer grundsätzlichen Klärung zugänglich sein könnte.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt nicht dar, dass beziehungsweise inwieweit sich Anhaltspunkte dafür, dass die Frage 1 in seinem Sinne zu beantworten sein könnte, aus dem von ihm in Bezug genommenen Kapitel in dem Report des European Asylum Support Office (EASO Country of Origin Information Report. Pakistan Security Situation, Juli 2016) ergeben könnten. Das besagte Kapitel des Berichts befasst sich allgemein mit der Situation in Belutschistan und kennzeichnet die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die dem pakistanischen Staat zuzurechnen seien, unspezifisch als „Balochi sympathisers“. Der Kläger behauptet zudem lediglich, es sei umfassend dokumentiert, dass zahlreiche „normale Mitglieder“ des Baloch National Movement (BNM) verschleppt, gefoltert und getötet worden seien. Der von ihm insoweit angeführte Bericht von Human Rights Watch („We Can Torture, Kill, or Keep You for Years“. Enforced Disappearances by Pakistan Security Forces in Balochistan, Juli 2011) dokumentiert 45 Fälle des sogenannten „Verschwindenlassens“ in Belutschistan hauptsächlich aus den Jahren 2009 bis 2010, die – soweit dies aus den Fallschilderungen überhaupt hervorgeht – wohl überwiegend Mitglieder von militanten politischen Gruppierungen in Belutschistan beziehungsweise Belutschen, die mit solchen Gruppierungen in Verbindung gebracht worden sein sollen, betrafen. Daneben wird aber auch die Stammeszugehörigkeit als ein denkbarer Grund für Verfolgungsmaßnahmen genannt, die mutmaßlich dem pakistanischen Staat zuzurechnen seien. Zwar sollen zwei dieser dort geschilderten Fälle Mitglieder des BNM betroffen haben (Fall 6 und Fall 27), doch ist in dem einem Fall unklar, ob der Betroffene lediglich ein „normales Mitglied“ war. In dem anderen Fall haben die Familienmitglieder den Betroffenen selbst als „senior member“ des BNM bezeichnet. Hiermit und mit den weiteren Einzelheiten des Berichts von Human Rights Watch setzt sich der Kläger in keiner Weise auseinander. Damit ist weder aufgezeigt noch sonst erkennbar, dass sich aus den Fallschilderungen in den von dem Kläger in Bezug genommenen Erkenntnissen ein auch nur ansatzweise konsistentes Bild ergeben könnte, das die mit dem Zulassungsvorbringen unterstellte Annahme rechtfertigen könnte, jeder Belutsche, der sich nur irgendwie für die belutschische Unabhängigkeitsbewegung engagiere oder mit dieser auch nur sympathisiere, könnte in Belutschistan oder gar in ganz Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein. Auf eine solche Annahme vermag der Kläger sich demnach nicht zu stützen, wenn er meint, dass ein wie in Frage 2 beschriebenes politisches Engagement für die belutschische Unabhängigkeitsbewegung im Ausland die beschriebene Verfolgungsgefahr bei einer Einreise nach Pakistan begründen könnte.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dass die Auskunft von Amnesty International vom 20. Januar 2019, auf die sich der Kläger maßgeblich beruft, für eine solche Einschätzung hinreichende Anhaltspunkte liefern könnte, lässt sich ebenfalls nicht feststellen. Dort heißt es zwar, dass Aktivisten, die sich für eine Ausweitung der Selbstbestimmung der belutschischen Bevölkerungsgruppe einsetzten oder Gerechtigkeit für Menschenrechtsverletzungen durch den pakistanischen Staat forderten, häufig Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte würden, wobei eine Gefährdung nicht voraussetze, dass sie offizielle Posten oder Funktionen in politischen Bewegungen bekleideten. Die angeführten Belege sind aber nicht geeignet, die Annahme zu rechtfertigen, Belutschen, die sich exilpolitisch engagieren beziehungsweise engagiert haben, drohe unterschiedslos, also unabhängig von dem Gewicht des politischen Engagements und der dahinter stehenden Motivation eine landesweite Verfolgung durch den pakistanischen Staat. Die von Amnesty International in Bezug genommenen Fälle, die sich, soweit nachvollziehbar, wohl auf besonders profilierte beziehungsweise exponierte Aktivisten beziehen (die betroffenen Personen sind regelmäßig als Menschenrechtsverteidiger, politische Aktivisten, Journalisten oder Blogger bezeichnet) stützen eine solch weitgehende Schlussfolgerung nicht. Dies gilt auch, soweit in der Auskunft von Amnesty International im Übrigen unterstellt wird, der pakistanische Staat versuche potentiell mit allen Mitteln, Informationen zu jeglichen politischen Aktivitäten von Belutschen, auch von solchen, die im Ausland lebten, zu erhalten. Denn aus den angeführten Nachweisen ergibt sich nicht etwa, dass in den genannten Fällen lediglich Belutschen betroffen gewesen sein könnten, die jeweils nur niederschwellig politisch aktiv waren. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auf Ereignisse verweist, die sich bei Demonstrationen belutschischer Unabhängigkeitsbewegungen in München im Februar 2018 und in Frankfurt im August 2019 abgespielt haben, lässt sich hieraus ebenfalls nichts dafür entnehmen, dass pakistanische Stellen die exilpolitischen Aktivitäten jedes einzelnen Belutschen erfassen und überdies jeden Belutschen, der aus dem Ausland nach Pakistan zurückkehrt, allein wegen seiner bloßen – nicht einmal regelmäßigen – Teilnahme an irgendwelchen staatskritischen Demonstrationen und Protestaktionen der in Frage 1 beschriebenen Art oder wegen irgendeines sonst im Ausland gezeigten politischen Engagements unterschiedslos verfolgen. Ein solcher Schluss rechtfertigt sich nicht allein aus hetzerischen Äußerungen Dritter gegen belutschische Aktivisten in Deutschland oder daraus, dass der pakistanische Staat bemüht sein mag, zu verhindern, dass Informationen über die belutschische Unabhängigkeitsbewegung und Menschenrechtsverletzungen an Belutschen, die ihm zuzurechnen sind, an die internationale Öffentlichkeit gelangen, und dabei auch versucht, durch politische Einflussnahme öffentlichkeitswirksame Protestaktionen belutschischer Exilorganisationen zu unterbinden.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">In der oben behandelten Auskunft von Amnesty International werden im Übrigen lediglich die Fälle von drei belutschischen Asylantragstellern aus Deutschland benannt, die bei ihrer Einreise im Mai 2016 über den Flughafen von L. dort von der Federal Investigation Agency (FIA) festgehalten worden sein sollen. Zwei von ihnen sollen vor ihrer Freilassung im Februar beziehungsweise Juni 2018 gefoltert worden sein. Den Fallschilderungen lässt sich jedoch nichts Aussagekräftiges zu den möglichen Gründen, aus denen die angesprochenen drei Personen festgehalten worden sein könnten, insbesondere nichts Konkretes zu ihren etwaigen exilpolitischen Aktivitäten und dem jeweiligen Gewicht solcher Aktivitäten entnehmen. Es fehlt also schon an belastbaren Angaben, die die Behauptung stützen könnten, bei den besagten Rückkehrern habe es sich um Belutschen gehandelt, die wie in Frage 1 beschrieben beziehungsweise sonst auf niedriger Schwelle exilpolitisch tätig gewesen seien. Die Hintergründe der von Amnesty International beschriebenen Fälle sind auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens des Klägers weiter unklar. Ungeachtet dessen liefert – wie sich aus dem Vorstehenden ergibt – (auch) die Auskunft von Amnesty International keine aussagekräftige Faktenbasis, die die Annahme rechtfertigen könnte, aus der menschenrechtswidrigen Behandlung einzelner nach Pakistan zurückgekehrter Belutschen, die sich politisch möglicherweise nur niedrigschwellig engagiert haben, lasse sich verallgemeinernd darauf schließen, dass jedem Rückkehrer, der während eines längeren Aufenthalts in Deutschland an Demonstrationen für eine belutschische Unabhängigkeit und gegen den pakistanischen Staat teilgenommen habe, eine vergleichbare Behandlung drohe. Soweit der Kläger einwendet, es gebe keine dokumentierten Fälle von belutschischen Rückkehrern, die bei ihrer Einreise nach Pakistan unbehelligt geblieben seien, missversteht er die ihm obliegende Darlegungslast. Angesichts des Umstandes, dass Rückführungen von abgelehnten Asylbewerbern nach Pakistan stattfinden, wäre vielmehr damit zu rechnen, dass über die angesprochenen drei Fälle hinaus weitere Fälle von menschenrechtswidrigen Behandlungen zurückgekehrter Belutschen durch den pakistanischen Staat bekannt geworden wären, wenn solche in relevantem Ausmaß stattfinden würden. Dies gilt umso mehr, als von einem großen Interesse der belutschischen Exilorganisationen auszugehen ist, von solchen Fälle zu erfahren und sie öffentlich zu machen. Auch wenn der pakistanische Staat die belutschische Exilgemeinschaft beobachtet, kann angenommen werden, dass er exilpolitische Tätigkeiten von Belutschen gegebenenfalls als asyltaktisch motiviert einordnet und entsprechend bewertet.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Eine Klärungsbedürftigkeit der Frage 1 legt der Kläger schließlich auch insoweit nicht dar, als er auf Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Hannover und Göttingen sowie Trier Bezug nimmt, die die Frage angeblich in seinem Sinne beantwortet haben. Die besagten Urteile der Verwaltungsgerichte Hannover und Göttingen sind Einzelfallentscheidungen, in denen die Gerichte davon ausgegangen sind, dass dem jeweiligen Antragsteller unter Berücksichtigung seiner jeweils festgestellten exilpolitischen Tätigkeit, die sie jeweils als exponiert bewertet haben, und gegebenenfalls weiterer Einzelfallumstände im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Das Verwaltungsgericht Trier hat in den Entscheidungen, auf die der Kläger sich stützt, eine Verfolgungsgefahr für die dortigen Asylantragsteller ebenfalls unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls angenommen, weil nach seinen jeweiligen Feststellungen deren exilpolitische Betätigung für die belutschische Unabhängigkeitsbewegung einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entsprach. Verallgemeinerungsfähige Aussagen im Sinne der deutlich pauschaler gefassten Frage 1 enthalten die Entscheidungen demnach nicht. Im Übrigen legt der Kläger nicht dar, dass die den genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zugrunde gelegten Erkenntnisse entgegen den vorstehenden Ausführungen seine Bewertungen stützen könnten.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt auch nicht dar, dass die Frage 2, ob für belutschische Asylantragsteller aufgrund nachgesagter separatistischer Einstellung im Fall der Rückkehr nach Pakistan eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung – konkret bereits im Zusammenhang mit der Einreise nach Pakistan – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, klärungsbedürftig sein könnte. Es ist schon unklar, welche Fall- beziehungsweise Personengruppe er damit in den Blick genommen wissen will. Sollte er meinen, dass jedem belutschischen Asylantragsteller, der nach einem längeren Aufenthalt im Ausland nach Pakistan zurückkehrt, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit oder irgendeiner exilpolitischen Tätigkeit eine separatistische Einstellung nachgesagt wird, die eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung durch den pakistanischen Staat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach sich zieht, benennt er hierfür nach dem Vorstehenden keine hinreichenden Anhaltspunkte. Nach den obigen Ausführungen fehlt es auch an der Darlegung hinreichender Anhaltspunkte dafür, dass einem Asylantragsteller im Fall der Rückkehr nach Pakistan, selbst dann, wenn der pakistanische Staat von seinen exilpolitischen Aktivitäten Kenntnis erlangt haben sollte, unterschiedslos, also unabhängig von dem Gewicht seines exilpolitischen Engagements auch unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Motivation hierfür, Verfolgung droht.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.</p>
346,374
olgmuen-2022-08-29-21-u-52320
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21 U 523/20
"2022-08-29T00:00:00"
"2022-08-31T10:01:36"
"2022-10-17T11:09:38"
Endurteil
<h2>Tenor</h2> <div> <p>1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 08.01.2020, Az. 33 O 1981/18, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p> <p>1.1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 21.618,77 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 25.349,10 € vom 10.01.2019 bis 10.09.2019, aus 23.470,81 € vom 11.09.2019 bis 03.07.2022 und aus 21.618,77 € seit 04.07.2022 Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs ..., Fahrzeug-ID-Nummer …, zu zahlen.</p> <p>1.2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p> <p>1.3. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben der Kläger 42%, die Beklagte 58% zu tragen.</p> <p>2. Im Übrigen wird die Berufung der Klagepartei zurückgewiesen.</p> <p>3. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben der Kläger 51%, die Beklagte 49% zu tragen.</p> <p>4. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts Ingolstadt in der Fassung, die es in Ziffern 1.1. bis 1.3 erhalten hat, sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p>I.</p> <p><rd nr="1"/>Streitgegenständlich sind Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagte im Zusammenhang mit dem sog. Dieselabgasskandal.</p> <p><rd nr="2"/>Der Kläger erwarb am 10.06.2010 bei einem Händler einen ..., als Neuwagen (km-Stand 10 km) zu einem Kaufpreis von 44.000 €. Das Fahrzeug wurde vom Kläger bis ca. Juli 2021 genutzt. Seitdem beträgt der Kilometerstand 127.717 km. Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt.</p> <p><rd nr="3"/>Die Beklagte ist Herstellerin des Fahrzeugs und brachte das Fahrzeug in den Verkehr. Der in dem Fahrzeug verbaute Dieselmotor stammt von der … AG. Zur Abgasreinigung wird im streitgegenständlichen Fahrzeug die Abgasrückführung eingesetzt.</p> <p><rd nr="4"/>Zum Zeitpunkt des Kaufs befand sich in dem Fahrzeug eine Motorsoftware, die erkennt, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wird und schaltet in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxid (NOx)-optimierten Modus. In diesem Modus findet eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstands schaltet der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Für die Erteilung der Typgenehmigung der Emissionklasse Euro 5 maßgeblich war der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand. Die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm wurden nur im Abgasrückführungsmodus 1 eingehalten. Das Fahrzeug ist damit betroffen von einem Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt mit der Begründung „unzulässige Abschalteinrichtung“.</p> <p><rd nr="5"/>Der Kläger ließ das vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) freigegebene und zur weiteren Nutzbarkeit des Fahrzeugs erforderliche Softwareupdate für den Motortyp EA 189 aufspielen.</p> <p><rd nr="6"/>Mit der Klage verlangt der Kläger die Erstattung des Kaufpreises gegen Rückgabe des Fahrzeugs, weil die Beklagte dem Kläger in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich einen Schaden zugefügt habe. Für die Steuerung des Motors und dessen Programmierung sei die Beklagte verantwortlich. Soweit die Beklagte das Wissen der Personen über den Betrug bestreiten wolle, müsse die Beklagte ihre inneren Strukturen und Abläufe darlegen und die Personen benennen, die für die Entwicklung und den Einbau des Motors samt Software verantwortlich gewesen seien. Die Beklagte müsse erklären, wie es sein könne, dass dem Vorstand die streitgegenständliche Programmierung unbekannt geblieben sein solle. Über die innerbetrieblichen Abläufe bei der Beklagten könne der Kläger keine Kenntnisse habe.</p> <p><rd nr="7"/>Die Beklagte hingegen verneint jegliche Ansprüche. Die Funktionsweise der vom Kläger gerügten Motorsteuerungssoftware sei keine unzulässige Abschalteinrichtung und dem Kläger sei durch den Erwerb des voll funktionsfähigen Fahrzeugs auch kein Schaden entstanden. Eine sittenwidrige Schädigungshandlung der Beklagten liege nicht vor. Es lägen keine Erkenntnisse dafür vor, dass einzelne Mitglieder des Vorstands der Beklagten im aktienrechtlichen Sinne die Entwicklung der streitgegenständlichen Software für den Dieselmotor des Typs EA 189 (EU 5) in Auftrag gegeben oder gebilligt hätten. Die Beklagte habe den Motor nicht entwickelt.</p> <p><rd nr="8"/>Ergänzend wird auf die tatsächlichen Feststellungen im landgerichtlichen Urteil, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, Bezug genommen.</p> <p><rd nr="9"/>Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Der Einbau und das Verschweigen der unzulässigen Abschalteinrichtung stelle kein sittenwidriges Verhalten der Beklagten dar, welches auch nicht vom Schutzzweck der verletzten Norm, § 826 BGB, umfasst sei. Das Ziel Kostenersparnis und Gewinnmaximierung stelle in einem marktwirtschaftlichen System kein grundsätzlich zu beanstandendes Verhalten dar. Auch reiche der Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften allein für eine Haftung der Beklagten nicht aus. Die vorzunehmende Gesamtbeurteilung von Zweck, Mittel und Folgen ergebe keine Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten.</p> <p><rd nr="10"/>Dagegen richtet sich die Berufung der Klagepartei. Sie hält die Entscheidung des BGH vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, ohne weiteres auf den vorliegenden Fall für übertragbar und anwendbar. Auch wenn der Motor nicht gemeinsam mit der Konzernmutter entwickelt worden sei, so treffe das Urteil der Sittenwidrigkeit auch die hiesige Beklagte, weil sie die zuständige Typgenehmigungsbehörde und die für sie handelnden Dienste arglistig getäuscht habe. Die Beklagte sei für ihre Fahrzeuge die Verantwortliche im EG-Typgenehmigungsverfahren. Mit der Abgabe der Beschreibungsunterlagen und ihrem Antrag auf Erteilung der EG-Typgenehmigung habe die Beklagte eine eigene Erklärung gegenüber der Genehmigungsbehörde abgegeben und gegen die Pflicht verstoßen, den Motor der Konzernmutter eigenständig auf seine Funktions- und Gesetzmäßigkeit zu überprüfen.</p> <p><rd nr="11"/>Dass eine Kenntnis der Vorstandsmitglieder und anderer Repräsentanten von der Umschaltlogik vor dem 18.09.2015 nicht vorgelegen habe, sei unter lebensnahen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbar und werde bestritten. Auch Organe bzw. Repräsentanten der Beklagten hätten Kenntnis von den abgasmanipulierten Motoren gehabt und die grundlegende strategische Entscheidung über den Einbau und die Täuschung des KBA getroffen. Dafür spreche der Umstand, dass es sich bei dem Motor um das Kernstück des Fahrzeugs und bei der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung um eine grundlegende, eine Vielzahl von Fahrzeugen betreffende, Strategieentscheidung handle, mit erheblichen persönlichen Haftungsrisiken für die entscheidenden Personen. Dafür spreche auch die Bedeutung der gesetzlichen Grenzwerte und die für die Beklagten entscheidende Frage, wie diese technisch und wirtschaftlich kostengünstig eingehalten werden könne. Weil die Beklagte selbst Dieselmotoren entwickelt, sei ausgeschlossen, dass die Beklagte den von der Konzernmutter entwickelten Motor ohne eigene Prüfung und Kenntnis der wesentlichen Merkmale in ihre Fahrzeuge eingebaut habe. Es liege damit auf der Hand, dass im Unternehmen der Beklagten mindestens ein handelnder Repräsentant an der Entscheidung über die Verwendung der Abschalteinrichtung beteiligt gewesen sei.</p> <p><rd nr="12"/>Die Beklagte treffe im Übrigen eine sekundäre Darlegungslast, weil der Kläger keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und keine Möglichkeit zur weiteren Sachaufklärung habe, während die Beklagte alle wesentlichen Tatsachen kenne und sie leicht und zumutbar nähere Angaben machen könne.</p> <p><rd nr="13"/>Der Kläger beantragt zuletzt in der Berufung, </p> <p>unter Abänderung des am 08.01.2020 verkündeten Urteils des Landgerichts Ingolstadt, Az.: 33 O 1981/18, wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger 25.349,10 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit Zugum-Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs ..., Fahrzeug-IDnummer: …, zu zahlen.</p> <p><rd nr="14"/>Im Übrigen wurde die Berufung zurückgenommen.</p> <p><rd nr="15"/>Die Beklagte beantragt,</p> <p>die Berufung des Klägers zurückzuweisen.</p> <p><rd nr="16"/>Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und betont, dass die Entscheidung des BGH in Bezug auf die Haftung der … AG, die den streitgegenständlichen Motor samt Software entwickelt und hergestellt habe, nicht auf die … AG übertragen werden könne. Eine Kenntnis vom Einsatz der Umschaltlogik hätten die Vorstände und andere maßgebliche Repräsentanten der Beklagten vor dem 19./20.09.2015 nicht gehabt. Es bestünden hierfür keine belastbaren Anhaltspunkte, auch nicht nach den Untersuchungen durch die Kanzleien … und … Die befragten Personen, nämlich die im Zeitraum vom 01.01.2006 bis 22.09.2015 amtierenden Vorstandsmitglieder, hätten bei sämtlichen Befragungen eine Kenntnis verneint. Belastbare Anhaltspunkte für eine Kenntnis bestünden auch nicht bei potentiellen Repräsentanten im relevanten Zeitpunkt. Dass auch andere Mitarbeiter nichts gewusst hätten, ergebe sich zudem daraus, dass die Staatsanwaltschaft München II trotz mehrfacher Durchsuchungen kein Ermittlungsverfahren eingeleitet oder Erkenntnisse an die Staatsanwaltschaft … weitergeleitet habe. Allein aus der Entwicklung der V-… Motoren durch die Beklagte könne nicht auf eine Kenntnis von der durch die … AG entwickelten konkreten Software für den EA 189 Motor geschlossen werden, weil sich die Motortypen in ihrem Aufbau und in ihrer Konzeption erheblich unterscheiden würden. Nur weil das Kraftfahrt-Bundesamt einzelne von der Beklagten selbst entwickelte Motoren, insbesondere mit dem EU 6 Grenzwert, beanstandet habe, habe die Beklagte keinesfalls wissen müssen, dass der von der … AG entwickelte Motor EA 189 eine unzulässige Abschalteinrichtung enthielt. Auch aus der teilweisen Produktion der Motoren vom Typ EA 189 in einem …-Werk in … könne nicht auf eine Kenntnis von der streitgegenständlichen Software geschlossen werden. Der Prozess der Motorenherstellung unterscheide sich erheblich von dem der Motorenentwicklung.</p> <p><rd nr="17"/>Anders als bei den Verfahren gegen die … AG komme vorliegend keine sekundäre Darlegungslast der Beklagten in Betracht, weil die Beklagte keinen Einfluss auf die konkreten Eigenschaften des Motors gehabt und der Konzernmutter auch diesbezüglich keine Vorgaben gemacht habe. Eine strategische Entscheidung zum Einsatz der streitgegenständlichen Software habe es bei der Beklagten nicht gegeben. Die Beklagte sei nur Nutzer des von der … AG als Bauteilspender vollumfänglich bereitgestellten Bauteils gewesen. Auch habe sie nach dem allgemein geltenden Vertrauensprinzip ohne detaillierte Prüfung oder gar ein vollständiges Nachvollziehen des Entwicklungsprozesses auf die Gesetzeskonformität der von der … AG entwickelten Motoren vom Typ EA 189 vertrauen dürfen.</p> <p><rd nr="18"/>Auch auf der Grundlage der Entscheidungen des BGH vom 25.11.2021, Az. VII ZR 238/20, VII ZR 243/20, VII ZR 243/20, VII ZR 257/20 und VII ZR 38/21, komme eine Haftung der Beklagten nicht in Betracht, weil es sich hier um Einzelfallentscheidungen handle. Dies belegten die Urteile des BGH zugunsten der Beklagten, u.a. Urteil vom 16.09.2021, VII ZR 192/20. Über streitigen Vortrag müsse Beweis erhoben werden, erst dann komme § 286 ZPO in Betracht. § 286 ZPO gewähre nicht die Möglichkeit, einfach danach zu entscheiden, welche Parteibehauptung dem Gericht mehr oder weniger glaubwürdig erscheine. Im Übrigen seien die Entscheidungen nur deshalb gegen die … AG ausgefallen, weil das Revisionsgericht in Ermangelung eines zulässigen begründeten Revisionsangriffs an die Feststellungen gebunden gewesen sei. Voraussetzung für eine Haftung der Beklagten sei der Nachweis der Klagepartei, dass ein verfassungsmäßig berufender Vertreter im Sinne des § 31 BGB den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 826 BGB persönlich verwirklicht habe. Ein solcher Vortrag könne dem klägerischen Vorbringen indessen nicht ansatzweise entnommen werden. Eine sekundäre Darlegungslast komme vor diesem Hintergrund nicht in Betracht. Selbst wenn aber eine solche anzunehmen sei, dann sei die Beklagte dieser nachgekommen. Die Klage sei deshalb ohne Beweisaufnahme abweisungsreif.</p> <p><rd nr="19"/>Im einzelnen wird auf die Berufungsbegründungen der Parteien sowie die weiteren eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.</p> <p><rd nr="20"/>Der Senat hat über den Rechtsstreit am 04.07.2022 mündlich verhandelt und in diesem Termin den Kläger persönlich zur Frage der Kausalität angehört. Im Einzelnen wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen, Bl. 386 ff. d.A. Auf eine förmliche Parteieinvernahme wurde von der Beklagten verzichtet.</p> <p>II.</p> <p><rd nr="21"/>Die zulässige Berufung des Klägers, hat in der Sache teilweise Erfolg. Entgegen der Annahme des Landgerichts haftet die Beklagte nach §§ 826, 31 BGB wegen des Erwerbs des hier streitgegenständlichen Dieselfahrzeugs durch die Klagepartei. Allerdings sind die von der Klagepartei gezogenen Nutzungen vom Kaufpreiserstattungsanspruch in Abzug zu bringen, wobei der Senat im vorliegenden Fall, anders als der Kläger, eine mögliche Gesamtlaufleistung von 250.000 km zugrundelegt.</p> <p><rd nr="22"/>1. Die Beklagte haftet gem. §§ 826, 31 BGB aufgrund eigenen deliktischen Handelns. Dabei kann zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass sie die - u.a. im streitgegenständlichen Fahrzeug eingesetzten - Motoren EA189 samt Motorsteuerungssoftware nicht entwickelt bzw. nicht mitentwickelt hat. Sie handelte durch die ihr zuzurechnenden Repräsentanten i.S.v. § 31 BGB sittenwidrig i.S.v. § 826 BGB, indem sie entschied, Motoren EA189 in Kenntnis der dazu programmierten Umschaltlogik als Software zur Erschleichung der Typgenehmigung in die von ihr hergestellten Fahrzeuge serienweise einzubauen, um diese anschließend in den Verkehr zu bringen. Mindestens ein verfassungsmäßig berufener Vertreter der Beklagten im Sinne von § 31 BGB hat die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB verwirklicht.</p> <p><rd nr="23"/>Sittenwidrig ist nach der nunmehr auch speziell in Bezug auf Dieselfälle seitens des BGH gefestigten Rechtsprechung ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft.</p> <p><rd nr="24"/>Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 14 f.).</p> <p><rd nr="25"/>Ein Automobilhersteller handelt gegenüber dem Fahrzeugkäufer sittenwidrig, wenn er entsprechend seiner grundlegenden strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzen, Fahrzeuge mit einer Motorsteuerung in Verkehr bringt, deren Software bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, und damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielt. Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 16 ff.).</p> <p><rd nr="26"/>Bereits die objektive Sittenwidrigkeit des Herstellens und des Inverkehrbringens von Kraftfahrzeugen mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Verhältnis zum Fahrzeugerwerber setzt voraus, dass es in Kenntnis der Abschalteinrichtung und im Bewusstsein ihrer - billigend in Kauf genommenen - Unrechtmäßigkeit geschieht (vgl. BGH, Urteil vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 21, Beschluss vom 19.01.2021, Az.: VI ZR 433/19, Rdnr. 19, vom 09.03.2021, Az.: VI ZR 889/20, Rdnr. 28).</p> <p><rd nr="27"/>a) Ein derartiges Vorstellungsbild steht zur Überzeugung des Senats fest im Hinblick auf Personen, für deren Verhalten die Beklagte einzustehen hat. Der Senat ist überzeugt i.S.v. § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO, dass wenigstens ein Repräsentant der Beklagten i.S.v. § 31 BGB von der - evident unzulässigen - Umschaltlogik gewusst hat bei der Entscheidung über den Einsatz von Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten.</p> <p><rd nr="28"/>Soweit die Beklagte einwendet (Bl. 367 d.A.), eine Überzeugungsbildung i.S.v. § 286 ZPO verstoße gegen BGH, Urteil vom 26.04.1989, Az.: IVb ZR 52/88, ist festzuhalten, dass sich der BGH in seiner Urteilsserie vom 25.11.2021 u.a. explizit mit der Prüfung der Feststellungen auf der Grundlage einer Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO in den Ausgangsentscheidungen befasst und seine Beurteilung ausführlich begründet hat (Az.: VII ZR 238/20, Rdnr. 29 ff., VII ZR 243/20, Rdnr. 28 ff., VII ZR 257/20, Rdnr. 30 ff. und VII ZR 38/21, Rdnr. 28 ff.; deutlich dazu: BGH, Beschlüsse vom 12.01.2022, Az.: VII ZR 256/20, Rdnr. 18, und vom 09.02.2022, Az.: VII ZR 255/20, Rdnr. 18, Az.: VII ZR 26/21, Rdnr. 23 und Az.: VII ZR 258/20). Der BGH hat insbesondere auch klargestellt, dass die Tatsachenfeststellung in Dieselfällen nicht beschränkt ist auf Feststellungen nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungs- und Beweislast (BGH, Urteil vom 25.11.2021, Az.: VII ZR 243/20, Rdnr. 35).</p> <p><rd nr="29"/>Die Beklagte führt aus, im Rahmen der grundsätzlichen Entscheidung über die Verwendung des Motors EA189 in Fahrzeugen ihrer Herstellung durch das Produkt-Strategie-Komitee im Jahr 2005/2006, das sich aus einzelnen Mitgliedern des Vorstands sowie einzelnen Mitgliedern aus den Fachabteilungen zusammensetzte, und der fortlaufenden nochmaligen Entscheidung zum Einsatz des Motors EA189 jeweils in Bezug auf das konkret entwickelte Modell (Bl. 231 ff. d.A.), habe man lediglich den serienmäßigen Einsatz des Motors EA189 beschlossen, sich dabei aber nicht mit der konkreten technischen Ausstattung einschließlich der Umschaltlogik befasst, man habe insbesondere im Produkt-Strategie-Komitee nur über den Einsatz des Motorentyps entschieden und dabei nur finanzielle und zeitliche Planungsaspekte einbezogen, nicht jedoch technische Details der streitgegenständlichen Software (Bl. 353 d.A.). Der Senat ist aber davon überzeugt, dass wenigstens ein Repräsentant der Beklagten i.S.v. § 31 BGB bei der Entscheidung über den Einsatz von Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten von der - evident unzulässigen - Umschaltlogik gewusst hat, unabhängig von der Frage der ausdrücklichen Besprechung der Umschaltlogik innerhalb der Erörterungen des Produkt-Strategie-Komitees.</p> <p><rd nr="30"/>Beim Motor eines Fahrzeugs handelt es sich um dessen „Kernstück“, nicht bloß um ein untergeordnetes Zuliefererteil. Dies bestätigen auch die Ausführungen der Beklagten, wonach die Entscheidung über den in einen neuen Fahrzeugtyp einzusetzenden Motor im Rahmen des 60-monatigen Zeitraums zur Entwicklung eines neuen Fahrzeugmodells einen „Meilenstein“ darstellt (Bl. 231 ff. d.A.). Bei den Emissionswerten eines Fahrzeugs handelt es sich wiederum nicht um bloße technische Details und damit Fragen von vollkommen untergeordneter Bedeutung, im Gegenteil. Gleichzeitig handelt es sich um eine Entscheidung von großer Tragweite mit erheblichen, auch persönlichen, Haftungsrisiken für die Entscheider.</p> <p><rd nr="31"/>Hinzu kommt, dass das Spannungsverhältnis zwischen kostengünstiger Produktion und den durch die nach den gesetzgeberischen Vorgaben zu den Euro-Schadstoffklassen stets strengeren Anforderungen an die Begrenzung der Stickoxidemissionen seinerzeit bei Automobilherstellern allgemein bekannt war. Die Einhaltung der relevanten Stickoxidgrenzwerte für den Motor EA189 stellte unter Berücksichtigung des grundsätzlichen Verbots von Abschalteinrichtungen eine Herausforderung dar, die jedem Kraftfahrzeughersteller, der sich wie die Beklagte selbst mit der Entwicklung von Dieselmotoren befasste, bekannt war. Die Beklagte selbst räumt auch ein, dass bei der Entscheidung über den Einsatz des Motors EA189 finanzielle Aspekte einbezogen wurden.</p> <p><rd nr="32"/>In diesem Zusammenhang nicht zu überzeugen vermag der Einwand der Beklagten, bei den vor ihr entwickelten und hergestellten Dieselmotoren handele es sich um ganz andere Motoren. Zwar mögen diese Motoren leistungsstärker und die Zylinder anders angeordnet sein. Das grundlegende Problem der Entstehung von Stickoxiden aufgrund hoher Verbrennungstemperaturen - vgl. die Ausführungen der Beklagten Bl. 28 ff. d.A. sowie den von der Beklagten mit Anlage BE 07 vorgelegten Bericht der Untersuchungskommission „V.“, Seite 6 - stellt sich aber bei jedem Dieselverbrennungsmotor. Auch gelten für alle diese Motoren die gleichen gesetzlichen Stickoxidgrenzwerte.</p> <p><rd nr="33"/>Ferner sind der Beklagten ausweislich ihres Vortrags durchaus Aspekte der Abgasreinigung im Zusammenhang mit dem Motor EA189 bekannt: sie weiß, dass bei den für den deutschen Markt bestimmten Fahrzeugen mit Motor EA189 der Euroschadstoffnorm 4 bis 6 die Abgasreinigung durch Hochdruck-Abgasrückführung, durch einen Dieseloxidationskatalysator und Dieselpartikelfilter stattfindet, aber eine Abgasnachbehandlung durch Stickstoffspeicherkatalysator wie bei den für den USamerikanischen Markt bestimmten Fahrzeugen nicht zum Einsatz kommt; mit den unterschiedlichen Hardwarekomponenten gingen Unterschiede bei der Motorsteuerungssoftware einher (Bl. 352 ff. d.A.). Die Beklagte führt außerdem aus, vor der Verwendung der Motoren EA189 habe sie von der … AG Motoren EA188 erworben - die beiden Motoren unterschieden sich, da die … AG den Motortyp EA188 weiterentwickelt und die Technik von der Pumpe-Düse-Einspritzung auf die innovative Common-Rail-Einspritzung mit dem Ergebnis des Motortyps EA189 umgestellt habe (Bl. 233 d.A.). Die Einspritzcharakteristik ist aber wesentlich für die Optimierung des Verbrennungsprozesses und steht damit im Zusammenhang mit der Abgasreinigung durch Abgasrückführung, auf die Ausführungen der Beklagten zur Funktionsweise des Softwareupdates wird Bezug genommen (Seite 9 ff. der Klageerwiderung).</p> <p><rd nr="34"/>Auch angesichts des von der Beklagten beschriebenen ausgeklügelten Systems von Kontroll- und Berichtspflichten (Bl. 254 ff. d.A.) erscheint es nicht plausibel, dass diese sämtlich gerade bei der hier inmitten stehenden Kenntnis von der Umschaltlogik - einer Software, die die Zulassungsfähigkeit hinsichtlich einer maßgeblichen Eigenschaft des Motors, nämlich seiner Abgasemissionen zumal bei Kenntnis der Schwierigkeit zur Lösung des Problems, überhaupt erst ermöglichte - versagt haben sollen.</p> <p><rd nr="35"/>Zwar hat die Beklagte ihren Vortrag zur von ihr behaupteten Unkenntnis in Bezug auf die Umschaltlogik von Personen, deren Handeln sie sich nach § 31 BGB zurechnen lassen muss, inzwischen vertieft. Nach den durchgeführten internen Untersuchungen hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, dass Vorstände im aktienrechtlichen Sinn bzw. andere Repräsentanten die für eine Haftung nach § 826 BGB maßgeblichen Kenntnisse gehabt hätten, Bl. 242 ff. d.A.</p> <p><rd nr="36"/>Dies überzeugt den Senat jedoch nicht. Denn die Beklagte räumt ein, dass zu der Ebene der Bereichsleiter im Zeitraum von 2006 bis 2015 jeweils ca. 70 Personen gehört hätten. Befragungen sämtlicher dieser Einzelpersonen seien aber weder erforderlich noch praktisch umsetzbar (Bl. 250 d.A). Das teilt der Senat nicht, der nicht erkennen kann, dass die Anhörung dieser Personen zur Aufklärung dieses für die Beklagte aus dem Tagesgeschäft herausragend bedeutsamen Sachverhalts nicht praktisch umsetzbar sein soll, zumal es nach dem Vortrag der Beklagten auch der zur Untersuchung im … Konzern eingesetzten Kanzlei … möglich war, mehr als 700 Befragungen durchzuführen einschließlich einer Sicherung von über 21.000 elektronischen Datenträgern bei weltweit über 3.500 Mitarbeitern (Bl. 243 d.A.). Dies gilt umso mehr, als die Beklagte nach ihren eigenen Ausführungen im Zeitraum von 2006 bis 2015 streng hierarchisch organisiert war mit Berichts- und Kontrollpflichten. Danach sei die Beklagte von sieben Vorständen geleitet worden und sei in sieben Vorstandsbereiche gegliedert gewesen, welche die erste Berichtsebene darstellten. Der Vorstandsebene nachgelagert gewesen seien Untergliederungen, die als Bereiche bezeichnet worden seien und welche die zweite Berichtsebene darstellten. An ihrer Spitze standen bereits die Bereichsleiter (Bl. 255 ff. d.A.). Die Notwendigkeit ihrer Befragung drängt sich auf, zumal der BGH bereits in der Entscheidung vom 25.05.2020 (Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 33) dem restriktiven Begriffsverständnis des Repräsentanten i.S.v. § 31 BGB der dortigen Beklagten (und der hiesigen Beklagten explizit in Bezug auf Bereichsleiter, denen aber selbst die Beklagte gleichwohl „eine dem Tätigkeitsprofil der Vorstandsmitglieder angenäherte Funktion innerhalb der Organisationsstruktur der Beklagten“ zubilligt, Bl. 247 d.A.) nicht gefolgt ist. Ob überhaupt wenigstens einzelne und ggfls. welche Bereichsleiter befragt wurden, bleibt aber unklar.</p> <p><rd nr="37"/>Eine Indizwirkung im Sinne der Beklagten vermag der Senat schließlich nicht in dem Umstand zu sehen, dass die internen Ermittlungen nicht zu Schadensersatzansprüchen der Beklagten gegen ihre Verantwortlichen bzw. zu weiteren staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren geführt hätten. Nach den Ausführungen der Beklagten bezogen sich die nach Darstellung der Beklagten umfangreichen internen Ermittlungen der Kanzlei … in Zusammenarbeit mit … zur Beklagten im Schwerpunkt ohnehin nicht auf den hier inmitten stehenden Sachverhalt der Verwendung der Motoren EA189, sondern auf Manipulationen bei den von der Beklagten selbst entwickelten …l-V…-Motoren (Bl. 242 ff. d.A., Anlagen BE 08 u. BE 09) und eine Befragung der Bereichsleiter bleibt offen. Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft … kein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat, lässt keinen Rückschluss zu auf die dort jeweils bestehenden Kenntnisse und Entscheidungsmotive - erst recht nicht allein im Sinne des Beklagtenvortrags. Die Beklagte selbst legt überdies als Anlage BE 10 das „Statement of Facts“ vor, aus dem sich ergibt, dass es im Hinblick auf die Vorgänge in den … u.a. durch Angestellte der Beklagten zur Vernichtung von Unterlagen gekommen ist mit dem Ziel der Vermeidung rechtlicher Konsequenzen (ebenda, Nr. 73).</p> <p><rd nr="38"/>Die umfänglichen Ausführungen der Beklagten zur fehlenden Kenntnis ihrer Vorstände im aktienrechtlichen Sinne und sonstiger Repräsentanten mit der Begründung, sie habe den Motor nicht entwickelt bzw. nicht mitentwickelt, sei am Homologationsprozess nicht beteiligt gewesen und habe aufgrund des bestehenden Baukastenprinzips mit automatisierten Produktionsprozessen ohne Einwirkungs- oder Überprüfungsmöglichkeit beim Aufspielen der Motorsteuerungssoftware bzw. später bei der Überwachung der Produktion keine Kenntnisse erlangen können, verfangen nicht, da der Senat - bei Wahrunterstellung des Vortrags der Beklagten insoweit - in der Entscheidung über die Verwendung des Motors EA189 in Kenntnis der Umschaltlogik das deliktische Handeln sieht.</p> <p><rd nr="39"/>Diese Wertung liegt bereits den Entscheidungen des Senats zugrunde, zu denen durch den BGH unter dem 25.11.2021 bestätigende Entscheidungen (Az.: VII ZR 238/20, VII ZR 243/20, VII ZR 257/20 und VII ZR 38/21) ergangen sind. Der Senat hat hierauf mit Beschluss vom 21.06.2022, dort insbesondere Ziffer 1 (Bl. 378 ff. d.A.), hingewiesen. Eine dahingehende inhaltliche Ergänzung des Sachvortrags erfolgte hingegen nicht. Die Beklagte hat nach wie vor nicht die in Bezug auf das streitgegenständliche Fahrzeug über den Zukauf des Motors inklusive Software entscheidenden Personen benannt und ebenso wenig konkret zu deren Kenntnisstand - gegebenenfalls nach Befragung im Rahmen der internen Ermittlungen - vorgetragen.</p> <p><rd nr="40"/>b) Letztlich ist damit das Bestreiten der Beklagten auch unzureichend im Sinne von § 138 Abs. 3 ZPO.</p> <p><rd nr="41"/>Wer einen Anspruch aus § 826 BGB geltend macht, trägt im Grundsatz die volle Darlegungsund Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen. Bei der Inanspruchnahme einer juristischen Person hat der Anspruchsteller dementsprechend auch darzulegen und zu beweisen, dass ein verfassungsmäßig berufener Vertreter (§ 31 BGB) die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB verwirklicht hat. In bestimmten Fällen ist es Sache der Gegenpartei, sich im Rahmen der ihr nach § 138 Abs. 2 ZPO obliegenden Erklärungslast zu den Behauptungen der beweisbelasteten Partei substantiiert zu äußern. Dabei hängen die Anforderungen an die Substantiierung des Bestreitens zunächst davon ab, wie substantiiert der darlegungspflichtige Gegner - hier die Klagepartei - vorgetragen hat. In der Regel genügt ein einfaches Bestreiten. Eine sekundäre Darlegungslast kann den Prozessgegner der primär darlegungsbelasteten Partei treffen, wenn diese keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und auch keine Möglichkeit zur weiteren Sachaufklärung hat, während der Gegner alle wesentlichen Tatsachen kennt und es ihm unschwer möglich und zumutbar ist, nähere Angaben zu machen. Genügt der Anspruchsgegner seiner sekundären Darlegungslast nicht, gilt die Behauptung des Anspruchstellers nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden (z.B. BGH, Urteil 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 25 ff.). Nach diesen Grundsätzen setzt eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten zu Vorgängen innerhalb ihres Unternehmens, die auf eine Kenntnis ihrer Repräsentanten von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung schließen lassen sollen, jedenfalls voraus, dass das Parteivorbringen hinreichende Anhaltspunkte enthält, die einen solchen Schluss nahelegen (BGH, Urteil vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 28).</p> <p><rd nr="42"/>Anders als die Beklagte einwendet, sind die möglichen Anhaltspunkte nicht beschränkt auf die im Urteil des BGH vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Rdnr. 30, genannten Umstände. Maßgeblich bleibt der Vortrag im Einzelfall, was bestätigt wird durch BGH, Beschluss vom 15.09.2021, Az.: VII ZR 52/21, Rdnr. 24 ff.</p> <p><rd nr="43"/>Nach diesen Grundsätzen traf die Beklagte die sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Frage, wer die Entscheidung über den serienmäßigen Einsatz der Motoren EA189 in Kenntnis der Umschaltlogik getroffen hat. Die Umstände, nach denen vorliegend eine Kenntnis der für die Beklagte handelnden und dieser zuzurechnenden Personen naheliegt, ergeben sich bereits aus den vorstehenden Ausführungen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Herstellung kostengünstiger Motoren bei gleichzeitiger Einhaltung der gesetzlich weiter verschärften Stickoxidgrenzwerte sowie grundsätzlichem Verbot des Einsatzes von Abschalteinrichtungen war bei Automobilherstellern bekannt. Die Beklagte selbst entwickelt Dieselmotoren. Gleichzeitig waren der Beklagten die Hardwarekomponenten wie auch Aspekte der Funktion der Abgasreinigung im Zusammenhang mit dem Einsatz der Motoren EA189 (im Vergleich zu dem bis dahin verwendeten …motor EA188) bekannt. Die Entscheidung über den serienweisen Einsatz der Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten betraf eben nicht bloß ein untergeordnetes Zuliefererteil, sondern den Motor als „Kernstück“ des Fahrzeugs; die Emissionseigenschaften des Fahrzeugs sind für dieses wesentlich und nicht bloß ein technisches Detail. Die Entscheidung über den serienweisen Einsatz der Motoren EA189 in Fahrzeugen der Beklagten war mit erheblichen, auch persönlichen, Haftungsrisiken der entscheidenden Personen verbunden. Eine Unkenntnis des Einsatzes der Umschaltlogik auf Ebene von Personen, die der Beklagten zuzurechnen sind nach § 31 BGB, erscheint ausgeschlossenen, zumal in Anbetracht des ausgeklügelten und streng hierarchischen Kontroll- und Berichtswesen innerhalb der Beklagten. Dem ist die Beklagte, wie sich ebenfalls aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, nicht hinreichend entgegengetreten; insbesondere blieben ihre Angaben zu ihren internen Ermittlungen, auf deren negatives Ergebnis die Beklagte sich beruft, unzureichend, jedenfalls im Hinblick auf die Befragung der Bereichsleiter.</p> <p><rd nr="44"/>2. Vor diesem Hintergrund ist auch der Schädigungsvorsatz zu bejahen. Dieser enthält ein Wissens- und Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchsstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben und mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben; Vorstandsmitglieder oder Repräsentanten, die in Kenntnis der Umschaltlogik den serienmäßigen Einsatz der Motoren in ihren Fahrzeugen anordnen oder nicht unterbinden, billigen ihn auch und sind sich der Schädigung der späteren Fahrzeugerwerber bewusst.</p> <p><rd nr="45"/>3. Die Einwände der Beklagten gegen das Bestehen der haftungsbegründenden Kausalität greifen nicht durch.</p> <p><rd nr="46"/>Schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass die Klagepartei den streitgegenständlichen Pkw nicht gekauft hätte, wenn sie um die unzulässige Software und die davon ausgehende Gefahr der Betriebsuntersagung gewusst hätte; der Schaden liegt in der Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, Rdnr. 47 ff.). Kein vernünftiger Käufer hätte in Kenntnis dieses Sachverhalts, insbesondere der Gefahr der Betriebsuntersagung, den Pkw erworben, zumal zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht die Möglichkeit bestanden hätte, mittels des erst später entwickelten Softwareupdates die Manipulation am Motor zu beseitigen. Der Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt erfolgte erst später.</p> <p><rd nr="47"/>Auch aufgrund der Angaben der Klagepartei persönlich im Rahmen ihrer Anhörung im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat und des hierbei von ihr gewonnenen Eindrucks ist der Senat vom Bestehen der Kausalität überzeugt.</p> <p><rd nr="48"/>4. Die Beklagte hat deshalb der Klagepartei sämtliche aus der sittenwidrigen Schädigung resultierenden Schäden zu ersetzen. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung, der Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu erfüllen ist. Er muss sich dasjenige anrechnen lassen, was ihm durch das schädigende Ereignis zugeflossen ist. Dass die Grundsätze der Vorteilsausgleichung auch bei einem Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB anzuwenden sind, hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, ausdrücklich bestätigt, Rn. 66 ff. Er hat auch ausgeführt, dass dem keine europarechtlichen Normen entgegenstehen. Der Senat nimmt auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofs Bezug, aaO, Rn. 73 ff.</p> <p><rd nr="49"/>Die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs ist in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters. Der Senat schätzt in Anbetracht des festgestellten Fahrzeugtyps, des Datums seiner Erstzulassung sowie der konkreten Nutzung die mögliche Gesamtlaufleistung auf 250.000 km. Mit dieser Schätzung bewegt sich der Senat innerhalb der Bandbreite der von anderen Gerichten jeweils vorgenommenen Schätzung der gesamten Laufleistung (u.a. BGH, Urteil vom 27.07.2021, Az.: VI ZR 480/19, Rdnr. 26). Weitere aussagekräftige Umstände, welche die zu erwartende Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs beeinflussen, sind nicht dargetan (vgl. BGH, Urteil vom 29.09.2021, Az.: VIII ZR 111/20, Rdnr. 52 ff., 58).</p> <p><rd nr="50"/>Der Senat stellt in ständiger Rechtsprechung auf die nach der Rechtsprechung des BGH gebilligte lineare Berechnung des Nutzungsersatzes ab. Aus der grundsätzlichen Billigung einer linearen Berechnungsmethode folgt zwar nicht zwingend, dass andere Berechnungsmethoden unzulässig wären, da dem Tatrichter nach § 287 ZPO ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt wird. Da der Schaden aber in dem ungewollten Vertragsschluss liegt, ist der vom Bundesgerichtshof erfolgte Rückgriff auf die Wertung des Nutzungsersatzes nach § 346 Abs. 2 Nr. 2 BGB aber folgerichtig. Der Senat folgt ausdrücklich nicht dem Ansatz, den Wert der Nutzung eines Neuwagens höher anzusetzen als den eines älteren Fahrzeugs. Die lineare Berechnung ist dem Geschädigten zumutbar und entlastet die Schädigerin nicht unangemessen. Sie entspricht schon vom Wortlaut den „gezogenen Nutzungen“. Eine Ausweitung der Vorteilsanrechnung - etwa wegen des Wertverlusts des Fahrzeugs - ist nicht angezeigt (BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 397/19, Rdnr. 36, vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 354/19, Rdnr. 15, vom 20.07.2021, Az.: VI ZR 533/20, Rdnr. 33, vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 192/20, Rdnr. 46, vom 21.04.2022, Az.: VII ZR 285/21).</p> <p><rd nr="51"/>Danach errechnet sich bei Berücksichtigung der Nutzung des Fahrzeugs bis ca. Juli 2021mit einer Kilometerleistung von 127.171 km ein Erstattungsanspruch i.H.v. 21.618,77 €.</p> <p><rd nr="52"/>5. Der Anspruch ist, wie von der Klagepartei beantragt, ab Rechtshängigkeit, mithin ab 10.01.2019, §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2, 187 Abs. 1 BGB zu verzinsen.</p> <p><rd nr="53"/>Die vom Senat vorgenommene Zinsstaffel trägt dem Umstand Rechnung, dass die Klagepartei die auf den Kaufpreiserstattungsanspruch anzurechnenden Nutzungsvorteile zum Teil erst zwischen dem Eintritt der Rechtshängigkeit und dem Schluss der mündlichen Verhandlung erlangt hat, vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 397/19, Rdnr. 38. Maßgeblich ist danach, in welcher Höhe unter Berücksichtigung der anzurechnenden Nutzungsvorteile bei Eintritt der Rechtshängigkeit eine verzinsliche Hauptforderung bestand und wie sich diese im Laufe des Verfahrens angesichts der fortlaufenden Nutzung des Fahrzeugs entwickelte, BGH, Urteil vom 30.07.2020, A.: VI ZR 354/19, Rdnr. 23.</p> <p><rd nr="54"/>Bei Zugrundlegung eines gleichmäßigen Nutzungsverhaltens zur Schätzung der jeweiligen Fahrleistung bestand bei Eintritt der Rechtshängigkeit 09.01.2019 eine Hauptforderung von 26.668,94 € (geschätzter Kilometerstand 98.478 km), zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erster Instanz am 11.09.2019 eine Hauptforderung von 25.322,84 € (geschätzter Kilometerstand von 106.126 km) und ab Juli 2021 eine Hauptforderung von 21.618,77 €.</p> <p><rd nr="55"/>Weil die Fahrleistung während des Zinszeitraums nicht taggenau vollzogen werden kann, ist der Senat im Wege der Schätzung gemäß § 287 ZPO von einer gleichmäßigen Nutzung ausgegangen, also von einer linearen Entwicklung des Kilometerstandes. Diese lineare Entwicklung berücksichtigt der Senat in der Weise, dass für die dazwischen liegenden Zinszeiträume ein Mittelwert zugrunde gelegt wird. Dem Ansatz des an sich für den Zeitraum zwischen Rechtshängigkeit und mündlicher Verhandlung erster Instanz errechneten Mittelwertes von 25.995,89 € steht allerdings § 308 Abs. 1 ZPO entgegen, weil die Klagepartei zuletzt als Hauptforderung 25.349,10 € begehrt hat.</p> <p>III.</p> <p><rd nr="56"/>Die Kostenentscheidung erster Instanz beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Kostenentscheidung zweiter Instanz beruht auf §§ 97, 92 Abs. 1 S. 1, 516 Abs. 3 ZPO.</p> <p><rd nr="57"/>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <p><rd nr="58"/>Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht erfüllt sind. Die maßgeblichen Rechtsfragen zur Haftung in Dieselfällen, insbesondere im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der Sittenwidrigkeit i.S.v. § 826 BGB wie auch die Anforderungen an den Vortrag der Parteien sind mittlerweile höchstrichterlich geklärt (deutlich u.a.: BGH, Beschluss vom 29.09.2021, Az.: VII ZR 223/20, Rdnr. 8, vom 15.09.2021, VII ZR 2/21, Rdnr. 4, 24). Dies gilt auch in Bezug auf eine Haftung der Beklagten bei Fahrzeugen ihrer Herstellung mit Motoren EA189 (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19, vom 08.03.2021, Az.: VI ZR 505/19, Beschluss vom 15.09.2021, Az.: VII ZR 52/21, Urteil vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 192/20, Urteilsserie vom 25.11.2021: Az.: VII ZR 238/20, VII ZR 243/20, VII ZR 257/20 und VII ZR 38/21, Urteil vom 21.12.2021, Az.: VI ZR 875/20, Beschluss vom 12.01.2022, Az.: VII ZR 256/20, vom 27.01.2022, Az.: III ZR 195/20, vom 09.02.2022, Az.: VII ZR 255/20, Urteil vom 24.03.2022, Az.: VII ZR 266/20). Es ist Aufgabe der Instanzgerichte, diese Rechtsgrundsätze auf den jeweils vorliegenden Sachverhalt anzuwenden. Divergierende Ergebnisse aufgrund der Würdigung des jeweils vorgetragenen Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht begründen indes keine Divergenz i.S. des § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO. Von einer Divergenz in diesem Sinne ist vielmehr nur dann auszugehen, wenn den Entscheidungen sich widersprechende abstrakte Rechtssätze zugrunde liegen (BGH, Beschluss vom 09.07.2007, Az.: II ZR 95/06, Rdnr. 2).</p> </div>