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lg-koln-2029-11-13-84-o-24918
{ "id": 812, "name": "Landgericht Köln", "slug": "lg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
84 O 249/18
"2029-11-13T00:00:00"
"2020-02-06T11:01:05"
"2020-12-10T13:50:38"
Urteil
ECLI:DE:LGK:2029:1113.84O249.18.00
<h2>Tenor</h2> <ul class="ol"><li><p>I. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin vollständige schriftliche Auskunft darüber zu erteilen, in welchem Umfang die Beklagte im geschäftlichen Verkehr in Deutschland Hosen wie nachfolgend eingeblendet</p> </li> </ul> <p>            (Es folgt eine Darstellung)</p> <p>angeboten und/oder beworben und/oder vertrieben hat und zwar insbesondere durch Vorlage eines Verzeichnisses, aus dem sich je Produktart ergibt:</p> <p>- Namen und Anschrift der gewerblichen Abnehmer der oben abgebildeten Hosen und Verkaufsstellen, für die sie bestimmt waren bzw. an die sie geliefert worden sind; und</p> <p>- die Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten oben abgebildeten Hosen sowie die Preise, die für diese von ihren Abnehmern bezahlt wurden, sowie die entsprechenden Einstandspreise für die Produkte;</p> <p>- der Umfang der für die oben abgebildeten Hosen betriebenen Werbung, unter Mitteilung der Werbemedien und ihrer Erscheinungsdaten und Auflagenzahlen, Sendedaten und -reichweiten, Veröffentlichungen im Internet und Zugriffszahlen auf diese Inhalte, sowie vergleichbare Angaben für andere Medien.</p> <p>II. Die Beklagte wird verurteilt, die zu erteilenden Auskünfte nach Ziffer I. im Wege der Vorlage sämtlicher Lieferverträge, Auftragsbestätigungen, Rechnungen, Lieferbescheinigungen, Quittungen, jeweils sowohl für den Einkauf als auch für den Verkauf der Ware zu belegen und daraus nach Art einer geordneten Rechnungsaufstellung die in Ziffer I. genannten Auskünfte schlüssig und nachvollziehbar darzulegen.</p> <p>III. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche durch die Verletzungshandlung gemäß Ziffer I. entstandenen oder zukünftig entstehenden Schäden zu ersetzen.</p> <p>IV. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.</p> <p>V. Das Urteil ist hinsichtlich II. und III. gegen Sicherheitsleitung in Höhe von 15.000,00 € und hinsichtlich der Kosten in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d :</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin behauptet, sie sei Alleinimporteurin und ausschließlich Vertriebsberechtigte in Deutschland der Produkte der Marke „Y“ der aus Z. Die X ist ein Modeunternehmen. Die unter der Marke „Y“ angebotenen Damenbekleidungsartikel sollen insbesondere die Zielgruppe „Trendy“ der jungen, 14-29jährigen, modebewussten Damen ansprechen. Hierzu gehören auch Jeansmodelle.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin trägt hierzu vor: Die „Y“-Jeans würden von der X hergestellt und in Deutschland in den großen und bekannten Bekleidungsgeschäften angeboten (Breuninger, Konen, Ludwig Beck, Engelhorn, Daniels oder Leo’s). Hauptwettbewerber in diesem Bereich seien Hersteller wie G-Star, Diesel, Replay, Tommy Hilfiger, Closed, Cambio, Herrlicher, Pepe Jeans, Drykorn, Levi’s und Scotch & Soda. Das erfolgreichste Jeansmodell der Marke „Y“ sei das Modell „P78A“, dieses werde seit Frühjahr 2010 auch auf dem deutschen Markt angeboten. Weiter würden noch zwei weitere Modelle „P68C“ und „P82D“, die charakteristische Merkmale der „P78A“ aufwiesen, vertrieben; diese seien allerdings jeweils leicht anders geschnitten. „P68C“ sei als SLIM-Modell ausgestaltet (insbesondere für jüngere Käuferinnen), „P82D“ sei ein „MINI BAGGY“-Modell, dessen Beine eine leichte O-Form aufwiesen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Wegen der Gestaltung der Jeansmodelle verweist die Kammer auf die vorgelegten Abbildungen sowie die zur Akte gereichten Originalprodukte.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die besondere Gestaltung ihrer Jeans beschreibt die Klägerin wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">- V-förmige Nähte auf der Vorderseite der Hosenbeine,</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">- nicht verdeckte Knopfleiste am Hosenschlitz,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- zwei fast parallel geschwungene Nähte an den Vordertaschen,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">- Gesäßtaschen aus drei sich überlappenden Teilen,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">- zwei Reihen Doppelnähte auf der Hosenrückseite.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Sie, die Klägerin, habe in Deutschland das Modell „P78A“ wie folgt abgesetzt:</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">2010:       ca. 2.000 Stück (geschätzt)</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">2011:       ca. 4.000 Stück (geschätzt)</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">2012: über   26.000 Stück, Umsatz über 1 Mio. EUR</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">2013: über 195.000 Stück, Umsatz über 8 Mio. EUR</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">2014: über 407.000 Stück, Umsatz über 16 Mio. EUR</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">2015: über 308.000 Stück, Umsatz über 12 Mio. EUR</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">2016: über 215.000 Stück, Umsatz über   8 Mio. EUR</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">2017: über 200.000 Stück, Umsatz über 7,7 Mio. EUR</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die „Y“-Jeans hätten in Deutschland eine große Aufmerksamkeit erregt. Zahlreiche Modemagazine hätten hierüber berichtet. Die „Y“-Jeans würden umfangreich beworben. Hierzu trägt die Klägerin im Einzelnen vor.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist Teil des dänischen Unternehmens Bestseller, welches eines der größten europäischen Bekleidungsunternehmen ist.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die streitgegenständlichen und im Tenor zu I. abgebildeten Hosen sind im Dezember 2017 von der Amazon EU S.à.r.l. auf deren Internetseite angeboten worden.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Wegen der Gestaltung der hier in Rede stehenden Jeans verweist die Kammer auf die zur Akte gereichten Abbildungen sowie auf das vorgelegte Originalprodukt.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Nach einer Abmahnung der Klägerin vom 20.12.2017 erteilte die Amazon EU S.à.r.l. die Auskunft, dass die streitgegenständlichen Hosen von der Beklagten geliefert worden seien. Daraufhin mahnte die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 18.01.2018 ab (Anlage K 16). Am 07.02.2018 gab die Beklagte eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ab (Anlage K 16). In der Folgezeit entwickelte sich hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche auf Auskunft und Schadensersatz ein Schriftwechsel zwischen den Parteien. Wegen der Einzelheiten verweist die Kammer auf den als Anlagenkonvolut K 17 vorgelegten Schriftwechsel. Eine gütliche Einigung konnte nicht gefunden werden. Die Verhandlungen endeten am 06.09.2018. Am 24.10.2018 hat die Klägerin die vorliegende Klage eingereicht, mit der sie Auskunft und Feststellung der Schadensersatzverpflichtung begehrt.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin sieht in dem Vertrieb des Jeansmodells der Beklagten eine unlautere Nachahmung der „Y“-Jeansmodelle „P78A“, „P68C“ und „P82D“.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">wie erkannt;</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">hilfsweise: festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin das durch die Verletzungshandlungen gemäß Ziffer I. Erlangte herauszugeben.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Sie bestreitet, dass die Klägerin Alleinimporteurin und ausschließlich Vertriebsberechtigte in Deutschland der Produkte der Marke „Y“ der X aus Z sei. Es sei auch nicht dargelegt, dass die X-Herstellerin der Jeans sei. Es fehle an der wettbewerblichen Eigenart der Jeans der Klägerin sowie an einer Verletzungshandlung. Es gebe eine Vielzahl von Jeanshosen unterschiedlicher Hersteller, die dieselben Gestaltungsmerkmale aufwiesen wie die Produkte der Klägerin. Hierzu führt die Beklagte im Einzelnen unter Bezugnahme auf das Anlagenkonvolut B 3 aus. Die angegriffene Hose weiche zudem in wesentlichen Gestaltungsmerkmalen deutlich von den Modellen der Klägerin ab, so dass ein abweichender Gesamteindruck entstehe. Der Auskunftsanspruch sei erfüllt. Schließlich erhebt die Beklagte die Einrede der Verjährung.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat die zur Akte gereichten Hosen im Termin zur mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></strong></p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Auskunftsanspruch sowie dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch aus § 9 S. 1 UWG i.V.m. §§ 3, 4 Nr. 3 a) UWG, § 242 BGB zu.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im Einzelnen:</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">I. Die X ist Herstellerin der „Y“ Jeans.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Dies hat die Klägerin durch Vorlage von Auszügen aus der Webseite der X(Anlagenkonvolut K 28), von Markenunterlagen (Anlagenkonvolut K 29), nach denen die X Inhaberin der „Y“ Marken ist, sowie durch Vorlage der Originalprodukte mit den entsprechenden eingenähten Etiketten zur Überzeugung der Kammer ausreichend belegt, zumal die Beklagte die Herstellereigenschaft der X in der Klageerwiderung zunächst nicht in Abrede gestellt hatte.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">II. Die Klägerin ist als Alleinvertriebsberechtigte aktivlegitimiert.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat auf Hinweis der Kammer die Vertriebsverträge zwischen der Klägerin und der X für die Jahre 2012 – 2014, 2014 – 2018 und 2019 – 2024 (Anlagen K 25 – K 27) in Auszügen zu den Akten gereicht, aus denen sich ergibt, dass die Klägerin die alleinige und exklusive Vertriebspartnerin für Artikel der Marke „Y“ der X im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist. Zwar hat sich die X in den Verträgen vorbehalten, ihre bisherigen Direktkunden weiterhin zu beliefern. Bei diesen handelt es sich jedoch um wenige Einzelhändler (zunächst 14, aktuell nur noch 6), die lediglich an Endkunden und nicht an gewerbliche Wiederverkäufer verkaufen (dürfen). Darüber hinaus hat die Klägerin dargelegt, dass diese Direktkunden lediglich das Privileg haben, sich die Ware direkt in Italien bei der X aussuchen zu dürfen. Die Bestellungen werden dann über die Klägerin abgewickelt und auch von ihr an die Direktkunden fakturiert. Die X liefert die Ware zwar direkt an die Direktkunden, stellt diese aber wie jede andere Lieferung der Klägerin in Rechnung. Das Privileg der Direktkunden erklärt sich daher allein aus der vor Abschluss des ersten Vertriebsvertrages zwischen der Klägerin und der X im Jahre 2012 bestehenden Kundenbeziehung der Direktkunden zu der X S.p.A.. Diese Art der Kundenbeziehung von jetzt nur noch 6 Einzelhändlern – die Klägerin beliefert in Deutschland rund 2200 Abnehmer – zu der X S.p.A., die letztendlich über die Klägerin abgewickelt wird, vermag das Alleinvertriebsrecht der Klägerin damit - nicht zuletzt auch aufgrund der nahezu wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit - nicht in Frage zu stellen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">III. Die Beklagte hat durch Angebot und Vertrieb der angegriffenen Jeanshose § 3 Abs. 1 UWG zuwidergehandelt. Danach sind unlautere geschäftliche Handlungen unzulässig, wenn sie geeignet sind, die Interessen von Mitbewerbern, Verbrauchern oder sonstigen Marktteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen. Unlauter im Sinne von § 3 Abs. 1 UWG handelt gemäß § 4 Nr. 3 a) UWG insbesondere, wer Waren oder Dienstleistungen anbietet, die eine Nachahmung der Waren oder Dienstleistungen eines Mitbewerbers sind, wenn er eine vermeidbare Täuschung der Abnehmer über die betriebliche Herkunft herbeiführt. Gemäß § 4 Nr. 3 UWG kann der Vertrieb eines nachahmenden Erzeugnisses wettbewerbswidrig sein, wenn das nachgeahmte Produkt über wettbewerbliche Eigenart verfügt und besondere Umstände hinzutreten, die die Nachahmung unlauter erscheinen lassen. So verhält es sich, wenn die Nachahmung geeignet ist, eine Herkunftstäuschung hervorzurufen und der Nachahmer geeignete und zumutbare Maßnahmen zur Vermeidung der Herkunftstäuschung unterlässt. Dabei besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Grad der wettbewerblichen Eigenart, der Art und Weise und der Intensität der Übernahme sowie den besonderen wettbewerblichen Umständen, so dass bei einer größeren wettbewerblichen Eigenart und einem höheren Grad der Übernahme geringere Anforderungen an die besonderen Umstände zu stellen sind, die die Wettbewerbswidrigkeit der Nachahmung begründen und umgekehrt (BGH, WRP 2010, 94 = GRUR 2010, 80 Tz. 21 - LIKEaBIKE; WRP 2012, 1379 = GRUR 2012, 1155 Tz. 16 - Sandmalkasten; WRP 2013, 1188 = GRUR 2013, 951 Tz. 14 - Regalsystem; WRP 2013, 1339 = GRUR 2013, 1052 Tz. 15 - Einkaufswagen III; OLG Köln, GRUR-RR 2014, 25, 26 f. - Kinderhochstuhl "Sit up", jeweils mwN).</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Bei Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Angebot und der Vertrieb der angegriffenen Jeans der Beklagten als wettbewerbswidrig:</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">1) Die von der Klägerin unter der Bezeichnung „P78A“, „P68C“ und „P82D“ unter der Marke „Y“ vertriebenen Jeans-Modelle haben wettbewerbliche Eigenart.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Eine wettbewerbliche Eigenart liegt vor, wenn die konkrete Ausgestaltung oder bestimmte Merkmale des Erzeugnisses geeignet sind, die angesprochenen Verkehrskreise auf seine betriebliche Herkunft oder die Besonderheiten des Erzeugnisses hinzuweisen (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH Urteil vom 28.05.2009, LIKEaBIKE, I ZR 124/06, Rdnr. 21, juris). Dabei können einzelne Gestaltungsmerkmale in ihrem Zusammenwirken eine wettbewerbliche Eigenart verstärken oder begründen, wenn sie den Gesamteindruck des Erzeugnisses bestimmen (BGH, Urteil vom 28.05.2009, LIKEaBIKE, I ZR 124/06, Rdnr. 34, juris). In der Rechtsprechung ist weiter anerkannt, dass auch bei Modeerzeugnissen in Ausnahmefällen deren besonders originelle Gestaltung als Hinweis auf die betriebliche Herkunft angesehen werden und eine wettbewerbliche Eigenart unter diesem Gesichtspunkt vorliegen kann. Im Bereich der Mode begründet sich die wettbewerbliche Eigenart in der Regel aufgrund ästhetischer Merkmale. Das ist zum einen der Fall, wenn die – nicht technischen, sondern ästhetischen – Merkmale einer Ware, insbesondere die Gestaltung ihrer äußeren Form sowie das sonstige Design, die Ware so individualisieren, dass der Verbraucher annimmt, so gestaltete Produkte müssten aus derselben betrieblichen Herkunftsstätte stammen. Es genügt zum anderen aber auch, dass das Produkt für ihn spezielle Besonderheiten aufweist, die es von allen anderen unterscheidet. Diese können insbesondere im ästhetischen Bereich in einer überdurchschnittlichen individuellen schöpferischen Gestaltung liegen. In der Regel ist es aber auch gerade hier die Kombination bestimmter einzelner Merkmale, die der Verkehr als Hinweis auf die Herkunft oder auf modische Besonderheiten ansieht (vgl. von Hellfeld in Kirchner/Kirchner-Freis, Handbuch Moderecht, Seite 167 f.; OLG Köln, Urteil vom 14.07.2017 – 6 U 197/16 – S. 16). Anders als bei kurzlebigen Modeneuheiten besteht in einem solchen Fall ein einer zeitlichen Beschränkung nicht von vornherein unterworfener Nachahmungsschutz (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 15.09.2005, Jeans, I ZR 151/02, Rdnr. 24, juris).</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Wenn und soweit der Entscheidung des Oberlandesgerichtes München vom 04.07.2019 – 29 U 3490/17 – (wohl nicht rechtskräftig) eine abweichende Sicht der Dinge zu entnehmen sein sollte, teilt die Kammer diese nicht.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Obgleich im Produktbereich der Jeanshosen eine sehr große Vielfalt von verschiedenen Gestaltungen bzw. Designs auf dem Markt existiert, verfügen die in Rede stehenden Jeansmodelle der Klägerin über eine besondere Kombination charakteristischer Merkmale, die sie von einer klassischen Jeansform deutlich abheben und die ihre wettbewerbliche Eigenart begründen. Für das Design der Jeansmodelle der Klägerin sind – wie diese zutreffend dargelegt hat – zahlreiche Gestaltungselemente prägend. So zeichnet sich die Jeanshose durch die V-förmigen Nähte auf der Vorderseite der Hosenbeine, die nicht verdeckte Knopfleiste am Hosenschlitz, zwei fast parallel geschwungene Nähte an den Vordertaschen, Gesäßtaschen aus drei sich überlappenden Teilen und durch zwei Reihen Doppelnähte auf der Hosenrückseite aus. Wenngleich verschiedene der Einzelelemente bei einer Vielzahl von Jeans und auch von anderen Herstellern verwendet werden mögen und bei Jeans gerichtsbekannt eine hohe Musterdichte herrscht, führt diese von der Klägerin gewählte konkrete Kombination der Gestaltungselemente in Zusammenschau mit der – unabhängig von der Richtigkeit der von der Klägerin genannten konkreten Verkaufs- und Umsatzzahlen – jedenfalls weiten Verbreitung der Jeans-Modelle zu einer wettbewerblichen Eigenart.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Eine Schwächung oder gar ein Verlust dieser wettbewerblichen Eigenart durch die im Produktumfeld vertriebenen Jeansmodelle ist nicht festzustellen. Die von der Beklagten aufgezeigten Jeans des wettbewerblichen Umfeldes mögen zwar teilweise einzelne der charakteristischen Merkmale der von der Klägerin angeführten Jeansmodelle aufweisen, bei diesen sind aber nicht mehrere oder gar alle charakteristischen Gestaltungsmerkmale in der die wettbewerbliche Eigenart der Modelle der Klägerin begründenden Weise miteinander kombiniert. Insoweit kann die Kammer auf die zutreffenden Ausführungen der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 29.01.2019, dort Seiten 6-14, verweisen.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beklagte – wie auch im Termin zur mündlichen Verhandlung - Jeansmodelle angeführt und präsentiert hat, die u.U. tatsächlich als Nachahmungen der Hosen der Klägerin angesehen werden könnten, sind diese nicht geeignet, die wettbewerbliche Eigenart zu schwächen oder insgesamt in Frage zu stellen.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die wettbewerbliche Eigenart eines Produkts kann verloren gehen, wenn seine konkrete Ausgestaltung oder seine Merkmale auf Grund der Entwicklung der Verhältnisse auf dem Markt, beispielsweise durch eine Vielzahl von Nachahmungen, nicht mehr geeignet sind, die angesprochenen Verkehrskreise auf seine betriebliche Herkunft oder seine Besonderheiten hinzuweisen (BGH, Urteil vom 24.05.2007 – I ZR 104/04, GRUR 2007, 984 – Gartenliege). Der Anspruch aus § 4 Nr. 3 UWG entfällt aber nicht bereits dadurch, dass andere Nachahmer mehr oder weniger gleichzeitig auf den Markt kommen. Andernfalls könnte sich jeder Nachahmer auf die allgemeine Verbreitung der Gestaltungsform durch die anderen Nachahmer berufen und dem betroffenen Hersteller des Originals würde die Möglichkeit der rechtlichen Gegenwehr genommen (BGH, Urteil vom 24.03.2005 – I ZR 131/02, GRUR 2005, 600 – Handtuchklemmen, m.w.N.).</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg auf den Vertrieb anderer Nachahmungsprodukte berufen, solange Ansprüche wegen dieser Produkte nicht durch Verwirkung untergegangen sind (vgl. OLG Köln, Urteil vom 18.12.2015 – 6 U 44/15  – Crocs, juris).</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Jeanshosen der Klägerin bereits seit langer Zeit auf dem Markt in einem hohen Maß präsent sind, so dass auch nur ein intensiver Vertrieb von ähnlichen Produkten die wettbewerbliche Eigenart schwächen würde (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.12.2014 – 15 U 94/14, MarkenR 2015, 102).</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die wettbewerbliche Eigenart wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Klägerin selbst zahlreiche Jeansmodelle anbietet, bei denen sie die von der Klägerin als charakteristisch bezeichneten Gestaltungsmerkmale, nämlich die V-förmigen Teilungsnähte auf den Oberschenkeln und die sichtbare Knopfleiste am Hosenschlitz, entweder überhaupt nicht oder aber in anderer Kombination verwendet. Insoweit führt dies nicht dazu, dass der Verkehr nicht mehr auf die Herkunft der Produkte schließen könne. Wenn dies der Fall wäre, könnte jeder Modehersteller stets nur ein Modell einer Warenkategorie anbieten, da ja anderenfalls beim Verkehr große Verwirrung und der Verlust der wettbewerblichen Eigenart eintreten würde. Vielmehr wissen die Verbraucher, dass (dieselben) Modehersteller auch völlig anders gestaltete und/oder leicht abgewandelte Modelle vertreiben.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">2) Die angegriffene Jeans-Hose der Beklagten stellt eine wettbewerbsrechtlich relevante Nachahmung der Y-Jeans-Modelle „P78A“, „P68C“ und „P82D“ der Klägerin dar.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Eine nahezu identische Übernahme ist gegeben, wenn nach dem Gesamteindruck der sich gegenüberstehenden Erzeugnisse die Nachahmung nur geringfügige Abweichungen vom Original aufweist (BGH, GRUR 2000, 521, 524 – Modulgerüst I; BGH, GRUR 2010, 1125 Tz. 25 – Femur-Teil). Dabei kommt es darauf an, ob gerade die übernommenen Gestaltungsmittel die wettbewerbliche Eigenart des nachgeahmten Produkts begründen (BGH, GRUR 2007, 795 Tz. 32 – Handtaschen<em>;</em> BGH, GRUR 2010, 1125 Tz. 25 – Femur-Teil). Eine nachschaffende Übernahme liegt dagegen bereits vor, wenn die Nachahmung wiedererkennbare wesentliche Elemente des Originals aufweist und sich nicht deutlich davon absetzt. Geringfügige Abweichungen vom Original sind unerheblich, solange das Original als Vorbild erkennbar bleibt (OLG Köln, Urteil vom 19.09.2014 – 6 U 7/14 – S. 10; OLG Hamburg, MarkenR 2011, 275, 280 = juris Tz. 55; Köhler, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 37. Aufl. 2019, § 4 Rn. 3.37).</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Bei der Beurteilung der Übereinstimmung oder Ähnlichkeit von Produkten ist auf den Gesamteindruck abzustellen, den Original und Nachahmung bei ihrer bestimmungsgemäßen Benutzung dem Betrachter vermitteln (BGH, GRUR 2005, 600, 602 – Handtuchklemmen; BGH, GRUR 2007, 795 Tz. 32 – Handtaschen; BGH, GRUR 2009, 1069 Tz. 20 – Knoblauchwürste). Dabei ist der Erfahrungssatz zu berücksichtigen, dass der Verkehr die fraglichen Produkte regelmäßig nicht gleichzeitig wahrnimmt und miteinander vergleicht, sondern seine Auffassung auf Grund eines Erinnerungseindrucks gewinnt. Dabei treten regelmäßig die übereinstimmenden Merkmale mehr hervor, so dass es mehr auf die Übereinstimmungen als die Unterschiede ankommt (BGH, GRUR 2007, 795 Tz. 34 – Handtaschen; BGH, GRUR 2010, 80 Tz. 41 – LIKEaBIKE; OLG Köln, Urteil vom 19.09.2014 – 6 U 7/14 – S. 10; Köhler, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 37. Aufl. 2019, § 4 Rn. 3.43). Maßgebend für die Beurteilung von Übereinstimmungen ist der jeweilige Gesamteindruck, den die verschiedenen Erzeugnisse bei ihrer bestimmungsgemäßen Benutzung dem Betrachter vermitteln (BGH, GRUR 2002, 629, 632 – Blendsegel). Dabei besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Grad der wettbewerblichen Eigenart, der Art und Weise und der Intensität der Übernahme sowie den besonderen wettbewerblichen Umständen, so dass bei einer größeren wettbewerblichen Eigenart und einem höheren Grad der Übernahme geringere Anforderungen an die besonderen Umstände zu stellen sind, die die Wettbewerbswidrigkeit der Nachahmung begründen und umgekehrt (z.B. BGH, Urteil vom 28.05.2009, LIKEaBIKE, I ZR 124/06, Rdnr. 21, juris).</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Bei der von der Beklagten vertriebenen Jeans wurden nahezu sämtliche charakteristischen gestalterischen Merkmale der Jeans der Klägerin übernommen, was zu einem nahezu identischen Gesamteindruck der angegriffenen Jeans führt. So finden sich auf der Vorderseite sowohl die V-förmigen Nähte als auch die unverdeckte Knopfleiste sowie die doppelte Nahtführung unterhalb der Taschen. Auf der Rückseite wurde die horizontal verlaufende zusätzliche Naht zwischen Gesäßtaschen und Bund übernommen. Soweit die Beklagte auf Unterschiede in der Gestaltung der sich gegenüberstehenden Jeans verweist fallen diese Abweichungen erst bei einem unmittelbaren Vergleich der Hosen auf und verändern den Gesamteindruck nicht. Ebenso führt die – allerdings - abweichende Gestaltung der Gesäßtaschen nicht zu einer anderen Gesamtwirkung. Wie ausgeführt, ist bei der Beurteilung der Übereinstimmung oder Ähnlichkeit von Produkten auf den Gesamteindruck abzustellen und zu berücksichtigen, dass der Verkehr die fraglichen Produkte regelmäßig nicht gleichzeitig wahrnimmt und dabei regelmäßig die übereinstimmenden Merkmale mehr hervortreten.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">3) Es liegt auch eine vermeidbare Herkunftstäuschung vor.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Für die Gefahr einer Herkunftstäuschung reicht es aus, dass bei den angesprochenen Verkehrskreisen der Eindruck erweckt wird, es handele sich bei dem nachahmenden Produkt um eine neue Serie oder eine Zweitmarke des Herstellers des Originals oder es bestünden zumindest lizenz- oder gesellschaftsrechtliche Beziehungen zu ihm (BGH, NJW-RR 2001, 405, 407 – Messerkennzeichnung; BGH, GRUR 2009, 1073 Tz. 15 – Ausbeinmesser). Das Hervorrufen bloßer Assoziationen an das Originalprodukt reicht nicht aus. Maßgebend ist die Sichtweise des durchschnittlich informierten, situationsadäquat aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers (oder sonstigen Marktteilnehmers), der sich für das Produkt interessiert (BGH, GRUR 2010, 1125 = WRP 2010, 1465 Tz. 32 – Femur-Teil; OLG Köln, Urteil vom 07.03.2014 – 6 U 160/13).</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Jeanshosen der Klägerin verfügen, wie dargelegt, zumindest über eine gewisse Bekanntheit. Der Käufer, der ein Angebot der Beklagten wahrnimmt, wird angesichts der Übereinstimmungen in den prägenden Merkmalen der Jeanshosen davon ausgehen, es handele sich um die ihm bekannte Jeanshose der Klägerin oder jedenfalls solche eines Herstellers, der mit der Klägerin organisatorisch oder geschäftlich verbunden ist. Durch die bestehenden Unterschiede wird die Gefahr einer Herkunftstäuschung nicht beseitigt.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Gefahr einer Herkunftstäuschung wird schließlich auch nicht dadurch vermieden, dass die angegriffenen Jeanshose die Bezeichnung „P“ trägt. Zwar kann die hinreichend sichtbare Anbringung einer Herstellerbezeichnung eine an sich bestehende Verwechslungsgefahr beseitigen (BGH, GRUR 2002, 820, 823 – Bremszangen). Bei „P“ handelt es sich jedoch aus Sicht des Verkehrs nicht eindeutig um eine Herstellerkennzeichnung. „P“ erscheint vielmehr eher als Handelsmarke, welche die Gefahr einer Herkunftstäuschung nicht auszuräumen vermag (vgl.: BGH, GRUR 2009, 1069 Tz. 16 ff. – Knoblauchwürste; BGH, GRUR 2001, 251, 254 - Messerkennzeichnung).</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">4)  Der Beklagten ist auch zuzumuten, durch Umgestaltung ihrer Jeanshose die Gefahr einer Herkunftstäuschung zu vermeiden.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Es ist einem Unternehmer zwar nicht verwehrt, auf die Verkäuflichkeit seines Erzeugnisses zu achten und dementsprechend die Erwartungen der Abnehmer zu berücksichtigen. Die Angemessenheit ist aber zu verneinen, wenn dem Mitbewerber auch bei gleicher Prioritätensetzung ein hinreichender Spielraum für Abweichungen zur Verfügung steht. Das setzt eine Gesamtabwägung voraus. Ein Indiz dafür ist, wenn abweichende Konkurrenzprodukte mit einem „eigenen Gesicht“ auf dem Markt sind (BGH, GRUR 2002, 86, 90 – Laubhefter; BGH, GRUR 2009, 1073 Tz. 15 – Ausbeinmesser; OLG Köln, Urteil vom 18.10.2013 – 6 U 11/13 – S. 32 f.; Köhler/Bornkamm, UWG 37. Aufl. 2019, § 4 Rn. 3.49). Diese Voraussetzungen sind hier angesichts der in diesem Verfahren vorgetragenen zahlreichen Produkte des wettbewerblichen Umfelds erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">5) Im Rahmen der bei der Anwendung des § 4 Nr. 3 a) UWG gebotenen Gesamtabwägung ist zu berücksichtigen, dass eine Wechselwirkung zwischen dem Grad der wettbewerblichen Eigenart, der Art und Weise und der Intensität der Übernahme sowie den besonderen wettbewerblichen Umständen besteht, so dass bei einer größeren wettbewerblichen Eigenart und einem höheren Grad der Übernahme geringere Anforderungen an die besonderen Umstände zu stellen sind, die die Wettbewerbswidrigkeit der Nachahmung begründen und umgekehrt. Bei einer nahezu identischen Übernahme sind die Anforderungen an die wettbewerbliche Eigenart und an die besonderen wettbewerblichen Umstände geringer als einer nur nachschaffenden Übernahme (BGH, GRUR 2012, 1155 Tz. 16 – Sandmalkasten; OLG Köln, Urteil vom 18.10.2013 - 6 U 11/13 – S. 33). Im vorliegenden Fall trifft eine fast identische Übernahme mit einer durchschnittlichen wettbewerblichen Eigenart zusammen. Die Anforderungen an die besonderen wettbewerblichen Umstände sind daher niedriger anzusetzen, so dass im Gesamtergebnis von einer unlauteren Nachahmung im Sinne des § 4 N. 3 a) UWG auszugehen ist.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">6) Die Beklagte hat auch zumindest fahrlässig und damit schuldhaft gehandelt.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Bei sorgfältiger Prüfung hätten sie erkennen können und müssen, dass die Klägerin mit nahezu identischen Jeansmodellen seit langem im Markt präsent ist. Sie hätte vor dem Marktzutritt prüfen müssen, ob der Vertrieb der streitgegenständlichen Jeanshose Rechte Dritter verletzt.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Dass der Klägerin durch die Wettbewerbsverletzung seitens der Beklagten ein Schaden entstanden ist, erscheint nicht ausgeschlossen.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">IV. Die Beklagte hat den geltend gemachten Auskunftsanspruch nicht erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Zwar hat die Beklagte vorprozessual Vertriebs- und Umsatzzahlen genannt. Der Auskunftsanspruch geht jedoch weiter. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung sämtlicher Auskünfte, welche im Tenor zu II. und im Tenor zu III. tituliert sind. Nur so wird die Klägerin in die Lage versetzt, ihren Schadensersatzanspruch nach einer der drei ihr zur Verfügung stehenden Berechnungsmethoden zu beziffern.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">V. Die Ansprüche der Klägerin sind nicht verjährt.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Der Lauf der Verjährung war jedenfalls so lange durch Verhandlungen der Parteien im Sinne des § 203 BGB gehemmt, dass die Klage noch innerhalb der sechsmonatigen Verjährungsfrist eingereicht worden ist.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Kammer verweist auf den von der Beklagten als Anlage B 5 vorgelegten „Zeitstrahl“.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Unstreitig hat die Klägerin am 10.01.2018 Kenntnis von der Verletzungshandlung erlangt. Die Verhandlungen der Parteien begannen unstreitig am 31.01.2018 und währten zunächst jedenfalls bis zum 20.04.2018, was – so auch die Beklagte – zu einer Hemmung von 80 Tagen führt. Ob nach dem 20.04.2018 für einen gewissen weiteren Zeitraum, in dem die Klägerin trotz Fristablauf nach Treu und Glauben noch eine Rückmeldung der Beklagten erwarten konnte (BGH NJW 1986, 1337; BGH NJW 2009, 1806), eine Hemmung anzunehmen ist, kann dahinstehen. Jedenfalls ist der Lauf der Verjährung ab dem 02.08.2018 (und nicht erst – wie die Beklagte meint – am 23.08.2018) mit der erneuten Kontaktaufnahme der Klägerin (Möglichkeit der außergerichtlichen Einigung), die zu den E-Mails der Beklagten vom 09.08.2018 (Erklärung der Bereitschaft zu Auskunftserteilung), 14.08.2018 (Bitte um Fristverlängerung) und 23.08.2018 (Vergleichsangebot der Beklagten)  erneut gehemmt worden, da die Parteien die Vergleichsverhandlungen wieder aufgenommen haben. Diese sind am 06.09.2018 gescheitert. Die Hemmung vom 02.08.2018 bis 06.09.2018 währte 36 Tage, so dass von einer Hemmung von insgesamt 116 Tagen auszugehen ist. Unter Berücksichtigung einer Hemmung von 116 Tagen ist die Klage am 24.10.2018 noch innerhalb der Verjährungsfrist eingereicht worden.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Streitwert: 35.000,00 €</p>
323,770
sg-dusseldorf-2027-04-06-s-46-as-223015
{ "id": 835, "name": "Sozialgericht Düsseldorf", "slug": "sg-dusseldorf", "city": 413, "state": 12, "jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
S 46 AS 2230/15
"2027-04-06T00:00:00"
"2019-11-20T11:01:02"
"2020-12-10T13:50:38"
Urteil
ECLI:DE:SGD:2027:0406.S46AS2230.15.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Tatbestand:</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Streitig zwischen den Beteiligten ist die Höhe der dem Kläger zu gewährenden Grundsi-cherungsleistungen, hier insbesondere ein höherer Bedarf auf Grund alters- und ge-schlechtsspezifischer Diskriminierung, Rechtsmittelkosten, sowie die Übernahme der Kosten für einen Elektroradiator zum zusätzlichen Beheizen der Wohnung im zweiten Kalenderhalbjahr 2014.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger bezieht seit dem 01.01.2005 laufend Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) von dem Beklagten. Er bewohnt eine 48 qm große Erdgeschosswohnung, bestehend aus einem Kinderzimmer, einem Bad, einer Küche welche ohne Tür mit dem Flur verbunden ist, ei-nem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer. Die Wohnung wird mit einer Gasetagenhei-zung beheizt. Die Warmwasserbereitung erfolgt nach Angaben des Klägers jedoch über Strom. Die Gasetagenheizung hat nach den Herstellerangaben eine kleinste Wärmebe-lastung von 8,4 Kilowatt (kW), die elektrische Leistungsaufnahme beträgt 120 Watt (W).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Bereits bei seiner ersten Antragstellung gab der Kläger an, dass er auf Grund seiner per-sönlichen Lebensführung, seiner Anschauungen, sowie seiner genetischen Anlagen einen erhöhten monatlichen Mehraufwand habe. Er berief sich dabei unter anderem auf die UN-Menschenrechte. Hinsichtlich sowohl der höheren Bedarfe, als auch der Heizkosten wurde in der Vergan-genheit bereits eine Vielzahl von Verfahren vor dem hiesigen Sozialgericht und dem Landessozialgericht geführt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 23.05.2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger Grundsicherungsleis-tungen für den Zeitraum 01.07.2014 bis 31.12.2014 in Höhe von 391,00 Euro Regelleis-tung und 279,04 Euro für die Kosten der Unterkunft und Heizung (insgesamt: 670,04 Eu-ro). Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch. Mit Änderungsbescheid vom 04.08.2014 rechnete der Beklagte ein Guthaben aus einer Nebenkostenabrechnung an. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 17.06.2015 hob der Beklagte den Änderungsbescheid vom 04.08.2014 wieder auf und bewilligte die Leistun-gen in ursprünglicher Höhe.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Widerspruchsbescheid vom 21.05.2015 setzte der Beklagte die Leistungen ausdrück-lich wieder in ursprünglicher Höhe von insgesamt 670,04 Euro fest und wies den Wider-spruch des Klägers im Übrigen zurück. Hinsichtlich der Höhe der Heizkosten und der Verfassungsmäßigkeit der Bedarfe verwies der Beklagte insoweit auf die abgeschlossenen Gerichtsverfahren.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit der dagegen am 19.06.2015 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren wei-ter. Er trägt vor, dass junge Menschen einen höheren Ernährungsbedarf haben als ältere, sowie Männer einen höheren Bedarf als Frauen. Dies sei wissenschaftlich erwiesen. Auch sei die Unterscheidung zwischen Arbeitslosengeld und der bis 2004 bestehenden Arbeitslosenhilfe unzulässig. Ebenso unzulässig sei die Unterscheidung zwischen Ar-beitslosengeld und Arbeitslosengeld II. Das Handeln des Beklagten verstoße gegen hö-herrangiges Recht, insbesondere gegen die UN-Menschenrechte. Seine Heizkosten inklusive des Betriebes des Elektroradiators seien angemessen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">den Bescheid vom 23.05.2014 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 04.08.2014 und 17.06.2015 und des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2015 abzuändern und den Beklagten zur Gewährung weiterer Leistungen zu verurtei-len.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt dabei insbesondere:</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1. Ich beantrage, meine dokumentierte Inbetriebnahme meines Elektroradiators "Baufa 1500 Watt Type ERST 15, Nr. 316088" meine tatsächlichen Heizkosten vollumfänglich zu erstatten. Dies ist ein Volumen von 270 kw/h</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">2. Ich beantrage, die Entscheidungen des LSG NRW als Beweis hinzuzuziehen u.a. Urteil L 2 AS 273/14, L 2 AS 564/14, L 2 AS 798/14 und L 2 AS 800/14.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">3. Ich beantrage, das Sitzungsprotokoll vom 23.09.2014 und die entsprechen-den späteren anderslautenden Entscheidungen des LSG NRW als Beweis hinzuzuziehen u.a. die Sitzungsprotokolle zu denselben Aktenzeichen, wie zu den Urteilen unter 2. genannt.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">4. Beantrage ich einen Schadensersatz gem. § 823 BGB und 839 BGB sowie auch einen immateriellen Schaden nach § 253 BGB. Außerdem fordere ich Schmerzensgeld (§ 847 BGB).</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">5. Ich beantrage, die verfassungswidrigen Diskriminierungen bei der Ernährung bzw. Diskriminierung von Männern/jungen Menschen gegenüber Frau-en/älteren Menschen bei der Ernährung durch die nichtbedarfsgerechte/nicht transparente Grundsicherung SGB II Regelleistung zu unterlassen. Ich ma-che begründet höhere Leistungen geltend.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">6. Ich beantrage, die fehlende Transparenz insbesondere der Referenzgruppe der Einkommens- und Verbraucherstichprobe und die Streichungen von Ta-bak und Alkohol zu unterlassen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">7. Ich beantrage es zu unterlassen, an dem verfassungswidrigen Handeln, ver-fassungswidrigen Diskriminierungen festzuhalten.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">8a. Ich beantrage, dass das Handeln (die Bescheidungen) der Beklagten und das Handeln Deutschlands in Übereinstimmung mit den Zielen und Grunds-ätzen der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stehen, weil Deutsch-land sich in der Schlussakte der KSZE unter VII dazu verpflichtet hat, dass sein Handeln in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der all-gemeinen Erklärung der Menschenrechte steht.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">8b. Ich beantrage es zu unterlassen, dass das Handeln Deutschlands nicht in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der allgemeinen Erklä-rung der Menschenrechte steht.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">9. Ich beantrage, die Unterscheidung ALG und ALG II bzw. die Diskriminierung der sogenannten Langzeitarbeitslosen zu unterlassen. Ich beantrage, alle Ar-beitslosen gleich zu behandeln, abzusichern und die widerrechtlichen Sank-tionsandrohungen und Sanktionen zu unterlassen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">9a. Ich beantrage eine Erstattung meiner Rechtsmittelkosten. Ich beantrage Kos-tenfestsetzung und mache Schadensersatzansprüche geltend.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">10. Ich beantrage die Verfahren gem. § 100 Abs. 2 Grundgesetz auszusetzen und an das zuständige Bundesverfassungsgericht zu verweisen, weil es um Völkerrecht/Schlussakte der KSZE geht, weil sich Deutschland in der Schlussakte der KSZE unter VII dazu verpflichtet hat, dass sein Handeln mit den Zielen und Grundsätzen der allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte im Einklang steht und Deutschland/Jobcenter dieser Verpflichtung aus der Schlussakte der KSZE unter VII zuwider handelt.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">11. Ich beantrage, meine gesamten schriftlichen Einreichungen/Anträge zu be-rücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Er ist bei seiner im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren vertretenen Auffassung verblieben und verweist auf die Ausführungen in den vorangegangenen Verfahren so-wie im angefochtenen Widerspruchsbescheid.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat eine Übersicht über die Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr einge-reicht. Hinsichtlich des Betriebes des Elektroradiators zum Beheizen der Wohnung hat der Kläger eine Aufstellung zu den Akten gereicht, wann und wie lange er im Zeitraum ab Januar 2015 den Radiator benutzt hat. Zudem hat er Erklärungen seiner Mutter und seiner Brü¬der eingereicht, ausweislich derer der Kläger auch mit dem Elektroradiator ge-heizt habe.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Be-zug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Entscheidungsgründe:</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die form- und fristgerecht erhobene, insgesamt zulässige Klage ist nicht begründet.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid vom 23.05.2014 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 04.08.2014 und 17.06.2015 und des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2015 ist rechtmäßig. Der Kläger wird durch diesen Bescheid nicht in seinen Rechten verletzt, § 54 Abs. 2 Sozial-gerichtsgesetz (SGG).</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Höhe der von dem Beklagten übernommenen Kosten für die Unterkunft und Hei-zung im hier streitgegenständlichen Zeitraum 01.07.2014 bis 31.12.2014 sind nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Wohnung des Klägers ist mit einer Gasetagenheizung ausgestattet. Die Abschläge für die Gasversorgung werden in voller Höhe übernommen. Für den Betriebsstrom der Gasheizung wird zusätzlich ein Anteil von 5% der Heizkosten übernommen. Dies entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.09.2016, Az.: L 31 AS 300/15; LSG Nordrhein-Westfalen, Ur-teil vom 19.02.2013, Az.: L 2 AS 2081/12; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.06.2016, Az.: L 11 AS 1788/15 m.w.N. Auch das Bundessozialgericht ver-weist darauf, dass die Kosten für den Betriebsstrom mangels eigenen Zählers einer Schätzung zugänglich sind, und dass ein Anteil von 4 – 10% der Brennstoffkosten eine mögliche Rechenweise für die Schätzung darstellt: BSG, Urteil vom 03.12.2015, Az.: B 4 AS 47/14 R).</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Übernahme der Kosten für den Elektroradiator kommt daneben nicht in Betracht. Zum einen ist die Wohnung mit einer Gasetagenheizung ausgestattet. Wenn diese nicht ausreicht, um die Wohnung komplett zu beheizen, muss sich der Kläger an seinen Ver-mieter wenden. Auch das Fehlen eines Heizkörpers im Flur und in der Küche führt nicht zu einem Anspruch auf Kostenübernahme durch den Beklagten. Aus der Tatsache, dass das Landessozialgericht in einem der Sitzungsprotokolle der früheren Verfahren festge-halten hat, dass ein Anspruch darauf bestehe, die gesamte Wohnung zu beheizen, ergibt sich insoweit nichts anderes. Aus den von dem Kläger eingereichten Protokollen über den Betrieb des Elektroradiators in anderen Streitzeiträumen (hier: ab 2015, im Pa-rallelverfahren S 46 AS 4050/14 auch für den früheren Zeitraum Januar bis März 2014) ergibt sich, dass er den Radiator ausschließlich abends und nachts verwendet hat. Im Verhandlungstermin hat der Kläger zudem angegeben, dass er den Elektroradiator nicht nur in der Küche und im Flur, sondern auch in seinem Arbeitszimmer (das auch als Kin-derzimmer bezeichnet worden ist), im Wohnzimmer und im Schlafzimmer benutzt hat. Die Notwendigkeit des Heizens mit dem Elektroradiator ist zur Überzeugung der Kammer nicht gegeben. Denn in der Küche und insbesondere im Flur, in dem man sich nicht dauerhaft aufhält, erschließt sich die Notwendigkeit des Heizens in der Nacht nicht. In den anderen Räumen sind Heizkörper vorhanden, die mit der Gasetagenheizung beheizt werden können. Die insoweit entstehenden Kosten werden von dem Beklagten über-nommen. Zum anderen sind die Kosten für den Betrieb des Elektroradiators nicht nachgewiesen. Zwar hat der Kläger Erklärungen von Familienangehörigen eingereicht, dass er den Ra-diator benutzt habe, aber dies stellt keinen geeigneten Nachweis über die genaue Be-triebsdauer und insbesondere nicht über die dadurch entstandenen Kosten dar. Die blo-ße Behauptung, dass der Elektroradiator einen Betrag X verbrauche und dass deshalb ein Verbrauch von 270 kw/h im hier streitigen Zeitraum gegeben sei, ist zur Überzeugung der Kammer nicht ausreichend, um den tatsächlichen Verbrauch zu belegen.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die weiteren Anträge des Klägers zu Nr. 2. bis 11. haben ebenfalls keinen Erfolg. Die Urteile und Sitzungsprotokolle des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen liegen vor, für eine weitergehende Beiziehung der in den Anträgen Nr. 2. und 3. genannten und bereits vorliegenden Urteile und Protokolle fehlt das Rechtsschutzbedürfnis.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Für eine Schadenersatzforderung und Schmerzensgeld (Antrag Nr. 4) besteht keine Zu-ständigkeit des Sozialgerichts. Der Sozialrechtsweg gemäß § 51 SGG ist nicht eröffnet. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden gemäß § 51 Abs. 1 SGG nur über öf-fentlich-rechtliche Streitigkeiten in den unter Nr. 1 – 10 genannten Fällen und gemäß § 51 Abs. 2 SGG über privatrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der sozialen und privaten Pflegeversicherung. Eine Scha-denersatzklage kann daher vor dem Sozialgericht keinen Erfolg haben.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Anträge Nr. 5. bis 9. sind unzulässig, soweit sie auf die allgemeine Verfassungswid-rigkeit oder auf allgemeine Ansprüche anderer Menschen abstellen. Eine konkrete eige-ne Beschwer des Klägers im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG ist insoweit nicht ersicht-lich. Soweit der Kläger die Verfassungsmäßigkeit des Regelsatzes (§ 20 SGB II) in Frage stellt und höhere Leistungen begehrt, da er als junger Mann einen höheren Bedarf habe als ältere Menschen oder Frauen, ist die Klage unbegründet. Das Gericht hat an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Regelbedarfes keine Zweifel (vgl. u.a. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.07.2014, Az.: L 2 AS 1866/13, sowie BSG, Urteil vom 28.03.2013, Az.: B 4 AS 12/12 R).</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Der Antrag Nr. 9a ist weder zulässig, noch begründet. Rechtsmittelkosten werden nach § 63 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) übernommen, soweit ein Widerspruch er-folgreich ist. In Klageverfahren werden Kosten nach § 193 SGG erstattet. Die Kostener-stattung erfolgt hierbei konkret für das jeweilige Verfahren. Im vorliegenden Verfahren waren Widerspruch und Klage nicht erfolgreich, so dass eine Kostenerstattung insoweit nicht in Betracht kommt. Eine allgemeine, über § 63 SGB X und § 193 SGG hinausge-hende Erstattung von Rechtsmittelkosten sieht das Gesetz nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Dem Antrag Nr. 10 war ebenfalls nicht zu folgen. Gemäß Art. 100 Abs. 2 Grundgesetz hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen, wenn in ei-nem Rechtsstreit zweifelhaft ist, ob eine Regel des Völkerrechtes Bestandteil des Bun-desrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass dem Kläger weitere Ansprüche auf Grund völkerrechtliche Bestimmungen nicht zustehen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Antrag Nr. 11 ist gegenstandslos, da alle Anträge des Klägers berücksichtigt worden sind. Sämtliche Schriftsätze und Anträge waren ohnehin Gegenstand des Verfahrens, so dass ein Rechtsschutzbedürfnis für diesen Antrag nicht gegeben ist.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.</p>
343,880
lagd-2022-12-15-12-sa-34721
{ "id": 793, "name": "Landesarbeitsgericht Düsseldorf", "slug": "lagd", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Arbeitsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
12 Sa 347/21
"2022-12-15T00:00:00"
"2022-03-09T11:01:07"
"2022-10-18T07:50:52"
Urteil
ECLI:DE:LAGD:2022:1215.12SA347.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 06.05.2021 - 9 Ca 1053/21 - teilweise abgeändert und die Beklagte zu 1) verurteilt,</p> <p>a) an den Kläger für November 2020 1.629,94 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 04.01.2021 zu zahlen;</p> <p>b) an den Kläger für Dezember 2020 1.382,80 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.02.2021 zu zahlen;</p> <p>2. Die weitergehende Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 06.05.2021 - 9 Ca 1053/21 -, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 25.02.2021 - 9 Ca 5918/20 und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 01.06.2021 - 4 Ca 5890/20 - werden zurückgewiesen.</p> <p>3. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.</p> <p>4. Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">T A T B E S T A N D:</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz zuletzt noch über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung der Beklagten zu 1), einer betriebsbedingten Kündigung der Beklagten zu 2), die Frage eines Betriebsübergangs von der Beklagten zu 1) auf die Beklagte zu 2) sowie über die Zahlung einer sog. Sektorzulage (Sektor Pay).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 1) war ein Flugdienstleistungsunternehmen im S.-Konzern mit Sitz in T. (×.). Zwischen ihr und dem am 20.08.1985 geborenen, verheirateten Kläger, der zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist, bestand seit dem 05.08.2019 ein Arbeitsverhältnis. Grundlage war zuletzt der in englischer Sprache abgefasste Arbeitsvertrag vom 30.12.2019/07.01.2020. Der Kläger war danach als Flugkapitän an der Heimatbasis B. beschäftigt. Der Arbeitsvertrag enthielt eine Versetzungsklausel, welche sich auch auf einen Einsatz in einem anderen Land als desjenigen der Heimatbasis bezog. Der Kläger verdiente monatlich ca. 7.000,00 Euro brutto.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das für die Beklagte zu 1) von einem externen Dienstleister betriebene Operations Control Center (OCC) nebst Einsatzplanung ("Rostering") befand sich in X. (Polen), verschiedene Funktionsträger der Beklagten zu 1), etwa der Director of Operations und andere für den Flugbetrieb vorgeschriebene "nominated persons" saßen in T.. Die Beklagte zu 1) betrieb mindestens 24 in ×. registrierte Flugzeuge des Modells Airbus A-320 von vier Basen aus (X., B., Q. und T.). In B. waren sieben Flugzeuge stationiert, die zumindest wegen der in X. durchgeführten Wartung wechselten. Weiter hatte die Beklagte zu 1) in B. als Ansprechpartner für das Personal und Externe einen sog. "Base Captain" eingesetzt, dessen Befugnisse im Betriebshandbuch, Teil A, Ziffer 1.3.5 ("Operations Manual", im Folgenden OMA, Anlage K13, deren S. 37 f.) festgehalten waren, und einen "Base Supervisor". Inwieweit der Base Captain Weisungsbefugnis gegenüber den Mitarbeitern der Basis hatte, ist streitig. Wesentliche Personalentscheidungen z. B. über Einstellungen und Kündigungen traf er nicht, setzte aber zumindest Entscheidungen der Unternehmensleitung in "ad hoc-Maßnahmen" gegenüber dem Personal der Basis um. Die Beklagte zu 1) hatte am Flughafen B. neben Parkplätzen und einem Schulungsraum einen Crewraum angemietet, in dem Schreibtische mit Telefon- und Telefaxanschlüssen eingerichtet waren. Einen Betriebsrat gab es nicht. Der Kläger begann und beendete den Arbeitstag stets in B.. Er musste sich zur Aufnahme seiner Tätigkeiten nicht an einen anderen Ort begeben, weil die Beklagte zu 1) lediglich sog. "point-to-point-Verbindungen" anbot. Die Beklagte zu 1) hatte am Standort B. den Status eines sog. "Home base carriers", der mit bestimmten Privilegien, insbesondere betreffend Start- und Landerechte in der Nacht verbunden war. Voraussetzung für die Erteilung dieses Status durch das NRW-Verkehrsministerium war das Vorhalten eines durch das Luftfahrtbundesamtes anerkannten Wartungsbetriebs am Flughafen B.. Diese Voraussetzung erfüllte die Beklagte zu 1) durch Beauftragung eines externen Dienstleisters.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Infolge der Ausbreitung der Covid19-Pandemie setzte die Beklagte zu 1) den Flugverkehr an den deutschen Standorten von Mitte März 2020 bis Ende Juni 2020 vollständig aus. Dies wurde zunächst über die Gewährung offener Urlaubsansprüche und im Zeitraum vom 01.04.2020 bis 30.06.2020 über Kurzarbeitergeld "Null" umgesetzt. Ab dem 01.07.2020 nahm die Beklagte zu 1) den Flugverkehr eingeschränkt wieder auf, erbrachte aber fortan jedenfalls zu einem großen Teil Flüge als wet-lease-Leistungen für S. von den Stationierungsorten B., Q., T. und X. aus, vermietete also die ihr zur Verfügung stehenden Flugzeuge nebst Personal, Wartung und Versicherung. S. übernahm dazu ganz überwiegend die bisher von der Beklagten zu 1) gehaltenen "Slots" (uhrzeitbezogene Start-/Landerechte an koordinierten Flughäfen wie B.. Die wenigen ihr verbliebenen B.er Slots nutzte die Beklagte zu 1) nicht mehr.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom Morgen des 03.07.2020 informierten die Geschäftsführer der Beklagten zu 1) alle in B. stationierten Piloten über die Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft ver.di über ein "Eckpunktepapier für in Deutschland stationierte Piloten" (im Folgenden Eckpunktepapier). In einer weiteren E-Mail vom 03.07.2020, der das Eckpunktepapier angehängt war, hieß es gemäß Übersetzung des Klägers u.a.:</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">"… Wir benötigen Ihre individuelle Zustimmung zu diesem CLA Dokument, um unsere geplante Schließung des B.-Standortes für A320 rückgängig zu machen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Falls wir diese Vereinbarung unserer Piloten und Kabinenbesatzung, die am B. stationiert sind, zu diesen neuen CLA-Dokumenten nicht erhalten, wird der B.-Standort wie am vergangenen Dienstag bekanntgegeben geschlossen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Bitte bestätigen Sie Ihre Einwilligung zu dem angehängten D. Agreement CLA/ T&Cs bis spätestens Dienstag, den 07. Juli um 17.00 Uhr. Bitte antworten Sie mit "ich akzeptiere" auf diese E-Mail, um die nachfolgende Aussage zu bestätigen. Es werden keine alternativen, überarbeiteten oder zusätzlichen Wortlaute akzeptiert.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">"Ich habe das Dokument D. Agreement CLA/ T&Cs für den B.-Standort vollständig gelesen und akzeptiert - die Vertragsbedingungen des Dokument D. Agreement CLA/ T&Cs ersetzen die Vertragsbedingungen meines individuellen Vertrags vom 01. Juli 2020.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">In der Übersetzung der Beklagten hieß es u.a.:</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">"… Wir benötigen Ihre persönliche Zustimmung zu diesem TV-Dokument, um die von uns geplante Schließung der A320-Basis DUS abwenden zu können.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Erhalten wir die Zustimmung unserer in B. stationierten Piloten und unseres Kabinenpersonals zu diesen neuen TV-Dokumenten nicht, wird B.- wie am letzten Dienstag angekündigt - als Standort geschlossen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Bitte bestätigen Sie Ihr Einverständnis mit dem beigefugten Eckpunktepapier TV/Konditionen bis spätestens Dienstag, den 7. Juli, um 17.00 Uhr. Bitte beantworten Sie diese Mail mit "Ich bin einverstanden" als Zeichen Ihrer Bestätigung der nachstehenden Erklärung. Hiervon abweichende, geänderte oder zusätzliche Formulierungen sind nicht zulässig.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">"Ich habe das neue Dokument "Eckpunktevereinbarung TV/Konditionen für die Basis B. gelesen und bin vollumfänglich damit einverstanden - die Konditionen dieser "Eckpunktevereinbarung TV/ Konditionen" treten ab 1. Juli 2020 an die Stelle der Konditionen meines Einzelvertrags.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Kläger erklärte per Antwort-E-Mail fristgerecht seine Zustimmung zu dem Eckpunktepapier. In diesem hieß es u.a.:</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">"…</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dieses Eckpunktepapier tritt am 1. Juli 2020 in Kraft, endet automatisch am 31. März 2023 (…) und gilt für alle in Deutschland stationierten, direktangestellten Piloten von M..</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ab dem 1. Juli 2020 wird M. das deutsche Arbeitsrecht auf alle in Deutschland direktangestellten Piloten von M. anwenden. Dies gilt nicht für bereits anhängige Gerichtsverfahren oder vor dem 01.07.2020 eingetretene Anlässe von Rechtsstreitigkeiten, welche weiterhin ÷. Recht unterliegen. M. hat den Betrieb im März 2018 aufgenommen, was den frühesten Arbeitsbeginn/Beginn der Betriebszugehörigkeit für alle Piloten für M. darstellt. Alle früheren Dienste, Betriebszugehörigkeiten oder Ansprüche (vor März 2018) sind für die aktuellen Arbeitsverhältnisse der Piloten mit M. rechtlich irrelevant.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Nach der Probezeit (6 Monate) können der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis eines Piloten jederzeit mit einer Frist von 3 Monaten (oder - falls diese länger ist - mit der auf der Basis der Betriebszugehörigkeit bei M. seit März 2018 anwendbaren gesetzlichen Kündigungsfrist) zum Fünfzehnten oder Monatsletzten kündigen."</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">A. Grundgehalt</p> <span class="absatzRechts">24</span><table class="absatzLinks" width="100%" cellspacing="0" cellpadding="3" border="1"> <tr> <td valign="top"></td> <td valign="top">Jährliches Brutto-Grundgehalt</td> <td valign="top">Monatliches Brutto-Grundgehalt (12 x)</td> </tr> <tr> <td valign="top">CPT</td> <td valign="top">€65,800</td> <td valign="top">€5,483</td> </tr> <tr> <td valign="top">FO</td> <td valign="top">€39,200</td> <td valign="top">€3,266</td> </tr> <tr> <td valign="top">…</td> <td valign="top"></td> <td valign="top"></td> </tr> </table> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">…</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">B. Brutto Sektorzulage</p> <span class="absatzRechts">27</span><table class="absatzLinks" width="100%" cellspacing="0" cellpadding="3" border="1"> <tr> <td valign="top"></td> <td valign="top">CP</td> <td valign="top">FO</td> <td valign="top">…</td> </tr> <tr> <td valign="top">Sektorzuage pro SBH</td> <td valign="top">€ 45</td> <td valign="top">€ 25</td> <td valign="top">…</td> </tr> </table> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">"SBH" (scheduled block hours) sind geplante Blockstunden für ausgeführte Flüge an jedem Diensttag gemäß Dienstplan/Planung. Die Sektorzulage ("sektor pay") wird auf der Grundlage geplanter Blockstunden berechnet und beinhaltet einen Zuschlag für alle erbrachten Stunden, die mit dem Flugdienst verbunden sind, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Arbeit an Sonn- und Feiertagen, Nachtarbeit, Vor- und Nachbereitung des Flugs ("pre and post flight reporting"), Verspätungen und alle Tätigkeiten an Bord usw. Die Sektorzulage wird nur für geplante kommerzielle Flüge und geplante Ferry Flights bezahlt.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">…</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">G. Dienstplan & Dienstplanarrangements</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">…</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">5. M. behält sich das Recht vor, das Dienstplanmodell zu ändern. Änderungen des Dienstplanmodells ( …, z.B. aufgrund von Wachstum von Stationierungsorten (Basen), Beförderungen, Versetzungen, Austritten usw.) werden den Piloten mindestens zwei Wochen im Voraus mitgeteilt.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">6. Arbeitszeiten, Bereitschaftszeiten und diese Dienstplanregelungen werden von M. bis zur Grenze und im Rahmen der geltenden Regelungen zur Begrenzung der Flugdienstzeiten (…) und der danach geltenden Höchstgrenzen entsprechend dem aktuellen M. Betriebshandbuch (in seiner jeweils geltenden Fassung) festgelegt … . Die derzeitige Höchstgrenze beträgt 900 Flugstunden und 2.000 Dienststunden pro Jahr und umfasst etwaige Verspätungen. Es gibt keine Garantie für eine bestimmte Anzahl von Flug- und Dienststunden für die einzelnen Piloten. …</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">…</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">12. Der Jahresurlaub und die Dienstpläne können bei Beförderungen oder landesweiten oder internationalem Wechsel des Arbeitsortes geändert werden.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">…</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">I. Produktivität</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">…</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">3. Piloten müssen ab dem ersten Tag ihrer Abwesenheit ein ärztliches Attest vorlegen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (nach dem EFZG) wird auf der Grundlage des Durchschnitts des Grundgehalts, der Sektorzulage und der Zulagen in den letzten 3 Monaten berechnet. …</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Wegen der Einzelheiten wird auf den zur Akte gereichten Abdruck des Eckpunktepapiers Bezug genommen. Außerhalb der deutschen Basen beschäftigte die Beklagte zu 1) keine Mitarbeiter, mit denen die Anwendung deutschen Arbeitsrechts vereinbart war. Am 09.07.2020 scheiterten die Tarifverhandlungen über den Abschluss des Eckpunktepapiers. Mit E-Mail vom 10.07.2020 dankten die Geschäftsführer der Beklagten zu 1) den Beschäftigten u.a. wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">"unseren aufrichtigen Dank für Ihre überwältigende Unterstützung unserer neuen CLA für den Standort B.. Ich freue mich mitteilen zu dürfen, dass bis gestern 17.00 Uhr, dem Einsendeschluss für die Einwilligung, haben über 94% der B.er Piloten (34 von 36), mehr als 97% aller Co-Piloten und über 80 % unserer Kabinenbesatzungsmitglieder unserer neuen CLA/T&C’s zugestimmt.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">… Mit unserer neuen, niedrigeren Kostenbasis sind wir zuversichtlich, diese Herausforderungen überwinden zu können, was es uns hoffentlich über die Zeit ermöglicht, den Standort auszuweiten, neue Flugzeuge hinzuzufügen und neue Stellen und Beförderungsmöglichkeiten für unsere Piloten und Kabinenbesatzungsmitglieder zu schaffen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Unseren aufrichtigen Dank für Ihre überwältigende Unterstützung. Wir freuen uns darauf, mit jedem einzelnen von Ihnen weiterhin Zusammenzuarbeiten, um aus unserem Standort B. einen Erfolg zu machen."</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 1) informierte die in X. stationierten Piloten und das Kabinenpersonal mit Base-Update vom 17.07.2020 darüber, dass die B. er Piloten und das dortige Kabinenpersonal das Eckpunktepapier mit überwältigender Mehrheit angenommen hätten, was das Unternehmen in die Lage versetze, die B.er Base über den Winter weiter zu betreiben, obwohl man sich eines intensiven Wettbewerbs durch die M. und deren Töchtern ausgesetzt sehe. Leider hätten der Großteil der Piloten und das Kabinenpersonal in T. dem Eckpunktepapier nicht zugestimmt, so dass T. Ende Oktober 2020 geschlossen werde, woraus der Verlust aller Jobs für Piloten und des Kabinenpersonals in T. resultiere.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Am 28.07.2020 gab die Beklagte zu 2) bekannt, dass sie im Spätherbst 2020 eine Basis in B. eröffnen werde. Bei der Beklagten zu 2) handelte es sich um eine neu gegründete, auf N. registrierte Fluggesellschaft, deren alleinige Gesellschafterin die H. Holding Limited war, deren Alleingesellschafterin wiederum die S. Holdings PLC war. Mit E-Mail vom selben Tag teilten die Geschäftsführer der Beklagten zu 1) dem Flugpersonal der Base B. gemäß Übersetzung des Klägers u.a. Folgendes mit:</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">"M. GmbH wird seinen Betrieb im Laufe des Jahres einstellen, aber wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass die Besatzungsmitglieder, welche das neue CLA/T&Cs vom 3. Juli 2020 akzeptiert haben, eine Stelle bei M. Europe Ltd. angeboten wird. Die Vertragsbedingungen von M. Europe für unseren B.er A320-Standort werden in Übereinstimmung mit dem neuen Dokument CLA/T&Cs vom 3. Juli 2020 stehen. Wir werden uns mit Ihnen zu gegebener Zeit hinsichtlich der notwendigen Dokumentation in Verbindung setzen, damit Sie dieses Angebot annehmen können und wir OCC-Kurse für das neue AOC planen können.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Am 20.08.2020 erhielt der Kläger eine E-Mail der Beklagten zu 2), die u.a. folgenden Inhalt hatte:</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">"…</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Wir freuen uns, Dir die Stelle als Kapitän bei der M. Europe Ltd. mit beginn ab 15. September 2020 anzubieten.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">M. Europe Ltd. ist eine auf N. registrierte Fluggesellschaft, die im September 2020 einen Standort am Flughafen B. eröffnen wird.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">M. Europe Ltd. bietet dieselben Vertragsbedingungen an wie die in Ihrem bestehenden Vertrag bei M. GmbH, in der durch die Ihre Einwilligung akzeptierten Fassung des neuen Dokuments B. CLA/T&Cs vom 3. Juli, unter der Voraussetzung, dass eine irische oder maltesische Lizenz innerhalb eines Jahres der Anstellung bei M. Europe Ltd. erhalten wird, um die fortlaufende Ausbildung zu erleichtern.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Da M. Europe nun mit der Planung der September-OCC-Kurse beginnen muss, benötigen wir eine rasche Annahme unseres Angebots, welches nicht die Vertragsbedingungen betrifft, die Sie derzeit bei M. GmbH genießen. Bitte bestätigen Sie die Annahme unseres Angebots vor Dienstag, den 27. August um 17:00 Uhr.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Bitte beantworten Sie mit "ich akzeptiere" auf die angehängte E-Mail, um die nachfolgende Erklärung zu bestätigen. Es werden keine alternativen oder überarbeiteten Wortlaute akzeptiert.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Ich akzeptiere dieses Stellenangebot von M. Europe Ltd. zu denselben Vertragsbedingungen wie bei meinem bestehenden Anstellungsvertrag bei M. GmbH, in der Fassung des neuen Dokuments B. CLA/T&Cs vom 3. Juli, welches diesen Vertrag ersetzt.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Ich werde eine irische oder maltesische Fluglizenz vor dem 30. August 2021 erlangen.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Übersetzung der Beklagten lautete u.a.:</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">"wir freuen uns, Ihnen mit Wirkung ab 15. September 2020 die Position eines … bei M. Europe Ltd anbieten zu können.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">M. Europe Ltd ist eine in N. eingetragene Fluggesellschaft, die im September 2020 eine Basis am Flughafen B. eröffnen wird.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">M. Europe Ltd bietet Ihnen die gleichen wie die in Ihrem bestehenden Vertrag mit M. GmbH genannten Konditionen in der durch Ihr Einverständnis mit dem neuen TV/Konditionen-Dokument vom 3. Juli für den Standort B. geänderten Form, jedoch mit Ausnahme der Auflage, innerhalb eines Jahres nach Beginn Ihres Arbeitsverhältnisses mit M. Europe Ltd eine irische oder maltesische Lizenz zu erwerben, um die laufende Ausbildung einfacher zu gestalten.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Da M. Europe nun mit der Planung der OCC-Kurse für September beginnen muss, benötigen wir Ihre frühzeitige Annahme unseres Angebots, das keinerlei Auswirkungen auf die Bedingungen hat, die für Ihr derzeitiges Arbeitsverhältnis mit M. GmbH gelten. Bitte bestätigen Sie uns die Annahme unseres Angebotes bis spätestens Donnerstag, den 27. August um 17 Uhr.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Bitte antworten Sie auf die beigefugte E-Mail mit "Ich bin einverstanden" als Zeichen Ihrer Bestätigung der nachstehenden Erklärung. Hiervon abweichende oder geänderte Formulierungen sind nicht zulässig.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Ich nehme dieses Beschäftigungsangebot von M. Europe Ltd zu den gleichen Bedingungen an, die für meinen bestehenden Arbeitsvertrag mit M. GmbH gelten, wie geändert durch das neue TV/Konditionen-Dokument vom 3. Juli, das diesen Vertrag ablöst.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Bis spätestens 30. August 2021 werde ich eine irische oder maltesische Fluglizenz erwerben.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Der Kläger antwortete auf diese E-Mail, wie ein Großteil der Beschäftigten der Station B., fristgerecht mit "ich akzeptiere". Aus den Reihen der Beschäftigten der Beklagten zu 1) der Station T. begründete niemand ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 2).</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Am 09.09.2020 um 15.46 Uhr schrieb der Leiter Routenentwickung von S. an den Flughafen B. wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">"…</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">vielen Dank, dass Sie sich heute Nachmittag Zeit für ein Gespräch mit uns genommen haben.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Weigerung des B.er Flughafens, konstruktiv mit seinen Airline-Kunden zusammenzuarbeiten und Anreize zur Verkehrserholung zu bieten, um seine sehr hohen Flughafenentgelte zu senken, ist bedauerlich und steht in eklatantem Gegensatz zu anderen konkurrierenden Flughäfen in Deutschland und ganz Europa.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Aufgrund dieses mangelnden Engagements hat S. keine andere Wahl, als die Schließung der Basis B. und die Streichung aller Flüge der S.-Gruppe mit Wirkung zum 20. Oktober 2020 zu bestätigen.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Am 09.09.2020 zeigte die Beklagte zu 1) u.a. bei der Agentur für Arbeit Düsseldorf, eingehend dort per Telefax am 09.09.2020, eine beabsichtigte Massenentlassung von 163 Beschäftigten an. Wegen der Einzelheiten wird auf den Abdruck der Anzeige nebst Anschreiben und Anlagen Bezug genommen. Zu Ziffer 34 hieß es, dass eine Liste mit Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer/innen sowie weiterer berufsbezogener Angaben nachgereicht werde. Diese Liste wurde der Agentur für Arbeit in Düsseldorf nicht vor Zugang der Kündigung des Klägers übermittelt.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Am 10.09.2020 zeigte die Beklagte zu 2) u.a. bei der Agentur für Arbeit Düsseldorf, eingehend dort per Telefax am 10.09.2020, eine beabsichtigte Massenentlassung von 126 Beschäftigten an. Wegen der Einzelheiten wird auf den Abdruck der Anzeige nebst Anschreiben und Anlagen Bezug genommen. Zu Ziffer 34 hieß es, dass eine Liste mit Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer/innen sowie weiterer berufsbezogener Angaben nachgereicht werde. Diese Liste wurde der Agentur für Arbeit in Düsseldorf nicht vor Zugang der Kündigung des Klägers übermittelt.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 10.09.2020 bzw. nach Vorliegen notwendiger behördlicher Zustimmungen kündigte die Beklagte zu 1) die Arbeitsverhältnisse der in Deutschland beschäftigten Mitarbeiter. In dem an den Kläger adressierten Schreiben der Beklagten zu 1) vom 10.09.2020, das ihm am 11.09.2020 zuging, hieß es auszugsweise:</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">"…</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">hiermit kündigen wir das zwischen uns bestehende Arbeitsverhältnis unter Beachtung der für Ihr Arbeitsverhältnis geltenden Kündigungsfrist ordentlich fristgerecht zum nächstmöglichen Zeitpunkt, frühestens aber zum 31.10.2020. Gemäß Ihrem Arbeitsvertrag beträgt die Kündigungsfrist 3 Monate, so dass Ihr Arbeitsverhältnis daher nach unserer Berechnung am 31. Dezember 2020 endet.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Bitte veranlassen Sie, dass Ihre Uniform, … und alle anderen Firmenunterlagen unverzüglich nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, spätestens aber bis zum 6. November 2020 entweder direkt an ihren Base Captain oder die M. GmbH zurückgegeben werden."</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls mit Schreiben vom 10.09.2020 kündigte die Beklagte zu 2) etwaige Arbeitsverhältnisse sämtlicher Beschäftigter der Station B., die auf die E-Mail vom 20.08.2020 zustimmend geantwortet hatten. In dem an den Kläger adressierten Schreiben der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020, das ihm am 12.09.2020 zuging, hieß es auszugsweise:</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">"…</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">hiermit kündigen wir das zwischen der M. Europe Ltd. und Ihnen zum 15. September 2020 eingegangene Arbeitsverhältnis unter Beachtung der für Ihr Arbeitsverhältnis geltenden Kündigungsfrist ordentlich fristgerecht zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Gemäß Ihrem Arbeitsvertrag beträgt die Kündigungsfrist 3 Monate, so dass Ihr Arbeitsverhältnis daher nach unserer Berechnung am 31. Dezember 2020 endet.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">…"</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 15.09.2020 kündigte die Beklagte zu 1) das Mietverhältnis mit dem Flughafen B. über die angemieteten Räumlichkeiten zum 31.10.2020, ausweislich des Schreibens wegen der Schließung der Base. Die Beklagte zu 1) berief sich in dem Schreiben auf § 14.3. des Mietvertrags, wonach keine Kündigungsfristen eingehalten werden müssten, weil wichtige Gründe für die Kündigung gegeben seien.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Am 28.09.2020 wurde der letzte kommerzielle Flug der Beklagten zu 1) vom Flughafen T. aus, am 19.10.2020 vom Flughafen B. aus durchgeführt. Die Flugzeuge wurden anschließend nach London-T. verbracht. In der Folgezeit und auch bis zur mündlichen Verhandlung vor der Berufungskammer betrieb die Beklagte zu 1) weder in B. noch an einem anderen deutschen Flughafen eine Station. Mit Schreiben vom 19.10.2020 teilte die Beklagte zu 1) dem Kläger Folgendes mit:</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">"Im Hinblick auf die Beendigung Ihres Arbeitsvertrages sind Sie ab dem 20. Oktober 2020 bis zur Beendigung Ihres Arbeitsverhältnisses gemäß Ihrem Kündigungsschreiben unwiderruflich von Ihrer Verpflichtung zur Arbeitsleistung unter Gewährung des noch ausstehenden Jahresurlaubs freigestellt. Der noch offene Jahresurlaub wird zu Beginn der Freistellung gewährt, danach folgen die weiteren Ansprüche auf Freistellung. Ihre vertraglichen Verpflichtungen bleiben während der Freistellung bestehen, insbesondere wird anderweitiger Verdienst (nach vollständiger Gewährung des Jahresurlaubs und etwaiger sonstiger Freistellungsansprüche) auf Ihre Vergütung während der Freistellung und die Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf die gesetzlichen Fristen angerechnet, so dass Sie auch während der Freistellung zur Meldung einer Arbeitsunfähigkeit verpflichtet bleiben."</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Im November und Dezember 2020 setzte die Beklagte zu 1) den Kläger auch tatsächlich nicht mehr ein. Sie reduzierte die Zahlung der Sektorzulage, die monatlich nachschüssig gezahlt wurde. Ausweislich der zur Akte gereichten Abrechnungen zahlte die Beklagte zu 1) an den Kläger für die nachfolgend genannten Monate brutto folgende Sektorzulage: August 2020: 3.100,25 Euro; September 2020: 2.268,75 Euro; Oktober 2020: 1.719,35 Euro, November 2020: 160,30 Euro. Am 16.12.2020 wurde von einem Mitarbeiter der B. Control GmbH bestätigt, dass die Beklagte zu 1) das Air Operator’s Certificate (AOC) zurückgegeben habe.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Zwischenzeitlich hatte eine Vielzahl von Mitarbeitern der Beklagten zu 1) an den Stationen X. und Q. ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 2) begründet. Die Beklagte zu 2) nahm mit Beginn des Winterflugplans von den Stationen X. (mit 3 bis 4 Flugzeugen) und Q. (mit 1 bis 2 Flugzeugen) eingeschränkt den Flugbetrieb auf und nutzte dafür ehemals auf die Beklagte zu 1) registrierte Flugzeuge. Die Beklagte zu 2) erbrachte diese Flugdienstleistungen als wet-lease-Leistungen für S.. Sie führte keine kommerziellen Flüge unter ihrem eigenen Flugcode durch, sondern nur unter dem S.-Flugcode "FR". Bei gleichem Erscheinungsbild nutzte die Beklagte zu 2) ehemals auf die Beklagte zu 1) registrierte Flugzeuge sowie - außerhalb Deutschlands - die zuvor von der Beklagten zu 1) genutzten Slots. Sie beschäftigte zahlreiche ehemalige Beschäftigte der Beklagten zu 1) der Stationen in X. und Q.. Mehrere Funktionsträger der Beklagten zu 1) wechselten zur Beklagten zu 2), die sich auch desselben OCC in X. bediente. Zuvor bei der Beklagten zu 1) in Deutschland stationierte Beschäftigte setzte die Beklagte zu 2) nicht ein. Stationen in Deutschland, insbesondere in B. und T., eröffnete die Beklagte zu 2) nicht und hatte dies auch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer nicht getan. Rund 95 % der von S. gehaltenen, von der Beklagten zu 1) im Rahmen des wet-lease genutzten Slots bei dem Flughafen B. wurden von der Fluggesellschaft Euro x. GmbH übernommen. Soweit die Beklagte zu 2) danach Flugziele in Deutschland anflog (I., O.), erfolgte dies mit an ausländischen Basen stationiertem Personal. Mitarbeiter mit Arbeitsort in Deutschland beschäftigte die Beklagte zu 2) nicht. Bei ihr waren zudem keine Mitarbeiter angestellt, mit denen die Geltung deutschen Arbeitsrechts vereinbart war; ausgenommen die Mitarbeiter der Basis B., die ursprünglich für eine dortige Tätigkeit vorgesehen waren, aber tatsächlich nie beschäftigt wurden.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Mit der am 01.10.2020 bei dem Arbeitsgericht Düsseldorf eingegangenen und der Beklagten zu 1) am 12.10.2020 zugestellten Klage hat sich der Kläger gegen deren Kündigung vom 10.09.2020 gewandt. Mit der am 01.10.2020 bei dem Arbeitsgericht Düsseldorf eingegangenen und der Beklagten zu 2) am 14.10.2020 zugestellten Klage hat sich der Kläger gegen deren Kündigung vom 10.09.2020 gewandt.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat gemeint, das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) unterliege infolge der Vereinbarung des Eckpunktepapiers deutschem Arbeitsrecht. Die Kündigung sei unwirksam. Sie sei bereits unbestimmt, weil mehrere Beendigungsdaten zum Ausdruck gebracht seien. Noch im Gütetermin hätten die Prozessbevollmächtigten der Beklagten sich auf den Standpunkt gestellt, dass Beendigungstermin der 15.12.2020 sei.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Für das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) bestehe nach §§ 1 Abs. 1, 24 Abs. 2 KSchG allgemeiner Kündigungsschutz. Ein deshalb erforderlicher Kündigungsgrund liege nicht vor. Den Vortrag zur unternehmerischen Entscheidung, insbesondere den Standort B. zu schließen, hat der Kläger mit Nichtwissen bestritten. Der Vortrag sei unsubstantiiert, zumal die dazu abgegebenen Begründungen nichtssagend seien und die Beklagte zu 1) noch am 10.07.2020 verlautbart habe, dass die Planungen zur Schließung des Standortes B. obsolet seien. Daran sei sie nun gebunden. Außerdem habe die Beklagte zu 1) am 28.07.2020 noch in Aussicht gestellt, dass die Arbeitsverhältnisse auch der in B. Beschäftigten auf die Beklagte zu 2) übergehen würden. Tatsächlich sei keine Betriebsstilllegung erfolgt, sondern ein Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2). Der Beklagten zu 1) habe es im Übrigen frei gestanden, erneut Kurzarbeit zu beantragen. Außerdem sei Deutschland ein viel zu lukrativer Markt, um ihn nicht zu bedienen. Wenn derzeit wenig Flugverbindungen von und nach Deutschland bestünden, sei dies pandemiebedingt und nur vorübergehend. Ein angebliches "Erwerberkonzept" dahingehend, dass die Standorte B. und T. nicht fortgeführt werden, hat der Kläger mit Nichtwissen bestritten. Ohnehin stehe sein Beschäftigungsbedarf nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Standorten B. und T..</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der gesamte operative Flugbetrieb der Beklagten zu 1) sei auf die Beklagte zu 2) übergegangen. Es sei zu vermuten, dass die Beklagte zu 2) mit S. eine Vereinbarung über die Fortführung des wet-lease ab dem 01.11.2020 getroffen habe. Dazu habe die Beklagte zu 2) die Stationen in X. und Q. übernommen. Die Eröffnung einer weiteren Station in A. (Kroatien) sei geplant gewesen. Dazu würden auch ein überwiegender Teil der von der Beklagten zu 1) zuvor für das wet-lease genutzten Slots von der Beklagten zu 2) genutzt und würden im Wesentlichen dieselben Destinationen angeflogen. Es falle dabei nicht ins Gewicht, dass die Slots betreffend die Flughäfen B. und T. nicht übergegangen seien. Sämtliche früher auf die Beklagte zu 1) registrierten Flugzeuge seien nun auf die Beklagte zu 2) registriert und gelangten mit unverändertem Erscheinungsbild - nur eingeschränkt aufgrund der Auswirkungen der Covid19-Pandemie - zum Einsatz. Die Beklagte zu 2) halte schließlich sämtliche Flugzeuge der Beklagten zu 1) flugfähig. Maßgebliche Funktionsträger und eine Vielzahl der Beschäftigten der Beklagten zu 1) seien zu der Beklagten zu 2) gewechselt. Nach seiner Kenntnis hätten in X. 92 % der Piloten und 67 % des Kabinenpersonals und in Q. 100% der Piloten und 60 % des Kabinenpersonals den Übernahmeangeboten der Beklagten zu 2) zugestimmt. Die Steuerung erfolge weiterhin vom OCC in X. aus. Derselbe Dienstleister stelle ggf. Personal. Die IT-gestützten Personal- und Schulungssysteme der Beklagten zu 1), wie "Netline-Portal" würden ebenso wie die Flight Books von der Beklagten zu 2) weiter genutzt. Der Kläger hat gemeint, das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) sei deshalb spätestens am 01.11.2020 im Wege des Betriebsübergangs auf die Beklagte zu 2) übergegangen sei. Die Art der Unternehmen der Beklagten zu 1) und 2) als wet-lease carrier für S. sei identisch. Der Übergang der Beklagten zu 1) als wet-Lease-Betreiber für S. sei entweder bereits zum 15.09.2020, spätestens aber zum 01.11.2020 mit Beginn des Winterflugplanes vollzogen worden.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Der Beschäftigungsbedarf bei der Beklagten zu 1) sei nicht entfallen. Diese habe am 17.08.2020 eine Stelle eines Line Training Captains für die Station Q. ausgeschrieben, auf die er, der Kläger, sich wegen der arbeitsvertraglichen europaweiten Versetzungsklausel berufen könne. Zudem seien Stellen bei der Beklagten zu 2) während der Kündigungsfrist an ausländischen Stationierungsstandorten besetzt worden und weiterhin zu besetzen. So sei Herrn D., der zuvor nicht bei der Beklagten zu 1) beschäftigt war, zum 01.10.2020 bei der Beklagten zu 2) eine Stelle als Kapitän am Standort Q. angeboten worden, welche dieser auch angenommen habe. Eine ordnungsgemäße Sozialauswahl sei nicht erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Die in Anbetracht von ca. 150 am Standort B. ausgesprochenen Kündigungen notwendige Massenentlassungsanzeige genüge nicht den gesetzlichen Vorgaben. Sollte die Beklagte in Deutschland keinen Betrieb unterhalten haben, sei keine Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit Düsseldorf, sondern an die österreichische Arbeitsverwaltung erforderlich gewesen. Die Anzeige per Telefax sei formunwirksam. Die Gründe für die Entlassungen nicht hinreichend angegeben. Zudem hat der Kläger mit Nichtwissen bestritten, dass die Zahl der zu Entlassenden und der regelmäßig Beschäftigten sowie die Zahl der "vorangegangenen Entlassungen" zuträfen.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist der Ansicht gewesen, auch die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 sei unwirksam. Diese sei am 10.09.2020 nicht ernsthaft und endgültig zur dauerhaften Stilllegung der deutschen Standorte entschlossen gewesen. Es sei schon unklar, wer bei welchem Unternehmen angeblich die Entscheidung getroffen habe, den Standort B. doch nicht aufzubauen. Jedenfalls strebe die Beklagte zu 2) in absehbarer Zeit die Bedienung des deutschen Marktes, der viel zu lukrativ sei, wieder an. Nach wie vor fliege die S.-Gruppe Destinationen in Deutschland an. Der Kläger hat gemeint, er habe die sechsmonatige Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG erfüllt. Seine Vorbeschäftigung bei der Beklagten zu 1) sei anzurechnen. Der sachliche Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes sei eröffnet. Es liege ein Betrieb im kündigungsschutzrechtlichen Sinne vor. Insoweit sei zu vermuten, dass das Mietverhältnis über die Crew-Räume in B. noch über den 31.10.2020 hinaus fortbestanden habe, weil eine Kündigung des Mietverhältnisses per E-Mail formunwirksam und auch nicht aus wichtigen Grund zum 31.10.2020 akzeptiert worden sei. Die Kündigung verstoße gegen das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 BGB, weil die Beklagte zu 2) den Wet-Lease-Betrieb der Beklagten zu 1) nahtlos fortführe. Es treffe nicht zu, dass die Beklagte zu 2) die personellen Entscheidungen auf N. treffe. So würden z.B. Vorstellungsgespräche für die Stellen von Piloten bei der S. DAC in E. geführt. Noch am 27.08.2020 habe die Beklagte zu 2) allen Crewmitgliedern und auch ihm mitgeteilt, dass die "Operator Conversion" Kurse in der kommenden Woche über das "Netline Portal" freigeschaltet werden.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Zudem habe die Beklagte zu 2) ihm Weiterbeschäftigungsangebote im Ausland machen müssen, etwa die des Line-Training-Captains in Q.. Nichts anderes gelte für die Stellenzusage seitens der Beklagten zu 2) an Herrn D.. Nach Ausspruch der Kündigungen vom 10.09.2020 habe die Beklagte zu 2) weitere Stellenzusagen für Copiloten und Kabinencrewmitglieder an ausländischen Stationierungsorten gemacht, so dass davon auszugehen sei, dass sie bereits am 10.09.2020 bestehenden Beschäftigungsbedarf an diesen ausländischen Standorten durch Neueinstellungen gedeckt habe. Aus den Weihnachtsgrüßen des Head of Training der Beklagten zu 2) vom 23.12.2020 ergebe sich, dass die Beklagte zu 2) in den normalen Modus zurückkehren und fortlaufend Trainings anbieten werde. Auf der Webseite der Muttergesellschaft der Beklagten zu 2) seien Stellen für Kapitäne und Copiloten für die Beklagte zu 2) ausgeschrieben. Ein Einstellungsgespräch habe z.B. mit Herrn Q. am 22.01.2021 in E. stattgefunden.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat die ordnungsgemäße Sozialauswahl gerügt.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Schließlich sei die Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß erstattet worden. Diese hätte auf N., einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, erfolgen müssen. Eine Einreichung per Telefax sei nicht ausreichend. Die Gründe für die Entlassung seien nicht ausreichend angegeben. Schließlich hat er mit Nichtwissen bestritten, dass die übermittelte Anzahl der zu entlassenden Piloten und Kabinencrewmitglieder zutreffend angegeben worden sei.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Zuletzt hat der Kläger gemeint, angesichts des Betriebsübergangs auf die Beklagte zu 2) frühestens am 15.09.2020 und spätestens am 01.11.2020 habe die Beklagte zu 2) mit dem Schreiben vom 10.09.2020 nicht wirksam kündigen können, weil sie im Kündigungszeitpunkt noch nicht seine Arbeitgeberin gewesen sei. Der E-Mail-Austausch aus August 2020 mit der Beklagten zu 2) beinhalte nicht den Abschluss eines separaten Arbeitsvertrages, sondern stelle eine missglückte Mitteilung eines Betriebsüberganges nach § 613 a Abs. 5 BGB dar. Aus diesem Grunde liege auch keine doppelte oder anderweitige Rechtshängigkeit betreffend die Feststellungsanträge vor. In einem Verfahren sei ein Antrag mit dem Ziel der Feststellung eines Betriebsüberganges verfolgt worden. In dem anderen Verfahren solle das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zwischen den Parteien festgestellt werden.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">In den Monaten November und Dezember 2020 habe sich sein Arbeitgeber in Annahmeverzug befunden, sodass über gezahlte Beträge hinaus die Sektorzulage geschuldet sei, der auch Gegenstand der Vergütung im Annahmeverzug sei. Die Regelung des § 615 BGB sei nicht abbedungen gewesen. Infolge des Betriebsübergangs hafte die Beklagte zu 2), hilfsweise die Beklagte zu 1). Der Höhe nach berechne sich der Anspruch nach dem Durchschnitt der letzten drei Monate in Anwendung von I. Ziff. 3 des Eckpunktepapiers. Die Rechtslage hinsichtlich der Berechnung des Annahmeverzugs sei mit derjenigen der Entgeltfortzahlung vergleichbar, was nicht nur er, sondern auch das Bundesarbeitsgericht und die Literatur so sähen. Wenn die Beklagten meinte, er könne nur beanspruchen, so er denn geflogen wäre, sollte die Beklagte zu 2) Auskunft darüber erteilen, wie er eingeplant worden wäre, wenn es keine pandemiebedingten Einschränkungen gegeben habe. Einem Verzicht auf die Sektorzulage stehe die doppelte Schriftformklausel aus dem Arbeitsvertrag entgegen. Mit der Freistellung sei die Beklagte zu 1) in Annahmeverzug geraten. Das Eckpunktepapier schließe Ansprüche aus Annahmeverzug nicht aus. Wenn dies der Fall wäre, läge eine unangemessene Benachteiligung vor. Außerdem werde das Betriebsrisiko in unangemessener Weise auf den Arbeitnehmer verlagert, zumal es an einem angemessenen Ausgleich fehle. Im Übrigen beinhalte der Winterflugplan regelmäßig keinen wesentlich verringerten Flugbetrieb.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Die Zahlungsanträge seien so wie gestellt zulässig, weil es sich bei den beiden Beklagten im Hinblick auf den Betriebsübergang um Streitgenossen i.S.v. § 60 ZPO handele. Eine unzulässige außerprozessuale Bedingung liege nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat in den erstinstanzlichen Verfahren zuletzt - soweit für das Berufungsverfahren noch von Interesse - beantragt,</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">1.festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen ihm und der Beklagten zu 1) durch die Kündigung der Beklagten zu 1) vom 10.09.2020 nicht aufgelöst worden ist;</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">2.festzustellen, dass das zwischen ihm und der Beklagten zu 1) bestehende Arbeitsverhältnis ab dem 01.11.2020 mit der Beklagten zu 2) zu unveränderten Arbeitsbedingungen fortbesteht;</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">3.die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an ihn Vergütung für November 2020 in Höhe von 1.629,94 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.01.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">4.hilfsweise für den Fall, dass das Gericht feststellen sollte, dass sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) nicht spätestens zum 01.11.2020 auf die Beklagte zu 2) übergegangen sein sollte, die Beklagte zu 1) zu verurteilen, an ihn Vergütung für November 2020 in Höhe von 1.629,94 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.01.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">5.die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an ihn Vergütung für Dezember 2020 in Höhe von 1.382,80 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.02.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">6.hilfsweise für den Fall, dass das Gericht feststellen sollte, dass sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) nicht spätestens zum 01.11.2020 auf die Beklagte zu 2) übergegangen sein sollte, die Beklagte zu 1) zu verurteilen, an ihn Vergütung für Dezember 2020 in Höhe von 1.382,80 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.02.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">7.festzustellen, dass zwischen ihm und der Beklagten zu 2) ein Arbeitsverhältnis besteht;</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">8.festzustellen, dass sein Arbeitsverhältnis zur Beklagten zu 2) durch die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 nicht aufgelöst wurde und</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">9.für den Fall des Obsiegens mit dem Klageantrag zu Ziffer 8. die Beklagte zu 2) zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Captain weiter zu beschäftigen.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten haben betreffend die jeweils gegen sie gerichteten Klageanträge beantragt,</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Kündigung der Beklagten zu 1) sei wirksam. Sie sei hinreichend bestimmt mit Wirkung zum 31.12.2020 ausgesprochen. Da die Beklagte zu 1) in Deutschland keinen Betrieb i.S.d. § 24 Abs. 2 KSchG unterhalten habe, sei der sachliche Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes nicht eröffnet. Insbesondere hätten weder der Base Captain noch der Base Supervisor die Befugnis gehabt, Entscheidungen in personellen und sozialen Angelegenheiten zu treffen. Gleichwohl bestehe ein Kündigungsgrund, weil die Beklagte zu 1) am 27.07.2020 die unternehmerische Entscheidung getroffen habe, den Flugbetrieb deutschland- und europaweit im Verlauf des Jahres stillzulegen. Die S. DAC habe Anfang September 2020 aufgrund hoher Flughafengebühren und Bodenabfertigungskosten beschlossen, keine Flüge mehr ab B. anzubieten. Daraufhin habe die Beklagte zu 2) die ursprüngliche Planung revidiert, am Flughafen B. eine Station zu eröffnen. In der Konsequenz habe auch sie, die Beklagte zu 1), entschieden, betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen. Die unternehmerische Entscheidung sei umgesetzt worden, insbesondere habe die Beklagte zu 1) das AOC im Dezember 2020 zurückgegeben. Jedenfalls hinsichtlich ihrer Station B. sei es nicht zu einem Betriebsteilübergang auf die Beklagte zu 2) gekommen, weil der Betrieb dieser wirtschaftlichen Einheit nicht fortgeführt worden sei. Daher sei die Kündigung auch nicht nach § 613a Abs. 4 BGB unwirksam. Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bei ihr, der Beklagten zu 1), bestünden nicht, eine Sozialauswahl sei nicht erforderlich gewesen.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des Erfordernisses einer Massenentlassungsanzeige sei der unionsrechtliche Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts maßgeblich, sodass die Beklagte zu 1) (vorsorglich) die Anzeige bei der Agentur für Arbeit Düsseldorf erstattet habe. Die Anzeige sei formgerecht und inhaltlich vollständig und zutreffend.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten haben gemeint, zwischen ihnen habe sich kein Betriebsübergang ereignet. Der Flugbetrieb sei insbesondere in Anbetracht der stillgelegten Stationen in B. und T., der Einstellung des Flugbetriebs in Deutschland und des auch im Übrigen eingeschränkten Flugbetriebs nicht identitätswahrend übergegangen. An dem eingeschränkten Flugbetrieb an den Stationen X. und Q. ändere sich nichts durch den rotierenden Einsatz der Flugzeuge. Dieser sei durch flugtechnische Vorgaben bedingt, damit einzelne Flugzeuge ihren Status als einsatzfähige Maschinen nicht verlieren. Einen tatsächlichen Bedarf an dem dauernden Einsatz aller dieser Flugzeuge belege dies gerade nicht. Die Beklagte zu 2) habe nicht die Funktion des Wet-Lease-Dienstleisters für S. für den Flughafen B. übernommen. Es habe sich bei den Stationen in B. und T. um eigene organisatorische Einheiten gehandelt. Dafür sprächen die Funktionen des Base Captain, die Stationierung einer bestimmten Anzahl von Flugzeugen an diesen Standorten, der Crewraum an den jeweiligen Standorten sowie die Festigung der Position als sog. "Home Base Carriers" am Standort B. Das fliegende Personal sei der Station B. aufgrund der Struktur der Beklagten zu 1) als point-to-point-Anbieter zugeordnet gewesen. Der Betriebsteil B. sei nicht auf die Beklagte zu 2) übergegangen. Es fehle an einer vergleichbaren Nutzung der Flugzeuge durch die Beklagte zu 2). Und auch die Gesamtbewertung der Umstände führe zu keinem anderen Ergebnis. Weder führe die Beklagte zu 2) den Flugbetrieb an der Station B. fort noch habe diese diesen Flugbetrieb von anderen deutschen Standorten aufgenommen. Zu berücksichtigen sei, dass eine Arbeitsaufnahme der Mitarbeiter der Station B. für die Beklagte zu 2) nicht erfolgt sei. Die Beklagte zu 2) habe die Belegschaft der Beklagten zu 1) nicht übernommen. Dies gelte für die deutschen Standorte und dort auch für das deutsche "Führungspersonal" wie den Base Captain. Am Standort X. hätten mehr als 100 ehemalige Mitarbeiter der Beklagten zu 1) nie eine Beschäftigung bei der Beklagten zu 2) aufgenommen. Die Geschäftsführung der beiden Beklagten sei bereits von der Zusammensetzung (vier Directors und nur zwei Geschäftsführer) sehr unterschiedlich. Zwei Mitarbeiterinnen der Personalabteilung aus X. (Frau A. und Frau C.) seien nicht zur Beklagten zu 2) gewechselt. Betreffend die Software habe es keine Übernahme gegeben. Vielmehr würde eine frei am Markt verfügbare Software von Drittanbietern genutzt.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) hat behauptet, sie habe am 09.09.2020 final die Entscheidung getroffen, in B. keine Basis zu eröffnen und somit keinen Flugbetrieb von deutschen Basen aus aufzunehmen. An jenem Tag seien die Verhandlungen zwischen der S. DAC und dem Flughafen B. gescheitert. Im Rahmen einer Videokonferenz um 14.00 Uhr deutscher Zeit habe der Flughafen die Forderungen der S. DAC abgelehnt. Die S. DAC habe daraufhin die Entscheidung getroffen, ab dem 20.10.2020 keine Flüge von der Basis B.aus mehr anzubieten. Es bestünden auch keine Pläne, dies zukünftig zu tun. Die Beklagte zu 2) hat gemeint, der Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes i.S.d. §§ 23, 24 KSchG sei mangels betrieblicher Strukturen in Deutschland und mangels Erfüllung der sechsmonatigen Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG nicht eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Dessen ungeachtet sei die Kündigung wegen dringender betrieblicher Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstünden, sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Soweit der Kläger auf die vorbereitenden Schulungen hinweise, seien diese nicht abgeschlossen gewesen, weil der praktische Schulungsteil, der für Oktober 2020 vorgesehen gewesen sei, fehle. Entgegen dem Vortrag des Klägers habe bei der Beklagten zu 2) weder bei noch nach Zugang der Kündigung ein ungedeckter Beschäftigungsbedarf bestanden. Soweit der Kläger sich auf Stellenanzeigen auf der Webseite von S. von Anfang August 2020 beziehe, sei dies ein Zeitraum gewesen, als die Planung der Beklagten zu 2), einen Flugbetrieb in B. aufzunehmen, noch aktuell gewesen sei. Dies habe nach der Entscheidung aus September 2020, den Flugbetrieb nicht aufzunehmen, nicht mehr gegolten. Die Anzeigen seien am 16.09.2020 versehentlich noch nicht von der Webseite gelöscht gewesen. An ausländischen Stationierungsorten habe sie entgegen des Vortrags des Klägers keinen Beschäftigungsbedarf durch Neueinstellungen gedeckt. Bis Ende des Jahres 2020 seien ausschließlich einige wenige Piloten eingestellt worden, die zuvor bereits ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) gehabt hätten, wie auch Herr D.. Die Beklagte zu 1) habe diese Piloten bereits vor der Pandemie eingestellt und es sei jeweils vertraglich eine Zuweisung an eine außerhalb Deutschlands gelegene Basis vereinbart gewesen. Die Ausbildung dieser Piloten sei durch die Pandemie unterbrochen worden. Deren Arbeitsverhältnisse hätten jedoch fortbestanden. Sämtliche Piloten, die zum OCC-Kurs ab dem 11.01.2021 eingeladen worden seien, seien von der Beklagten zu 1) vor den pandemiebedingten Einschränkungen für die Basis in Q. eingestellt gewesen. Etwaige Arbeitsplätze in X. und Q. seien vollständig besetzt gewesen. Die von dem Kläger zitierten Weihnachtsgrüße seien vor dem Hintergrund der Nachrichten über eine Impfstoffentwicklung- und Zulassung im Dezember 2020 zu sehen. Dies habe bei der Beklagten zu 2) zu der vorsichtigen Prognose geführt, dass im Sommer 2021 doch wieder mit einem erhöhten Fluggastaufkommen zu rechnen sei. Es sei eine Annonce geschaltet worden, um einen Bewerberpool aufzubauen, auf den sie schnell hätte zugreifen können. All dies sei unter dem Vorbehalt der Erholung des Flugsektors erfolgt und Einstellungen seien nicht fest eingeplant gewesen. Nach Meldungen über verzögerte Impfungen und Virusmutationen sei von den Überlegungen wieder Abstand genommen worden.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Einen Betriebsübergang auf sie, die Beklagte zu 2) habe es - wie bereits ausgeführt - nicht gegeben. Sie hat weiter behauptet, alle Personalentscheidungen, etwa zu Einstellungen, Entfristungen, Abmahnungen und Kündigungen würden auf N. getroffen, wobei zum Teil einzelne Verwaltungsfunktionen aus X. heraus ausgeführt würden. Eine Sozialauswahl sei nicht erforderlich gewesen.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) ist der Ansicht gewesen, der später rechtshängig gemachte Feststellungsantrag sei bereits wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig. Ein Unterschied zu dem Antrag, der nach der Auffassung der Klägerseite auf das Vorliegen eines Betriebsüberganges ziele, sei nicht zu erkennen. Aus den Ausführungen der Klägerseite ergebe sich vielmehr eine Unschlüssigkeit des Kündigungsschutzantrages.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Mangels Betriebsübergangs hafte die Beklagte zu 2) nicht für Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1). Die gegen die Beklagte zu 1) gerichteten Hilfsanträge seien unter einer unzulässigen außerprozessualen Bedingung gestellt. Sie seien auch unbegründet, weil die Zahlung der Sektorzulage für geplante Blockstunden durch die einvernehmliche Freistellung die Regelung des Annahmeverzugs in § 615 BGB vertraglich abbedungen sei. Es habe dem Kläger freigestanden, seine Arbeitsleistung anzubieten, wenn er mit der Freistellung nicht einverstanden gewesen wäre. Außerdem sei die Beklagte zu 2) auch zu einer einseitigen Freistellung berechtigt gewesen. Unabhängig davon sehe B. des Eckpunktepapers die Sektorzulage nur für tatsächlich erbrachte Flugleistungen vor, wobei ausweislich G.6 des Eckpunktepapiers keine Garantie für eine bestimmte Anzahl von Blockstunden bestanden habe. Angesichts des hohen Bruttogrundgehalts sei dies in keiner Weise unbillig oder unangemessen. Da die Freistellungserklärung die Übrigen vertraglichen Verpflichtungen bestehen ließ, gelte dies auch für G.6 des Eckpunktepapiers. Die Zuweisung von Flugstunden sei damit dem Direktionsrecht der Beklagten zu 1) unterfallen. Mangels Flugverkehrs der Beklagten zu 1) im November und Dezember 2020 habe diese in rechtmäßiger Weise dem Kläger in dieser Zeit keine Flugstunden zugewiesen. Das insoweit bestehende Risiko sei den Piloten bereits durch ein auskömmliches Grundgehalt abgesichert gewesen. Eine unangemessene Benachteiligung sei nicht gegeben, weil es im Rahmen der Vertragsfreiheit ohne weiteres möglich sei, nur eine Grundvergütung zu vereinbaren. Es sei nicht nachvollziehbar, warum dann eine unangemessene Benachteiligung gegeben sein solle, wenn zusätzlich noch ein variabler Gehaltsbestandteil vereinbart werde. Eine Inhaltskontrolle der Hauptleistungspflichten finde nicht statt.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Der Kläger habe die Höhe der Sektorzulage außerdem falsch berechnet. Die Rechtslage sei nicht mit derjenigen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vergleichbar. Deshalb könne der Kläger nicht die Regelung in H. Ziff. 3 des Eckpunktepapiers heranziehen. Das Lohnausfallprinzip sei insoweit konsequent zu befolgen. Es sei zu berücksichtigen, dass auch ohne Freistellung aufgrund der Schließung der deutschen Basen im November und Dezember 2020 von keiner deutschen Basis aus Flüge durchgeführt worden wären. Die Freistellung sei erfolgt, weil kein Beschäftigungsbedarf mehr bestanden habe. Ein Abstellen auf die letzten drei Monate sei auch im Übrigen wegen der Schwankungen innerhalb eines Jahres nicht interessengerecht. Weiter sei zu berücksichtigen, dass die Monate November 2020 und Dezember 2020 Teile des Winterflugplans seien, der durch ein deutlich geringeres Flugaufkommen als der Sommerflugplan gekennzeichnet sei. Hinzu komme, dass im Zeitraum November 2020 und Dezember 2020 die Corona-bedingten Einschränkungen wieder angestiegen seien. Auf die beiden Vorjahresmonate könne nicht abgestellt werden, weil im November und Dezember 2019 noch keine Pandemie vorgelegen habe. Stellte man auf die Sektorzulage an den Standorten X. und Q. ab, müsste der November 2020 im Vergleich zum Oktober 2020 mit lediglich 62 % und für den Dezember 2020 mit lediglich 46 % (Kapitän) bzw. 47 % (First Officer) gerechnet werden.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Zu den Sondereffekten im Winter 2019 sei anzuführen, dass die Beklagte zu 1) sich damals auf einem aggressiven Wachstumskurs befunden habe. Im Übrigen sei es normal, dass Fluggesellschaften insbesondere auf innereuropäischen Ferienstrecken das Flugaufkommen im Winter gegenüber dem Sommer reduzieren. Dies spiegele sich auch in den Umsätzen der S.-Gruppe wider, die im Winterhalbjahr stets 40% geringer als im Sommerhalbjahr gewesen seien. Abwegig sei es auf Flugstunden vor der Pandemie abzustellen, zumal der Kläger die neuen Konditionen des Eckpunktepapiers im Juli 2020 inmitten der Pandemie akzeptiert habe. Es habe keine Erwartung bestanden, so viele Flugstunden wie etwa im Jahr 2019 zu fliegen.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist mit dem Antrag zu 1) Gegenstand des Verfahrens Arbeitsgericht Düsseldorf - 9 Ca 5918/20 - (alt 12 Sa 347/21) gewesen. Die Klage war mit den Anträgen zu 2), 3), 5) und 9) ursprünglich mit anderen Zahlbeträgen ebenfalls Gegenstand dieses Verfahrens. Nach Abtrennung durch Beschluss des Arbeitsgerichts vom 22.02.2021 waren sie Gegenstand des Verfahrens Arbeitsgerichts Düsseldorf - 9 Ca 1053/21 - (alt 8 Sa 575/21), in dem zuletzt die Anträge zu 2) bis 6) Gegenstand waren. Die Anträge zu 7) bis 9) waren Gegenstand des Verfahrens Arbeitsgericht Düsseldorf - 4 Ca 5890/20 - (alt 14 Sa 663/21). Das Arbeitsgericht Düsseldorf hat sämtliche Klageanträge - soweit für das Berufungsverfahren noch von Bedeutung - abgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Zu - alt 12 Sa 347/21: Das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 25.02.2021 ist dem Kläger am 23.03.2021 zugestellt worden und der Kläger hat am 22.04.2021 Berufung eingelegt und diese - nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 25.06.2021 - am 25.06.2021 begründet.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Zu - alt 8 Sa 575/21: Das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 06.05.2021 ist dem Kläger am 19.05.2021 zugestellt worden. Der Kläger hat am 16.06.2021 Berufung eingelegt und diese am 16.07.2021 begründet.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Zu - alt 14 Sa 663/21: Das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 01.06.2021 ist dem Kläger am 22.06.2021 zugestellt worden und der Kläger hat am 05.07.2021 Berufung eingelegt und diese am 28.07.2021 begründet.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 05.10.2021 hat die Kammer nach Anhörung der Parteien des hiesigen Rechtsstreits sowie der Verfahren 8 Sa 575/21 und 14 Sa 663/21 die Verfahren zu den bisherigen Aktenzeichen 8 Sa 575/21 und 14 Sa 663/21 mit dem führenden Verfahren 12 Sa 347/21 gemäß §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 147 ZPO i. V. m. IV.3 a) des Geschäftsverteilungsplans des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf zur gleichzeitigen Verhandlung und Entscheidung verbunden.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Der Kläger rügt zunächst, dass die in erster Instanz vorgenommene Abtrennung der Verfahren unzulässig gewesen sei. Bei den beiden Beklagten habe es sich um notwendige Streitgenossen gehandelt.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist der Ansicht, die Kündigung der Beklagten zu 1) sei mangels Bestimmtheit unwirksam. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts seien zwei Kündigungstermine (31.10.2020 und 31.12.2020) ausdrücklich genannt und ein weiterer (15.12.2020) ergebe sich unter Berücksichtigung des Eckpunktepapiers. Auf diesen hätten die Beklagtenvertreter noch im Gütetermin hingewiesen. Aus der Sicht eines objektiven Empfängers sei nicht klar, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis beendet werden solle, zumal noch auf eine Rückgabe der Arbeitsmittel nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, spätestens aber zum 06.11.2020 hingewiesen werde. Eine Auslegungsregel, dass im Zweifel zum späteren Termin gekündigt werde, gebe es nicht. Der Erklärende müsse für klare Verhältnisse sorgen.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Die Kündigung der Beklagten zu 1) sei nicht sozial gerechtfertigt, das Kündigungsschutzgesetz finde gemäß §§ 23, 24 Abs. 2 KSchG oder aber zumindest aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung dieser Bestimmungen Anwendung.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Das Arbeitsgericht habe die mit ihm vereinbarte Versetzungsklausel in das Ausland nicht berücksichtigt. Da er verpflichtet gewesen sei, seine Arbeitsleistungen auch im Ausland zu erbringen, könne in der Schließung der Station B. kein dringender betrieblicher Grund gesehen werden. Die Schließung der Basis in T. führe zu keinem anderen Ergebnis. Es habe zum Kündigungszeitpunkt keine unternehmerische Entscheidung der Beklagten zu 1) gegeben, welche den Beschäftigungsbedarf für ihn habe entfallen lassen. Die Gründe aus der E-Mail vom 28.07.2020 zur angeblichen Betriebsstillegung seien nichtssagend oder ungeeignet. Die Mitteilung enthalte im Übrigen ein missglücktes Belehrungsschreiben gemäß § 613a Abs. 5 BGB. Der Flughafen B. habe gar keine Möglichkeit gehabt, die Gebühren zu senken. Dass der Flughafenabfertiger B. seine Preise um 30 % erhöht habe, werde mit Nichtwissen bestritten. Eher sei es so, dass die S. gewährten Vergünstigungen ausgelaufen seien und B. ein Angebot zu marktüblichen Preisen gemacht habe. Auf Presseverlautbarungen Dritter komme es nicht an, sondern auf die Willensbildung der Organe der Beklagten zu 1).</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Es liege außerdem keine Betriebsstilllegung, sondern ein Betriebsübergang vor. Die Standorte T. und B. seien keine selbständigen Betriebsteile. Vielmehr sei die Gesamtheit des Wet-Lease für S. zum 15.09.2020 spätestens aber zum 01.11.2020 auf die Beklagte zu 2) übergegangen. Die Standorte B. bzw. T. hätten weder alleine noch gemeinsam über die notwendige funktionelle Autonomie verfügt. Ohne die zentralisierte Steuerung aus dem Ausland hätten in B. keine Flüge durchgeführt werden können. Zu würdigen sei außerdem die in das Ausland reichende Versetzungsklausel. Dass die Beklagte zu 1) im Wet-Lease für S. nur sog. point-to-point-Flüge anbot, führe nicht zu einem eigenständigen Betriebsteil in B.. Folgende Punkte verdeutlichten nach Ansicht des Klägers den Betriebsübergang des gesamten Flugbetriebs auf die Beklagte zu 2):</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">- Die Beklagte zu 2) erbringe wie die Beklagte zu 1) als Wet-Lease Anbieter mit Airbus AOC Flugleistungen für die S. Gruppe. Die vertraglichen Vereinbarungen seien entweder übernommen oder zum 01.11.2020 neu abgeschlossen worden.</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">- Bis auf die Slots in B. und T. seien alle Nutzungsrechte übernommen worden.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">- Übernahme sämtlicher Flugzeuge</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">- Die Organisationsstruktur sei komplett übernommen worden.</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">- Der wesentliche Teil der Führungspersönlichkeiten sei übernommen worden</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">- Die Bases X. und Q. seien ebenso übernommen worden wie die Planung der Beklagten zu 1) eine Basis in A. zu eröffnen</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">- Übernahme des weit überwiegenden Teils der Besatzungen (Piloten+Crew) in Q., X. und B.</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">- Komplette Übernahme des Erscheinungsbildes der Flugzeuge</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">- Übernahme der Uniformen</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">- Übernahme des Vertrags mit dem Personaldienstleister D.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">- Übernahme der IT-Software und IT-Hardware</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass die Räumlichkeiten in T. und B. nicht übernommen worden seien, falle nicht ins Gewicht. Auf eine örtliche Nähe der Standorte oder der Leitung dürfe es nicht ankommen, Er habe mit dem Stationierungsort X. und dem Einsatzort B. ausschließlich Wet-Lease-Flüge für S. durchgeführt und deshalb zur Gesamteinheit des Wet-Lease für S. angehört, womit er vom Betriebsübergang erfasst sei. Entgegen der zweitinstanzlichen Behauptung der Beklagten treffe es nicht zu, dass die Beklagte zu 1) ab Juli 2020 parallel noch eigene Flüge unter ihrem "OE"-Flugcode durchgeführt habe. Darauf komme es aber nicht an, weil die Beklagte zu 1) auch nach dem Vortrag der Beklagten weit überwiegend Wet-Lease-Flüge für S. DAC erbracht habe. Zu dieser wirtschaftlichen Einheit habe er gehört.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Die Kündigung der Beklagten zu 1) sei auch unwirksam, weil entgegen der Ansicht der Beklagten ungedeckter Beschäftigungsbedarf bei der Beklagten zu 2) bestehe. Dies habe er bereits erstinstanzlich vorgetragen und in Kürze werde Personal für die neue im Mai 2021 eröffnete Basis in A. rekrutiert. Hinzu komme weiteres Personal für die weitere neue Basis in A. ab dem dritten Quartal 2021. Er bestreite mit Nichtwissen, dass sämtliche bei der Beklagten zu 2) neu eingestellten Piloten und Kabinencrewmitglieder bereits zuvor einen Vertrag mit der Beklagten zu 1) gehabt hätten. Zahlreiche Piloten seien von der Air B. gekommen. Aufgrund seiner Versetzungsklausel habe er sich auf diese Stellen im Ausland berufen können. Er mache insoweit keine Weiterbeschäftigung im Konzern geltend, sondern begehre diese im Rahmen seines kraft Gesetzes auf die Beklagte zu 2) übergegangenen Arbeitsverhältnisses im Ausland.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Die Massenentlassungsanzeige der Beklagten zu 1) sei unwirksam, weil die Schriftform durch die Übermittlung per Telefax nicht ausreiche. Der Kläger bestreitet mit Nichtwissen, dass die Anzeige der Agentur für Arbeit Düsseldorf im Original am 10.09.2020 zugestellt worden sei. Der Grund für die Massenentlassung sei nur floskelartig angegeben. Die Massenentlassungsanzeige sei auch deshalb unwirksam, weil die Beklagte zu 1) die Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG der Agentur für Arbeit nicht vor Zugang der Kündigung mitgeteilt habe. Der Kläger begründet im Einzelnen, warum diese Angaben bei unionsrechtskonformer Auslegung Wirksamkeitsvoraussetzung sei. Gründe des Vertrauensschutzes stünden dem nicht entgegen. Soweit die Beklagte zu 1) behauptet, dass diese Angaben der Agentur für Arbeit im Kündigungszeitpunkt zugänglich gewesen seien, bestreitet der Kläger dies mit Nichtwissen. Dies reiche aber unabhängig davon nicht aus, weil die Soll-Angaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG in der Massenentlassungsanzeige zu machen seien. Auf eine Kenntnis der Agentur für Arbeit aufgrund des Antrags auf Kurzarbeitergeld durch die Beklagte zu 1) könne nicht abgestellt werden, weil sie diesen bei der Agentur für Arbeit in Würzburg und nicht bei derjenigen in Düsseldorf gestellt habe.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist der Ansicht, dass die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 ein rechtliches Nullum darstelle, weil diese zu diesem Zeitpunkt aufgrund des frühestens zum 15.09.2020 erfolgten Betriebsübergangs noch nicht in die Arbeitgeberstellung eingerückt sei. Da die Beklagte zu 2) sich gleichwohl der Wirksamkeit der Kündigung berühme, sei der Feststellungsantrag zu III.1. zulässig. Das erforderliche Feststellungsinteresse sei gegeben. Dem Antrag zu III.1. stehe keine anderweitige Rechtshängigkeit entgegen. Mit dem Antrag zu II.1. möchte er isoliert festgestellt wissen, dass sein Arbeitsverhältnis auf die Beklagte zu 2) übergegangen sei und mit dieser fortbestehe. Der Antrag zu III.1 richte sich darauf, dass mit der Beklagten zu 2) ein Arbeitsverhältnis bestehe. Dies sei der einzig mögliche Antrag, wenn der Betriebserwerber keine Kündigung ausspricht oder aber er, wie vorliegend von einer Kündigung vor Betriebsübergang ausgehe. Die Frage des Betriebsübergangs sei hier nur Vorfrage und nicht Streitgegenstand, so dass der Streitgegenstand nicht identisch sei. Es sei auch unzutreffend, dass der Antrag zu II.1. den Kündigungsschutzantrag gegen die Beklagte zu 2) unschlüssig werden lasse.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Sollte das Gericht feststellen, dass es keinen Betriebsübergang gegeben habe oder dass es bereits vor dem 10.09.2020 zu einem Betriebsübergang gekommen sei, habe das Gericht über den Kündigungsschutzantrag betreffend die Kündigung der Beklagten zu 2) zu befinden. Diese Kündigung sei unwirksam, weil sie sozial nicht gerechtfertigt sei. Das Kündigungsschutzgesetz finde Anwendung. Die Wartezeit sei jedenfalls aufgrund individualrechtlicher Vereinbarung durch das Eckpunktepapier erfüllt. Sein sozialer Besitzstand bei der Beklagten zu 1) sei dadurch jedenfalls ab März 2018 gesichert worden. Er habe dann einem Wechsel zur Beklagten zu 2) zu den identischen Vertragsbedingungen zugestimmt. Weder Vergütung noch Tätigkeit hätten sich ändern sollen. Auf eine neue Erprobung sei es der Beklagten zu 2) nicht angekommen. Der sachliche Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes sei ebenfalls eröffnet. Es sei weiterhin zu bestreiten, dass die Beklagte zu 2) im Kündigungszeitpunkt über keine betrieblichen Strukturen in Deutschland verfügt habe. Dies zeige sich schon daran, dass die Beklagte zu 2) Arbeitsverhältnisse mit 71 Piloten und 55 Flugbegleitern eingegangen sei. Schließlich meine die Anwendung deutschen Arbeitsrechts aus dem Eckpunktepapier auch die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes. Auch gegenüber der Beklagten zu 2) sei der sachliche Geltungsbereich über §§ 23, 24 Abs. 2 KSchG oder aber im Wege verfassungskonformer Auslegung eröffnet.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Unterstelle man, dass die Beklagte zu 2) auf Dauer keinen Flugbetrieb in Deutschland durchführe, hätte diese ihm aufgrund der Versetzungsklausel die nach seinem Vortrag freien Stellen in X. oder auf N. anbieten müssen. Unabhängig davon habe es wie ausgeführt keine Betriebsstilllegung, sondern einen Betriebsübergangen gegeben. Es fehle außerdem ebenso wie bei der Beklagten zu 1) an einer unternehmerischen Entscheidung der Beklagten zu 2) zur Betriebsstillegung. Es gebe aktuell sogar neue OCC-Kurse, so dass die Kündigung sich als unzulässige Austauschkündigung darstelle.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Die Kündigung der Beklagten zu 2) sei wegen einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige unwirksam. Diese habe auf N. gestellt werden müssen und nicht per Telefax erfolgen dürfen. Die Gründe für die Entlassung seien nur floskelartig angegeben. Die Massenentlassungsanzeige sei auch deshalb unwirksam, weil die Beklagte zu 2) die Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG der Agentur für Arbeit nicht vor Zugang der Kündigung mitgeteilt habe. Der Kläger begründet im Einzelnen, warum diese Angaben bei unionsrechtskonformer Auslegung Wirksamkeitsvoraussetzung sei. Gründe des Vertrauensschutzes stünden dem nicht entgegen. Soweit die Beklagte zu 2) behauptet, dass diese Angaben der Agentur für Arbeit im Kündigungszeitpunkt zugänglich gewesen seien, bestreitet der Kläger dies mit Nichtwissen. Dies reiche aber ohnehin nicht aus, weil die Soll-Angaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG in der Massenentlassungsanzeige zu machen seien. Außerdem habe die Beklagte zu 1) - wie ausgeführt - den Antrag auf Kurzarbeitergeld bei der Agentur für Arbeit in Würzburg und nicht bei derjenigen in Düsseldorf gestellt.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist der Ansicht, das Arbeitsgericht habe die Zahlungsanträge zu Unrecht abgewiesen. Zunächst habe - wie ausgeführt - ein Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2) vorgelegen, so dass diese für die geltend gemachten Annahmeverzugslohnansprüche der Monate November 2020 und Dezember 2020 hafte. Soweit er die Beklagte zu 1) hilfsweise in Anspruch genommen habe, liege darin eine zulässige Antragstellung, weil es sich bei den beiden Beklagten um notwendige Streitgenossen gehandelt habe. Es sei keine unzulässige außerprozessuale Bedingung gegeben. Sollte das Gericht in der Verknüpfung eine unzulässige außerprozessuale Bedingung sehen, würden die Zahlungsanträge unbedingt gestellt. Da er nicht wissen könne, wie das Gericht den Sachverhalt (hier Betriebsübergang) bewerte, dürfe er auch sich widersprechende Anträge stellen. Sein vordringliches Klageziel sei die Feststellung, dass das mit der Beklagten zu 1) begründete Arbeitsverhältnis spätestens zum 01.11.2020 mit der Beklagten zu 2) fortbestehe. Damit verknüpft sei die Geltendmachung der Vergütungsansprüche. Da er nicht wissen könne, wie die erkennende Kammer in Bezug auf den Betriebsübergang entscheide, stelle er die restlichen Vergütungsansprüche nach dem Betriebsübergang gegen die Beklagte zu 1) (unbedingt). Also seien diese Klageanträge für den Fall gestellt, dass die erkennende Kammer zu der Entscheidung gelange, dass kein Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2) stattgefunden habe. Es sei ihm unzumutbar, seine Annahmeverzugslohnansprüche unbedingt geltend zu machen, weil er in diesem Fall denknotwendigerweise immer mit zumindest einem Klageantrag unterliege.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">I. das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 25.02.2021 - 9 Ca 5918/20 - teilweise abzuändern</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen ihm und der Beklagten zu 1) durch die Kündigung der Beklagten zu 1) vom 10.09.2020 nicht aufgelöst worden ist;</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">II. das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 06.05.2021 - 9 Ca 1053/21 abzuändern und</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">1.festzustellen, dass das zwischen ihm und der Beklagten zu 1) bestehende Arbeitsverhältnis ab dem 01.11.2020 mit der Beklagten zu 2) zu unveränderten Arbeitsbedingungen fortbesteht;</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">2.die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an ihn Annahmeverzugsvergütung für November 2020 in Höhe von 1.629,94 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.01.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">3.hilfsweise für den Fall, dass das Gericht feststellen sollte, dass sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) nicht spätestens zum 01.11.2020 auf die Beklagte zu 2) übergegangen sein sollte, die Beklagte zu 1) zu verurteilen, an ihn Annahmeverzugsvergütung für November 2020 in Höhe von 1.629,94 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.01.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">4. die Beklagte zu 1) zu verurteilen, an ihn Annahmeverzugsvergütung für November 2020 in Höhe von 1.629,94 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.01.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">5.die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an ihn Annahmeverzugsvergütung für Dezember 2020 in Höhe von 1.382,80 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.02.2021 zu zahlen und</p> <span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">6.hilfsweise für den Fall, dass das Gericht feststellen sollte, dass sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) nicht spätestens zum 01.11.2020 auf die Beklagte zu 2) übergegangen sein sollte, die Beklagte zu 1) zu verurteilen, an ihn Annahmeverzugsvergütung für Dezember 2020 in Höhe von 1.382,80 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.02.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">7. die Beklagte zu 1) zu verurteilen, an ihn Annahmeverzugsvergütung für Dezember 2020 in Höhe von 1.382,80 Euro brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.02.2021 zu zahlen;</p> <span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">III. das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 01.06.2021 - 4 Ca 5890/20 abzuändern und</p> <span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">1.festzustellen, dass zwischen ihm und der Beklagten zu 2) ein Arbeitsverhältnis besteht;</p> <span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">2.festzustellen, dass sein Arbeitsverhältnis zur Beklagten zu 2) durch die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 nicht aufgelöst wurde und</p> <span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">3.für den Fall des Obsiegens mit dem Klageantrag zu Ziffer III.1. oder III.2. die Beklagte zu 2) zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Captain weiter zu beschäftigen.</p> <span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">Betreffend sämtliche zuletzt noch gegen sie gerichteten Berufungsanträge beantragen die Beklagten</p> <span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">die Berufung des Klägers gegen die jeweils bezeichneten Urteile des Arbeitsgerichts Düsseldorf zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">Sie verteidigen die Urteile des Arbeitsgerichts. Etwaige Mängel des Abtrennungsbeschlusses seien gemäß § 295 ZPO unbeachtlich und rechtfertigten keine zweitinstanzliche Abänderung.</p> <span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 1) hat gemeint, ihre Kündigung sei hinreichend bestimmt. Soweit versehentlich der 31.12.2020 aufgrund zu lang gewählter Kündigungsfrist genannt sei, sei die Kündigungserklärung zu diesem ausdrücklich genannten Termin auszulegen. Das Kündigungsschutzgesetz sei weder gemäß §§ 23, 24 KSchG noch in verfassungskonformer Auslegung anwendbar, weil sie nicht lediglich steuernd aus dem Ausland in Deutschland tätig werde, sondern beträchtliche Stationen im Ausland wie in X. und Q. gehabt habe. Auch die Spezialnorm des § 24 Abs. 2 KSchG verlangen, dass ein "Betrieb", nämlich ein "Luftverkehrsbetrieb" in Deutschland liege, was die Gesetzeshistorie belege. Es sei mit dem Grundgesetz vereinbar, dass nicht sämtliche Arbeitsverhältnisse, die dem deutschen Arbeitsrecht unterliegen, unter den Schutz des Kündigungsschutzgesetzes fallen.</p> <span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls lägen aufgrund der Schließung der Basis in B. für die Kündigung dringende betriebliche Gründe vor. Sie habe ausreichend - wie auch vom Arbeitsgericht gesehen - zur Stilllegung sowie deren Umsetzung und auch zu deren Beweggründen vorgetragen. Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten hätten nicht bestanden. Sofern sich der Kläger auf angebliche Beschäftigungsmöglichkeiten bei der Beklagten zu 2) im Ausland berufe, liege kein Fall vor, in dem eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Ausland zu berücksichtigen sei. </p> <span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 1) ist der Ansicht, die Übermittlung der Massenentlassungsanzeige per Telefax sei rechtswirksam. Unabhängig davon behauptet sie, dass sie die Massenentlassungsanzeige am 10.09.2020 zusätzlich um 18.15 Uhr im Original per Kurier an die Agentur für Arbeit in Düsseldorf zugestellt habe. Entgegen der Ansicht des Klägers habe es der Soll-Angaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige nicht bedurft. Der Kläger sei mit dieser erst in zweiter Instanz erhobenen Rüge gemäß § 6 KSchG ausgeschlossen. Sie sei außerdem verspätet gemäß §§ 67 Abs. 2, 61a, 67 Abs. 4 ArbGG. Eine Prüfung von Amts wegen habe nicht zu erfolgen. Schließlich begründet die Beklagte zu 1) im Einzelnen, warum es der Soll-Angaben entgegen einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hessen nicht bedurfte habe und jedenfalls Vertrauensschutz zu gewähren sei. Unabhängig davon behauptet die Beklagte zu 1), die Soll-Angaben seien der Agentur für Arbeit Düsseldorf im Kündigungszeitpunkt aufgrund der Kurzarbeitergeldanträge für sämtliche zu entlassenden Arbeitnehmer bekannt gewesen.</p> <span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">Zunächst komme es auf das Vorliegen eines Betriebs(teil)übergangs nicht an, weil unabhängig davon die bei Zugang der Kündigung feststehende vollständige Schließung bzw. Nichtaufnahme von Basen durch die Beklagten festgestanden habe und dies unabhängig von einem etwaigen Betriebs(teil)übergang einen Kündigungsgrund bilde. Ein solcher liege aber auch nicht vor. Die Beklagten behaupten hierzu, ihre verantwortlichen Personen in 2020 seien nicht identisch, sondern u.a. wie folgt unterschiedlich besetzt gewesen: Accountable Manager: B. H./E. P.; Nominated Person Crew Training: E. Q./K. I.; Nominated Person Ground Operations N. H./T. L.. Aber auch im Übrigen, betreffend CEO, Head of HR, CFO, Head of Sales &Customer Service, Head of Marketing, Compliance Monitoring Manager und Safety and Security Manager habe es unterschiedliche Besetzungen gegeben. Die Beklagte zu 2) habe entgegen dem Berufungsvortrag des Klägers auch nicht die Mehrheit der Mitarbeiter der Beklagten zu 1) übernommen. So seien bereits die 240 Mitarbeiter der Beklagten zu 1) in Deutschland von der Beklagten zu 2) nie tatsächlich beschäftigt worden. Hinzu kämen in X. mehr als 100 ehemalige Mitarbeiter der Beklagten zu 1), die nie bei der Beklagten zu 2) beschäftigt worden seien. Die Entscheidung zur Eröffnung neuer Basen in A. und A. sei erst im März 2021 auf der Basis entsprechender Planungen des Kunden S. DAC final getroffen worden. Jedenfalls erfasse ein - nicht gegebener Betriebsteilübergang - nicht den Kläger. Die Beklagte zu 1) habe außerdem ab Juli 2020 zwar zu einem großen Teil Wet-Lease-Flüge für S. DAC erbracht. Sie habe aber parallel unter ihrem eigen "OE"-Flugcode parallel noch einige Flüge durchgeführt. Eine spezielle Zuteilung von Flugzeugen oder Besatzungen für Wet-Lease einerseits und eigenwirtschaftliche Flüge andererseits habe es nicht gegeben. Auf eine etwaige Versetzungsklausel komme es für die Frage des Betriebsübergangs nicht an. Im Übrigen sei diese durch das Eckpunktepapier abgelöst worden und daher im hier relevanten Zeitraum nicht mehr existent gewesen. Es habe weder einen Betriebsübergang betreffend die Station B. noch betreffend einer Gesamtheit des Wet-Lease-Flugbetriebs gegeben. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die beiden Beklagten unterschiedliche Geschäftsfelder hätten. Die Beklagte zu 1) habe Passagierlinienflüge für die reisende Öffentlichkeit angeboten. Die Beklagte zu 2) erbringe lediglich Charterflüge im Auftrag von Fluggesellschaften. Die Bereitstellung von Wet-Lease-Flügen für die Beklagte zu 1) durch S. DAC für einen zeitlich begrenzten Zeitraum sei eine Folge der verheerenden COVID-19-Pandemie gewesen, habe aber nichts an der völlig unterschiedlichen Geschäftstätigkeit der beiden Beklagten geändert. Insgesamt bleibe Folgendes festzuhalten:</p> <span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">- Das Geschäftsmodell der beiden Beklagten sei vollkommen anders gestaltet</p> <span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">- weder in B. noch in T. sei die Base übernommen worden</p> <span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">- die Organisationsstrukturen (einmal Headoffice N. bei der Beklagten zu 2), einmal Headoffice T. bei der Beklagten zu 1) seien unterschiedlich</p> <span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">- wesentliche Teile der Führungspersonen seien unterschiedlich besetzt</p> <span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">- von den Flugbesatzungen in B. und T. seien gar keine, von den Besatzungen in X. wesentliche Teile nicht bei der Beklagten zu 2) tätig geworden, d.h. vereinfacht "2,5 von 4 Basen" seien nicht fortgeführt worden</p> <span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">- die IT-Soft- und Hardware sei Standard-Software gewesen, die am Markt frei verfügbar sei und insofern sei keine besondere Spezifikation übertragen worden</p> <span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">- Von den Flugzeugen der Beklagten zu 1) sei nur eine vergleichbar sehr geringe Anzahl bei der Beklagten zu 2) im Einsatz</p> <span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Dies alles zeige, dass keine vermeintliche Gesamtheit Wet-Lease-Flugbetrieb übernommen worden sei.</p> <span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">Der Antrag zu II.1 sei zudem bereits unzulässig. Es fehle das erforderliche Feststellungsinteresse betreffend den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten zu 2). Ein isoliertes Feststellungsinteresse bestehe gerade nicht. Gemäß § 325 ZPO genüge die Kündigungsschutzklage gegen die Beklagte zu 1), welche aufgrund der Kündigungsfrist auch den angeblichen Betriebsübergang zum 01.11.2020 erfassen würde. Außerdem handele es sich um ein aufgrund der Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 abgeschlossenes Arbeitsverhältnis. Unabhängig davon sei der Antrag zu II.1. aber mangels Betriebs(teil)übergangs unzulässig. Der Antrag zu III.1 sei unzulässig. Entweder bestehe anderweitige Rechtshängigkeit oder das Feststellungsinteresse fehle.</p> <span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) vertritt die Ansicht, ihre Kündigung vom 10.09.2020 sei wirksam. Wenn der Kläger meine, dass bei Zugang kein Arbeitsvertrag zwischen den Parteien vereinbart gewesen sei, sei die Klage bereits unschlüssig. Unabhängig davon sei bereits der sachliche Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes nicht eröffnet, weil die Beklagte zu 2) weder im Kündigungszeitpunkt noch sonst einen Betrieb i.S.d. Kündigungsschutzgesetzes in Deutschland aufgenommen habe und zwar weder einen solchen i.S.v. § 23 KSchG noch i.S.v. § 24 Abs. 2 KSchG. Jedenfalls habe sie bei Zugang der Kündigung nicht i.d.R. mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt. Außerdem habe der Kläger die Wartezeit nicht erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon liege ein betriebsbedingter Kündigungsgrund vor. Im Rahmen einer Videokonferenz am 09.09.2020 um 14.00 Uhr habe der Flughafen B. den Forderungen der S. DAC bezüglich wirtschaftlicher Konditionen der Zusammenarbeit nicht nachgegeben. Dies sei der Grund dafür gewesen, die Basis in B. zu schließen und den Flugverkehr durch die Beklagte zu 2) gar nicht erst aufzunehmen, weil der einzige Wet-Lease-Kunde, die S. DAC, die von ihr angebotenen Leistungen nicht mehr abnehmen werde. Sie habe detailliert zu den Umständen vorgetragen, die dazu geführt haben, dass sie von der Eröffnung der Base in B. abgesehen habe. Gleiches gelte für die entsprechenden Umsetzungsschritte.</p> <span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">Eine Versetzungsklausel in das Ausland sei mit der Beklagten zu 2) nicht vereinbart gewesen. Das Eckpunktepapier habe eine solche Regelung nicht mehr vorgesehen. Die Beklagte zu 2) habe einen Arbeitsvertrag zu den gleichen Konditionen wie zuletzt bei der Beklagten zu 1) angeboten, d.h. ohne eine solche Versetzungsklausel. Entgegen dem Vortrag des Klägers habe bei ihr bei Ausspruch der Kündigungen an ausländischen Stationen kein ungedeckter Beschäftigungsbedarf bestanden, wie sie dies bereits erstinstanzlich vorgetragen und erläutert habe. Noch Anfang 2021 hätten außerdem in Q. einige Piloten für den Sommer 2021 50%-Teilzeitverträge akzeptiert, um einen andernfalls nötigen Personalabbau zu verhindern. Es sei für sie als Wet-Lease-Dienstleister dabei auch entscheidend, wo die Basen liegen. Es gehe um die langfristige Durchführung von Wet-Lease-Diensten für die S. DAC. Im Rahmen des low-cost-Geschäftsmodells sei dies nur möglich, wenn keine teuren out-of-Base-Zulagen und Transfers bezahlt werden müssten. Insofern bestehe eine funktionelle Verknüpfung der Betriebsmittel an einer Basis. S. DAC bediene sich ab dem 01.01.2020 für Flüge ab deutschen Basen des Dienstleisters N. Air, welche einen anderen Flugzeugtyp (Boeing) einsetze. Unabhängig von allem Vorstehenden liege keine Situation vor, in der das Bundesarbeitsgericht erwogen habe, dass eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Ausland zu berücksichtigen sei. Auf die Tätigkeit als Line-Kapitän komme es ohnehin nicht an, weil die Stelle aus August 2020 resultiere und es sich außerdem nur um eine Zusatzaufgabe für einen Piloten und nicht eine Neueinstellung als Pilot handele. Es habe sich um eine Betriebsstillegung und nicht - wie ausgeführt - um einen Betriebsübergang gehandelt.</p> <span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Sie - die Beklagte zu 2) - betreffend habe es mangels Betriebs überhaupt keiner Massenentlassungsanzeige bedurft. Wenn erforderlich, sei die Anzeige jedenfalls zutreffend in B. und nicht auf N. oder in X. erstattet worden. Die Beklagte zu 2) ist der Ansicht, die Übermittlung der Massenentlassungsanzeige per Telefax sei rechtswirksam. Unabhängig davon behauptet sie, dass sie die Massenentlassungsanzeige am 10.09.2020 zusätzlich um 18.15 Uhr im Original per Kurier an die Agentur für Arbeit in Düsseldorf zugestellt habe.</p> <span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Auch im Hinblick auf die Beklagte zu 2) seien die Soll-Angaben der zu entlassenden Arbeitnehmer für die Agentur für Arbeit Düsseldorf aufgrund des gewährten Kurzarbeitergeldes offenkundige Tatsachen gewesen, weil sämtliche Mitarbeiter zuvor bei der Beklagten zu 1) beschäftigt waren.</p> <span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Mangels Betriebsübergangs bestünden gegen die Beklagte zu 2) keine Zahlungsansprüche. Die Zahlungsanträge gegen die Beklagte zu 1) - so die Beklagten - blieben unzulässig, weil sie unter einer außerprozessualen Bedingung stünden. Entgegen der Ansicht des Klägers seien Betriebsveräußerer und Betriebsübernehmer keine notwendigen Streitgenossen. Die in zweiter Instanz neu gestellten Anträge gegen die Beklagte zu 1) seien ebenfalls unzulässig. Der Klageerweiterung werde nicht zugestimmt. Zwar seien diese Anträge vom Wortlaut her unbedingt formuliert. Ausweislich der Klagebegründung blieben sie aber weiterhin bedingt für den Fall, dass kein Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2) stattgefunden habe und stünden ebenfalls unter einer außerprozessualen Bedingung. Selbst wenn man die Anträge als eigenständige Anträge ansehen wollte, blieben sie unzulässig, weil doppelt rechtshängig. Daran ändere die von der Kammer angedachte Auslegung als Haupt- und Hilfsantrag nichts. Jedenfalls seien die Anträge, wie von der 11. Kammer des Arbeitsgerichts in einem Parallelverfahren ausgeführt, unbegründet. Entweder liege eine einvernehmliche Freistellung zu den angebotenen Bedingungen vor oder es fehle am wörtlichen Angebot des Klägers. Jedenfalls seien sie unschlüssig, weil für die Berechnung nicht auf die Vormonate abgestellt werden dürfe. Sollte das Gericht die Verzugslohnansprüche für zulässig erachten und den Ausführungen der 11. Kammer nicht folgen, haben die Beklagten um einen richterlichen Hinweis gebeten.</p> <span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen in beiden Instanzen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E:</p> <span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">A.Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die im Jahre 2020 eingegangenen Klagen gegen beide Beklagte folgt aus Art. 66 Abs. 1, 20 Abs. 1, 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (EUGVVO). Es handelt sich bei den arbeitsgerichtlichen Klagen um zivilrechtliche Streitigkeiten i.S.v. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 EUGVVO (BAG 07.05.2020 - 2 AZR 692/19, Rn. 16). Der für die Anwendung der EUGVVO erforderliche Auslandsbezug besteht, weil die Beklagten ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben. Als Arbeitgeber mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats können sie in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Gericht des Ortes, an dem oder von dem aus ihr Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, verklagt werden (Art. 20 Abs. 1, 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i EUGVVO). Der Kläger hat seine Arbeit für die Beklagte zu 1) von B. aus verrichtet. Er hat von diesem Standort aus seine Flugdienste regelmäßig begonnen und dort auch wieder beendet. Entsprechendes sollte auch für seine Arbeit bei der Beklagten zu 2) gelten. Da er für diese noch keine Arbeit verrichtet hat, sind bereits aus diesem Grund die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i EUGVVO erfüllt (EuGH 25.02.2021 - C-804/19 [Markt24], Rn. 39 ff.).</p> <span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">B.Die zulässigen Berufungen des Klägers sind weitgehend unbegründet. Sie haben lediglich betreffend die gegen die Beklagte zu 1) gerichteten Zahlungsanträge zu II.4. und II.7. Erfolg. Im Übrigen haben die Berufungen des Klägers keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">I.Der gegen die Beklagte zu 1) gerichtete Kündigungsschutzantrag (Antrag zu I.) ist unbegründet, weil die Kündigung der Beklagten zu 1) vom 10.09.2021 das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31.12.2020 rechtswirksam beendet hat.</p> <span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">1. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers zu der Beklagten zu 1) findet aufgrund der im Eckpunktepapier getroffenen Rechtswahl gemäß Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 (Rom I-VO) deutsches Recht Anwendung. Gemäß Art. 12 Abs. 1 lit. d Rom I-VO folgen die Regelungen über das Erlöschen von Verpflichtungen aus einem Vertrag und somit auch das Recht seiner Kündigung einschließlich des allgemeinen Kündigungsschutzes grundsätzlich dem Recht des Staates, das auf den Arbeitsvertrag Anwendung findet (BAG 24.08.1989 - 2 AZR 3/89).</p> <span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">Im Eckpunktepapier haben der Kläger und die Beklagte zu 1) Anfang Juli 2020 die in ihrem ursprünglichen Arbeitsvertrag vereinbarte Anwendung ÷. Rechts zugunsten des deutschen Rechts derogiert. Im Eckpunktepapier ist u. a. vereinbart, dass die Beklagte zu 1) ab dem 01.07.2020 das deutsche Arbeitsrecht auf alle ihre in Deutschland direkt angestellten Piloten anwendet. Zudem wurde in den Anfang Juli 2020 zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1) gewechselten E-Mails vereinbart, dass das Eckpunktepapier ab dem 01.07.2020 die bisherigen Bedingungen und Konditionen ersetzt bzw. an deren Stelle tritt. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Rom I-VO gestattet es den Parteien, eine einmal getroffene Rechtswahl jederzeit wieder abzuändern (MüKoBGB/Martiny, 8. Aufl. 2021, Rom I-VO Art. 3 Rn. 77; BeckOGK/Wendland, Stand 01.09.2021, Rom I-VO Art. 3 Rn. 202; OGH 25.11.2014 - 8 ObA 34/14d; im Internetabrufbar unter https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Justiz&Dokumentnummer=JJT_20141125_OGH0002_008OBA00034_14D0000_000). Anhaltspunkte für eine Unwirksamkeit dieser ändernden Rechtswahlvereinbarung auf der Grundlage des gewählten deutschen Rechts (Art. 3 Abs. 5 Rom I-VO i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO; s.a. BeckOGK/Wendland, Stand 01.09.2021, Rom I-VO Art. 3 Rn. 209) bestehen nicht. Im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Klägers in Deutschland ist davon gemäß Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO keine Abweichung veranlasst. Das deutsche Recht sieht im Übrigen für abändernde Rechtswahlklauseln keine Form vor (BGH 22.01.1997 - VII ZR 339/95, Rn. 31; BeckOK/Spickhoff, Stand 01.08.2021 VO (EG) 593/2008 Art. 3 Rn. 33). Die Rechtswahl entspricht dabei im Hinblick auf den vereinbarten Einsatzort des Flugpersonals in B. außerdem der objektiven Anknüpfung gemäß Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (in diesem Sinne wohl BAG 20.12.2012 - 2 AZR 481/11; EuGH 14.09.2017 - C-168/16; HWK/Tillmanns 9. Aufl. Rom I-VO Art. 9 Rn. 19 m. w. N.). Eine gesonderte Klauselkontrolle für vorformulierte Rechtswahlklauseln kommt nicht in Betracht. Insoweit wird über Art. 8 I Rom I-VO ein spezifisch kollisionsrechtlicher Schutz vor den Folgen einer Rechtswahl verwirklicht (ErfK/Schlachter, 22. Aufl. 2022, Rn. 6).</p> <span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von Vorstehendem gehen die Parteien in beiden Tatsacheninstanzen übereinstimmend von der Anwendbarkeit deutschen Rechts aus (vgl. zu einer - gemäß Art. 3 Abs. 2 Rom I-VO auch nachträglich möglichen - Rechtswahl BGH 19.01.2000 - VIII ZR 275/98, Rn 28; BGH 09.06.2004 - I ZR 266/00, Rn. 36 m. w. N.). Es geht hierbei auch nicht um die Frage einer bloß irrigen Rechtsansicht. Die Parteien gehen übereinstimmend von der Anwendbarkeit deutschen Rechts aus, wie sie noch einmal in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben. Unter Berücksichtigung sämtlicher vorgetragenen Umstände in diesem Verfahren liegt jedenfalls eine stillschweigende Rechtswahl deutschen Rechts vor (vgl. dazu z.B. BeckOGK/Wendland, Stand 01.09.2021, Rom I-VO Art. 3 Rn. 131 ff; 179 ff.; zur stillschweigenden nachträglichen Rechtswahl Ferrari, Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl. 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 3 Rn. 43), denn den Parteien ist bewusst, dass ursprünglich österreichisches Recht vereinbart war und durch das Eckpunktepapier jetzt deutsches Recht zur Anwendung kommen soll. Genau auf dieser Rechtswahlgrundlage haben die Parteien sich verhalten und den Prozess geführt. Das Eckpunktepapier soll insgesamt zur Anwendung kommen, wie z.B. die Klage auf die Sektorzulage gerade auf der Grundlage des Eckpunktepapiers unter Berücksichtigung der Einlassung der Beklagten zu 1) dazu zeigt. Die Parteien streiten außerdem - mit insoweit unterschiedlichen Ergebnissen - sogar darüber, ob durch die Vereinbarung deutschen Arbeitsrechts gleichzeitig auch das deutsche Kündigungsschutzgesetz gilt. Dieser Streit ergibt nur auf der Grundlage des überhaupt vereinbarten deutschen Arbeitsrechts Sinn, was keine Partei - wie ausgeführt - in Abrede stellt. Es ist deshalb, nach den Umständen dieses konkreten Falles kein vernünftiger Grund gegeben, am realen Willen der Parteien zu zweifeln, sich unter den beiden in Betracht kommenden Rechten (×. und Deutschland) für die deutsche Rechtsordnung mit Geltungsabsicht zu entscheiden (vgl. a. OGH 25.11.2014 - 8 ObA 34/14d a.a.O.). In diesem konkreten Fall ist dann, so im Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 2 Rom I-VO überhaupt erforderlich, auch ein etwaiges - vom Kläger ohnehin nicht geltend gemachtes und ggfs. auch doppeltes - Schriftformerfordernis aus dem ÷. Arbeitsvertrag von den Parteien stillschweigend abbedungen (vgl. dazu BeckOGK/Wendland Stand 01.09.2021, Rom I-VI Art. 3 Rn. 210; sogar für eine mögliche Heilung ursprünglicher Formnichtigkeit durch Statutenwechsel Ferrari, Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl. 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 3 Rn. 46; MüKoBGB/Martiny, 8. Aufl. 2021, Rom I-VO Art. 3 Rn. 81). Hier kommt noch hinzu, dass zu dem Eckpunktepapier wechselseitige Erklärungen i.S.v. Angebot und Annahme per E-Mail ausgetauscht worden sind und die Schriftformklausel eine vertragliche Vereinbarung der Parteien ist. Es besteht zur Überzeugung der Kammer keinerlei Zweifel, dass von den Parteien die Geltung des Eckpunktepapiers mit der Anwendbarkeit deutschen Arbeitsrechts einvernehmlich gewollt ist.</p> <span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">2.Die Passivlegitimation der Beklagten zu 1) als Beklagte des Kündigungsrechtsstreits wird von einem etwaigen nach der Klageerhebung erfolgten Betriebsübergang nicht berührt. Der Rechtsstreit kann von der bisherigen Beklagten auch in einem solchen Fall in entsprechender Anwendung von §§ 265, 325 ZPO fortgesetzt werden (BAG 16.05.2002 - 8 AZR 320/01; 16.05.2006 - 6 AZR 249/05, Rn. 16; 20.03.1997 - 8 AZR 769/95, Rn. 20). Anhaltspunkte dafür, dass ein Betriebsübergang bereits vor Ausspruch der Kündigung der Beklagten zu 1) stattgefunden hätte mit der Folge, dass der Klageantrag zu I. bereits in Ermangelung eines zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bestehenden Arbeitsverhältnisses abzuweisen wäre, bestehen nicht. Die Beklagte zu 1) hat unstreitig bis Oktober 2020 ihren Flugbetrieb in B. fortgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">3.Die Kündigung der Beklagten zu 1) gilt nicht schon gemäß §§ 4, 7 KSchG als rechtswirksam. Die Klage wurden gemäß § 4 KSchG binnen drei Wochen nach Zugang beim Arbeitsgericht erhoben.</p> <span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">4.In Bezug auf die Schriftform (§ 623 BGB) bestehen keine Wirksamkeitsbedenken.</p> <span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">5.Die Kündigung der Beklagten zu 1) ist hinreichend bestimmt. Sie ist zum 31.12.2020 ausgesprochen.</p> <span class="absatzRechts">203</span><p class="absatzLinks">a.Eine Kündigung muss als empfangsbedürftige rechtsgestaltende Willenserklärung so bestimmt sein, dass der Empfänger Klarheit über die Absichten des Kündigenden erhält. Der Kündigungsadressat muss erkennen können, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis aus Sicht des Kündigenden beendet sein soll. Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist nicht allein auf ihren Wortlaut abzustellen. Zu würdigen sind alle Begleitumstände, die dem Erklärungsempfänger bekannt waren und die für die Frage erheblich sein können, welchen Willen der Erklärende bei Abgabe der Erklärung hatte. Das Erfordernis der Bestimmtheit einer ordentlichen Kündigung verlangt vom Kündigenden nicht, den Beendigungstermin als konkretes kalendarisches Datum ausdrücklich anzugeben. Es reicht aus, wenn der gewollte Beendigungstermin für den Kündigungsempfänger zweifelsfrei bestimmbar ist. Auch eine Kündigung "zum nächstzulässigen Termin" ist hinreichend bestimmt, wenn dem Erklärungsempfänger die Dauer der Kündigungsfrist bekannt oder für ihn bestimmbar ist. Sie ist typischerweise dahin zu verstehen, dass der Kündigende die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu dem Zeitpunkt erreichen will, der sich bei Anwendung der einschlägigen gesetzlichen, tarifvertraglichen und/oder vertraglichen Regelungen als rechtlich frühestmöglicher Beendigungstermin ergibt. Der vom Erklärenden gewollte Beendigungstermin ist damit objektiv eindeutig bestimmbar. Dies ist jedenfalls dann ausreichend, wenn die rechtlich zutreffende Frist für den Kündigungsadressaten leicht feststellbar ist und nicht umfassende tatsächliche Ermittlungen oder die Beantwortung schwieriger Rechtsfragen erfordert. Eine Kündigung ist dagegen nicht hinreichend bestimmt, wenn in der Erklärung mehrere Termine für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses genannt werden und für den Erklärungsempfänger nicht erkennbar ist, welcher Termin gelten soll (vgl. zu allem BAG 10.04.2014 - 2 AZR 647/13, Rn. 14 ff. m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">204</span><p class="absatzLinks">b.In Anwendung dieser Grundsätze ist die Kündigung der Beklagten zu 1) hinreichend bestimmt zum 31.12.2020 ausgesprochen. Zunächst ist für den Kläger, entgegen seiner Ansicht, das im ersten Satz der Kündigungserklärung in Fettdruck genannte Datum 31.10.2020 kein möglicher Kündigungstermin. Dieser Zeitpunkt ist für den Kläger erkennbar irrelevant. Es handelt sich lediglich um den - unabhängig von der konkreten Kündigungsfrist - frühestens von der Beklagten zu 1) gewollten Kündigungstermin, der bei der für den Kläger längeren Kündigungsfrist nicht einschlägig ist. Diese wird sodann in Satz zwei des ersten Absatzes des Kündigungsschreibens auch benannt. Die Beklagte zu 1) geht in der Erklärung von einer Kündigungsfrist von drei Monaten aus und nennt den 31.12.2020 als den nach ihrer Berechnung sich ergebenden Beendigungstermin. Daran muss sie sich als einzig benanntem Kündigungstermin auch aus der Sicht der objektiv gewerteten Sicht des Klägers als Erklärungsempfänger festhalten lassen.</p> <span class="absatzRechts">205</span><p class="absatzLinks">Richtig ist allerdings, dass die Kündigungsfrist des für das Arbeitsverhältnis des Klägers maßgeblichen Eckpunktepapiers in dessen einleitenden vierten Absatz eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Fünfzehnten oder Monatsletzten vorsieht. Richtig ist auch, dass die Kündigungserklärung auf die Kündigungsfrist "gemäß Ihrem Arbeitsvertrag" abstellt und in Satz eins eine Kündigung "unter Beachtung der für Ihr Arbeitsverhältnis geltenden Kündigungsfrist ordentlich fristgerecht zum nächstmöglichen Zeitpunkt" vorsieht. Bei Zugang der Kündigung am 11.09.2020 war nächstmöglicher Zeitpunkt objektiv der 15.12.2020. Dennoch ist für den Kläger als Empfänger erkennbar, dass der spätere Termin des 31.12.2020 gelten soll, weil dieser als einziger ausdrücklich genannt ist. Die Kündigungserklärung datiert auf den 10.09.2020, d.h. auf einen Zeitpunkt kurz vor dem 15.09.2020. Wenn die Beklagte dann den 31.12.2020 als den nach ihrer Berechnung richtigen Beendigungstermin nennt, ergibt sich aus der Sicht des Klägers, dass die Beklagte zu 1) unabhängig von einem Zugang vor oder nach dem 15.09.2020 erkennbar den 31.12.2020 als den "nächstmöglichen Termin" ansieht bzw. "berechnet" hat. Dies mag ausgehend vom tatsächlichen Zugangszeitpunkt fehlerhaft sein. Es handelt sich indessen um eine standardisierte Kündigungserklärung, was sich schon an der Angabe des frühestens möglichen Kündigungstermins in Satz eins des ersten Absatzes der Kündigungserklärung zeigt. Richtig ist zwar, dass im zweiten Satz des ersten Absatzes auf die konkrete Kündigungsfrist für das Arbeitsverhältnis des Klägers abgestellt wird. Die Beklagte zu 1) benennt dabei eine Kündigungsfrist von drei Monaten, ohne indes bei der Beschreibung der Kündigungsfrist in der Kündigungserklärung die beiden Kündigungstermine Fünfzehnter und Monatsletzter anzugeben. Hinzu kommt, dass bei einer Kündigungserklärung vom 10.09.2020 - wie ausgeführt - ersichtlich auch der 15.12.2020 als Beendigungstermin in Betracht käme. Wenn die Beklagte zu 1) gleichwohl den 31.12.2020 als Beendigungstermin nennt und in der Beschreibung der konkret für den Kläger geltenden Kündigungsfrist (drei Monate) die beiden möglichen Kündigungstermine nicht nennt, muss sie sich an dem 31.12.2020 als konkret bezeichneten Kündigungstermin aus der Sicht des Klägers festhalten lassen. Der Sachverhalt ist mit dem der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 15.05.2013 (- 5 AZR 130/12 -,) nicht vergleichbar, bei der eine "fristgemäß" zu einem bestimmten, aber zu frühen Termin ausgesprochene Kündigung als solche unter Wahrung der maßgeblichen Kündigungsfrist ausgelegt wurde. In einem solchen Fall kann der Empfänger erkennen, dass der Arbeitgeber die maßgebliche Frist einhalten wollte und sich das angegebene Datum lediglich als das Ergebnis einer fehlerhaften Berechnung der zutreffenden Kündigungsfrist erweist; eine mit zu kurzer Frist ausgesprochene Kündigung ist grundsätzlich unwirksam (BeckOGK/Klumpp, Stand 01.10.2021, § 622 Rn. 111). Anders liegt es, wenn die Kündigung wie hier mit einem über das Mindestmaß hinausgehenden Beendigungstermin ausgesprochen wird. Die Sorge des Kündigenden, dass die Kündigung nach § 622 BGB deshalb unwirksam wäre, besteht nicht und ist daher auch nicht bei der Auslegung zu berücksichtigen. Auch im Übrigen ist der Fall nicht vergleichbar, weil nicht nur "fristgemäß" und unter Angabe eines Datums gekündigt wurde. Vielmehr kommen die oben genannten Umstände, d.h. insbesondere das Abfassen des Schreibens am 10.09.2020 und die Nichtnennung der beiden Kündigungstermine Fünfzehnter und Monatsletzter bei der Beschreibung der konkreten Kündigungsfrist, hinzu. Es verbleibt zur Überzeugung der Kammer in diesem Fall bei dem konkret angegebenen Beendigungsdatum. Der Kläger als Empfänger muss nicht annehmen, dass das Arbeitsverhältnis früher enden soll (vgl. i.E. auch LAG Hamm 16.06.2021 - 10 Sa 122/21; grundsätzlich zustimmend BeckOGK/Klumpp, Stand 01.10.2021, § 622 Rn. 113, jurisPK-BGB/Reichold, Stand 28.10.2021, § 130 Rn. 44.1). Eine etwaige in erster Instanz im Gütetermin seitens der Beklagten zu 1) nachträglich geäußerte Auslegung ist für die Bewertung des objektiven Empfängerhorizonts des Klägers bei Zugang der Kündigung jedenfalls in Ansehung des konkret hier zu beurteilenden Kündigungsschreibens nicht maßgeblich.</p> <span class="absatzRechts">206</span><p class="absatzLinks">Soweit im nachfolgenden Absatz der Kündigungserklärung um Rückgabe von firmeneigenen Arbeitsmitteln "unverzüglich nach Beendigung Ihres Arbeitsverhältnisses, spätestens aber bis zum 6. November 2020" gebeten wird, verändert dies bei verständiger Würdigung nicht den zuvor mitgeteilten Beendigungszeitpunkt. Denn in dem Folgeabsatz geht es nicht mehr um die Regelung des Beendigungszeitpunkts, zu dem die Kündigung wirken soll, sondern um Abwicklungsmodalitäten. Die Tätigkeiten der Arbeitnehmer sollten bis zum 31.10.2020 fortgesetzt werden, wie aus der Angabe "frühestens aber zum 31.10.2020" bei der Bestimmung des Kündigungstermins im ersten Absatz deutlich hervorgeht. Der zweite Absatz meinte daher offensichtlich und für den objektiven Erklärungsempfänger ohne weiteres verständlich, dass die Arbeitsmittel "unverzüglich nach Beendigung Ihrer Tätigkeit, spätestens aber bis zum 6. November 2020" zurückzugeben seien. Ebenso kann dies unabhängig davon so verstanden werden, dass die Rückgabe nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses (z.B. 31.10.2020) erfolgt oder - wenn die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wie vorliegend erst später erfolgte - bis zum 06.11.2020. Ein anderer Beendigungstermin als der 31.12.2020 ergibt sich so ebenfalls nicht. In Anwendung der genannten Auslegungsgrundsätze ist der Kündigungstermin hinreichend bestimmt angegeben.</p> <span class="absatzRechts">207</span><p class="absatzLinks">6.Die Kündigung ist nicht sozial ungerechtfertigt nach § 1 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 KSchG.</p> <span class="absatzRechts">208</span><p class="absatzLinks">a.Die gesetzlichen Voraussetzungen für den persönlichen und betrieblichen Anwendungsbereich des § 1 KSchG sind für das Arbeitsverhältnis des Klägers zu der Beklagten zu 1) erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">209</span><p class="absatzLinks">aa.Das Arbeitsverhältnis des Klägers hat gemäß § 1 Abs. 1 KSchG im Betrieb oder Unternehmen der Beklagten zu 1) unstreitig länger als sechs Monate bestanden.</p> <span class="absatzRechts">210</span><p class="absatzLinks">bb.Die gesetzlichen Voraussetzungen des betrieblichen Anwendungsbereichs des § 1 KSchG der §§ 23, 24 KSchG sind erfüllt. Die Beklagte zu 1) unterhielt als Gesellschaft ÷. Rechts nach hier vertretener Auffassung jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung dieser Normen einen Betrieb im räumlichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes.</p> <span class="absatzRechts">211</span><p class="absatzLinks">(1)Nach seinem räumlichen Geltungsbereich erfasst § 23 KSchG nach herrschender Auffassung grundsätzlich nur inländische Betriebe (vgl. etwa BAG 09.10.1997 - 2 AZR 64/97; 03.06.2004 - 2 AZR 386/03; 17.01.2008 - 2 AZR 902/06; 26.03.2009 - 2 AZR 883/07; 08.10.2009 - 2 AZR 654/08; 29.08.2013 - 2 AZR 809/12, Rn. 32; 24.05.2018 - 2 AZR 54/18, Rn. 29). Das ergebe die am Wortlaut, an der Systematik und der Entstehungsgeschichte sowie an Sinn und Zweck des § 23 KSchG orientierte Auslegung (krit. zu dieser Rspr. etwa LAG I. 22.03.2011 - 1 Sa 2/11, Rn. 30 ff., 34 ff; Deinert, ArbuR 2008, 300 ff; Pomberg, EWiR 2008, 667; Gravenhorst, jurisPR-ArbR 31/2008 Anm. 1; Straube, DB 2009, 1406-1408; Junker, FS Konzen 2006, 367, HWK/Quecke, 9. Aufl. 2020, § 23 Rn. 2 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">212</span><p class="absatzLinks">Für die räumliche Lage eines Betriebes ist entscheidend, wo schwerpunktmäßig über Arbeitsbedingungen und Organisationsfragen sowie darüber entschieden wird, in welcher Weise Einstellungen, Entlassungen und Versetzungen vorgenommen werden. Der allgemeine Betriebsbegriff des § 23 KSchG knüpft an die organisatorische Einheit an. Eine betriebliche Struktur setzt einen einheitlichen organisatorischen Einsatz der Betriebsmittel und der Personalressourcen voraus. Die einen Betrieb konstituierende Leitungsmacht wird dadurch bestimmt, dass der Kern der Arbeitgeberfunktionen in personellen und sozialen Angelegenheiten von derselben institutionalisierten Leitung im Wesentlichen selbständig ausgeübt wird (BAG 03.06.2004 - 2 AZR 386/03).</p> <span class="absatzRechts">213</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 1) beschäftigte danach zwar über Jahre verstetigt und koordiniert Mitarbeiter in Deutschland unter Einsatz erheblicher materieller Betriebsmittel. Sie unterhielt aber jedenfalls nach ihrem Vortrag keinen Betrieb oder ähnliches i.S.v. § 23 KSchG in Deutschland, von dem ausgehend der einheitliche Einsatz der Betriebsmittel und der Arbeitnehmer im Inland gesteuert wurde. Vielmehr erfolgte die Leitung des Flugbetriebs ausschließlich von X. aus. Der am Standort B. eingesetzte "Base Captain" hatte nach dem Vortrag der Beklagten zu 1) keine Weisungsbefugnisse und fungierte lediglich als Bindeglied für die Kommunikation zwischen dem Flugpersonal und der Leitung in X.. Von dort gingen alle maßgeblichen Weisungen aus.</p> <span class="absatzRechts">214</span><p class="absatzLinks">(2)Es ist streitig, ob ein Flugbetrieb i. S. d. § 24 KSchG in gleicher Weise wie der allgemeine Betrieb i. S. d. § 23 KSchG als räumliche Anknüpfung eine im Inland gelegene Betriebsstätte erfordert, von der ausgehend der einheitliche Einsatz von Betriebsmitteln und Arbeitnehmern im Inland gesteuert wird.</p> <span class="absatzRechts">215</span><p class="absatzLinks">(a)Die Fiktion des § 24 Abs. 2 KSchG grenzt Luftverkehrs- und Schifffahrtsbetriebe zunächst nur auf zweierlei Weise vom allgemeinen Betrieb i. S. d. § 23 KSchG ab: Zum einen trennt sie die Schiffe bzw. Luftfahrzeuge von ihren zugehörigen Land- bzw. Bodenbetrieben (vgl. dazu BAG 28.12.1956 - 2 AZR 207/56; 28.02.1991 - 2 AZR 517/90; LAG C.-Brandenburg 16.11.2010 - 7 Sa 1354/10). Zum anderen verhindert sie, dass ein einzelnes Luftfahrzeug, See- oder Binnenschiff als Betrieb angesehen wird, indem es deren Gesamtheit als den Betrieb i. S. d. Ersten und Zweiten Abschnitts des Gesetzes fingiert.</p> <span class="absatzRechts">216</span><p class="absatzLinks">(b)Der Betriebsbegriff des § 24 BetrVG ist andererseits aber nicht völlig losgelöst von § 23 KSchG, sondern modifiziert diesen lediglich. Auch ein Flugbetrieb i. S. d. § 24 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG fällt aber nur dann unter den Geltungsbereich des Ersten und Zweiten Abschnitts des KSchG, wenn darin gemäß § 23 Abs. 1 Sätze 2 - 4 KSchG mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden (BAG 28.12.1956 - 2 AZR 207/56). Selbst wenn es sich bei dem Betriebsbegriff des § 24 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 KSchG um einen eigenständigen Betriebsbegriff handelt (BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 57), modifiziert die Norm doch lediglich den Betriebsbegriff des § 23 Abs. 1 KSchG (LAG C.-Brandenburg 26.03.2015 - 26 Sa 1513/14, 26 Sa 1632/14, Rn. 41; Linck/Krause/Bayreuther, 16. Aufl. 2019, § 24 Rn. 8 m. w. N.). Es bestünde kein sachlicher Grund, diese Betriebe vom Schutz der Kleinbetriebsklausel (§ 23 Abs. 1 S. 2 - 4 KSchG) auszunehmen, zumal vor Inkrafttreten von § 24 KSchG bzw. der Vorgängernorm § 22 KSchG aF historisch gar kein Kündigungsschutz für Flugbetriebe bestand (vgl. MüKoBGB/Hergenröder, 8. Auf. 2020 § 24 KSchG Rn. 1 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">217</span><p class="absatzLinks">(c)Betriebe i. S. d. § 24 KSchG verfügen regelmäßig nicht über eine Binnen-Leitungsstruktur innerhalb der Gesamtheit ihrer Schiffe bzw. Luftfahrzeuge. Sie werden gewöhnlich von Land- oder Bodenbetrieben aus geleitet. Zugleich befinden sich die in § 24 angesprochenen Schiffe bzw. Luftfahrzeuge typischerweise in grenzüberschreitendem Einsatz. Beides führt zu der Frage, wie der räumliche Geltungsbereich des Ersten und Zweiten Abschnitts für Betriebe der Schifffahrt und des Luftverkehrs i. S. d. §§ 23, 24 KSchG zu bestimmen ist.</p> <span class="absatzRechts">218</span><p class="absatzLinks">(aa)Das Bundesarbeitsgericht nimmt an, der Gesetzgeber habe die Betriebe der Schifffahrt und des Luftverkehrs einer eigenständigen Regelung zugeführt und damit "diese Sachverhalte unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten mit einem Anknüpfungspunkt in der Bundesrepublik Deutschland versehen". Mit der in § 24 Abs. 2 KSchG (bzw. seinerzeit § 24 Abs. 1 Satz 2 KSchG aF) enthaltenen Fiktion habe der Gesetzgeber gerade auch Lebenssachverhalte erfasst, bei denen typischerweise Auslandsberührungen zu erwarten sind (BAG 17.01.2008 - 2 AZR 902/06, Rn. 25).</p> <span class="absatzRechts">219</span><p class="absatzLinks">Damit wäre der Geltungsbereich des § 24 KSchG räumlich nicht begrenzt und erfasste auch Betriebe der Schifffahrt und des Luftverkehrs, deren Boden- und Landbetriebe im Ausland angesiedelt sind, deren Fahrzeuge vielleicht nur gelegentlich oder auch gar nicht das Gebiet der Bundesrepublik berühren. Es genügte die Anwendung deutschen Rechts nach den Regeln des Internationalen Privatrechts (so LAG C.-Brandenburg 26.03.2015 - 26 Sa 1513/14, 26 Sa 1632/14, Rn. 40 f.). In diesem Fall würden für die Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 2 Sätze 2-4 KSchG nur Arbeitnehmer mit deutschem Arbeitsvertragsstatut zählen (BAG 17.01.2008 - 2 AZR 902/06, Rn. 22; str., aA etwa Deinert, ArbuR 2008, 300 ff).</p> <span class="absatzRechts">220</span><p class="absatzLinks">(bb)Demgegenüber verlangt das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (17.09.2021 - 7 Sa 32/21) auch für Betriebe des Luftverkehrs i. S. v. § 24 KSchG einen im Inland gelegenen einheitlichen Leitungsapparat, d.h. einen solchen vom Land oder Boden aus. Offen bleibt dabei, wo bzw. wie ein solcher Leitungsapparat "innerhalb der Gesamtheit der Luftfahrzeuge" eines Luftverkehrsbetriebs, die gemäß § 24 Abs. 2 KSchG den maßgeblichen Betrieb bildet, angesiedelt sein könnte. Da den mobilen Flugbetrieben in diesem Sinne des § 24 Abs. 2 KSchG regelmäßig eine innerbetriebliche Leitungsstruktur fehlt, wäre nicht erklärt, warum das Kündigungsschutzgesetz dennoch - unbestritten - auf die Flugbetriebe von Luftverkehrsgesellschaften anzuwenden ist, deren Leitungsapparat - am Boden bzw. an Land - sich im Inland befindet. Aus § 24 KSchG selbst (innerhalb der Gesamtheit der Luftfahrzeuge) ließe sich dies nicht ableiten.</p> <span class="absatzRechts">221</span><p class="absatzLinks">(cc)Denkbar erscheint aber, den räumlichen Geltungsbereich von § 24 KSchG auf solche Schifffahrts- und Luftverkehrsbetriebe zu begrenzen, deren jeweiliger Land- bzw. Bodenbetrieb mit seiner Leitungsstruktur im Inland liegt. Die mobilen Betriebe wären hinsichtlich des Geltungsbereichs von § 24 KSchG somit akzessorisch zu ihren Land- bzw. Bodenbetrieben. Ihre jeweilige Anbindung an Land- bzw. Bodenbetriebe dürfte der Vorstellung des Gesetzgebers entsprochen haben (die "organisatorische Einheit" von mobilem Betrieb und zugehörigem Land- bzw. Bodenbetrieb betont auch Moll in APS, 6. Aufl. 2021, § 24 KSchG Rn. 6). Für eine Absicht des Gesetzgebers, mit § 24 Abs. 2 KSchG den internationalen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes in Bezug auf die Betriebe der Schifffahrt und des Luftverkehrs abweichend von § 23 KSchG zu regeln, fehlen Anhaltspunkte in den Gesetzesmaterialien (das konstatiert auch BAG 17.01.2008 - 2 AZR 902/06, Rn. 26).</p> <span class="absatzRechts">222</span><p class="absatzLinks">Die Rechtslage entspräche bei Annahme einer Akzessorietät der mobilen Betriebe vom Land- oder Bodenbetrieb hinsichtlich des Geltungsbereichs des Ersten und Zweiten Abschnitts derjenigen ohne Trennung vom Land- bzw. Bodenbetrieb. Das den mobilen Betrieben zugeordnete Personal würde ebenso vom Kündigungsschutzgesetz erfasst, wie es ohne die Trennung der Fall wäre. Den Argumenten des Bundesarbeitsgerichts für die Beschränkung des Betriebsbegriffs in § 23 KSchG auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere hinsichtlich der vielfältigen Bezüge des Kündigungsschutzes zu den jeweiligen betrieblichen Verhältnissen (vgl. BAG 26.03.2009 - 2 AZR 883/07, Rn. 15 ff., dazu sogleich), wäre bei dieser Betrachtung Rechnung getragen.</p> <span class="absatzRechts">223</span><p class="absatzLinks">Diese Sicht hätte zur Konsequenz, dass - auch bei Geltung deutschen Arbeitsrechts - das Kündigungsschutzgesetz grundsätzlich keine Anwendung findet, wenn der Boden- oder Landbetrieb im Ausland angesiedelt ist. Damit wäre die Rechtslage derjenigen bei den allgemeinen Betrieben i. S. d. § 23 KSchG angeglichen, wie sie das Bundesarbeitsgericht versteht. Dies hätte allerdings auch zur Folge, dass ein Betrieb, der - wie hier - regelmäßig von deutschen Häfen bzw. Flughäfen aus operiert und dementsprechend lokal rekrutiertes Personal dauerhaft einsetzt, aus dem Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes fiele, weil sein Leitungsapparat im Ausland angesiedelt ist (so im Ergebnis LAG Baden-Württemberg 17.09.2021 - 7 Sa 32/21). Darin könnte im Vergleich zu dem Flugpersonal inländischer Fluggesellschaften eine sachwidrige Ungleichbehandlung in einem grundrechtlich geschützten Bereich liegen.</p> <span class="absatzRechts">224</span><p class="absatzLinks">(3)Die Frage, ob ein Flugbetrieb i. S. v. § 24 Abs. 2 KSchG grundsätzlich einer im Inland ansässigen Leitung bedarf, kann aber offenbleiben. Denn die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes auf den Standort der Beklagten zu 1) in B. folgt hier jedenfalls aus einer verfassungskonformen Auslegung der §§ 23, 24 Abs. 2 KSchG im Lichte von Art. 12 GG. Die konkreten Umstände des Falles gebieten auch von dem soeben unter (2) (cc) dargelegten Standpunkt aus die Annahme eines Luftverkehrsbetriebes i. S. v. § 24 KSchG, obwohl sich der maßgebliche Leitungsapparat - jedenfalls nach dem Sachvortrag der Beklagten zu 1) - im Ausland befindet.</p> <span class="absatzRechts">225</span><p class="absatzLinks">(a)Das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG garantiert die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Damit ist zugleich geschützt - nicht garantiert - das Interesse des Arbeitnehmers an einer Erhaltung seines Arbeitsplatzes. Dem steht das Interesse des Arbeitgebers gegenüber, in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen und ihre Zahl auf das von ihm bestimmte Maß zu beschränken. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. Bundesverfassungsgericht und Bundesarbeitsgericht haben mehrfach darauf hingewiesen, dass die Anknüpfung des Kündigungsschutzgesetzes an den Betriebsbegriff verfassungsrechtlich nur unbedenklich ist, wenn es dadurch nicht zu sachwidrigen Ergebnissen kommt. Das ist möglich, weil der kündigungsrechtliche Betriebsbegriff so offengehalten ist, dass er einer Auslegung zugänglich ist (BVerfG 27.1.1998 - 1 BvL 15/87; BVerfG 12.3.2009 - 1 BvR 1250/08; ebenso BAG 2.3.2017 - 2 AZR 427/16, Rn. 27; 19.7.2016 - 2 AZR 468/15, Rn. 20; 24.1.2013 - 2 AZR 140/12, Rn. 22; 28.10.2010 - 2 AZR 392/08, Rn. 22; 21.9.2006 - 2 AZR 840/05; 15.3.2001 - 2 AZR 151/00; insbesondere BAG 17.01.2008 - 2 AZR 902/06, Rn. 28).</p> <span class="absatzRechts">226</span><p class="absatzLinks">Von Verfassungs wegen ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, den Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes auf Betriebe zu beschränken, die in der Bundesrepublik Deutschland liegen. Bei verfassungskonformer Auslegung des Betriebsbegriffs des § 23 Abs. 1 KSchG kann aber unter Umständen - insbesondere zur Vermeidung einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes - anderes gelten, wenn sich die Betriebsleitung zwar im Ausland befindet, die Arbeitsleistung von mehr als zehn Arbeitnehmern im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG, die den Betrieb im Übrigen bilden, aber in Deutschland erbracht wird (BVerfG 12.3.2009 - 1 BvR 1250/08; BAG 17.01.2008 - 2 AZR 902/06, Rn. 28; BAG 28.10.2010 - 2 AZR 392/08, Rn. 22). Maßgeblich ist eine alle Umstände des Einzelfalls einbeziehende, wertende Gesamtbetrachtung am Sinn und Zweck des Kündigungsschutzes einerseits und der (etwaigen) Herausnahme von Auslandsbetrieben andererseits (vgl. auch BAG 13.06.2002 - 2 AZR 327/0, Rn. 18).</p> <span class="absatzRechts">227</span><p class="absatzLinks">(b)Daran gemessen handelte es sich bei der Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) in B. um einen Flugbetrieb i. S. v. §§ 23, 24 Abs. 2 KSchG, der dem Geltungsbereich des Ersten und Zweiten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes unterfiel. Die im Inland manifestierten betrieblichen Strukturen der Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) am Standort B. hatten ein Maß und eine Verfestigung erreicht, das einen vollständigen Ausschluss des dabei eingesetzten Flugpersonals vom Kündigungsschutzgesetz im Gegensatz zu dem kündigungsrechtlich geschützten Flugpersonal von im Inland ansässigen Luftverkehrsunternehmen nicht zu rechtfertigen vermag.</p> <span class="absatzRechts">228</span><p class="absatzLinks">(aa)Die Beklagte zu 1) betrieb über mehrere Jahre in B. einen Standort mit zuletzt mehr als 120 Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern sowie ca. 75 Piloten. Für alle Beschäftigten, die das Eckpunktepapier akzeptiert hatten, galt deutsches Arbeitsvertragsstatut. Das Flugpersonal begann und beendete seine tägliche Arbeit, also die Flüge, regelmäßig am Standort B.. Dort befanden sich auch gewisse örtliche Strukturen, da jedenfalls Büroräume und ein Crewraum am Flughafen B. unterhalten wurden und ein "Base Captain" benannt war, der, wenn auch ggfs. nicht weisungsbefugt, eine herausgehobene Position als beiderseitiger Ansprechpartner für das B.er Flugpersonal und die Flugleitung in X. einnahm. Der Standort hatte den Status als sogenannte Home Base (Heimatbasis, vgl. zu deren Bedeutung im Luftverkehr eingehend BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 41 - 47). Damit verbunden war jedenfalls die faktische Notwendigkeit für die Beschäftigten, ihren Wohnsitz standortnah zu nehmen. Für die Piloten der Beklagten zu 1) und damit für den Kläger, stellte sich die betriebliche Lage im Wesentlichen so stetig und verfestigt dar, als wäre er in einem inländisch geführten Flugbetrieb tätig. Das von der Beklagten zu 1) angeführte Beispiel einer ausländischen Airline, deren Flugzeuge nur in Deutschland landen, unterscheidet sich hiervon grundlegend.</p> <span class="absatzRechts">229</span><p class="absatzLinks">(bb)Die vom Bundesarbeitsgericht angenommenen Gründe für den Ausschluss ausländischer Betriebe aus dem betrieblichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes rechtfertigen unter diesen Umständen einen Ausschluss aus dem Schutz des Kündigungsschutzgesetzes nicht.</p> <span class="absatzRechts">230</span><p class="absatzLinks">Zunächst unterscheiden sich die dem deutschen Arbeitsvertragsstatut unterliegenden B.er Beschäftigten der Beklagten zu 1) in Bezug auf ihr Interesse an der Erhaltung ihres Arbeitsplatzes in keiner Weise von dem Flugpersonal eines im Inland ansässigen Luftverkehrsunternehmens. Auch das gegenläufige Interesse der Beklagten zu 1), in ihrem Betrieb über die Anzahl der Arbeitnehmer zu bestimmen, unterscheidet sich nicht von dem eines anderen im Inland ansässigen Luftverkehrsunternehmens. Hiervon ausgehend tragen die Gründe für den vollständigen Ausschluss der Arbeitnehmer von im Ausland ansässigen Betrieben aus dem Kündigungsschutz, wie sie das Bundesarbeitsgericht annimmt (BAG 17.01.2008 - 2 AZR 902/06, Rn. 24 ff. und 26.03.2009 - 2 AZR 883/07, Rn. 15 ff.), nicht (vgl. zur Kritik an dieser Rspr. etwa HWK/Quecke, 9. Aufl. § 23 Rn. 2 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">231</span><p class="absatzLinks">(aaa)Die Anknüpfung des Geltungsbereichs an den Begriff "Betrieb" im Wortlaut der Norm sagt für sich nichts über dessen Inlandsbezogenheit. Zwar lässt sich diesem Begriff ein gewisser Bezug zum Betriebsverfassungsgesetz entnehmen, das seinerseits internationalrechtlich nur im Inland Geltung beansprucht. Doch sind Kündigungsschutz und Betriebsverfassung seit langem entkoppelt; das Kündigungsschutzgesetz findet ohne weiteres auf Betriebe ohne Arbeitnehmervertretungen Anwendung. Soweit das Gesetz an verschiedenen Stellen Bezüge zum Betriebsverfassungsgesetz und zum Personalvertretungsgesetz herstellt, wie etwa in § 1 Abs. 2 Satz 2, § 1 Abs. 4 und § 1 Abs. 5, § 3, § 4 Satz 2 KSchG, hindert das seine Anwendung auf betriebsratslose Betriebe gerade nicht, wie die jahrzehntelange Handhabung des Gesetzes zeigt.</p> <span class="absatzRechts">232</span><p class="absatzLinks">(bbb)Der systematische Zusammenhang (Umkehrschluss) zu § 24 Abs. 2 KSchG, der nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts im Gegensatz zu § 23 KSchG auf den Inlandsbezug verzichtet, besagt ebenfalls nichts; dieser Verzicht ist hier gerade zu beweisen.</p> <span class="absatzRechts">233</span><p class="absatzLinks">(ccc)Aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine Inlandsbegrenzung des Betriebs i. S. d. §§ 23, 24 Abs. 2 KSchG. Im Rahmen der historischen Auslegung kann allenfalls das Schweigen des Gesetzgebers in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts angeführt werden. Dieser allgemein eher schwache Anhaltspunkt kann einer verfassungskonformen Auslegung schon grundsätzlich nicht entgegenstehen.</p> <span class="absatzRechts">234</span><p class="absatzLinks">(ddd)Der maßgebliche Grund für den Ausschluss im Ausland gelegener Betriebe liegt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darin, dass die Frage nach der Sozialwidrigkeit nahezu immer eine Einbeziehung der betrieblichen Gegebenheiten erfordere. Anderenfalls würden die Kohärenzen und Korrespondenzen des Kündigungsschutzrechts zerrissen. Die Prüfung der Sozialwidrigkeit setze voraus, dass einheitlich deutsches Arbeitsrecht und insbesondere das Recht des Kündigungsschutzgesetzes angewendet und auch durchgesetzt werden könne. Dies gelte etwa in Bezug auf Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten in anderen Betrieben desselben Unternehmens oder die Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten. Auch bei der Auflösung des Arbeitsverhältnisses (§§ 9, 10 KSchG), beim Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG und beim Massenentlassungsschutz (§§ 17 ff. KSchG) seien betriebliche Gegebenheiten und damit die Rechtsverhältnisse anderer im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer maßgeblich (so BAG 26.03.2009 - 2 AZR 883/07, Rn. 15 ff.).</p> <span class="absatzRechts">235</span><p class="absatzLinks">Dieser Grund rechtfertigt unter den hier gegebenen Umständen nicht den vollständigen Ausschluss der Arbeitnehmer der Beklagten zu 1) am Standort B. mit deutschem Arbeitsvertragsstatut von der Geltung des Kündigungsschutzgesetzes. Die Frage der Sozialwidrigkeit einer Kündigung, insbesondere die der Möglichkeit einer anderweitigen Weiterbeschäftigung, stellt sich hier in gleicher Weise wie etwa bei einem inländischen Betrieb, der über im Ausland gelegene Betriebsteile verfügt, dar. Hier ist das Kündigungsschutzgesetz ohne Zweifel auf die im Inland mit deutschen Arbeitsvertragsstatut Beschäftigten anzuwenden, sofern der gemäß § 23 Abs. 1 Sätze 2-4 KSchG erforderliche Schwellenwert im Inland überschritten ist. Die Frage einer anderweitigen Weiterbeschäftigung stellt sich ebenso wie etwa bei einem Unternehmen, das neben einem inländischen Betrieb über weitere Betriebe im Ausland verfügt. In beiden Fällen besteht nach allgemeiner Meinung für die inländischen Arbeitnehmer Kündigungsschutz; es stellt sich allein die Frage, ob und ggfs. unter welchen Voraussetzungen eine Berufung auf freie Arbeitsplätze im Ausland Erfolg haben kann. Das gleiche gilt für die nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gebotene Beschränkung der Sozialauswahl auf in Deutschland gelegene Betriebe (BAG 27.06.2019 - 2 AZR 38/19, Rn. 26; 29.08.2013 - 2 AZR 809/12, Rn. 40). Auch diese hindert nicht die Gewährung des Kündigungsschutzes im Übrigen.</p> <span class="absatzRechts">236</span><p class="absatzLinks">Der Anwendung des Gesetzes auf dauerhafte und verfestigte Beschäftigungsstrukturen der hier gegebenen Art steht auch der bei der Auflösung des Arbeitsverhältnisses (§§ 9, 10 KSchG), beim Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG und beim Massenentlassungsschutz (§§ 17 ff. KSchG) auftretende Bezug zu betrieblichen Gegebenheiten nicht entgegen. Die Berücksichtigung betrieblicher Gegebenheiten, etwa bei der Frage einer den Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit (§ 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG), ist ohne weiteres auch dann möglich, wenn sich Teile des Betriebs auf das Ausland erstrecken. Der Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG spielt bei einem Betrieb, dessen Leitung im Ausland ansässig ist, keine Rolle, weil das Betriebsverfassungsgesetz territorial nur auf inländische Betriebe Anwendung findet. Es gibt keine gemäß § 15 KSchG geschützten Arbeitnehmer. Sollten sich Arbeitnehmer - in Verkennung des Betriebszuschnitts i. S. d. BetrVG - etwa als Wahlinitiatoren - engagieren, bestünde kein Sonderkündigungsschutz nach § 15 Abs. 3a und Abs. 3b KSchG. Beim Massenentlassungsschutz (§§ 17 ff. KSchG) gilt schließlich ohnehin der abweichende Betriebsbegriff der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 10. Juni 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden: MERL) (BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 32).</p> <span class="absatzRechts">237</span><p class="absatzLinks">(eee)Bei diesem Bild bedeutete ein Ausschluss des Klägers aus dem Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes eine Ungleichbehandlung gegenüber dem Flugpersonal inländisch angesiedelter Flugbetriebe ohne sachlichen Grund in einem grundrechtsrelevanten Bereich. Verletzt wäre das Grundrecht des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, das hier als speziellere Norm den ebenfalls berührten Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 GG mitumfasst. Die bloße apodiktische Behauptung, der Gesetzgeber sei nicht gehindert, die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes davon abhängig zu machen, dass ein Betrieb in der Bundesrepublik Deutschland gelegen ist (so BAG 17.01.2008 - 2 AZR 902/06, Rn. 32), bietet, wie dargelegt, unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des Kündigungsschutzgesetzes und der angeführten Gründe für seine nationale Begrenzung keine Rechtfertigung. Aufgrund dessen gebietet die verfassungskonforme Auslegung der §§ 23, 24 Abs. 2 KSchG die Erstreckung des Geltungsbereichs des Ersten und Zweiten Buchs des Kündigungsschutzgesetzes auf den hier gegeben Sachverhalt.</p> <span class="absatzRechts">238</span><p class="absatzLinks">b.Die Kündigung der Beklagten zu 1) ist nicht sozial ungerechtfertigt i. S. d. § 1 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 und 3 KSchG. Es liegen aufgrund der Schließung des Standortes B. dringende betriebliche Erfordernisse vor. Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestanden nicht. Eine soziale Auswahl war nicht durchzuführen, da alle in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer entlassen wurden.</p> <span class="absatzRechts">239</span><p class="absatzLinks">aa.Die Stilllegung des Standortes B. ließ den Beschäftigungsbedarf der Beklagten zu 1) für den Kläger entfallen und stellt ein dringendes betriebliches Erfordernis i. S. v. § 1 Abs. 2 KSchG dar.</p> <span class="absatzRechts">240</span><p class="absatzLinks">(1)Die Stilllegung des gesamten Betriebs oder einzelner Teile durch den Arbeitgeber gehört zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können (BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 90 ff.; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 73; 21.05.2015 - 8 AZR 409/13, Rn. 51; 26.05.2011 - 8 AZR 37/10, Rn. 25). Unter Betriebsstilllegung ist die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zu verstehen, die ihre Veranlassung und ihren unmittelbaren Ausdruck darin findet, dass der Unternehmer die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, die Verfolgung des bisherigen Betriebszweckes dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiter zu verfolgen (BAG 27.02.2020 - 8 AZR 215/19; 21.05.2015 - 8 AZR 409/13, Rn. 51; 16.02.2012 - 8 AZR 693/10, Rn. 37). Anders als bei dem - identitätswahrenden - Übergang eines Betriebs bzw. eines Betriebsteils i. S. v. § 613a BGB muss sich eine Stilllegung nicht auf einen irgendwie organisatorisch oder funktionell abgrenzbaren Betrieb oder Betriebsteil beziehen. Ein dringendes betriebliches Erfordernis für eine Kündigung kann vielmehr nach allgemeiner Meinung bei jedwedem dauerhaften Wegfall von Beschäftigungsbedarf bestehen, so etwa aufgrund der Stilllegung einer einzelnen Maschine (vgl. HWK/Quecke, 9. Aufl. § 1 KSchG Rn. 294 ff. m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">241</span><p class="absatzLinks">(2)Die unternehmerische Entscheidung unterliegt dabei keinem Formzwang (BAG 31.07.2014 - 2 AZR 422/13, Rn. 35 m. w. N.). Sie muss sich aber nach außen manifestiert haben (BAG 20.11.2014 - 2 AZR 512/13, Rn. 17). Die geplanten Maßnahmen müssen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits "greifbare Formen" angenommen haben (BAG 21.05.2015 - 8 AZR 409/13, Rn. 53; 15.12.2011 - 8 AZR 692/10, Rn. 40). Von einer Stilllegung kann jedenfalls dann ausgegangen werden, wenn der Arbeitgeber seine Stilllegungsabsicht unmissverständlich äußert, allen Arbeitnehmern kündigt, etwaige Miet- oder Pachtverträge zum nächstmöglichen Zeitpunkt auflöst, die Betriebsmittel, über die er verfügen darf, veräußert und die Betriebs-tätigkeit vollständig einstellt (BAG 21.05.2015 - 8 AZR 409/13, Rn. 53; 26.05.2011 - 8 AZR 37/10, Rn. 26).</p> <span class="absatzRechts">242</span><p class="absatzLinks">(3)Für die Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung ist zudem maßgeblich, welche unternehmerische Entscheidung im Zeitpunkt der Kündigung von der Beklagten getroffen worden war. Frühere Überlegungen sind dagegen grundsätzlich nicht erheblich (BAG 14.03.2013 - 8 AZR 153/12, Rn. 13). Zugleich ist zu berücksichtigen, dass eine unstreitige Entwicklung die tatsächliche Vermutung begründet, dass bei Zugang der Kündigung ein tragfähiges Konzept der Beklagten zu 1) vorlag, das den Beschäftigungsbedarf für den Kläger bei Ablauf der Kündigungsfrist entfallen ließ (vgl. BAG 12.07.2007 - 2 AZR 722/05; 16.02.2012 - 8 AZR 693/10, Rn. 40; ErfK/Oetker, 22. Aufl. 2021, KSchG § 1 Rn. 280).</p> <span class="absatzRechts">243</span><p class="absatzLinks">(4)In Anwendung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung der erkennenden Kammer fest, dass die Beklagte zu 1) im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom 10.09.2020 die unternehmerische Entscheidung getroffen und im Sinne greifbarer Formen auch umgesetzt hatte, die Tätigkeit in Deutschland zu beenden und damit auch den Standort B. zu schließen.</p> <span class="absatzRechts">244</span><p class="absatzLinks">(a)Soweit der Kläger auf frühere Verlautbarungen seitens der Beklagten zu 1) hinweist, waren diese im Kündigungszeitpunkt überholt und damit unbeachtlich. Richtig ist, dass die Geschäftsführer der Beklagten noch in der E-Mail vom 10.07.2020 aufgrund des Anteils der positiven Rückmeldungen zum Eckpunktepapier die Hoffnung ausgedrückt hatten, den Standort B. auf der neuen Kostenbasis zu erhalten. Ein Verzicht auf zukünftige Kündigungen, an welchen die Beklagte zu 1) gebunden wäre, liegt darin nicht. Vielmehr hofften die Autoren auf einen Erfolg der kostenreduzierten Station in B., ohne den Bestand der Station zu garantieren und beschrieben auch die weiterhin bestehenden Herausforderungen. Richtig ist, dass die Beklagte zu 1) nur kurze Zeit später, nämlich am 28.07.2020 durch die Mitteilung ihrer beiden Geschäftsführer per E-Mail mitteilt, dass die Beklagte zu 1) ihren Betrieb zum Ende des Jahres einstellen wird, wenngleich noch in Aussicht gestellt wurde, dass die Beklagte zu 2) eine Basis in B. eröffnen werde. Dies ist indes eine Frage des - im Ergebnis nicht gegebenen, weil nicht umgesetzten und im Übrigen den Kläger nicht betreffenden - Betriebsübergangs. Schon hier kommt aber zum Ausdruck, dass die Beklagte zu 1) den Betrieb nicht fortführen wird und dies manifestiert sich auch nach außen durch entsprechende Kundgabe. Überholt war die Aussage der E-Mail vom 10.07.2020, in der noch auf den Fortbestand der Station bei der Beklagten zu 1) gehofft wurde. Der zeitliche Ablauf ist insoweit dicht aufeinanderfolgend und mag nach außen sprunghaft wirken. Die Entscheidung ist indes nicht offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich. Vielmehr spricht für eine beschlossene und tatsächlich durchgeführte unternehmerische Organisationsentscheidung die Vermutung, dass sie aus sachlichen - nicht zuletzt wirtschaftlichen - Gründen getroffen wurde und nicht auf Rechtsmissbrauch beruht (BAG 31.07.2014 - 2 AZR 422/13 - m. w. N.). Vom Gericht nachzuprüfen ist, ob eine solche Entscheidung tatsächlich vorliegt und durch ihre Umsetzung das Beschäftigungsbedürfnis für einzelne Arbeitnehmer entfallen ist (BAG 13.07.2008 - 2 AZR 1037/06, Rn. 12).</p> <span class="absatzRechts">245</span><p class="absatzLinks">(b)Genauso liegt es hier. Die Beklagte zu 1) hat ihre Stilllegungsentscheidung betreffend den Flugbetrieb in Deutschland und die Schließung der Station B. tatsächlich umgesetzt, was bereits bei Zugang der Kündigung greifbare Formen angenommen hatte. Zur Auflösung der B.er Station ist anzuführen, dass die Beklagte zu 1) am 09.09.2020 gegenüber der Agentur für Arbeit Düsseldorf eine beabsichtigte Massenentlassung anzeigte. Am Folgetag wurde eine Vielzahl von Kündigungen von Arbeitsverhältnissen der in B. Beschäftigten ausgesprochen, wie aus der großen Zahl von Kündigungsschutzverfahren gerichtsbekannt ist. Etwa zeitgleich gab S. eine Pressemitteilung ab, wonach sich die Fluglinie aufgrund zu hoher Gebühren und Abfertigungskosten vom Flughafen B. zurückziehen werde. Zwar müssen Verlautbarungen der Presse nicht stets zutreffen, doch ist nicht ersichtlich, warum S. sonst ein Marktsegment öffentlich preisgeben sollte. Dies entspricht der E-Mail des Leiters der Routenentwicklung von S. an den Flughafen vom 09.09.2020. Ob es sich dabei um zu hohe Gebühren oder aber um das Auslaufen bisheriger günstiger Konditionen - wie der Kläger meint - handelt, ist unerheblich. Außerdem gab die Euro x. GmbH die korrespondierende Mitteilung ab, dass die von S. geflogenen Strecken zukünftig im Wesentlichen von ihr bedient würden. Verschiedene Presseerzeugnisse nahmen dies auf. Unstreitig hat die Euro x. GmbH ca. 95 % der zuletzt von S. gehaltenen Slots am Flughafen B. übernommen. Bestätigt wird all dies noch durch den - ebenfalls gerichtsbekannten - Ausspruch einer Vielzahl von Kündigungen der für B. eingestellten Arbeitnehmer durch die Beklagte zu 2) am 10.09.2020. Wenn sich aber S. aus B. zurückzieht, sind keine weiteren Tätigkeiten der Beklagten zu 1) von B. aus mehr ersichtlich, da sie zuletzt jedenfalls ganz überwiegend nur noch im wet lease für S. flog. Weiter hat die Beklagte zu 1) gegenüber der Betreiberin des Flughafens B. am 15.09.2020 das Mietverhältnis über den Crewraum gekündigt. Auf die von dem Kläger problematisierte Frage, ob eine solche Kündigung wirksam zum 31.10.2020 zulässig war und rechtlich ein wichtiger Grund für eine Kündigung ohne Frist gemäß § 14.3 des Mietvertrags gegeben war, kommt es nicht an. Das Kündigungsschreiben selbst manifestiert als weiterer Umstand die Umsetzung der Schließung der Station B. durch die Beklagte zu 1). Am 19.10.2020 hob der letzte kommerzielle Flug der Beklagten zu 1) von B. ab. Die Auflösung der Station T. steht zwischen den Parteien nicht im Streit.</p> <span class="absatzRechts">246</span><p class="absatzLinks">(c)Die unternehmerische Entscheidung hatte auch nicht eine nur vorübergehende, etwa pandemiebedingte Schließung des Standortes B. zum Inhalt. Das stünde im Widerspruch dazu, dass die ebenfalls von der Pandemie betroffenen Standorte X. und Q., wenn auch von der Beklagten zu 2), fortgeführt wurden. Vielmehr ging die Schließung des B.er Standortes auf das Scheitern der Verhandlungen zwischen der Muttergesellschaft S. und der Flughafengesellschaft B. zurück und sollte nicht nur vorübergehend erfolgen. Dies alles wird durch die tatsächliche Entwicklung bestätigt. Es gibt, wie im Kammertermin mit den Parteien erörtert auch am 15.12.2021 keine Station der Beklagten zu 1) am Flughafen B.. Diese bot keine Flüge von B. aus an. Dies gilt auch für etwaige zuletzt noch ausgeübte wenige eigene Flüge unter ihrem Kürzel. Es gab und gibt schlicht keine Flüge der Beklagten zu 1) von der Station B. aus. Die Schließung der Station B. ist tatsächlich und dauerhaft umgesetzt worden. Nichts anderes gilt im Übrigen für die Beklagte zu 2). Diese hat ihren Geschäftsbetrieb in B. tatsächlich nie aufgenommen. Die unstreitige Entwicklung begründet so im vorliegenden Fall zusätzlich die tatsächliche Vermutung, dass bei Zugang der Kündigung ein tragfähiges Konzept der Beklagten zu 1) vorlag, das den Beschäftigungsbedarf für den Kläger bei Ablauf der Kündigungsfrist entfallen ließ.</p> <span class="absatzRechts">247</span><p class="absatzLinks">(5)Durch die Umsetzung der unternehmerischen Entscheidung ist der Beschäftigungsbedarf für den Kläger entfallen. Der Kläger ist von der Beklagten zu 1) vom Flughafen B. als Heimatbasis bzw. vertraglichem Einsatzort aus im Wet-Lease für S. eingesetzt worden. Daran ändert der Umstand, dass im Arbeitsvertrag ggfs. X. als Stationierungsort angegeben ist, nichts. Maßgeblich ist der vertragliche Einsatzort bzw. die Heimatbasis. Diese Beschäftigungsmöglichkeit bei der Beklagten zu 1) ist entfallen, weil diese derartige Flüge von B. oder einer anderen Station in Deutschland aus nicht mehr fortführt.</p> <span class="absatzRechts">248</span><p class="absatzLinks">(6) Der Stilllegung des Geschäftsbetriebs steht nicht entgegen, dass die Beklagte zu 2) den Betrieb oder einen Betriebsteil der Beklagten zu 1) übernommen hätte. Denn der Kläger war in keinem Fall einer etwaig von der Beklagten zu 2) gemäß § 613a Abs. 1 BGB übernommenen Einheit zugeordnet.</p> <span class="absatzRechts">249</span><p class="absatzLinks">(a)Betriebsveräußerung und Betriebsstilllegung schließen sich systematisch aus (st. Rspr., BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 91; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 78, jeweils m. w. N.). Wird ein Betriebsteil veräußert und der verbleibende "Restbetrieb" stillgelegt, kommt es darauf an, ob der gekündigte Arbeitnehmer dem auf einen Erwerber übergehenden Betriebsteil zugeordnet war. Ist dies nicht der Fall, so kann die Stilllegung des "Restbetriebs" einen betriebsbedingten Kündigungsgrund darstellen, wenn der Arbeitnehmer diesem Betriebsteil zugeordnet war (vgl. BAG 14.03.2013 - 8 AZR 153/12, Rn. 25 ff. m. w. N.; 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 91). Dabei ist nicht erforderlich, dass der "Restbetrieb" seinerseits eine organisatorisch und funktional abtrennbare, übergangsfähige Einheit i. S. d. Rechtsprechung zu § 613a BGB darstellt. Denn für seine Stilllegung kommt es nicht auf eine irgendwie geartete Identitätswahrung an.</p> <span class="absatzRechts">250</span><p class="absatzLinks">Ein Betriebsübergang oder Betriebsteilübergang nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB und i. S. d. Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG liegt vor, wenn ein neuer Rechtsträger eine beim vormaligen Inhaber bestehende wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit unter Wahrung ihrer Identität fortführt (EuGH 13.06.2019 - C-664/17 - [Ellinika Nafpigeia], Rn. 60; 06.03.2014 - C-458/12 - [Amatori u. a.], Rn. 30; BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 58; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 80, jeweils m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">251</span><p class="absatzLinks">Die beim vormaligen Inhaber bestehende wirtschaftliche Einheit muss auf Dauer angelegt und ihre Tätigkeit darf nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt sein. Es muss sich um eine selbstständig abtrennbare organisatorische Einheit handeln, mit der innerhalb des betrieblichen Gesamtzwecks ein Teilzweck verfolgt worden ist. Die Erfüllung eines betrieblichen Teilzwecks ist nur eine der Voraussetzungen für die Annahme des Vorliegens eines Betriebsteils und vermag das Fehlen einer abgrenzbaren organisatorischen Einheit nicht zu ersetzen. Hierbei darf die im Betriebsteil liegende Einheit nicht als bloße Tätigkeit verstanden werden. Die Identität der Einheit ergibt sich auch aus anderen Merkmalen wie ihrem Personal, ihren Führungskräften, ihrer Arbeitsorganisation, ihren Betriebsmethoden und ggf. den ihr zur Verfügung stehenden Betriebsmitteln. Eine bloß bestehende funktionelle Verknüpfung beim Veräußerer genügt nicht. Die Einheit bedarf einer ausreichenden funktionellen Autonomie, insbesondere müssen ihr Befugnisse zur Leitung der zugehörigen Gruppe von Arbeitnehmern eingeräumt sein, um deren Arbeit relativ frei und unabhängig zu organisieren und insbesondere Weisungen zu erteilen und Aufgaben auf die zu dieser Gruppe gehörenden untergeordneten Arbeitnehmer zu verteilen, ohne dass andere Organisationsstrukturen des Arbeitgebers dabei zwischengeschaltet sind (EuGH 13.06.2019 - C-664/17 - [Ellinika Nafpigeia], Rn. 60; 06.03.2014 - C-458/12 - [Amatori u. a.], Rn. 31 f.; BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 58 f.; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 81, jeweils m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">252</span><p class="absatzLinks">Der Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils im vorgenannten Sinne auf einen Betriebsnachfolger erfordert sodann, dass die Identität der beim vormaligen Inhaber bestehenden wirtschaftlichen Einheit beim Betriebsnachfolger bewahrt wird. Bei der Prüfung, ob eine solche Einheit ihre Identität bewahrt, müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich die Art des Unternehmens oder Betriebs, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter, der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeiten. Diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden (vgl. u. a. EuGH 20.01.2011 - C-463/09 - [CLECE], Rn. 34 m. w. N..; BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 61; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 85; 22.01.2015 - 8 AZR 139/14, Rn. 15). Den für das Vorliegen eines Übergangs maßgebenden Kriterien kommt je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden unterschiedliches Gewicht zu (EuGH 15.12.2005 - C-232/04 und C-233/04 - [Güney-Görres und Demir], Rn. 35; BAG 22.01.2015 - 8 AZR 139/14, Rn. 15 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">253</span><p class="absatzLinks">Die organisatorische Selbstständigkeit der Einheit muss beim Betriebsnachfolger indes nicht vollständig erhalten bleiben (EuGH 12.02.2009 - C-466/07 - [Klarenberg], NZA 2009, 251; BAG 13.10.2011 - 8 AZR 455/10, Rn. 37; 07.04.2011 - 8 AZR 730/09). Nicht die Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Erwerber, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren stellt das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität der übertragenen Einheit dar. So erlaubt es die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen (EuGH 09.09.2015 - C-160/14 - [Ferreira da Silva e Brito u. a.]; 12.02.2012 - C-466/07; BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19Rn. 62; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 87).</p> <span class="absatzRechts">254</span><p class="absatzLinks">Im Luftverkehrssektor ist der Übergang von Material als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Vorliegens eines Betriebs(teil)übergangs i. S. d. Richtlinie 2001/23/EG anzusehen (vgl. EuGH 09.09.2015 - C-160/14 - [Ferreira da Silva e Brito u. a.]; BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 62; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 86). Insoweit ist das Eintreten in Miet- bzw. Leasingverträge über Flugzeuge und deren tatsächliche Nutzung von besonderer Bedeutung. Damit kann - je nach den Umständen des jeweiligen Falls - die Übernahme unerlässlicher Teile zur Fortsetzung einer zuvor ausgeübten Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens belegt sein. Von Bedeutung ist auch eine etwaige Übernahme weiterer Ausrüstungsgegenstände, ein etwaiger Eintritt in bestehende Charterflugverträge mit Reiseveranstaltern, was zum Ausdruck bringt, dass die Kundschaft übernommen wurde, eine etwaige Ausweitung von Flügen auf Routen, die zuvor von dem bisherigen Inhaber der Miet- bzw. Leasingverträge bedient wurden, was die Fortsetzung der zuvor ausgeübten Tätigkeit widerspiegelt, die etwaige Reintegration von Arbeitnehmern und deren Beschäftigung mit Tätigkeiten, die mit ihren bisherigen Aufgaben übereinstimmen, was die Übernahme eines Teils des Personals belegt (BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 62; 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 86). Als Teilaspekt zu berücksichtigen sein kann ferner, wenn Zeitnischen auf Flughäfen (Slots) auf einen neuen Inhaber übergegangen sind (BAG 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, Rn. 114 ff.).</p> <span class="absatzRechts">255</span><p class="absatzLinks">Bei Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes muss der Arbeitgeber die Kündigungsgründe, hier die Stilllegung, gem. § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG darlegen und beweisen. Der Betriebsübergang ist kein dringendes betriebliches Erfordernis für eine Kündigung.</p> <span class="absatzRechts">256</span><p class="absatzLinks">(b)Danach ist es nicht zu einem Betriebs(teil)übergang von der Beklagten zu 1) auf die Beklagte zu 2) gekommen, der das Arbeitsverhältnis des Klägers erfasst hätte.</p> <span class="absatzRechts">257</span><p class="absatzLinks">(aa)Die Beklagte zu 2) hat zunächst keinen auf das Deutschlandgeschäft der Beklagten zu 1) oder die Station B. beschränkten Teilbetrieb i. S. d. § 613a Abs. 1 BGB und der Richtlinie 2001/23/EG übernommen. Sollte es sich dabei trotz des Fehlens einer örtlichen Leitungsstruktur überhaupt um eine übergangsfähige wirtschaftliche Einheit i. S. d. § 613a Abs. 1 BGB handeln, so hat die Beklagte zu 2) einen solchen Teilbetrieb gerade nicht fortgeführt, sondern stillgelegt. In den deutschen Flugbetrieb der Beklagten zu 1) ist niemand eingetreten. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Beklagte zu 2) nach oder von den Stationen B. oder T. Flugleistungen erbringt, insbesondere nicht im wet lease für S.. Sie verfügt weder über die Slots - jedenfalls die B.er Slots wurden von der Euro x. GmbH übernommen - noch über irgendein sächliches Betriebsmittel an diesen Stationen. Entgegen dem klägerischen Vorbringen sind die von der Beklagten zu 2) angeflogenen Destinationen damit "nicht im Wesentlichen gleichgeblieben", da zumindest die Flüge von und nach B. und T. fehlen. Dabei handelte es sich um zwei von vier Stationen der Beklagten, die mindestens täglich frequentiert wurden; jedenfalls begannen und endeten die Arbeitstage des Flugpersonals an den Stationen. Soweit die Beklagte zu 2) Flugzeuge nutzt, die zuvor auf die Beklagte zu 1) registriert waren, setzt sie sie nicht für die zuvor von der Beklagten zu 1) in und von Deutschland aus verrichtete Tätigkeit ein. Die bei der Beklagten für den deutschlandweiten Flugbetrieb bestehende funktionelle Verknüpfung, die nach der Klarenberg-Entscheidung des EuGH (12.02.2009 - C-466/07 -; vgl. BAG 17.12.2009 - 8 AZR 1019/08 -) zur Feststellung eines identitätswahrenden Übergangs einer wirtschaftlichen Einheit fortbestehen muss, wurde aufgelöst. Dasselbe gilt für die Mitarbeiter, die bisher bei der Beklagten zu 1) in B. beschäftigt waren und mit der Beklagten zu 2) Arbeitsverhältnisse begründet hatten. Sie werden überhaupt nicht eingesetzt, so dass die bestehende funktionelle Verknüpfung der B.er Belegschaft mit der von hier aus erbrachten Tätigkeit bei der Beklagten zu 2) nicht aufrechterhalten wurde. Diese Beschäftigten waren und sind bei der Beklagten zu 2) in keiner Weise integriert. Die zuvor in T. Beschäftigten haben schon keine Arbeitsverhältnisse mit der Beklagten zu 2) begründet.</p> <span class="absatzRechts">258</span><p class="absatzLinks">Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Beklagte zu 2) nicht ernsthaft und endgültig die Nichtaufnahme der ursprünglich beabsichtigten Station B. beschlossen hätte. Sie hat endgültig von einem möglichen zuvor beabsichtigten Teilbetriebsübergang Abstand genommen. Unstreitig hat S., auf die die Beklagte zu 1) einen Gutteil ihrer Slots übertragen hatte, nahezu sämtliche B.er Slots der Euro x. GmbH überlassen, was ohne deren Zutun unumkehrbar ist. Das klägerische Vorbringen, dass "Deutschland ein viel zu lukrativer Markt sei, um ihn nicht zu bedienen", ist spekulativ. Lukrativ ist der Markt vor allem an den koordinierten Flughäfen, die nur mit den entsprechenden Start- und Landerechten bedient werden können, die nicht mehr für die Beklagten verfügbar sind. Auch zeigt der weitere Verlauf, dass der Flugbetrieb deutschlandweit eingestellt ist. Die Beklagte zu 1) fliegt überhaupt nicht mehr. Die Beklagte zu 2) fliegt allenfalls vereinzelt andere Verbindungen nach Deutschland z.B. nach I. oder O., nicht aber von Deutschland aus. Bei den außerdem diskutierten Flugleistungen der N. Air Ltd. ist ein Zusammenhang mit dem früheren Flugbetrieb der Beklagten in Deutschland nicht ersichtlich; insbesondere fliegt die N. Air Ltd. nicht B. oder T., sondern C., L., O. und G. an. Letztlich ist - wie ausgeführt - auch zuletzt unstreitig, dass es einen Flugbetrieb auch der Beklagten zu 2) von einer Station B. oder T. aus nie - auch nicht im Zeitpunkt des letzten Kammertermins - gab.</p> <span class="absatzRechts">259</span><p class="absatzLinks">(bb)Ein etwaiger Übergang eines auf die Standorte X. und Q. und zukünftig womöglich auch A. beschränkten Teilbetriebs von der Beklagten zu 1) auf die Beklagte zu 2) hat das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht erfasst. Ein Betriebsteilübergang betrifft nur solche Arbeitnehmer, die in den übergegangenen Betriebsteil tatsächlich eingegliedert waren (BAG 25.04.2013 - 6 AZR 49/12, Rn. 170, 182; BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19, Rn. 91). Der Kläger, mit dem der Einsatzort B. vereinbart war und der regelmäßig seinen Arbeitstag dort begann und beendete, war ihm nicht zugeordnet. Bei der von der Beklagten zu 1) ganz überwiegend betriebenen Art des Wet-Lease handelt es sich um eine standortgebundene Leistung. Diese hatte regelmäßig Flugdienstleistungen von und nach B. unter Einschluss etwaiger Dreiecksflüge zum Inhalt, nicht aber Flüge mit beliebigen Start- und Landepunkten (sog. point-to-point-Flugverkehr). Nichts anderes gilt für etwaige in geringem Umfang gegebene eigene Flüge der Beklagten zu 1). Soweit im Arbeitsvertrag des Klägers zusätzlich zu dem Einsatzort B. als "Stationierungsort" X. angegeben ist, ändert dies die maßgebliche tatsächliche Zuordnung des Klägers zu dem Standort B. nicht. Das auf B. bezogene Geschäft gehörte nicht zu einem etwaigen Betriebsteil "X./Q." oder aber einem ohnehin nur künftigen Betriebsteil "A.". Aus diesem Grund kann dahinstehen, ob ein derartiger Betriebsteil bei der Beklagten zu 1) bestanden hat und auf die Beklagte zu 2) übergegangen ist.</p> <span class="absatzRechts">260</span><p class="absatzLinks">(cc)Die Beklagte zu 2) hat nicht einen etwaigen einheitlichen Betrieb der Beklagten zu 1) mit der Zentrale in X. und den Standorten X., Q., T. und B. in seiner Gesamtheit übernommen, worauf der Kläger letztlich mit seiner Berufungsbegründung unter Darstellung verschiedener mit Spiegelstrichen aufgeführten Einzelumstände maßgeblich abstellt.</p> <span class="absatzRechts">261</span><p class="absatzLinks">Unverzichtbares Kriterium für den Betriebsübergang ist nach neuerer Rechtsprechung die tatsächliche Weiterführung der Geschäftstätigkeit durch den Betriebsnachfolger. Für die Annahme eines "Gesamtbetriebsübergangs" genügt nicht die bloße Möglichkeit der Betriebsfortführung (st. Rspr., vgl. BAG 27.09.2012 - 8 AZR 826/11, Rn. 21m. w. N.; ebenso EuGH 26.05.2005 - C-478/03 - [Celtec], Rn. 36; 20.11.2003 - C-340/01 - [Carlito Abler]; 10.12.1998 - C-173/96 - [Hidalgo] Rn. 21).</p> <span class="absatzRechts">262</span><p class="absatzLinks">Einen etwaigen einheitlichen Betrieb der Beklagten zu 1) hat die Beklagte zu 2) danach nicht in seiner Gesamtheit übernommen. Sie hat die Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) an den Standorten B.und T. nicht fortgeführt. Diese wurden auch nicht auf einen anderen Standort verlagert und dort von der Beklagten zu 2) fortgeführt.</p> <span class="absatzRechts">263</span><p class="absatzLinks">(aaa)Es spricht viel dafür, dass es sich angesichts der Leitungsstruktur der Beklagten zu 1) mit ihren Stationen in Q. und X. sowie T. und B. um einen einheitlichen Betrieb i. S. d. Betriebsübergangsrechts gehandelt hat. Jedenfalls in Deutschland waren - zumindest nach dem Vortrag der Beklagten - keine Personen mit ausreichender Entscheidungsgewalt beschäftigt, die die Arbeit der deutschen Arbeitnehmer relativ frei und unabhängig organisierten und insbesondere Weisungen er- und Aufgaben verteilen konnten, ohne dass andere Organisationsstrukturen des Arbeitgebers dabei dazwischengeschaltet waren (vgl. zu diesem Erfordernis EuGH 06.03.2014 - C-458/12 - [Amatori u. a.], a. a. O., Rn. 32 m. w. N.; BAG 27.02.2020 - 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303, Rn. 83, vgl. aber auch Hess. LAG 15.03.2006 - 17 Sa 2327/04, Rn. 109 zu einem Teilbetrieb Fluggeschäft aus und nach Deutschland). Der am Standort B. eingesetzte "Base Captain" hatte solche Weisungsbefugnisse nach dem Vortrag der Beklagten nicht. Er fungierte lediglich als Bindeglied für die Kommunikation zwischen dem Flugpersonal und der Leitung in X.. Alle maßgeblichen Weisungen ergingen von X. aus. Ginge man insoweit von dem Vortrag des Klägers aus, der eine weitergehende Weisungsbefugnis des Base Captain behauptet, änderte dies nichts, weil dies allenfalls zu einem eigenständigen Teilbetrieb B. führte, der - wie ausgeführt - nicht auf die Beklagte zu 2) übergegangen ist. Dies macht der Kläger in zweiter Instanz letztlich nicht mehr geltend, sondern geht von einem "Gesamtbetriebsübergang" aus.</p> <span class="absatzRechts">264</span><p class="absatzLinks">Einem etwaigen einheitlichen, von X. aus geleiteten Betrieb wäre der Kläger zugeordnet gewesen.</p> <span class="absatzRechts">265</span><p class="absatzLinks">(bbb)Diesen Betrieb hat die Beklagte zu 2) indes nicht in seiner Gesamtheit übernommen.</p> <span class="absatzRechts">266</span><p class="absatzLinks">Allerdings hat die Beklagte zu 2) neben einigen weiteren Betriebsmitteln wie iPads und Uniformen sämtliche Flugzeuge der Beklagten zu 1) und somit auch die am Standort B. platzierten sieben Maschinen in ihre Verfügungsgewalt genommen. Auch hat sie den - abgesehen von einigen streitigen eigenen Flügen der Beklagten zu 1) - den einzigen Auftrag der Beklagten zu 1), den Wet-Lease-Vertrag mit der Muttergesellschaft S., beschränkt auf die Stationen der Beklagten zu 1) in Q. und X. fortgeführt. Ferner hat sie ab dem 15.09.2020 von den - hochqualifizierten - Arbeitnehmern der Beklagten zu 1) in X. die Mehrheit und in Q. nahezu alle übernommen und beschäftigt einzelne Wissens- und Entscheidungsträger der Beklagten zu 1) weiter. Schließlich hat die Beklagte zu 2) zunächst auch einen Großteil der Arbeitnehmer in B. für die Zeit ab dem 15.09.2020 vertraglich an sich gebunden.</p> <span class="absatzRechts">267</span><p class="absatzLinks">Damit hat die Beklagte zu 2) jedoch nicht den gesamten Betrieb der Beklagten zu 1) übernommen. Vielmehr hat sie wesentliche Teile der vormaligen Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1), nämlich die Wet-Lease-Flüge von B. und T. aus, tatsächlich nicht fortgeführt. Diese Standorte sind geschlossen. Es bestehen dort weder Abstellmöglichkeiten für Flugzeuge der Beklagten zu 2) noch gibt es Räumlichkeiten oder Büro- und Kommunikationsmittel. Die am Flughafen B. bestehenden Slots der Beklagten zu 1), also ihre Zeitnischen für Starts und Landungen, sind von der Beklagten zu 2) nicht übernommen worden. Ausweislich von Presseberichten wurden sie weitgehend auf eine Fluggesellschaft des M. konzerns übertragen. Auf den Standort B. bezogene Wet-Lease-Vereinbarungen mit der Muttergesellschaft S. hat die Beklagte zu 2) nicht übernommen oder neu abgeschlossen oder sonst fortgeführt. Auch hat sie sich von dem zunächst vertraglich gebundenen B.er Personal wieder getrennt, ohne dass dieses je seine Arbeit für die Beklagte zu 2) aufgenommen hätte. Dieser Zustand bestand bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht und damit schon etwa für ein Jahr nach Ausspruch der Kündigung fort. Für eine Änderung ist nichts ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">268</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) hat die Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) in B. auch nicht an einem anderen Standort fortgeführt. Das B.Wet-Lease-Geschäft der Beklagten zu 1) wurde nicht lediglich verlagert. Hierfür besteht nach dem Sachvortrag der Parteien kein Anhaltspunkt. Weder in X. noch in Q. hat die Beklagte zu 2) eine die Identität zur vormaligen Düsseldorfer Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) wahrende Tätigkeit aufgenommen. Vielmehr hat sie lediglich die schon zuvor an diesen Standorten ausgeführte Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) fortgesetzt. Es werden auch keine Flüge von dort nach B. durchgeführt. Gegen eine Verlagerung der Geschäftstätigkeit spricht auch, dass der Großteil der übernommenen Flugzeuge der Beklagten zu 1) in London-T. und an anderen Flughäfen abgestellt ist und ständig nur etwa neun (rotierend wechselnde) Maschinen im Einsatz sind.</p> <span class="absatzRechts">269</span><p class="absatzLinks">Das an der Homebase B. betriebene Wet-Lease-Geschäft lässt sich schon wegen seiner Eigenart nicht beliebig auf einen anderen, weit entfernt liegenden Standort (X., Q.) verlagern. Es ist zu einem wesentlichen Anteil auch durch den Einsatz des hochqualifizierten und nicht ohne weiteres ersetzbaren Cockpit- und Kabinenpersonals gekennzeichnet. Dieses ist grundsätzlich standortgebunden (Heimatbasis, vgl. eingehend BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 41 - 47). Daran ändern auch mögliche kostenträchtige Personaltransfers (sog. Proceedings) nichts. Ein Austausch mit dem Flugpersonal an anderen Standorten fand demgemäß nicht statt. Die Standorte X. und Q. scheiden für eine Dauertätigkeit des B.er Flugpersonals ohne Änderung des Wohnsitzes aus. Das von den Beklagten betriebene Wet-Lease-Geschäft ist grundsätzlich an den Standort gebunden, von dem aus der alleinige Auftraggeber S. seinen Kunden Flüge anbietet. Die von der Beklagten zu 1) an einem solchen Standort, hier also B., angebotenen Flugleistungen können entgegen der Auffassung des Klägers nicht dauerhaft an beliebigen anderen Standorten erbracht werden. Wegen der hohen Kosten für Zubringertransfers des Flugpersonals einschließlich Arbeitszeiten und Unterbringung würde es sich um ein anders geartetes Geschäft handeln, als es die Beklagten betreiben bzw. betrieben haben. Das Gleiche gilt für die von der Beklagten zu 2) im Mai 2021 eröffneten Standorte in Kroatien (A. und A.). Nichts anderes gilt im Ergebnis für etwaige streitige eigene Flüge der Beklagte zu 1) von und nach B.. Im Übrigen und unabhängig davon handelte es sich um wenige und somit nicht einen etwaigen Betrieb prägende Flugverbindungen.</p> <span class="absatzRechts">270</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob einem Übergang des Flugbetriebs gemäß § 613a BGB grundsätzlich entgegensteht, dass die erforderliche Betriebsgenehmigung durch das Bundesluftfahrtamt (AOC) nicht übertragbar ist (so LAG Hessen 15.03.2006 - 17 Sa 2327/04, Rn. 111 unter Bezugnahme auf BAG 26.08.1999 - 8 AZR 827/98 [Notar]), kommt es nach alledem nicht mehr an.</p> <span class="absatzRechts">271</span><p class="absatzLinks">(7)Zu berücksichtigende Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bei der Beklagten zu 1) bestanden nicht. Für das Fehlen einer anderweitigen Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ist gem. § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG der Arbeitgeber darlegungs- und beweispflichtig. Dabei gilt eine abgestufte Darlegungslast. Macht der Arbeitnehmer geltend, es sei eine Beschäftigung an anderer Stelle möglich, obliegt es ihm, darzulegen, wie er sich diese vorstellt. Erst daraufhin muss der Arbeitgeber eingehend erläutern, aus welchen Gründen eine solche Beschäftigung nicht möglich war (BAG 29.08.2013 - 2 AZR 721/12, Rn.19)</p> <span class="absatzRechts">272</span><p class="absatzLinks">(a)Anderweitige Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bei der Beklagten zu 1) bestanden nicht. Soweit der Kläger sich auf eine Tätigkeit als Line Training Captain in der Station Q. beruft, kommt diese - unabhängig davon, dass diese Stelle sich im Ausland befindet - nicht als freie Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in Betracht. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass eine separate Tätigkeit als Line Training Captain bei der Beklagten zu 1) nicht existiert, sondern diese ein bestehendes Arbeitsverhältnis voraussetzt. Es handelt sich um eine "Zusatzfunktion". Dies folgt auch aus zur Akte gereichten internen Stellenausschreibung vom 17.08.2020, die sich an Crew-Mitglieder wendet, eine zusätzliche Verantwortung in Aussicht stellt und das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses als Kapitän voraussetzt. Mit dem Wegfall des Beschäftigungsbedarfs als Kapitän und der dadurch bedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses bleibt nicht eröffnet, nur als Line Training Captain weiterzuarbeiten.</p> <span class="absatzRechts">273</span><p class="absatzLinks">(b)Letztlich beruft der Kläger sich maßgeblich auf angebliche Stellen bei der Beklagten zu 2). Diese sind im Rechtsverhältnis zur Beklagten zu 1) und für die Beurteilung der Wirksamkeit von deren Kündigung unbeachtlich.</p> <span class="absatzRechts">274</span><p class="absatzLinks">(aa)Eine konzernbezogene Weiterbeschäftigungspflicht kann ausnahmsweise bestehen, wenn sich ein anderes Konzernunternehmen ausdrücklich zur Übernahme des Arbeitnehmers bereit erklärt hat. Entsprechendes gilt, wenn sich eine Unterbringungsverpflichtung unmittelbar aus dem Arbeitsvertrag, einer sonstigen vertraglichen Absprache oder der in der Vergangenheit geübten Praxis ergibt (BAG 18.10.2012 - 6 AZR 41/11, Rn. 57; BAG 23.04.2008 - 2 AZR 1110/06, Rn. 22 m. w. N.). In solchen Fallgestaltungen kann der Arbeitnehmer einen vertraglichen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber auf Verschaffung eines Arbeitsvertrags haben (BAG 18.10.2012 - 6 AZR 41/11, Rn. 57; 23.03.2006 - 2 AZR 162/05, Rn. 21; 23. November 2004 - 2 AZR 24/04). Weitere Voraussetzung einer unternehmensübergreifenden Weiterbeschäftigungspflicht ist ein bestimmender Einfluss des vertragsschließenden Unternehmens auf die "Versetzung” (BAG 18.10.2012 - 6 AZR 41/11, Rn. 57 m. w. N.; 23.04.2008 - 2 AZR 1110/06; 23.11.2004 - 2 AZR 24/04). Beruft sich der Arbeitnehmer auf konzernweiten Kündigungsschutz, muss er konkret aufzeigen, aus welchen vertraglichen Regelungen sich die konzernweite Weiterbeschäftigungspflicht ableitet und wie er sich eine anderweitige Beschäftigung vorstellt (BAG 18.10.2012 - 6 AZR 41/11, Rn. 58; BAG 10.05.2007 - 2 AZR 626/05, Rn. 46).</p> <span class="absatzRechts">275</span><p class="absatzLinks">(bb)Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Der Kläger hat keine vertragliche Regelung benannt, aus der sich eine konzernbezogene Weiterbeschäftigungspflicht ergeben soll. Sie ist auch nicht ersichtlich. Auch eine sonstige Absprache oder in der Vergangenheit geübte Praxis oder ein ausdrückliches Bereiterklären zur Übernahme sind nicht vorgetragen. Ohnehin fehlt es an einem bestimmenden Einfluss der Beklagten zu 1) als bisherige Vertragsarbeitgeberin auf andere Konzernunternehmen.</p> <span class="absatzRechts">276</span><p class="absatzLinks">bb.Eine fehlerhafte soziale Auswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">277</span><p class="absatzLinks">(1)Der Arbeitgeber hat diejenigen Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen, die objektiv miteinander vergleichbar sind. Vergleichbar sind Arbeitnehmer, die - bezogen auf die Merkmale des Arbeitsplatzes - sowohl aufgrund ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse als auch nach dem Inhalt der von ihnen vertraglich geschuldeten Aufgaben austauschbar sind (BAG 20.06.2013 - 2 AZR 271/12; 22.03.2012 - 2 AZR 167/11; 15.12.2011 - 2 AZR 42/10).</p> <span class="absatzRechts">278</span><p class="absatzLinks">(2)Nachdem der Kläger die fehlerhafte soziale Auswahl pauschal gerügt hat, hat die Beklagte zu 1) vorgetragen, dass sämtlichen Arbeitnehmern in Deutschland gekündigt worden sei. Vor diesem Hintergrund oblag es nunmehr dem Kläger substantiiert vorzutragen, inwiefern dennoch eine soziale Auswahl möglich gewesen wäre. Dies ist nicht geschehen. Die Beschäftigten der Beklagten in X. und Q. waren in eine Sozialauswahl nicht einzubeziehen. Die Sozialauswahl bezieht sich nach zutreffender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der die Kammer folgt, nur auf in Deutschland gelegene Betriebe (BAG 27.06.2019 - 2 AZR 38/19, Rn. 26; 29.08.2013 - 2 AZR 809/12, Rn. 40).</p> <span class="absatzRechts">279</span><p class="absatzLinks">7.Die Kündigung der Beklagten zu 1) ist nicht gemäß § 613a Abs. 4 BGB unwirksam, weil sie nicht wegen eines Betriebsübergangs ausgesprochen worden ist. Ein Betriebsübergang, der das Arbeitsverhältnis des Klägers erfasst hätte, liegt wie ausgeführt, nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">280</span><p class="absatzLinks">8.Die Kündigung der Beklagten zu 1) ist nicht gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG i. V. m. § 134 BGB wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige unwirksam. Die Beklagte zu 1) hat eine Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß i.S.d. § 17 Abs. 3 KSchG erstattet.</p> <span class="absatzRechts">281</span><p class="absatzLinks">a.Die Beklagte zu 1) war zur Erstattung der Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG verpflichtet, weil sie jedenfalls im Sinne der MERL einen Betrieb in Deutschland führte. Die Heimatbasis ist ein international-sozialrechtlicher Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der für die Mitglieder von Flug- und Kabinenbesatzungen geltenden Rechtsvorschriften (vgl. Art. 11 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 idF der Verordnung (EU) Nr. 465/2012). Dies soll die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 auf Flug- oder Kabinenbesatzungsmitglieder erleichtern und dient damit deren Schutz (vgl. Erwägungsgrund 18b der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 idF der Verordnung (EU) Nr. 465/2012). Es handelte sich bei der Station B. unabhängig davon, ob auf das Vorbringen des Klägers oder das der Beklagten zu 1) abgestellt wird, um einen Betrieb im Sinn der MERL.</p> <span class="absatzRechts">282</span><p class="absatzLinks">aa.Der in der MERL selbst nicht definierte Begriff "Betrieb" ist ein unionsrechtlicher Begriff. Sein Inhalt kann nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden (vgl. EuGH 13.05.2015 - C-182/13 [Lyttle u. a.], Rn. 26; 13.05.2015 - C-392/13 [Rabal Cañas], Rn. 42; EuGH 30.04.2015 - C-80/14 [USDAW und Wilson], Rn. 45; BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 32). Der Europäische Gerichtshof legt den Begriff "Betrieb" im Massenentlassungsrecht sehr weit aus und stellt keine hohen organisatorischen Anforderungen an die erforderliche Leitungsstruktur. Nach seinem Verständnis wird das Arbeitsverhältnis im Wesentlichen durch die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Unternehmensteil gekennzeichnet, dem er zur Erfüllung seiner Aufgabe angehört. Der Begriff "Betrieb" ist dahin auszulegen, dass er nach Maßgabe der Umstände die Einheit bezeichnet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören (EuGH 13.05.2015 - C-392/13 [Rabal Cañas], Rn. 44; EuGH 30.04.2015 - C-80/14 [USDAW und Wilson], Rn. 47; BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 33 m. w. N.). Es muss sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Da die MERL die sozioökonomischen Auswirkungen betrifft, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen können, muss die fragliche Einheit weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen, um als "Betrieb" qualifiziert werden zu können (EuGH 13.05.2015 - C-392/13 - [Rabal Cañas] Rn. 45, 47; EuGH 30.04.2015 - C-80/14 - [USDAW und Wilson] Rn. 49, 51; EuGH 15.02.2007 - C-270/05 - [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 27 f.). Ein solcher Betrieb muss darum auch keine Leitung haben, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann (EuGH 13.05.2015 - C-392/13 - [Rabal Cañas] Rn. 44 m. w. N.). Vielmehr reicht es aus, wenn eine Leitung besteht, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung sicherstellt (EuGH 13.05.2015 - C-392/13 - [Rabal Cañas] Rn. 50; EuGH 15.02.2007 - C-270/05 - [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 31; BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 33).</p> <span class="absatzRechts">283</span><p class="absatzLinks">bb.Die Beklagte zu 1) unterhielt mit der Station am Flughafen B. einen "Betrieb" in diesem Sinne. Die Einheit war auf einen dauerhaften Bestand ausgerichtet, etwa manifestiert in den angemieteten Räumlichkeiten, den auf diesen Abflughafen als Einsatzort ausgerichteten Arbeitsverhältnissen und dem auf dieser Station (als einer von vier) aufgebauten Flugplan der Beklagten zu 1). Die Einheit diente der Erledigung bestimmter Aufgaben im Unternehmen der Beklagten zu 1), nämlich dem Angebot bestimmter Punkt-zu-Punkt-Flugverbindungen mit einer der Station zugeordneten Gesamtheit von Arbeitnehmern und weiteren Betriebsmitteln, insbesondere den Slots und einer feststehenden Anzahl von Flugzeugen. Die Einheit wies eine gewisse organisatorische Struktur auf, bei der aus der Belegschaft der Base Captain und der Base Supervisor hervorgehoben waren. Dabei kam dem Base Captain auch hinreichende Leitungsfunktion i. S. d. Betriebsbegriffs der MERL zu, da er nach Ziff. 1.3.5 OM/A dafür verantwortlich war, dass der Flugbetrieb von seiner Basis aus in einer sicheren, effizienten, pünktlichen und vorschriftsmäßigen Weise gemäß den genehmigten Richtlinien und Verfahren der Beklagten zu 1) durchgeführt wurde. Er war dafür verantwortlich, dass der Flugbetrieb von seiner Basis aus in Übereinstimmung mit den genehmigten Richtlinien und Verfahren der Beklagten durchgeführt wurde. Dabei erteilte der Base Captain der übrigen Belegschaft auch kurzfristige Weisungen (nach der Terminologie des Klägers) bzw. setzte Entscheidungen der übergeordneten Leitung in "ad hoc-Maßnahmen" um (so die Beklagte zu 1), was auch nur durch Weisungen gegenüber anderen Beschäftigten denkbar ist. Dementsprechend war die Massenentlassungsanzeige für die am Standort B. beschäftigten Arbeitnehmer nicht am Sitz des etwaigen Leitungsapparates der Beklagten zu 1) in T. bei X., sondern in B. zu erstatten. Sie konnte in T. unter Berücksichtigung der sozio-ökonomischen Auswirkungen ihren Zweck offensichtlich nicht erfüllen.</p> <span class="absatzRechts">284</span><p class="absatzLinks">b.Die Beklagte zu 1) hat die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß i.S.d. § 17 Abs. 3 KSchG erstattet. Es gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Zunächst ist der Arbeitnehmer darlegungs- und beweisbelastet dafür, dass die Voraussetzungen einer Anzeigepflicht nach § 17 KSchG vorliegen. Hat er dies vorgetragen, kann er die Ordnungsgemäßheit der Massenentlassungsanzeige mit Nichtwissen bestreiten. Der Arbeitgeber muss sodann im Einzelnen zur Anzeige vortragen. Im Anschluss hat der Arbeitnehmer konkret vorzubringen, welche Punkte er beanstandet. Das Gericht ist verpflichtet, Unwirksamkeitsgründe für eine Massenentlassungsanzeige, die sich unmittelbar aus dem Parteivorbringen ergeben, von Amts wegen zu beachten, selbst wenn der Gegner sie nicht rügt (ErfK/Kiel, 22. Aufl. 2021, § 17 KSchG, Rn. 40, m. w. N.). Gleiches mag gelten, wenn sich solche Unwirksamkeitsgründe aus vom Arbeitgeber in das Verfahren eingeführten Unterlagen ohne weiteres eindeutig ergeben (BAG 13.12.2012 - 6 AZR 5/12, Rn. 43). Das Gericht ist indessen nach dem zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz dagegen nicht verpflichtet, in kommentarlos vorgelegten Unterlagen nach etwaigen Unwirksamkeitsgründen für die Massenentlassungsanzeige zu forschen, die im Sachvortrag der Parteien keinen unmittelbaren Niederschlag gefunden haben. In Anwendung dieses Maßstabs ist die Massenentlassungsanzeige wirksam.</p> <span class="absatzRechts">285</span><p class="absatzLinks">aa.Die Massenentlassungsanzeige ist von der Beklagten zu 1) vor Zugang der Kündigung bei der zuständigen Arbeitsagentur gestellt worden. Als zuständige Arbeitsagentur für die Anzeige kommt innerhalb Deutschlands wie ausgeführt allein die Agentur in Düsseldorf am Ort des Betriebs i.S.d. MERL in Betracht. An diese hat die Beklagte zu 1) die Anzeige gerichtet. Es kann, was zwischen den Parteien streitig ist, offen bleiben, ob die Massenentlassungsanzeige der Agentur für Arbeit Düsseldorf vor Zugang der Kündigung im Original zugegangen ist. Der unstreitige Eingang per Telefax vor Zugang der Kündigung ist ausreichend und wirksam. Die Anzeige, die insbesondere per unterschriebenem Anschreiben und unterschriebenem ausgefüllten Formular erfolgte und dergestalt als Telefax an die Agentur für Arbeit übermittelt wurde, genügte der in § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG vorgesehenen Schriftform (LAG Berlin-Brandenburg 06.01.2016 - 23 Sa 1347/15, Rn. 80 m. w. N.; ErfK/Kiel, 22. Aufl. 2022, § 17 KSchG Rn. 28; APS/Moll, 6. Aufl., § 17 KSchG Rn. 97; KR/Heinkel, 13. Aufl. 2022, § 17 KSchG Rn. 139). Insoweit gilt nichts anderes als für die Übermittlung des Unterrichtungsschreibens an den Betriebsrat gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG, wofür sowohl nach nationalem Recht als auch nach Unionsrecht ein Telefax genügt (KR/Heinkel, 13. Auf. 2022, § 17 KSchG Rn. 139 unter Bezugnahme auf BAG 22.09.2016 - 2 AZR 276/16, Rn. 41 ff.; BAG 13.06.2019 - 6 AZR 459/18, Rn. 47).</p> <span class="absatzRechts">286</span><p class="absatzLinks">bb.Im Anschreiben sowie in Feld 32 des ausgefüllten Formulars sind i. S. d. § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG die Gründe für die Entlassungen genannt. Dazu ist - anders als gegenüber der Arbeitnehmervertretung im Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 KSchG - der Arbeitsverwaltung ein bloßer Überblick darüber zu geben, welcher Anlass bzw. welcher Sachverhalt die Kündigungen ausgelöst hat. Der Arbeitsverwaltung wird bereits durch die allgemeine Benennung dessen eine Grundlage für die Prüfung gegeben, ob eine Abkürzung oder eine Verlängerung der Sperrfrist in Betracht kommt und gegebenenfalls welche Maßnahmen zur Verhinderung der Massenentlassung oder für Vermittlungen in Betracht gezogen werden können (Spelge, EuZA 2018, 67, 86; APS/Moll, 6. Aufl. 2022, § 17 KSchG Rn. 99 m. w. N.). Diesem Zweck genügten die gemachten Angaben, wonach der Flugbetrieb in Deutschland eingestellt werde und keine Stationierungsorte in Deutschland mehr vorgehalten würden. Auf die Situation außerhalb von Deutschland kam es für die Arbeitsverwaltung in B. nicht an. Einer näheren Darstellung des Hintergrunds und der Motivation der Beklagten zu 1) bedurfte es nicht.</p> <span class="absatzRechts">287</span><p class="absatzLinks">cc.Die Anzeige ist nicht deshalb unwirksam, weil die Beklagte zu 1) die Zahl der zu entlassenden sowie der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer für den "Betrieb" B. nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG falsch angegeben hätte. Dabei sind unwesentliche Fehler für die sachliche Prüfung und die Vermittlungstätigkeit der Agentur für Arbeit und so für die Wirksamkeit der Anzeige unschädlich (vgl. BAG 28.06.2012 - 6 AZR 780/10, Rn. 50; 22.03.2001 - 8 AZR 565/00, Rn. 140; LAG Baden-Württemberg 16.09.2010 - 11 Sa 35/10, Rn. 23 ff. m. w. N.; Boemke, in Boecken/Düwell/Diller/Hanau, § 17 KSchG Rn. 110 m. w. N.). Nach den Angaben der Anzeige beschäftigte die Beklagte in B. regelmäßig 163 Arbeitnehmer und beabsichtigte deren Entlassungen. Der Kläger geht ausweislich der Klageschrift davon aus, dass am Standort ca. 150 Arbeitnehmer beschäftigt waren und allen gekündigt worden ist. Diese etwaige Diskrepanz ist unwesentlich, zumal nicht ersichtlich ist, dass die Angaben in der Anzeige zu niedrig waren.</p> <span class="absatzRechts">288</span><p class="absatzLinks">dd.Dahinstehen kann schließlich, ob die ebenfalls gerügte Zahl der "vorangegangenen Entlassungen" zutreffend war. Dabei handelt es sich nicht um eine der "Muss-Angaben" i. S. d. § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG, die für die Wirksamkeit der Anzeige relevant sind. Vielmehr verlangt die Arbeitsverwaltung diese Angabe in ihrem Formular, um (auch) damit das Erfordernis der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG überprüfen zu können. Dass die Beklagte dieser Anzeigepflicht unterlag, ist unstreitig.</p> <span class="absatzRechts">289</span><p class="absatzLinks">ee.Die übrigen Pflichtangaben des § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG sind in der von der Beklagten zu 1) vorgelegten Anzeige unbestritten enthalten.</p> <span class="absatzRechts">290</span><p class="absatzLinks">ff.Die Massenentlassungsanzeige ist schließlich nicht wegen fehlender Soll-Angaben i. S. v. § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer unwirksam, wie der Kläger zweitinstanzlich unter Berufung auf eine neuere Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgericht gerügt hat (Hess. LAG 25.06.2021 - 14 Sa 1225/20; Revision eingelegt zu 2 AZR 424/21).</p> <span class="absatzRechts">291</span><p class="absatzLinks">(1)Allerdings ist der Kläger nicht gehindert, die Fehlerhaftigkeit der Massenentlassungsanzeige auch insoweit erstmals in zweiter Instanz geltend zu machen.</p> <span class="absatzRechts">292</span><p class="absatzLinks">(a)Die Rüge, die Kündigung sei unwirksam, weil die Massenentlassungsanzeige wegen Unterlassung der Soll-Angaben i. S. v. § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG nicht wirksam erfolgt sei, ist nicht nach § 6 Satz 1 KSchG präkludiert.</p> <span class="absatzRechts">293</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat bereits mit der Klageschrift eine nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG gerügt. Dies genügte den Anforderungen des § 6 Satz 1 KSchG, da die Beklagte zu 1) dem erstinstanzlichen Vortrag des Klägers die "Stoßrichtung" der Rüge hinreichend entnehmen konnte (vgl. zu diesem Erfordernis BAG 20.01.2016 - 6 AZR 601/14, Rn. 13 ff.; ferner Moll/Katerndahl Anm. AP KSchG 1969 § 17 Nr. 48, die generell davon ausgehen, Sinn und Zweck des § 6 Satz 1 KSchG erforderten keine Substantiierung der Rüge). Unterstellt, die Soll-Angaben seien für die Wirksamkeit der Kündigung erforderlich, ist es bei entsprechender Rüge ohne weiteres Aufgabe der Beklagten zu 1), zur Mitteilung der Soll-Angaben an die zuständige Agentur für Arbeit vorzutragen. Die Soll-Angaben gehören dann schlicht zum Inhalt der vom Arbeitgeber darzulegenden Massenentlassungsanzeige.</p> <span class="absatzRechts">294</span><p class="absatzLinks">(b)Der Kläger ist mit der Rüge nicht gemäß § 67 ArbGG ausgeschlossen. Dies ergibt sich schon dadurch, dass durch die Zulassung der Rüge die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögert wurde. Die Angelegenheit war ohne weitere Sachaufklärung entscheidungsreif. Die in Ziffer 34 der Anzeige an die Agentur für Arbeit bezeichnete Liste mit den Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer wurde der Agentur für Arbeit Düsseldorf erst nach Zugang der Kündigung nachgereicht. Insoweit liegt schon kein streitiger Sachverhalt vor. Streitig ist alleine, ob der Sachvortrag der Beklagten zu 1) zutrifft, wonach die sog. Soll-Angaben der Agentur für Arbeit im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung aufgrund der vorangegangenen Anträge auf Kurzarbeitergeld zugänglich waren, d.h. letztlich für die einzelnen zu entlassenden Arbeitnehmer ohnehin in dem System der Agentur für Arbeit hinterlegt waren. Die Kammer lässt offen, ob dies genügt oder auch in einem solchen Fall eine auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung aktualisierte Zusammenstellung dieser Angaben der Agentur für Arbeit gesondert zu übermitteln ist. Darauf kommt es nicht an.</p> <span class="absatzRechts">295</span><p class="absatzLinks">(2)Fehlende Soll-Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer i. S. v. § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG führen nämlich nicht zur Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige.</p> <span class="absatzRechts">296</span><p class="absatzLinks">(a)Nach Auffassung des Hessischen Landesarbeitsgerichts führt es zur Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 17 Abs. 1 KSchG i. V. m. § 134 BGB, wenn die Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit nicht die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Angaben (sog. "Soll-Angaben") enthält oder diese nicht vor Zugang der Kündigung gegenüber der Agentur für Arbeit nachgeholt werden (Hess. LAG 25.06.2021 - 14 Sa 1225/20, juris, Rn. 32 unter Bezugnahme auf Spelge, EuZA 2018, 67; Spelge, RdA 2018, 297; EuArbRK/Spelge RL 98/59/EG Art. 3 Rn. 4; EuArbRK/Spelge RL 98/59/EG Art. 6 Rn. 18). Dies ergebe die richtlinienkonforme Auslegung der Vorschrift. Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 3 MERL verlange die Mitteilung aller zweckdienlichen Angaben. Hierzu gehören auch die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer (BAG 14.05.2020 - 6 AZR 235/19- NZA 2020, 1092). Die MERL unterscheide dabei nicht zwischen solchen Angaben, die auf jeden Fall erfolgen müssen und solchen, die zwar zweckdienlich, aber gleichwohl verzichtbar seien (BAG 13.02.2020 - 6 AZR 146/19 - BAGE 169, 362). § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG sei daher richtlinienkonform auszulegen; dies sei mit dem Wortlaut, der Gesetzessystematik sowie mit dem aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Willen des Gesetzgebers vereinbar (Hess. LAG 25.06.2021 - 14 Sa 1225/20, juris, Rn. 32, 35, 41).</p> <span class="absatzRechts">297</span><p class="absatzLinks">(b)Dem folgt die erkennende Kammer nicht. Sie geht mit der ganz herrschenden Meinung davon aus, dass Fehler bei den Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG für die Wirksamkeit der Kündigung unschädlich sind (so bereits BAG 06.10.1960 - 2 AZR 47/59, Rn. 8; ferner TLL/Lembke/Oberwinter, KSchG, 4. Aufl. 2018, § 17 Rn. 134; LSSW/Wertheimer KSchG,11. Aufl. 2018, § 17 Rn. 70; KR/Weigand KSchG, 12. Aufl. 2019, § 17 Rn. 131; Preis/Sagan/Naber/Sittard, EurArbR, 2. Aufl., 2019, § 10 Rn. 148; APS/Moll, 6. Aufl. 2021, § 17 KSchG Rn. 132; Gallner/Mestwerdt/Nägele, KSchG 7. Aufl. 2021, § 17 Rn. 70; HK-KSchG/Hauck Rn. 54; LKB/Bayreuther KSchG, 16. Aufl. 2019, Rn. 119; DDZ/Deinert/Callsen KSchR, 11. Aufl. 2020, § 17 KSchG Rn. 55; HWK/Molkenbur, 9. Aufl. 2020, § 17 KSchG Rn. 35).</p> <span class="absatzRechts">298</span><p class="absatzLinks">(aa)Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht in den Entscheidungen vom 13.02.2020 (- 6 AZR 146/19, Rn. 71, 75, 81, 93 und 109) sowie vom 14.05.2020 (6 AZR 235/19, Rn 133) ausgeführt, die Vermittlungsbemühungen der Arbeitsagentur setzten voraus, dass diese "in einem strukturierten Verfahren vom Arbeitgeber die in § 17 Abs. 3 Satz 4 und Satz 5 KSchG verlangten, objektiv richtigen Angaben vor Zugang der Kündigung erhält (…)." Sämtliche in § 17 Abs. 3 Sätze 4 und 5 KSchG aufgeführten Gesichtspunkte seien "zweckdienlich" i. S. v. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 MERL.</p> <span class="absatzRechts">299</span><p class="absatzLinks">Damit hat das Bundesarbeitsgericht aber nicht angenommen, dass eine Verletzung der Soll-Angaben-Pflicht aus § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG - entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung (BAG 06.10.1960 - 2 AZR 47/59, Rn. 8) - zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Im Gegenteil hat es in der genannten grundlegenden Entscheidung vom 13.02.2020 ausgeführt, dass die Unterscheidung in § 17 Abs. 3 Sätze 4 und 5 KSchG zwischen Muss- und Soll-Angaben den unionsrechtlichen Vorgaben genüge, auch wenn die MERL diese Unterscheidung nicht kenne und in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 die Mitteilung aller "zweckdienlichen" Angaben verlange sowie einzelne - in § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG als Muss-Angaben ausgestaltete - Punkte nenne, die "insbesondere" anzugeben sind (BAG 13.03.2020 - 6 AZR 146/19, Rn. 93).</p> <span class="absatzRechts">300</span><p class="absatzLinks">(bb)Die Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG mögen zweckdienlich und damit durch Art. 3 Abs. 1 UnterAbs. 3 MERL intendiert sein. Zur Überzeugung der Kammer können sie aber schon deshalb für die Wirksamkeit der Anzeige und der Kündigung nicht zwingend erforderlich sein, weil allein die Bezeichnung "zweckdienliche Angaben" in Art. 3 Abs. 1 UnterAbs. 3 MERL bei weitem zu ungenau ist, um einer Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, die nicht alle denkbaren für die Arbeitsvermittlung zweckdienlichen Angaben als "Muss-Angaben" aufführt, die Richtlinienkonformität oder gar Wirksamkeit abzusprechen. Über die in Art. 3 Abs. 1 UnterAbs. 3 MERL mit "insbesondere" gekennzeichneten Angaben hinaus, die § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG ausdrücklich als Muss-Angaben ausgestaltet hat, gibt es eine große Anzahl von weiteren zweckdienlichen Angaben für die Arbeitsvermittlung. Dazu zählen insbesondere auch solche, die weder in Satz 4 noch in Satz 5 des § 17 Abs. 3 KSchG genannt sind, wie etwa Schwerbehinderung, Teilzeitbeschäftigung, Schwangerschaft etc.</p> <span class="absatzRechts">301</span><p class="absatzLinks">Bei diesem Befund ist kaum denkbar, dass ein nationales Recht in den EU-Staaten richtlinienkonform ausgestaltet wäre, wenn die Richtlinie zwingende Geltung in Bezug auf alle denkbaren zweckdienlichen Angaben beanspruchte. Ist aber der nationale Gesetzgeber mangels ausreichend klarer Vorgaben der Richtlinie nicht gehalten, sämtliche denkbaren, in der MERL nicht ausdrücklich ("insbesondere") genannten zweckdienlichen Angaben für die Arbeitsvermittlung zur Wirksamkeitsvoraussetzung einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige zu erheben, dann kann auch keine richtlinienkonforme Auslegung der Soll-Vorschrift des § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG im Sinne einer Muss-Vorschrift geboten sein.</p> <span class="absatzRechts">302</span><p class="absatzLinks">Die Verpflichtung nach Art. 3 Abs. 1 UnterAbs. 3 MERL muss auch nicht deshalb in ihrer ganzen Unbestimmtheit zu einer Muss-Vorschrift erhoben werden, weil ihr sonst keine angemessene und ausreichende Rechtsfolge gegenüberstünde und sie nicht effektiv durchgesetzt werden könnte. Zum ersten können die in der Richtlinie unter "insbesondere" aufgeführten zweckdienlichen Angaben ohne weiteres effektiv umgesetzt werden, wie § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG zeigt. Zum zweiten wohnt der Richtlinie im Übrigen, wie ausgeführt, aufgrund ihrer eigenen Unbestimmtheit die Ineffektivität inne. Zum dritten hätte die Agentur für Arbeit die Möglichkeit, eine Verletzung der Verpflichtung aus § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG im Rahmen der Entscheidung über die Sperrfrist (§ 18 Abs. 1 und 2 KSchG) zu berücksichtigen und auf diese Weise zu ihrer zusätzlichen Effektivität beizutragen (ähnlich Moll in APS, 6. Aufl. 2021, KSchG § 17 Rn. 93 zur Pflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der Arbeitsagentur eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat im Rahmen des Anzeigeverfahrens zuzuleiten).</p> <span class="absatzRechts">303</span><p class="absatzLinks">II.Der gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Kündigungsschutzantrag (Antrag zu III.2) ist zulässig, aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">304</span><p class="absatzLinks">1.Der gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Kündigungsschutzantrag ist zulässig. Der Antrag ist insbesondere hinreichend bestimmt und bezieht sich auf die Kündigung des vertraglich zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 2) begründeten Arbeitsverhältnisses. Das Angebot hierzu gab die Beklagte zu 2) mit der E-Mail vom 20.08.2020 ab, welches sämtliche wesentlichen Vertragsbestandteile enthielt, nämlich das Angebot der Tätigkeit als Flugkapitän zum 15.09.2020 zu den gleichen Bedingungen wie bislang bei der Beklagten zu 1). Mit der Antwort-E-Mail "I accept" hat der Kläger dieses Angebot angenommen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Übersetzung des Klägers oder der Beklagten zu Grunde gelegt wird. Auf die Kündigung dieses Arbeitsverhältnisses bezieht sich die Kündigungsschutzklage des Klägers. Er greift mit der Klage die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 an. Mit dieser kündigt die Beklagte zu 2) das zwischen ihr und dem Kläger "zum 15. September 2020 eingegangene Arbeitsverhältnis". Dies ist eindeutig ein vertraglich begründetes und nicht ein im Wege des § 613a BGB auf sie übergegangenes Arbeitsverhältnis, zumal sie einen Betriebsübergang stets in Abrede gestellt hat. Die am 12.09.2020 zugegangene Kündigung könnte ein seit dem oder nach dem 15.09.2020 im Wege des § 613a BGB bestehendes Arbeitsverhältnis ohnehin nicht tangieren, weil die Beklagte zu 2) dann gekündigt hätte, bevor sie in die Arbeitgeberstellung eingetreten wäre. Ein Feststellungsinteresse hat der Kläger beim Antrag zu III.2. daher nur bezogen auf ein arbeitsvertraglich begründetes Arbeitsverhältnis zur Beklagten zu 2). Bei verständiger Würdigung auch unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Klageschrift bezieht sich der Kündigungsschutzantrag nur auf ein solches vertraglich begründetes Arbeitsverhältnis. Die Klageschrift beschreibt in tatsächlicher Hinsicht die Historie dieses vertraglich begründeten Arbeitsverhältnisses. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger bereits in der Klageschrift ausgeführt hat, dass er nicht wisse, wann der Betriebsübergang stattgefunden habe, zumal er anderseits für die Erfüllung der Wartezeit von einer Anrechnung der Vorbeschäftigungszeiten und dabei von der "Auslegung des vom Kläger angenommenen Angebotes" ausgeht.</p> <span class="absatzRechts">305</span><p class="absatzLinks">Wenn der Kläger später ausführt, dass durch den E-Mail-Verkehr mit der Beklagten zu 2) kein eigenständiges Arbeitsverhältnis mit dieser begründet worden sei, sondern das Schreiben nur eine missglückte Unterrichtung über einen Betriebsübergang sei, so liegt darin keine konkludente Klagerücknahme der in Bezug auf das vertraglich begründete Arbeitsverhältnis erhobenen Kündigungsschutzklage. Es handelt sich lediglich um die Äußerung einer unzutreffenden Rechtsansicht. Ohnehin und unabhängig davon hätte die Beklagte zu 2) einer etwaigen Klagerücknahme nach erstinstanzlicher Antragstellung zustimmen müssen, was nicht erfolgt ist. Sie hat zu dieser Rechtsansicht des Klägers auch nach Wiederholung im Kammertermin vor dem Landesarbeitsgericht keine Erklärung abgegeben.</p> <span class="absatzRechts">306</span><p class="absatzLinks">2.Der Kündigungsschutzantrag zu III.2 ist unbegründet, weil die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 rechtswirksam ist und das vertraglich mit dem Kläger begründete Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 31.12.2020 aufgelöst hat.</p> <span class="absatzRechts">307</span><p class="absatzLinks">a. Die Wirksamkeit der Kündigung beurteilt sich nach deutschem Recht. Insoweit gilt im Ergebnis aufgrund der von den Parteien getroffenen Rechtswahl im Eckpunktepapier nichts anderes als für die Kündigung der Beklagten zu 1). Der Kläger und die Beklagte zu 2) wiederum haben auf der Grundlage des Schreibens vom 20.08.2020 - unabhängig von der zu Grunde gelegten Übersetzung - ein Arbeitsverhältnis zu denselben Bedingungen und Konditionen vereinbart, wie sie in dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) bestand. Demgemäß gilt deutsches Recht auch im Verhältnis des Klägers zur Beklagten zu 2). Davon gehen die Parteien im Übrigen im Verfahren übereinstimmend aus.</p> <span class="absatzRechts">308</span><p class="absatzLinks">b.Die Kündigung gilt zunächst nicht schon gemäß §§ 4, 7 KSchG wegen nicht rechtzeitiger Klageerhebung als rechtswirksam. Die Klagen wurden gemäß § 4 KSchG binnen drei Wochen ab Zugang der Kündigung beim Arbeitsgericht erhoben. Ob die §§ 4, 7 KSchG gemäß §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 24 KSchG auf den Flugbetrieb einer ausländischen Fluggesellschaft unter den hier gegebenen Umständen überhaupt Anwendung finden, kann daher offenbleiben.</p> <span class="absatzRechts">309</span><p class="absatzLinks">c.Die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 ist nicht wegen Unbestimmtheit unwirksam. In Anwendung der oben dargestellten Grundsätze ist die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 hinreichend bestimmt. Es gilt hier in der Begründung und im Ergebnis nichts anderes als für die Kündigung seitens der Beklagten zu 1). Auch die Kündigung der Beklagten zu 2) ist hinreichend bestimmt zum 31.12.2020 erklärt.</p> <span class="absatzRechts">310</span><p class="absatzLinks">d.In Bezug auf die Schriftform (§ 623 BGB) bestehen keine Wirksamkeitsbedenken.</p> <span class="absatzRechts">311</span><p class="absatzLinks">e.Die Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 ist nicht gemäß § 1 KSchG unwirksam. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.</p> <span class="absatzRechts">312</span><p class="absatzLinks">aa.Die gesetzlichen Voraussetzungen für den persönlichen und betrieblichen Anwendungsbereich des § 1 KSchG sind nicht erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">313</span><p class="absatzLinks">(1)Das Arbeitsverhältnis des Klägers hat nicht gemäß § 1 Abs. 1 KSchG im Betrieb oder Unternehmen der Beklagten zu 2) länger als sechs Monate bestanden.</p> <span class="absatzRechts">314</span><p class="absatzLinks">(a)Der Kläger hatte bei Zugang der Kündigung die Wartezeit von sechs Monaten im Arbeitsverhältnis zu der Beklagten zu 2) noch nicht zurückgelegt. Dieses sollte nach der vertraglichen Vereinbarung erst am 15.09.2020 beginnen und war nicht einmal in Vollzug gesetzt. Zeiten der Zugehörigkeit zu einem anderen konzernangehörigen Unternehmen werden nicht kraft Gesetzes auf die Wartezeit angerechnet (vgl. dazu BAG 20.02.2014 - 2 AZR 859/11 Rn. 44 ff.).</p> <span class="absatzRechts">315</span><p class="absatzLinks">(b)Auch scheidet eine etwaige Anrechnung von Vordienstzeiten aufgrund eines Betriebsübergangs von der Beklagten zu 1) auf die Beklagte zu 2) nach § 613a Abs. 1 BGB aus. Ein Betriebsübergang, der den Kläger erfasst hat, hat - wie ausgeführt - nicht und erst recht nicht vor Zugang der Kündigung vom 10.09.2020 stattgefunden.</p> <span class="absatzRechts">316</span><p class="absatzLinks">(aa)Der Übergang eines Betriebs i. S. v. § 613a Abs. 1 BGB vollzieht sich im Zeitpunkt der tatsächlichen Weiterführung bzw. Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit durch den Betriebsnachfolger (BAG 18.03.1999 - 8 AZR 159/98; 21.02.2008 - 8 AZR 77/07; MüKoBGB/Müller-Glöge, 8. Aufl. 2020, § 613a Rn. 59 m. w. N.).</p> <span class="absatzRechts">317</span><p class="absatzLinks">(bb)Für eine tatsächliche Weiterführung bzw. Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) durch die Beklagte zu 2) vor Zugang der Kündigung vom 10.09.2020 ist nichts ersichtlich. Dagegen spricht schon der erst zum 15.09.2020 vereinbarte Vertragsbeginn der Arbeitsverhältnisse der am Standort B. beschäftigten Arbeitnehmer mit der Beklagten zu 2). Auch am Standort X. hat die Beklagte zu 2) erst zu diesem Datum Arbeitnehmer eingestellt (vgl. das E-Mail-Angebot der Beklagten zu 2) vom 12.08.2021). Erst recht besteht kein Anhaltspunkt für eine frühere tatsächliche Weiterführung bzw. Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit der Beklagten zu 1) durch die Beklagte zu 2) in Bezug auf einen Betrieb oder Teilbetrieb, dem der Kläger zugeordnet wäre. Unstreitig führte die Beklagte zu 1) ihren letzten Flug am Standort B. noch im Oktober 2020 durch, während die Beklagte zu 2) ihn dort nie aufnahm.</p> <span class="absatzRechts">318</span><p class="absatzLinks">(2)Auch die gesetzlichen Voraussetzungen des betrieblichen Anwendungsbereichs des § 1 KSchG sind nicht erfüllt. Die Beklagte zu 2) unterhielt weder einen Betrieb i. S. d. § 23 KSchG noch einen Flugbetrieb i. S. d. § 24 KSchG, auf den das Kündigungsschutzgesetz Anwendung fand.</p> <span class="absatzRechts">319</span><p class="absatzLinks">(a)Die Beklagte zu 2) unterhielt als Gesellschaft maltesischen Rechts keinen Betrieb i. S. d. § 23 KSchG im räumlichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes.</p> <span class="absatzRechts">320</span><p class="absatzLinks">(aa)§ 23 KSchG erfasst wie ausgeführt nur inländische Betriebe. Für die räumliche Lage eines Betriebes ist entscheidend, wo schwerpunktmäßig über Arbeitsbedingungen und Organisationsfragen sowie darüber entschieden wird, in welcher Weise Einstellungen, Entlassungen und Versetzungen vorgenommen werden. Der allgemeine Betriebsbegriff des § 23 KSchG knüpft an die organisatorische Einheit an. Eine betriebliche Struktur setzt einen einheitlichen organisatorischen Einsatz der Betriebsmittel und der Personalressourcen voraus. Die einen Betrieb konstituierende Leitungsmacht wird dadurch bestimmt, dass der Kern der Arbeitgeberfunktionen in personellen und sozialen Angelegenheiten von derselben institutionalisierten Leitung im Wesentlichen selbständig ausgeübt wird (BAG 03.06.2004 - 2 AZR 386/03).</p> <span class="absatzRechts">321</span><p class="absatzLinks">(bb)Die Beklagte zu 2) unterhielt und unterhält in der Bundesrepublik Deutschland keine organisatorische Einheit von Arbeitsmitteln, mit deren Hilfe sie allein oder in Gemeinschaft mit ihren Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolgt, der nicht nur in der Befriedigung von Eigenbedarf liegt. Auch unterhält die Beklagte zu 2) keine Niederlassung, Betriebsstätte oder ähnliches in der Bundesrepublik Deutschland, von der aus ein einheitlicher Einsatz der Betriebsmittel und der Personalressourcen ihrerseits gesteuert wird. Die Beklagte beschäftigt auch keine Mitarbeiter in Deutschland. Der bloße Vertragsschluss und die Absicht künftiger Beschäftigung, die noch vor Ausspruch der Kündigung aufgegeben und zu keinem Zeitpunkt umgesetzt wurde, genügen nicht. Zudem war insoweit nicht beabsichtigt, den Einsatz der Arbeitnehmer, hier also den des Klägers, von Deutschland aus zu leiten.</p> <span class="absatzRechts">322</span><p class="absatzLinks">(b)Die Beklagte zu 2) unterhielt keinen Flugbetrieb i. S. d. § 24 KSchG im räumlichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes. Anders als die Beklagte zu 1) betrieb die Beklagte zu 2) in B. zu keinem Zeitpunkt einen Standort mit Arbeitnehmern, die von B. aus auf der Basis von deutschen Arbeitsverträgen im Luftverkehrsbetrieb beschäftigt und in Flugzeugen der Beklagten eingesetzt wurden. Erst recht "beschäftigte" die Beklagte zu 2) in Deutschland zu keinem Zeitpunkt mehr als zehn Arbeitnehmer, wie dies § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG voraussetzt. Zwar hat sie mehr als zehn Arbeitnehmer zum 15.09.2020 eingestellt, diese sind jedoch nie für sie tätig geworden. Anders als der Wortlaut des § 1 Abs. 1 KSchG, der darauf abstellt, dass das "Arbeitsverhältnis" mehr als sechs Monate "bestanden" haben muss, damit der Arbeitnehmer dem KSchG unterfällt, stellt § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG darauf ab, dass in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer "beschäftigt" werden müssen. Hierbei kommt es maßgeblich darauf an, dass eine betriebliche Struktur bzw. hier die "Gesamtheit der Luftfahrtzeuge" tatsächlich besteht und darin Arbeitnehmer in der geforderten Anzahl eingegliedert sind (BAG 03.06.2004 - 2 AZR 386/03, Rn. 37). Dies war hier nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">323</span><p class="absatzLinks">bb.Es erscheint allerdings denkbar, dass die Beklagte zu 2) den Kläger bereits mit Abschluss des Arbeitsvertrags im August 2020 auch kündigungsrechtlich so stellen wollte, wie er bis dahin bei der Beklagten zu 1) gestanden hatte. Gemäß dem Angebot der Beklagten zu 2) vom 20.08.2020, das von dem Kläger ohne Einschränkung akzeptiert wurde ("I accept"), sollten für das zu begründende Arbeitsverhältnis dieselben bzw. die gleichen Bedingungen wie bei dem bereits bestehenden Vertrag mit der Beklagten zu 1), geändert durch die Annahme des Eckpunktepapiers gelten. Danach wäre auf die bei der Beklagten zu 1) bereits vollständig zurückgelegte Wartezeit abzustellen und zu prüfen, ob die Beklagte zu 1) bei Zugang der Kündigung ihrerseits dem betrieblichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes unterfiel.</p> <span class="absatzRechts">324</span><p class="absatzLinks">(1)Eine konkludente oder stillschweigende Vereinbarung über die Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten ist rechtlich ohne weiteres möglich. Durch die vertraglich vereinbarte Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten kann der allgemeine Kündigungsschutz grundsätzlich bereits vor Ablauf der Wartezeit und sogar vor Dienstantritt gewährt werden (BAG 23.02.2017 - 6 AZR 665/15, Rn. 38).</p> <span class="absatzRechts">325</span><p class="absatzLinks">Allerdings ist der allgemeine Kündigungsschutz nicht konzernbezogen, sondern betriebs- bzw. unternehmensbezogen ausgestaltet. Wird der Arbeitnehmer nach Auflösung seines bisherigen Arbeitsverhältnisses im Unternehmensverbund weiterbeschäftigt, bedarf es deshalb für die Annahme einer konkludenten Vereinbarung über die Anrechnung vorangegangener Beschäftigungszeiten besonderer Anhaltspunkte. Diese können sich aus den Umständen ergeben, unter denen der Wechsel vollzogen wurde. Geht er ausschließlich auf die Initiative des Arbeitgebers zurück und wird der Arbeitnehmer beim verbundenen Unternehmen zu annähernd gleichen Arbeitsbedingungen ohne Vereinbarung einer Probezeit weiterbeschäftigt, kann dies ein gewichtiges Indiz für eine solche Vereinbarung sein. Möglicherweise soll eine Wartezeit im Arbeitsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber sogar ganz ausgeschlossen sein. Drängen "alter" und "neuer" Arbeitgeber den Arbeitnehmer gemeinsam zum Unternehmenswechsel und verfolgen sie dabei vorrangig das Ziel, den Verlust des Kündigungsschutzes herbeizuführen, kann der Arbeitnehmer überdies nach dem Rechtsgedanken des § 162 BGB so zu stellen sein, als hätte er die Wartefrist beim neuen Arbeitgeber bereits erfüllt (BAG 20.02.2014 - 2 AZR 859/11, Rn. 45 - 47 mit Darstellung des Meinungsstandes im Schrifttum).</p> <span class="absatzRechts">326</span><p class="absatzLinks">(2)Eine Vereinbarung zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 2) dahin, dass sein Arbeitsverhältnis bereits mit Vertragsschluss und vor Vertragsbeginn demselben Kündigungsschutz unterfallen sollte, wie er bei der Beklagten zu 1) bestand, erscheint danach nicht ausgeschlossen.</p> <span class="absatzRechts">327</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) hat dem Kläger ausdrücklich einen Arbeitsvertrag zu denselben Regelungen und Bedingungen angeboten, wie sie in dem Vertrag mit der Beklagten zu 1) galten. Hierzu gehörten - ausgehend vom objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) - auch die Beschäftigungszeiten ab dem jeweiligen Eintrittsdatum bei der Beklagten zu 1), die unstreitig jeweils mehr als sechs Monate betrugen. Die Vertragsparteien gingen bei Vertragsschluss zudem davon aus, dass die Beklagte zu 2) das Geschäft der Beklagten zu 1) als Wet-Lease-Partner der Konzernobergesellschaft S. übernehmen und am Standort B. unverändert fortsetzen wollte und damit die Verträge des Klägers zur Beklagten zu 1) alsbald beendet würden. Unter diesen Umständen drängte sich die Anerkennung von Dienstzeiten auch vor dem Hintergrund eines möglichen Betriebsübergangs auf.</p> <span class="absatzRechts">328</span><p class="absatzLinks">Auch eine Anerkennung von Dienstzeiten bereits mit Vertragsschluss und somit vor Vertragsbeginn kommt in Betracht. Zwar sollte der Vertrag mit der Beklagten zu 2) ausdrücklich erst ab dem 15.09.2020 gelten und die Arbeitsverhältnisse mit der Beklagten zu 1) zunächst ungekündigt fortbestehen. Für eine sofortige Geltung des Kündigungsschutzes könnte aber die beiderseitige Interessenlage sprechen. Die Beklagte zu 2) wollte sich mit dem Vertragsschluss die Dienste des Klägers für die beabsichtigte Fortführung des Wet-Lease-Geschäfts der Beklagten zu 1) sichern. Hierzu musste sie dem Kläger zumindest ein ebenso sicheres Arbeitsverhältnis anbieten, wie es bei der Beklagten zu 1) bestand. Der Kläger seinerseits musste für künftige Dispositionen im Hinblick auf die zu erwartende Kündigung der Beklagten zu 1), insbesondere die Frage einer fristgerechten Klageerhebung, Gewissheit darüber haben, dass er bereits in einem sicheren Arbeitsverhältnis stand. Anderenfalls hätte er sich vernünftigerweise mit einer Klage gegen eine Kündigung der Beklagten zu 1) gewehrt. Dies konnte nicht im Interesse der Beklagten zu 2) liegen.</p> <span class="absatzRechts">329</span><p class="absatzLinks">Die Fragen, ob der Kläger und die Beklagte zu 2) Ende August 2020 die sofortige Geltung eines entsprechenden Kündigungsschutzes wie bei der Beklagten zu 1) vereinbart haben und ob das Kündigungsschutzgesetz seinerzeit räumlich auf den Betrieb der Beklagten zu 1) Anwendung fand, können an dieser Stelle aber offenbleiben. Denn die Kündigung der Beklagten zu 2) ist nicht gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam, weil sie bei Anwendung des Gesetzes sozial gerechtfertigt wäre.</p> <span class="absatzRechts">330</span><p class="absatzLinks">cc.Die Kündigung der Beklagten zu 2) ist nicht sozial ungerechtfertigt i. S. d. § 1 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 und 3 KSchG. Es liegen dringende betriebliche Erfordernisse in Gestalt einer Stilllegung von Teilen des Betriebs bzw. - dem gleichstehend - Nichtaufnahme des entsprechenden Betriebs vor. Eine soziale Auswahl war nicht durchzuführen, da alle in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer entlassen wurden.</p> <span class="absatzRechts">331</span><p class="absatzLinks">(1)Die Nichtaufnahme des Geschäftsbetriebs in Deutschland durch die Beklagte zu 2) ließ den Beschäftigungsbedarf für den Kläger entfallen bzw. gar nicht erst entstehen und stellt damit ein dringendes betriebliches Erfordernis i. S. v. § 1 Abs. 2 KSchG dar.</p> <span class="absatzRechts">332</span><p class="absatzLinks">(a)Die Stilllegung des gesamten Betriebs oder einzelner Teile durch den Arbeitgeber gehört, wie ausgeführt, zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Entsprechendes muss ohne weiteres gelten, wenn der Arbeitgeber den Geschäftsbetrieb dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne erst gar nicht aufnimmt.</p> <span class="absatzRechts">333</span><p class="absatzLinks">(b)In Anwendung der zur Betriebsstillegung bereits für die Beklagte zu 1) oben dargestellten Grundsätze steht zur Überzeugung der erkennenden Kammer fest, dass die Beklagte zu 2) im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom 10.09.2020 die unternehmerische Entscheidung getroffen und im Sinne greifbarer Formen auch umgesetzt hatte, das von B. aus betriebene Wet-Lease-Geschäft nicht aufzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">334</span><p class="absatzLinks">(aa)Auch insoweit gilt, dass es nicht auf frühere Verlautbarungen ankommt. Richtig ist, dass die Beklagte zu 2) am 28.07.2020 mitgeteilt hatte, dass sie im Spätherbst 2020 in B. eine Station eröffnen werde. Entsprechendes teilte die Beklagte zu 1) mit Schreiben vom 28.07.2020 mit. Schließlich gab die Beklagte zu 2) mit E-Mail vom 20.08.2020 das Angebot an den Kläger ab, welches die Grundlage für das vertragliche Arbeitsverhältnis bildete, das Gegenstand dieser Kündigungsschutzklage ist. Als Anfangsdatum war der 15.09.2020 vorgesehen und die Planung der OCC-Kurse wurde mitgeteilt. Diese Entscheidung des Aufbaus der Station hatte die Beklagte zu 2) im Kündigungszeitpunkt indes revidiert. Dies wird bereits durch das Schreiben des Leiters Routenentwicklung vom 09.09.2020 dokumentiert, in dem die Schließung der Station B. angekündigt wird. Für die Beklagte zu 2) gilt nichts anderes als für die Beklagte zu 1). Die Entscheidungen der Beklagten zu 2) folgen ebenfalls dicht aufeinander und mögen sprunghaft wirken. Offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich sind sie jedoch nicht. Vielmehr spricht auch im Hinblick auf die Nichtaufnahme der Tätigkeit an der Station B. als eine beschlossene und tatsächlich durchgeführte unternehmerische Organisationsentscheidung die Vermutung, dass sie aus sachlichen - nicht zuletzt wirtschaftlichen - Gründen getroffen wurde und nicht auf Rechtsmissbrauch beruht. Auch die etwaige Absicht der Beklagten zu 2), Arbeitnehmer mit dem Dienstort X. und dem Einsatzort B. zu entlassen und dafür neue Mitarbeiter für den Dienst- und Einsatzort X. oder Q. einzustellen, macht die unternehmerische Entscheidung an sich - die Nichtaufnahme des Geschäftsbetriebs an der Station B. bzw. in Deutschland - nicht unsachgemäß oder rechtsmissbräuchlich. Etwaige freie Arbeitsplätze in X. oder Q. finden vielmehr im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Kündigung, insbesondere einer anderweitigen Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, Berücksichtigung.</p> <span class="absatzRechts">335</span><p class="absatzLinks">(bb) Die Beklagte zu 2) hat ihre unternehmerische Entscheidung umgesetzt. Insoweit hat sie unbestritten vorgetragen, dass sie nicht nur die Arbeitsverträge aller in Deutschland stationierten Arbeitnehmer gekündigt, sondern auch zuvor eine Massenentlassungsanzeige erstattet hat. Dagegen ist nicht ersichtlich, dass sie Arbeitnehmer für eine Geschäftstätigkeit am deutschen Markt eingestellt hätte. Soweit der Kläger die Stellenanzeigen vom 17.08.2020 und 23.10.2020 vorlegt, geht hieraus nicht hervor, dass die gesuchten Piloten an deutschen Stationen eingesetzt sein sollten. Entsprechendes gilt für die ausgeschriebene Stelle als Head of Human Ressources. Zwar wird hierin dargestellt, dass die Beklagte zu 2) auch von Deutschland aus operiere, tatsächlich sind hierfür aber keine sonstigen Anhaltspunkte seitens des Klägers vorgetragen worden. Die ausgeschriebene Stelle eines Mechanikers wird seitens der S. und nicht seitens der Beklagten zu 2) angeboten. Insoweit mag es sein, dass S. den deutschen Markt weiter bedient. Dies bedeutet aber nicht, dass die Beklagte zu 2) ihre unternehmerische Entscheidung nicht umgesetzt hätte. Zur Überzeugung der Kammer steht zudem fest, dass die Beklagte zu 2) den Crewraum am Flughafen B. nie übernommen hat. Diesen hatte die Beklagte zu 1), wie ausgeführt, mit Schreiben vom 15.09.2020 gekündigt. Auf die von dem Kläger problematisierte Frage, ob eine solche Kündigung wirksam zum 31.10.2020 zulässig war und rechtlich ein wichtiger Grund für eine Kündigung ohne Frist gemäß § 14.3 des Mietvertrags gegeben war, kommt es nicht an. Das Kündigungsschreiben selbst manifestiert als weiterer Umstand die Nichtaufnahme der Tätigkeit seitens der Beklagten zu 2). Anhaltspunkte für eine Nutzung des Crewraums durch die Beklagte zu 2) entgegen der Kündigung, hat der Kläger nicht aufgezeigt. Die Betriebsmittel in Form von Flugzeugen und iPads usw. werden nicht für den Flugbetrieb von und nach Deutschland eingesetzt, wie dies bei der Beklagten zu 1) geschehen ist. Es steht auch fest, dass die Beklagte zu 2) keine Slots am Flughafen B. übernommen hat. Dies ergibt sich aus der bereits angesprochenen gerichtsbekannten Pressemitteilung der S., wonach sich die Beklagte zu 1) aufgrund zu hoher Gebühren und Abfertigungskosten - und sei es, wie vom Kläger behauptet, aufgrund nicht verlängerter vergünstigter Konditionen - vom Flughafen B. zurückziehen werde. Zwar müssen Verlautbarungen der Presse nicht stets zutreffen, doch ist nicht ersichtlich, warum S. sonst ein Marktsegment öffentlich preisgeben sollte. Außerdem gab die Euro x. GmbH unter dem 15.09.2020 die korrespondierende gerichtsbekannte Mitteilung ab, dass die von S. geflogenen Strecken zukünftig im Wesentlichen von ihr bedient würden. Verschiedene Presseerzeugnisse nahmen dies auf. Danach hat die Euro x. GmbH ca. 95 % der zuletzt von S. gehaltenen Slots am Flughafen B. übernommen.</p> <span class="absatzRechts">336</span><p class="absatzLinks">(cc)Insgesamt bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Beklagte zu 2) nicht ernsthaft und endgültig die Nichtaufnahme der ursprünglich beabsichtigten Station B. beschlossen hätte. Sie hat endgültig von einem möglichen zuvor beabsichtigten Teilbetriebsübergang Abstand genommen. Die Schließung der Station B. ist tatsächlich und dauerhaft umgesetzt worden. Die Beklagte zu 2) hat ihren Geschäftsbetrieb in B. tatsächlich nie aufgenommen. Sie fliegt allenfalls vereinzelt andere Verbindungen nach Deutschland z.B. nach I. oder O., nicht aber von Deutschland aus. Bei den außerdem diskutierten Flugleistungen der N. Air Ltd. ist ein Zusammenhang mit dem früheren Flugbetrieb der Beklagten zu 1) in Deutschland nicht ersichtlich; insbesondere fliegt die N. Air Ltd. nicht B. oder T., sondern C., L., O. und G. an. Letztlich ist auch zuletzt unstreitig, dass es einen Flugbetrieb der Beklagten zu 2) von einer Station B. oder T. aus nie - auch nicht im Zeitpunkt des letzten Kammertermins - gab. Die unstreitige Entwicklung begründet so im vorliegenden Fall zusätzlich die tatsächliche Vermutung, dass bei Zugang der Kündigung ein tragfähiges Konzept der Beklagten zu 2) vorlag, das den Beschäftigungsbedarf für den Kläger bei Ablauf der Kündigungsfrist entfallen ließ.</p> <span class="absatzRechts">337</span><p class="absatzLinks">Daran ändern auch die weiteren vom Kläger aufgezeigten Umstände nichts. Soweit der Kläger darauf abstellt, noch am 27.08.2020 sei allen Crew-Mitgliedern und auch ihm mitgeteilt worden, dass die OCC-Kurse in der kommenden Wochen freigeschaltet würden, ist dies ein durch die tatsächliche Entwicklung bereits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung überholter Umstand. Soweit der Kläger auf angebliche Weiterbeschäftigungsangebote im Ausland abstellt, z.B. auf Beschäftigungsbedarf an der neuen Station in A. oder aber auch früher, betrifft dies nach seinem eigenen Vortrag Neueinstellungen, um den Beschäftigungsbedarf an ausländischen Standorten zu decken. An der umgesetzten Entscheidung, die Station in B. nicht zu eröffnen und wie ausgeführt dies auch im Übrigen in Deutschland nicht zu tun, ändert dies nichts. Die Weihnachtsgrüße des Head of Training stehen dem aufgrund der tatsächlichen Entwicklung ebenfalls nicht entgegen. Letztlich geht es um angeblich freie Arbeitsplätze im Ausland. Dies ist eine Frage der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit. An dem durch die tatsächlich Entwicklung bestätigten Wegfall des Beschäftigungsbedarfs in Deutschland ändert sich dadurch nichts.</p> <span class="absatzRechts">338</span><p class="absatzLinks">(dd)Die unternehmerische Entscheidung der Beklagten zu 2) hatte auch nicht eine nur vorübergehende, etwa pandemiebedingte Schließung des Standortes B. zum Inhalt. Das stünde im Widerspruch dazu, dass die ebenfalls von der Pandemie betroffenen Standorte X. und Q. fortgeführt wurden. Vielmehr ging die Schließung des B.er Standortes auf das Scheitern der Verhandlungen zwischen der Muttergesellschaft S. und der Flughafengesellschaft B. zurück und sollte nicht nur vorübergehend erfolgen. Die früher von der Beklagten zu 1) genutzten Slots stehen der Beklagten zu 2) nicht mehr zur Verfügung.</p> <span class="absatzRechts">339</span><p class="absatzLinks">(ee)Durch die Umsetzung der unternehmerischen Entscheidung ist der Beschäftigungsbedarf für den Kläger entfallen. Der Kläger ist von der Beklagten zu 1) vom Flughafen B. als Heimatbasis bzw. vertraglichem Einsatzort aus im Wet-Lease für S. eingesetzt worden. Da die Beklagte zu 2) diese Flüge entgegen ihrer ursprünglichen Absicht nicht durchführt, hat sie insoweit keinen Beschäftigungsbedarf. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte zu 2) die ursprünglich in B. geplante betriebliche Betätigung ersatzweise an einen anderen Standort verlagert hätte. Hierfür ist nichts ersichtlich, die geplante betriebliche Betätigung entfiel vielmehr ersatzlos. Ob der Kläger auf etwaigen einzelnen freien Arbeitsplätzen an anderen - übernommenen - Standorten der Beklagten zu 2) beschäftigt werden könnte, ist dagegen keine Frage des Wegfalls des Beschäftigungsbedarfs, sondern die einer anderweitigen Weiterbeschäftigungsmöglichkeit i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 lit. b KSchG.</p> <span class="absatzRechts">340</span><p class="absatzLinks">(ff)Der Stilllegung bzw. der Nichtaufnahme des Geschäftsbetriebs steht nicht entgegen, dass die Beklagte zu 2) den Betrieb oder einen Betriebsteil der Beklagten zu 1) übernommen hätte. Denn der Kläger war - wie ausgeführt - in keinem Fall einer etwaig von der Beklagten zu 2) gemäß § 613a Abs. 1 BGB übernommenen Einheit zugeordnet. Hier geht es vielmehr darum, dass ein zunächst beabsichtigter Betriebsübergang (Übergang der Station B. nicht stattfindet. Dies begründet ein dringendes betriebliches Erfordernis und stellt keine Kündigung "wegen" eines Betriebsübergangs dar. Die Kündigung seitens der Beklagten zu 2) erfolgte gerade, weil kein den Kläger betreffender Betriebsübergang stattfand.</p> <span class="absatzRechts">341</span><p class="absatzLinks">(2)Zu berücksichtigende Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bei der Beklagten zu 2) bestanden nicht.</p> <span class="absatzRechts">342</span><p class="absatzLinks">(a)Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Inland hat der Kläger nicht aufgezeigt.</p> <span class="absatzRechts">343</span><p class="absatzLinks">(b)Etwaige freie Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Ausland sind im konkreten Fall nicht zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">344</span><p class="absatzLinks">(aa)Die aus § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b, Satz 3 KSchG folgende gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer zur Vermeidung einer Beendigungskündigung an einem anderen - freien - Arbeitsplatz im selben oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens zu beschäftigen, erstreckt sich zunächst grundsätzlich nicht auf Arbeitsplätze im Ausland (BAG 24.09.2015 - 2 AZR 3/14, Rn. 18; 29.08.2013 - 2 AZR 809/12, Rn. 28 ff.; a.A. LAG I. 22.03.2011 - 1 SA 2/11). Dem folgt die erkennende Kammer. Gründe, davon Ausnahmen zu machen, sind im vorliegenden Fall nicht gegeben.</p> <span class="absatzRechts">345</span><p class="absatzLinks">(aaa)Das KSchG bezieht sich grundsätzlich auf im Inland gelegene Betriebe. Es hat keinen Auslandsbezug. Nichts anderes gilt im Rahmen der zu prüfenden Frage, ob Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf freien Arbeitsplätzen bestehen. Entscheidend ist dabei für die erkennende Kammer, dass ein Ausgleich der wechselseitigen Interessen, d.h. derjenigen des Arbeitgebers, des von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmers und etwaiger im Ausland einzustellender Arbeitnehmer nur innerhalb eines kohärenten Systems erfolgen kann (vgl. insoweit BAG 29.08.2013 - 2 AZR 809/12 Rn. 34). Hier gilt nichts anderes. Offen bleibt, ob freie Arbeitsplätze im Ausland dann zu berücksichtigen sind, wenn sie deutschem Recht unterliegen (offen gelassen von BAG 29.08.2013 - 2 AZR 809/12, Rn. 37; vgl. insoweit auch BAG 26.03.2009 - 2 AZR 883/09, Rn. 22, wonach Arbeitnehmer ausländischer Betriebsteile, deren Arbeitsverhältnisse nicht dem deutschen Recht unterliegen, für den Schwellenwert des § 23 KSchG nicht mitzählen). Die Beklagte zu 2) hatte im Ausland keine Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse deutschem Recht unterlagen und stellte solche Arbeitnehmer dort auch nicht ein.</p> <span class="absatzRechts">346</span><p class="absatzLinks">(bbb)Es geht hier entgegen der Ansicht des Klägers auch nicht um eine grenzüberschreitende, identitätswahrende Betriebsverlagerung in das Ausland bei einem Betriebsinhaberwechsel (vgl. BAG 29.08.2013 - 2 AZR 809/12, Rn. 38). Es hat - wie ausgeführt - kein Betriebsübergang, der den Kläger erfasst hätte, von Deutschland ins Ausland stattgefunden. Dies gilt erst recht für die Beklagte zu 2). Diese hat vielmehr ihre Absicht, die Station in B. zu übernehmen, aufgegeben, was den Kündigungsgrund darstellt. Die Beklagte zu 2) hat ihren Geschäftsbetrieb in Deutschland letztlich ersatzlos eingestellt (BAG 24.09.2015 - 2 AZR 3/14, Rn. 18). Es geht also nicht darum, die Lasten des Arbeitsrechts durch eine Standortverlagerung abzuschütteln (krit. insoweit Deinert, Anm. AP KSchG 1969 § 1 Betriebsdingte Kündigung Nr. 202 und offen lassend BAG 24.09.2015 - 2 AZR 3/14 Rn. 18). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">347</span><p class="absatzLinks">(ccc)Eine verfassungskonforme Auslegung des Betriebsbegriffs gebietet kein anderes Ergebnis. Diese kann in Betracht kommen, wenn ein Arbeitgeber unweit einer Ländergrenze im In- und Ausland mehrere einheitlich gelenkte Betriebsstätten unterhält und Aufgaben im "kleinem Grenzverkehr" von der einen in die andere Einheit verlagert (vgl. BAG 24.09.2015 - 2 AZR 3/14). Auch so liegt der Streitfall nicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - der gesetzliche Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes für die Beklagte zu 2) überhaupt nicht eröffnet ist. Sie lenkt vom Ausland aus in Deutschland überhaupt keinen Betrieb. Sie hat dies nie getan. Allenfalls kommt - wie ebenfalls ausgeführt - eine Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes kraft vertraglicher Vereinbarung in Betracht. Dieser wiederum würde an die kündigungsschutzrechtliche Stellung der Arbeitnehmer an der Station B. bei der Beklagten zu 1) anknüpfen und diese auf die Beklagte zu 2) übertragen. Dies ändert am Ergebnis nichts. Die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes folgt insoweit - wie ausgeführt - bereits aus einer verfassungskonformen Auslegung, weil das Kündigungsschutzgesetz Anwendung finden kann, wenn sich die Betriebsleitung zwar im Ausland befindet, die Arbeitsleistung von mehr als zehn Arbeitnehmern im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG, die den Betrieb im Übrigen bilden, aber in Deutschland erbracht wird (BVerfG 12.03.2009 - 1 BvR 1250/08, Rn. 2). Daraus lässt sich aber nicht der Schluss ziehen, dass in einem solchen Fall ganz generell freie Arbeitsplätze im Ausland als Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten i.S.d. Kündigungsschutzgesetzes zu berücksichtigen wären. Dies ist eine andere Frage, als diejenige der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes für die in Deutschland - hier an der Station in B. - eingesetzten Arbeitnehmer. Erst recht gilt dies für einen vertraglichen Kündigungsschutz. Dieser bedeutet letztlich nichts anderes, als dass Kündigungsschutz auch bei der Beklagten zu 2) besteht, der sich aber inhaltlich und auch in der Fortentwicklung nach den Umständen und Gegebenheiten bei der Beklagten zu 2) richtet. Diese gebieten keine Berücksichtigung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Ausland. Unabhängig davon würde auch in einem solchen Fall, wie der Fall exemplarisch zeigt, das grundsätzlich auf Deutschland bezogene System des Kündigungsschutzgesetzes verlassen. Damit bestünden keine Lösungsmöglichkeiten für die vom Bundesarbeitsgericht aufgezeigten Konflikte, wie z.B. der Konkurrenz mehrerer Arbeitnehmer um freie Arbeitsplätze mit unterschiedlich ausgestalteten nationalen kündigungsschutzrechtlichen Regelungen. Von einem kleinen Grenzverkehr kann hier - auch wenn man den typischen Auslandbezug des Flugverkehrs berücksichtigt - nicht gesprochen werden.</p> <span class="absatzRechts">348</span><p class="absatzLinks">(bb)Die Beklagte zu 2) hatte sich entgegen der Ansicht des Klägers weder durch die vertragliche Versetzungsklausel noch gemäß § 241 Abs. 2 BGB dahingehend gebunden, dem Kläger einen freien Arbeitsplatz im Ausland anzubieten.</p> <span class="absatzRechts">349</span><p class="absatzLinks">(aaa)Der ursprüngliche Arbeitsvertrag des Klägers mit der Beklagten zu 1) enthielt eine Versetzungsklausel auch in das Ausland. Dies ist unstreitig, auch wenn die Parteien trotz der Auflage des Gerichts den Arbeitsvertrag des Klägers mit der Beklagten zu 1) - der hier anders als in den Parallelfällen in Englisch abgefasst ist - nicht in einer deutschen Übersetzung vorgelegt haben. Die unstreitig gegebene Versetzungsklausel, welche sich ersichtlich in Ziffer 6.1. des Arbeitsvertrags befindet, ist nicht mehr Vertragsbestandteil des Arbeitsvertrags zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 2) aufgrund des Schreibens vom 20.08.2020. Der Kläger hat dabei entsprechend dem Angebot einen Arbeitsvertrag zu den bisherigen Bedingungen bei der Beklagten zu 1) in der Fassung des Eckpunktepapiers akzeptiert. Ausweislich der E-Mail der Beklagten zu 1) vom 03.07.2020 ersetzte das Eckpunktepapier die individuellen Vertragsbedingungen des Klägers bzw. trat an dessen Stelle. Es handelte sich sowohl bei dem Angebot vom 03.07.2020 als auch bei dem Eckpunktepapier um Allgemeine Geschäftsbedingungen i.S.v. §§ 305 Abs. 1 Satz 1 BGB. Die bisherige Versetzungsklausel kommt schon aufgrund der Auslegungsregel des § 305c Abs. 2 BGB nicht mehr zur Anwendung. Die Aufrechterhaltung der Versetzungsklausel verstößt jedenfalls gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 1, 2 BGB.</p> <span class="absatzRechts">350</span><p class="absatzLinks">(aaaa)Für die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen kommt es darauf an, wie die Klauseln nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden. Dabei sind nicht die Verständnismöglichkeiten des konkreten, sondern die des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen. Ansatzpunkt für die nicht am Willen der jeweiligen Vertragspartner zu orientierende Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Ist er nicht eindeutig, kommt es für die Auslegung entscheidend darauf an, wie der Vertragstext aus Sicht der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise zu verstehen ist, wobei der Vertragswille verständiger und redlicher Vertragspartner beachtet werden muss. Soweit auch der mit dem Vertrag verfolgte Zweck einzubeziehen ist, kann das nur in Bezug auf typische und von redlichen Geschäftspartnern verfolgte Ziele gelten. Die einzelne Klausel ist im Kontext des Formularvertrags zu interpretieren und darf nicht aus einem Zusammenhang gerissen werden, der ihre Beurteilung beeinflusst. Zu berücksichtigen sind dabei Regelungen, die mit der maßgeblichen Klausel in einem dem typischen und durchschnittlich aufmerksamen Vertragspartner erkennbaren Regelungszusammenhang stehen. Bleibt nach Ausschöpfung der Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel, geht dies nach § 305c Abs. 2 BGB zulasten des Verwenders (BAG 16.06.2021 - 10 AZR 31/20, Rn. 17).</p> <span class="absatzRechts">351</span><p class="absatzLinks">(bbbb)In Anwendung dieser Grundsätze kann die Arbeitgeberin sich nicht mehr auf die Versetzungsklausel aus dem ursprünglichen Arbeitsvertrag berufen. Zumindest die Zweifelsregel des § 305c Abs. 2 BGB ergibt dies. Auszugehen ist zunächst von der E-Mail vom 03.07.2020. Danach ersetzen die Vertragsbedingungen des Eckpunktepapiers die Vertragsbedingungen des individuellen Vertrags bzw. treten an dessen Stelle; und zwar ab dem 01.07.2020 [Anm.: Soweit die Übersetzung des Klägers mit "… ersetzen die Vertragsbedingungen meines individuellen Vertrags vom 01. Juli 2020" endet, ist dies offenkundig falsch, denn es gibt keinen Vertrag vom 01.07.2020. Das Satzende lautet richtig; "… meines individuellen Vertrags, ab dem 01. Juli 2020]. Dies beinhaltet unabhängig von der zu Grunde gelegten Übersetzung zunächst eine vom Wortlaut her nicht eingegrenzte und damit vollständige Ablösung der individuellen Vertragsbedingungen. Das Eckpunktepapier regelt indessen umfassend die arbeitsvertraglichen Pflichten der Parteien neu und statuiert zugleich den Wechsel von österreichischem zu deutschem Arbeitsrecht. Das Eckpunktepapier selbst enthält hingegen keine Versetzungsklausel mehr. Soweit im Zusammenhang mit Dienstplanänderungen in G. Ziffer 5 und 12 des Eckpunktepapiers Versetzungen und landesweite und internationale Wechsel genannt werden, werden diese lediglich vorausgesetzt und nicht eigenständig geregelt. Ohnehin muss der durchschnittliche Vertragspartner eigenständige Versetzungsklauseln - die es wie ausgeführt nicht sind - ohnehin nicht in den Einzelbestimmungen zur Dienstplangestaltung suchen. Denkbar ist indes, dass die Vertragsbedingungen des Eckpunktepapiers nur diejenigen Vertragsbestimmungen des bisherigen Arbeitsvertrags ersetzen sollen, zu denen das Eckpunktepapier eine inhaltliche Regelung enthält. Insoweit ist zu einer Versetzungsklausel - anders als z.B. zu der Kündigungsfrist - im Eckpunktepapier keine inhaltliche Regelung enthalten. Es kann im Eckpunktepapier als Regelung für alle in Deutschland stationierten Piloten auch keine Vereinbarung zur Heimatbasis und zum Stationierungsort des einzelnen Piloten enthalten sein. Dies ist indes bereits etwas anderes als eine Regelung zur Versetzung. Im Übrigen ist der Stationierungsort in der E-Mail vom 03.07.2020 angesprochen. Das Vertragsangebot bezieht sich nur auf diejenigen Piloten und die Kabinenbesatzung, die in B. stationiert sind. Dass nunmehr weiterhin die bisherige einzelvertragliche Versetzungsklausel gelten soll, wenn diese nicht im Eckpunktepapier enthalten ist, kann nicht mit der gemäß § 305c Abs. 2 BGB erforderlichen Klarheit der getroffenen Vereinbarung entnommen werden. Eine Versetzungsklausel lässt sich eben - anders als der konkrete Stationierungsort und die Heimatbasis - auch einheitlich regeln. Ist dies nicht erfolgt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dies weiterhin der Fall sein soll. Dies muss erst recht deshalb gelten, weil hier ein Statutenwechsel stattgefunden hat. Soll die bisherige Versetzungsklausel, die österreichischem Recht unterlag, nunmehr fortbestehen, sich deren Wirksamkeit aber nach deutschem Recht richten? Dies bliebe unklar. Daran ändern G. Ziffern 5. und 12 nichts. Eine einseitige Versetzbarkeit wird darin nicht geregelt. Ohnehin spricht G. Ziffer 12, der auch den internationalen Fall erfasst, anders als G. Ziffer 5. nicht von Versetzung, sondern von Wechsel. Ein solcher kann gerade auch einvernehmlich erfolgen.</p> <span class="absatzRechts">352</span><p class="absatzLinks">(cccc) Das Transparenzgebot verlangt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Vertragsklausel so genau beschrieben werden, dass für den Verwender der Klausel keine ungerechtfertigten Beurteilungsspielräume entstehen und der Gefahr vorgebeugt wird, dass der Vertragspartner von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten wird (BAG 19.11.2019 - 7 AZR 582/17, Rn. 37).</p> <span class="absatzRechts">353</span><p class="absatzLinks">(dddd)Aus den obigen Ausführungen zur Auslegung ergibt sich zugleich, dass die Frage der Versetzbarkeit ins Ausland nicht mit der notwendigen Transparenz in diesem Sinne beschrieben ist.</p> <span class="absatzRechts">354</span><p class="absatzLinks">(eeee)Es kann deshalb offen bleiben, ob im Luftverkehr eine letztlich weltweite Versetzungsklausel überhaupt einer Inhaltskontrolle i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB standhält und nicht als solche ganz grundsätzlich unwirksam ist, mit der Folge, dass es aufgrund der Unwirksamkeit bei der gesetzlichen Regelung des § 106 GewO verbleibt, die grundsätzlich eine bundesweite Versetzbarkeit beinhaltet (vgl. ErfK/Preis, 22. Aufl. 2022 § 106 GewO Rn. 27).</p> <span class="absatzRechts">355</span><p class="absatzLinks">(bbb)Auf die Unwirksamkeit der Umsetzungsklausel bzw. deren Auslegung gemäß § 305c Abs. 2 BGB kann sich nicht nur der Arbeitnehmer berufen, sondern grundsätzlich auch der Arbeitgeber. Für die Sozialauswahl wird dazu ausgeführt, dass es dem Arbeitgeber nicht verwehrt sein kann, die Unwirksamkeit einer Vertragsbestimmung zu erkennen, um eine vom Gesetz vorgesehene soziale Auswahl objektiv richtig vorzunehmen (APS/Kiel, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rn. 610; KR/Rachor, 13. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rn. 669; HWK/Quecke, 9. Aufl. 2020 § 1 KSchG Rn. 361; a.A. z.B. ErfK/Oetker, 22. Aufl. 2022, § 1 KSchG Rn. 323). Für die Frage der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem anderen freien Arbeitsplatz gilt zur Überzeugung der Kammer nichts anderes, weil der Arbeitgeber nur auf eine rechtliche Möglichkeit verwiesen werden kann, die ihm sowohl rechtlich auch tatsächlich zusteht. Dies ist aber dann nicht der Fall, wenn der Arbeitnehmer sich aufgrund der Ausgestaltung der Versetzungsklausel gegen diese erfolgreich zur Wehr setzen kann. Dahingehend geht auch das Prüfprogramm des Bundesarbeitsgerichts, das im Hinblick auf eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in der Türkei die Wirksamkeit der Versetzungsklausel geprüft hat (BAG 24.09.2015 - 2 AZR 3/14, Rn. 21 f.; a.A für einen freien Arbeitsplatz KR/Rachor, 13. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rn. 232 unter Bezugnahme auf BAG 03.04.2008 - 2 AZR 879/06, Rn. 36). Im Übrigen sind auch bei der Frage der Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz bei der Konkurrenz mehrerer Arbeitnehmer um diesen Arbeitsplatz, nicht nur die Interessen des Arbeitgebers, sondern auch die anderer Arbeitnehmer betroffen.</p> <span class="absatzRechts">356</span><p class="absatzLinks">(ccc)Letztlich ist dies eine Frage von § 242 BGB (BAG 03.04.2008 - 2 AZR 879/06, Rn. 36; BAG 24.09.2015 - 2 AZR 3/14, Rn. 23). Die Beklagte zu 2) verstößt dagegen indes nicht, wenn sie sich - wie geschehen - auf eine fehlende Bestimmung zur internationalen Versetzbarkeit des Klägers beruft. Die Beklagte zu 2) hat diese Bestimmung zu keinem Zeitpunkt angewandt. Schutzwürdiges Vertrauen, sie würde den Kläger zur Vermeidung einer Beendigungskündigung in das Ausland versetzen, hat sie nicht geschaffen. Es ging vielmehr - bei der Beklagten zu 1) - um den Erhalt der Station in B. und - bei der Beklagten zu 2) - um die Eröffnung einer Station in B. oder aber, wenn man auf das Eckpunktepapier abstellen wollte, um den Erhalt der Arbeitsplätze der bei der Beklagten zu 1) in Deutschland "stationierten, direktangestellten" Piloten. Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass der Kläger von der Beklagten zu 2) oder von der Beklagten zu 1) an einer Station im Ausland beschäftigt worden ist. Auf der Grundlage der durch das Eckpunktepapier geänderten Vertragsgestaltung gilt dies ohnehin nicht.</p> <span class="absatzRechts">357</span><p class="absatzLinks">(ddd)Unabhängig von dem Vorstehenden ist die Kammer der Überzeugung, dass selbst bei bestehender Versetzungsklausel mit Auslandsbezug die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz im Rahmen von § 1 Abs. 1 KSchG nur bei einer Betriebs- oder Betriebsteilverlagerung in einen anderen Staat oder zumindest bei einer "grenzüberschreitenden" Funktionsnachfolge in Betracht kommt, nicht aber im hiesigen Fall der "ersatzlosen" Einstellung des Geschäftsbetriebs in Deutschland (offen gelassen von BAG 24.09.2015 - 2 AZR 3/14, Rn. 27). Allenfalls in den genannten Ausnahmefällen rechtfertigt eine Versetzungsklausel das Verlassen des kohärenten Systems des Kündigungsschutzgesetzes. Es müssen dabei immer die anderen, ggfs. um freie Arbeitsplätze konkurrierende Arbeitnehmer, in den Blick genommen werden. Konkurrieren - wie hier - ggfs. an einem anderen Betrieb der Beklagten zu 2) im Ausland verschiedene Arbeitnehmer mit unterschiedlichen Vertragsstauten um freie Arbeitsplätze, liefert auch die vertraglich vereinbarte Versetzungsklausel in das Ausland keine Möglichkeit zur Auflösung dieser Konkurrenzsituation, denn die Versetzung auf einen freien Arbeitsplatz folgt alleine aus dem Kündigungsschutzgesetz. Für eine Änderungskündigung gilt ganz generell, unabhängig von der Frage der vertraglich vereinbarten Versetzbarkeit, nichts anderes.</p> <span class="absatzRechts">358</span><p class="absatzLinks">(3)Eine fehlerhafte soziale Auswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">359</span><p class="absatzLinks">(a)Der Arbeitgeber hat diejenigen Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen, die objektiv miteinander vergleichbar sind. Vergleichbar sind Arbeitnehmer, die - bezogen auf die Merkmale des Arbeitsplatzes - sowohl aufgrund ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse als auch nach dem Inhalt der von ihnen vertraglich geschuldeten Aufgaben austauschbar sind (BAG 20.06.2013 - 2 AZR 271/12; 22.03.2012 - 2 AZR 167/11; 15.12.2011 - 2 AZR 42/10).</p> <span class="absatzRechts">360</span><p class="absatzLinks">(b)Nachdem der Kläger die fehlerhafte soziale Auswahl pauschal gerügt hat, hat die Beklagte zu 2) vorgetragen, dass sämtlichen Arbeitnehmern in Deutschland gekündigt worden sei. Vor diesem Hintergrund oblag es nunmehr dem Kläger, substantiiert vorzutragen, inwiefern dennoch eine soziale Auswahl möglich gewesen wäre. Dies ist nicht geschehen. Die Beschäftigten der Beklagten zu 2) in X. und Q. waren in eine Sozialauswahl nicht einzubeziehen. Die Sozialauswahl bezieht sich nach zutreffender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der die Kammer folgt, nur auf in Deutschland gelegene Betriebe (BAG 27.06.2019 - 2 AZR 38/19, Rn. 26; 29.08.2013 - 2 AZR 809/12, Rn. 40).</p> <span class="absatzRechts">361</span><p class="absatzLinks">f.Die Kündigung der Beklagten zu 2) ist nicht gemäß § 613a Abs. 4 BGB unwirksam, weil sie, wie ausgeführt, nicht wegen eines Betriebsübergangs ausgesprochen worden ist.</p> <span class="absatzRechts">362</span><p class="absatzLinks">g.Die Kündigung der Beklagten zu 2) ist nicht gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG i. V. m. § 134 BGB wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige unwirksam. Es kann offen bleiben, ob die die Beklagte zu 2) überhaupt verpflichtet war, eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten. Sie hat eine solche ordnungsgemäß i.S.d. § 17 Abs. 3 KSchG erstattet.</p> <span class="absatzRechts">363</span><p class="absatzLinks">aa.Es bestehen durchaus Bedenken, ob die Beklagte zu 2) zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige verpflichtet war.</p> <span class="absatzRechts">364</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) hatte sich entgegen ihrem ursprünglichen Plan entschieden, am Flughafen B. keinen Standort zu eröffnen und den vormals von der Beklagten zu 1) geführten Flugbetrieb nicht aufzunehmen. Zwar hat die Beklagte zu 2) innerhalb von 30 Kalendertagen 126 Arbeitnehmer - darunter den Kläger - entlassen, der Schwellenwert des 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 KSchG ist somit erreicht. Gegen eine Anzeigepflicht spricht jedoch, dass die betroffenen Arbeitnehmer zu keinem Zeitpunkt in einem Betrieb der Beklagten zu 2) am Standort B. gearbeitet haben und ein solcher Betrieb - der Beklagten zu 2) - bei Zugang der Kündigungen nicht existiert hat. Eine etwaige Vereinbarung des Klägers mit der Beklagten zu 2) über einen Kündigungsschutz, wie er zuvor bei der Beklagten zu 1) bestand, vermag keine öffentlich-rechtlichen Pflichten gegenüber der Arbeitsagentur zu begründen. Diese wird nicht aufgrund vertraglicher Vereinbarungen tätig, sondern ausschließlich auf gesetzlicher Grundlage. Es kann offen bleiben, ob eine Anzeigepflicht ohne tatsächlich aufgenommenen Betrieb ausscheidet oder diese aufgrund der Verpflichtung zur effektiven Umsetzung der Pflichten aus der MERL auch dann zu bejahen ist, wenn ein Arbeitgeber bereits eingestellte Arbeitnehmer, bezogen auf einen geplanten Betrieb, vor dessen Aufnahme wieder kündigt.</p> <span class="absatzRechts">365</span><p class="absatzLinks">bb.Die Beklagte zu 2) hat eine ggfs. nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß i. S. d. § 17 Abs. 3 KSchG erstattet.</p> <span class="absatzRechts">366</span><p class="absatzLinks">(1)Die Massenentlassungsanzeige ist von der Beklagten zu 2) vor Zugang der Kündigung bei der zuständigen Arbeitsagentur gestellt worden. Als zuständige Arbeitsagentur für die Anzeige kommt nach den oben dargestellten Grundsätzen innerhalb Deutschlands allein die Agentur in B. in Betracht. Bejahte man eine Anzeigepflicht bei einem geplanten Betrieb, muss die Anzeige an dem Ort erfolgen, an welchem der geplante Betrieb i.S.d. MERL gelegen sein soll. Dieser Ort bestimmt die Zuständigkeit der Agentur für Arbeit. Dies ist hier offensichtlich Düsseldorf, weil die Beklagte zu 2) die Arbeitnehmer gerade für diese Station eingestellt hat und sie dort ihre Arbeit aufnehmen sollten. Entgegen der Ansicht des Klägers kommt keine Massenentlassungsanzeige auf N. in Betracht. Dort verwirklichen sich für die Piloten der von der Beklagten zu 2) geplanten Station B. offenkundig keine sozio-ökonomischen Auswirkungen. Es kann, was zwischen den Parteien streitig ist, offen bleiben, ob die Massenentlassungsanzeige der Beklagten zu 2) der Agentur vor Arbeit Düsseldorf vor Zugang der Kündigung im Original zugegangen ist. Der unstreitige Eingang per Telefax bei der Agentur für Düsseldorf vor Zugang der Kündigung ist - wie bereits ausgeführt - ausreichend und wirksam.</p> <span class="absatzRechts">367</span><p class="absatzLinks">(2)Im Anschreiben sowie in Feld 32 des ausgefüllten Formulars sind i. S. d. § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG die Gründe für die Entlassungen genannt. Es genügten insoweit, ausgehend vom bereits dargelegten Zweck der Vorschrift, die gemachten Angaben, wonach der ursprüngliche Plan, ab dem 01.11.2020 am Flughafen B. einen Stationierungsort zu eröffnen und insofern dort einen Flugbetrieb aufzunehmen, aufgegeben worden sei und somit ein Beschäftigungsbedarf für Piloten und Flugbegleiter entgegen der ursprünglichen Planung nicht bestehe. Auf die Situation außerhalb von Deutschland kam es für die Arbeitsverwaltung in B. nicht an. Einer näheren Darstellung des Hintergrunds und der Motivation der Beklagten zu 2) bedurfte es nicht. Die Anzeige ist auch nicht deshalb unwirksam, weil die Beklagte zu 2) die Zahl der zu entlassenden sowie der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer für den "Betrieb" B. nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG falsch angegeben hätte. Dabei sind unwesentliche Fehler für die sachliche Prüfung und die Vermittlungstätigkeit der Agentur für Arbeit und so für die Wirksamkeit der Anzeige unschädlich. Nach den Angaben der Anzeige beschäftigte die Beklagte zu 2) in B. 126 Arbeitnehmer und beabsichtigte deren Entlassungen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Angaben in der Anzeige zu niedrig waren.</p> <span class="absatzRechts">368</span><p class="absatzLinks">(3)Die übrigen Pflichtangaben des § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG sind in der von der Beklagten zu 2) vorgelegten Anzeige unbestritten enthalten.</p> <span class="absatzRechts">369</span><p class="absatzLinks">(4)Die Massenentlassungsanzeige ist schließlich auch nicht wegen fehlender Soll-Angaben i. S. v. § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer unwirksam, wie der Kläger zweitinstanzlich unter Berufung auf eine bereits zitierte des Hessischen Landesarbeitsgericht gerügt hat (Hess. LAG 25.06.2021 - 14 Sa 1225/20). Insoweit gilt nichts anderes als zur Massenentlassungsanzeige der Beklagten zu 1). Die Angelegenheit war auch im Verhältnis zur Beklagten zu 2) ohne weitere Sachaufklärung entscheidungsreif. Die in Ziffer 34 der Anzeige an die Agentur für Arbeit bezeichnete Liste mit den Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer wurde der Agentur für Arbeit Düsseldorf erst nach Zugang der Kündigung nachgereicht. Insoweit liegt schon kein streitiger Sachverhalt vor. Streitig ist alleine, ob der Sachvortrag der Beklagten zu 2) zutrifft, wonach die sog. Soll-Angaben der Agentur für Arbeit im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung aufgrund der vorangegangenen Anträge auf Kurzarbeitergeld zugänglich waren, d.h. letztlich für die einzelnen zu entlassenden Arbeitnehmer ohnehin in dem System der Agentur für Arbeit hinterlegt waren. Es bleibt offen, ob dies - dann auch im Verhältnis zur Beklagten zu 2), die selbst nie Kurzarbeitergeld für die zu entlassenden Arbeitnehmer beantragt hatte - genügt oder auch in einem solchen Fall eine auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung aktualisierte Zusammenstellung dieser Angaben der Agentur für Arbeit gesondert zu übermitteln ist. Darauf kommt es nicht an.</p> <span class="absatzRechts">370</span><p class="absatzLinks">III.Der gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Feststellungsantrag zu II.1 ist zulässig aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">371</span><p class="absatzLinks">1.Der Feststellungsantrag zu II.1., der auf die Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1) ab dem 01.11.2020 mit der Beklagten zu 2) zu unveränderten Arbeitsbedingungen gerichtet ist, ist zulässig.</p> <span class="absatzRechts">372</span><p class="absatzLinks">a.Der Antrag ist gemäß § 256 ZPO auf das Bestehen eines Rechtsverhältnisses gerichtet. Die Verwendung des Wortes "fortbesteht" beinhaltet bei verständiger Aus-legung des Klagebegehrens nicht die Feststellung, dass das Fortbestehen des Rechtsverhältnisses auf einem Betriebsübergang beruht. Dabei ginge es nicht um die Feststellung eines Rechtsverhältnisses, sondern um die von § 256 ZPO nicht umfasste Frage, worauf dieses beruht, und somit um ein Rechtsgutachten. Vielmehr geht es dem Kläger darum, dass überhaupt das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses (Rechtsverhältnisses) zur Beklagten zu 1) und zwar aufgrund eines Betriebsübergangs festgestellt wird. Die den Betriebsübergang angeblich begründenden Umstände bestimmen dabei den Streitgegenstand. Dieser unterscheidet sich von dem mit E-Mail vom 20.08.2020 dem Kläger durch die Beklagte zu 2) angebotenen und von diesem angenommenen, d.h. vertraglich zwischen den Parteien begründeten Arbeitsverhältnis. Von dessen Zustandekommen geht der Kläger in seiner unzutreffenden Rechtsansicht und für den Feststellungsantrag zu II.1. ohnehin nicht aus. Der Inhalt des ab dem 01.11.2020 festzustellenden Rechtsverhältnisses soll dabei - als Rechtsfolge eines Betriebsübergangs - derjenige des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten zu 1) sein. Das Rechtsverhältnis, welches festgestellt werden soll, ist damit hinreichend bestimmt.</p> <span class="absatzRechts">373</span><p class="absatzLinks">b.Mit diesem Inhalt kann dem Antrag zu II.1. ein Rechtsschutzbedürfnis neben dem Kündigungsschutzantrag zu III.2. nicht abgesprochen werden. Zwar umfasst der Kündigungsschutzantrag auch die Feststellung, dass bei ordentlicher Kündigung zum Zeitpunkt des Kündigungstermins, also des Ablaufs der Kündigungsfrist, ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 2) bestanden hat; anderenfalls muss er abgewiesen werden (sog. erweiterter punktueller Streitgegenstand der Kündigungsschutzklage, vgl. etwa BAG 27.01.2011 - 2 AZR 826/09). Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Feststellungsantrag zu II.1. besteht aber deshalb, weil der Kündigungsschutzantrag betreffend die Beklagte zu 2) ein vertraglich begründetes Arbeitsverhältnis bestritt und der Feststellungsantrag zu II.1. ein kraft Gesetzes übergegangenes Arbeitsverhältnis, was - wie ausgeführt - zwei unterschiedliche Streitgegenstände sind. Unabhängig davon erscheint es denkbar, dass der angebliche Betriebsübergang erst nach dem 31.12.2020 stattgefunden hat, dem auch die zeitgleiche Kündigung der Beklagten zu 1) nicht entgegenstünde, wenn diese unwirksam wäre.</p> <span class="absatzRechts">374</span><p class="absatzLinks">2.Der Feststellungsantrag ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis des Klägers besteht nicht mit der Beklagten zu 2) fort. Es gab, wie bereits ausgeführt keinen den Kläger erfassenden Betriebsübergang von der Beklagten zu 1) auf die Beklagte zu 2). Auch die in 2021 erfolgte Eröffnung der neuen Standorte in A. und A. durch die Beklagte zu 2) konnte ein etwaig noch zu der Beklagten zu 1) bestehendes Arbeitsverhältnis des Klägers nicht erfassen. Denn darin lag kein Betriebsübergang i. S. v. § 613a Abs. 1 BGB, weil die Beklagte zu 1) einen solchen Betrieb oder Betriebsteil zuvor nicht geführt hat. Zudem wäre der Kläger einem solchen Betriebsteil nicht zugeordnet gewesen. Unabhängig davon waren die Arbeitsverhältnisse des Klägers zu der Beklagten zu 1) aufgrund der Kündigung der Beklagten zu 1) vom 10.09.2020 zu diesem Zeitpunkt bereits beendet.</p> <span class="absatzRechts">375</span><p class="absatzLinks">IV.Der gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Feststellungsantrag zu III.1 ist ganz überwiegend unzulässig, weil er bereits anderweitig rechtshängig ist. Für die Zeit vom 15.09.2020 bis zum 01.11.2020 ist er unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">376</span><p class="absatzLinks">1.Dem Antrag steht für die Zeit ab dem 01.1.2020 das von Amts wegen zu beachtende Prozesshindernis anderweitiger Rechtshängigkeit nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO entgegen.</p> <span class="absatzRechts">377</span><p class="absatzLinks">a.Nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO ist eine Klage wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig, wenn der Kläger zuvor gegen dieselbe Partei eine Klage mit demselben Streitgegenstand erhoben hat und diese andere Klage bei der Entscheidung über die spätere Klage noch rechtshängig ist.</p> <span class="absatzRechts">378</span><p class="absatzLinks">b.Ein solcher Fall ist hier gegeben.</p> <span class="absatzRechts">379</span><p class="absatzLinks">aa.Nachdem der Kläger bereits im Kündigungsschutzverfahren gegen die Beklagte zu 1) seine Klage gegen die Beklagte zu 2) um den Antrag zu II.1. erweitert hat, liegen bezogen auf den allgemeinen Feststellungsantrag zu III.1. dieselben Klageanträge vor. Der Kläger beruft sich zur Begründung des Feststellungsantrages darauf, dass ein Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch Abschluss eines separaten Arbeitsvertrages, sondern durch Betriebsübergang entstanden sei. Die Feststellung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund dieses Streitgegenstands ist bereits Gegenstand des Feststellungsantrages zu II.1. Das gleiche Feststellungsbegehren verfolgt der Kläger mit seiner in dem Verfahren Arbeitsgericht Düsseldorf - 4 Ca 5890/20 erhobenen Klageerweiterung; jetzt Antrag zu III.1.</p> <span class="absatzRechts">380</span><p class="absatzLinks">bb. Der Antrag zu II.1. ist rechtshängig geworden, ehe derselbe Antrag zu III.1. rechtshängig geworden ist. Im Verfahren Arbeitsgericht Düsseldorf - 9 Ca 5918/20 - enthält die Klageerweiterung vom 22.02.2021, welche den damaligen Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu 1) unmittelbar von dem Kläger übermittelt worden ist, erstmals den Antrag zu II.1.. Im Termin am 25.02.2021 sind die Prozessbevollmächtigten nur für die Beklagte zu 1) aufgetreten und es ist ein Abtrennungsbeschluss ergangen. Es bleibt offen, was dies für die Rechtshängigkeit bedeutet. Spätestens wurde die Rechtshängigkeit (§ 261 Abs. 1 ZPO) durch Antragstellung im Kammertermin am 06.05.2021 im Verfahren Arbeitsgericht Düsseldorf - 9 Ca 1053/21 - begründet. Im Verfahren Arbeitsgericht Düsseldorf - 4 Ca 5890/20 - hat der Kläger diesen Antrag - so wie er zuletzt Gegenstand dieses Verfahrens war - erst im Kammertermin am 01.06.2021 gestellt. Es handelt sich dabei nicht mehr um den ursprünglichen allgemeinen Feststellungsantrag aus dem Verfahren Arbeitsgericht Düsseldorf - 4 Ca 5890/21 -, der sich als "Annex" zum punktuellen Kündigungsschutzantrag auf den Fortbestand des vertraglich begründeten Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten zu 2) bezog. An diesem Antrag hat der Kläger mangels Vorliegen anderer Beendigungstatbestände außer der Kündigung der Beklagten zu 2) vom 10.09.2020 bezogen auf das vertraglich begründete Arbeitsverhältnis nicht festgehalten.</p> <span class="absatzRechts">381</span><p class="absatzLinks">2.Soweit der Kläger mit dem Antrag ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 2) aufgrund eines Betriebsübergangs - nicht Vertragsschlusses - vor dem 01.11.2020, ggfs. ab dem 15.09.2020, festgestellt wissen will, besteht zwar mangels zeitlich nicht identischer Streitgegenstände keine anderweitige Rechtshängigkeit. Das Feststellungsinteresse kann dem Kläger insoweit nicht abgesprochen werden, weil die Kündigungsschutzklage sich auf das vertraglich begründete Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 2) bezieht. Der Antrag ist aber unbegründet. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte für einen Betriebsübergang von der Beklagten zu 1) auf die Beklagte zu 2) zwischen dem 15.09.2020 und 01.11.2020, welcher das Arbeitsverhältnis des Klägers erfasst haben könnte.</p> <span class="absatzRechts">382</span><p class="absatzLinks">V.Die gegen die Beklagte zu 2) gerichteten zulässigen Zahlungsanträge zu II.2 und II.5 sind unbegründet. Der Kläger stützt seine Forderungen auf §§ 611a Abs. 2, 615 BGB. Damit lassen sich seine Ansprüche gegen die Beklagte zu 2) nicht begründen. Sie haftet entgegen der Ansicht des Klägers mangels Betriebsübergang nicht für die geltend gemachten Ansprüche.</p> <span class="absatzRechts">383</span><p class="absatzLinks">VI.Die gegen die Beklagte zu 1) gerichteten Zahlungsanträge zu II.3 und II.6 sind unzulässig, weil sie unter einer unzulässigen außerprozessualen Bedingung stehen.</p> <span class="absatzRechts">384</span><p class="absatzLinks">1.Die Klage ist als Verfahren einleitender Akt streng bedingungsfeindlich, weil die Existenz eines Prozessrechtsverhältnisses zwischen den Parteien nicht ungewiss sein darf (BGH 06.12.2006 - XII ZR 190/06, Rn. 9). Prozesshandlungen, die ein Verfahren in Gang setzen oder einen Rechtszug eröffnen oder beenden sollen, dürfen deshalb nicht von außerprozessualen Bedingungen abhängig gemacht werden. Erfolgt dies, sind sie unzulässig (bereits BAG 07.05.1986 - 2 ABR 27/85, Rn. 23). Dies gilt ebenso, wenn in einem Verfahren mehrere einfache Streitgenossen verklagt werden. Bei einer Klage gegen einfache Streitgenossen i.S.d. § 61 ZPO sind die Verfahren nur äußerlich verbunden, das Verfahren gegen jeden Streitgenossen ist selbstständig. Jeder Streitgenosse ist deshalb so zu behandeln, als ob nur er allein mit dem Gegner prozessieren würde. Macht der Kläger daher eine Prozesshandlung gegenüber einem Streitgenossen von dem Ausgang des Verfahrens gegen einen anderen Streitgenossen abhängig oder von einer rechtlichen Bewertung im Verhältnis zu einem anderen Streitgenossen, handelt es sich deshalb bezogen auf den ersten Streitgenossen nicht um eine innerprozessuale, sondern um eine außerprozessuale Bedingung. Eine solche eventuelle Klagehäufung ist unzulässig (OLG Düsseldorf 01.06.2015 - I-14 U 172/13, Rn. 75 m.w.N.). Eine Prozesshandlung kann nur von einem innerprozessualen Ereignis abhängig gemacht werden (BAG 22.06.1999 - 9 AZR 541/98, Rn. 33). Dies muss nicht notwendigerweise das Unterliegen oder Obsiegen mit dem Hauptantrag sein, also eine bestimmte Entscheidung des Gerichts über den mit dem Hauptantrag verfolgten Anspruch. Es ist ebenso zulässig, über einen Antrag nur für den Fall eine Sachentscheidung zu begehren, dass das Gericht im Zusammenhang mit dem Hauptantrag eine Rechtsfrage in einer bestimmten Weise beurteilt (BAG 17.12.2015 - 2 AZR 304/15, Rn. 23)</p> <span class="absatzRechts">385</span><p class="absatzLinks">2.Der Kläger hat die Anträge zu II.3 und II.6 nicht unter eine innerprozessuale Bedingung gestellt. Nach der zuletzt formulierten Bedingung soll die Beklagte zu 1) nur dann verurteilt werden, wenn das Gericht feststellt, dass das Arbeitsverhältnis nicht spätestens zum 01.11.2020 auf die Beklagte zu 2) übergegangen ist. Mit anderen Worten: Die Beklagte zu 1) ist nur verklagt, wenn der Kläger nicht mit den Anträgen zu II.2. und II.4. gegen die Beklagte zu 2) obsiegt. Dies soll zudem nur dann der Fall sein, wenn das Gericht die oben genannte Feststellung nicht trifft. Diese wiederum ist Gegenstand der Anträge zu II.1 und III.1, die sich nur gegen die Beklagte zu 2) richten. Dies alles ist bei einfachen Streitgenossen wie den Beklagten eine außerprozessuale Bedingung. Es handelt sich bei beiden Beklagten entgegen der Ansicht des Klägers auch im Hinblick auf den von ihm angenommenen Betriebsübergang nicht um notwendige Streitgenossen. Der frühere Arbeitgeber und der neue Inhaber i.S.v. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB sind nicht lediglich gemeinschaftlich materiell-rechtlich verfügungsbefugt und aus materiell-rechtlichen Gründen keine notwendigen Streitgenossen i.S.v. § 62 Abs. 1 Alt. 2 ZPO (BAG 25.01.2018 - 8 AZR 309/16, Rn. 37). Es kommt im konkreten Fall auch keine notwendige Streitgenossenschaft gemäß § 62 Abs. 1 Alt. 1 ZPO i.V.m. § 325 ZPO in Betracht. Es geht nicht um die Frage, ob ein gegen den früheren Arbeitgeber (hier: Beklagte zu 1) ergangenes Urteil auch für und gegen den - angeblichen - neuen Inhaber (hier: Beklagte zu 2) wirkt, sondern darum, ob die materielle Rechtskraft einer gegen den (vermeintlichen) neuen Inhaber (hier: Beklagte zu 2) mit den gegen diese gerichteten Anträge zu II.1. und III.2.) ergangenen gerichtlichen Entscheidung auch gegenüber dem früheren Arbeitgeber (hier: Beklagte zu 1) wirkt (vgl. insoweit BAG 25.01.2018 - 8 AZR 309/16, Rn. 30, 35). Stellt man auf die Entscheidung über die Zahlungsanträge gegen die Beklagte zu 2) ab, gilt nichts anderes, weil der Betriebsübergang insoweit nur Vorfrage ist, was für eine Bindungswirkung und daraus folgende notwendige formale Streitgenossenschaft ohnehin nicht genügt (BAG 25.01.2018 - 8 AZR 309/16 Rn. 29 a.E.).</p> <span class="absatzRechts">386</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus der vom Klägervertreter zitierten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (17.12.2015 - 2 AZR 304/15 -). In Rn. 22 führt der Senat aus, dass das Bestehen des Prozessrechtsverhältnisses feststehen muss. Die dort folgenden Erwägungen zu einer innerprozessualen Bedingung betreffen die Konstellation, dass zwei Anträge gegen dieselbe beklagte Partei gerichtet sind, von denen einer unter der Bedingung einer bestimmten Bewertung durch das Gericht gestellt ist. Im hiesigen Rechtsstreit soll aber die Bewertung in einem Prozessrechtsverhältnis Bedingung eines anderen Prozessrechtsverhältnisses sein. Dies ist unzulässig. Aus diesen Gründen hat bereits das Arbeitsgericht die Klageanträge zu II.3. und II.6. für unzulässig erachtet. Der Kläger hat an den Anträgen im Berufungsrechtszug festgehalten. Sein Berufungsvorbringen führt nicht zur Zulässigkeit der Anträge.</p> <span class="absatzRechts">387</span><p class="absatzLinks">VIII. Die gegen die Beklagte zu 1) gerichteten Zahlungsanträge zu II.4 und II.7 sind zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">388</span><p class="absatzLinks">1.Die Zahlungsanträge sind zulässig; sie bedürfen jedoch der Auslegung.</p> <span class="absatzRechts">389</span><p class="absatzLinks">a.Gerichte haben Prozessanträge soweit als möglich rechtsschutzgewährend auszulegen. Bei der Auslegung von Prozesshandlungen ist davon auszugehen, dass die Vorschriften des Verfahrensrechts nicht Selbstzweck sind. Auch bei der Auslegung von Anträgen ist zwar zunächst auf deren Wortlaut abzustellen. Bei der Auslegung von Prozesserklärungen darf eine Partei jedoch nicht am buchstäblichen Sinn ihrer Wortwahl festgehalten werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie mit ihrer Prozesshandlung das erreichen will, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und ihrer recht verstandenen Interessenlage entspricht. Dabei sind allerdings auch die schutzwürdigen Belange des Prozessgegners zu berücksichtigen (BAG 18.07.2013 - 6 AZR 47/12, Rn. 32)</p> <span class="absatzRechts">390</span><p class="absatzLinks">b.In Anwendung dieser Grundsätze sind die Anträge zu II.4 und II.7 dahingehend zu verstehen, dass sie jeweils hilfsweise für den Fall der Unzulässigkeit der Anträge zu II.3 und II.6 gestellt werden. Richtig ist, dass der Kläger die Anträge ausweislich seines Wortlauts unbedingt gestellt hat. Dies ist jedoch bereits in sich perplex, weil dann nicht klar wäre, ob er denselben Antrag denn nun als Hilfsantrag oder als Hauptantrag stellen will. Berücksichtigt man die Klagebegründung, ergibt sich, das hier zu Grunde gelegte Antragsverständnis. Er begründet zunächst ausdrücklich, dass er nicht wissen könne, ob das Gericht die Beklagten als notwendige Streitgenossen erachte. Sollte das Gericht nicht dieser Ansicht sein, stelle er die Anträge unbedingt. Er begründet dann, dass sein vordringliches Klageziel ein Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2) sei. Da er nicht wissen könne, wie die Kammer entscheide, würden die Anträge - so der Kläger erneut - unbedingt gestellt. Dann wiederum führt er aus, die Anträge zu II.4 und II.7 stelle er für den Fall gestellt, dass kein Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2) stattgefunden hat. Anschließend führt er aus, er halte es für unzumutbar, seine Annahmeverzugslohnansprüche unbedingt geltend zu machen. Diese schwer verständlichen Ausführungen, die sich inhaltlich teilweise widersprechen, lassen sich bei der gebotenen Gesamtbetrachtung auch unter Berücksichtigung der Interessen der Gegenseite letztlich nur so verstehen, dass der Kläger an seiner Rechtsaufassung festhält, die ersten Zahlungsanträge gegen die Beklagte zu 1) im Hilfsverhältnis zum Prozessrechtsverhältnis zur Beklagten zu 2) stellen zu können. Nur für den Fall, dass das Gericht dies für unzulässig erachtet, stellt er die Anträge zu II.4. und II.7. Dies ist eine zulässige innerprozessuale Bedingung innerhalb des Rechtsverhältnisses gegenüber der Beklagten zu 1) (vgl. insoweit auch BAG 18.11.2021 - 2 AZR 229/21, Rn. 10). Es steht nicht in der Schwebe, ob gegen die Beklagte zu 1) insoweit überhaupt Zahlungsklage erhoben wurde. Dies steht im Ergebnis fest. Entweder erfolgt dies mit den ersten Zahlungsanträgen. Wenn diese aufgrund der außerprozessualen Bedingung unzulässig sind, erfolgt dies mit den Anträgen zu II.4 und II.7. Diesem im gerichtlichen Hinweisbeschluss vom 08.12.2021 geäußerten und in der Verhandlung erörterten Antragsverständnis hat der Kläger nicht widersprochen.</p> <span class="absatzRechts">391</span><p class="absatzLinks">c.Entgegen der von der Beklagten zu 1) in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsansicht sind die Anträge zu II.4 und II.7 nicht gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO unzulässig. Richtig ist, dass mit den Anträgen zu II.3 und II.6 jeweils derselbe Streitgegenstand rechtshängig ist. Richtig ist auch, dass ein Hilfsantrag ebenfalls rechtshängig wird. Die Rechtshängigkeit des Hilfsantrags steht unter der auflösenden Bedingung, dass hierüber nur dann eine Sachentscheidung begehrt wird, wenn der Hauptantrag erfolglos bleibt. Die Rechtshängigkeit des Hilfsantrags endet deshalb ohne besonderen Ausspruch rückwirkend mit Eintritt der auflösenden Bedingung (BAG 12.08.2009 - 9 AZR 620/07, Rn. 15). Gleichwohl ist die Vorschrift des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO, die bei rein formalem Verständnis Anwendung finden könnte, insoweit von ihrem Sinn und Zweck her zu reduzieren. Nach dem Normzweck des § 261 Abs. 3 Nr. 1 geht es darum, mehrfache und einander widersprechende Entscheidungen sowie die unnötige Anrufung der Gerichte zu vermeiden und den Beklagten vor der Durchführung mehrerer sachlich gleicher und gleichzeitiger Verfahren zu schützen. All diese Aspekte treffen hier nicht zu. Die Anträge zu II.4 und II.7 und II.3 und II.6 stehen aufgrund des Haupt- und Hilfsverhältnisses zu keinem Zeitpunkt zur gleichzeitigen Entscheidung an. Durch das Haupt- und Hilfsverhältnis werden einander widersprechende Entscheidungen vermieden. Im Übrigen sprechen Aspekte des effektiven Rechtsschutzes für dieses Ergebnis. Das Prozessrecht muss dem Kläger eine Möglichkeit geben, seine - falsche - Rechtsansicht der Antragstellung im Verhältnis der beiden Beklagten beizubehalten und gleichzeitig, für den Fall, dass das Gericht seine Ansicht nicht teilt, einen zulässigen Antrag vorsehen. Dies ist bei der hier vorgenommenen Antragsauslegung der Fall. Schutzwürdige Interessen der Beklagten zu 1) sind nicht tangiert.</p> <span class="absatzRechts">392</span><p class="absatzLinks">d.Die Antragserweiterung um die Anträge zu II.4 und II.7 in der Berufungsinstanz ist sachdienlich. Sie ist - ausgehend vom Rechtsstandpunkt des Klägers - nichts anderes als die gebotene Reaktion auf das erstinstanzliche Unterliegen mit den Anträgen. Die Voraussetzungen des § 533 Nr. 2 ZPO sind gegeben.</p> <span class="absatzRechts">393</span><p class="absatzLinks">2. Die Anträge zu II.4 und II.7 sind begründet. Der Kläger kann von der Beklagten zu 1) für den Monat November 2020 die Zahlung von 1.629,94 Euro brutto und für den Monat Dezember 2020 die Zahlung von 1.382,80 Euro brutto an Sektorzulage verlangen. Der Anspruch beruht auf § 615 Satz 1 BGB i.V.m. mit der Freistellungserklärung der Beklagten zu 1) vom 19.10.2020 i.V.m. B. und I. Ziffer 3 Eckpunktepapier.</p> <span class="absatzRechts">394</span><p class="absatzLinks">a.Mit der Freistellungserklärung aus dem Schreiben vom 19.10.2020 ist die Beklagte zu 1) in Annahmeverzug geraten.</p> <span class="absatzRechts">395</span><p class="absatzLinks">aa.In einer einseitigen Freistellungserklärung ist regelmäßig die Erklärung zu sehen, die Annahme der vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitsleistung werde abgelehnt. Durch diese Erklärung gerät der Arbeitgeber gemäß § 293 BGB in Annahmeverzug, denn die einseitige Freistellung von der Arbeit ist, soweit keine besonderen Umstände vorliegen, grundsätzlich nicht anders zu beurteilen, als wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer von der Arbeit nach Hause schickt, weil er ihn nicht mehr beschäftigen kann. Dann bedarf es regelmäßig keines Arbeitsangebots des Arbeitnehmers, weil der Arbeitgeber mit der Freistellung erkennen lässt, unter keinen Umständen zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bereit zu sein. Der Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers wird in einem solchen Fall durch § 615 Satz 1 BGB mit der Möglichkeit der Anrechnung anderweitigen Verdienstes nach § 615 Satz 2 BGB aufrechterhalten (BAG 23.02.2021 - 5 AZR 314/20, Rn. 12).</p> <span class="absatzRechts">396</span><p class="absatzLinks">bb.Es handelt sich bei dem Schreiben vom 19.10.2020 offensichtlich nicht um ein Vertragsangebot, sondern um die einseitige Erklärung der Beklagten zu 1), den Kläger von der Arbeitsleistung unwiderruflich freizustellen. Soweit geregelt ist, dass die vertraglichen Verpflichtungen während der Freistellung weiter bestehen, ergibt sich daraus nichts anderes. Letztlich geht es dabei um die Anrechnung anderen Verdienstes und die Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Ein Vertragsangebot lässt sich daraus nicht ableiten. Mangels Angebot konnte der Kläger dieses annehmen. Unabhängig davon hat er es durch das bloße Schweigen nicht getan. In dem Nichtantritt der Arbeit ist auch kein konkludentes Einverständnis zu sehen. Aber selbst wenn man - wie nicht - eine vertragliche vereinbarte Freistellungsregelung annehmen wollte, hätte sie bezogen auf den streitigen Anspruch der Sektorzulage keinen anderen Inhalt. Dafür, dass die Beklagte zu 1) dem Kläger einen aufgrund einer Freistellung bestehenden Anspruch auf die Vergütung nach dem Lohnausfallprinzip wie im Annahmeverzug bezogen auf die Sektorzulage vereinbarungsgemäß absprechen wollte, fehlt jeder Anhaltspunkt. Ohnehin könnte und müsste der Ausschluss von Ansprüchen gem. § 615 BGB aus Annahmeverzug und/oder bei Arbeitsausfall klar und deutlich geregelt werden (BAG 09.07.2008 - 5 AZR 810/07, Rn. 25). Daran fehlt es offensichtlich.</p> <span class="absatzRechts">397</span><p class="absatzLinks">cc.Darauf, ob im November und Dezember 2020 ein vertraglicher Anspruch auf die Sektorzulage bestand, kommt es nicht an, so dass der Hinweis der Beklagten zu 1) auf die gemäß dem Eckpunktepapier nicht garantierten Flugstunden schlicht unerheblich ist. Entscheidend ist, ob die Flugstunden ohne Annahmeverzug bzw. Freistellung tatsächlich geleistet worden wären (vgl. BAG 18.09.2001 -9 AZR 307/00, Rn. 45).</p> <span class="absatzRechts">398</span><p class="absatzLinks">b.Entgegen der Ansicht der Beklagten zu 1) kann dabei auf die vertragliche Vereinbarung der Parteien aus Ziffer I.3 für den Fall der Entgeltfortzahlung für den Krankheitsfall abgestellt werden.</p> <span class="absatzRechts">399</span><p class="absatzLinks">aa.Maßgeblich für die Sektorzulage ist danach der Durchschnitt der letzten drei Jahre. Die Kammer verkennt nicht, dass die Entgeltfortzahlung etwas anderes ist als die Vergütung im Annahmeverzug. Auf der Grundlage der zutreffend vom Kläger herangezogenen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann die vertragliche Regelung der Parteien für die Entgeltfortzahlung bei der schwankenden Höhe der Sektorzulage herangezogen werden. Nach § 615 Satz 1 BGB hat die Beklagte die Vergütung an den Kläger weiterzuzahlen, die dieser bei Weiterbeschäftigung verdient hätte. Die Rechtslage ist derjenigen bei Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle vergleichbar. Haben die Parteien dazu eine vertragliche Regelung vereinbart, ist diese auch für den vergleichbaren Fall der Lohnzahlungspflicht aus Gründen des Betriebsrisikos eine sachgerechte Berechnungsart (BAG 23.06.1994 - 6 AZR 853/93, Rn. 19). Dem schließt sich die erkennende Kammer an. Die von der Beklagten zu 1) dagegen vorgebrachten Argumente hat sie gewürdigt. Sie treffen nicht zu. Die Sektorzulage ist ein schwankender Vergütungsbestandteil, der an die Anzahl der absolvierten Flugstunden anknüpft. Für den hier maßgeblichen Zeitraum gibt es aufgrund der Einstellung des Flugbetriebs keinen Flugplan oder Dienstplan der Beklagten zu 1). Eine Betrachtungsweise auf der Grundlage der Flugstunden der entsprechenden Monate des Vorjahres ist im Hinblick darauf, dass es zu dieser Zeit keine Pandemie gab, ebenfalls unzutreffend. Andere Stationen, die im Übrigen anders als die Stationen in Deutschland aufrechterhalten worden sind, sind schon an sich nicht vergleichbar. Es ist kein Grund ersichtlich, warum bei einer Einstellung des Flugbetriebs nicht die vertragliche Regelung der Parteien für eine vergleichbare Konstellation herangezogen werden sollte, denn damit wird dem Willen der Vertragsparteien am besten Rechnung getragen (in der zitierten Entscheidung BAG vom 23.06.1994 - 6 AZR 853/93 wurde ein Schlachtbetrieb eingestellt). Eine Unterscheidung zwischen Winter- und Sommerflugplan ist in der vertraglichen Regelung in I.3 Eckpunktepapier ebenso nicht vorgenommen worden wie auf andere saisonale Schwankungen nicht Rücksicht genommen wurde. Dazu besteht dann auch hier kein Anlass. Angemerkt sei abschließend, dass sich mit der Einstellung des Flugbetriebs seitens der Beklagten zu 1) in Deutschland auch das eigene Betriebsrisiko der Beklagten zu 1) verwirklichte, denn die Beklagte zu 1) hat die Stilllegungsentscheidung letztlich - wie der Sachverhalt anschaulich zeigt - aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten getroffen, nachdem sie eigentlich weiter fliegen wollte. Selbst wenn die Beklagte zu 1) gerade aufgrund der Pandemie die autonome Entscheidung getroffen haben sollte, den Flugbetrieb einzustellen, trägt sie das Betriebsrisiko (BAG 13.10.2021 - 5 AZR 211/21, Rn. 30). Der Fall einer pandemiebedingten hoheitlichen Schließung (dazu BAG 13.10.2021 - 5 AZR 211/21) liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">400</span><p class="absatzLinks">bb.Der vom Kläger geltende gemachte Zahlungsanspruch betreffend die Sektorzulage für die Monate November 2020 und Dezember 2020 berechnet sich danach wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">401</span><p class="absatzLinks">November 2020: Durchschnitt der letzten drei Monate: (3.100,25 Euro brutto + 2.268,75 Euro brutto + 1.719,35 Euro brutto) : 3 = 2.362,78 brutto. Abzüglich für November 2020 gezahlter 160,30 Euro brutto Sektorzulage ergeben sich 2.632,78 Euro brutto. Der Kläger verlangt nur 1.629,94 Euro brutto. Daran ist das Gericht gebunden (§ 308 Abs. 1 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">402</span><p class="absatzLinks">Dezember 2020: (2.268,75 Euro brutto + 1.719,35 Euro brutto + 2.632,78 Euro brutto) : 3 = 2.206,96 Euro brutto. Da die Beklagte zu 1) für Dezember 2020 keine Sektorzulage gezahlt hat, ist kein Abzug zu machen. Der Kläger verlangt nur 1.382,80 Euro brutto. Daran ist das Gericht gebunden (§ 308 Abs. 1 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">403</span><p class="absatzLinks">c.Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB. Im Januar ergibt sich der Zinsbeginn wegen § 193 BGB erst ab dem 04.01.2021.</p> <span class="absatzRechts">404</span><p class="absatzLinks">3. Der Beklagten zu 1) war kein weiterer Schriftsatznachlass zu gewähren. Richtig ist zwar, dass das Arbeitsgericht die Zahlungsanträge für unzulässig erachtet hat. In zweiter Instanz hat der Kläger jedoch einen geänderten Zahlungsantrag bereits mit der Berufungsbegründung angekündigt. Die Beklagte zu 1) musste davon ausgehen, dass das Gericht diesen Zahlungsantrag für zulässig erachtet und in der Sache auf der Grundlage der vom Kläger bereits in erster Instanz zutreffend angeführten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des vorgetragenen und mit Abrechnungen belegten Zahlenwerks entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">405</span><p class="absatzLinks">IX.Der Weiterbeschäftigungsantrag zu III.3 ist dem Gericht mangels Obsiegens des Klägers mit den gegen die Beklagte zu 2) gerichteten Anträgen zu III.1 "und" III.2. (so bei zutreffenden Verständnis und nicht "oder") nicht zur Entscheidung angefallen.</p> <span class="absatzRechts">406</span><p class="absatzLinks">C.Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO und auch auf § 97 Abs. 2 ZPO. Der Kläger hat mit den erst in zweiter Instanz angepassten Zahlungsanträgen obsiegt. § 97 Abs. 2 ZPO erfasst auch neue Klageanträge (Zöller/Herget, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 97 Rn. 11). Eine ordnungsgemäße Prozessführung (vgl. dazu BAG 25.03.2021 - 8 AZR 120/20, Rn. 120), welche die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 25.01.2018 (- 8 AZR 309/16) zur Kenntnis nimmt, hätte zumindest die jetzt zugesprochenen Zahlungsanträge bereits in der ersten Instanz geboten. Gründe, die erstinstanzlichen Kostenentscheidungen zu ändern, sind nicht gegeben.</p> <span class="absatzRechts">407</span><p class="absatzLinks">D.Das Gericht hat die Revision im Hinblick auf die punktuellen und allgemeinen Bestandsschutzanträge gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen. Die Revision war zudem gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG im Hinblick auf die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hessen vom 25.06.2021 - 14 Sa 1225/20 - zu § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG zuzulassen. Im Hinblick auf die Zahlungsanträge erfolgte die Revisionszulassung aus dem Gebot der Widerspruchsfreiheit.</p> <span class="absatzRechts">408</span><p class="absatzLinks">RECHTSMITTELBELEHRUNG</p> <span class="absatzRechts">409</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann von beiden Parteien</p> <span class="absatzRechts">410</span><p class="absatzLinks">REVISION</p> <span class="absatzRechts">411</span><p class="absatzLinks">eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">412</span><p class="absatzLinks">Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim</p> <span class="absatzRechts">413</span><p class="absatzLinks">Bundesarbeitsgericht</p> <span class="absatzRechts">414</span><p class="absatzLinks">Hugo-Preuß-Platz 1</p> <span class="absatzRechts">415</span><p class="absatzLinks">99084 Erfurt</p> <span class="absatzRechts">416</span><p class="absatzLinks">Fax: 0361 2636-2000</p> <span class="absatzRechts">417</span><p class="absatzLinks">eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">418</span><p class="absatzLinks">Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.</p> <span class="absatzRechts">419</span><p class="absatzLinks">Für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse besteht ab dem 01.01.2022 gem. §§ 46g Satz 1, 72 Abs. 6 ArbGG grundsätzlich die Pflicht, die Revision ausschließlich als elektronisches Dokument einzureichen. Gleiches gilt für vertretungsberechtigte Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 46c Abs. 4 Nr. 2 ArbGG zur Verfügung steht.</p> <span class="absatzRechts">420</span><p class="absatzLinks">Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten eingelegt werden. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:</p> <span class="absatzRechts">421</span><p class="absatzLinks">1.Rechtsanwälte,</p> <span class="absatzRechts">422</span><p class="absatzLinks">2.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,</p> <span class="absatzRechts">423</span><p class="absatzLinks">3.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.</p> <span class="absatzRechts">424</span><p class="absatzLinks">In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.</p> <span class="absatzRechts">425</span><p class="absatzLinks">Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.</p> <span class="absatzRechts">426</span><p class="absatzLinks">Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden sich auf der Internetseite des Bundesarbeitsgerichts www.bundesarbeitsgericht.de.</p> <span class="absatzRechts">427</span><p class="absatzLinks">* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.</p> <span class="absatzRechts">428</span><p class="absatzLinks">Dr. GotthardtHömkeTinnefeld</p>
343,848
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{ "id": 657, "name": "Amtsgericht Essen", "slug": "ag-essen", "city": 417, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Amtsgericht" }
131 C 134/20
"2022-10-14T00:00:00"
"2022-03-08T11:01:38"
"2022-10-18T07:50:47"
Urteil
ECLI:DE:AGE1:2022:1014.131C134.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Hamburg-Altona vom 26.05.2020, Az. 20-3607023-0-0 wird mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass die Beklagte verurteilt wird, an die Klägerin 245,18 Euro nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.05.2020 sowie Mahnkosten in Höhe von 14,50 Euro, Bankrückläufergebühren in Höhe von 19,20 Euro und vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 70,20 Euro zu zahlen.</p> <p>Im Übrigen wird der Vollstreckungsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.</p> <p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Von der Wiedergabe des Tatbestandes wird gemäß § 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung konnte im vereinfachten Verfahren gemäß § 495a ZPO ergehen, nachdem die Parteien auf diese Vorgehensweise hingewiesen wurden, einen Antrag auf die mündliche Verhandlung nicht gestellt haben und der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist begründet.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der geltend gemachte Anspruch resultiert aus dem zwischen den Parteien geschlossenen atypischen Kaufvertrages über die Lieferung von Strom, § 433 Abs. 2 BGB.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">1.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Unstreitig kam ein solcher Vertrag zwischen den Parteien an der Entnahmestelle T- Straße in F zustande. Die Beklagte entnahm in dem der Klage zugrunde liegenden Zeitraum vom 21.10.2018 bis zum 31.03.2019 Strom zu einem Gegenwert von 245,18 Euro, welchen die Klägerin ihr mit Rechnung vom 07.04.2019 (Bl. 19 d.A.) in Rechnung stellte.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Eine Zahlung seitens der Beklagten erfolgte – auch auf mehrfache Mahnung sowie Aufforderungsschreiben des vorprozessual beauftragten Rechtsanwalts vom 30.03.2020 (Bl. 24 d.A.) – nicht.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Zinsanspruch bezüglich der Hauptforderung resultiert aus §§ 280, 286 Abs. 1, 288 BGB. Verzug trat vorliegend jedenfalls infolge der ersten Mahnung vom 06.05.2019, mithin vor dem als Zinsbeginn ausgewiesenen und beantragten 05.05.2020 ein.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">3.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat darüber hinaus Anspruch auf Ersatz von Mahnkosten als Verzugsschaden gemäß §§ 280 Abs. 2, 286 Abs. 1 Nr. 1 BGB in Höhe von insgesamt 14,50 Euro.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte befand sich mit der Zahlung zum Zeitpunkt der zweiten Mahnung bezüglich der streitgegenständlichen Rechnung vom 16.05.2019 in Verzug. Für diese Mahnung kann sie Kosten in Höhe von 2,50 Euro ersetzt verlangen. Die angefallenen Kosten stellen in dieser Höhe einen ersatzfähigen Verzugsschaden dar.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die erhobene Pauschale für eine Mahnung in Höhe von 3,10 Euro ist nach den § 309 Nr. 5a BGB bzw. § 307 Abs. Abs. 2 Nr. 1 BGB i. V. m. § 17 Abs. 2 S. 2 StromGVV unwirksam, da die erhobene Pauschale den nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden übersteigt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen der angesetzten Mahnpauschale nicht die Kosten des Verwaltungsaufwandes das Forderungsmanagements auf den Kunden abgewälzt werden können, da es sich bei den entsprechenden Kosten um aus der Sphäre des Geschädigten stammende Kosten der internen Mühewaltung mit dem (bloßen) Ziel der Anspruchsdurchsetzung handelt. (BGH, Urt. v. 26.6.2019 – VIII ZR 95/18; LG Dortmund, Urteil vom 07.04.2015 - 25 O 83/15). Die erstattungsfähige Verzugsschaden für Kosten des Drucks, der Kuvertierung, Frankierung sowie Versendung der Mahnung beträgt nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht die berechneten 3,10 Euro pro Mahnung.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Höhe der Mahnkosten bemisst das Gericht in ständiger Rechtsprechung unter Heranziehung der Schätzungsmöglichkeit des § 287 ZPO pauschal mit 2,50 Euro pro dargelegter Mahnung nach Verzugseintritt. Die Klägerin hat konkret zwei Mahnschreiben dargelegt, die auf den 06.05.2019 und auf den 16.05.2019 datieren. Da die Beklagte erst durch die Mahnung vom 06.05.2019 in Verzug geriet, da für ein vorhergehender Verzugseintritt nicht dargelegt ist, verbleibt es bei den erstattungsfähigen Mahnkosten für die Mahnung vom 16.05.2019 in Höhe von 2,50 Euro.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat des Weiteren einen Anspruch auf Mahnkosten i.H.v. je 2,50 Euro für die vorangegangenen Mahnschreiben vom 02.01.2019, 09.01.2019, 16.01.2019, 23.01.2019 und 06.02.2019, mithin insgesamt 12,50 Euro. Der Anspruch folgt ebenfalls aus §§ 286, 280 Abs. 2 BGB aufgrund des bereits bestehenden Zahlungsverzuges hinsichtlich der zuvor geltend gemachten Rückstände aus vorherigen Abrechnungszeiträumen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der darüberhinausgehend geltend gemachte Betrag i.H.v. 6,70 Euro unterlag der Klageabweisung.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">4.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin kann auch die Bankrücklastkosten i.H.v. 19,20 Euro bezüglich der beiden fehlgeschlagenen Einzugsversuche vom 06.12.2018 und 31.12.2018 gemäß § 280 BGB verlangen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der entsprechende Betrag war zum Zeitpunkt des Einzugsversuches geschuldet und die Beklagte verpflichtet, einen entsprechenden Einzug von ihrem Konto zur Zahlung ihrer Schuld zu gewährleisten. Sie hatte der Klägerin unstreitig eine entsprechende Einzugsermächtigung erteilt und ihre hieraus resultierenden Pflichten schuldhaft verletzt. Den der Klägerin durch die Bankrückläufer entstandenen Schaden, welcher insoweit unstrittig 9,60 Euro je fehlgeschlagenem Einzugsversuch beträgt, hat die Beklagte damit zu ersetzen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">5.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat weiter Anspruch auf Ersatz der geltend gemachten vorgerichtlichen Anwaltskosten gemäß §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 1 BGB. Diese stellen einen ersatzfähigen Verzugsschaden dar.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">6.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der den Anspruch begründende Tatsachenvortrag der Klägerin war der Entscheidung zugrunde zu legen, weil er gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt. Die Beklagte hat trotz Aufforderung zur Stellungnahme und Hinweis auf das Verfahren nach § 495a ZPO keine Tatsachen vorgebracht, die den behaupteten Anspruch in Bezug auf Grund und Höhe als nicht gegeben erscheinen lassen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Zuvielforderung in Höhe von 6,70 Euro stellt im Vergleich zur Forderung im Übrigen einen verhältnismäßig geringfügigen Betrag dar und hat keine höheren Kosten veranlasst.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr.11, 711, 713 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird auf 245,18 EUR festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsbehelfsbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">A) Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung für jeden zulässig, der durch dieses Urteil in seinen Rechten benachteiligt ist,</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">1. wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,00 EUR übersteigt oder</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Berufung in dem Urteil durch das Amtsgericht zugelassen worden ist.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Berufung muss <strong>innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung</strong> dieses Urteils schriftlich bei dem Landgericht Essen, Zweigertstr. 52, 45130 Essen, eingegangen sein. Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklärung, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde, enthalten.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist, sofern nicht bereits in der Berufungsschrift erfolgt, binnen zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils schriftlich gegenüber dem Landgericht Essen zu begründen.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Parteien müssen sich vor dem Landgericht Essen durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere müssen die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift von einem solchen unterzeichnet sein.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">B) Gegen die Streitwertfestsetzung ist die Beschwerde an das Amtsgericht Essen statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR übersteigt oder das Amtsgericht die Beschwerde zugelassen hat. Die Beschwerde ist spätestens innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem Amtsgericht Essen, Zweigertstr. 52, 45130 Essen, schriftlich in deutscher Sprache oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerde kann auch zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichtes abgegeben werden.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann die Beschwerde noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
346,952
olgmuen-2022-10-13-25-u-234021
{ "id": 277, "name": "Oberlandesgericht München", "slug": "olgmuen", "city": null, "state": 4, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
25 U 2340/21
"2022-10-13T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:53"
"2022-10-17T11:11:09"
Endurteil
<h2>Tenor</h2> <div> <p>I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 26.03.2021 wird zurückgewiesen.</p> <p>II. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 26.03.2021, Az. 26 O 11852/18, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p> <p>1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 181.724,05 € zu zahlen, und zwar nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz</p> <p>ab dem 19.11.2015 aus 86.282,77 € (= Rente Juni 2013 - November 2015),</p> <p>ab dem 02.12.2015 aus 2.892,16 € (= Rente Dezember 2015),</p> <p>ab dem 04.01.2016 aus 2.892,16 € (= Rente Januar 2016),</p> <p>ab dem 02.02.2016 aus 2.892,16 € (= Rente Februar 2016),</p> <p>ab dem 02.03.2016 aus 2.892,16 € (= Rente März 2016),</p> <p>ab dem 04.04.2016 aus 2.892,16 € (= Rente April 2016),</p> <p>ab dem 03.05.2016 aus 2.892,16 € (= Rente Mai 2016),</p> <p>ab dem 02.06.2016 aus 2.892,16 € (= Rente Juni 2016),</p> <p>ab dem 04.07.2016 aus 2.892,16 € (= Rente Juli 2016),</p> <p>ab dem 02.08.2016 aus 2.892,16 € (= Rente August 2016),</p> <p>ab dem 02.09.2016 aus 2.892,16 € (= Rente September 2016),</p> <p>ab dem 04.10.2016 aus 2.892,16 € (= Rente Oktober 2016),</p> <p>ab dem 02.12.2016 aus 2.892,16 € (= Rente Dezember 2016), </p> <p>ab dem 03.01.2017 aus 2.892,16 € (= Rente Januar 2017), </p> <p>ab dem 02.02.2017 aus 2.892,16 € (= Rente Februar 2017), </p> <p>ab dem 02.03.2017 aus 2.892,16 € (= Rente März 2017), </p> <p>ab dem 04.04.2017 aus 2.892,16 € (= Rente April 2017), </p> <p>ab dem 03.05.2017 aus 2.892,16 € (= Rente Mai 2017), </p> <p>ab dem 02.06.2017 aus 2.892,16 € (= Rente Juni 2017), </p> <p>ab dem 04.07.2017 aus 2.892,16 € (= Rente Juli 2017), </p> <p>ab dem 02.08.201 aus 2.892,16 € (= Rente August 2017), </p> <p>ab dem 04.09.2017 aus 2.892,16 € (= Rente September 2017), </p> <p>ab dem 03.10.2017 aus 2.892,16 € (= Rente Oktober 2017), </p> <p>ab dem 02.11.2017 aus 2.892,16 € (= Rente November 2017), </p> <p>ab dem 04.12.2017 aus 2.892,16 € (= Rente Dezember 2017), </p> <p>ab dem 02.01.2018 aus 2.892,16 € (= Rente Januar 2018), </p> <p>ab dem 02.02.2018 aus 2.892,16 € (= Rente Februar 2018), </p> <p>ab dem 02.03.2018 aus 2.892,16 € (= Rente März 2018), </p> <p>ab dem 03.04.2018 aus 2.892,16 € (= Rente April 2018), </p> <p>ab dem 03.05.2018 aus 2.892,16 € (= Rente Mai 2018), </p> <p>ab dem 02.06.2018 aus 2.892,16 € (= Rente Juni 2018), </p> <p>ab dem 03.07.2018 aus 2.892,16 € (= Rente Juli 2018), </p> <p>ab dem 02.08.2018 aus 2.892,16 € (= Rente August 2018),</p> <p>2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (Versicherungs-Nr. 6339609) eine monatliche Rente von 2.892,16 € zu zahlen, zahlbarim Voraus bei Beginn eines Monats, erstmals zu zahlen am 01.09.2018 und längstens bis zum 01.12.2028.</p> <p>3. Die Beklagte wird veruteilt, an die Klägerin 16.977,54 € zu zahlen, und zwar nebst Zinsen in Höhe von 5 %</p> <p>ab dem 02.12.2015 aus 3.125,54 € (= Beiträge Dezember 2015 - November 2016)</p> <p>ab dem 02.12.2016 aus 3.281,80 € (= Beiträge Dezember 2016 - November 2017)</p> <p>ab dem 02.12.2017 aus 3.445,91 € (= Beiträge Dezember 2017 - November 2018)</p> <p>4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin ab dem 01.12.2018 von ihrer Beitragszahlungspflicht in der Basisrentenversicherung einschließlich der Berufsunfähigkeit-Zusatzversicherung (Versicherungs-Nr. 6339609) zu befreien.</p> <p>5. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die von ihr zu zahlende Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 2.892,15 € ab dem 01.12.2013 durch einen Rentenzuwachs zu erhöhen, sofern die Beklagte Überschüsse erwirtschaftet hat.</p> <p>6. Die Beklagte wird veruteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.509,19 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.05.2016 zu zahlen.</p> <p>7. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p> <p>III. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.</p> <p>IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer I genannte Urteil des Landgerichts München I ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages leistet.</p> <p>V. Die Revision wird nicht zugelassen.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p>I.</p> <p><rd nr="1"/>Die Parteien streiten um Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeit-Zusatzversicherung. Die Klägerin macht gegen die Beklagte Leistungen wegen behaupteter Berufungsunfähigkeit ab dem 06.06.2013 aus einer bei der Beklagten seit dem 01.12.2007 bestehenden Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung geltend. Hinsichtlich des tatsächlichen Vorbingens der Parteien und des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 277/281 d.A.) Bezug genommen.</p> <p><rd nr="2"/>Das Landgericht München I hat der Klage ganz überwiegend stattgegeben. Abgewiesen hat es die Klage hinsichtlich eines Teils der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten und hinsichtlich des Klageantrags V, mit welchem die Klägerin die Feststellung begehrt hat, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Berufsunfähigkeitsrente durch einen Rentenzuwachs zu erhöhen, sofern die Beklagte Überschüsse erwirtschaftet hat. Auf die Entscheidungsgründe des Urteils des Landgerichts wird verwiesen (Bl. 281/293 d.A.).</p> <p><rd nr="3"/>Beide Parteien haben Berufung eingelegt. Die Beklagte möchte mit ihrer Berufung die Aufhebung des Urteils des Landgerichts und die Abweisung der Klage erreichen. Die Klägerin möchte mit ihrer Berufung die begehrte Feststellung erreichen, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Berufsunfähigkeitsrente durch einen Rentenzuwachs zu erhöhen, sofern die Beklagte Überschüsse erwirtschaftet hat. Die teilweise Abweisung der geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten wird mit der Berufung der Klägerin nicht angegriffen.</p> <p><rd nr="4"/>Die Klägerin beantragt in der Berufung:</p> <p>unter Abänderung des Urteils des Landgerichts München I vom 26.03.2021 (Az. 26 O 11852/18) festzustellen, dass die Besklagte verpflichtet ist, die von ihr zu zahlende Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 2.892,16 € ab dem 01.12.2013 durch einen Rentenzuwachs zu erhöhen, sofern die Beklagte Überschüsse erwirtschaftet hat.</p> <p><rd nr="5"/>Die Beklagte beantragt mit der Berufung:</p> <p>unter Abänderung des Urteils des Landgerichts München vom 26.03.2021, AZ: 26 O 11852/18 die Klage abzuweisen.</p> <p><rd nr="6"/>Beide Parteien beantragen jeweils</p> <p>die Zurückweisung der Berufung der jeweiligen Gegenseite.</p> <p><rd nr="7"/>Auf die Schriftsätze beider Parteien wird Bezug genommen.</p> <p><rd nr="8"/>Der Senat hat mit Beschluss vom 09.05.2022 einen Vergleichsvorschlag gemacht sowie Hinweise erteilt und die Sache am 20.09.2022 mündlich verhandelt. Auf den Beschluss vom 09.05.2022 (Bl. 347/355 d.A.) sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20.09.2022 (Bl. 368/369 d.A.) wird Bezug genommen.</p> <p>II.</p> <p><rd nr="9"/>1. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Landgericht hat der Klage zu Recht überwiegend stattgegeben, weil es den Nachweis dafür, dass die Klägerin ab dem 06.06.2013 zu mindestens 50 % berufsunfähig war, für erbracht und damit die Voraussetzungen für die begehrten Versicherungsleistungen als gegeben angesehen hat.</p> <p><rd nr="10"/>1.1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO ist der Senat an die von dem erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche hiernach die Bindung des Berufungsgerichts an die vorinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1901; Stackmann, NJW 2003, 169, 171; BGH NJW 2004, 1876). Ein solcher Verfahrensfehler läge namentlich vor, wenn die Beweiswürdigung in dem landgerichtlichen Urteil den Anforderungen nicht genügen würde, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung unvollständig oder in sich widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (BGH NJW 1999, 3481, 3482; NJW 2004, 1876 m.w.N.). Hieran gemessen ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht zu beanstanden.</p> <p><rd nr="11"/>Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die Begründung des Ersturteils (S. 8/19, Bl. 281/292 d.A.). Die Einwendungen der Berufung sind nicht geeignet, eine hiervon abweichende Beurteilung zu rechtfertigen</p> <p><rd nr="12"/>1.2. Der Einwand der Beklagten, das Landgericht habe sich seine Überzeugung zur Ausgestaltung der Tätigkeit der Klägerin nicht allein aufgrund deren Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 12.11.2019 und 26.02.2021 bilden und dabei davon absehen dürfen, das von der Beklagten angeregte berufskundliche Sachverständigengutachten einzuholen, hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Landgericht insoweit dargelegt, dass sich der Tatrichter allein aufgrund der schlüssigen Behauptungen und Angaben des Versicherungsnehmers im Rahmen einer Anhörung nach § 141 ZPO seine Überzeugung bilden darf. Darüber hinaus hat das Landgericht seine Würdigung auch auf die in Augenschein genommenen Lichtbilder gestützt. Im Einzelnen:</p> <p><rd nr="13"/>1.2.1. Nach § 286 ZPO bezieht sich die Beweiswürdigung auf den gesamten Inhalt der Verhandlung. Verwertbar ist daher der Inhalt der Schriftsätze und ihrer Anlagen sowie die Äußerung bei einer Parteianhörung (Greger in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 286 Rn. 14).</p> <p><rd nr="14"/>Eine streitige Behauptung ist dann bewiesen, wenn das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugt ist. Nach § 286 ZPO hat der Tatrichter ohne Bindung an feste Regeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Jedoch setzt das Gesetz keine von allen Zweifeln freie Überzeugung voraus. Das Gericht darf keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit bei der Prüfung verlangen, ob eine Behauptung wahr und erwiesen ist. Vielmehr darf und muss sich der Richter in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 - VI ZR 1118/20 -, BGHZ 231, 1-16, Rn. 19 - nicht notwendig ist eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit; BGH, Urteil vom 06.05.2015 - VIII ZR 161/14, NJW 2015, 2111; OLG Frankfurt/M, Beschluss vom 29.03.2017 - Az. 12 U 193/15).</p> <p><rd nr="15"/>1.2.2. Das Landgericht hat der Klägerin deren sorgfältige und genaue Schilderung der Ausgestaltung ihrer Tätigkeit in gesunden Tagen geglaubt. Dabei hat es auch die im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegten und in Augenschein genommenen Fotos mit herangezogen und gewürdigt. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nachvollziehbar und überzeugend (zur Beweisführung durch eine Parteianhörung vgl. auch BGH, Beschluss vom 27.09.2017 - Az. XII ZR 48/17, WM 2018, 53; BGH, Urteil vom 07.02.2006 - VI ZR 20/05, NJW-RR 2006, 672; BGH, Urteil vom 21.02.1996 - Az. IV ZR 300/94; BGH, Urteil vom 14.06.1995 - Az. IV ZR 116/94 -, Rn. 14, juris; BGH, Urteil vom 24.04.1991 - Az. IV ZR 172/90, NJW-RR 1991, 983).</p> <p><rd nr="16"/>1.2.3. Die Beklagte wendet ein, das Erstgericht habe jegliche Beweisaufnahme zur Tätigkeit der Klägerin unterlassen, was nicht zulässig sei. Die Beklagte habe mit Schriftsatz vom 21.05.2019 Art und Umfang der Lieferungen substantiiert bestritten. Dazu sei keine Beweisaufnahme erfolgt. Im Schriftsatz vom 22.03.2021 habe sie darauf verwiesen, dass maßgeblich sei, wie oft Anlieferungen erfolgt seien, in welcher Verpackungsgröße diese erfolgt seien und wie sich die räumlichen Gegebenheiten im Lager der Klägerin dargestellt hätten; ferner ob ein Umverpacken möglich gewesen oder ob Hilfsmittel hätten eingesetzt werden können. Dazu habe sie unter Verwahrung gegen die Beweislast ein berufskundliches Sachverständigengutachten angeboten. Diesen Beweisantrag habe das Gericht nicht übergehen dürfen. Soweit die Beklagte behauptet, das Gericht habe jegliche Beweisaufnahme unterlassen, trifft dies insofern nicht zu, als das Gericht die von der Klägerin vorgelegten Fotos zu den örtlichen Gegebenheiten und der Größe der Lieferungen und Pakete in Augenschein genommen und im Urteil beweiswürdigend berücksichtigt hat. Soweit die Beklagte geltend macht, es hätten Beweismittel wie eine Ortsbesichtigung oder Zeugeneinvernahme zur Verfügung gestanden, ist darauf zu verweisen, dass beides von der Beklagten nicht gegenbeweislich angeboten wurde. Ein entsprechender Beweisantrag der Beklagten wurde vom Landgericht nicht übergangen. Zwar hatte die Klägerin eine Inaugenscheinnahme ihres Arbeitsplatzes angeboten. Diesem Beweisangebot musste das Gericht jedoch nicht nachkommen, nachdem es sich bereits aufgrund der Anhörung der Klägerin und der von ihr vorgelegten Bilder eine ausreichende Überzeugung gebildet hatte (BGH, Urteil vom 23. Juni 1987 - VI ZR 296/86 -, juris). Aber auch der Einholung des von der Beklagten beantragten berufskundlichen Sachverständigengutachtens bedurfte es nicht. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es, wenn aus feststehenden Tatsachen kraft besonderer Fachkunde Schlussfolgerungen gezogen werden müssen, um dem Gericht die Überzeugung von der streitigen Behauptung zu verschaffen, wenn es also um die Vermittlung von Fachwissen geht. Vorliegend war jedoch schlicht tatsächlich festzustellen, wie die Tätigkeit der Klägerin in gesunden Tagen ausgestaltet war. Weder für die Feststellung, wie viele Lieferungen tatsächlich angenommen wurden und wie diese beschaffen waren, noch für die Feststellung der räumlichen Gegebenheiten oder zur Beurteilung der Frage, ob die Gebinde umgepackt werden oder Hilfsmittel eingesetzt werden können, bedarf es besonderer Sachkunde. Es handelt sich insoweit um entweder rein tatsächliche Feststellungen oder um Fragestellungen, die sich schlicht aus rein praktischen Überlegungen ergeben. Zweifel an den vom Landgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen ergeben sich insoweit nicht.</p> <p><rd nr="17"/>1.3. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass das Landgericht vorliegend deshalb zur Feststellung von Berufungsunfähigkeit gekommen ist, weil es eine vollständige Einschränkung für den kompletten Wareneingang angenommen und dargelegt hat, dass ohne die Tätigkeiten beim Wareneingang eine sinnvolle Ausübung des Berufs der Klägerin nicht möglich sei, diese also derart prägend sei, dass mit ihrem Fortfallen insgesamt Berufsunfähigkeit eingetreten sei. Zwar trifft es zu, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen die Klägerin auch Pakete bis zu einem Gewicht von 15 kg heben könne, allerdings nur, wenn sie immer wieder Pausen machen könne. So könne sie 15 bis 20 Pakete verteilt auf einen Arbeitstag von 8 Stunden heben, nicht aber, wenn die Pakete in kurzer Zeit vollständig ins Lager verräumt werden müssten. Die Beklagte wendet ein, das Gericht habe keinerlei konkrete Tatsachenfeststellungen dazu getroffen, wie oft Warenlieferungen gekommen seien, in welcher Größe diese erfolgt seien und wie sich die räumlichen Gegebenheiten im Lager der Klägerin dargestellt hätten. Tatsächlich hat das Landgericht jedoch festgestellt, dass die eingehenden Waren in Gebinden, Paketen oder als Europaletten angeliefert würden. Sodann hat es im Einzelnen dargelegt, wie schwer die Pakete sind und dass die Klägerin nach den Ausführungen des Sachverständigen im Bereich Wareneingang zu 100 % berufsunfähig ist. Dies gelte auch für den Wareneingang in Paketen, da auch die Pakete aus Gebinde-Kartons bestünden, die über 10 kg wiegen würden. Die getroffenen Feststellungen tragen in nicht zu beanstandender Weise die Entscheidung des Landgerichts. Aus der von der Klägerin gefertigten detaillierten Übersicht über ihre Arbeitswoche (Bl. 78/91 d.A.) ergibt sich auch, dass die Klägerin mehrfach wöchentlich Waren geliefert bekommen hat. Der Sachverständige hat bei seiner mündlichen Anhörung klargestellt, dass es der Klägerin zumutbar ist, Lasten von 7,5 bis 20 kg kurzfristig zu heben, nicht aber diese über eine längere Strecke zu tragen oder beispielsweise vom Stapel zu heben und auf andere Stapel zu tragen. Sofern beim Wareneingang in Form von Paketen Pakete von über 7,5 kg eingehen würden, könnte sie diese nicht tragen. Damit ergibt sich aberauch nach Einschätzung des Senats - eine vollständige Berufsunfähigkeit für den Bereich des Wareneingangs.</p> <p><rd nr="18"/>Zu Recht hat das Landgericht insoweit entschieden, dass bei einem Onlinehandel ein sinnvolles Arbeitsergebnis nicht erzielt werden kann, wenn dem Versicherten die Annahme von Waren nicht mehr möglich ist und es deshalb nicht darauf ankommt, dass diese rein zeitlich bei weitem nicht die Hälfte der Arbeitszeit in Anspruch genommen hat (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2017, IV ZR 535/15, NJW-RR 2017, 1066 für den Wegfall des wöchentlichen Einkaufs von Lebensmitteln in größeren Packungen bei einer Tätigkeit als Hauswirtschafterin; BGH, Urteil vom 26. Februar 2003 - IV ZR 238/01 -, NJW-RR 2003, 673, für das Tragen der Geldmaschine bei einer Tätigkeit als selbständiger Automatenaufsteller).</p> <p><rd nr="19"/>1.4. Auch die Einwände der Berufung gegen die Feststellung des Landgerichts, dass die Klägerin ihre Berufsunfähigkeit nicht durch Umorganisation beseitigen könne, greifen nicht durch. Der Klägerin ist eine Umorganisation nicht möglich und zumutbar.</p> <p><rd nr="20"/>Nach § 2 (1) Abs. 3 der als Anlage K 4 vorliegenden Versicherungsbedingungen legt Berufsunfähigkeit nicht vor, wenn der Versicherte in zumutbarer Weise als Selbständiger nach betrieblich sinnvoller Umorganisation ohne erheblichen Kapitaleinsatz innerhalb seines Betriebs noch eine Tätigkeit ausüben könnte, die seiner Stellung als Betriebsinhaber noch angemessen ist.</p> <p><rd nr="21"/>Der Selbständige muss daher darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass auch eine zumutbare Betriebsumorganisation keine von ihm gesundheitlich noch zu bewältigende Betätigungsmöglichkeit mehr eröffnet. Es muss sich nach der Umorganisation jedoch eine seiner bisherigen Aufgabe adäquate, zumutbare und sinnvolle Tätigkeit ergeben. Der Versicherte muss sich nicht selbst wegrationalisieren (Lücke in Prölss/Martin, VVG, 30. Auflage, § 172 VVG, Rz. 71; OLG Koblenz, r+s 2015, 304; OLG Dresden, r+s 2002, 521).</p> <p><rd nr="22"/>1.4.1. Der Einwand der Beklagten, die Überlegungen zur Umorganisation seien schon deshalb fehlerhaft, weil sie auf falschen Feststellungen zur Belastbarkeit der Klägerin beruhten, greift im Ergebnis nicht durch. Zwar wendet die Beklagte zu Recht ein, dass der Sachverständige gerade nicht gesagt hat, dass die Klägerin Lasten über 7,5 kg nicht heben könne. Der Sachverständige hat jedoch ausgeführt, dass die Klägerin Pakete von über 7,5 kg zwar gelegentlich heben könne, in dem Sinn, dass diese kurzfristig angehoben werden könnten, allerdings sei ihr ein Tragen über längere Strecken oder auch ein Stapeln dabei nicht möglich. Die Klägerin könne die Kisten beispielsweise nicht von einem Stapel heben und wiederum auf andere Stapel tragen. Dies sei bei einer Last über 7,5 kg nicht zumutbar. Es handele sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine degenerative Erkrankung. Wenn die Klägerin lediglich 3-4 Kisten mal von links nach rechts rücke, ergäbe sich daraus noch keine dauerhafte Verschlechterung. Aber solange sie dies über einen längeren Zeitraum machen müsse, sei mit einer Verschlechterung auch in besseren Phasen zu rechnen. Um eine angekommene Lieferung in das Lager zu räumen reicht jedoch ein kurzes Anheben der Kisten nicht aus, sondern ist es gerade erforderlich, diese von einem Stapel zu heben und auf einen anderen Stapel zu tragen. Eben darauf bezieht sich ersichtlich die Formulierung des Landgerichts, dass die Klägerin Lasten über 7,5 kg nicht heben oder tragen könne.</p> <p><rd nr="23"/>1.4.2. Vorliegend stellt sich die besondere Situation, dass die Klägerin ihren Online-Handel in gesunden Tagen alleine betrieben hat. Eine Delegation dergestalt, dass der Betriebsinhaber gesundheitlich nicht mehr durchführbaren Aufgaben auf Mitarbeiter delegiert und gleichzeitig nicht belastende Tätigkeit, die zuvor von Mitarbeitern ausgeführt wurden, nun selbst übernimmt, ist hier nicht möglich.</p> <p><rd nr="24"/>1.4.3. Zu Recht hat das Landgericht aber auch die Einstellung eines Mitarbeiters zur Durchführung derjenigen Lagerarbeiten, die der Klägerin nicht mehr - oder nur unter Einschränkungen - möglich sind, für nicht zumutbar gehalten. Dabei kann dahinstehen, ob die ab 2014 gestiegenen Mietkosten bei den Überlegungen zur Zumutbarkeit mit berücksichtigt werden konnten. Die Einstellung eines Mitarbeiters für die Lagerarbeiten ist bereits aus folgenden Gründen nicht zumutbar:</p> <p><rd nr="25"/>Im vorliegenden Fall kann schon deshalb nicht von einer „betrieblich sinnvollen Umorganisation“ ausgegangen werden, weil die Klägerin, als vormals allein arbeitende Selbständige, bei Einstellung eines Mitarbeiters wesentliche Teile ihrer eigenen Arbeiten auf den neu einzustellenden Mitarbeiter übertragen müsste, ohne dass sich andere Tätigkeitsmöglichkeiten für sie ergeben würden (vgl. zur Einstellung eines neuen Mitarbeiters auch OLG Frankfurt, Urteil vom 09. Februar 2000 - 7 U 46/98 -, juris und Prölss/Martin, VVG, 31. Auflage, § 172 VVG, Rz. 71, wonach bei Kleinstbetrieben eine Umorganisation fast immer ausscheidet). Jedenfalls würde die Einstellung eines Mitarbeiters, der Teile der von der Klägerin zuvor selbst ausgeführten Tätigkeiten übernähme, unmittelbar dazu führen, dass der Gewinn der Klägerin um die insoweit anfallenden Personalkosten geschmälert würde (wie tatsächlich auch geschehen). Dabei kann nicht - wie die Beklagte meint - auf das Verhältnis zum Umsatz abgestellt werden, sondern ist vielmehr maßgeblich, welchen Einfluss die zusätzlichen Kosten auf den Gewinn hätten, da nur dieser das wirtschaftliche Ergebnis des Betriebs abbildet. Eine Umorganisation ist jedoch nur dann zumutbar, wenn sie ohne nennenswerte Einkommenseinbuße möglich ist (Lücke, in Prölss/Martin, VVG, 30. Auflage, § 172 VVG, Rz. 70). Bezogen auf das Jahr 2012, in dem die Klägerin einen Gewinn von 43.699 € erwirtschaftet hat, würde bereits die Einstellung nur einer 450,- €-Kraft den Gewinn um 12,35 % schmälern und wäre daher nicht ohne nennenswerte Einkommenseinbuße möglich. Tatsächlich würde überdies die Einstellung nur einer 450,- €-Kraft nicht ausreichen, um die Lagertätigkeiten zu bewältigen. Dies schon deshalb, weil eine solche Kraft nur etwas über 10 Stunden pro Woche arbeitet, die Lagertätigkeit aber über 15 Stunden pro Woche umfasst. Vor allem aber bildeten im vorliegenden Fall die für die Klägerin nicht mehr ohne Einschränkung ausführbaren Lagerarbeiten (Warenannahme und Versand) einen Teil eines Gesamtvorgangs, bei dem Klägerin in gesunden Tagen zunächst sämtliche Bestellungen per EDV erfasst, die Rechnungen erstellt und den Versand vorbereitet hat und sodann die entsprechenden Pakete gepackt hat. Dabei ergibt sich denknotwendig, dass der Umfang der täglich erforderlichen Versandarbeiten von dem - von der Klägerin nicht zu steuernden - Umfang der Auftragseingänge und das Auspacken und Einlagern neuer Waren vom Eingang der Lieferungen abhängig war. Es handelte sich also nicht um eine in ihrem Umfang immer gleiche und zeitlich planbare Teiltätigkeit (wie z.B. das wöchentliche Erledigen eines Einkaufs), so dass ein Mitarbeiter zwangsläufig in einem größeren zeitlichen Rahmen zur Verfügung stehen müsste, als tatsächlich Aufgaben vorhanden wären. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann die Einstellung eines Mitarbeiters für die Lagerarbeiten nicht als wirtschaftlich sinnvolle Umorganisationsmaßnahme angesehen werden.</p> <p><rd nr="26"/>Zwar macht die Beklagte zu Recht geltend, dass die fortgesetzte Fortführung des Online-Handels durch die Klägerin grundsätzlich gegen eine Berufsunfähigkeit spricht. Jedoch zeigen die vorgelegten Steuerbescheide (Anlage B4 und B5) und Einnahmen-Überschussrechnungen (Anlagen K55-57 und K 47), dass der Einsatz des Personals - unabhängig von den Mietkosten - zu keinem wirtschaftlich sinnvollen Betriebsergebnis mehr geführt hat. So hat die Klägerin im Jahr 2013 noch Einnahmen von 46.291,- € generieren können, in den Jahren 2014, 2015, 2016 und 2017 sind (bei Personalkosten von 7.498,92 €, 8.193,63 €, 9.682,64 € und 12.194,07€) die ausgewiesenen Gewinne jedoch auf 16.279,57 €, 17.971,85 €, 8.250,61 € und -7.143,03 € gesunken. Soweit die Klägerin - wie sie selbst angibt - im Jahr 2013 trotz bestehender Schmerzen noch weitergearbeitet hat, führt dies nicht dazu, dass damit die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit zu verneinen seien, da ein überobligatorisches Arbeiten trotz bestehender Schmerzen und zum Nachteil der eigenen Gesundheit die Berufsunfähigkeit nicht entfallen lässt. Der Sachverständige hat auch für das Jahr 2013 bereits eine vollständige Einschränkung beim Heben, Tragen und Stapeln von Gewichten von über 7,5 kg als gegeben angesehen.</p> <p><rd nr="27"/>1.4.4. Zu Recht hat das Landgericht auch die anderen von der Beklagten angesprochenen Umorganisationsmaßnahmen als nicht möglich bzw. zumutbar angesehen. Es hat sich in nicht zu beanstandender Weise aufgrund der Angaben der Klägerin in der mündlichen Handlung und der vorgelegten Lichtbilder die Überzeugung gebildet, dass die Verwendung von technischen Hilfsmitteln, wie einer Sackkarre, aufgrund der örtlichen Gegebenheiten (Stufe am Eingang und Enge im Lagerraum) nicht möglich ist, zumal die Sackkarre auch nicht hilft, um Kartons in die Höhe zu stapeln. Für die Annahme, dass die Anmietung eines erheblich größeren Lagerraums (um ein in die Höhe Stapeln zu vermeiden) zusätzliche hohe Mietausgaben begründet hätte, bedurfte es keiner besonderen Sachkunde. Dass die Mietpreise in München generell und die gewerblichen Mieten zumal sehr hoch sind, ist allgemein bekannt. Auch dass es nicht möglich ist, ankommende Lieferung zeitlich versetzt im Lager zu verstauen und in der Zwischenzeit den Lieferwagen warten bzw. die (hochpreisigen) Waren vor dem Lager im Freien am Straßenrand stehen zu lassen, liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Begründung.</p> <p><rd nr="28"/>2. Die Berufung der Klägerin hat Erfolg. Die von der Klägerin begehrte Feststellung, dass die Beklagte ihr eine Überschussbeteiligung in Form eines Rentezuwachses zusätzlich zur Berufsunfähigkeitsrente zu zahlen habe, sofern die Beklagte Überschüsse erwirtschaftet hat, ist zu treffen.</p> <p><rd nr="29"/>2.1. Eine solche Überschussbeteiligung in Form eines Rentezuwachses ist in dem als Anlage K1 vorgelegten Versicherungsschein, dort zur Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (Seite 3), vorgesehen. Dort heißt es:</p> <p>„Überschussverwendung</p> <p>(…)</p> <p>nach Eintritt der Berufsunfähigkeit</p> <p>für die Beitragsbefreiung Einrechnung i.d. Hauptversicherung</p> <p>für die Rente: Rentenzuwachs“</p> <p><rd nr="30"/>2.2. Entsprechend ist in § 11 letzter Absatz der als Anlage K4 vorgelegten Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung in Verbindung mit einer fondsgebundenen Basisrentenversicherung (Tarif BZ 21) unter der Überschrift „Wie ist die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung am Überschuss beteiligt?“ geregelt, dass während der Leistungszeit der jährliche Überschussanteil für die Erhöhung der Berufsunfähigkeitsleistungen verwendet wird. Dadurch ergäbe sich eine steigende Leistung (Rentenzuwachs). Dieser werde erstmals - gegebenenfalls anteilig - zu Beginn des nach Eintritt der Berufsunfähigkeit folgenden Versicherungsjahres zugeteilt und getrennt für die Beitragsbefreiung und für die ggf. mitversicherte Rente ermittelt. Der Rentenzuwachs, der auf die Beitragsbefreiung entfalle, werde in die Hauptversicherung eingerechnet und erhöhe das Fondsguthaben der Hauptversicherung, während der Rentenzuwachs, der auf die mitversicherte Rente entfalle, zusammen mit der Rente in gleichen Raten ausgezahlt werde. Daraus ergibt sich, wie von der Klägerin geltend gemacht, dass ihr - sofern Überschüsse erwirtschaftet wurden - eine Überschussbeteiligung in Form eines Rentenzuwachses zusteht, der zusammen mit der Rente auszuzahlen ist.</p> <p><rd nr="31"/>2.3. Von der Überschussbeteiligung zu unterscheiden ist die auf der sechsten Seite des Versicherungsscheins (bzw. in § 5 der als Anlage B2 vorgelegten Zusatzbedingungen für die fondsgebundene Basisrentenversicherung mit Dynamik nach Modus P) vorgesehene Dynamik, bei der der Beitrag jährlich zu Beginn des Versicherungsjahres um 5 % des Vorjahresbeitrags erhöht wird. Insoweit ist im letzten Absatz des Abschnitts Dynamik im Versicherungsschein geregelt, dass während der Leistungspflicht der Berufsunfähigkeit-Zusatzversicherung sich die versicherten Leistungen weiter erhöhen, dies jedoch mit Ausnahme der Berufsunfähigkeitsrente. Die von der Klägerin mit dem ursprünglichen Klageantrag V geltend gemachte und mit der Berufung weiter verfolgte Feststellung bezieht sich jedoch auf die Überschussbeteiligung nicht auf die Dynamik.</p> <p><rd nr="32"/>2.4. Im Schreiben vom 10.03.2016 (Anlage K5), in dem die Beklagte die Klägerin über die aktuelle Höhe der monatlichen Berufsunfähigkeitsrente informiert hat, hat auch die Beklagte mitgeteilt, dass sich die angegebene Leistung zusätzlich um den Rentenzuwachs nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zu Beginn des nächsten Versicherungsjahres (01.12.2013) erhöhe. In der Berufungsinstanz hat sie ihren Antrag auf Zurückweisung der Berufung (Schriftsatz vom 18.05.2021, Bl. 310 d.A.) damit begründet, dass der Anspruch nicht bestehe, weil der Nachweis bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit nicht geführt sei. Da - wie oben dargelegt - das Landgericht den Nachweis jedoch zu Recht als geführt angesehen hat, steht auch dies dem Anspruch der Klägerin auf den Rentenzuwachs nicht entgegen.</p> <p>III.</p> <p><rd nr="33"/>Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <p><rd nr="34"/>Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen, § 543 Abs. 2 ZPO. Die hier maßgebliche Frage, ob der Nachweis einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit gelungen ist, unterliegt alleine einer Beurteilung im Einzelfall.</p> <p>Verkündet am 13.10.2022</p> </div>
346,915
vg-dusseldorf-2022-10-13-3-k-794721
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3 K 7947/21
"2022-10-13T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:28"
"2022-10-17T11:11:04"
Urteil
ECLI:DE:VGD:2022:1013.3K7947.21.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Der Bescheid des Oberbürgermeisters der Beklagten über den Widerruf der Zuweisung von Großmarktflächen vom 16. November 2021 wird aufgehoben.</strong></p> <p><strong>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollsteckbar.</strong></p> <p><strong>Die Berufung wird zugelassen.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin betreibt seit inzwischen mehreren Jahrzehnten einen Obst- und Gemüsegroßhandel mit derzeit 28 Mitarbeitern auf dem Großmarkt der Beklagten; die Ware für die rund 280 Kunden, darunter Großkantinen, Krankenhäuser, Altenheime, Catering, Schulen und Kindergärten, wird jede Nacht bei den insgesamt etwa 30 Zulieferbetrieben auf dem Großmarkt frisch eingekauft und noch am selben Tage ausgeliefert.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Nachdem die ursprünglichen Zuweisungen von Flächen in der Halle 00 bzw. davor („Halle 00X“) des Großmarktes seitens des Oberbürgermeisters der Beklagten mit Bescheid vom 17. November 2015 (aus Gründen der Hallenstatik sowie wegen der Werksmodernisierung des benachbarten Sprinterwerks der Firma E.       AG) widerrufen worden waren, erhielt die Klägerin mit Bescheid vom 6. April 2016 ersatzweise die Standplätze Nr. 00 bis 00 in der Halle 0 des Großmarktes neu zugewiesen; die seitens der Klägerin angestrengten gerichtlichen Verfahren (3 K 7996/15 und 3 L 49/16) wurden übereinstimmend für erledigt erklärt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zwecks Neuausrichtung zu einem privat – ohne städtischen Einfluss in Eigenregie der Großmarkthändlerinnen und Großmarkthändler – geführten Großmarkt (auf dem dann der städtischen Tochtergesellschaft J.   AG gehörenden Großmarktgelände mit neu zu errichtenden Großmarkthallen) beschloss der Rat der Beklagten am 12. Juli 2018 die Auflösung der öffentlichen Einrichtung Großmarkt (zum 31. Dezember 2018). In Umsetzung dieser Entscheidung widerrief der Oberbürgermeister der Beklagten gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 17. September 2018 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die oben genannte Zuweisung der sieben Standplätze in Halle 0 des Großmarktes zum 31. Dezember 2018. Dem hiergegen von der Klägerin seinerzeit gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (3 L 2854/18) gab die Kammer durch Beschluss vom 27. November 2018 wegen mangelnder Vereinbarkeit des Widerrufes und des ihm zu Grunde liegenden Ratsbeschlusses mit höherrangigem Recht in Gestalt der durch das Bundesverwaltungsgericht in seinem „Weihnachtsmarkturteil“ vom 27. Mai 2009 (8 C 10.08) zu Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG erarbeiteten Grundsätze statt. Gegen diesen sowie gegen eine Parallelentscheidung der Kammer legte die Beklagte keine Rechtsmittel ein. Vielmehr verfolgte sie das Ziel eines zukunftsfähigen Großmarktes in Eigenregie der Händlerinnen und Händler in zahlreichen Verhandlungsgesprächen zunächst weiter, verwarf es jedoch, als sich abzeichnete, dass eine Lösung auf der Basis eines breiten Konsenses aussichtslos erschien. Sie setzte den Ratsbeschluss von 2018 nicht um, sondern hob die gerichtlich angegriffenen Widerrufsbescheide im April 2021 allesamt auf; die zahlreichen Klageverfahren wurden einschließlich des der Klägerin (3 K 7827/18) übereinstimmend für erledigt erklärt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Folgenden prüfte die Beklagte die Optionen „Fortführung der öffentlichen Einrichtung Großmarkt“ und „Auflösung der öffentlichen Einrichtung Großmarkt“ (ohne Möglichkeit der Weiterführung durch die Großmarkthändlerinnen und -händler in Eigenregie im Anschluss an die Auflösung). Am 1. Juli 2021 entschied sich der Rat der Beklagten für die zweite Option und beschloss die Auflösung der öffentlichen Einrichtung Großmarkt zum 31. Dezember 2024. Zur Begründung wurde in der Beschlussvorlage (XXX/000/2021) insbesondere die ineffiziente Struktur auf dem Großmarktgelände, die nicht mehr heutigen Maßstäben der Flächennutzung entspreche, ein enormer Investitionsbedarf bzw. hoher Sanierungsaufwand und ein hohes Defizit angeführt; ferner sei mit einzubeziehen, dass das Großmarktgelände als eine der wenigen großen, zusammenhängen und attraktiven Flächen im Stadtgebiet einer neuen und sinnvolleren Nutzung zugeführt werden solle. Der Großmarkt sei für die Versorgung der Düsseldorfer Bürgerinnen und Bürger auch nicht unabdingbar, denn seine Funktion als Einrichtung der Daseinsvorsorge habe er längst verloren. In Umsetzung dieses Ratsbeschlusses widerrief der Oberbürgermeister der Beklagten mit Bescheid vom 16. November 2021 die Zuweisungen für die Stände Nr. 00 bis 00 in der Halle 0 des Großmarktes zum 31. Dezember 2024 (Ziffer 1), ordnete die Räumung und saubere Zur-Verfügung-Stellung der Flächen zu diesem Zeitpunkt (Ziffer 2) und drohte widrigenfalls die Durchführung im Wege der Ersatzvornahme bei vorläufig veranschlagten Kosten in Höhe von 3.000,00 Euro (Ziffer 3) an. Sie stützte den Widerruf auf § 49 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW: § 6 Abs. 4 Großmarktsatzung (GMS) lasse den Widerruf aus sachlich gerechtfertigtem Grund zu; ebenso sei in der Zuweisung ein Widerruf vorbehalten.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen den Bescheid vom 16. November 2021 hat die Klägerin am 22. November 2021 Klage erhoben.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Zu deren Begründung führt sie im Wesentlichen an, dass es an einem „sachlich gerechtfertigten Grund“ im Sinne von § 6 Abs. 4 GMS fehle, weil die Vorschrift nur „bauliche Änderungen“ zu Gunsten der öffentlichen Einrichtung Großmarkt, nicht aber Baumaßnahmen Privater erfasse, zu deren Umsetzung die öffentliche Einrichtung aufgelöst werden müsse.Überdies sei die Entscheidung, den Großmarkt als öffentliche Einrichtung zum 31. Dezember 2024 aufzulösen, mit höherrangigem Recht nicht vereinbar. Erneut habe die Beklagte insoweit das in Art. 28 Abs. 2 GG wurzelnde Gebot der Sicherung und Wahrung des Aufgabenbestandes der Gemeinden missachtet. Das „Weihnachtsmarkturteil“ des Bundesverwaltungsgerichts gelte nicht nur für die materielle Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, sondern erst recht für deren vollständige Auflösung, wie sie die Beklagte hier verfolge. Auch seien nicht nur Einrichtungen erfasst, die – kumulativ – sozial, kulturell oder traditionell geprägt seien, sondern es genüge zur Anerkennung einer grundsätzlichen Aufgabenwahrnehmungspflicht, wenn die von der Gemeinde geschaffene öffentliche Einrichtung – alternativ – sozial, kulturell oder traditionell geprägt sei. Dass es sich bei dem Großmarkt Düsseldorf um eine derartige öffentliche Einrichtung im Sinne des „Weihnachtsmarkturteils“ und eben nicht um eine ausschließlich wirtschaftliche Betätigung der Beklagten handele, habe die Kammer im November 2018 völlig zu Recht festgestellt; maßgebliche Änderungen hätten sich in den Jahren danach nicht ergeben. Zudem habe die Beklagte im Rahmen ihrer Auflösungsentscheidung die berechtigten Interessen der Händler und Marktbeschicker völlig außer Acht gelassen.Jedenfalls sei der Widerruf – noch dazu innerhalb einer so kurz bemessenen Frist – ermessensfehlerhaft, weil dessen existenzbedrohende Wirkung für die Klägerin nicht hinreichend berücksichtigt worden sei.Könne der Widerruf mithin offensichtlich keinen Bestand haben, so gelte dies auch für die Räumungsanordnung, zumal die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 GMS nicht erfüllt seien. Die Androhung der Ersatzvornahme sei schon deshalb rechtsfehlerhaft, weil ihr – der Klägerin – nicht nur vertretbare Handlungen aufgegeben worden seien.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks"><strong>den Bescheid des Oberbürgermeisters der Beklagten über den Widerruf der Zuweisung von Großmarktflächen vom 16. November 2021 aufzuheben.</strong></p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen.</strong></p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Sie verteidigt die Entscheidung ihres Rates vom 1. Juli 2021 und den diese umsetzenden Widerrufsbescheid ihres Oberbürgermeisters:Die Argumentation der Klägerin zu § 6 Abs. 4 GMS sei ein Zirkelschluss, denn in der dortigen Nummer 2 stünden die öffentlichen Zwecke sprachlich dem Großmarkt gegenüber und sollten ihn ersetzen und nicht ihm dienen. Das in dem Ratsbeschluss dargestellte Ziel, das Großmarktgelände neuen Planungen zugänglich zu machen, stelle sich als Vorhaben der Stadtentwicklung und damit eindeutig als öffentlicher Zweck dar. Hilfsweise werde darauf hingewiesen, dass die Aufzählung in § 6 Abs. 4 GMS nicht abschließend sei und die Auflösung des Großmarktes jedenfalls einen ungeschriebenen Widerrufsgrund darstelle.Das „Weihnachtsmarkturteil“ stehe dem Ratsbeschluss zur Auflösung sowie dem streitgegenständlichen Widerrufsbescheid nicht entgegen. Der Großmarkt sei keine öffentliche Einrichtung mit kulturellem, sozialem und traditionsbildendem Hintergrund im Sinne der höchstrichterlichen Entscheidung. Hinsichtlich der Umschreibungen des Bundesverwaltungsgerichts „gemeinschaftsbezogene Gemeinwohlbelange“, das „örtliche Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Gemeindebürgern“ und die „Förderung der Kontakte der Gemeindebürger untereinander“ sei vielmehr zu betonen, dass dem Großmarkt eine solche Funktion nicht zukomme. Dieser sei ein abgeschlossenes Gelände, zu dem allein zugelassene Händlerinnen und Händler sowie gewerbliche Großmarktkundinnen und -kunden Zutritt erhielten. Der Handel beginne nach Mitternacht und ende in den frühen Morgenstunden. Der Großmarktbetrieb finde damit unter weitgehendem Ausschluss der Gemeindebürgerinnen und -bürger statt und besitze damit weder kulturelle, soziale oder traditionsbildende Funktion für die örtliche Gemeinschaft, noch diene er in irgendeiner Weise der Förderung der Kontakte der Gemeindebürger untereinander oder stelle sich als sozial und kulturell prägend dar. Er stelle, auch im Sinne des § 107 GO NRW, eine wirtschaftliche Betätigung der Gemeinde dar, in dem er allein als Markt und damit als Ort des Warenaustauschs diene. Die Bedeutung des Großmarktes habe sich gewandelt: Er habe sich von der Daseinsvorsorgeeinrichtung zu einem reinen Handelsplatz entwickelt, der in Konkurrenz zur Vielzahl anderer Anbieter stehe. Nicht zuletzt als Folge der Digitalisierung sei die Ortsnähe für die Versorgung der örtlichen Bevölkerung nicht mehr notwendig. Hinzu komme, dass ein erheblicher Anteil der Großmarktkunden gar nicht aus Düsseldorf, sondern aus der näheren und weiteren Umgebung stamme. Gerade wegen dieser mit einer rückläufigen Nachfrage einhergehenden Entwicklung hätten diverse Händler selbst die Umstrukturierung des Großmarktes gewollt. Die Anwendung der im „Weihnachtsmarkturteil“ entwickelten Grundsätze scheitere überdies an einer fehlenden Fortführung des Großmarktes. Die von diesem als unzulässig erachtete Konstellation einer materiellen Privatisierung liege gerade nicht vor. Die Sorge des Gerichts gelte einer aus seiner Sicht potentiell schädlichen Kommerzialisierung der öffentlichen Einrichtung, nicht hingegen deren reinem Fortbestand. In diesem Zusammenhang sei das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. September 2011 (Au 7 K 10.1951) zu nennen, mit dem sich die Kammer auch in ihrem Beschluss von November 2018 befasst habe. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts müsse auch so einschränkend verstanden und könne auf keinen Fall auch auf andere Konstellationen wie die ersatzlose Auflösung einer öffentlichen Einrichtung erweitert werden. Die kritischen Literaturstimmen zeigten, dass die vom Senat erkannte Figur der Selbstverwaltungspflicht nur in sehr engen Grenzen angewendet werden könne. Das von der Klägerin nahegelegte Verständnis würde die Pervertierung des Selbstverwaltungsrechts bedeuten. Denn die Verwaltung der Gemeinde richte sich allein nach dem Willen der Bürgerschaft, die wiederum durch den demokratisch gewählten Rat vertreten werde. Soweit also keine schutzwürdigen Individualrechtspositionen der Auflösung der freiwilligen öffentlichen Einrichtung Großmarkt entgegenstünden, sei nicht ersichtlich, warum eine andere Instanz als ebendieser Rat, seien es Händlerinnen und Händler, ein Gericht oder eine staatliche Stelle, über diese Auflösung entscheiden und sie – die Beklagte – damit entgegen dem Willen der Bürgerschaft auf ewig an den Betrieb des Großmarktes binden solle. Auch sei keine Verdichtung von einer freiwilligen zu einer pflichtigen Einrichtung erfolgt, zumal die Grundversorgung der Bevölkerung auch nach Schließung des Großmarktes nicht gefährdet sei, wie ein Blick in die umliegenden Städte zeige, welche keine kommunalen Großmärkte bereithielten und deren Bevölkerung gleichwohl keinen Hunger leiden müsse. Ermessensfehler hafteten weder dem Ratsbeschluss noch dem streitgegenständlichen Widerrufsbescheid an. Denn die Interessen der wirtschaftlich tätigen Händlerinnen und Händler seien jeweils in die Abwägung eingestellt worden. Dem Rat komme bei der Entscheidung über die Auflösung einer freiwilligen Einrichtung ein sehr weiter Ermessensspielraum zu. Es gebe weder ein schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand des Großmarktes noch einen individuellen Vertrauensschutz im Hinblick auf Investitionen in den Aus- oder Umbau des Standes. Schließlich zeige auch ein Vergleich mit zivilrechtlichen Gewerbemietverhältnissen und der dort üblichen Kündigungsfrist von maximal 12 Monaten, dass die Widerrufsfrist keinesfalls als unverhältnismäßig eingestuft werden könne.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte – insbesondere auch auf das Protokoll des am 16. August 2022 durchgeführten Erörterungstermins – nebst der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (einschließlich der „Ratsunterlagen“) Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung durch den (Vorsitzenden als) Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten sich in dem oben genannten Erörterungstermin jeweils hiermit (gemäß §§ 101 Abs. 2, 87a Abs. 2 und 3 VwGO) einverstanden erklärt haben.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Sie ist als Anfechtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO zulässig und auch begründet; der Bescheid des Oberbürgermeisters der Beklagten über den Widerruf der Zuweisung von Großmarktflächen vom 16. November 2021 ist rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der in Ziffer 1. des angegriffenen – zugleich den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt markierenden – Bescheides vorgenannten Datums enthaltene Widerruf der Zuweisung von  sieben Standplätzen in Halle 8 des Großmarktes ist – ebenso wie der diesem zu Grunde liegende Beschluss des Rates der Landeshauptstadt Düsseldorf vom 1. Juli 2021 über die Auflösung der öffentlichen Einrichtung Großmarkt (zum 31. Dezember 2024) – mit höherrangigem Recht nicht vereinbar.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Wie bereits 2018 bei der Umstrukturierungsentscheidung liegt bei der nunmehrigen Auflösungsentscheidung wiederum ein Verstoß gegen die aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) abgeleiteten Grundsätze vor, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem sogenannten „Weihnachtsmarkturteil“ (vom 27. Mai 2009 - 8 C 10.08 -, juris) aufgestellt hat. Demnach sind die Gemeinden durch die Selbstverwaltungsgarantie nicht nur vor staatlichen Eingriffen in ihren Aufgabenbereich geschützt, sondern aus der Verfassungsnorm folgt auch eine Bindung der Gemeinden in Bezug auf die Aufrechterhaltung ihres Aufgabenbestandes, wenn dieser in den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft wurzelt.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Bei dem Großmarkt der Beklagten handelt es sich um eine „öffentliche Einrichtung mit kulturellem, sozialem und traditionsbildendem Hintergrund“ im Sinne der vorgenannten höchstrichterlichen Entscheidung und nicht um eine primär wirtschaftliche Betätigung, bei der „eine verfassungsrechtliche Aufgabenverpflichtung der Gemeinden bereits tatbestandlich ausscheiden“ soll.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stepanek, Diss. Würzburg 2013, Verfassungsunmittelbare Pflichtaufgaben der Gemeinden, Berlin 2014, S. 22 f.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Hierzu hat die Kammer bereits in ihrem Beschluss vom 27. November 2018 in dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren selbigen Rubrums Folgendes ausgeführt:</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">„(…) Denn bei dem seit 1936 existierenden Großmarkt der Antragsgegnerin (vgl. die auf §§ 69 RGewO und 58 Abs. b PolVwG PR gestützte Marktordnung vom 15. Juni 1936) handelt es sich nach der bisherigen Konzeption um eine kommunale öffentliche Einrichtung im Sinne von § 8 GO NRW (vgl. auch § 1 der Großmarktsatzung). Bereits in ihrer Widerrufsverfügung (…) weist die Antragsgegnerin zutreffend darauf hin, dass es sich bei einem Großmarkt – anders als beispielsweise bei Schulen und Friedhöfen – nicht um eine Pflichtaufgabe handelt, d. h. eine Kommune eine derartige öffentliche Einrichtung „zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Betreuung ihrer Einwohner“ im Sinne von § 8 Abs. 1 GO NRW nicht schaffen muss. Entgegen der (bereits in der Widerrufsverfügung) zum Ausdruck gebrachten Annahme der Antragsgegnerin folgt hieraus aber nicht, dass eine Gemeinde (unbeschränkt) über die Abschaffung bzw. Privatisierung eines Großmarktes entscheiden kann. Vielmehr sind dabei die aus der bundesverfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) abgeleiteten Grundsätze zu beachten, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem sogenannten „Weihnachtsmarkturteil“ aufgestellt hat. Nach dieser Entscheidung steht es nicht im freien Ermessen der Gemeinde, „freie Selbstverwaltungsangelegenheiten“ zu übernehmen oder sich auch jeder Zeit wieder dieser Aufgaben zu entledigen. Gehören Aufgaben zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises, so darf sich die Gemeinde im Interesse einer wirksamen Wahrnehmung dieses örtlichen Wirkungskreises, der ausschließlich der Gemeinde, letztlich zum Wohle der Gemeindeangehörigen, anvertraut ist, nicht ihrer gemeinwohlorientierten Handlungsspielräume begeben. Der Gemeinde steht es damit nicht grundsätzlich zu, sich ohne Weiteres der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu entledigen. Andernfalls hätten es die Gemeinden selbst in der Hand, den Inhalt der kommunalen Selbstverwaltung durch Abstoßen oder Nichtwahrnehmung ihrer ureigenen Aufgaben auszuhöhlen. Um ein Unterlaufen des ihr anvertrauten Aufgabenbereichs zu verhindern, muss sich die Gemeinde grundsätzlich zumindest Einwirkungs- und Steuerungsmöglichkeiten vorbehalten, wenn sie die Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises anderen übertragen will. Sie kann sich damit nicht ihres genuinen Verantwortungsbereichs für die Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises entziehen. Will sie Dritte bei der Verwaltung bestimmter Bereiche ihres eigenen Aufgabenbereichs einschalten, die gerade das Zusammenleben und Zusammenwohnen der Menschen in der politischen Gemeinschaft betreffen, so muss sie ihren Einflussbereich über die Entscheidung etwa über die Zulassung im Grundsatz behalten. Der Gemeinde ist es verwehrt, gewissermaßen den Inhalt der Selbstverwaltungsaufgaben selbst zu beschneiden oder an Dritte abzugeben.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2009 - 8 C 10.08 -, juris, Rn. 29.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">(…)</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Geltung der im „Weihnachtsmarkturteil“ aufgestellten Grundsätze kann entgegen der Ausführungen in der angegriffenen Widerrufsverfügung (…) und der Argumentation der Antragsgegnerin in dem vorliegenden Verfahren (…) auch nicht unter Verweis auf die „wirtschaftliche Funktion“, die „rein wirtschaftlichen Belange“, die „vorrangige wirtschaftliche Betätigung“ bzw. die „Subsidiaritätsklausel des § 107 Abs. 1 GO NRW“ in Abrede gestellt werden. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung deutlich gemacht, dass die Pflicht der gemeindlichen Wahrung und Sicherung ihres eigenen Aufgabenbestandes für öffentliche Einrichtungen mit kulturellem, sozialen und traditionsbildenden Hintergrund gilt, die schon lange Zeit in der bisherigen kommunalen Alleinverantwortung lagen. Nur wenn es allein um eine wirtschaftliche Betätigung der Gemeinde geht, bei der von vornherein zweifelhaft sein kann, ob es sich um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft handelt, die das Zusammenleben und Zusammenwohnen der Menschen in der politischen Gemeinschaft betrifft, so ist die Frage einer Pflicht der gemeindlichen Wahrung und Sicherung ihres eigenen Aufgabenbestandes nach Auffassung des 8. Senats anders zu beantworten.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2009 - 8 C 10.08 -, juris, Rn. 30.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Bei dem Großmarkt Düsseldorf handelt es sich nicht um eine derartige allein wirtschaftliche Betätigung, sondern um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Dies sind nach dem „Rastede-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und Zusammenwohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen; auf die Verwaltungskraft der Gemeinde kommt es hierfür nicht an.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. November 1988 - 2 BvR 1619/83 u. a. -, juris, Ls. 4 und Rn. 59.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hat hierzu in ihrer Antragsbegründung überzeugend ausgeführt, dass die Antragsgegnerin mit dem Großmarkt ihre hoheitliche Aufgabe erfülle, die Versorgung der Bevölkerung und örtlichen Unternehmen mit hochwertigen, gesunden und frischen Lebensmitteln (vorrangig Obst und Gemüse) sicherzustellen und darüber hinaus Düsseldorf als attraktiven Standort für den Handel, das Handwerk, die Produktion und den Gastronomiebedarf zu stärken. Der Großmarkt führe Erzeuger, Großhandel und mittelständischen Lebensmitteleinzelhandel sowie die Gastronomie und die Wochenmarktbeschicker zum Vorteil der Verbraucher regional zusammen und gewährleiste darüber hinaus eine transparente Preisgestaltung. Es handele sich mithin um eine Einrichtung mit stark sozial geprägtem Hintergrund im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge. Dieser Bewertung ist beizupflichten. Hinzu kommt der vom Bundesverwaltungsgericht betonte Gesichtspunkt der „traditionellen Prägung“.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2009 - 8 C 10.08 -, juris, Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Denn immerhin gehört der Großmarkt seit über achtzig Jahren zum Aufgabenbestand der (jetzigen) Landeshauptstadt, die sich gern ihrer hochwertigen und vielfältigen Gastronomie rühmt. Der Versuch der Antragsgegnerin, den Großmarkt unter Hinweis auf den Bedeutungswandel zu einem rein wirtschaftlichen Belang herabzustufen, verfängt nicht, zumal das von ihr zum Beleg herangezogene (recht aktuelle) Gutachten der Firma Belius (…) die Bedeutung der Großmärkte auch als Versorgungsfaktor (und nicht nur als Wirtschaftsfaktor) als Ergebnis festhält. Dass nicht nur die Düsseldorfer Gastronomie, sondern auch die über die Stadtgrenze hinaus seitens des Großmarktes beliefert wird, deckt sich mit dem Befund der überregionalen Bedeutung der Großmärkte in dem vorgenannten Gutachten und unterstreicht den immensen – einer Einrichtung des Messe- und Ausstellungswesens im Sinne von § 107 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GO NRW ähnlichen – Standortfaktor, entkoppelt diese Einrichtung aber nicht von der örtlichen Gemeinschaft.“</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">An dieser für den seinerzeitigen Zeitpunkt im dritten Quartal des Jahres 2018 vorgenommenen Einstufung hält die Kammer ungeachtet vereinzelter Kritik in der Rechtsprechung,</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">vgl. den stark von hauptstädtischem Impetus getragenen Beschluss des VG Berlin vom 17. Juni 2020 - 4 L 171/20 -, juris, Rn. 24,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">und insbesondere auch angesichts des Vorbringens der Beklagten für den jetzt maßgeblichen Zeitpunkt im zweiten Halbjahr des Jahres 2021 (und darüber hinaus bis zum aktuellen Datum) fest.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Entgegen der von der Klägerin in ihrem jüngsten Schriftsatz geäußerten Auffassung geht sie – die Kammer – dabei davon aus, dass die vom Bundesverwaltungsgericht in dem „Weihnachtsmarkturteil“ formulierte verfassungsrechtliche Aufgabenverpflichtung der Gemeinden (nur) für solche öffentliche Einrichtungen gilt, die kumulativ einen kulturellen, sozialen und traditionsbildenden Hintergrund aufweisen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sing, Diss. Würzburg 2018, Zulässigkeit der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen mit kulturellem, sozialem und traditionsbildendem Hintergrund am Beispiel der Privatisierung eines Weihnachtsmarktes, München 2019, S. 226 und 265.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dass die genannten Merkmale jeweils nicht im Sinne einer mathematisierenden Betrachtungsweise zu gleichen „Anteilen“ erfüllt sein müssen, versteht sich angesichts der Vielgestaltigkeit der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen von selbst und bedarf keiner weiteren Darlegung.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Dies vorausgeschickt vermochte und vermag dem Großmarkt der Beklagten der Charakter einer öffentlichen Einrichtung mit kulturellem, sozialem und traditionsbildendem Hintergrund nicht abgesprochen zu werden: Zunächst ist zu betonen, dass auch die Beklagte die (ihrer Auffassung nach ehemalige) Funktion als Einrichtung der Daseinsvorsorge ausweislich der maßgeblichen Beschlussvorlage (dort Seite 5 oben) und ihrer Ausführungen im Erörterungstermin – der Großmarkt sei vor fünfundachtzig Jahren eine Maßnahme der Stadthygiene und ein geordneter Rahmen für die Versorgung der Bevölkerung durch den deutlich regionalen Handel (auch in schwierigen Zeiten) gewesen – anerkennt. Dass die mehr als acht Jahrzehnte existierende öffentliche Einrichtung Großmarkt Düsseldorf in dieser Zeit einen gewissen Bedeutungswandel erfahren hat (und weiter erfährt) stellt die Kammer nicht in Frage; die Dimension dieses Bedeutungswandels bleibt jedoch unscharf, zumal auch die Beklagte im Erörterungstermin eingeräumt hat, dass der Großmarkt sicherlich immer noch einen Anteil „x“ habe. Wie sich dieser Anteil gerade angesichts der durch die Digitalisierung pp. eröffneten alternativen Möglichkeiten der Versorgung mit frischem Obst und Gemüse entwickelt hat, ist für die Kammer allerdings nicht nachvollziehbar. Die in der Beschlussvorlage AUS/051/2021 (dort erster Absatz auf Seite 5) aufgestellte Behauptung, die 33 Zuweisungsinhaber und 7 Mieter auf dem Großmarkt fielen gegenüber dem Großmarkt Venlo, den allein 159 Lebensmittelgroßhändlern mit eigener Lagerhaltung auf Düsseldorfer Stadtgebiet sowie den zahlreichen Agenturen nicht erheblich ins Gewicht, ist zwar numerisch beeindruckend, besagt über Höhe und Entwicklung des Großmarktanteils aber noch nichts Konkretes. Derartiges lässt sich auch dem von der Beklagten im Nachgang zum Erörterungstermin in Bezug genommenen – bei Beschlussfassung 2021 immerhin schon mehr als sechs Jahre alten – Gutachten des Instituts für I.                (L.    ) vom 11. Mai 2015 nicht entnehmen: Auf Seite 22 des Gutachtens (= Bl. 12 der Heftung 4 der „Ratsunterlagen“) heißt es zwar, dass der Großmarkt eher eine Einkaufsstätte für Gastronomen mit besonderer Frischeaffinität und kleine Unternehmungen sei; Kernzielgruppe seien die knapp 75.000 Restaurants mit Bedienung, die allerdings auch den Strukturwandel in der Gastronomie (mit einer rückläufigen Zahl bei stagnierenden Umsätzen) verspürten; diese Zahlen beziehen sich aber auf ganz Deutschland und lassen keinen Rückschluss auf die besonderen Düsseldorfer Verhältnisse mit ihrer „hochwertigen und vielfältigen Gastronomie“ sowie dem für seine Frische, Qualität und Vielfalt weit über die Landeshauptstadt hinaus bekannten (u. a. durch die Klägerin belieferten) Markt auf dem Carlsplatz zu. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass das neuerlich vorgebrachte Argument der Beklagten, ein erheblicher Anteil der Großmarktkunden stamme gar nicht aus Düsseldorf, sondern aus der näheren und weiteren Umgebung bis in das europäische Ausland, die Bedeutung des Großmarktes für die hiesige Gastro- und Marktkultur nicht zu schmälern vermag. Abgesehen davon liegt der Anteil der Düsseldorfer Lebensmittelkunden ausweislich des vorgenannten J1.   -Gutachtens (dort Seite 50 = Bl. 11 der Heftung 4 der „Ratsunterlagen“) bei über 50 % bzw. mit Rheinland und Niederrhein sogar bei 75 %, während die Niederlande nur zu 1 % vertreten sind. Im Übrigen sei zur rechtlichen Bewertung dieses Arguments zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die einschlägigen Ausführungen am Ende des obigen Auszuges aus dem Beschluss der Kammer von November 2018 verwiesen. Ist der Großmarkt für die Versorgung gerade mit frischen Lebensmitteln – auch in Zeiten ohne Hungersnöte und Versorgungsengpässe – demnach immer noch von Bedeutung, so lässt er sich – trotz der sicherlich gegebenen Konkurrenzsituation – nicht zu einem (beliebigen) „reinen Handelsplatz“ degradieren.Der soziale Hintergrund vermag dem Großmarkt ebenfalls nicht abgesprochen zu werden, denn dieses Kriterium ist nicht auf die „Veranstaltung von Altennachmittagen, das Auftreten von Musikkapellen und das Bestehen von Kindernachmittagen“,</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2009 - 8 C 10.08 -, juris, Rn. 36,</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">beschränkt. Abgesehen von den bereits in dem Beschluss von November 2018 genannten Aspekten fördert die in Rede stehende öffentliche Einrichtung durchaus auch die Kommunikation und den Kontakt der Gemeindebürgerinnen und -bürger untereinander. Dies gilt zunächst unmittelbar für das „muntere Feilschen“,</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">vgl. Internetseite der Beklagten zum „Großmarkt Düsseldorf“ (heutiger Aufruf),</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">des aus „Wiederverkäufern und Großverbrauchern“ bestehenden „Kundenstammes“ mit den „Händlern“ sowie für deren Gespräche über Frische und den Bezug zum Beispiel von tropisch-exotischen Köstlichkeiten, „für deren Angebot der Großmarkt bekannt ist“ und das „nicht bei Kiwis, Mangos oder Ananas aufhört“, sondern auch „Mangostan oder Rambutan oder Platarinas“ umfasst.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. Internetseite der Beklagten zum „Großmarkt Düsseldorf“ (heutiger Aufruf).</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die durch den Großmarkt geförderte Kommunikation reicht jedoch über den Kreis der Händlerinnen und Händler sowie der gewerblichen Großmarktkundinnen und -kunden hinaus, denn sie erfasst mittelbar auch die Gäste sowie Kundinnen und Kunden der zuletzt genannten Kategorie, namentlich der Gastronomie und der Marktbeschicker (insbesondere des Carlsplatzes); nach nicht nur einmaliger Beobachtung der Kammer ist die durch den Großmarkt vermittelte Frische und (auch exotische) Vielfalt insbesondere des Obst- und Gemüseangebotes dort (auch untereinander) durchaus ein Thema, bei dem gerade bei qualitätsbewussten Gästen sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern ein gewisser (traditionsbildender und das örtliche Zusammengehörigkeitsgefühl stärkender) Stolz mitschwingt. Das von der Beklagten gezeichnete Bild eines abgeschlossenen Geländes mit allein zutrittsberechtigten Händlerinnen und Händlern sowie gewerblichen Großmarktkundinnen und -kunden, die in der Nacht und am frühen Morgen unter weitgehendem Ausschuss der Gemeindebürgerinnen und -bürger handeln, mag zwar von der Beschreibung her zutreffend sein, lässt die gezogene Schlussfolgerung vor dem aufgezeigten Hintergrund jedoch nicht zu.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Ist der Düsseldorfer Großmarkt (trotz Bedeutungswandels) auch im Beschlussjahr 2021 noch als die Kriterien des Bundesverwaltungsgerichts erfüllende traditionelle öffentliche Einrichtung der Daseinsvorsorge einzustufen, so kann die Geltung der Grundsätze des „Weihnachtsmarkturteils“ nach Auffassung der Kammer entgegen der Beklagten nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass vorliegend – anders als 2018 – keine Umstrukturierung, sondern eine Auflösung des Großmarktes in Rede steht. Denn ungeachtet des seinerzeitigen konkreten Falles – der Privatisierung des Offenbacher Weihnachtsmarktes – gilt die verpflichtende Zielrichtung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nach der Begründung der höchstrichterlichen Entscheidung auch für den Fall der mangelnden Fortführung, also auch für den „Auflösungsfall“. Soweit das schon seinerzeit von der Beklagten angeführte Verwaltungsgericht Augsburg in seinem Urteil vom 26. September 2011</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">- Au 7 K 10.1951 -, juris, Rn. 73 ff.,</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">(bezüglich des seit mehr als einhundert Jahren veranstalteten Volksfestes der Stadt Neu-Ulm) zu einer abweichenden Auffassung gelangt, so vermag dies nicht zu überzeugen,</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">vgl. Stepanek, a. a. O., S. 25 Fn. 49,</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">weil die Aussage der dortigen Kammer den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts klar widerspricht,</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">vgl. Sing, a. a. O, S. 247 mit dem zutreffenden Hinweis, die genaue Lektüre der Entscheidungsgründe (des „Weihnachtsmarkturteils“) ergebe, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung auch auf die Frage der gänzlichen Einstellung einer kommunalen Einrichtung angewendet sehen wollte,</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">und auch der Hinweis des – die 1. Instanz bestätigenden – Berufungsgerichts,</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 21. Dezember 2012 - 4 ZB 11.2496 -, juris, Rn. 8,</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">auf die mangelnde Vergleichbarkeit so nicht richtig ist.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sing, a. a. O., S. 249 unter Berufung auf Schoch, der unter Verweis auf das Bundesverwaltungsgericht, das mehrfach von der Unzulässigkeit der „Entledigung“ von (…) Aufgaben spricht und nicht nur von der Unzulässigkeit materieller Privatisierungen, allein die Tatsache der Aufgabenentledigung für maßgeblich hält.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber sei angeführt, dass die vorstehende Bewertung der Augsburger Entscheidung nicht im Widerspruch zu den Ausführungen in dem Beschluss vom 27. November 2018 steht: Seinerzeit hat die Kammer lediglich betont, dass die Grundsätze zur Disponibilität gemeinwohlorientierter Handlungsspielräume in der vorliegenden Konstellation Geltung beanspruchten, weil es sich (bei der Umstrukturierung) um einen „Privatisierungsfall“ handele und es anders als bei dem Neu-Ulmer Sachverhalt nicht um einen „Auflösungsfall“ gehe; den Umkehrschluss hat sie hingegen (mangels jeglicher Veranlassung) nicht gezogen.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Dies heißt aber nicht gleichsam automatisch, dass der hier in Rede stehende grundlegende Ratsbeschluss vom 1. Juli 2021 wegen Verstoßes gegen die aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleitete Aufgabenwahrnehmungspflicht mit höherrangigem Recht unvereinbar ist. Wenn dies der Fall wäre, also der Beklagten keinerlei Spielraum mehr verbliebe und sie die öffentliche Einrichtung Großmarkt bis „in alle Ewigkeit“ fortführen müsste, träfe die von ihr bemühte (zahlreiche) Kritik der Literatur, in der von „Versteinerung“ oder „Zementierung“ die Rede ist,</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">vgl. nur den in dem Schriftsatz vom 28. Juni 2022 zitierten BeckOK Kommunalrecht NRW, Dietlein/Heusch, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, Rn. 91 f. m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">tatsächlich zu. Bei genauer Betrachtung hat der 8. Senat eine derartige ausnahmslose Aufgabenwahrnehmungspflicht allerdings nicht festgeschrieben: Wie in ihrer abwehrrechtlichen Dimension muss die Selbstverwaltungsgarantie vielmehr in ihrer verpflichtenden Zielrichtung der Abwägung mit anderen Belangen zugänglich sein, was das Bundesverwaltungsgericht selbst andeutet, indem es lediglich von der Pflicht der Gemeinde zur „grundsätzlichen“ Sicherung und Wahrung ihres Aufgabenbestandes spricht.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. (offenbar unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2009 - 8 C 10.08 -, juris, Rn. 38) Stein, DVBl. 2010, S. 563, 569; Sing, a. a. O., S. 264 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Jedoch ergibt sich bei einem „Rückzug“ der Kommune eine besondere Begründungspflicht.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stein, a. a. O.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Dieser Anforderung ist die Beklagte schon deshalb nicht gerecht geworden, weil sie die verpflichtende Zielrichtung der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG offenbar gar nicht als Ausgangspunkt und gewichtigen Belang in ihre Entscheidung eingestellt hat. Ihre Ausführungen in der Ratsvorlage AUS/051/2021 zeigen (trotz der Worte „Interessenabwägung“ und „Abwägung“ im Zusammenhang mit der „auskömmlichen Frist“ im zweiten Absatz auf deren Seite 5) ebenso wie ihre Schriftsätze in dem vorliegenden Verfahren (möglicherweise auch im Hinblick auf die angenommene Einschlägigkeit des Augsburger Urteils) vielmehr, dass man sich dieser verfassungsrechtlichen Dimension der getroffenen Entscheidung nicht (hinreichend) bewusst gewesen ist. Insbesondere der von der Beklagten (in dem Schriftsatz vom 28. Juni 2022) reklamierte „sehr weite Ermessensspielraum“ des Rates bei der Entscheidung über die Auflösung einer freiwilligen Einrichtung belegt dies eindrucksvoll. Aus Sicht des Rates ist das konsequent, zumal in der maßgeblichen Ratsvorlage trotz der auf deren Seite 3 oben referierten fortbestehenden – in dem vorliegenden Urteil bestätigten – Bewertung der Kammer ausweislich deren Seite 5 oben im ersten Absatz sinngemäß davon ausgegangen wird, dass es sich bei dem Großmarkt (wegen des angenommenen Verlustes der Funktion als Einrichtung der Daseinsvorsorge) nicht (mehr) um eine die Kriterien des „Weihnachtsmarkturteils“ erfüllende öffentliche Einrichtung handelt.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Verstößt Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides nach alledem gegen höherrangiges Recht, so ist eine Auseinandersetzung mit den „einfachrechtlichen“ Argumenten der Klägerin entbehrlich, wobei die Kammer durchaus anmerkt, dass (bei unterstellter Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) Gewichtiges für die Annahme jedenfalls eines ungeschriebenen Widerrufsgrundes und die Verhältnismäßigkeit der mehr als dreijährigen (Auflösungs- und) Widerrufsfrist spräche.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Schließlich teilen die Ziffern 2 und 3 des angefochtenen Bescheides des Oberbürgermeisters der Beklagten unabhängig von der durch die Klägerin weiter aufgeworfenen vollstreckungsrechtlichen Frage deren rechtliches Schicksal.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 167 Abs. 2 VwGO sowie 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 709 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Berufung war gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, weil die Rechtssache mindestens zwei Fragen aufwirft, die im Sinne der Rechtseinheit einer Klärung bedürfen: An erster Stelle, ob die in dem „Weihnachtsmarkturteil“ des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Grundsätze nur für den „Privatisierungsfall“ – so offenbar das Verwaltungsgericht Augsburg und der dieses bestätigende Bayerische Verwaltungsgerichtshof in den oben genannten Entscheidungen – oder auch für den „Auflösungsfall“ gelten; und bejahendenfalls an zweiter Stelle, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen sowie mit welchen Anforderungen die Auflösung einer öffentlichen Einrichtung im Sinne des „Weihnachtsmarkturteils“ (ausnahmsweise) verfassungsrechtlich zulässig ist.Eine Zulassung (auch) gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO wegen Abweichens von dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. Juni 2017 - 15 B 664/17 -, juris, Rn. 7 ff., hält die Kammer nicht für geboten, weil der dortige Senat zwar die grundsätzliche – nur durch das Willkürverbot begrenzte – Entscheidungsfreiheit einer Gemeinde bei der Schaffung und Beibehaltung einer öffentlichen Einrichtung (dort einer von mehreren gemeindlichen Sportplätzen) betont, sich dabei aber nicht mit dem „Weihnachtsmarkturteil“ auseinandergesetzt hat.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Berufung eingelegt werden. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift und die Berufungsbegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird auf 30.000,00 Euro festgesetzt.</strong></p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG. Sie ist wegen der vergleichbaren wirtschaftlichen Bedeutung an der obergerichtlichen gewerberechtlichen Streitwertpraxis,</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. Oktober 2004 - 4 B 1637/04 -, GewArch 2005, 77,</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">sowie an Ziff. 54.1 und 54.2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 orientiert. Wie schon in den seinerzeitigen Klageverfahren 3 K 7996/15 und 3 K 7827/18 ist dort genannte Betrag (in Höhe von 15.000,00 Euro) wegen des besonderen Zuschnitts der Klägerin zu verdoppeln.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
346,938
ovgnrw-2022-10-12-2-d-34821ne
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
2 D 348/21.NE
"2022-10-12T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:24"
"2022-10-17T11:11:07"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:1012.2D348.21NE.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag der Antragsteller und ihres Prozessbevollmächtigten auf Gestattung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung am 22. November 2022 im Wege der Bild- und Tonübertragung wird abgelehnt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der von den Antragstellern und ihrem Prozessbevollmächtigten gemäß § 102a Abs. 1 Satz 1 VwGO gestellte Antrag hat keinen Erfolg. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen (§ 102a Abs. 1 Satz 2 VwGO). Dabei ist § 102a Abs. 1 VwGO nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers als Befugnisnorm für das Gericht zu verstehen, in dessen Ermessen es steht, Videokonferenztechnik im konkreten Fall einzusetzen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Juni 2021 - 5 B 22.20 D -, juris Rn. 12 (nachfolgend: BVerwG, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 5 B 23.21 -, juris).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Davon ausgehend hat der Senat hier in seine der Antragsablehnung zugrunde liegende Ermessensentscheidung zunächst eingestellt, dass die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung am Gerichtsort grundsätzlich zu den zumutbaren verfahrensrechtlichen Möglichkeiten eines Klägers zählt, um sich vor dem Gericht rechtliches Gehör zu verschaffen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 5 B 8.21 -, juris Rn. 23.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber hat der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller keine Belange angeführt, die ein Abweichen vom gesetzlichen Regelfall einer mündlichen Verhandlung ohne Bild- und Tonübertragung an einen anderen Ort unter Inkaufnahme der mit dem Einsatz von Videotechnik verbundenen kommunikativen Defizite,</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu etwa: Greger, MDR 2020, 957, 958,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">und verbreiterten Möglichkeiten des Auftretens technischer Störungen im Ablauf der mündlichen Verhandlung rechtfertigen. Soweit der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller diesbezüglich zunächst auf die räumliche Entfernung seiner Kanzlei vom Gerichtsort abstellt, ist diesem Umstand bereits dadurch Rechnung getragen worden, dass mit ihm (und den Antragstellern) vom Berichterstatter schon vor der Ladung zur mündlichen Verhandlung sowohl der Terminstag als auch die Terminsstunde (14.00 Uhr) telefonisch abgestimmt worden ist. Dabei soll insbesondere die auf Bitten des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller festgelegte Terminsstunde (14.00 Uhr) diesem eine Anreise an den Gerichtsort sowie eine Rückreise von dort an den Kanzleiort am selben Tag ermöglichen. Unabhängig davon erscheint die persönliche Anwesenheit jedenfalls des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller auch deswegen zweckmäßig, weil er seine Rüge, es liege keine ordnungsgemäße Ausfertigung vor, bislang nicht weiter konkretisiert hat (obwohl die Antragsgegnerin ihn hierzu jedenfalls der Sache nach in der Antragserwiderung aufgefordert hat) und sich gerade derartige Fragestellungen erfahrungsgemäß z. B. mittels einer gemeinsamen Inaugenscheinnahme der Planurkunde im Gerichtssaal plastischer (auf)klären lassen, so dass hieraus ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn - auch für die Beteiligten - resultieren kann.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Soweit der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller darüber hinaus den Belang der Kontaktreduzierung (aufgrund der Corona-Pandemie) angeführt hat, wird diesem Anliegen bereits durch bauliche Vorkehrungen im Sitzungssaal (Einsatz von Luftfiltern, Installation von Trennwänden zwischen nebeneinander liegenden Sitzplätzen etc.) entsprochen. Zudem kann die Senatsvorsitzende für die mündliche Verhandlung - etwa im Falle einer Verschärfung der Pandemielage - ggf. eine "Maskenpflicht" gemäß § 176 Abs. 1 GVG anordnen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 102a Abs. 3 Satz 2 VwGO).</p>
346,939
ovgnrw-2022-10-11-2-b-94722
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2 B 947/22
"2022-10-11T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:25"
"2022-10-17T11:11:07"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:1011.2B947.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldnerinnen.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 1.500,00 Euro festgesetzt.</p> <h1> </h1><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat in dem Beschluss die mit der Beschwerde weiterverfolgten Eilanträge der Antragstellerinnen,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung ihrer Klage - 1 K 7120/21 - gegen die beiden Bescheide der Antragsgegnerin vom 8. November 2021 hinsichtlich Ziffer 1 (Untersagung der Nutzung des auf dem Grundstück Q.-----weg 29 in S.     -X.           stehenden Holzgebäudes) wiederherzustellen und hinsichtlich Ziffer 3 (Androhung eines Zwangsgeldes von 3.000,00 Euro für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Ziffer 1) anzuordnen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiege das Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen. Weder sei die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagung in Ziffer 2 der beiden Bescheide der Antragsgegnerin vom 8. November 2021 in formeller Hinsicht zu beanstanden noch falle die vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerinnen aus. Dies ergebe sich daraus, dass die angefochtene Nutzungsuntersagung bei summarischer Prüfung offensichtlich rechtmäßig sei und an ihrer sofortigen Vollziehung auch ein besonderes öffentliches Interesse (Verhinderung einer Entwertung der Ordnungsfunktion des Bauaufsichtsrechts sowie einer Benachteiligung gesetzestreuer Bürger) bestehe; zudem bestünden auch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung. Die auf § 58 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 82 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW beruhende Nutzungsuntersagung sei nach derzeitigem Sach- und Streitstand formell und materiell rechtmäßig. Insbesondere liege für das streitgegenständliche Holzgebäude auf dem im Eigentum der Antragstellerinnen stehenden Grundstück Q.-----weg 29 in S.     -X.           keine Baugenehmigung vor, obwohl hierfür eine solche aber erforderlich sei (formelle Illegalität des Gebäudes). Darüber hinaus sei die Nutzungsuntersagung weder ermessensfehlerhaft noch unverhältnismäßig. Insbesondere sei die Antragsgegnerin an einem bauaufsichtlichen Einschreiten nicht wegen einer diesem entgegenstehenden aktiven Duldung gehindert gewesen. Selbst wenn - wie die Antragstellerinnen vortragen - die Nutzung des streitgegenständlichen Gebäudes als "Partyscheune" durch den Voreigentümer seit etwa 1997 bei der Bevölkerung einschließlich des Bürgermeisters sowie Rats- und Verwaltungsmitgliedern allgemein bekannt gewesen und das Grundstück mit Kenntnis der Antragsgegnerin an die öffentliche Wasser- und Abwasserleitung angeschlossen und mit einer Hausnummer versehen worden sei, könne insoweit nach den von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten strengen Maßstäben nicht von einer aktiven Duldung ausgegangen werden. Die bloße Kenntnis und Hinnahme des illegalen Zustandes durch die Antragsgegnerin begründe schon keinen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand. Auch eine etwaige mündliche Zusage der Antragsgegnerin gegenüber dem Voreigentümer der Immobilie schaffe einen solchen nicht. Selbst wenn dem Voreigentümer des streitgegenständlichen Gebäudes - wie die Antragstellerinnen vortrügen - von dem damaligen Bürgermeister "um die Jahrtausendwende" erklärt worden wäre, dass die Stadt "wegen eines Abrisses nichts weiter unternehmen werde", hätte die Antragsgegnerin zu keinem Zeitpunkt schriftlich oder dem gleichwertig einen Vertrauenstatbestand begründend hinreichend deutlich zu erkennen gegeben, dass sie den baurechtswidrigen Zustand dauerhaft hinzunehmen bereit sei.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdebegründung der Antragstellerinnen gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Bewertung.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerinnen zunächst meinen, das Verwaltungsgericht habe sich auf Seite 11 unten des angefochtenen Beschlusses nicht dazu verhalten, was aus seiner Sicht dafür spreche, dass die Duldungszusage schriftlich erfolgen müsse, geht dieser Einwand bereits im Ansatz fehl. Denn der Grund, warum aus Sicht des Verwaltungsgerichts in Übereinstimmung mit der auf Seite 12 oben des angefochtenen Beschlusses zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung,</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25. Oktober 2021 - 10 A 3199/20 -, juris Rn. 13, vom 8. Mai 2020 - 2 B 457/20 und 2 B 461/20 -, jeweils juris Rn. 15, vom 21. März 2019 - 10 A 684/18 -, juris Rn. 6 ff., und vom 20. September 2018 - 7 B 1192/18 -, juris Rn. 5,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">viel dafür spricht, dass eine länger andauernde Duldung oder Duldungszusage - soll sie Vertrauensschutz vermitteln - schriftlich erfolgen muss, lässt sich dem vorhergehenden Satz in dem angefochtenen Beschluss auf Seite 11 unten eindeutig entnehmen. Dieser lautet nämlich: "Angesichts des Ausnahmecharakters und der weitreichenden Folgen einer solchen sog. aktiven Duldung, bei der die Behörde an der Beseitigung rechtswidriger Zustände gehindert ist, muss den entsprechenden Erklärungen der Behörde mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, ob, in welchem Umfang und ggf. über welchen Zeitraum die Duldung des illegalen Zustands erfolgen soll."</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls erfolglos bleibt der weitere Einwand der Antragstellerinnen, aus einer Gesamtschau der von ihnen vorgetragenen Umstände (jahrzehntelange Kenntnis der Antragsgegnerin von den baurechtswidrigen Zuständen, kein behördliches Einschreiten mehr vom 3. Juli 2012 bis November 2021 nach vorangegangenen Versuchen, damalige Eigentümer in die Pflicht zu nehmen, Anschluss des Grundstücks an die Wasser- und Abwasserleitung, Ausbau der Zufahrt zum Grundstück und Zuteilung einer Hausnummer) ergebe sich im Zusammenhang mit der Erklärung des damaligen Bürgermeisters gegenüber dem Voreigentümer des Grundstücks, die Antragsgegnerin werde wegen eines Abrisses (des darauf befindlichen Holzgebäudes) nichts weiter unternehmen, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts eine einer schriftlichen Duldungszusage gleichwertige Zusage.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Denn zum einen hat bereits das Verwaltungsgericht auf Seite 12 des angefochtenen Beschlusses unter Rückgriff auf die hierzu ergangene obergerichtliche Rechtsprechung,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25. Oktober 2021 - 10 A 3199/20 -, juris Rn. 13, vom 21. März 2019 - 10 A 684/18 -, juris Rn. 6, vom 20. September 2018 - 7 B 1192/18 -, juris Rn. 5, und vom 3. September 2018 - 10 B 1126/18 -, juris Rn. 9,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">zutreffend ausgeführt, dass allein die Untätigkeit der Behörde bzw. eine faktische Duldung - selbst wenn sie lange andauere - nicht ausreiche, um eine aktive Duldung anzunehmen und einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand zu schaffen. Die schlichte Hinnahme eines baurechtlich formell illegalen Geschehens für eine längere Zeit hindere die Bauaufsichtsbehörde nicht, ihre bisherige Praxis zu beenden und auf die Herstellung baurechtmäßiger Zustände hinzuwirken. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht ebenfalls zutreffend darauf abgestellt, dass auch die Versorgung eines Gebäudes mit Strom, Gas und Wasser, die Abrechnung des Verbrauchs und die Erhebung von Grundbesitzabgaben noch keine aktive Duldung begründeten. Selbst wenn das Grundstück der Antragstellerinnen mit Kenntnis der Antragsgegnerin an die öffentliche Wasser- und Abwasserleitung angeschlossen und mit einer Hausnummer versehen worden sei, könne nach den von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten strengen Maßstäben nicht von einer aktiven Duldung ausgegangen werden. Gleiches gilt für den von den Antragstellerinnen ebenfalls vorgebrachten Ausbau der Zufahrt zum Grundstück durch die Antragsgegnerin. Grund hierfür ist, dass allen von den Antragstellerinnen angeführten äußeren Umständen kein (eindeutiger) Erklärungswert dahingehend zu entnehmen ist, ob, in welchem Umfang und ggf. über welchen Zeitraum die Duldung des baurechtlich illegalen Zustands auf dem Grundstück erfolgen soll. Dies ist aber erforderlich, da sich aus einer aktiven Duldung eine zumindest in den praktischen Auswirkungen einer Baugenehmigung im Ansatz angenäherte Rechtsposition ergibt.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. Hüwelmeier, in: Spannowsky / Saurenhaus, BeckOK Bauordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, Stand: 1. Mai 2022, § 74 Rn. 12 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zum anderen ist das Vorbringen der Antragstellerinnen auf Seite 2 unten im Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 14. April 2022, dem Grundstücksvoreigentümer T.        sei von dem damaligen Bürgermeister K.             um die Jahrtausendwende eindeutig erklärt worden, dass die Stadt wegen eines Abrisses (des auf dem Grundstück befindlichen Holzgebäudes) nichts weiter unternehmen werde, bereits zu unsubstantiiert, um daraus eine den strengen Anforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung genügende - einer schriftlichen Duldungszusage gleichwertige - aktive Duldung der Antragsgegnerin ableiten zu können. Denn insoweit fehlt es zunächst schon an der Darlegung jeglichen Erklärungszusammenhangs bzw. Kontextes, in dem die mündliche Äußerung des ehemaligen Bürgermeisters der Antragsgegnerin erfolgt sein soll. Dies ist aber erforderlich, um insbesondere die Ernsthaftigkeit und Rechtsverbindlichkeit der (lediglich) mündlich getätigten Äußerung bewerten zu können. Ferner geht aus der von den Antragstellerinnen angeführten Äußerung nicht hervor, aus welchem Grund "die Stadt wegen eines Abrisses nichts weiter unternehmen werde". Sollte dieser Grund etwa in einem Personalmangel bei der Antragsgegnerin (vgl. hierzu die Erklärung von Frau H.     , Mitarbeiterin des Fachbereichs Bauordnung der Antragsgegnerin, auf Seite 8 Mitte des Protokolls des Ortstermins vom 31. März 2022) gelegen haben, reichte dies für eine aktive Duldung nicht aus, weil hierfür die Erklärung der Antragsgegnerin erforderlich wäre, sich mit dem baurechtswidrigen Zustand abgefunden zu haben und deshalb dagegen nicht mehr einzuschreiten. Außerdem bezieht sich die von den Antragstellerinnen angeführte mündliche Äußerung (allenfalls) auf einen Abriss des auf dem Grundstück befindlichen Holzgebäudes und nicht auf dessen Nutzung - um die es hier allein geht - und lässt im Übrigen auch nicht erkennen, welche konkreten Arten der Nutzung des Gebäudes - insbesondere welche dortigen Feierlichkeiten in welchem Umfang - von der Antragsgegnerin aktiv geduldet worden sein sollen. Schließlich ergibt sich aus der Äußerung auch nicht, ob die Duldung nur für einen bestimmten Zeitraum erfolgen sollte oder zeitlich unbegrenzt. Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass jedenfalls dem Rechtsvorgänger der Antragstellerinnen, Herrn I.    T.        , aufgrund des im Verfahren VG Minden 1 K 265/80 geschlossenen Vergleichs durchaus bekannt gewesen sein dürfte, was unter einer schriftlichen aktiven Duldung bzw. einer gleichwertigen Erklärung zu verstehen ist.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i. V. m. Nr. 11 a), 13 c) und 14 a) des Streitwertkatalogs der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 2019 (BauR 2019, 610). Der Senat sieht keine Veranlassung, von der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts abzuweichen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,937
olgbs-2022-10-11-7-u-15921
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7 U 159/21
"2022-10-11T00:00:00"
"2022-10-15T10:00:51"
"2022-10-17T11:11:07"
Urteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 17. Mai 2021 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Kosten des Berufungsrechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Dieses Urteil und dasjenige des Landgerichts Braunschweig vom 17. Mai 2021 sind vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung jeder der Beklagten durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120% des insgesamt aus den Urteilen vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils vollstreckende Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Der Berufungsstreitwert wird auf die Gebührenstufe bis 80.000.- € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Gegenstand des Rechtsstreits sind Ansprüche, die die Klägerin als Erwerberin eines am 15.10.2013 für 69.915.- € von einer Audi-Vertragshändlerin gekauften Gebrauchtwagens Audi A6 Avant 3.0 TDI quattro mit 180 kW / 245 PS gegen die Beklagte zu 1 als Verkäuferin und die Beklagte zu 2 als Herstellerin des Fahrzeugs geltend macht. In dem Fahrzeug ist ein 3,0-l-Dieselmotor des von der Beklagten zu 2 hergestellten Typs EA896 Generation 2 (i.f.: EA896Gen2) verbaut; streitig ist, ob dieser zum Zeitpunkt des Erwerbs mit einer unzulässigen, abgasbeeinflussenden Software ausgestattet war und deshalb nicht zulassungsfähig war. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes sowie der Anträge der Parteien im Rechtsstreit erster Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen (S. 3-5, Bl. 318-320 d.A.). Zu ergänzen ist dabei, dass der streitgegenständliche Pkw unstreitig nach der Schadstoffnorm EU5 zugelassen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 17.05.2021 (Bl. 316ff d.A.) abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, sie sei unbegründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages; auf Verjährung komme es daher nicht an. Ein Rückabwicklungsanspruch gegen die Beklagte zu 1 ergebe sich nicht aus §§ 437 Nr. 2, 323, 346 BGB, da die Klägerin schon das Vorliegen eines Mangels nicht hinreichend substantiiert dargetan habe. Weder ein Sach- noch ein Rechtsmangel sei schlüssig dargetan.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Soweit die Klägerin auf eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form eines sog. „Thermofensters“ abstelle und den Beklagten im Ergebnis vorwerfe, den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer solchen Einrichtung versehen und in Verkehr gebracht zu haben, sei schon kein Mangel erkennbar. Denn aufgrund der nicht eindeutigen Rechtslage bezgl. des Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) EGVO 715/2007 sei nicht der Beklagten zu 2 und schon gar nicht der Beklagten zu 1 der Vorwurf einer Mangelverursachung zu machen; die Einordnung des „Thermofensters“ als von der Ausnahmeregelung gedeckt erscheine nicht unvertretbar. Zunächst bestehe ein Unterschied in der Funktionsweise, weil keine Unterscheidung zwischen Prüfstands- und Realbetrieb stattfinde. Ernsthaft in Betracht komme auch, dass es sich bei Temperaturen von unter -20°C und über 70°C nicht mehr um normale Fahrbetriebsbedingungen i.S.d. Art. 3 Nr. 10 EGVO 715/2007 handele. Weiterhin könnten Gesichtspunkte des Motor- und Bauteilschutzes ernsthaft erwogen werden, zumal beim Inverkehrbringen des Motors und bei Abschluss des Kaufvertrages. Deshalb könne nicht unterstellt werden, dass die Beklagten in dem Bewusstsein agiert hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Selbst wenn von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen sei, komme eine möglicherweise falsche, aber vertretbare Gesetzesauslegung durch die Beklagte zu 2 in Betracht. Die Beklagte zu 1 sei mit diesen Vorgängen ohnehin nicht einmal befasst gewesen. Dabei sei jedenfalls zu berücksichtigen, dass die europarechtliche Gesetzeslage zur maßgeblichen Zeit nicht zweifelsfrei gewesen sei. Inhalt und Reichweite der o.g. Ausnahmevorschrift zum Motorschutz sei unklar und Gegenstand einer kontroversen Diskussion. Nach dem Abschlussbericht der BMVI-Kommission „Volkswagen“ liege ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten „Thermofenster“ jedenfalls nicht eindeutig vor. Der nur unterstellte Verstoß reiche nicht aus; zudem habe auch die zuständige Behörde sich bezgl. der „Thermofenster“ bislang nicht zu Maßnahmen veranlasst gesehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Im Übrigen habe die Klägerin schon nicht mit Substanz darlegen können, dass in dem streitgegenständlichen Pkw unzulässige Abschalteinrichtungen i.S.d. Art. 5 Abs. 2 EGVO 715/2007 enthalten seien, sondern gleichsam „ins Blaue hinein“ vorgetragen. Daraufhin müsse auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 28.01.2020 keine Beweisaufnahme erfolgen; denn auch danach bestünden für die von Klägerseite vermuteten Manipulationen keine greifbaren Anhaltspunkte. Dabei sei zu berücksichtigen, dass das Kraftfahrt-Bundesamt (i.f.: KBA) als zuständige Typgenehmigungsbehörde auch sechs Jahre nach dem öffentlichen Bekanntwerden der Manipulationen am Dieselmotor EA189, mehrere Jahre nach Anordnung des Rückrufs für bestimmte 3,0-l-Dieselmotoren und trotz der öffentlichen und behördlichen Fokussierung auf den VW-Konzern und damit auch die Beklagte zu 2 für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp noch keinen Rückruf wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung angeordnet habe. Zudem habe das KBA auch nach erneuter Prüfung seit November 2019 keine Tatsachen festgestellt, die einen Rückruf wegen unzulässiger Abschalteinrichtung begründeten. Dies spreche gerade deshalb gegen die Mutmaßungen der Klägerin, weil das KBA wegen der 3,0-l-Dieselmotoren nach Schadstoffnorm EU6 sehr wohl Rückrufanordnungen erlassen habe, aber nicht für das streitgegenständliche Modell. Zudem habe das KBA in seinem Auskunftsschreiben vom 11.09.2020 ausdrücklich erklärt, bei dem eingesetzten Motortyp sei eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht festgestellt worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Auch aus §§ 826, 31 BGB folge kein Anspruch. Angesichts der Definition der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung sei Vorsatz schon deshalb nicht anzunehmen, weil die Auslegung, das „Thermofenster“ sei eine zulässige Abschalteinrichtung, jedenfalls nicht unvertretbar sei. Daran ändere sich auch nichts, wenn die Beklagte zu 2 dem KBA bei Beantragung der Typgenehmigung keine Angaben zur Bedatung gemacht haben sollte, weil lt. Auskunft des KBA vom 11.09.2020 nach der maßgeblichen Fassung des Art. 3 Nr. 9 Abs. 3 VO (EG) 692/2008 keine konkreten Parameter des „Thermofensters“ zu nennen gewesen seien, wobei der Verordnungsgeberin wie auch dem KBA bekannt gewesen sei, dass die Hersteller von Dieselmotoren sämtlich sog. „Thermofenster“ einsetzten. Dass nach Auskunft des KBA auch keine tiefergehende Prüfung der Ausgestaltung des „Thermofensters“ auf Motor- und Bauteileschutz erfolgt sei, sei nur dann verständlich, wenn von der Ausnahmeregelung des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 ausgegangen werde; auf deren Anwendbarkeit stelle auch die Auskunft des KBA vom 11.09.2020 ausdrücklich ab. Dann aber sei auch die konkrete Ausgestaltung nicht zu beanstanden gewesen, ein Vorsatz der arglistigen Täuschung scheide aus, und auch das Vorliegen einer Täuschung des KBA sei mindestens zweifelhaft. Das gelte für die Beklagte zu 2 und erst recht für die Beklagte zu 1, die mit den Vorgängen gar nicht betraut gewesen sei. Weitere Anhaltspunkte seien, wie ausgeführt, nicht ersichtlich bzw. nicht hinreichend substantiiert vorgetragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Ein Schadensersatzanspruch folge auch nicht aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 263 StGB, weil schon das Bewusstsein der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nach alledem nicht festgestellt werden könne. Der Anspruch folge auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB, Artt. 5 Abs. 2, 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007, 6, 27 EG-FGV, weil diese Normen nicht dem Schutz des Interesses dienten, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, und schließlich auch nicht aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 16 UWG. Mangels Hauptforderung habe die Klägerin auch keinen Anspruch auf Verzugszinsen, Freistellung von vorgerichtlichen Kosten und Feststellung des Annahmeverzuges. Wegen der weiteren Begründung des Urteils im Einzelnen wird ergänzend auf die Entscheidungsgründe verwiesen (S. 5-12, Bl. 320-327 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Dieses Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 17.05.2021 ist der Klägerin zu Händen ihres Prozessbevollmächtigten zugestellt worden am 18.05.2021. Sie rügt mit der am 10.06.2021 eingegangenen Berufung und der innerhalb der antragsgemäß verlängerten Begründungsfrist am 23.07.2021 eingegangenen Berufungsbegründung unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör, eine fehlerhafte Tatsachenfeststellung und eine daraus resultierende fehlerhafte Anwendung materiellen Rechts. Das Landgericht habe offenbar die Klägerschriftsätze schon nicht vollständig zur Kenntnis genommen und in den Entscheidungsgründen auf vorhandene Textbausteine zurückgegriffen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Ein Sachmangel liege nach dem Hinweisbeschluss des Bundesgerichtshofes vom 08.01.2019 - VIII ZR 225/17 - vor. Denn auch im vorliegenden Falle sei das Fahrzeug mit einer Software zur Steuerung des Stickoxydausstoßes ausgestattet. Wenngleich es sich nicht um die gleiche Umschaltlogik wie beim VW-Dieselmotor des Typs EA189 handele, sei sie doch eine unzulässige Programmierung und folglich eine unzulässige Abschaltvorrichtung i.S. der Ausführungen des Bundesgerichtshofes. Auch beim sog. „Thermofenster“ seien nur auf dem Prüfstand die zulässigen Abgaswerte eingehalten; damit sei schon der Kaufvertrag mit Übergabe des Fahrzeugs nicht erfüllt. Entgegen der Ansicht des Landgerichts sei nicht allein darauf abzustellen, ob ein bestimmter Fahrzeugtyp bestellungsgemäß übereignet werde; nach Auffassung des Bundesgerichtshofes sei die Kaufsache nur dann frei von Sachmängeln, wenn sie die zu erwartende Beschaffenheit aufweise. Ein nicht zulassungsfähiges Fahrzeug sei nicht mangelfrei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Folglich habe der Erfüllungsanspruch der Klägerin weiterbestanden, eine Gewährleistungsfrist habe nicht zu laufen begonnen (Berufungsbegründung S. 3 Bl. 380). Jedenfalls habe die Klägerin erst bei Veröffentlichung des sog. „Abgasskandals“ 2015 Kenntnis erlangt, weshalb die Klage nicht wegen Verjährung habe abgewiesen werden dürfen. Eine Gehörsverletzung durch das Landgericht liege insoweit vor, als vorgetragen und unter Beweis gestellt sei, dass durch das Update wesentlich in die Motorsteuerung eingegriffen worden sei, was sich auf die Standfestigkeit auswirke und damit die Kaufsache nachhaltig negativ verändert habe. Damit sei nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes mehr als ausreichend konkret, detailliert und mit Gutachtenszitaten bzw. Beweisantritten durch Sachverständigengutachten vorgetragen worden. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sei dagegen ersichtlich ein Textbaustein verwendet worden, der auf den vorliegenden Fall nicht zutreffe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 17.12.2020 - C-693/18 - stehe fest, dass auch die Programmierung von Thermofenstern über den technisch dringend notwendigen Temperaturbereich hinaus eine unzulässige Abschalteinrichtung darstelle. Eine solche sei auch hier gegeben, da die Programmierung nicht der Vermeidung eines akuten Motorschadens oder eines Unfalls diene. Dazu sei ausreichend vorgetragen und unter Sachverständigenbeweis gestellt worden: Bereits auf S. 3 der Klageschrift sei darauf hingewiesen worden, dass für den streitgegenständlichen Motortyp ein Software-Update erforderlich gewesen sei, um das Fahrzeug bezgl. der Abgasreinigung zulassungsfähig zu machen. Im Folgenden sei umfassend dazu vorgetragen worden, dass durch das Update ein Mangel am Fahrzeug entstehe, der sich nachhaltig auf die Standfestigkeit des Motors auswirke.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Auf S. 2, 11 des Klägerschriftsatzes vom 16.09.2019 sei unter Zitierung von Presseveröffentlichungen nochmals konkret und unter Beweisantritt vorgetragen worden, dass das streitgegenständliche Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschaltvorrichtung versehen sei, ergänzt mit den Schriftsätzen vom 09.12.2020, 04.01.2021 und 03.02.2021, aus denen der Klägervertreter wiederholt (Berufungsbegründung S. 6f, Bl. 383f d.A.). Die Programmierung sei so erfolgt, dass das sog. „Thermofenster“ im Hinblick auf die Steuerung der Abgasreinigung beim überwiegenden Teil des Realbetriebs eingesetzt werde und mithin der Tatbestand einer unzulässigen Abschaltvorrichtung gegeben sei. Das Urteil beruhe daher auf einer Gehörsverletzung; es habe Beweis erhoben werden müssen. Zwar reiche nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 13.07.2021 - VI ZR 128/20 - allein das Vorhandensein eines „Thermofensters“ für die Begründung des Anspruchs aus § 826 BGB nicht aus. Es handele sich entgegen der Auffassung der Beklagten aber nicht um die Ausnutzung einer rechtlichen Grauzone; die Programmierung eines „Thermofensters“ sei nur zulässig, wenn sie technisch begründet sei. Das treffe hier nicht zu, wie vorgetragen und unter Beweis gestellt worden sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Die Klägerin legt sodann nochmals die Voraussetzungen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung dar, welche hier in Entwicklung und Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einer nicht zulässigen und über das notwendige Maß hinaus programmierten Abschalteinrichtung zu sehen sei (Berufungsbegründung S. 8f, Bl. 385f d.A.). Die Beklagte zu 2 habe die Übereinstimmungsbescheinigung bewusst wahrheitswidrig erteilt, weil die Fahrzeuge nicht vorschriftsmäßig gewesen seien; damit habe sie gegen geltendes Recht verstoßen. So sei es auch bei dem hier eingebauten 3,0-l-V6-Dieselmotor, ihr Verhalten sei als sittenwidrig anzusehen; darauf, ob der Beklagten gleichzeitig eine Täuschung des jeweiligen Fahrzeugkäufers anzulasten oder eine Offenbarungspflicht verletzt worden sei, komme es nicht an (wird mit den Argumenten zum Dieselmotor EA189 ausgeführt, Berufungsbegründung S. 9-11, Bl. 386-388 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die Klägerin habe einen Schaden durch Eingehung der Zahlungsverpflichtung im Kaufvertrag erlitten; dieser sei auch nicht durch die Durchführung des Software-Updates entfallen, wie der Klägervertreter im Folgenden mit den Argumenten zum Dieselmotor EA189 ausführt (Berufungsbegründung S. 11-16, Bl. 388-393 d.A.). Die Beklagte zu 2 habe auch vorsätzlich gehandelt. Denn sie habe die Typgenehmigung trotz vorhandener Abschalteinrichtung durch entsprechende Programmierung erwirkt, ohne dass sie auf die Zulassungsfähigkeit habe vertrauen können; sie sei mit der eventuellen Betriebsuntersagung zu Lasten der Käufer einverstanden gewesen. Die Emissionsgrenzwerte seien nicht ohne die Abschaltvorrichtung zu erreichen gewesen; das später unter Einbeziehung technischer Entwicklungen entwickelte Update habe noch nicht zur Verfügung gestanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Mit weiterem Schriftsatz vom 30.07.2021 (Bl. 403ff d.A.) verweist der Klägervertreter nochmals auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 13.07.2021 - VI ZR 128/20 -.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Die Klägerin beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">1. die Beklagten als Gesamtschuldnerinnen zu verurteilen, der Klägerin 69.615.- € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13. Januar 2014 zu zahlen abzüglich eines Gebrauchsvorteils i.H.v. 0,27 € je gefahrenem Kilometer zum Zeitpunkt der Rückgabe Zug um Zug gegen Rückübereignung des Pkw Audi A6 Avant 3.0 TDI quattro, amtliches Kennzeichen …., Fahrzeugidentifizierungsnummer …,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">2. festzustellen, dass sich die Beklagte zu 1 hinsichtlich des im Klagantrag zu 1 näher bezeichneten Fahrzeugs und des entsprechenden Fahrzeugbriefs seit dem 27. Dezember 2018 im Annahmeverzug befindet;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, die Klägerin von den Kosten der vorgerichtlichen anwaltlichen Vertretung i.H.v. 1.752,90 € freizustellen</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Beklagten zu 1 und 2 beantragen jede für sich</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Zurückweisung der Berufung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Die Beklagte zu 1 verteidigt das angefochtene Urteil; das Landgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Sie sei unschlüssig, die Berufung dementsprechend zurückzuweisen; die Klagepartei stütze sich in der Berufungsbegründung ganz überwiegend auf hier irrelevante Argumente zum VW-Dieselmotor des Typs EA189, der unstreitig im streitgegenständlichen Fahrzeug nicht eingebaut sei. Das Fahrzeug sei nicht mangelhaft; es unterfalle auch keinem verbindlichen Rückrufbescheid des KBA, infolgedessen gebe es auch keinen verpflichtenden Rückruf. Der Motor habe keine „Umschaltlogik“, das Fahrzeug könne Umweltzonen befahren, und auch gesundheitliche oder finanzielle (z.B. Kfz-Steuer-) Nachteile drohten nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Ein gewährleistungsrechtlicher Anspruch scheitere an der - in der Berufungsbegründung erneut erhobenen - Verjährungseinrede; der Klagepartei stünden auch keine vertraglichen, vorvertraglichen oder deliktischen Schadensersatzansprüche zu; die Angriffe der Berufungsbegründung dagegen überzeugten nicht. Es gebe wegen Verjährungseintritts auch kein Rücktrittsrecht. Darüber hinaus fehle es an der erforderlichen angemessenen Nachfristsetzung, und der Rücktritt sei auch wegen Unerheblichkeit ausgeschlossen. Die Beklagte zu 1 mache sich im Übrigen das Vorbringen der Beklagten zu 2 zu eigen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Die Beklagte zu 1 sei keine Gesellschaft des VW-Konzerns und auch nicht befugt, die Beklagte zu 2 zu vertreten. Sie habe das streitgegenständliche Fahrzeug im Januar 2014 ausgeliefert und bestreite, dass es dem Kläger beim Vertragsschluss auf die Umweltfreundlichkeit des Fahrzeugs angekommen sei, zumal angesichts von dessen Gewicht und Motorisierung. Anschließend trägt die Beklagte zu 1 noch zur Irrelevanz der Schadstoffemissionen im Realbetrieb und dem Fehlen eines merkantilen Minderwerts vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Hilfsweise beruft sich die Beklagte zu 1 auf den Gegenanspruch auf Nutzungsersatz; im Übrigen befinde sie sich schon mangels Hauptanspruchs, aber auch mangels ordnungsgemäßen Angebots nicht im Annahmeverzug.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Auch vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten seien nicht ersatzfähig, weil sie die Erstmahnung beträfen und die Klagepartei auch nicht dargelegt habe, warum sie darauf habe vertrauen dürfen, dass die Beklagte zu 1 ohne Klageerhebung leisten würde. Es werde auch bestritten, dass im Beratungsgespräch über solche Erfolgsaussichten gesprochen worden sei; höchstwahrscheinlich“ bereits unbedingter Klageauftrag erteilt worden. Außerdem werde die Zahlung der Gebühren mit Nichtwissen bestritten. Ein Anspruch könne bei Vorsteuerabzugsberechtigung der Klägerin nur i.H. des Nettobetrages bestehen. Schließlich sei die Klagepartei wohl rechtsschutzversichert; der Anspruch sei damit auf die Rechtsschutzversicherung übergegangen. Im Übrigen bezieht sich die Beklagte zu 1 auf ihr erstinstanzliches Vorbringen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Auch die Beklagte zu 2 verteidigt das angefochtene Urteil und meint, zu Recht habe das Landgericht einen Anspruch der Klägerin aus § 826 BGB gegen sie verneint. Eine Schädigungshandlung sei nicht einmal im Ansatz dargelegt; das Fahrzeug enthalte keine unzulässige Abschalteinrichtung, es gebe auch keinen entsprechenden KBA-Bescheid, wie dessen Auskunft für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp vom 15.12.2020 (Anlage BE2, Bl. 419f d.A.) zeige. Auch die Untersuchungskommission Volkswagen des BMVI habe den Fahrzeugtyp auf eine dem EA189 vergleichbare „Umschaltlogik“ hin überprüft und nichts dergleichen gefunden. Auch weitere Untersuchungen im Rahmen des „Nationalen Forums Diesel“ und im Anhörungsverfahren hätten den Vorwurf nicht bestätigt, wie weiter ausgeführt wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Das Landgericht habe auch zutreffend festgestellt, dass die Installation eines sog. „Thermofensters“ eine sittenwidrige Schädigung nicht begründen könne. Solche seien in allen in den letzten Jahren in der EU produzierten Dieselfahrzeugen enthalten, üblich und zum Motorschutz erforderlich, weswegen der EU-Gesetzgeber gerade Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) EGVO 715/2007 geschaffen habe. Auch der Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ habe die - weiter ausgeführte - Notwendigkeit im April 2016 ausdrücklich anerkennt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Die Beklagte zu 2 habe dem KBA im Rahmen des Freigabeverfahrens für freiwillige Updates im Rahmen des „Nationalen Forums Diesel“ Daten zum „Thermofenster“ einschließlich der konkreten Softwarebedatung für jede Motor-/Getriebekombination zur Verfügung gestellt; denn die Freigabe freiwilliger Software-Updates setze das Fehlen unzulässiger Abschalteinrichtungen voraus. Auch im Rahmen eines nunmehr abgeschlossenen Anhörungsverfahrens habe das KBA den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp auf unzulässige Abschalteinrichtungen untersucht und festgestellt, dass sie nicht vorhanden seien. Dabei habe das KBA auch bestätigt, dass ihm „Thermofenster“ bekannt gewesen seien. Die zutreffende Einschätzung des KBA werde auch durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 17.12.2020 - C-693/18 - nicht in Frage gestellt; denn dieses habe sich nicht mit dem „Thermofenster“ befasst. Selbst wenn man seine Aussagen aber zugrundelegte, bleibe das „Thermofenster“ gem. Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. A EGVO 715/2007 zulässig und geboten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Schließlich treffe die Beklagte zu 2 auch keine sekundäre Darlegungslast zum Vorliegen einer sittenwidrigen Schädigungshandlung, weil es bereits an schlüssigem Klägervorbringen dazu fehle. Jedenfalls sei ihr auf die bloße, pauschale Behauptung einer unzulässigen Abschalteinrichtung hin unzumutbar, im Einzelnen darzulegen, dass und warum keine solche verbaut sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Weiterhin macht die Beklagte zu 2 das Fehlen konkreter Darlegungen zur Kausalität geltend. Der Klägerin sei auch mangels Betroffenheit ihres Pkw von einer unzulässigen Abschalteinrichtung kein kausaler Schaden entstanden, auch nicht in Form eines softwarebedingten Minderwerts. Ein Vorsatz der Audi AG sei nicht einmal ansatzweise dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Im landgerichtlichen Urteil liege auch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör; die Kammer sei auf die Klägerbehauptungen sowohl einer unzulässigen Abschalteinrichtung als auch eines „Thermofensters“ eingegangen. Die Rspr. zu solchen Behauptungen „ins Blaue hinein“ sei fast einhellig und zwischenzeitlich auch vom Bundesgerichtshof bestätigt. Der Verweis auf BGH 28.01.2020 - VIII ZR 57/19 - verfange nicht, und zwar schon, weil es dort um Kaufgewährleistung gegangen sei, vor allem aber, weil dort anders als im vorliegenden Falle die behauptete Abschalteinrichtung in groben Zügen beschrieben und andere Fahrzeuge mit derselben Motorkonfiguration genannt würden, für die bereits ein verpflichtender Rückruf angeordnet worden sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Dass sich das Landgericht nicht mit allen von Klägerseite vorgetragenen Tatsachen auseinandergesetzt habe, begründe keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Denn die Entscheidungsgründe enthielten gem. § 313 Abs. 3 ZPO eben nur eine kurze Zusammenfassung aller Erwägungen. Im Übrigen bezieht sich auch die Beklagte zu 2 auf ihr erstinstanzliches Vorbringen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im Einzelnen wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und Erklärungen zu Protokoll verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Die Berufung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>1. Die Berufung ist insbesondere im Hinblick auf § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, 3 ZPO noch als zulässig anzusehen. Sie konzentriert sich auf die Beanstandung des Verstoßes gegen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör hinsichtlich ihrer Behauptungen zum Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung wie in den EA189-Motoren so auch im streitgegenständlichen Fahrzeug mit 3,0-l-Dieselmotor des Typs EA896Gen2 sowie zur Sittenwidrigkeit auch des Einbaus eines sog. „Thermofensters“.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Für die Zulässigkeit der ersteren Beanstandung genügt hier die Geltendmachung einer Übergehung konkret bezeichneten Klägervorbringens, auch wenn der Begründung anhand der Argumente anzusehen ist, dass sie ursprünglich für einen Fall des VW-Dieselmotors des Typs EA189 verfasst worden ist. Denn sie enthält auch Argumente ohne jeden Bezug zu den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils, so etwa, dass die Klage nicht wegen Verjährung von Gewährleistungsansprüchen habe abgewiesen werden dürfen und dass für das Fahrzeug ein Update erforderlich sei (Berufungsbegründung S. 4f, Bl. 381f d.A.). Nicht auf die Urteilsbegründung bezogen sind auch die Darlegungen zur ursächlichen Entstehung eines Schadens bei der Klägerin durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs, und zwar erst recht, soweit sie auf die Situation nach einem verpflichtenden Software-Update abstellen (S. 11-16, Bl. 388-393 d.A.), sowie zum Vorsatz der Beklagten (S. 16f Bl. 393f d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Jedoch genügt zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, 3 ZPO jedenfalls die Wiederholung der Rechtsansicht, infolge des Einbaus derselben unzulässigen Abschalteinrichtung wie in den EA189-Fällen, des sog. „Thermofensters“ und der behaupteten Nachteile des Software-Updates liege ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten vor, trotz der erkennbar auch insoweit standardisierten Fassung. Die Anforderungen an die Berufungsbegründung dürfen nach Ansicht des Bundesgerichtshofes nicht überspannt werden, wenn der Berufungsführer in zweiter Instanz lediglich weiterhin eine Rechtsauffassung vertritt, welche von derjenigen des erstinstanzlichen Gerichts abweicht. Die Berufung kann in solchen Fällen nicht unzulässig sein, wenn die Berufungsbegründung sich auf die Wiederholung der erstinstanzlich vertretenen Rechtsansicht beschränkt (BGH NJW 2018, 2894 - in Juris Rz. 10 -). Das trifft hier weithin auch auf den Berufungsvortrag der Klägerin zu den genannten Punkten zu. Sie genügen dann aber wegen der Einheitlichkeit des Streitgegenstandes für die Zulässigkeit der gesamten Berufung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>2. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Landgericht hat die Klage der Klägerin auf Schadensersatz wegen des am 15.10.2013 gekauften Gebrauchtwagens Audi A6 Avant 3.0 TDI quattro gegen die Beklagte zu 1 als Verkäuferin und die Beklagte zu 2 als Herstellerin des Fahrzeugs auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens der Klägerin zu Recht abgewiesen. Dies gilt zunächst für die Klage gegen die Beklagte zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>a) Das Landgericht hat jedenfalls im Ergebnis zutreffend einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1 auf Rückabwicklung des Kaufvertrages vom 15.10.2013 aus §§ 434 Abs. 1, 437, 440, 326, 346ff BGB mit der Begründung verneint, die Klägerin habe schon das Vorliegen eines Mangels i.S.d. § 434 Abs. 1 BGB nicht dargetan (Urteil S. 5-9, Bl. 320-324 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>aa) Insoweit ist schon, wie oben 1. erwähnt, die Begründung der Berufung mit einer fehlerhaften Klagabweisung wegen Verjährung verfehlt; darauf ist das erstinstanzliche Urteil nicht gestützt (Berufungsbegründung S. 4 Abs. 2 Bl. 381). Im Ergebnis kann jedoch dahinstehen, ob das streitgegenständliche Fahrzeug wegen Ausstattung der Motorsteuerung mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Form einer Prüfstandserkennung mit Umschaltfunktion oder eines sog. „Thermofensters“ bei Übergabe mangelhaft i.S.d. § 434 Abs. 1 BGB war. Wie im Senatstermin angesprochen, bedarf dies keiner weiteren Klärung, weil ein etwaiger Rückabwicklungsanspruch der Klägerin aus Kaufmängelrecht jedenfalls wegen der von der Beklagten zu 1 erhobenen Verjährungseinrede nicht durchsetzbar wäre (Klagerwiderung Bekl. 1 S. 2, Bl. 80 d.A.). Dies ergibt sich aus §§ 438 Abs. 1 Nr. 3, 444 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>bb) Der streitgegenständliche Pkw wurde unstreitig am 08.01.2014 der Klägerin übergeben; die Klageschrift ist am 31.12.2018 vorab per Telefax bei Gericht eingegangen und damit nach Ablauf der zweijährigen Verjährungsfrist gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB (Bl. 1f d.A.; Klagerwiderung Bekl. 1 a.a.O.). Die Klägerin kann sich auch nicht gem. § 438 Abs. 3 BGB auf die Verlängerung der Verjährungsfrist wegen arglistigen Verschweigens des Mangels durch die Beklagte zu 1 berufen. Denn im Klägervortrag fehlt es schon erstinstanzlich, aber auch im Berufungsrechtsstreit an der Darlegung einer arglistigen Täuschung gerade durch die Beklagte zu 1. Die Klägerin behauptet noch nicht einmal, dass die Beklagte zu 1 beim Fahrzeugverkauf an die Klägerin zur Jahreswende 2013/14 Kenntnis von der Installation einer unzulässigen Prüfstandserkennung oder eines unzulässigen „Thermofensters“ in dem Pkw gehabt hätte, geschweige denn deren Willen, durch den Verkauf trotz dieser Kenntnis etwas Verbotenes zu tun (vgl. BGH 09.03.2021 - VI ZR 889/20, in Juris Rz. 28 -). Daran ändert auch das - ersichtlich eher auf Ansprüche gegen die Beklagte zu 1 ausgerichtete - Klägervorbringen in der Berufungsbegründung zum Vorhandensein eines Mangels im Fahrzeug bei Übergabe nichts (S. 2-4, Bl. 379-381 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>b) Die Klägerin hat auch keine Ansprüche aus unerlaubter Handlung gegen die Beklagte zu 1. Soweit sie solche aus § 826 BGB, aus §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. 6, 27 EG-FGV oder Art. 3 Nr. 10, 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 und aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 263 StGB geltend macht, fehlt es schon an konkretem Vorbringen zur Tathandlung oder zum Tatbeitrag gerade der Beklagten zu 1, insbesondere einer vorsätzlichen Täuschung oder eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz. Im Übrigen gelten die nachstehenden Ausführungen unter 3. zu entsprechenden Ansprüchen gegen die Beklagte zu 2 entsprechend auch gegenüber solchen gegen die Beklagte zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>3. Denn die Berufung ist auch unbegründet, soweit sie sich gegen die Abweisung der Klage gegen die Beklagte zu 2 richtet. Das Landgericht hat die Klage der Klägerin auf Schadensersatz wegen des am 15.10.2013 gekauften Gebrauchtwagens Audi A6 Avant 3.0 TDI quattro gegen die Beklagte zu 2 als Herstellerin des Fahrzeugs auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens der Klägerin zu Recht abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>a) Vertragliche und quasivertragliche Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte zu 2 sind weder explizit geltend gemacht noch sonst ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>b) Das Landgericht hat jedoch auch zutreffend und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, welcher auch der Senat in st. Rspr. folgt, einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 2 aus § 826 BGB wegen Entwicklung und Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Pkw Audi A6 Avant 3.0 TDI mit dem darin montierten 3,0-l-Dieselmotors des Typs EA896Gen2 abgelehnt, weil die Klägerin nicht schlüssig vorträgt, dass der Pkw mit derselben oder auch nur vergleichbaren unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet wäre wie die vom KBA unter dem 15.10.2015 beanstandeten VW-Dieselmotoren des Typs EA189. Soweit die Klägerin insoweit unter Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens zur Betroffenheit des Pkw von derselben rechtswidrigen Abschalteinrichtung Verstöße des Landgerichts gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG beanstandet, bleibt dies erfolglos. Denn das Landgericht hat sich sehr wohl mit ihrem Vorbringen auseinandergesetzt, aber in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass es angesichts des Bestreitens der Beklagten nicht schlüssig ist, und zwar auch nicht unter Berücksichtigung des Gedankens einer sekundären Behauptungslast der Beklagten wegen fehlender eigener Kenntnisse der Klägerseite (Urteil S. 8f, Bl. 323f d.A.). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, dass das Gericht ihnen vor der Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung zum Sachverhalt gibt, das Vorbringen zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung in Erwägung zieht. Das Gericht ist aber weder dazu verpflichtet, alle Einzelpunkte des Parteivorbringens ausdrücklich zu bescheiden, noch dazu, sich der diesbezüglichen Rechtsansicht der Partei anzuschließen (BGH 03.04.2014 - I ZR 237/12, in Juris Rz. 2 m.w.N. -; 07.07.2011 - I ZB 68/10, in Juris Rz. 12 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>Dabei kann dahinstehen, ob die Klägerin „ins Blaue hinein“ vorgetragen hat, wie die Kammer meint (Urteil S. 8, vgl. dazu BGH 28.01.2020 - VIII ZR 57/19, in Juris Rz. 6-9 -). Denn jedenfalls fehlt ihrer Behauptung, auch der im streitgegenständlichen Fahrzeug eingebauten Dieselmotor des Typs EA896Gen2 enthalte eine unzulässige Abschalteinrichtung wie der VW-Dieselmotor des Typs EA189, eine Substantiierung durch konkrete Anhaltspunkte, wie sie der Bundesgerichtshof in der zitierten Entscheidung hat ausreichen lassen (BGH a.a.O. - in Juris Rz. 9ff -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>aa) Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs reicht ein Sachvortrag dann zur Begründung eines Anspruchs aus, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltendgemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten sei nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung seien, insbesondere dann, wenn die Partei von den Vorgängen keine unmittelbare Kenntnis habe; das Gericht müsse nur aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei entscheiden können, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltendgemachten Rechts vorlägen. Sei dies der Fall, so sei ggf. in die Beweisaufnahme einzutreten. Diese könne die Partei auch über nur vermutete, für wahrscheinlich oder möglich gehaltene Umstände verlangen, insbesondere dann, wenn sie mangels Sachkunde oder Einblicks in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten Fahrzeugmodells einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben könne. Eine Behauptung sei mithin erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts gleichsam willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt werde, was nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte zu rechtfertigen sei (BGH 13.07.2021 - VI ZR 128/20, in Juris Rz. 20-22 i. Anschl. an BGH 28.01.2020 - VIII ZR 57/19, in Juris Rz. 7f -). So sei in „Abgasfällen“ hinsichtlich der Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung vom Kläger mangels eigener Detailkenntnisse nur zu fordern, dass er greifbare Umstände anführt, auf die er den Verdacht gründet, sein Fahrzeug weise eine oder mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen auf (BGH 28.01.2020 - VIII ZR 57/19, in Juris Rz. 10 -). Der Bundesgerichtshof hat dabei in dem vom Klägervertreter in seinen Schriftsätzen vom 30.07.2021 und 13.09.2022 (Bl. 403ff, 537ff d.A.) angeführten Urteil vom 13.07.2021 ein einzelnes Indiz, nämlich das Vorhandensein einer Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung in Mercedes-Fahrzeugen, bereits als hinreichend substantiierten Vortrag ausreichen lassen (BGH 13.07.2021 - VI ZR 128/20, in Juris Rz. 24-26 -). Dergleichen behauptet die Klägerin des vorliegenden Falles allerdings nicht. In dem früher entschiedenen Parallelfall hat der Bundesgerichtshof es ausreichen lassen, dass andere, mit demselben Motortyp ausgestattete Fahrzeugmodelle mit einer unzulässigen „Thermosoftware“ ausgestattet gewesen seien (ebenda - in Juris Rz. 11 -) und mehrere mit demselben Motortyp ausgestatteten Fahrzeugmodelle bereits einer verbindlichen Rückrufanordnung des KBA unterlägen, auch wenn die konkrete Modellreihe oder der konkrete Fahrzeugtyp davon nicht betroffen sei (ebenda - in Juris Rz. 12f -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>bb) Geht man i.S. dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung davon aus, dass die Behauptung eines einzelnen Indizes zur Substantiierung des Sittenwidrigkeitsvorwurfs gegen die Beklagte zu 2 ausreichen würde, so hat das Landgericht dennoch in nicht zu beanstandender Weise und auch im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass es an solchen konkreten Anhaltspunkten im Klägervorbringen überhaupt fehlt (Urteil S. 8f Bl. 323f).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>(1) Das streitgegenständliche Fahrzeug ist unstreitig nicht mit einem VW-Drei- oder Vierzylinder-Dieselmotor der Baureihe EA189 mit 1,2, 1,6 oder 2,0 Litern Hubraum ausgestattet, sondern mit einem 3,0-l-Dieselmotor mit sechs Zylindern in V-Anordnung der sogenannten Baureihe EA896 Generation 2 (EA896Gen2), d.h. einem völlig anderen Motortyp. Die obergerichtliche Rechtsprechung hat durchgehend die Annahme einer sittenwidrigen Schädigung durch Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Fahrzeuge des VW-Konzerns mit diesem Motor aufgrund gleichartigen Klägervorbringens wie im vorliegenden Falle abgelehnt, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt des Vorhandenseins einer Prüfstandserkennung wie beim Motortyp EA189 als auch unter dem eines sog. „Thermofensters“ (OLG Frankfurt/M 31.07.2020 - 10 U 163/19, in Juris Rz. 53-59 [Abschalteinrichtung] bzw. 37-51 [„Thermofenster“]; OLG Oldenburg 26.10.2020 -11 U 58/20, in Juris Rz. 47-52 bzw. 53-69; OLG Köln 20.04.2021 - 14 U 84/19, in Juris Rz. 9-16, 22f bzw. 24; OLG Brandenburg 07.06.2021 - 1 U 104/19, in Juris Rz. 28-37 bzw. 38; der abweichende frühe Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 22.08.2019 - 17 U 294/18, in Juris Rz. 4-22 - ist durch die zwischenzeitlichen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes und der Oberlandesgerichte überholt).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>(2) Die hiesige Klägerin behauptet in der Klageschrift wie in der Berufungsbegründung lediglich pauschal, Motoren des Typs EA896Gen2 seien ebenso vom sogenannten VW-Abgasskandal betroffen, weil mit derselben unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet, und benötige deshalb ein Software-Update (Klageschrift S. 3f, Berufungsbegründung S. 5f, Bl. 5f, 382f d.A.). Sie bleibt aber auch den nach den zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes mindestens erforderlichen Vortrag eines konkreten Anhaltspunktes für das Betroffensein auch des von ihr erworbenen Modells mit Motor des Typs EA896Gen2 schuldig. Insbesondere trägt sie nicht konkret vor, dass in anderen Fahrzeugmodellen des VW-Konzerns mit dem 3,0-l-V6-Dieselmotor EA896Gen2 bereits unzulässige Abschalteinrichtungen festgestellt worden seien, erst recht nicht, dass es sich dabei um solche wie in den Fahrzeugmodellen mit den kleineren Dieselmotoren des Typs EA189 gehandelt habe, nämlich konkret um eine Prüfstandserkennung mit Umschaltfunktion für die Abgasrückführung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Ihr Vorbringen beschränkt sich vielmehr, wie im Senatstermin erörtert, auf die Wiederholung des aus anderen Sachen bekannten Vorbringens zu eben jener unzulässigen Schaltung in der Steuerung des Motortyps EA189 und die ergänzende pauschale Behauptung, dies treffe auch auf den streitgegenständlichen Motor zu. Dies gilt auch für die Ausführungen auf S. 8-11 der Berufungsbegründung dazu, dass sehr wohl eine Schädigungshandlung der Beklagten zu 2 vorliege (Bl. 385-388 d.A.). Dabei handelt es sich ersichtlich um aus einem EA189-Fall übernommene Textbausteine, deren Bezug zum konkreten Sachverhalt sich auf den hinzugefügten Satz beschränkt, das Ausgeführte gelte auch für die Fahrzeuge mit 3-l-V6-Dieselmotor. Dies gilt ferner für die Ausführungen zur ursächlichen Entstehung eines Schadens bei der Klägerin durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs und zum Vorsatz der Beklagten, welche, wie unter 1. erwähnt, keinen Bezug zur Urteilsbegründung des Landgerichts haben (Berufungsbegr. S. 11-17, Bl. 388-394 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>Damit beschränkt sich das Klägervorbringen auf die textbausteinartige Wiederholung von Vorbringen zu vom KBA beanstandeten anderen Motortypen, nämlich EA189 und EA897, und die pauschale Behauptung, dasselbe gelte auch für den streitgegenständlichen. Warum dies so sein soll bzw. welche Anhaltspunkte für eine solche Parallele sprechen, legt die Klägerin mit keinem Wort dar. Ihr an anderen Motortypen orientierter Vortrag geht damit letztlich bis auf die pauschale Behauptung der Gleichartigkeit inhaltlich vollständig am streitgegenständlichen Fahrzeug vorbei (vgl. zu gleichartigem Vorbringen OLG Brandenburg 07.06.2021 - 1 U 104/19, in Juris Rz. 30 -). Das gilt insbesondere auch für ihre weitere Behauptung, der Rückruf für den 3,0-l-V6-TDI-Dieselmotor laufe bereits seit November 2018 (Klageschrift S. 9 Bl. 11). Denn dem sind die Beklagten - seitens der Klägerin unwidersprochen - damit entgegengetreten, dass dieser Rückruf ausschließlich neuere Modelle mit Motor EA897 nach Schadstoffnorm EU6 betreffe, während das streitgegenständliche Fahrzeug noch nach EU5 zugelassen sei (Klagerwiderung Bekl. 2 S. 6-10, Bl. 54-58 d.A.; Klagerwiderung Bekl. 1 S. 2 unter Bezugnahme auf Vorbringen der Zweitbeklagten, Bl. 80). Im Senatstermin ist auch angesprochen worden, dass das vorgenannte Klägervorbringen zum Rückruf seit November 2018 aus Fällen bekannt ist, welche den vom KBA wegen einer ähnlichen unzulässigen Abschalteinrichtung wie im EA189 beanstandeten 3,0-l-V6-Dieselmotor des Typs EA897 nach Schadstoffnorm EU6 betreffen (nicht protokolliert, vgl. auch dazu OLG Frankfurt/M 31.07.2020 -10 U 163/19, in Juris Rz. 57, 59 -; OLG Oldenburg 26.10.2020 - 11 U 58/20, in Juris Rz. 46 -; OLG Köln 20.04.2021 - 14 U 84/19, in Juris Rz. 23 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Die Klägerin trägt auch nicht vor, dass bereits andere Fahrzeugmodelle des VW-Konzerns mit dem 3,0-l-V6-Dieselmotor EA896Gen2 einer verpflichtenden Rückrufanordnung des KBA wie derjenigen vom 15.10.2015 für Pkw mit dem Motor EA189 unterfallen seien und ggf. welche Modelle (ebenso OLG Oldenburg a.a.O. - in Juris Rz. 48-53 -; OLG Brandenburg a.a.O. - in Juris Rz. 31-35 -). Von da her bleiben auch die Darlegungen der Klägerin zur Notwendigkeit eines Software-Updates für den streitgegenständlichen Pkw wie bei Fahrzeugen mit Motor EA189 haltlos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>(3) So ist denn auch im vorliegenden Rechtsstreit zwischen den Parteien unstreitig geworden, dass es eine solche verpflichtende Rückrufanordnung für Fahrzeuge mit 3,0-l-V6-Dieselmotor der Baureihe EA896Gen2 bisher nicht gegeben hat und auch aktuell nicht gibt; ferner, dass die Klägerin auch keinen Rückruf für ihr konkretes Fahrzeug erhalten hat mit der Aufforderung, ein Software-Update aufspielen zu lassen oder andere Veränderungen des Abgassystems vornehmen zu lassen. Es ist auch unstreitig, dass für Motoren des Typs EA896Gen2 und damit auch für den im Pkw des Klägers eingebauten kein Software-Update existiert. Die Beklagte zu 2 räumt zwar ein, dass das KBA ein Anhörungsverfahren durchgeführt habe, trägt aber auch - wiederum unwidersprochen - vor, dass dies nicht zum Erlass einer Rückrufanordnung geführt habe. Insoweit verweist die Beklagte zu 2 zutreffend auf die vom KBA dem Oberlandesgericht Stuttgart erteilte Auskunft vom 11.09.2020 (Schriftsatz Bekl. 2 vom 22.03.2021 S. 2f, 13f, Bl. 234f, 245f; vgl. OLG Brandenburg a.a.O. - in Juris Rz. 35 -), zu welcher sich die Klägerin auch in der Berufungsbegründung nicht verhält.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>Das Landgericht stellt in diesem Zusammenhang auch zu Recht darauf ab, dass die genannten Gesichtspunkte umso deutlicher gegen das Vorhandensein einer unzulässigen Abschaltvorrichtung der Art wie in EA189-Motoren sprechen, als nach dem Bekanntwerden der Manipulationen an der Steuerung des Motortyps EA189 bereits über sechs Jahre verstrichen sind, ohne dass auch bei dem im streitgegenständlichen Fahrzeug verwendeten Motortyp EA896Gen2 nach Schadstoffnorm EU5 unzulässige Abschalteinrichtungen festgestellt worden wären (Urteil S. 9 Bl. 324 d.A.). Dieses Argument wiegt umso schwerer angesichts der umfassenden Berichterstattung von Presse und Medien und der andauernden Untersuchungen der zuständigen Behörden seit September 2015, wobei von letzteren eine - ausweislich der Auskunft des KBA vom 11.09.2020 und wiederum unstreitig - ab November 2019 gerade den Motortyp EA896Gen2 betraf, aber, wie ausgeführt, ebenfalls keine Beanstandung zur Folge hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>(4) Insofern gehen auch die Hinweise der Klägerin auf den Sachmangelbegriff und die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes (seit BGH 08.01.2019 - VIII ZR 225/17, in Juris Rz. 4-23 -) oder die obergerichtliche Rechtsprechung zu Fällen des Motorentyps EA189 ins Leere, so etwa die umfangreichen Ausführungen in der erstinstanzlichen Replik vom 16.09.2019 (Bl. 115-129 d.A.). Denn auch dort werden umfangreich und unter breiter Wiedergabe vermeintlich einschlägiger Entscheidungen Textbausteine durchweg zum Motortyp EA189 vorgetragen. Bei dem Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 08.01.2019 handelt es sich um eine Entscheidung zur kaufvertraglichen Sachmängelhaftung. Entgegen der offenbaren Ansicht des Klägervertreters genügt jedoch die Qualifikation einer unzulässigen Abschalteinrichtung als eines Sachmangels ohnehin nicht für die Annahme einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung i.S.d. § 826 Abs. 1 BGB (OLG Frankfurt 31.07.2020 -10 U 163/19, in Juris Rz. 47 -). Abgesehen davon nennt die Klägerin, wie ausgeführt, für die Anwendbarkeit des BGH-Beschlusses auf den Motortyp EA896Gen2 wiederum keine konkreten Anhaltspunkte, sondern beschränkt sich auch hier auf wiederholte Einschübe des pauschalen Satzes, hier seien gleichartige Abschalteinrichtungen verbaut (Replik I.I. S. 1 unten, 2 Mitte, 11 Abs. 2, Bl. 115, 116, 125 d.A.). Auch das Vorbringen im Klägerschriftsatz vom 09.12.2020 (Bl. 169-175 d.A.) betrifft vollen Umfangs den EA189-Komplex und enthält nicht einmal derartige Einschübe über die Geltung für den Motor EA896Gen2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p>(5) Soweit der Klägervertreter im Schriftsatz vom 04.01.2021 schließlich meint, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 17.12.2020 - C-693/18 - komme es auf den Motortyp überhaupt nicht mehr an (S. 1f Bl. 179f d.A.), übersieht er, dass gerade diese Entscheidung wiederum zum EA189-Komplex ergangen ist und auch in diesem Rahmen über die Sittenwidrigkeit der Installation der dortigen Schaltung i.S. des (dem nationalen deutschen Recht angehörenden) § 826 BGB nichts sagt (ebenso OLG Frankfurt/M a.a.O. - in Juris Rz. 50f -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p>c) Soweit die Klägerin schon in der Klageschrift unter Verwendung eines Arguments zum Motor EA189 behauptet hat, auch das Software-Update sei mangelhaft, weil es zu einer verstärkten Belastung der Bauteile und damit zu einer reduzierten „Standfestigkeit“ (gemeint wohl: Lebensdauer) des AGR-Ventils, des Partikelfilters und zu erhöhtem Kraftstoffverbrauch des Fahrzeugs führe (Klageschrift S. 4f Bl. 6f d.A.), geht dies ins Leere angesichts dessen, dass die Beklagte zu 2 unstreitig mangels verpflichtenden Rückrufs noch gar keinen Anlass hatte, ein Software-Update für das Fahrzeug zu entwickeln und anzubieten. Auch bei diesem Vortrag handelt es sich ersichtlich um einen Textbaustein aus EA189-Fällen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_60">60</a></dt> <dd><p>Abgesehen davon werden mit diesem Vorbringen technische Nachteile des Updates in Form nach wie vor die Grenzwerte überschreitenden Emissionen im Realbetrieb sowie andere Spät- oder Dauerfolgen des Updates wie verringerte Haltbarkeit von Teilen behauptet, worüber die Beklagte nicht aufgeklärt habe. Insoweit ist auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 09.03.2021 zu verweisen, nach welcher auf solche Mängel der Vorwurf der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung nicht gestützt werden kann (BGH 09.03.2021 - VI ZR 889/20, in Juris Rz. 30 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_61">61</a></dt> <dd><p>d) Soweit die Klägerin daneben seit ihrem Schriftsatz vom 04.01.2021 zusätzlich auf das Vorhandensein eines sog. „Thermofensters“ in der Motorsteuerung des streitgegenständlichen Fahrzeugs abstellen möchte, greift auch dies nicht. Dies gilt für die Behauptung einer solchen Einrichtung im Software-Update schon deshalb, weil es unstreitig ein solches Update für das streitgegenständliche Fahrzeug nicht gibt. Aber auch soweit damit eine ursprünglich vorhandene, von der Beklagten arglistig verschwiegene unzulässige Abschalteinrichtung behauptet wird, hat der Bundesgerichtshof dies nicht ausreichen lassen (BGH 16.09.2021 - VII ZR 190/20, in Juris Rz. 19-26 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_62">62</a></dt> <dd><p>aa) Anhaltspunkte für eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigungshandlung durch die Beklagte <span style="text-decoration:underline">zu 1</span>, welche die Beklagte zu 2 sich zurechnen lassen müsste, trägt die insoweit darlegungspflichtige Klägerin ohnehin nicht vor, wie das Landgericht zutreffend erkannt hat (Urteil S. 11 Bl. 326 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_63">63</a></dt> <dd><p>bb) Was den von der Klägerin ersichtlich vor allem gegen die Beklagte zu 2 geltend gemachten Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung durch Installation des „Thermofensters“ angeht, ist inzwischen geklärt, dass darin jedenfalls vor 2016 keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigungshandlung i.S.v. § 826 BGB zu sehen ist (so explizit OLG Schleswig 14.04.2022 - 7 U 190/21, in Juris Rz. 27 - unter Hinweis auf BGH 29.09.2021 - VII ZR 126/21 und 223/20 -; 13.10.2021 - VII ZR 50/21 -). Die Klägerin hat ihren Pkw bereits 2013 erworben; die Erstzulassung auf sie erfolgte unwidersprochen am 08.01.2014 (Klageschrift S. 3 Bl. 5 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_64">64</a></dt> <dd><p>(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kommt die Entwicklung und Installation des „Thermofensters“ als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nur in Betracht, wenn bei zugunsten der Klägerseite unterstelltem objektivem Verstoß der Anwendung eines „Thermofensters“ gegen Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und / oder Applikation der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein gehandelt hätten, eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hätten. Dies hat die Klägerseite darzulegen (BGH 19.01.2021 - VI ZR 433/19, in Juris Rz. 16-19 -); die bloße Behauptung negativer Folgen des Updates für Verbrauch und Verschleiß genügt nicht (BGH 09.03.2021 - VI ZR 889/20, in Juris Rz. 23-30 -; ebenso BGH 20.07.2021 - VI ZR 1154/20, in Juris Rz. 12f -; BGH 16.09.2021 - <span style="text-decoration:underline">VII</span> ZR 190/20, in Juris Rz. 30ff -; BGH 23.09.2021 - <span style="text-decoration:underline">III</span> ZR 200/20, in Juris Rz. 21ff -). Der VI. Senat des Bundesgerichtshofes hat am 20.07.2021 eine Berufungsentscheidung des OLG Naumburg gebilligt, wonach die Beklagte allenfalls fahrlässig die Rechtslage in Bezug auf die Zulässigkeit von Thermofenstern verkannt habe (BGH 20.07.2021 - VI ZR 1154/20, in Juris Rz. 14 -). Schließlich hat der III. Senat mit Beschluss vom 25.11.2021 festgestellt, dass selbst dann, wenn eine Täuschung des KBA über die Installation eines „Thermofensters“ überhaupt und über die Parameter für dessen Beeinflussung auf die Abgasrückführung behauptet wird, jedenfalls eine unklare Rechtslage hinsichtlich der Zulässigkeit von „Thermofenstern“ bestand, die dem Vorwurf der Sittenwidrigkeit entgegensteht. Der Senat hat dabei zur Begründung ausdrücklich auf den Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des BMVI vom April 2016 verwiesen, wonach „Thermofenster“ bei allen Herstellern üblich und zulässig seien (BGH 25.11.2021 - III ZR 202/21, in Juris Rz. 14f -) und damit die gleichlautende, einhellige obergerichtliche Rechtsprechung bestätigt. Der VII. Senat des Bundesgerichtshofes hat schließlich kürzlich darauf abgestellt, dass auch nach dem Klägervorbringen die Abgasreinigung bei Installation des „Thermofensters“ auf dem Prüfstand und im Realbetrieb in gleicher Weise funktioniere und auch nicht dargelegt sei, dass die Temperatur-oder Höhenbereiche exakt auf die Bedingungen des Prüfstands zugeschnitten seien (BGH 21.04.2022 - VII ZR 70/21, in Juris Rz. 16-20 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_65">65</a></dt> <dd><p>Damit bestätigt der Bundesgerichtshof die einhellige obergerichtliche Rechtsprechung, nach der ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes bei Fehlen anderer konkreter Anhaltspunkte nicht als verwerflich angesehen werden kann; dann aber fehlt es an einem sittenwidrigen Verhalten unabhängig davon, ob ein „Thermofenster“ generell oder jedenfalls das im konkreten Fahrzeug geschaltete objektiv unzulässig ist (OLG Köln 04.07.2019 - 3 U 148/18, in Juris Rz. 6 -; OLG Köln 02.04.2020 - 8 U 3/19, BeckRS 2020, 8398 Rz. 11f; OLG Stuttgart 30.07.2019 - 10 U 134/19, in Juris Rz. 81-100 -; i. Anschl. daran OLG Bamberg 31.03.2020 - 3 U 57/19, BeckRS 2020, 9901 Rz. 18f -; OLG Düsseldorf 12.03.2020 - 5 U 110/19, BeckRS 2020, 9904 Rz. 30ff -; OLG Koblenz 21.10.2019 - 12 U 246/19, in Juris Rz. 38-49 -; OLG München 20.01.2020 - 21 U 5072/19, in Juris Rz. 30-34 -; 10.02.2020 - 3 U 7524/19, in Juris Rz. 12-15 -; OLG Oldenburg 01.04.2020 - 5 U 107/19, BeckRS 2020, 9827 Rz. 27-29 -; OLG Saarbrücken 05.01.2022 - 2 U 86/21, in Juris Rz. 21-26 -; OLG Schleswig 18.09.2019 - 12 U 123/18, in Juris Rz. 40-49 -; 14.04.2022 - 7 U 190/21, in Juris Rz. 27 -; ähnlich OLG Celle 18.12.2019 - 7 U 511/18, in Juris Rz. 24-34 -). Die Auslegung, das sog. „Thermofenster“ sei eine zulässige Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) EGVO 715/2007, war 2015/16 nach alledem jedenfalls nicht unvertretbar (OLG Stuttgart a.a.O. - in Juris Rz. 89-91 -; ebenso die schon zitierten Entscheidungen zu Parallelfällen des Motors EA896Gen2: OLG Frankfurt 31.07.2020 - 10 U 163/19, in Juris Rz. 38-51 -; OLG Oldenburg 26.10.2020 - 11 U 58/20, in Juris Rz. 57-69 -; OLG Köln 20.04.2021 - 14 U 84/19, in Juris Rz. 24 -; OLG Brandenburg 07.06.2021 - 1 U 104/19, in Juris Rz. 38 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_66">66</a></dt> <dd><p>(2) Danach beruft sich die Beklagte zu 2 jedenfalls zutreffend - und im Übrigen auch unwidersprochen - unter Anführung des Berichts der Untersuchungskommission „Volkswagen“ beim Bundesverkehrsministerium vom April 2016 auf die Üblichkeit und Zulässigkeit von „Thermofenstern“ bei Dieselmotoren mit Abgasrückführungstechnik. Denn ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann bei Fehlen anderer konkreter Anhaltspunkte nicht als verwerflich angesehen werden; dann aber fehlt es an einem sittenwidrigen Verhalten unabhängig davon, ob das „Thermofenster“ generell oder jedenfalls das im konkreten Fahrzeug geschaltete objektiv unzulässig ist (BGH und obergerichtl. Rspr. a.a.O.). Mithin kann auch ein Schädigungsvorsatz i.S.d. § 826 BGB nicht festgestellt werden (BGH 20.07.2021 - VI ZR 1154/20, in Juris Rz. 14f -; OLG Stuttgart a.a.O. - in Juris Rz. 92-94 -; OLG München 20.01.2020 - 21 U 5072/19, in Juris Rz. 34 -; OLG München 10.02.2020 - 3 U 7524/19, in Juris Rz. 13 -; OLG Oldenburg a.a.O. Rz. 29; OLG Saarbrücken 05.01.2022 - 2 U 86/21, in Juris Rz. 21-26 -; OLG Schleswig 14.04.2022 - 7 U 190/21, in Juris Rz. 27 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_67">67</a></dt> <dd><p>Insoweit kommt es nicht einmal darauf an, ob die Beklagte zu 2 die Grenzwerte des „Thermofensters“ dem KBA detailliert offengelegt hat oder nicht. Denn auch wenn dies nicht der Fall war, könnte dieser Umstand noch nicht zur Feststellung einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigungshandlung führen. Denn dann wäre das KBA seinerseits nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gem. § 24 Abs. 1 VwVfG gehalten gewesen, diese zu erfragen, um die Zulässigkeit der verwendeten Abschalteinrichtungen überprüfen zu können (BGH 15.09.2021 - VII ZR 3/21 und 101/21, in Juris Rz. 17 bzw. 20 -; 16.09.2021 - BGH VII ZR 190/20, in Juris Rz. 26 -; 29.09.2021 - VII ZR 45/21, in Juris Rz. 17 -; 13.10.2021 - VII ZR 50/21, in Juris Rz. 16 -; OLG München 01.03.2021 - 8 U 4122/20 -; OLG Schleswig 30.11.2021 - 7 U 36/21, in Juris Rz. 57; 14.04.2022 - 7 U 190/21, in Juris Rz. 31 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_68">68</a></dt> <dd><p>(3) Abgesehen davon hat die Beklagte zu 2 dazu bereits im Schriftsatz vom 22.03.2021 unwidersprochen vorgetragen, bereits im Untersuchungsbericht der Kommission „Volkswagen“ habe das KBA konstatiert, der Verdacht gegen Modelle wie den Pkw Audi A6 mit 3,0-l-Motor habe sich nicht bestätigt (S. 24-26, Bl. 256-258 d.A.). Später habe sie dem KBA im Rahmen des „Nationalen Forums Diesel“ ab 2017 die Daten des „Thermofensters“ für die mit dem genannten Motor ausgestatteten Fahrzeuge übermittelt und freiwillig ein Software-Update entwickelt. Da die Freigabe dieses Updates voraussetze, dass in der ursprünglichen Schaltung keine unzulässige Abschalteinrichtung eingebaut sei, habe das KBA die Daten geprüft und daraufhin das freiwillige Update freigegeben. Auch in dem schon erwähnten Anhörungsverfahren ab November 2019 sei die Bedatung des „Thermofensters“ überprüft, aber nicht beanstandet worden, was das KBA in der Auskunft an das OLG Stuttgart vom 11.09.2020 auch erklärt habe, und zwar für alle Fahrzeuge des Volkswagen-Konzerns mit dem 3,0-l-V6-TDI-Motoren der Generation 2 nach Schadstoffnorm EU5 (Beklagtenschriftsatz v. 22.03.2021 S. 5-16, Bl. 237-248 d.A.). Die Klägerin hat all dies nicht bestritten, sondern es lediglich für unmaßgeblich gehalten, da nur die Herstellerangaben geprüft worden seien und diese erst ab 2016 im Typgenehmigungsverfahren offenbart werden müssten (Klägerschriftsatz v. 13.04.2021 S. 2, Bl. 270 d.A.). Dabei liegt letzteres neben der Sache, weil die Beklagte zu 2 im Schriftsatz vom 22.03.2021 gerade ausdrücklich vorgetragen hat, ab 2017 dem KBA tatsächlich die genaue Bedatung des ursprünglich vorhandenen „Thermofensters“ zur Überprüfung mitgeteilt zu haben. Im Übrigen behauptet die Klägerin selbst nicht, dass die Beklagte zu 2 dem KBA unzutreffende Angaben etwa über die Reichweite des „Thermofensters“ gemacht habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_69">69</a></dt> <dd><p>(4) Soweit der Klägervertreter demgegenüber darauf abstellen will, dass bereits die Existenz des „Thermofensters“ als solche nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 17.12.2020 - C-693/18 - generell unzulässig sei oder jedenfalls insoweit, als die Reduzierung der Abgasrückführung nicht erforderlich sei (Schriftsatz v. 13.04.2021 S. 2-13, Bl. 270-281 d.A.), ist schon weder dargelegt noch sonst ersichtlich, wie die Beklagte zu 2 dieses nach dem Aktenzeichen im Jahre 2018 eingeleitete Verfahren bei Entwicklung und Einbau des Software-Updates in den streitgegenständlichen Pkw vor dem Kauf der Klägerin vom 15.10.2013 hätte kennen können. Gleiches gilt für die Urteile des Europäischen Gerichtshofes vom 14.07.2022 in im Jahre 2020 eingeleiteten Vorlageverfahren wegen der Auslegung von Artt. 3 Nr. 10, 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 zu „Thermofenstern“ als Abschalteinrichtungen und deren Unzulässigkeit (EuGH 14.07.2022 - C-128/20, Leitsätze 1 u. 2 mit Rz. 30-70; C-134/20, Leitsätze 1 u. 2 mit Rz. 37-54, 62-82; C-145/20, Leitsatz 2 mit Rz. 59-81, alle zit. n. Juris -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_70">70</a></dt> <dd><p>Unabhängig davon hat der Europäische Gerichtshof in der C-693/18 mit Urteil vom 17.12.2020 auf die Anfrage eines französischen Gerichts nur die bekannte, in VW-EA189-Motoren ursprünglich vorhandene Umschaltfunktion mit Prüfstandserkennung für unzulässig erklärt. Dagegen hat er sich nicht mit einer Außentemperaturerkennung und einer Steuerung der Abgasrückführung in Abhängigkeit davon befasst, wie sich aus Tenor und Begründung der Entscheidung ergibt (EuGH NJW 2021, 1206ff, insbes. 1206f und 1220f, zuletzt in Rz. 115). Dass demgegenüber die Ausstattung der Motorsteuerung mit einer Umschaltung auf eine korrekte Abgasnachbehandlung nur auf dem Prüfstand gegen Art. 5 Abs. 2 S. 2 EGVO 715/2007 verstößt, wie der EuGH ausführt, haben auch alle deutschen Gerichte von Anfang an erkannt und ist auch seit BGH 08.01.2019 - VIII ZR 225/17 - vom Bundesgerichtshof bestätigt. Ein solcher Fall wird hier mit dem „Thermofenster“ aber gerade nicht behauptet; es weist gerade keine Prüfstandserkennung auf, sondern reduziert die Abgasrückführung auch im gewöhnlichen Fahrbetrieb bei entsprechenden Temperaturen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_71">71</a></dt> <dd><p>Nach der oben ausgeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, welcher der Senat folgt, kann der Vorwurf des sittenwidrigen Handelns i.S.d. § 826 BGB wegen der Installation des sog. „Thermofensters“ nur bei Hinzutreten weiterer, über die bloße objektive Verbotswidrigkeit hinausgehender Umstände erhoben werden (BGH 19.01.2021 - VI ZR 433/19, in Juris Rz. 16-19 -; 09.03.2021 - VI ZR 889/20, in Juris Rz. 23-30 -; 20.07.2021 - VI ZR 1154/20, in Juris Rz. 12-14 -; 16.09.2021 - VII ZR 190/20, in Juris Rz. 30ff -; BGH 23.09.2021 - III ZR 200/20, in Juris Rz. 21ff -; 25.11.2021 - III ZR 202/21, in Juris Rz. 14f -; vgl. auch die einen Parallelfall des Motortyps EA896Gen2 betreffende Entscheidung OLG Frankfurt 31.07.2020 - 10 U 163/19, in Juris Rz. 50f -). Daran ändern auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes vom 14.07.2022 nichts, nach welchen „Thermofenster“ mit der von den Herstellern gegebenen Begründung unzulässige Abschalteinrichtungen i.S.d. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 darstellen (EuGH 14.07.2022 - C-128/20, Leitsätze 1 u. 2 mit Rz. 30-70; C-134/20, Leitsätze 1 u. 2 mit Rz. 37-54, 62-82; C-145/20, Leitsatz 2 mit Rz. 59-81, alle zit. n. Juris -). Denn wie ausgeführt, genügt der objektive Gesetzesverstoß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht zur Begründung des Sittenwidrigkeitsvorwurfes gem. § 826 BGB. Diese Vorschrift gehört im Übrigen dem nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland an; ihre Auslegung fällt nicht in die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_72">72</a></dt> <dd><p>e) Das Landgericht hat auch zu Recht festgestellt, dass ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. den Zulassungsvorschriften Artt. 12, 18 EGRL 2007/46, Artt. 3 Nr. 10, 5 Abs. 2 EGVO 715/2007, §§ 4, 6, 25, 27 EG-FGV der Klägerin auch dann nicht zusteht, wenn man von einem Verstoß der Beklagten gegen diese Vorschriften auszugehen hätte. Dies tut die Rechtsprechung von Beginn an einhellig im Hinblick auf den Einbau der Umschaltvorrichtung mit Prüfstandserkennung in EA189-Motoren (vgl. nur BGH 08.01.2019 - VIII ZR 225/17, in Juris Rz. 4-23 -). Soweit der Klägervertreter von einem Verstoß gegen die genannten Zulassungsvorschriften auch im Hinblick auf eine vergleichbare Einrichtung im 3,0-l-V6-Dieselmotor des Typs EA896Gen2 sowie das sog. „Thermofenster“ in der Software ausgeht, fehlt es am Verstoß gegen ein den Schutz eines anderen bezweckenden Gesetzes i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB. Denn entgegen der Auffassung der Klägerin stellen die Zulassungsvorschriften keine Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB dar (BGH 25.05.2020 - VI ZR 252/19, in Juris Rz. 72-77 -; st. Rspr. auch des Senats seit Urteil vom 19.02.2019 - 7 U 134/17, in Juris Rz. 137-159 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_73">73</a></dt> <dd><p>Auch hieran ändern die oben zitierten, erst am 14.07.2022 ergangenen Urteile des Europäischen Gerichtshofes, nach welchen „Thermofenster“ mit der von den Herstellern gegebenen Begründung unzulässige Abschalteinrichtungen i.S.d. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 darstellen (EuGH 14.07.2022 - C-128/20, Leitsätze 1 u. 2 mit Rz. 30-70; C-134/20, Leitsätze 1 u. 2 mit Rz. 37-54, 62-82; C-145/20, Leitsatz 2 mit Rz. 59-81, alle zit. n. Juris -), schon aus Gründen der Chronologie nichts am Ergebnis; die Beklagte zu 2 konnte diese Entscheidungen in den Jahren bis zum Kauf der Klägerin am 15.10.2013 nicht kennen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_74">74</a></dt> <dd><p>Soweit der Generalanwalt beim EuGH in seiner Stellungnahme vom 02.06.2022 zu EuGH C-100/21 die Auffassung vertreten hat, die europarechtlichen Zulassungsvorschriften schützten mangels anderer einschlägiger Rechtsinstitute auch den Käufer vor dem Erwerb von den Zulassungsvorschriften nicht entsprechenden Fahrzeugen, ist dem nicht beizutreten. Die Sache ist deshalb auch nicht dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen oder auszusetzen. Insoweit schließt sich der Senat der Auffassung der Oberlandesgerichte Frankfurt/M und München an (OLG Frankfurt/M 01.08.2022 - 11 U 144/20, in Juris Rz. 3-14 -; OLG München 01.07.2022 - 8 U 1671/22, in Juris Rz. 26-37 -). Damit verbleibt es im Ergebnis dabei, dass der Senat der vorliegenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes folgt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_75">75</a></dt> <dd><p>Im Übrigen kann angesichts der oben ausgeführten unsicheren Rechtslage für die Hersteller zur Zeit der Entwicklung und Installation des „Thermofensters“ im streitgegenständlichen Fahrzeug sowie zum Zeitpunkt von dessen Kauf durch die Klägerin auch nicht von Fahrlässigkeit der Beklagten zu 2 ausgegangen werden. Denn Fahrlässigkeit setzt die Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit des Handelns voraus; ein Rechtsirrtum des Handelnden schließt Fahrlässigkeit nur bei Unvermeidbarkeit aus. Ein Rechtsirrtum ist jedoch auch bei Anlegung des erforderlichen strengen Maßstabes dann ausnahmsweise unvermeidbar, wenn der Schuldner nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage mit einem Unterliegen im Rechtsstreit nicht zu rechnen brauchte. Dafür genügt es, dass die zuständige Aufsichtsbehörde die Rechtsfrage zugunsten des Handelnden beantwortet hätte (BGH 27.06.2017 - VI ZR 424/16, in Juris Rz. 16f -; 27.09.1989 - IVa ZR 156/88, in Juris Rz. 8 -; 17.12.1969 - VIII ZR 10/68, in Juris Rz. 9 -; i. Anschl. daran OLG Hamm 24.06.2022 - 30 U 90/21, in Juris Rz. 82-97 -). Im vorliegenden Falle wäre jedoch angesichts der oben ausgeführten Üblichkeit solcher Schaltungen in Motorsteuerungen von Dieselfahrzeugen jedenfalls bis 2016 und der Nichtbeanstandung von „Thermofenstern“ durch das KBA als zuständige Aufsichtsbehörde sogar bis heute eine Auskunft des KBA an die Beklagte zu 2 zur Zeit der Entwicklung und Installation des „Thermofensters“ im streitgegenständlichen Fahrzeug sowie zum Zeitpunkt von dessen Kauf durch die Klägerin am 15.10.2013 jedenfalls im Sinne der Zulässigkeit ergangen. Mithin kann der Beklagten zu 2 ein Verschulden i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB auch nicht in Form der Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden. Insoweit tritt der Senat den entsprechenden Ausführungen der Oberlandesgerichte Frankfurt/M und Hamm zu Parallelfällen bei (OLG Frankfurt/M OLG 01.08.2022 11 U 144/20, in Juris Rz. 10-14 -; Hamm 24.06.2022 - 30 U 90/21, in Juris Rz. 82-103, bes. 86 -).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_76">76</a></dt> <dd><p>f) Auch ein Schadensersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. 263 Abs. 1 StGB steht der Klägerin gegen die Beklagte zu 2 nicht zu. Insofern liegt zwar kein Fall wie derjenige vor, welchen der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 30.07.2020 entschieden hat; es liegt kein Gebrauchtfahrzeugkauf vor, für welchen die Absicht der Verantwortlichen der Beklagten zu 2 zur eigenen oder fremdnützigen stoffgleichen Bereicherung unter allen Gesichtspunkten verneint werden könnte (BGH 30.07.2020 - VI ZR 5/20, in Juris Rz. 17-26 -). Jedoch hat das Landgericht zu Recht darauf abgestellt, dass es für den hiesigen Fall eines mit dem Motor des Typs EA896Gen2 ausgestatteten Fahrzeugs wie zu § 826 BGB (s.o. a]-d]), so auch zu §§ 823 Abs. 2 BGB, 263 Abs. 1 StGB schon am schlüssigen Vortrag einer Täuschungshandlung der Verantwortlichen der Beklagten zu 2 fehlt (Urteil S. 11 Bl. 326 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_77">77</a></dt> <dd><p>4. Mangels Hauptforderung sind auch die Berufungsanträge zu 2 und 3 auf Feststellung des Annahmeverzuges und Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_78">78</a></dt> <dd><p>5. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 709 ZPO. Ein Anlass zur Zulassung der Revision i.S.d. § 543 Abs. 2 ZPO war nicht erkennbar; der Senat folgt durchweg den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes. Der Berufungsstreitwert war gem. § 63 Abs. 2 GKG nach dem mit der Berufung weiterverfolgten Klagantrag zu 1 (Urteil S. 4, Berufungsbegründung S. 1, Bl. 319, 378 d.A.) festzusetzen auf die Gebührenstufe bis 80.000.- €. Ein Abzug für den Nutzungsvorteil war nicht zu berücksichtigen; denn die Klägerin hat diesen im Antrag zu 1 nicht beziffert oder berechenbar eingegrenzt, der Berechnungszeitpunkt soll vielmehr der der tatsächlichen Fahrzeugrückgabe sein, er liegt mithin in ungewisser Zukunft. Die Anträge zu 2 und 3 sind streitwertirrelevant.</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE271762022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,932
lsgsh-2022-10-11-l-6-as-8722-b-er
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L 6 AS 87/22 B ER
"2022-10-11T00:00:00"
"2022-10-15T10:00:24"
"2022-10-17T11:11:06"
Beschluss
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 2. August 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller begehrt u.a. zum Inflationsausgleich ab Juli 2022 einen deutlich höheren Regelbedarf als vorläufige Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der 1970 geborene Antragsteller lebt allein zur Untermiete in einer Wohnung in K. Er ist nicht erwerbstätig, bezieht kein Einkommen und verfügt über kein relevantes Vermögen. Die Antragsgegnerin bewilligte ihm für den Monat Juli 2020 Regelleistungen in Höhe von 449 € nebst Leistungen für die Kosten der Unterkunft (nicht bestandskräftiger Änderungsbescheid vom 14. Juli 2022 für die Zeit vom 1. Oktober 2021 bis 31. Juli 2022). Für den Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2023 bewilligte der Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung wiederum eines Regelbedarfs in Höhe von 449 € (Bescheid vom 14. Juli 2022). Mit Änderungsbescheid vom 23. August 2022 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller weitere Leistungen wegen der Erhöhung des monatlichen Heizkostenabschlages rückwirkend ab August 2022. Sowohl gegen den Ursprungsbescheid vom 14. Juli 2022 als auch gegen den Änderungsbescheid 23. August 2022 erhob der Antragsteller Widerspruch, worüber noch nicht entschieden ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Am 3. Juli 2022 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Kiel einen Eilantrag auf Verpflichtung zur Gewährung vorläufig höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gestellt. Die beanspruchte höhere Regelleistung begründet er mit einer grundsätzlichen Unterdeckung seiner SGB-II - Leistungen insbesondere gemessen an der tatsächlichen Inflationsrate. Die Erhöhung zum 1. Januar 2022 sei evident unzureichend gewesen. Dies gelte für alle Warengruppenanteile, für die die Leistungen teilweise (etwa Gesundheitspflege) sogar gekürzt worden seien. Gemessen an der realen Preissteigerung, die vom statistischen Bundesamt mit 122,7 % im April 2022 in Bezug auf das Jahr 2015 ermittelt worden sei, liege etwa in der Abteilung „Nahrung, alkoholfreie Getränke“ eine statistische Unterdeckung in Höhe von 17,88 € monatlich vor. Entsprechende Lücken bestünden in den übrigen Abteilungen. Unter Bezugnahme auf den Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke vom 26. April 2022 (BT-Drucks 20/1502) hat der anwaltlich vertretene Antragsteller beantragt, ihm vorläufig Leistungen zur Sicherung des Regelbedarfs in Höhe von 687 € monatlich, also 238 € monatlich zusätzlich, zu gewähren. Die Berechnungsmethode für die existenzsichernden Leistungen müsse grundsätzlich verändert werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Am 27. Juli 2022 erhielt der Antragsteller gemäß § 73 SGB II einen Einmalbetrag in Höhe von 200 € vom Antragsgegner.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Das SG Kiel hat den Eilantrag mit Beschluss vom 2. August 2022 abgelehnt. Ein Anordnungsgrund könne nur für die Monate Juli bis Dezember 2022 in Betracht kommen, da ein Eilverfahren zur Behebung einer aktuellen, also gegenwärtig noch bestehenden Notlage erforderlich sein müsse und zudem die Regelbedarfe regelmäßig zum 1. Januar eines Jahres angepasst würden. In diesem zulässigen zeitlichen Rahmen bestünde kein Anordnungsanspruch. Die Leistungen seien nach der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von monatlich 449 € zutreffend entsprechend den gesetzlichen Regelungen bewilligt worden. Im Prüfungsumfang eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Anpassungsmechanismen. Schreibe man entsprechend der Betrachtungsweise des Antragsstellers den Regelbedarf aus dem Jahr 2015 für die einzelnen Abteilungen in das Jahr 2022 anhand der - allerdings korrekterweise auf die einzelnen Abteilungen bezogenen - Inflationsraten fort, ergäbe dies zwar einen Mehrbedarf von 40,10 €. Diese Berechnung sei jedoch nicht zutreffend. Der Gesetzgeber habe mit dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe (Regelbedarfsermittlungsgesetz-RBEG) vom 9. Dezember 2020 eine neue Erhebung der Regelbedarfe auf der Grundlage einer Sonderauswertung der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe 2018 vorgenommen und die Leistungen anhand des aktuellen Ausgabeverhaltens der einkommensschwachen Haushalte bestimmt. Dies zugrunde gelegt sei aufgrund der Entwicklung der Verbraucherpreise ein rechnerischer Mehrbedarf aufgrund der Inflationsrate mit 34,42 € monatlich zu errechnen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Berechnungen wird auf den Beschluss verwiesen. Dem gegenüber lägen Einsparungen durch das 9 € Ticket für die Abteilung 7 (Verkehr) für die Monate Juni, Juli und August 2022, wodurch in diesen Monaten vom Regelbedarfsanteil in Höhe von 40,27 € insgesamt 31,27 € dem Antragsteller zur Verfügung gestanden hätten, um andere Bedarfe zu decken. Eine denkbare Bedarfslücke von September bis Dezember 2022, die mit 137,68 € (4 × 34,42 €) zu errechnen sei, werde durch die Einmalzahlung von 200 € im Juli 2022 ausreichend gedeckt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller hat am 1. September 2022 Beschwerde gegen den Beschluss des SG Kiel eingelegt, mit der er sein Begehren unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen weiterverfolgt. Ergänzend trägt er unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor, dass die für die Ermittlung von Regelbedarfen verwendete Statistikmethode nur sehr unregelmäßig anfallende Anschaffungen offensichtlich nicht realitätsgerecht erfasse. Dies gelte insbesondere für die sogenannte weiße Ware (z. B. Waschmaschine oder Herd). Es komme hinzu, dass die Erhebungen jeweils veraltet seien, weil die Daten weit vor der Realität des Bedarfs lägen und in der Zwischenzeit maßgebliche Veränderungen eingetreten seien. Der Gesetzgeber habe mit dem Statistikmodell keine Vorkehrungen dagegen getroffen, dass aufgrund von Veränderungen spezifische Risiken der Unterdeckung aufträten. Die vom BVerfG geforderten Ausgleichsmechanismen bei extremen Preissteigerungen seien nicht umgesetzt worden. Hinzu kämen grundsätzliche Fehler wie die Reduzierung der Personengruppe der unteren Einkommensbezieher auf nur noch 15 % und das „willkürliche Herausstreichen“ einzelner Bedarfe in den unterschiedlichen Warengruppen. Damit habe sich das SG Kiel in seinem Beschluss nur unzureichend beschäftigt. Schließlich habe der Antragsgegner die Zahlung nach § 73 SGB II verspätet geleistet. Er könne jedoch nicht rückwirkend am gesellschaftlichen Leben (etwa zur Kieler Woche im Juni 2022) teilnehmen. Ein vorheriges Ansparen für eine solche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Situation und der hohen Inflationsrate nicht möglich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">den Beschluss des SG Kiel vom 2. August 2022 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihm vorläufig ab 3. Juli 2022 bis zu einer vom Gericht zu bestimmenden Zeit, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 687 €, also weitere 238 € monatlich, zu bewilligen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Beschwerde zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Der Antragsgegner hält den Beschluss des SG für zutreffend und sieht sich hinsichtlich der Bemessung der Regelbedarfe an das Gesetz gebunden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>1. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 173 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Sie ist statthaft, weil der Wert des Gegenstands der sinngemäß für 6 Monate zusätzlich begehrten Regelleistungen die Wertgrenze von 750 € übersteigt (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>2. Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>a) Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 687 € nicht glaubhaft gemacht. Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Der vom Antragsgegner berücksichtigte Regelbedarf für einen Alleinstehenden nach der Regelbedarfsstufe 1 von 449 € entspricht den gesetzlichen Vorschriften (§§ 41 Abs. 2, 42 Nr. 1, 28 nebst Anlage, 28a, 27a Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch [SGB XII] i.V.m.§ 8 RBEG vom 9. Dezember 2020, BGBl. I S. 2855, sowie §§ 1 und 2 der aufgrund der Ermächtigung in § 40 SGB XII erlassenen Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung vom 13. Oktober 2021 [RBSFV 2022]) für die Zeit von Juli bis Dezember 2022 entsprechend der Bewilligungsbescheide des Antragsgegners.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>b) Darüber hinaus gehende Leistungen unter Zugrundlegung eines höheren Regelsatzes kann der Senat wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zusprechen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung erfordert - wie jede Regelung im vorläufigen Rechtsschutz - neben dem Anordnungsgrund einen Anordnungsanspruch. Die Anordnung bedarf einer materiell-rechtlichen Grundlage, deren Voraussetzungen glaubhaft zu machen sind. Vorliegend fehlt es an einer solchen materiell-rechtlichen Grundlage im einfachen Recht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Diese ergibt sich auch nicht unmittelbar aus Verfassungsrecht. Zwar haben Fachgerichte einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sie ernstliche Zweifel haben, ob eine Norm des einfachen Rechts, die von der Behörde als Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen genutzt wird, mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG (Stand: 08. September 2022), Rn. 87). Etwas anderes gilt jedoch für die Erweiterung von einfachgesetzlich nicht vorgesehenen Rechten unter Berufung auf ein vermeintliches verfassungswidriges defizitäres Handeln des Gesetzgebers. Den Fachgerichten ist es in diesen Fällen verwehrt, im Eilverfahren selbst unmittelbar aus der Verfassung öffentlich-rechtliche Ansprüche zu schöpfen. Eine sich allein auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und dem daraus folgenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stützende Verurteilung zur vorläufigen Bewilligung von höheren Leistungen würde gegen das in Art. 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des BVerfG für gesetzliche Normen verstoßen. Aufgrund der durch § 20 SGB II iVm § 28 SGB XII und dem Regelbedarfsermittlungsgesetz klar bestimmten Regelbedarfshöhe besteht kein Raum, über eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschriften zu einem höheren Regelsatz zu kommen. Den Gerichten ist es nicht gestattet, den zuständigen Träger allein auf der Grundlage von Verfassungsrecht, hier des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, zur Leistungsgewährung zu verpflichten (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2010 - 1 BvR 2037/10 - <n.v.>; ähnlich zum Unterhaltsrecht: BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. November 2005 – 1 BvR 1178/05, BVerfGK 6, 323-326, Rn. 11; ebenso zur Regelbedarfshöhe nach dem SGB II LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. August 2022 – L 8 SO 56/22 B ER, juris Rn. 12 - 13; siehe auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Februar 2020 - L 7 AY 4273/19 ER-B und vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B – jeweils juris; Burkiczak aaO, Rn. 89). Die Konkretisierung dieses Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG), das als Geldleistungsanspruch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für öffentliche Haushalte verbunden ist, ist ausschließlich dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Dies gilt auch für die Methode der Berechnung dieser Leistung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>c) Der Senat sieht sich auch nicht veranlasst, das vorliegende Eilverfahren auszusetzen und dem BVerfG nach Art. 100 GG vorzulegen, denn er ist nicht davon überzeugt, dass die gegenwärtige Regelbedarfshöhe evident unzureichend am Maßstab von Art. 1 iVm Art. 20 GG (zu diesem Prüfungsmaßstab vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, u.a., juris Rn. 141) ist, um das Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Nach summarischer Prüfung genügt die Höhe des Regelbedarfs insbesondere unter Berücksichtigung der bereits erfolgten und absehbaren Gesetzesänderungen im streitigen absehbaren Zeitraum auch weiterhin den verfassungsrechtlichen Anforderungen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Der Staat hat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins erfüllt werden, wenn einem Menschen die hierfür erforderlichen notwendigen materiellen Mittel weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus seinem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht hinsichtlich der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch ein Gestaltungsspielraum bei der Bemessung des Existenzminimums zu, der einer zurückhaltenden Kontrolle durch das BVerfG entspricht (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 u.a., juris Rn. 133, 134; Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, juris Rn. 118, 119). Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen vorgibt, beschränkt sich die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz durch das BVerfG darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind (BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11, juris Rn. 41). Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (ausdrücklich BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 81).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Zur Überzeugung des Senats entspricht die Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf durch den Gesetzgeber im Rahmen des SGB II grundsätzlich den Anforderungen an eine hinreichend transparente, jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe. Der Gesetzgeber hat die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt. Es ist nicht erkennbar, dass er für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz relevante Bedarfsarten übersehen und die zu ihrer Deckung erforderlichen Leistungen durch gesetzliche Ansprüche nicht gesichert hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 89; Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11, juris Rn. 52).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Seit dem 1. Januar 2021 gelten Regelbedarfe, die aufgrund von Sonderauswertungen der EVS 2018 ermittelt worden sind. Die Regelbedarfsermittlung ist hinsichtlich der Referenzhaushalte und der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben im Einzelnen im Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach dem § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ab dem Jahr 2021 (Regelbedarfsermittlungsgesetz – RBEG – im Folgenden: RBEG 2021) vom 9. Dezember 2020 (BGBl. I 2855) enthalten. Diese Neuberechnung beruht auf methodischen Neubewertungen und einer gesetzlich vorgesehenen veränderten Datengrundlage und stellt keine Fortschreibung der bisherigen Werte dar. Dies verkennt der Antragsteller mit seiner eigenen Nachberechnung zur Höhe der ermittelten Werte. Die konkreten Beträge sind durch die Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a und des Teilbetrags nach § 34 Absatz 3a Satz 1 SGB XII maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlagen zu §§ 28 und 34 SGB XII zum 1. Januar 2022 (Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 - RBSFV 2022) angepasst worden. Dafür sieht der in Bezug genommene § 28 a SGB XII eine methodisch schlüssige statistische Bezugsgröße vor, die sich auf die Veränderungen im Zwölfmonatszeitraum des vorigen im Verhältnis zum vorherigen Zeitraum bezieht. Grundlage dafür sind gesetzlich vorgesehene Berechnungen der Veränderungsrate für die Preise aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen und der durchschnittlichen Nettolöhne und -gehälter je durchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer durch das Statistische Bundesamt (§ 28 a Abs. 3 SGB XII). Danach sind die Regelbedarfsstufen nach § 8 RBEG zum 01. Januar 2022 um 0,76 % erhöht und die Ergebnisse nach § 28 Abs. 5 SGB XII auf volle Euro gerundet worden (vgl. § 1 Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 vom 13. Oktober 2021). Für Alleinstehende ergibt sich daraus der auch heute noch gültige Wert von 449 € monatlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller rügt eine unzureichende Anpassung zu diesem Stichtag und im Laufe des Jahres 2022. Dem ist zuzugeben, dass die Inflationsrate und damit der Kaufkraftverlust für das zur Verfügung stehende Einkommen auch in Form von staatlichen Transferleistungen derzeit erheblich ist. Die Inflationsrate bezogen auf den Verbraucherpreisindex für Deutschland (VPI) im September 2022 beträgt nach vorläufigen Berechnungen des statistischen Bundesamtes 10 % gemessen an dem Gesamtindex im vergleichbaren Vorjahresmonat, also im Vergleich zu September 2021 (vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/09/PD22_413_611.html</span>). Im August betrug die Inflationsrate 7,9 % zum vergleichbaren Vorjahresmonat, im Juli 7,5 %, im Juni 7,6 %, im Mai 7,9 %, im April 7,4 % (vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.destatis.de</span> Fachserie 17, Reihe 7 Tabelle 1.1 und <span style="text-decoration:underline">https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html</span>). Diese Werte sind jedoch nicht ohne weiteres auf die regelsatzrelevanten Güter, die vom SGB II-Regelbedarf erfasst werden sollen, zu übertragen. Der Verbraucherpreisindex misst die durchschnittliche Preisveränderung aller Waren und Dienstleistungen, die von privaten Haushalten für Konsumzwecke gekauft werden. Die Teuerungsraten zwischen den einzelnen Warengruppen bzw. bezogen auf die regelsatzrelevanten Abteilungen unterscheiden sich erheblich. Die höchste Teuerungsrate besteht im Bereich Energie, insbesondere Heizungsenergie. Hier haben sich die Verbraucherpreise im August 2022 um 35,6 % erhöht, im Juli 2022 waren es 35,7 % und im Juni 2022 38 % jeweils gegenüber den Werten im Vorjahresmonat. Diese Kosten werden jedoch grundsätzlich in tatsächlicher Höhe vom Antragsgegner als Heizkosten übernommen. Soweit die Gesamtteuerungsrate auf Erhöhungen in dieser Warengruppe zurückgeht, ist sie für die Bemessung der Regelleistungen nicht relevant. Regelbedarfsrelevant ist hier allein der Bedarf für Haushaltsenergie. Deutlich verteuert haben sich einerseits die Preise für Nahrungsmittel. So betrugen diese Erhöhungen jeweils zum Vorjahresmonat im August 2022 16,6 %, im Juli 14,8 %, im Juni 12,7 % im Mai 11,1 %, im April 8,6 %. Deutlich niedrigere Verbraucherpreiserhöhungen gab es demgegenüber in den Bereichen Bekleidung und Schuhe, Beherbergung, Post und Telefonkommunikation oder Gesundheitspflege. In einzelnen Abteilungen wie dem Verkehr kam es sogar zeitweise zu Preissenkungen aufgrund des 9-Euro Tickets in der Zeit von Juni bis August 2022.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Soweit das Sozialgericht zu den jeweils im Regelbedarf enthaltenen statistischen Teilwerten Einzelberechnungen auf der Grundlage der für das Jahr 2022 rechnerisch ermittelten Inflationsraten in den Abteilungen vorgenommen hat, dürfte es in der Tendenz die Teuerungsrate zutreffend erfasst haben. Allerdings beruht das gesetzliche Konzept der Dynamisierung der Regelbedarfsstufen auf einer eigenständigen Methodik der regelbedarfsrelevanten Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach dem SGB II unter Bezug auf das SGB XII und beinhaltet eine Kombination nicht der allgemeinen sondern der regelbedarfsrelevanten Teuerungsrate (70%) und der Einkommensentwicklung (30%, zum statistischen Konzept vgl. Elbel/Wolz, Berechnung eines regelbedarfsrelevanten Verbraucherpreisindex für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach dem SGB XII, Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, Dezember 2012, S. 1122 ff). Für den aktuellen Vergleichszeitraum vom 1. Juli 2021 bis zum 30. Juni 2022 im Verhältnis zum vorausgehenden Vergleichszeitraum vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 hat das Statistische Bundesamt eine regelbedarfsrelevante Preisentwicklung von 4,7 % und eine Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer von 4,16 % ermittelt, woraus sich für den Mischindex eine für 2023 aufgrund der aktuellen gesetzlichen Vorgaben (§ 28 a SGB XII) zu berücksichtigende Veränderungsrate von 4,54 % ergibt (zu den konkreten Zahlen vgl. Regierungsentwurf Bürgergeld, S 137).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Allerdings ist die derzeitige Inflationsrate absehbar auch für den regelsatzrelevanten Preisindex, der auch die deutlich erhöhten Kosten für Nahrungsmittel und Haushaltsstrom beinhaltet, höher als die auf den Jahresvergleich bezogene Inflationsrate. Welche Schlussfolgerungen daraus für eine Anpassung der Regelleistungen aufgrund dieser Teuerungsrate zu ziehen sind, ist zuvörderst Aufgabe des Gesetzgebers. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ermittlung von Regelbedarfen, die ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten, stets nur annäherungsweise möglich ist. Sie muss sich auf Daten zu komplexen Verhältnissen stützen, die für die jeweils aktuell geforderte Deckung eines existenzsichernden Bedarfs nur begrenzt aussagekräftig sind. Zwar muss die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums nach der erforderlichen Gesamtbetrachtung auf im Ausgangspunkt tragfähigen Grundannahmen, Daten und Berechnungsschritten beruhen, jedoch schlagen Bedenken hinsichtlich einzelner Berechnungspositionen nicht ohne Weiteres auf die verfassungsrechtliche Beurteilung durch. Gleichzeitig darf der Gesetzgeber ernsthafte Bedenken, die auf tatsächliche Gefahren der Unterdeckung verweisen, nicht einfach auf sich beruhen lassen und fortschreiben. Er ist vielmehr gehalten, bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen des Regelbedarfs zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufzugreifen und unzureichende Berechnungsschritte zu korrigieren (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12, u.a., juris Rn 141).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Eine solche Reaktion des Gesetzgebers ist erfolgt, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung auch zum Inflationsausgleich in Höhe von 200 € gewährt wurde. Der Antragsteller fällt in den Anwendungsbereich des § 73 SGB II, da er im Juli 2022 leistungsberechtigt nach dem SGB II war und sein Bedarf sich nach der Regelbedarfsstufe 1 richtet. Die Einmalzahlung erfolgte nach dem Wortlaut der Norm zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen, die beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel, aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation entstanden sind (BR-Drucksache 125/22, S. 14). Die ursprünglich im Gesetzgebungsverfahren mit 100 € vorgesehene Leistungshöhe ist vor dem Hintergrund des Beschlusses in der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 07. April 2022 über die Einbeziehung der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in den Anwendungsbereich des SGB II auf 200 € verdoppelt worden und soll auch dem unmittelbaren pauschalen Ausgleich für etwaige aktuell bestehende finanzielle Mehrbelastungen in Anbetracht aktueller Preissteigerungen dienen (BT-Drucksache 20/1768, S. 27). Mit der Einmalzahlung i.H.v. 200 € hat der Gesetzgeber nicht die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen abgewartet (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144), sondern die durch die Pandemie und die Inflation entstandenen zusätzlichen Kosten bei den SGB II-Leistungen berücksichtigt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Juli 2022 – L 3 AS 1169/22, juris Rn. 20 - 28).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus ist ein Gesetzgebungsverfahren angestoßen worden, welches eine Neuberechnung des Regelbedarfs in Richtung auf ein Bürgergeld zum Gegenstand hat. Ausdrücklich verweist der Regierungsentwurf darauf, dass in den vergangenen Jahren bereits mehrere Einmalzahlungen auf den Weg gebracht wurden, um die außergewöhnlichen Preisentwicklungen abzufedern. Dies sei jedoch angesichts der aktuell schnell steigenden Preise nicht ausreichend, weshalb eine angemessene Erhöhung der Regelbedarfe notwendig sei, da die bisherige Fortschreibung der Regelbedarfe die Inflationsentwicklung erst im Nachgang abbilde. Daher sei es geboten, künftig die zu erwartende regelbedarfsrelevante Preisentwicklung bei der Fortschreibung der Regelbedarfe stärker zu berücksichtigen, womit auch der im Beschluss des BVerfG vom 23. Juli 2014 enthaltenen Vorgabe einer zeitnahen Reaktion auf eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen entsprochen werden solle (veröffentlicht unter www.bmas.de: <span style="text-decoration:underline">Regierungsentwurf)</span>. Der Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Einführung eines Bürgergeldes beinhaltet in § 134 SGB XII-E einen neuen Dynamisierungsfaktor, indem einerseits eine Basisfortschreibung wie bisher und andererseits eine ergänzende Fortschreibung bezogen auf einen zeitnahen Vergleich zwischen der Entwicklung im 2. Quartal des Vorjahres im Verhältnis zu dem Vorjahreswert vorgenommen wird. Da im 2. Quartal 2022 der regelbedarfsrelevante Preisindex um 6,9 % höher war als im maßgeblichen Vorjahresquartal (2. Quartal 2021) werden die aufgrund der Fortschreibung ermittelten Werte nach dem Gesetzentwurf um 6,9 % erhöht. Daraus errechnet sich aus der derzeitigen Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von 449 € ab dem 1. Januar 2023 ein (gerundeter) Wert von 502 € für alleinstehende Erwachsene. Dieser Wert soll im Gesetz festgelegt werden. Damit ist ein geeigneter Mechanismus vorgesehen, der auf aktuell deutliche Preiserhöhungen in die Zukunft gerichtet reagieren kann. Der Gesetzgeber nimmt so die Verpflichtung wahr, konkrete Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, um so bei stark steigender Preisentwicklung eine zeitnahe Reaktion für existenzsichernde Leistungen gewährleisten zu können. Damit soll verhindert werden, dass es zu einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Entwicklung der Preise von regelbedarfsrelevanten Gütern und Dienstleistungen im Vergleich zu der bei der Fortschreibung der Regelbedarfe längerfristig zu berücksichtigenden Entwicklungen kommt. Als Folgewirkung sollen die Regelbedarfe zum 1. Januar 2023 deutlich ansteigen. Dass diese Veränderungen nicht ad hoc möglich sind, sondern in einem komplexen demokratischen Gesetzgebungsverfahren geprüft und entwickelt werden, ist ebenfalls verfassungsrechtlich legitimiert und demokratisch geboten. Eine Verfassungswidrigkeit eines solchen Anpassungsmechanismus käme allenfalls dann in Betracht, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet die Anpassung der Regelleistung so niedrig ausfiele, dass diese in ihrem Niveau insgesamt nicht mehr existenzsichernd wäre (vgl. zu dem damals deutlich sachwidrigen § 20 Abs. 4 Satz 1 SGB II: BSG, Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14/7b AS 32/06 R, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,900
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4 A 1061/20
"2022-10-10T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:12"
"2022-10-17T11:11:01"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:1010.4A1061.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Das Verfahren wird eingestellt.</p> <p>Das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18.2.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf ist wirkungslos.</p> <p>Die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens nach Verbindung der Verfahren 3 K 10488/18 und 3 K 8272/19 (VG Düsseldorf) am 18.2.2020 trägt die Klägerin zu 1/3 und die Beklagte zu 2/3. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens vor der Verbindung im Verfahren 3 K 8272/19 trägt die Beklagte; im Verfahren 3 K 10488/18 tragen die Hauptbeteiligten die vor der Verfahrensverbindung angefallenen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.</p> <p>Der Streitwert wird unter Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für die Zeit nach der Verbindung der Verfahren 3 K 10488/18 und 3 K 8272/19 (VG Düsseldorf) am 18.2.2020 für beide Instanzen auf 22.500,00 Euro festgesetzt. Für die Zeit vor der Verbindung wird der Streitwert für das erstinstanzliche Verfahren 3 K 10488/18 auf 15.000,00 Euro und für das Verfahren 3 K 8272/19 auf 7.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Nachdem die Hauptbeteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung der §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 87a Abs. 1 und 3, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Das angefochtene Urteil ist für wirkungslos zu erklären (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO in entsprechender Anwendung).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Billigem Ermessen im Sinne dieser Vorschrift entspricht es, die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens nach Verbindung der Verfahren 3 K 10488/18 und 3 K 8272/19 (VG Düsseldorf) am 18.2.2020 der Klägerin zu 2/3 und der Beklagten zu 1/3 sowie die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens vor der Verbindung im Verfahren 3 K 8272/19 der Klägerin und im Verfahren 3 K 10488/18 den Hauptbeteiligten je zur Hälfte aufzuerlegen. In der Regel entspricht es billigem Ermessen im Sinne von § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, entsprechend § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Kosten verhältnismäßig zu teilen, wenn ein Beteiligter teils obsiegt hätte und teils unterlägen wäre. Bei der Prüfung der Erfolgsaussichten einer Klage, die sich – wie hier – im Verfahren auf Zulassung der Berufung befand, ist darauf abzustellen, ob die Berufung zuzulassen gewesen wäre und ob und in welchem Umfang die Berufung im Falle ihrer Zulassung Erfolg gehabt hätte.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.7.2021 – 4 A 1189/19 –, juris, Rn. 7 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands wäre ohne Eintritt der Erledigung die Berufung voraussichtlich zuzulassen gewesen (hierzu unter 1.) und hätte die Berufung voraussichtlich teilweise Erfolg gehabt (hierzu unter 2.).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1. Die Berufung wäre wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen gewesen. Die Klägerin hat die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Anfechtungsklage gegen die der Beigeladenen erteilte Erlaubnis vom 1.8.2019 sei mangels Durchführung eines nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderlichen Vorverfahrens unzulässig und ein etwaiger Bewerbungsverfahrensanspruch der Klägerin sei schon nicht mehr durchsetzbar, weil die Erteilung der Spielhallenerlaubnis an die Beigeladene zwischen den Beteiligten in Bestandskraft erwachsen und eine davon abweichende Entscheidung über den Bewerbungsverfahrensanspruch nicht mehr möglich sei, mit ihrem Zulassungsvorbringen noch hinreichend in Zweifel gezogen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">2. Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand wäre das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18.2.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf voraussichtlich geändert worden. Die der Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis in ihrer Fassung vom 1.8.2019 wäre aufgehoben [hierzu unter a)] und die Beklagte wäre verpflichtet worden, den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden [hierzu unter b)].</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">a) Nach der gemäß § 88 VwGO gebotenen Auslegung des Klageantrags war Gegenstand der Anfechtungsklage die der Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis vom 14.12.2018 in ihrer Fassung vom 1.8.2019 [hierzu unter aa)]. Die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage wäre ohne Eintritt der Erledigung voraussichtlich zulässig [hierzu unter bb)] und begründet [hierzu unter (cc)] gewesen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Verhältnis zwischen Änderungsbescheiden und ursprünglichen Bescheiden ist maßgebend, welchen Regelungsinhalt der Ursprungsbescheid und der ihn ändernde Bescheid haben.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 – 3 C 34.89 –, juris, Rn. 24.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Behörde kann durch einen Änderungsbescheid den ursprünglichen Verwaltungsakt zurücknehmen und seine Regelung durch eine neue ersetzen. In diesem Fall verliert der ursprüngliche Verwaltungsakt seine Wirksamkeit (§ 43 Abs. 2 VwVfG).</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.6.2007 – 3 C 11.06 –, BVerwGE 129, 66 = juris, Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Änderungsbescheide können den Ausgangsverwaltungsakten aber auch „anwachsen“, insbesondere wenn ihre Regelungsbestandteile nach materiellem Recht unteilbar sind. Dies hat zur Folge, dass der ursprüngliche Bescheid und der Änderungsbescheid inhaltlich eine einheitliche Entscheidung bilden, auch wenn sie formal in verschiedenen Dokumenten enthalten sind. Hierdurch erledigt sich der Bescheid in seiner Ursprungsfassung und das Rechtsschutzinteresse für ein gegen ihn gerichtetes Klagebegehren entfällt. Der ursprüngliche Bescheid kann isoliert nicht mehr Gegenstand einer Klage sein; eine solche muss sich vielmehr auf die gesamte geänderte Regelung beziehen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 11.11.2020 – 8 C 22.19 –, BVerwGE 170, 311 = juris, Rn. 25, vom 25.6.2014 – 9 A 1.13 –, BVerwGE 150, 92 = juris, Rn. 14, und vom 18.3.2009 – 9 A 31.07 –, juris, Rn. 23 f.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Hier hat die Beklagte noch vor rechtskräftigem Abschluss des Erlaubnisverfahrens der Klägerin die der Beigeladenen mit Bescheid vom 14.12.2018 erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis zum Betrieb der Spielhalle (Halle B) in der E.            Straße 75-77 in T.        mit Bescheid vom 1.8.2019 inhaltlich allein bezogen auf den räumlichen Umfang der Erlaubnis im Sinne von § 3 Abs. 2 SpielV geändert. Während sich die ursprüngliche Erlaubnis auf 148,20 m<sup>2</sup> im Erdgeschoss des Gebäudes bezog, wurde der Beigeladenen mit Änderungsbescheid vom 1.8.2019 der Betrieb auf einer Gesamtfläche von 145,85 m<sup>2</sup> gestattet, verteilt über das Erdgeschoss und das Kellergeschoss. Im Übrigen wiederholt der Änderungsbescheid die bereits mit Bescheid vom 14.12.2018 getroffenen Regelungen zur glücksspielrechtlichen Erlaubnis. Entsprechend hat die Beklagte für den Erlass des Änderungsbescheids nach Tarifstelle 17.8 der allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung NRW eine Änderungsgebühr erhoben (vgl. Nr. 3 des Änderungsbescheids).</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">bb) Die gegen die der Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis vom 14.12.2018 in ihrer Fassung vom 1.8.2019 gerichtete Anfechtungsklage war voraussichtlich zulässig, insbesondere hat die Klägerin gegen den Änderungsbescheid vom 1.8.2019 noch fristgemäß Widerspruch erhoben.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich bedarf es gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i. V. m. § 110 Abs. 1 Satz 1 JustG NRW abweichend von § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO vor Erhebung einer Anfechtungsklage keiner solchen Nachprüfung in einem Widerspruchsverfahren. Hiervon macht § 110 Abs. 3 Satz 1 JustG NRW eine Ausnahme bezogen auf im Verwaltungsverfahren nicht beteiligte Dritte, die sich gegen den Erlass eines einen anderen begünstigenden Verwaltungsaktes wenden. Wer Beteiligter im Verwaltungsverfahren ist, bestimmt § 13 Abs. 1 VwVfG NRW. Nach dessen Nr. 4 sind auch diejenigen Beteiligte, die nach § 13 Abs. 2 VwVfG NRW von der Behörde zu dem Verfahren hinzugezogen worden sind. Hier hat die Beklagte die Klägerin mit Hinzuziehungsbescheid vom 2.3.2018 zum Erlaubnisverfahren der Beigeladenen hinzugezogen. Nachdem die Beklagte der Beigeladenen mit Bescheid vom 14.12.2018 eine glücksspielrechtliche Erlaubnis erteilt und die Klägerin diese nicht fristgerecht angefochten hatte, war das Erlaubnisverfahren der Beigeladenen im Verhältnis zur Klägerin rechtskräftig abgeschlossen. Die mit Bescheid vom 1.8.2019 erfolgte Änderung des Erlaubnisbescheids erfolgte daher bezogen auf die Klägerin in einem neuen Verwaltungsverfahren, in welchem die Klägerin nicht erneut hinzugezogen worden ist.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Da die Klägerin bezogen auf den Änderungsbescheid vom 1.8.2019 ein Vorverfahren durchzuführen hatte, aber nicht entsprechend belehrt worden war, konnte der Widerspruch nach den §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe noch fristgerecht eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zwar hat die Klägerin die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die Anfechtungsklage gegen die der Beigeladenen erteilte Erlaubnis vom 14.12.2018 sei nicht fristgerecht erhoben worden, mit ihrem Zulassungsvorbringen nicht angegriffen. Der gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Anfechtungsklage gegen die der Beigeladenen erteilte Erlaubnis vom 1.8.2019 sei mangels Durchführung eines nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderlichen Vorverfahrens unzulässig, gerichtete Einwand, die Frist zur Anfechtung des Erlaubnisbescheids vom 1.8.2019 betrage mangels förmlicher Beteiligung ihrerseits nicht einen Monat, sondern ein Jahr, zudem habe sie am 26.3.2020 den erforderlichen Widerspruch eingelegt, hätte ohne Eintritt der Erledigung aber im Ergebnis durchgegriffen. Nach der gemäß § 88 VwGO gebotenen Auslegung des Klageantrags war Gegenstand der Anfechtungsklage die der Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis vom 14.12.2018 in ihrer Fassung vom 1.8.2019. Da die fristgerecht angegriffene Änderungserlaubnis den Regelungsgegenstand räumlich ausgetauscht hat, hätte sich die Klägerin hiergegen auch noch zulässigerweise wenden können, obwohl ihre Klage gegen den mit der Änderung als solchen erledigten Ausgangsbescheid verfristet war.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">cc) Die Anfechtungsklage wäre nach derzeitigem Sach- und Rechtsstand voraussichtlich auch begründet gewesen. Die der Beigeladenen erteilte Erlaubnis in der Fassung vom 1.8.2019 war rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren subjektiven Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der geänderten Erlaubniserteilung stand bereits entgegen, dass der gemäß § 16 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW a. F. zu der Grundschule C.----straße einzuhaltende Mindestabstand unterschritten wurde. Nach dieser Regelung sollten Spielhallen nicht in räumlicher Nähe zu öffentlichen Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betrieben werden, wobei regelmäßig ein Mindestabstand von 350 Metern Luftlinie zu Grunde gelegt werden sollte. Diesen Mindestabstand unterschreitet die Spielhalle der Beigeladenen nach Aktenlage zu der Grundschule C.----straße . Von der Einhaltung des Mindestabstands konnte im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über die Erlaubniserteilung,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Urteil vom 28.9.2020 – 4 A 2325/19 –, juris, Rn. 48,</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">hier also am 1.8.2019, auch nicht nach § 18 Satz 3 AG GlüStV NRW a. F. abgesehen werden. Nach dieser Vorschrift galt die Abstandsregelung nach § 16 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW a. F. für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Ausführungsgesetzes zum Glücksspielstaatsvertrag bestehende Spielhallen nicht, für die eine Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden war. Den Verwaltungsvorgängen lässt sich entnehmen, dass bei Inkrafttreten des nordrhein-westfälischen Gesetzes zur Ausführung des Glücksspielstaatsvertrags am 1.12.2012 (§ 24 Abs. 1 AG GlüStV NRW a. F.) im Erdgeschoss des Standorts E.            Straße 75-77 eine mit Erlaubnis vom 9.9.2008 genehmigte Spielhalle mit einer Grundfläche von 148,20 m<sup>2</sup> bestand. Die Ursprungsfassung der hier angefochtenen glücksspielrechtlichen Erlaubnis vom 14.12.2018 bezog sich zunächst auch auf diese Räumlichkeiten. Die Beigeladene wollte hingegen nicht an diesen Räumlichkeiten festhalten und hat insofern eine Änderung der glücksspielrechtlichen Erlaubnis beantragt. Die Räumlichkeiten sollten danach eine von der Erlaubnis nach § 33i GewO wesentlich abweichende Raumaufteilung haben (zwei Spielräume, verteilt auf Erdgeschoss und Kellergeschoss mit insgesamt 145,85 m<sup>2</sup>). Die antragsgemäße Änderung der glücksspielrechtlichen Erlaubnis hatte zur Folge, dass sich diese in ihrer Fassung vom 1.8.2019 zweifelsfrei nicht mehr auf eine am 1.12.2012 bestehende und nach § 33i GewO erlaubte Spielhalle bezog. Mit den Änderungen im räumlichen Bestand wurde deshalb der frühere Vertrauensschutz aufgegeben. Das Abstandserfordernis zu Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nach § 16 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW a. F. galt gemäß § 18 Satz 3 AG GlüStV NRW a. F. nur für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bestehende Spielhallen nicht. Sobald durch Änderungen im räumlichen Bestand die Genehmigungsfrage ‒ hier schon durch die Frage der Einhaltung des Abstands zu öffentlichen Schulen ‒ neu aufgeworfen wurde, handelte es sich bei den geänderten Spielhallen nicht mehr um „zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bestehende Spielhallen“.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16.3.2020 – 4 B 977/18 –, juris, Rn. 26, und vom 24.3.2022 – 4 B 1520/21 –, juris, Rn. 34 ff.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Es spricht auch nichts dafür, dass die Beklagte unter Berücksichtigung der örtlichen Lage der Spielhalle zu Gunsten der Beigeladenen hätte vom Mindestabstandserfordernis abweichen müssen (Ermessensreduzierung auf Null). Die für die Erlaubnis zuständige Behörde durfte zwar unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse im Umfeld des jeweiligen Standorts im Einzelfall von der Maßgabe zum Mindestabstand abweichen (§ 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW a. F.). Insoweit stand der zuständigen Behörde unter Berücksichtigung örtlicher Besonderheiten Ermessen offen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.3.2021 – 4 A 3178/19 –, juris, Rn. 79 ff., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon, ob hier eine Abweichung ermessensfehlerfrei hätte gewährt werden können, ist dies jedenfalls nicht zugunsten der Beigeladenen erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">b) Schon aufgrund der Rechtswidrigkeit der auf einer unzureichenden Ermächtigungsgrundlage beruhenden glücksspielrechtlichen Änderungserlaubnis zu Gunsten der Beigeladenen hätte auch die Verpflichtungsklage der Klägerin voraussichtlich im Umfang des davon umfassten Neubescheidungsinteresses Erfolg gehabt. Die Klägerin hätte voraussichtlich einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Erlaubnisantrags unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gehabt, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Aufgrund der erfolgreichen Anfechtung der glücksspielrechtlichen Änderungserlaubnis der Beigeladenen hätte diese der Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis des Betriebs einer Spielhalle am Standort E.            Straße 45 in T.        nicht entgegengestanden. Mangels Spruchreife hätte die Klägerin aber keinen Anspruch auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis gehabt.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">aa) Die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis setzte nach der zum Zeitpunkt der Erledigung maßgeblichen Rechtslage grundsätzlich voraus, dass das Mindestabstandsgebot aus <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-Gl%C3%BCStVtrNWpP25">§ 25 Abs. 1 GlüStV 2012</a> i. V. m. <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-Gl%C3%BCStVtrAGNWV2P16">§ 16 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 AG GlüStV NRW</a> a. F. eingehalten wurde. Nach diesen Vorschriften sollte ein Mindestabstand von 350 Metern Luftlinie zu einer anderen Spielhalle nicht unterschritten werden. Die Behörde durfte aber unter bestimmten Voraussetzungen von dem Mindestabstandsgebot abweichen, § 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW a. F. Zudem konnte sie gemäß <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=jlr-Gl%C3%BCStVtrNWV1P29">§ 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV</a> 2012 zu Gunsten eines Betreibers eine Befreiung von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots für einen angemessen Zeitraum zulassen, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich war; hierbei waren der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33 i GewO sowie die Ziele des <a href="https://www.juris.testa-de.net/r3/document/jlr-Gl%C3%BCStVtrNW2021pP1/format/xsl/part/S?oi=Gn4TGxXnmB&${__hash__}38;sourceP=%7B%22source%22%3A%22Link%22%7D">§ 1 GlüStV</a> 2012 zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Begehrten nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV 2012 mehrere Betreiber von Spielhallen, die zueinander das Mindestabstandsgebot nicht einhielten, die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, bedurfte es zur Auflösung der Konkurrenzsituation einer Auswahlentscheidung. Diese von der Behörde zu treffende Auswahlentscheidung war eine Ermessensentscheidung, die nach Maßgabe des § 114 VwGO der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle (nur) daraufhin unterlag, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 40 VwVfG NRW).</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteile vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, juris, Rn. 43, und vom 28.9.2020 – 4 A 2324/19 –, juris, Rn. 34 f.; Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, Rn. 23 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Ein Auswahlverfahren wäre hier weiterhin erforderlich gewesen, weil die Spielhalle der Klägerin den erforderlichen Abstand von 350 m Luftlinie nicht nur zu der Spielhalle der Beigeladenen, sondern auch zu der am Standort E.            Straße 45 in T.        betriebenen Spielhalle nicht einhielt, deren Betreiberin ihr Begehren auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis ebenfalls gerichtlich weiterverfolgt hat (4 A 897/20). Konkurrieren mehrere Betreiber um den Erhalt einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, darf der Senat die von der Beklagten zu treffende Auswahlentscheidung nicht ersetzen. Insbesondere besteht kein Anhalt dafür, dass die Auswahl zwingend zu Gunsten der Betreiberin einer dieser Spielhallen hätte ausfallen müssen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">bb) Ein Anspruch der Klägerin auf Neubescheidung hätte im Übrigen selbst dann bestanden, wenn die Klägerin nicht fristgerecht Widerspruch gegen die Änderung der glücksspielrechtlichen Erlaubnis der Beigeladenen vom 1.8.2019 eingelegt hätte und diese Erlaubnis gegenüber der Klägerin bestandskräftig geworden wäre. Eine etwaige Bindungswirkung der der Beigeladenen erteilten glücksspielrechtlichen Erlaubnis und eine hierauf bezogene gegenüber der Klägerin eingetretene Bestandskraft hätte nicht ihren Bewerbungsverfahrensanspruch berührt.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Erteilung der glücksspielrechtlichen Erlaubnis führte dazu, dass in einem Umkreis mit einem Radius von 350 m Luftlinie um den Eingang der erlaubten Spielhalle grundsätzlich – vorbehaltlich der Gewährung einer Ausnahme oder Befreiung vom Mindestabstandsgebot – keine weitere Spielhalle mehr betrieben werden durfte.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 665/19 –, juris, Rn. 55.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Infolgedessen konnte einem unterlegenen Bewerber grundsätzlich keine glücksspielrechtliche Erlaubnis für eine Spielhalle erteilt werden, sofern und solange eine bereits erteilte Erlaubnis für eine andere Spielhalle innerhalb des gesetzlichen Mindestabstands nicht zuvor aufgehoben oder gegenstandslos wurde. Nur so konnte das erschöpfte Kontingent wieder für ihn verfügbar werden. Vor diesem Hintergrund kam der zusätzlich möglichen Drittanfechtungsklage eine Hilfsfunktion zu.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.9.2008 – 3 C 35.07 –, BVerwGE 132, 64 = juris, Rn. 21 f.; OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 665/19 – juris, Rn. 55 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon war das Recht des unterlegenen Bewerbers aus Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG auf ermessensfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl und Durchführung eines fairen Auswahlverfahrens (sog. Bewerbungsverfahrensanspruch) allerdings nicht schon dann erloschen oder nicht mehr durchsetzbar, wenn er die dem Konkurrenten erteilte und ihm ordnungsgemäß bekannt gemachte Erlaubnis für eine andere Spielhalle nicht fristgerecht angefochten hatte. Die Drittanfechtung war nicht notwendig, um eine erneute Bescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Erlaubnis für seine Spielhalle zu erreichen, die in Abstandskonkurrenz zu der anderen Spielhalle stand, für die eine bestandskräftige Erlaubnis erteilt worden war. Mit anderen Worten konnte der unterlegene Bewerber die Erlaubnis des ausgewählten Dritten anfechten, insbesondere um der Gefahr einer faktischen Rechtsvereitelung aufgrund eines erlangten Vorsprungs des Dritten vorzubeugen; er musste es insoweit aber nicht.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.9.2008 ‒ 3 C 35.07 ‒, BVerwGE 132, 64 = juris, Rn. 21 f., und BVerfG, Beschluss vom 14.1.2004 ‒ <a href="https://www.juris.testa-de.net/perma?d=KVRE320390401">1 BvR 506/03</a> ‒, juris, Orientierungssatz 3, Rn. 22 ff.; Rennert, DVBl. 2009, 1333, 1339 f.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Eine auch gegenüber dem unterlegenen Bewerber eingetretene Bestandskraft der Erlaubnis des Konkurrenten für dessen Spielhalle reichte nämlich grundsätzlich nicht so weit, dass gleichsam auch über den Antrag des Unterlegenen auf Erteilung einer Erlaubnis für eine andere Spielhalle einschließlich seines Bewerbungsverfahrensanspruchs bestandskräftig entschieden worden wäre. Bereits durch die Anfechtung der Versagung seines eigenen Erlaubnisantrags verhinderte er vielmehr, dass die ablehnende Entscheidung über seinen Bewerbungsverfahrensanspruch bestandskräftig wurde.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">War der unterlegene Bewerber mithin nicht von vornherein mit seinen im Rahmen der Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Erlaubnis geltend gemachten Einwänden gegen die erfolgte Auswahlentscheidung ausgeschlossen, dann hatte er unabhängig davon, ob ihm die Drittanfechtung zumutbar und für ihn hilfreich gewesen wäre, nach Art. 19 Abs. 4 GG einen Anspruch darauf, dass das Gericht darüber in der Sache entscheidet. Mit dem an den unterlegenen Bewerber gerichteten Versagungsbescheid stand die Auswahlentscheidung der Behörde, soweit sie den Adressaten betraf, vollständig zur gerichtlichen Kontrolle. Wegen der begrenzten Bindungswirkung der Dritterlaubnis bot die Klage „in eigener Sache“ grundsätzlich vollständigen Rechtsschutz.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Aufnahme in den Krankenhausplan BVerwG, Urteil vom 25.9.2008 – 3 C 35.07 –, BVerwGE 132, 64 = juris, Rn. 21, und zur Erteilung einer Güterverkehrsgenehmigung BVerwG, Urteil vom 7.10.1988 – 7 C 65.87 –, BVerwGE 80, 270 = juris, Rn. 10; zur Marktzulassung Nds. OVG, Beschluss vom 17.11.2009 – 7 ME 116/09 –, juris, Rn. 4; ähnlich zur glückspielrechtlichen Erlaubnis für den Betrieb einer Spielhalle VG Hamburg, Beschluss vom 8.1.2018 – 17 E 9823/17 –, juris, Rn. 2; a. A. Nds. OVG, Beschluss vom 5.9.2017 – 11 ME 169/17 –, juris, Rn. 36.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von der Reichweite der materiellen Bestandskraft hatte diese ohnehin nur die Wirkung, die erlassende Behörde und die Beteiligten im Sinne des § 13 VwVfG NRW an die mit dem Verwaltungsakt getroffenen Regelungen zu binden, ohne noch in einem Rechtsbehelfsverfahren eine Aufhebung oder Abweichung erreichen zu können. Davon unberührt blieb jedoch die Möglichkeit der Behörde, auch einen möglicherweise bestandskräftigen Verwaltungsakt nach Maßgabe der §§ 48 ff. VwVfG NRW aufzuheben oder – wie hier – auf Antrag zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schwarz, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, <a href="https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-FehlingKasKoVerwR-G-VwVfG-P-43-GL-B-II">§ 43 Rn. 24</a>.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Denn es ist möglich, dass eine Behörde für den Fall, dass das Gericht eine Erlaubniserteilung an einen Konkurrenten beanstandet, die dem unrechtmäßig bevorzugten Mitbewerber erteilte Genehmigung durch Rücknahme entzieht und damit dem zunächst unterlegenen Bewerber eine Genehmigung erteilen kann, oder dass die Behörde gar das Verteilungsverfahren gänzlich wiederholt. Es ist im Falle eines obsiegenden Urteils sogar geboten, dass die Behörde eine – rechtswidrige – Erlaubniserteilung unter diesem Gesichtspunkt überprüft. Über die Rücknahme einer rechtswidrig erteilten unanfechtbaren Genehmigung entscheidet die Behörde allerdings nach Ermessen. Sie hat somit, wenn sie zu erneuter Bescheidung eines Antrags eines übergangenen Bewerbers verpflichtet wird, zugleich darüber zu entscheiden, ob sie eine rechtswidrig erteilte Genehmigung zurücknimmt und die dadurch frei werdende Genehmigung dem mit der Bescheidungsklage erfolgreichen Kläger zuteilt. Sie darf jedenfalls ihre erneute Entscheidung nicht allein auf den Gesichtspunkt stützen, das verfügbare Kontingent sei erschöpft.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Zulassung als Marktbeschicker, BVerfG, Beschluss vom 15.8.2002 – 1 BvR 1790/00 –, juris, Rn. 19, zur Erteilung einer Güterverkehrsgenehmigung BVerwG, Urteil vom 7.10.1988 – 7 C 65.87 –, BVerwGE 80, 270 = juris, Rn. 10.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Dies unterscheidet Konkurrenzsituationen wie die vorliegende von Ernennungskonkurrenzen um die erstmalige Berufung ins Beamtenverhältnis oder um eine Beförderungsstelle. Wegen des dort geltenden Grundsatzes der Ämterstabilität kann das vergebene Amt nach erfolgter Ernennung, sofern dem unterlegenen Bewerber zuvor ausreichender Rechtsschutz eröffnet wurde, nicht mehr verfügbar gemacht werden.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 13.12.2018 – 2 A 5.18 –, BVerwGE 164, 84 = juris, Rn. 23 f., und vom 4.11.2010 – 2 C 16.09 –, BVerwGE 138, 102 = juris, Rn. 31 ff.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Im Unterschied dazu war die zuständige Ordnungsbehörde, die über die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis entschied, weder durch besondere noch durch allgemeine Vorschriften von vornherein daran gehindert, eine einem Konkurrenten rechtswidrig erteilte Erlaubnis zurückzunehmen. Insbesondere hatten weder der frühere Glücksspielstaatsvertrag noch das nordrhein-westfälische Ausführungsgesetz insofern besondere Regelungen zur Bindungswirkung einer Dritterlaubnis getroffen.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), sind ihre außergerichtlichen Kosten nicht erstattungsfähig.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">2. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der Senat zieht für die auf den Betrieb einer Spielhalle gerichteten Klagen in Orientierung an dem Vorschlag unter Nr. 54.1 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit [NVwZ-Beilage 2013, 58 (68)] den dort genannten Mindestbetrag für den Jahresgewinn von 15.000,00 Euro als Grundlage der Wertfestsetzung heran.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Streitwert für ein solches Begehren OVG NRW, Beschluss vom 8.6.2017 – 4 B 307/17 –, juris, Rn. 96.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Hinzuzurechnen ist für die Zeit nach Verbindung des früheren Verfahrens 3 K 8272/19 (VG Düsseldorf) mit dem Verfahren 3 K 10488/18 (VG Düsseldorf) zur gemeinsamen Entscheidung ein auf das Verfahren 3 K 8272/19 entfallender Streitwert von 7.500,00 Euro für den auf die Aufhebung der der Beigeladenen als Konkurrentin erteilten Spielhallenerlaubnis gerichtete Klageantrag.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17.11.2021 – 4 A 2626/19 –, juris, Rn. 5 f. und vom 25.9.2020 ‒ 4 A 2568/19 ‒, juris, Rn. 5 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.</p>
346,886
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4 A 1931/22.A
"2022-10-10T00:00:00"
"2022-10-12T10:01:20"
"2022-10-17T11:10:59"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:1010.4A1931.22A.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 10.8.2022 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p> <h1> </h1><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Gebot des rechtlichen Gehörs ist nicht dadurch verletzt, dass das Verwaltungsgericht den zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung datierenden neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 8.8.2022, auf den sich der Kläger erstinstanzlich nicht berufen hat und den das Gericht auch nicht in das Verfahren eingeführt hat, unberücksichtigt gelassen hat. Mit seiner Rüge beanstandet der Kläger eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht. Selbst wenn ein Aufklärungsmangel vorläge, begründete er jedoch grundsätzlich weder einen Gehörsverstoß noch gehörte er zu den sonstigen Verfahrensmängeln im Sinne der § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 VwGO. Dies gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungspflicht verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.11.2015 – 4 A 1439/15.A –, juris, Rn. 7 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen erschöpfen sich die Einwände des Klägers – auch soweit er geltend macht, das Verwaltungsgericht verkenne, dass Christen allein durch die Ausübung ihrer Religion überall in Pakistan Verfolgung und Diskriminierung befürchten müssten – der Sache nach in Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Solche ist dem sachlichen Recht zuzurechnen und rechtfertigt, sofern sie – wie hier – nicht von Willkür geprägt ist, von vornherein nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27.7.2022 – 4 A 1148/19.A –, juris, Rn. 19 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Angesichts des Hinweises auf Seite 3 des vom Verwaltungsgericht herangezogenen Lageberichts vom 28.9.2021, wonach der Bericht jährlich aktualisiert werden solle, zeigt der Kläger schon nicht auf, weshalb das Verwaltungsgericht zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 10.8.2022 bereits damit rechnen musste, dass nur zwei Tage zuvor ein neuer Lagebericht erschienen war. Der Kläger benennt insbesondere keine Umstände, aus denen sich eine Pflicht zu einer gleichsam „tagesaktuellen“ Erfassung und Bewertung der entscheidungsrelevanten Tatsachengrundlage bezogen auf die Lage der Christen in Pakistan ergeben könnte, die das Verwaltungsgericht willkürlich verletzt haben könnte. Ungeachtet dessen ergibt sich, wovon bereits das Verwaltungsgericht ausgegangen ist (vgl. Urteilsabdruck, Seite 7, vorletzter Absatz, bis Seite 8, dritter Absatz), auch aus dem neuesten Lagebericht, auf den sich der Kläger beruft, dass verfolgte Angehörige der christlichen Minderheit generell Ausweichmöglichkeiten in anderen Landesteilen haben.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan vom 8.8.2022, S. 16.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.</p>
346,884
ovgni-2022-10-10-1-me-4922
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 ME 49/22
"2022-10-10T00:00:00"
"2022-10-12T10:00:55"
"2022-10-17T11:10:58"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 2. Kammer - vom 31. März 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 50.000 EUR festgesetzt; die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts wird dementsprechend geändert.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Er ist Eigentümer des Grundstücks Flurstück H., Flur I., Gemarkung J.. Dieses ist straßenseitig mit einem 4-geschossigen Wohn- und Bürohaus (K.) bebaut. Das Gebäude hat eine seitliche Traufhöhe von 15,70 m und unterschreitet mit seiner Ostseite den seitlichen Grenzabstand auf einer Länge von etwa 20 m um bis zu 5,70 m. Auf dem rückwärtigen Teil des Grundstücks, ca. 30 m von der L. entfernt, steht das zweigeschossige Wohnhaus des Antragstellers (M.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Die Beigeladene ist Eigentümerin des östlich angrenzenden Grundstücks Flurstück N., Flur I., Gemarkung J. (O.), das ca. 21 m tief mit einem zweigeschossigen Mehrfamilienhaus sowie einer Doppelgarage in der Nordostecke bebaut ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die Grundstücke sind Teil eines Straßengevierts, das von den Straßen L. (im Süden), P. (im Osten) und Q. (im Norden) begrenzt wird. Im Westen des Antragstellergrundstücks befinden sich weitere Gebäude auf dem Flurstück R. (S.) und dem Flurstück T. (U.), an die sich wiederum der Campus der TU A-Stadt anschließt. Eine unbebaute, von der Q. erschlossene, ca. 2.000 qm große Fläche gehört zur TU A-Stadt und wird seit Jahren als (Behelfs-)Parkplatz für ca. 50 Kfz genutzt, wobei alle Verkehrsteilnehmer freien Zugang haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Die Beigeladene beabsichtigt, auf dem Grundstück L. V. den bisherigen Bestand durch ein viergeschossiges Mehrfamilienhaus mit 7 Wohneinheiten und einem Flachdach mit einer Traufhöhe von 14 m zu ersetzen. Im Untergeschoss ist eine Tiefgarage mit 7 Einstellplätzen geplant, deren nach Norden bzw. Westen ausgerichtete Einfahrten von der L. aus über eine ca. 17 m lange, entlang der Grenze zum Antragstellergrundstück geführte Rampe erreicht werden soll. Ihr ca. 12 %-iges Gefälle übersteigt das natürliche Gefälle des Geländes von Süd nach Nord (ca. 5 %).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Unter dem 15. Juni 2021 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen eine Baugenehmigung zur Errichtung des Vorhabens bei gleichzeitiger Zulassung einer Abweichung bezüglich des westlichen Grenzabstands auf einer Länge von knapp 13 m um bis zu 3,42 m, wobei der Mindestabstand von 3 m einzuhalten sei. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, der geplante Neubau bewege sich sowohl im Hinblick auf die Gebäudehöhe als auch bezüglich des Grenzabstands in dem von den Nachbargebäuden gesetzten Rahmen. Das westliche Nachbargebäude mit einer Traufhöhe von 15,70 m unterschreite den erforderlichen Grenzabstand auf einer Länge von etwa 20 m um bis zu 5,42 m und damit in größerem Maße.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller erhob fristgerecht Widerspruch und beantragte nach erfolglosem behördlichem Aussetzungsverfahren beim Verwaltungsgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, das Bauvorhaben verletze voraussichtlich keine nachbarschützenden Vorschriften. Das Bauvorhaben füge sich seiner Art nach in die nähere Umgebung, die einem allgemeinen Wohngebiet entspreche, ein. Das Maß der baulichen Nutzung unterfalle dagegen nicht dem nachbarschützenden Gebietserhaltungsanspruch. Auch ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot liege nicht vor. Dies gelte insbesondere für die Tiefgarage im rückwärtigen Bereich und die dazugehörige Rampe. Der Blockinnenbereich zwischen L., P., Q. und einem unbenannten Gehweg (im Westen) sei nicht durch eine typische Wohnruhe geprägt, sondern vielmehr durch Parkflächen in den hinteren Grundstücksbereichen sowie durch Parkplätze nördlich und westlich des Antragstellergrundstücks vorbelastet. Im Verhältnis zu den vorhandenen Belästigungen erreichten die von dem Vorhaben, insbesondere von der abknickenden Rampe, ausgehenden Belästigungen keine neue Größenordnung. Dies gelte - unabhängig von der Vorbelastung - auch in Ansehung von Grenzwertüberschreitungen in Form von zwei einzelnen, kurzzeitigen Geräuschspitzen pro Woche, ausgehend von Verkehrsbewegungen in oder aus Richtung von notwendigen Stellplätzen. Auch die von den in die Tiefgarage einfahrenden Fahrzeuge ausgehenden Lichtimmissionen seien wegen der starken Neigung der Rampe sowie der Abschirmung durch eine Grenzmauer und eine Hecke nicht unzumutbar. Der Einwand des Antragstellers, durch die notwendigen Schachtarbeiten bei der Errichtung der Tiefgaragenzufahrt drohten u.a. die Bausubstanz des Vorderhauses (W.) beschädigt zu werden, seien zu unsubstantiiert, um einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot zu begründen. Auf eine Unterschreitung des Grenzabstands durch das Bauvorhaben könne sich der Antragsteller wegen seiner eigenen Grenzabstandsverletzung nicht berufen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass das Vorhaben bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung keine drittschützenden Normen verletzt. Der über § 34 Abs. 2 BauGB anwendbare § 15 Abs. 1 BauNVO gewährt auch in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet Nachbarschutz lediglich hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung. Die Voraussetzungen dafür, dass ausnahmsweise Quantität in Qualität, d.h. die Größe einer baulichen Anlage auf die Art der baulichen Nutzung durchschlägt (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.3.1995 - 4 C 3.94 -, juris Rn. 17 = NVwZ 1995, 899 = BRS 57 Nr. 175), ist schon mit Blick auf die Dimensionen der benachbarten Gebäude L. X., Y. und Z., aber auch P. AA. und V. fernliegend. Bei einem Vorhaben, das hinsichtlich der Gebäudehöhe, der Gebäudetiefe sowie der überbauten Grundfläche den Rahmen der näheren Umgebung nicht überschreitet und insbesondere bezüglich der Gebäudehöhe im Vergleich zu dem Vorderhaus des Antragstellers mehrere Meter und damit deutlich niedriger als dieses ausfällt, kann von einer „Ausbeutung“ des Grundstücks, wie der Antragsteller meint, schwerlich gesprochen werden; jedenfalls ist diese Art der Ausnutzung auch im Vergleich mit der Umgebungsbebauung rechtlich unproblematisch.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Soweit sich der Antragsteller gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts wendet, dass durch die Tiefgarage samt Zufahrt das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt sei, rechtfertigt sein Vortrag keine andere Bewertung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Den Ausgangspunkt bilden die folgenden, vom Senat zur Anordnung von Stellplätzen und Garagen abseits von öffentlichen Verkehrsflächen entwickelten Grundsätze: Stellplätze und Garagen sollen grundsätzlich möglichst nah an öffentliche Verkehrsflächen herangebaut werden, um kein Störpotenzial in Ruhezonen hineinzutragen, in denen bislang keine Fahrzeugbewegungen stattfanden. Dementsprechend sollen selbst nach § 47 NBauO erforderliche Garagen und Stellplätze in der Regel nicht im Hintergarten liegen oder in das Blockinnere eines Straßenkarrees vordringen. Das gilt jedoch nur, wenn dieses Karree durch Grünflächen bzw. durch relative Wohnruhe gekennzeichnet ist. Was danach bei Abwägung der konkurrierenden Nutzungsinteressen dem Bauherrn gestattet bzw. seinem Nachbarn zugemutet werden kann, richtet sich zum einen nach der Vorbelastung des geplanten Aufstellungsortes durch vergleichbare Anlagen, daneben und vor allem aber nach den Festsetzungen eines für diesen Bereich geltenden Bebauungsplans Senatsbeschl. v. 19.1.2021 - 1 ME 161/20 -, BauR 2021, 804 = ZfBR 2021, 451 = juris Rn. 9 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Da die Grundstücke im unbeplanten Innenbereich liegen, kommt es demnach auf die vorhandene Vorbelastung an. Zu betrachten ist - wie die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen haben - der Innenbereich eines von der L., dem P., der Q. und einem unbenannten Gehweg westlich der Gebäude L. AB. und AC. sowie Q. AD. gebildeten Bebauungsblocks. Dass die Antragsgegnerin anscheinend im Jahr 2015 in einem Verfahren bezüglich eines Vorhabens auf dem Grundstück P. AA. die westliche Grenze des für die Beurteilung dieses Vorhabens maßstabsbildenden Bebauungsblocks an den Gebäuden L. Y. und AE. angenommen hat, ist unerheblich. Selbst wenn man - wofür nichts spricht - die Parkfläche zwischen den Gebäuden L. AB. und AC. ausblendete, wären die große Parkfläche der TU A-Stadt nördlich des Antragstellergrundstücks (ca. 2.000 qm) sowie die bis weit (ca. 55 m, d.h. mehr als doppelt so tief wie das Vorhabengrundstück) in den Blockinnenbereich hineinragenden Garagen bzw. Stellplätze auf dem Grundstück P. AB. einzubeziehen. Abgesehen davon, dass insbesondere der sehr große und offenbar regelmäßig genutzte Parkplatz auch für die Annahme eines faktischen Mischgebiets mit der Folge eines geringeren Schutzes der Wohnruhe sprechen könnte, ist der Vortrag des Antragstellers auch unter der Prämisse eines faktischen allgemeinen Wohngebiets nicht geeignet, die Anordnung von Stellplätzen in einer maximal 21 m in den Blockinnenbereich ragenden Tiefgarage, die einen Großteil der durch Stellplätze verursachten Geräusche wie beispielsweise Türenöffnen bzw. -schließen abfängt, auszuschließen. Die Behauptung des Antragstellers, von gleichartigen bzw. deutlich weiter in den Blockinnenbereich ragenden Anlagen aufgrund Abschirmungen durch Gebäude und Bewuchs nicht belästigt zu werden - überzeugt insbesondere im Hinblick auf den nördlich seines Grundstücks - nach seinem Vortrag ca. 2 m höher - gelegenen Großparkplatz auch unter Berücksichtigung der abschirmenden Wirkung eines 2 m hohen blickdichten Zauns sowie des Gebäudes L. AF. schon tatsächlich nicht; hinzu kommt, dass es für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit auf den Charakter des Blockinnenbereichs insgesamt und nicht auf eine möglicherweise günstige Lage eines einzelnen Grundstückseigentümers ankommt. Soweit der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht mehr von einem „Behelfsparkplatz“, sondern von einem „öffentlichen Parkplatz“, der unter den Begriff des öffentlichen Verkehrs zu fassen sei, ausgeht und daraus folgert, dass dieser in die Vorbelastung des Blockinnenbereichs nicht einzurechnen sei, ist ihm nicht zu folgen. Tatsächlich handelt es sich um einen Parkplatz auf einem Privatgrundstück in der für die Beurteilung der Vorbelastung maßgeblichen näheren Umgebung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Bewegt sich damit die Anordnung der notwenigen Einstellplätze im Rahmen dessen, was in der näheren Umgebung vorzufinden ist, sind die von ihnen ausgehenden Immissionen als mit einer Wohnnutzung typischerweise verbunden grundsätzlich hinzunehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die zur Bestimmung der Lärmimmissionen herangezogenen Werte der TA Lärm, die auf den mit notwendigen Stellplätzen zu einer Wohnnutzung verbundenen Lärm ohnehin nicht schematisch anzuwenden sind (vgl. Senatsbeschl. v. 24.2.2022 - 1 ME 186/21 -, BauR 2022, 743 = juris Rn. 8), nicht oder nur geringfügig überschritten werden. So liegt der Fall hier: Mit den Auflagen zur Ausgestaltung der Zufahrt (asphaltierte Fahrbahnoberfläche sowie lärmarm auszuführende und regelmäßig zu wartende Regenrinnen und Rollgitter) zur Tiefgarage werden die Richtwerte nur noch durch vereinzelte Geräuschspitzen in der Nacht überschritten. Selbst wenn man mit dem Antragsteller annehmen wollte, dass die angestellte Prognose die Immissionen etwas unterschätzt, lässt sich auch unter Zugrundelegung seines Vortrags zu vermehrten Ein- und Ausfahrten nicht der Schluss ziehen, dass die Immissionen für den Antragsteller unzumutbar seien. Eine Konstellation, in der die Grenze des Zumutbaren überschritten ist, weil die vom Vorhaben ausgelösten Belästigungen gegenüber dem Vorhandenen eine neue Größenordnung erreichen (vgl. Senatsbeschl. v. 19.11.2021 - 1 ME 76/20 -, BauR 2022, 2020 = juris Rn. 18), ist jedenfalls nicht gegeben. Vielmehr sind gleichartige Geräuschspitzen im gesamten Innenbereich des Bebauungsblocks, der insoweit in den Blick zu nehmen ist, bereits vor Errichtung des Vorhabens vorhanden. Die Ausgestaltung der Stellplatzanlage in Form einer Tiefgarage ist im Vergleich zu einem offenen Stellplatz hinsichtlich der von dieser ausgehenden Emissionen für benachbarte Nutzungen sogar deutlich günstiger. Dass es aus Sicht des Antragstellers ihn noch stärker schonende Alternativen gäbe, ist nicht erheblich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Weitergehenden Schutz kann der Antragsteller auch nicht mit Blick darauf beanspruchen, dass sein Grundstück auch dem Verkehrslärm der Spielmannstraße ausgesetzt ist. Maßgeblich dafür, was in einem Blockinnenbereich zulässig ist, ist dessen Vorbelastung; das hat das Verwaltungsgericht zutreffend berücksichtigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Auch die von den Scheinwerfern der Kfz auf der Zufahrt ausgehenden Lichtimmissionen, soweit sie in Anbetracht des Rampengefälles, infolgedessen die Rampe gerade im hinteren Bereich unterhalb der natürlichen Geländeoberfläche verläuft, überhaupt in nennenswertem Umfang zu dem Wohnhaus des Antragstellers vordringen, sind als mit den notwendigen Stellplätzen typischerweise einhergehende Auswirkungen hinzunehmen. Das gilt auch dann, wenn - wie der Antragsteller vorgetragen hat - eine ihn schützende Mauer im Zuge der Bauarbeiten entfernt werden sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller könne sich wegen seiner eigenen Grenzabstandsunterschreitung durch das Gebäude L. X. nicht erfolgreich gegen die von der Antragsgegnerin zugelassene Abweichung hinsichtlich des Grenzabstands zur westlichen Grenze berufen, ist nicht zu beanstanden. Soweit der Antragsteller meint, dass er diese nicht hinnehmen zu habe, weil hier zusätzlich in den verringerten Grenzabstand die Tiefgaragenzufahrt gebaut werde, er aber nur „ein vergleichbares Bauvorhaben“ hinnehmen müsse, ist ihm entgegen zu halten, dass die Zufahrt als solche keinen Grenzabstand einzuhalten hat. Zudem werden rückwärtige Stellplatzanlagen üblicherweise durch Zufahrten an den Grundstücksgrenzen erschlossen. Soweit er darauf verweist, dass sich - historisch bedingt durch den bisher lediglich zweieinhalbstöckigen Bestandsbau auf dem Vorhabengrundstück - an der Ostseite des Gebäudes L. X. schutzwürdige Wohnräume und ein Balkon befinden, rechtfertigt dies keine andere Bewertung. Sind die Stellplätze - wie oben ausgeführt - in der geplanten Form zulässig, ist auch die entsprechende Zuwegung hinzunehmen. Gleiches gilt für neu entstehende Einsichtsmöglichkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 15.7.2022 - 1 MN 132/21 -, juris Rn. 20 f.). Einen Anspruch auf Erhalt des für ihn günstigen status quo, bei dem die hohe Ausnutzung des eigenen Grundstücks im straßenseitigen Bereich durch eine weit hinter dem Zulässigen zurückbleibende Nutzung auf dem Nachbargrundstück begünstigt wird, hat der Antragsteller nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Auch der im Beschwerdeverfahren vertiefte Vortrag zu möglichen Beeinträchtigungen, insbesondere an der Substanz des Gebäudes Spielmannstraße 13, die der Antragsteller während der Errichtung des Vorhabens befürchtet, rechtfertigt keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Baugenehmigung verhält sich regelmäßig nur zu dem fertiggestellten Produkt, d.h. hier zu dem geplanten Mehrfamilienhaus mit Tiefgarage. Die für das Vorhaben, das der Gebäudeklasse 4 (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Satz 3 NBauO) zuzuordnen ist, gemäß § 65 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 NBauO zu erbringenden Nachweise der Standsicherheit beziehen sich nur auf die zu errichtende bauliche Anlage; dies zeigt auch der Vergleich von § 12 Satz 1 NBauO einerseits und § 12 Satz 2 NBauO andererseits. Entsprechend beschränkt sich die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung auf das zu errichtende Bauwerk als solches. So ist es auch hier: Soweit die Prüfung der erforderlichen Standsicherheitsnachweise noch nicht abgeschlossen ist, hat die Antragsgegnerin die Baugenehmigung unter die aufschiebende Bedingung des Prüfungsfortschritts gestellt (S. 2 der Baugenehmigung). Im Übrigen hat sie klargestellt, dass der Bauherr selbst die Verantwortung für eventuelle Schäden durch Baugrundarbeiten trägt, und unter Hinweis auf § 12 NBauO ausgeführt, dass die Standsicherheit anderer baulicher Anlagen und die Tragfähigkeit des Baugrundes der Nachbargrundstücke nicht gefährdet werden dürfen (S. 4 der Baugenehmigung). Der Antragsteller hat auch keine Umstände dargelegt, die die Antragsgegnerin verpflichten könnten, in diesem Fall in der Baugenehmigung auch hinsichtlich der Errichtung des Vorhabens Vorgaben zu machen. Die Aussagen in der gutachterlichen Stellungnahme vom 4. Mai 2022 gehen nicht über die Risiken hinaus, die mit einem Bauvorhaben im historisch gewachsenen Bestand einer innerstädtischen Lage üblicherweise verbunden sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat orientiert sich im Ausgangspunkt ebenso wie das Verwaltungsgericht an Nr. 7 der seit dem 1. Juni 2021 geltenden Streitwertannahmen (NdsVBl. 2021, 247). Allerdings handelt es sich bei dem Gebäude L. AE. nach eigenen Angaben des Antragstellers um sein 2-geschossiges Einfamilienhaus, sodass dieses nicht mit dem Genehmigungswert einer Wohneinheit in einem Mehrfamilienhaus, sondern mit dem eines Einfamilienhauses in die Streitwertberechnung einzustellen ist. Die Änderung der verwaltungsgerichtlichen Festsetzung folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007290&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,940
ovgnrw-2022-10-07-9-b-93922
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
9 B 939/22
"2022-10-07T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:26"
"2022-10-17T11:11:08"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:1007.9B939.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf die Wertstufe bis 500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Annahme des Verwaltungsgerichts, an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Gebührenbescheids vom 20. April 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juni 2022 bestünden keine ernstlichen Zweifel i. S. d. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO, wird durch das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nicht durchgreifend in Frage gestellt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">1. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die Rechtmäßigkeit des Gebührenbescheids wegen der Nichtberücksichtigung von etwaigen Wasserschwundmengen ernstlich zweifelhaft ist. Das Verwaltungsgericht hat die Erfolgsaussichten der Klage insoweit als offen angesehen. Die insoweit zwischen den Beteiligten umstrittenen Fragen erforderten eine weitere Sachaufklärung in tatsächlicher Hinsicht durch das Gericht, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müsse. Die Beschwerde legt demgegenüber nicht dar, dass die satzungsmäßigen Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Wasserschwundmengen (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 4 der Satzung der Antragsgegnerin über die Erhebung von Kanalanschluss-Beiträgen, Abwassergebühren und Kostenersatz für Grundstücksanschlüsse vom 20. November 2015 - im Folgenden: BGS) ohne Zweifel vorliegen und es hierzu insbesondere keiner weiteren tatsächlichen Ermittlungen bedarf. Dass bei einem Ortstermin am 23. März 2021 auf dem Grundstück der Antragstellerin offenbar ein vorhandener „Abzugszähler“ von Mitarbeitern des Abwasserwerks der Antragsgegnerin abgelesen worden ist, reicht hierfür nicht aus. Unabhängig von der Frage, ob dieser „Zähler“ eine ordnungsgemäß funktionierende und geeignete Messeinrichtung im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 4 BGS ist, verhält sich die Beschwerde jedenfalls nicht zu den in dem Protokoll zum Ortstermin beschriebenen, offenbar bestehenden Unklarheiten in Bezug auf den Leitungsverlauf vom Abzugszähler bis zu der ‑ in erheblicher Entfernung liegenden ‑ Zapfstelle sowie in Bezug auf die Wasserversorgungssituation für den Außenbereich. Auf die unklare Wasserversorgungs- und im Übrigen auch Einbausituation hat die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren erneut hingewiesen, ohne dass die Antragstellerin sich hierzu geäußert oder eine Klärung herbeigeführt hätte.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">2. Ohne Erfolg bleibt der Einwand der Antragstellerin, Gegenstand des Gebührenbescheids seien auch Wassermengen, die augenscheinlich von Dritten verbraucht würden. Dem Vorbringen, es existiere eine Frischwasserleitung zum Grundstück H.          Straße 0a, aus der der Nachbar Wasser entnehme, lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die im Streit stehenden Schmutzwassergebühren dem Grunde oder der Höhe nach (teilweise) rechtswidrig festgesetzt worden wären. Dass die Antragstellerin Eigentümerin des an die Abwasseranlage angeschlossenen Grundstücks H.           Straße 0 in C.          ist und für dieses Grundstück über den Wasserzähler mit der Nr. 00000000 ein Frischwasserbezug von 569 m² für das Jahr 2021 ermittelt worden ist, stellt die Beschwerde nicht in Frage. Sollte die Antragstellerin mit dem von ihr bezogenen Frischwasser ‑ über auf ihrem Grundstück verlaufende Leitungen ‑ dritte Personen mit Wasser versorgen, lässt dies ihre Gebührenpflicht nicht entfallen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es der Antragstellerin als Grundstückseigentümerin selbst obliegt, bei der von ihr geschilderten Sachlage die Wasserversorgung nach dem Hauptwasserzähler in der von ihr gewünschten Weise zu begrenzen, insbesondere auf die alleinige Versorgung ihres Grundstücks. Der Einwand der Antragstellerin, es sei die Antragsgegnerin, die den Leitungsverlauf kenne und eine Entnahme verhindern könne, ist nicht nachvollziehbar. Weder erschließt sich, warum die Antragsgegnerin ‑ die dies verneint ‑ Kenntnis über den Leitungsverlauf auf einem privaten Grundstück haben sollte, noch, auf welcher rechtlichen Grundlage dieser eine Befugnis zukommen sollte, dem Nachbarn der Antragstellerin eine etwaige Wasserentnahme aus deren Leitung zu untersagen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">3. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt schließlich nicht die Annahme, dass die Klage gegen den Bescheid vom 20. April 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juni 2022 voraussichtlich insoweit (teilweise) Erfolg haben wird, als darin Niederschlagswassergebühren in Höhe von 595,98 Euro festgesetzt worden sind. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich namentlich nicht, dass die Antragstellerin voraussichtlich einen Anspruch auf eine Reduzierung der Niederschlagswassergebühren hätte. Der bloße Einwand der Beschwerde, dass auf dem Grundstück Wasserzisternen vorhanden seien und die Existenz der Zisterne(n) „unstreitig“ sei, ist nicht geeignet, die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Erfolgsaussichten der Klage seien insoweit offen, durchgreifend in Frage zu stellen. Das Verwaltungsgericht hat nicht nur das Vorhandensein von Regenwassertonnen und Zisternen auf dem Grundstück der Antragstellerin als ungeklärt angesehen. Es hat darüber hinaus die Erfolgsaussichten der Klage, soweit sie die Festsetzung der Niederschlagswassergebühren betrifft, deshalb als offen beurteilt, weil ohne genaue Kenntnisse der Verhältnisse vor Ort nicht beurteilt werden könne, ob die von der Antragstellerin angeführten Regenwassertonnen und Zisternen geeignet seien, den von ihr geltend gemachten nahezu vollständigen Entfall von abflusswirksamen Flächen im Sinne der entsprechenden Satzungsgrundlagen zu rechtfertigen. Dazu, dass die Voraussetzungen für eine Reduzierung der Niederschlagswassergebühren nach der einschlägigen Satzungsregelung (vgl. § 5 Abs. 3 BGS) vorliegen, verhält sich die Beschwerde aber nicht. Die Antragstellerin hat im Beschwerdeverfahren weder Angaben zur Art der Auffangbehälter bzw. der etwa vorhandenen Brauchwasseranlage gemacht noch dazu, dass diese Anlage den Regeln der Technik entspricht, ordnungsgemäß errichtet worden ist und ordnungsgemäß betrieben wird. Ebenso fehlen Angaben zu deren Fassungs- und Mindestrückhaltevolumen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,935
vg-hannover-2022-10-07-12-b-354622
{ "id": 615, "name": "Verwaltungsgericht Hannover", "slug": "vg-hannover", "city": 325, "state": 11, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
12 B 3546/22
"2022-10-07T00:00:00"
"2022-10-15T10:00:49"
"2022-10-17T11:11:07"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers 12 A 3545/22 gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2022 wird angeordnet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die aufschiebende Wirkung seiner Klage 12 A 3545/22 gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2022 anzuordnen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht gestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Antrag ist auch begründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Das Gericht kommt im Rahmen seiner nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffenden Abwägungsentscheidung zu dem Ergebnis, dass das private Interesse des Antragstellers, bis zu einer Entscheidung im Klageverfahren im Bundesgebiet bleiben zu dürfen und nicht nach Polen abgeschoben zu werden, das öffentliche Interesse am Sofortvollzug der Abschiebungsanordnung überwiegt. Die Interessenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus, weil nach der im vorliegenden Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zumindest offen ist, ob die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 25.07.2022 einer Prüfung im Hauptsacheverfahren standhalten wird und die Folgen einer sofortigen Vollziehung möglicherweise schwerwiegende Nachteile für den Antragsteller hätten, die nicht oder nur schwer rückgängig zu machen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützt. Danach ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Für das Asylverfahren des Antragstellers war nach Art. 13 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) zunächst Polen zuständig. Der Antragsteller hatte sich vor seiner Einreise nach Deutschland zuletzt in Polen aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt. Polen hat mit Schreiben vom 20.07.2022 erklärt, den Antragsteller gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) Dublin III-VO wiederaufzunehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Es spricht jedoch vorliegend Einiges dafür, dass die Zuständigkeit Polens nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Eine Überstellung des Antragstellers nach Polen könnte gegenwärtig unzulässig sein, weil es im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für ihn dort systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta mit sich bringen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung bzw. dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gilt zwar zunächst die Vermutung, dass in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der EMRK und der EU-Grundrechte-Charta in Einklang steht. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründet jedoch nur eine Vermutung, welche durch den substantiierten Vortrag von Umständen widerlegt werden kann, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechte-Charta droht. Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris Rn. 6; VGH BaWü, Urt. vom 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 41; EuGH, Urt. vom 21.12.2011 - C- 411/10, C-493/10 -, juris Rn. 80). Diese Grundsätze konkretisierend hat der Europäische Gerichtshof in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 EU-Grundrechte-Charta zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem Europäischen Gerichtshof dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese – Situationen – nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. dazu insgesamt EuGH, Urt. vom 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 91 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechte-Charta kann allerdings auch in der Inhaftierung eines Asylbewerbers liegen (vgl. VG Hannover, Beschl. vom 23.02.2022 - 12 B 6475/21 -, juris Rn. 8). Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind. Die Beurteilung des Vorliegens eines Mindestmaßes an Schwere ist der Natur der Sache nach relativ. Sie hängt von allen Umständen des Falles ab, wie der Dauer der Behandlung, ihren physischen und mentalen Auswirkungen und in einigen Fällen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Rufen die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit Gefühle der Willkür und die damit oft verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und der Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person hervor, verstoßen sie gegen Art. 3 EMRK (vgl. EGMR, Urt. vom 21.01.2011 - 30696/09 -, juris Rn. 216, 219, 221, 233). Für die Frage, ob die angegriffenen Haftbedingungen als erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK anzusehen sind, fällt der extreme Mangel an persönlichem Raum stark ins Gewicht. Daneben sind andere Aspekte der physischen Haftbedingungen – etwa der Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht oder Luft, die Verfügbarkeit von Belüftung und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Anforderungen – relevant (vgl. EGMR, Urt. vom 11.03.2021 - 6865/19 -, Rn. 82 f., vom 20.10.2016 - 7334/13 -, Rn. 103 ff., vom 10.01.2012 - 42525/07 und 60800/08 -, Rn. 143 ff. und vom 21.01.2011 - 30696/09 -, Rn. 222).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Nach diesen Maßgaben liegen inzwischen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Polen seit dem vergangenen Sommer systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen könnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Als Reaktion auf den massiven Anstieg der Anzahl von Asylbewerbern (ausgelöst durch die Grenzübertritte von Migranten aus Belarus kommend) hat Polen im letzten Jahr die Zahl der „bewachten Zentren für Ausländer“ von 6 auf 9 und die Zahl der Plätze von 628 auf 2.256 bzw. 2.308 erhöht (European Council on Refugees an Exiles (ecre), Asylum Information Database (AIDA), Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 88 und 104; Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022). Nach den Regularien Polens werden Asylbewerber in einer solchen Gewahrsamseinrichtung untergebracht, wenn Alternativen nicht in Betracht kommen und ein Grund für die Inhaftierung vorliegt (vgl. zu den einzelnen Gründen AIDA, Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 90f.). Es besteht jedoch der Eindruck, dass die Inhaftierung nicht als letztes Mittel eingesetzt und oft automatisch angewandt oder verlängert wird (AIDA, Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 91; US State Departement vom 12.04.2022,https://www.ecoi.net/de/dokument/2071352.html). So hat der seit Juli 2021 amtierende, vom polnischen Parlament gewählte Ombudsmann Marcin Wiącek, der für die Einhaltung der Menschenrechtsstandards in Polen zuständig ist, in einem Schreiben vom 25.01.2022 an den Präsidenten des Bezirksgerichts Krosno ausgeführt, dass „trotz der im polnischen Recht vorhandenen Alternativen zur Inhaftierung von Ausländern, die internationalen Schutz suchen, in der Regel diese ultima ratio-Maßnahme angewandt“ werde (Marcin Wiącek, https://bip.brpo.gov.pl/sites/default/files/2022-02/RPO_sad_25.1.2022.pdf, Übersetzung aus dem Polnischen durch Deepl.com). Zuständig ist der polnische Grenzschutz, der die Gewahrsamseinrichtungen leitet und die örtlichen Bezirksgerichte um Anordnung zur Unterbringung unter Haftbedingungen ersucht und damit in der Regel Erfolg hat (Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022). Auch eine Verlängerung über die ersten drei Monate Unterbringung hinaus erfolgt von den Gerichten „automatisch“ (US State Departement vom 12.04.2022,https://www.ecoi.net/de/dokument/2071352.html), was dazu führt, dass viele Asylbewerber monatelang in diesen Einrichtungen untergebracht sind (Pro Asyl, Wer ein Asylgesuch stellt, wird eingesperrt (Interview mit der polnischen Rechtsanwältin Maria Poszytek), 16.08.2022; Pro Asyl, Im Flüchtlingsgefängnis von Białystok, 20.07.2022). Zudem ist zu erwarten, dass auch Asylbewerber wie der Antragsteller, die nach der Dublin III-Verordnung nach Polen rücküberstellt werden, in solchen Gewahrsamseinrichtungen untergebracht werden (AIDA, Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 90f.; Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Das oben angeführte Schreiben des polnischen Ombudsmanns Marcin Wiącek vom 25.01.2022 lässt befürchten, dass sich die Unterbringungssituation in den Gewahrsamseinrichtungen als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 EU-Grundrechte-Charta darstellt. Anlass für eine gezielte Recherche zu dem nur in polnischer Sprache abrufbaren Schreiben hat für die Kammer erst der Bericht von Pro Asyl vom 28.07.2022 gegeben, weshalb sie ihre Rechtsprechung zu Rückführungen nach Polen nun ändert (vgl. zuvor die Beschl. vom 25.02.2022 - 12 B 124/22 - n.v., und 15.06.2022 - 12 B 2204/22 - n.v.; vgl. zur jüngeren Rechtsprechung im Übrigen VG Minden, Beschl. vom 05.09.2022 - 12 L 599/22.A - und 02.08.2022 - 12 L 548/22.A -, beide in juris; VG Köln, Beschl. vom 31.08.2022 - 22 L 913/22.A -, juris insb. Rn. 38; VG Düsseldorf, Beschl. vom 10.08.2022 - 12 L 1303/22.A -, juris; VG Dresden, Beschl. vom 27.06.2022 - 3 L 397/22.A -, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>In dem Schreiben führt Wiącek aus, dass nach unangekündigten Besuchen in bewachten Zentren für Ausländer Anlass zu ernsten Bedenken im Zusammenhang mit möglichen Verstößen gegen den Grundsatz der Achtung der Menschenwürde bestünde. „Die Überbelegung der Zentren, die schlechten Lebens- und Hygienebedingungen und die unzureichende Durchsetzung der Rechte der dort inhaftierten Personen“ könnten seiner Meinung nach „zu einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“. Weiter weist Wiącek darauf hin, dass die Mindestfläche pro Person in einem bewachten Zentrum derzeit 2 qm betrage und dies internationalen Standards nicht entspreche. In manchen Gewahrsamseinrichtungen genügten zudem die Sanitäranlagen nicht für die Zahl der untergebrachten Asylbewerber. Im Zentrum von Kętrzyn seien in Containern untergebrachte Personen zudem dazu gezwungen, im Freien mehrere hundert Meter zu Fuß zurückzulegen, um zur Toilette zu gelangen. Wiącek hebt hervor, dass auch Ausländer mit Gewalt- und Traumaerfahrungen sowie Personen in schlechtem psycho-physischem Zustand inhaftiert seien, obwohl in deren Personaldokumenten auf diese Gründe hingewiesen und diese die Unterbringung in einem bewachten Zentrum nach dem Ausländergesetz Polens ausgeschlossen hätten. Dazu bestünden schwerwiegende Mängel in der psychologischen und medizinischen Betreuung der inhaftierten Ausländer, welche bereits vor der Krise an der polnisch-weißrussischen Grenze festgestellt worden seien. Die benannte Krise habe zu einer Überbelegung der Haftanstalten für Ausländer geführt, die „diesen ohnehin schon schlechten Zustand noch dramatisch verschlimmert habe“. Aus den Ergebnissen der Besuche seiner Vertreter in den Zentren gehe hervor, dass „die Häufung zusätzlicher Nachteile, die sich aus den Haftbedingungen und der Dauer der Haft ergeben“ würden, „die Definition einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erfüllen“ könne (Marcin Wiącek, https://bip.brpo.gov.pl/sites/default/files/2022-02/RPO_sad_25.1.2022.pdf, Übersetzung aus dem Polnischen durch Deepl.com).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Die Ausführungen des vom polnischen Parlament gewählten Ombudsmannes Wiącek basieren nicht nur auf Überprüfungen der Gewahrsamseinrichtungen vor Ort durch den Ombudsmann und dessen Vertreter, sondern stimmen auch mit weiteren Erkenntnissen überein. So ist die Feststellung Wiąceks, dass in manchen Einrichtungen für jede Person nur noch zwei Quadratmeter zur Verfügung stehen, was in Polen seit August 2021 in „Krisenfällen“ gesetzlich zugelassen ist, aber EU-Standards widerspricht, mehreren weiteren Quellen ebenfalls zu entnehmen (vgl. Pro Asyl, Wer ein Asylgesuch stellt, wird eingesperrt (Interview mit der polnischen Rechtsanwältin Maria Poszytek), 16.08.2022; Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022; DW, Verloren im Niemandsland: Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze, 07.07.2022, https://www.dw.com/de/verloren-im-niemandsland-fl%C3%BCchtlinge-an-der-belarussisch-polnischen-grenze/a-62349252; taz, „Sie behandeln uns wie Tiere“, 07.06.2022, www.taz.de/Streik-in-polnischen-Internierungslagern; Global Detention Project, März 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2072891.html; Children and torture-victims in Polish detention, MEPs told, https://euobserver.com/migration/154320). Darüber hinaus ist bekannt geworden, dass Asylbewerber in manchen Gewahrsamseinrichtungen für ihr Essen zu jeder Jahreszeit im Freien anstehen müssen (Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022). Dies hat auch der Antragsteller angegeben, der in Białystok untergebracht war. Er hat zudem berichtet, dass sie ihr Essen zurück in ihren Raum hätten tragen müssen, weshalb das warme Essen je nach Wegeslänge beim Verzehr bereits wieder kalt gewesen sei. Dazu erweckt die bauliche Gestaltung einiger Zentren mit dicken Mauern, Gittern an den Fenstern und auf den Fluren und umschlossen von mit Stacheldraht bewehrten hohen Mauern den Eindruck einer sehr gefängnisähnlichen Umgebung (AIDA, Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 104f.; Pro Asyl, Im Flüchtlingslager von Białystok, 20.07.2022). In der Gewahrsamseinrichtung Białystok sind die einzelnen Stockwerke eines Gebäudes verschlossen und können nur vom Sicherheitspersonal geöffnet werden (Pro Asyl, Im Flüchtlingslager von Białystok, 20.07.2022). Die stellvertretende Kommissarin für Menschenrechte in Polen, Hanna Machińska, hat in einer Anhörung vor dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten des EU-Parlaments Anfang Februar 2022 die Zustände in der Gewahrsamseinrichtung in Wędrzyn als unhaltbar bezeichnet (Children and torture-victims in Polish detention, MEPs told, https://euobserver.com/migration/154320; vgl. Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Auch die Aussage Wiąceks, dass die medizinische und psychologische Betreuung in den Einrichtungen bei weitem nicht ausreiche, wird anderweitig gestützt: Psychologen, medizinisches Personal und Angehörige von NGOs werden nur beschränkt oder gar nicht in die Gewahrsamseinrichtungen gelassen, kranke Asylbewerber jedoch auch nicht an örtliche Ärzte oder Krankenhäuser überwiesen (Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022; taz, „Sie behandeln uns wie Tiere“, 07.06.2022, taz.de/Streik-in-polnischen-Internierungslagern). Der Bruder des Antragstellers hat in dessen Anhörung beim Bundesamt angegeben, er sei insgesamt fünfmal in Polen gewesen, um zu erreichen, dass eine Wunde am Kopf des Antragstellers medizinisch versorgt werde. Selbst das Angebot von 5.000 Euro als Bürgschaft habe nicht dazu geführt, dass der Antragsteller in einem Krankenhaus behandelt worden sei. Dem Antragsteller waren von einem Arzt der Gewahrsamseinrichtung zur Behandlung der offenen Wunde lediglich Schmerzmittel verabreicht worden. Die in den Einrichtungen Białystok und Lesznowola untergebrachten Asylbewerber werden schließlich nicht mit ihrem Namen, sondern mit einer Nummer angesprochen, was von ihnen als erniedrigend empfunden wird (Pro Asyl, Im Flüchtlingslager von Białystok, 20.07.2022; taz, „Sie behandeln uns wie Tiere“, 07.06.2022, taz.de/Streik-in-polnischen-Internierungslagern).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Angesichts der im Hauptsacheverfahren mindestens offenen Erfolgsaussichten für die Klage gegen die Abschiebungsanordnung und der Schwere der dem Antragsteller möglicherweise drohenden Rechtsbeeinträchtigungen, die nicht oder nur schwer rückgängig zu machen wären, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtkostenfrei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007326&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
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ovgnrw-2022-10-06-9-a-179521
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9 A 1795/21
"2022-10-06T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:27"
"2022-10-17T11:11:08"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:1006.9A1795.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 50.000 Euro festgesetzt.</p> <h1> </h1><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Das ist hier nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Aus den im Zulassungsverfahren dargelegten Gründen ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der Bescheid des BfArM vom 30. November 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2018, mit dem festgestellt worden ist, dass es sich bei dem Produkt „T.    der T1.      C.   T2.          “ um ein Medizinprodukt handelt, sei rechtmäßig. Denn das Solewasser erreiche seine Wirkung insbesondere bei degenerativen und funktionellen Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen, entzündlich-rheumatischen Erkrankungen sowie zur Behandlung von Atemwegs- und peripheren arteriellen Verschlusskrankheiten primär auf physikalischem bzw. mechanischem Weg. Die medizinische Zweckbestimmung werde demgegenüber nicht primär durch einen pharmakologischen bzw. metabolischen Wirkmechanismus ausgelöst. Eine primär pharmakologische bzw. metabolische Wirkweise werde insbesondere durch die von der Klägerin vorgelegten Gutachten des Prof. Dr. H.            nicht hinreichend dargelegt und nachgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Diese Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die bestimmungsgemäße Wirkung der streitgegenständlichen T.    primär auf physikalischem bzw. mechanischem und nicht primär auf pharmakologischem oder metabolischem Weg erreicht wird, wird durch das Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">a. Die Einwände der Klägerin, die kohlensäurehaltige T.    ‑ gemeint sind wohl die Heilwässer aus den Heilquellen „Solebohrung 14“ und „Solebohrung 18“ ‑ werde definitionsgemäß im oder am menschlichen Körper arzneilich angewendet und Ziel und Wille des Herstellers sei eine arzneiliche Anwendung, greifen nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass es für die Abgrenzung von stofflichen Medizinprodukten und Arzneimitteln maßgeblich auf die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des Produkts ankommt. Dass das Produkt am menschlichen Körper angewendet wird und mit welchem Ziel und Willen des Herstellers dies geschieht, ist für die Abgrenzung hingegen nicht entscheidend.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">b. Aus dem Zulassungsvorbringen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die bestimmungsgemäße Hauptwirkung der kohlensäurehaltigen T.    nicht physikalisch, sondern ‑ im Sinne der vom Verwaltungsgericht zutreffend unter Rückgriff auf die sog. „Borderline-Leitlinie“ gegebenen Begriffsbestimmungen,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 30. August 2022 ‑ 9 A 1294/17 ‑, juris Rn. 50 ff., ‑</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">pharmakologisch bzw. metabolisch ist.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin führt in der Zulassungsbegründung selbst aus, dass die kohlensäurehaltige T.    „zweifellos auch“ physikalische Wirkungen habe. Davon ausgehend, legt sie aber nicht in Auseinandersetzung mit der Auffassung des Verwaltungsgerichts zur Wirkung des in der T.    enthaltenen CO<sub>2</sub> dar, dass und warum eine (etwaige) pharmakologische Wirkung gleichwohl die bestimmungsgemäße Hauptwirkung sein soll.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass zwischen den Beteiligten zwar unstreitig sein dürfte, dass das Kohlenstoffdioxid eine irgendwie geartete Wirkung auf die glatten Muskelzellen der Gefäßwand habe, was u. a. zu einem gesteigerten Blutfluss führen solle. Welcher pharmakologische bzw. metabolische Wirkmechanismus hierfür ursächlich sein solle, werde in dem Gutachten des Prof. Dr. H.            vom 25. Januar 2019 jedoch nicht ausreichend beschrieben und habe auch in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar dargelegt werden können. Für einen pharmakologischen Wirkmechanismus könne zwar die in der Wissenschaft beschriebene Dosis-Wirkungs-Relation sprechen. Dies allein sei jedoch nicht ausreichend, um eine arzneiliche Wirkung der T.    zu belegen. Im Übrigen bleibe auch unklar, ob die durch das Kohlenstoffdioxid vermutlich ausgelösten Effekte die Hauptwirkungsweise darstellten, oder ob das Kohlenstoffdioxid insoweit nur eine unterstützende Wirkung entfalte. Dabei sei einerseits zu berücksichtigen, dass das Kohlenstoffdioxid nicht bei allen von der Klägerin in Anspruch genommenen Indikationen wirken solle. Andererseits führten auch Wärme und Druck zu einer Erweiterung der Gefäße und einer Umverteilung des Blutvolumens, so dass die klinischen Effekte auch hierauf zurückzuführen sein könnten.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit diesen Erwägungen setzt sich die Zulassungsbegründung nicht substantiiert auseinander. Der Hinweis auf die „wissenschaftlich international abgesichert(e)“ „arzneiliche Wirkung“ von „CO<sub>2</sub> Gehalten von über 400 mg/l“ geht an der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vorbei. Das Verwaltungsgericht hat weder die therapeutische Wirksamkeit eines Solebades verneint noch grundsätzlich die Möglichkeit einer (auch) pharmakologischen Wirkung von CO<sub>2</sub>-haltiger T.    ausgeschlossen. Zu dem Argument des Verwaltungsgerichts, es fehle an der Beschreibung des ursächlichen Wirkmechanismus, verhält sich das Zulassungsvorbringen nicht. Es zeigt auch keine Anhaltspunkte dafür auf, dass eine (mögliche) pharmakologische Wirkung die bestimmungsgemäße Hauptwirkung der streitgegenständlichen T.    sein könnte und nicht die ‑ auch nach dem Vorbringen der Klägerin unstreitig vorhandene ‑ physikalische Wirkung, etwa durch Auftrieb und Wassertemperatur, die, so das Verwaltungsgericht, ebenfalls zu einer Erweiterung der Gefäße und einer Umverteilung des Blutvolumens führe. In diesem Zusammenhang fehlt es auch an einer Auseinandersetzung mit dem Argument des Verwaltungsgerichts, dass dem Kohlenstoffdioxid bei einigen von der Klägerin in Anspruch genommenen Indikationen offenbar gar keine Wirkung zukomme.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das weitere Vorbringen, das Verwaltungsgericht habe Sachvortrag der Klägerin „in Bezug auf weitere besondere Wirkungen“ übergangen, und der darauffolgende Hinweis auf Therapieerfolge durch serielle Anwendung (der Solebäder), ist nicht nachvollziehbar. Diese Ausführungen, mit denen offenbar die therapeutische Wirksamkeit von Solebädern angesprochen wird, lassen keinen Zusammenhang zu der Frage nach der bestimmungsgemäßen Hauptwirkung der streitgegenständlichen T.    erkennen. Insbesondere ergibt sich daraus nichts für eine etwaige pharmakologische oder metabolische Hauptwirkung der T.    .</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">c. Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand der Klägerin, in der Therapie-Wanne spiele der immer wieder angeführte Auftrieb wegen der geringen Wassertiefe keine große Rolle und die Temperatur des Bades müsse wegen der begrenzten Löslichkeit des CO<sub>2</sub> im Wasser in engen Grenzen bleiben. Die physikalische Wirkung der T.    durch hydrostatischen Druck, Auftrieb und Wärme wird damit nicht in Frage gestellt. Ebenso wenig ergeben sich aus den genannten Umständen ‑ unter Berücksichtigung der oben unter b. gemachten Ausführungen ‑ Anhaltspunkte für eine pharmakologische oder metabolische Hauptwirkung der kohlesäurehaltigen T.    . Dass der Kohlesäuregehalt des Wassers im C.   nicht die „Wirkschwelle“ erreiche und deshalb nicht von einer (auch möglichen) pharmakologischen Wirkung auszugehen wäre, hat das Verwaltungsgericht nicht angenommen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">2. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon zeigt die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht auf. Es fehlt bereits an der Formulierung einer entsprechenden Rechts- oder Tatsachenfrage. Dem Vorbringen, das vorliegende Verfahren sei „von grundsätzlicher Bedeutung für die deutschen Kurorte und Heilbäder“, lässt sich eine klärungsbedürfte Frage auch nicht sinngemäß entnehmen. Entsprechendes gilt für das weitere Vorbringen, das Verwaltungsgericht habe sich nicht, wozu es aber gehalten gewesen wäre, „mit den besonderen Therapien der Balneologie, und hier auch des CO<sub>2</sub>“, konkret und entscheidungserheblich auseinandergesetzt. Abgesehen davon trifft dieses Vorbringen nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat sich ausführlich unter Berücksichtigung des Gutachtens vom 25. Januar 2019 mit der Wirkung des CO<sub>2</sub> auseinandergesetzt. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang schließlich meint, bei einer Einstufung der streitgegenständlichen T.    als Medizinprodukt könnten „Anwendungen arzneilicher Art“, bei denen es sich um natürliche nebenwirkungsfreie nachhaltige Therapien handele, in Zukunft nicht mehr angeboten werden, sei darauf hingewiesen, dass es ihr unbenommen bleibt, ihr Produkt als Medizinprodukt zertifizieren zu lassen. Eine über den vorliegenden Einzelfall hinaus klärungsfähige und ‑bedürftige Frage lässt sich auch den Ausführungen zur grundsätzlichen Bedeutung in der weiteren ‑ ohnehin nach Fristablauf eingegangenen ‑ Antragsbegründung vom 18. März 2022 nicht entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich legt die Klägerin nicht dar, dass das angefochtene Urteil im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO auf einem Verfahrensfehler beruht.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin rügt, dass während der mündlichen Verhandlung aus Corona-bedingten Gründen im Sitzungssaal ein Luftreiniger gelaufen sei, dessen Lärmwirkung es nicht zugelassen habe, dass auch in den hinteren Platzbereichen alles genau habe verstanden werden können. Bei klarem Wort hätten die Beistände antworten können. Das gelte auch für die sachkundige Person Prof. L.        , der ein Hörgerät trage. Dieser Mangel habe zu dem negativen Ergebnis geführt. Damit ist ein ‑ der Sache nach geltend gemachter ‑ Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) schon deshalb nicht aufgezeigt, weil die bereits erstinstanzlich anwaltlich vertretene Klägerin nicht darlegt, dass sie alles ihr in der konkreten Situation Mögliche und Zumutbare unternommen hätte, einen etwaigen Gehörsverstoß abzuwenden. Weder aus dem Protokoll zur mündlichen Verhandlung noch aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich, dass sie etwa darauf hingewiesen hätte, dass sie oder ihre Beistände die Erörterung der Sach- und Rechtslage akustisch nicht verstehen könnten. Soweit die Klägerin anführt, aufgrund der Platzierung im Sitzungssaal habe sie erst nach der mündlichen Verhandlung von den akustischen Problemen erfahren, zeigt sie nicht auf, dass es den Beiständen nicht möglich gewesen wäre, diese rechtzeitig zu signalisieren.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus ist dem Vorbringen nicht zu entnehmen, dass die Klägerin, deren Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung anwesend war, in der Verhandlung nicht ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt tatsächlich und rechtlich zu äußern. Die Klägerin legt zudem nicht dar, was sie bzw. ihre Beistände bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten. Vielmehr räumt sie insoweit selbst ein, dass sich die Ausführungen zur „Wirkung des CO<sub>2</sub> und die Anwendungsbereiche“ allesamt bereits in ihrem schriftlichen Vorbringen fänden. Dass das Verwaltungsgericht den Ausführungen der Klägerin nicht folgt, verletzt nicht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
346,941
ovgnrw-2022-10-06-9-a-179421
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
9 A 1794/21
"2022-10-06T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:26"
"2022-10-17T11:11:08"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:1006.9A1794.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 50.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Das ist hier nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Aus den im Zulassungsverfahren dargelegten Gründen ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der Bescheid des BfArM vom 30. November 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. August 2018, mit dem festgestellt worden ist, dass es sich bei dem Produkt „N.    der T.      C.  T1.          “ um ein Medizinprodukt handelt, sei rechtmäßig. Denn das N.    erreiche seine Hauptwirkung bei der Anwendung in Form von Moorwannenbädern, Moorpackungen und Moorkneten zur Behandlung von u. a. chronisch-entzündlichen Erkrankungen des Bewegungsapparates, zur Schmerzlinderung bei funktionellen, degenerativen und entzündlichen Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen sowie zur Behandlung von rheumatischen Beschwerden primär auf physikalischem bzw. mechanischem Weg. Die medizinische Zweckbestimmung werde demgegenüber nicht primär durch einen pharmakologischen bzw. metabolischen Wirkmechanismus ausgelöst. Eine primär pharmakologische bzw. metabolische Wirkweise werde insbesondere durch die von der Klägerin vorgelegten Gutachten nicht hinreichend belegt. Belegt und gut bekannt seien hingegen die vor allem thermophysikalischen Eigenschaften des Torfes bzw. des Moors der Klägerin.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Diese Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des streitgegenständlichen Moors primär auf physikalischem bzw. mechanischem und nicht primär auf pharmakologischem oder metabolischem Weg erreicht wird, wird durch das Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">a. Die im Gutachten von Prof. Dr. H.            vom 27. August 2013 beschriebenen Effekte der (seriellen) Anwendung des Moors hat das Verwaltungsgericht nicht bezweifelt. Es hat allerdings ‑ unter Wiedergabe der entsprechenden Aussagen im Gutachten ‑ angenommen, dass der Gutachter diese Effekte vor allem auf die thermophysikalischen Eigenschaften des Torfes bzw. des Moors der Klägerin zurückführe, das Gutachten mithin gerade ein Beleg für die (thermo-)physikalischen Eigenschaften des Torfes bzw. des Moors der Klägerin sei. Der Gutachter stelle fest, dass die physikalischen Eigenschaften der Peloide von entscheidender Bedeutung für ihre therapeutischen Effekte seien. Im Verhältnis zu den Ausführungen zu den physikalisch-mechanischen Wirkungsweisen behandele das Gutachten potentielle arzneiliche Wirkungen nur ganz marginal unter dem Punkt 3.1.2 („Chemische Wirkungen“). Die dortigen Ausführungen seien jedoch sehr vage und belegten keinen arzneilichen, insbesondere pharmakologischen Wirkmechanismus.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass diese Auffassung unzutreffend sein könnte, weil das Verwaltungsgericht die Aussagen des Gutachtens fehlerhaft gewürdigt oder das Gutachten nicht vollständig zur Kenntnis genommen hätte. Die Klägerin zeigt namentlich nicht auf, dass dem Gutachten entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu entnehmen wäre, die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des streitgegenständlichen Moors werde auf pharmakologischem oder metabolischem statt auf thermophysikalischem Weg erzielt. Aus der in der Zulassungsbegründung insoweit allein (und nicht vollständig) wiedergegebenen Passage aus dem Gutachten, wonach der streitgegenständliche Torf eine Mischung aus organischen (Huminsäuren, Lignine, Zellulosen u. a.) und anorganischen Stoffen (Elektrolyte) sei und „die spezifische Konsistenz mit ihren charakteristischen thermophysiologischen Eigenschaften (…) ein Mittel“ darstelle, „das bei bestimmten Anwendungsformen physiologische und metabolische Wirkungen entfalten kann“ (vgl. S. 17 des Gutachtens), ergibt sich Derartiges nicht. Dem letzten Halbsatz lässt sich nicht die Aussage entnehmen, die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des streitgegenständlichen Moors sei ‑ im Sinne der vom Verwaltungsgericht zutreffend unter Rückgriff auf die sog. „Borderline-Leitlinie“ gegebenen Begriffsbestimmung,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 30. August 2022 ‑ 9 A 1294/17 ‑, juris Rn. 50 ff., ‑</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">metabolisch. Abgesehen davon, dass sich der Satz ohnehin nur im Rahmen der von dem Gutachter vorgenommenen rechtlichen Beurteilung („Beurteilung nach Maßgabe des Arzneimittelgesetzes“) findet, die aber dem Gericht vorbehalten ist, fehlt es in dem Gutachten in diesem Zusammenhang an weiteren Ausführungen zu der angesprochenen möglichen metabolischen Wirkung. Dass sich aus den vorhergehenden Ausführungen, insbesondere zu den Eigenschaften und Wirkungen der therapeutischen Peloide, eine primär metabolische Wirkung des streitgegenständlichen Moors ergibt, zeigt die Zulassungsbegründung nicht auf. Sie setzt sich auch nicht mit der Auffassung des Verwaltungsgerichts auseinander, dass das Gutachten vor allem die thermophysikalischen Eigenschaften therapeutischer Peloide beschreibe.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">b. Ohne Erfolg verweist die Klägerin auf das Gutachten von Prof. C1.    vom 28. Juni 2018 und auf die darin beschriebene Permeation von Torfinhaltsstoffen durch die menschliche Haut. Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass auch dieses Gutachten zunächst bestätige, dass es sich bei den sog. allgemeinen Wirkungen mit großer Wahrscheinlichkeit auch um Folgen der Wärmewirkung auf den Organismus handele. Daneben habe Torf dem Gutachten zufolge aber auch eine Reihe chemischer Wirkungen. Die in dem Gutachten als Begründung angeführten Versuche aus dem Jahr 2003, bei denen nachgewiesen worden sei, dass bestimmte Torfinhaltsstoffe durch die Haut permeieren könnten und dass diese eine Reaktion auf der glatten Muskulatur eines Meerschweinchenmagens hervorriefen, könnten allerdings nicht als hinreichender Beleg für eine pharmakologische Wirkweise des Torfes speziell der Klägerin angesehen werden. Die Ergebnisse des Versuches könnten aus mehreren Gründen nicht auf die Anwendung des klägerischen Moors unter realen Bedingungen übertragen werden. Zunächst habe es sich nur um einen in-vitro-Versuch an einem Gewebeprodukt eines Tieres gehandelt, der allenfalls Ausgangspunkt für weitere Prüfungen sein könne. Zudem sei der Versuch nicht mit dem Torf der Klägerin durchgeführt worden, wobei der Gutachter selbst ausführe, dass es etwa 30 bis 50 verschiedene Torfarten gebe, die sich in ihrer inhaltlichen Zusammensetzung unterschieden. Schließlich spreche auch die Versuchsanordnung (Permeation sechs Stunden lang; Wirkungen der permeierten Fraktionen der Torfinhaltsstoffe auf die glatte Muskulatur eines Meerschweinchenmagens) gegen eine Übertragbarkeit der Untersuchungen auf reale Verhältnisse (Dauer eines Moorbads nicht länger als eine Stunde) und die Anwendung am Menschen, zumal sich beim Menschen unter der Haut zunächst auch keine glatte, sondern quergestreifte Muskulatur befinde.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit dieser Begründung setzt sich die Zulassungsbegründung nicht substantiiert auseinander. Sie geht bereits nicht auf die Feststellung des Verwaltungsgerichts ein, dass auch dieses Gutachten physikalische Wirkungen beschreibe. Vielmehr räumt die Klägerin selbst ein, dass das N.    seine Wirkungen „natürlich auch“ auf physikalischem Weg erreiche. Dazu, dass und warum eine pharmakologische Wirkung ‑ eine solche Wirkung im Sinne des Gutachtens vom 28. Juni 2018 nebst den ergänzenden Ausführungen des Gutachters vom 15. Januar 2019 unterstellt ‑ gleichwohl die bestimmungsgemäße Hauptwirkung sein soll, verhält sich die Zulassungsbegründung nicht. Mit Blick auf die in dem Gutachten neben den thermophysikalischen Wirkungen angesprochenen (chemischen) Wirkungen biologischer Substanzen aus dem N.    auf die Alpha2-Adreno-, die D2-Dopamin- und die H1-Histaminrezeptoren hat das Verwaltungsgericht, anders als mit der Zulassungsbegründung behauptet, die Annahme einer pharmakologischen Hauptwirkung nicht allein mit dem „in-vitro Versuch an einem Tier (…) kurzer Hand abgetan“. Abgesehen von der fehlenden Vergleichbarkeit mit der Anwendung am Menschen hat das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass der Versuchsaufbau nicht den realen Verhältnissen bei der Anwendung des Moors am Menschen entspreche. Auch hierzu verhält sich die Zulassungsbegründung nicht.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">c. Der weitere Einwand der Klägerin, das Verwaltungsgericht verweise die „Fülle der Wirkbereiche“ ohne Auseinandersetzung mit den von ihr vorgelegten wissenschaftlichen Gutachten und ohne nachvollziehbare Begründung in den physikalischen Bereich, trifft nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat alle von der Klägerin angeführten Gutachten berücksichtigt, auch den Forschungsbericht von Sagorchev und Lukanov vom 15. Januar 2019, diese zum Teil inhaltlich wiedergegeben, gewürdigt und begründet, warum es ihnen jeweils keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine pharmakologische oder metabolische Hauptwirkung des streitgegenständlichen Moors entnehmen kann. Die therapeutischen Wirkungen des Moors hat es im Übrigen nicht in Frage gestellt.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das wäre nur dann der Fall, wenn die Angriffe der Klägerin gegen die Tatsachenfeststellungen oder die rechtlichen Würdigungen, auf denen das angefochtene Urteil beruht, begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung gäben, die sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren klären ließen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern würden. Dass der Ausgang des Rechtsstreits in diesem Sinne offen ist, lässt sich auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht feststellen. Wie oben unter 1. ausgeführt, stellt die Klägerin die Richtigkeit des Urteils mit ihren Einwänden nicht ernsthaft in Frage.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand der Klägerin, die Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts aus den vorgelegten Gutachten seien nicht nachvollziehbar und es hätte „angesichts der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Materie nahe gelegen, einen gerichtlich bestellten Gutachter hinzu zu ziehen“, zeigen besondere Schwierigkeiten im oben genannten Sinne ebenfalls nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Sollte die Klägerin mit diesem Vorbringen den Zulassungsgrund eines Verfahrensfehlers ‑ in Gestalt eines Aufklärungsmangels (§ 86 Abs. 1 VwGO) ‑ gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend machen wollen, liegt dieser nicht vor. Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts erst dann, wenn es von einer weiteren Sachverhaltsermittlung oder Beweiserhebung absieht, die sich ihm ‑ ausgehend von seinem materiell-rechtlichen Standpunkt ‑ auch ohne einen ausdrücklich gestellten Beweisantrag hätte aufdrängen müssen oder sonst geboten gewesen wäre.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. März 2017 - 9 A 232/15 -, juris Rn. 53; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 124 Rn. 191.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf. Einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens oder auf Vernehmung eines Sachverständigen hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht gestellt. Da mehrere (balneologische) Gutachten bzw. gutachterliche Stellungnahmen bereits vorlagen, musste sich dem Verwaltungsgericht die Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens auch nicht aufdrängen ‑ zumal die Klägerin im Klageverfahren selbst mitgeteilt hatte, dass sie angesichts der vorliegenden Gutachten „die Einholung eines weiteren Expertenurteils“ für entbehrlich halte (vgl. S. 11 des Schriftsatzes vom 20. Februar 2019).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">3. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon zeigt die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht auf. Es fehlt bereits an der Formulierung einer entsprechenden Rechts- oder Tatsachenfrage. Dem Vorbringen, die Balneologie und das Wertesystem der deutschen Kurorte und Heilbäder verdienten eine gründliche Auseinandersetzung mit der Jahrhunderte alten Wissenschaft, aber auch der jungen Erkenntnisse dieses besonderen Therapiezweiges, lässt sich eine klärungsbedürfte Frage auch nicht sinngemäß entnehmen. Entsprechendes gilt für das weitere, überdies kaum verständliche Vorbringen, es würden weltweit seit vielen Jahrhunderten bekannte biologisch-chemische Wirkungen in Abrede gestellt, was vollkommen jeder verbrieften klinischen Erfahrung widerspreche und wodurch die arzneilichen Wirkungen der Peloide verloren gingen. Eine über den vorliegenden Einzelfall hinaus klärungsfähige und ‑bedürftige Frage lässt sich auch den Ausführungen zur grundsätzlichen Bedeutung in der weiteren ‑ ohnehin nach Fristablauf eingegangenen ‑ Antragsbegründung vom 18. März 2022 nicht entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
346,909
olgkarl-2022-10-06-2-ws-26022
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2 Ws 260/22
"2022-10-06T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:49"
"2022-10-17T11:11:02"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <blockquote><blockquote><p>1. Dem Antragsteller wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 19.07.2022 gewährt.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>2. Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 19.07.2022 aufgehoben.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>3. Es wird festgestellt, dass die Erhebung eines Kostenbeitrages von dem Antragsteller für die Sicherheitsüberprüfung sowie die Versiegelung oder Verplombung des vom Antragsteller erworbenen Fernsehgerätes rechtswidrig ist.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>4. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der insoweit dem Antragsteller entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>5. Der Gegenstandswert für das gesamte Verfahren wird auf 23,20 EUR festgesetzt.</p></blockquote></blockquote> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Der Antragsteller befindet sich im Vollzug der Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt X..</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Mit dem angegriffenen Beschluss vom 19.07.2022 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Freiburg seinen Antrag vom 11.05.2022 auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er die Feststellung begehrt, die Erhebung eines Kostenbeitrages i.H.v. 23,20 EUR für die Überprüfung des von ihm bestellten TV-Gerätes und Deaktivierung des WLAN Moduls sowie Verplombung sei rechtswidrig gewesen, als unbegründet zurückgewiesen. Nach den Feststellungen in dem angefochtenen Beschluss bestellte der in der Sicherungsverwahrung befindliche Antragsteller direkt bei dem Versandhändler Amazon ein neues TV Gerät, welches insbesondere über eine WLAN Funktion verfügt. Da aus Sicherheitsgründen solche TV Geräte nicht über WLAN oder Bluetooth Funktionen verfügen dürfen, übersandte die Antragsgegnerin das Gerät an die externe Firma Radio Focke, welche für die Überprüfung und Unterbrechung der WLAN und USB Funktion sowie die neue Verplombung mit der Rechnung vom 07.04.2022 inklusive Mehrwertsteuer ein Betrag von 23,20 EUR berechnete. Am 05.04.2022 hat der Antragsteller an die Antragsgegnerin um Aushändigung seines Fernsehgerätes ersucht, welches über die Firma Focke modifiziert worden sei, wobei die Bezahlung über sein Taschengeld erfolgen sollte. Der Rechnungsbetrag i.H.v. 23,20 EUR wurde dem Antragsteller in Rechnung gestellt und das Fernsehgerät von der Antragsgegnerin ausgehändigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Hiergegen hat sich der Betroffene mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gewandt. Er ist zusammenfassend der Auffassung, dass die Kosten der Überprüfung und Verplombung nicht von ihm, der in der Sicherungsverwahrung untergebracht ist, zu tragen seien. Den Rechnungsbetrag habe er zunächst nur bezahlt, um den Fernseher überhaupt zu erhalten. Die Strafvollstreckungskammer hat seinen Antrag mit dem angefochtenen Beschluss als unbegründet zurückgewiesen und erachtet insoweit eine Kostenbeteiligung gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 JVollzGB V für zulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Gegen den ihm am 22.07.2022 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsteller mit der erst am 01.09.2022 erhobenen Rechtsbeschwerde. Zugleich beantragte er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da er mit der Einlegung der Rechtsbeschwerde bereits am 12.08.2022 zugleich die Protokollierung beantragt habe. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts.</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td>II.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>Dem Antragsteller ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde (§§ 118 Abs. 1, 138 Abs. 3 StVollzG, 83 JVollzGB V BW) zu gewähren, weil er rechtzeitig mit der am 12.08.2022 eingelegten Rechtsbeschwerde zugleich beantragt hatte, der zuständigen Rechtspflegerin zur Protokollierung vorgeführt zu werden. Ausweislich des Vermerks der Rechtspflegerin war ein früherer Termin aus dienstlichen Gründen nicht möglich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Die Monatsfrist des § 118 Abs. 1 StVollzG lief nach der Zustellung des angefochtenen Beschlusses am 22.07.2022, am Montag, den 22.08.2022 ab (§§ 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG, 43 Abs. 2 StPO). Erst mit der Aufnahme zu Protokoll der Geschäftsstelle am 01.09.2022, und damit nach Ablauf der Frist, erfolgte jedoch die Einlegung und Begründung in der durch § 118 Abs. 3 StVollZG gesetzlich vorgegebenen Form.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="7"/>Der gleichzeitig gestellte Wiedereinsetzungsantrag ist zwar nicht ausreichend begründet. Da die versäumte Handlung nachgeholt wurde und sich aus dem Akteninhalt ergibt, dass den Antragsteller kein für die Säumnis verantwortliches Verschulden trifft, ist aber Wiedereinsetzung von Amts wegen zu gewähren (§§ 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG, 44 Satz 2, 45 Abs. 2 Satz 2 und 3 StPO).</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:20pt"><tr><td>III.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>Die nach der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td>1.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>Die Rechtsbeschwerde war nach § 116 Absatz 1 StVollzG zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, da die Frage, ob die Kosten der Überprüfung, Deaktivierung von Funktionalitäten und Verplombung von technischen Geräten in Baden-Württemberg unter die Regelung nach § 52 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 JVollzGB V fallen, bisher obergerichtlich noch nicht geklärt ist.</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td>2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>Entsprechend den zutreffenden Feststellungen in dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer betrifft das vorliegende Verfahren nicht die Frage, ob der Antragsteller im Rahmen der Sicherungsverwahrung das von ihm direkt bei Amazon bestellte TV Gerät überhaupt gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 JVollzGB V besitzen durfte, sondern nur die Frage der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Kostenbeteiligung des Sicherungsverwahrten für die Überprüfung eingebrachter Elektrogeräte. Vorliegend hat die Antragsgegnerin den vom Antragsteller bestellten Fernseher von der externen Firma Radio Focke insbesondere auf eine unzulässige WLAN Fähigkeit überprüfen lassen. Für diese Überprüfung und die Deaktivierung der WLAN Funktion und USB Schnittstellenfunktion sowie die neue Verplombung des Gerätes hat die Firma mit Rechnung vom 07.04.2022 inklusive Mehrwertsteuer ein Betrag von 23,20 EUR in Rechnung gestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>Der Vollzug der Sicherungsverwahrung bestimmt sich - mit Ausnahme der §§ 109 bis 121 StVollzG - nach eigenständigen Regeln. Dies betrifft insbesondere auch die im Landesgesetz enthaltenen Regelungen zum Einbringen von Gegenständen und einer Kostenbeteiligung für bestimmte Leistungen. In Baden-Württemberg ist eine Kostenbeteiligung für sonstige Leistungen in der Sicherungsverwahrung in § 52 JVollzGB V in der Fassung, gültig seit 01.06.2013, geregelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="12"/>Nach dem Grundsatz in § 52 Abs. 1 JVollzGB V werden Untergebrachte in der Sicherungsverwahrung an den Kosten für die Unterbringung und Verpflegung nicht beteiligt. Damit wird der Sache nach der Sonderopfergedanke des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen, wonach dem Sicherungsverwahrten zu präventiven Zwecken ein Sonderopfer auferlegt wird. Dem muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes auch bei der Ausgestaltung des Vollzuges Rechnung getragen werden (BVerfG, Urt. v. 04.05.2011 - 2 BvR 2333/08, juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>Um diesen Maßstäben gerecht zu werden, ist § 52 Abs. 2 JVollzGB V verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sonstige Leistungen nur als solche anzusehen sind, durch die der Untergebrachte – wie in dem im Katalog aufgezählten Beteiligungstatbeständen – einen geldwerten Vorteil erlangt. Es muss sich also um eine Leistung handeln, für deren Inanspruchnahme auch außerhalb des Vollzuges eine Gegenleistung – in der Regel die Zahlung eines Entgeltes – zu erbringen wäre (vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 28.08.2017, 3 Ws 369/17, juris). Da die Verplombung des Fernsehgerätes aber allein Sicherungszwecken dient, kann eine Kostenbeteiligung jedenfalls nur dann gefordert werden, wenn hierfür eine gesetzliche Grundlage besteht. Entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer ergibt sich eine solche aus der aktuellen Regelung in Baden-Württemberg nicht, da § 52 Abs. 2 Satz 2 <strong>Nr. 4 </strong>JVollzGB V eine Kostenbeteiligung nur für die <span style="text-decoration:underline">Überlassung</span> von Geräten der Unterhaltungs- und Informationstechnik vorsieht. Schon der Wortlaut dieser Vorschrift erfasst nur die Überlassung in allen denkbaren Formen, beispielsweise durch die kostenpflichtige Miete der Geräte, nicht aber deren Überprüfung. Denn die Kosten der Überprüfung, hier zusätzlich der Deaktivierung und Verplombung, entstehen nicht durch die Überlassung oder den Betrieb des Gerätes, sondern allein aufgrund des nachvollziehbaren Sicherungsbedürfnisses der Vollzugsanstalt (vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 18.02.2014, III-1Vollz (Ws) 26/14, juris, zu der alten Fassung des § 40 SVVollzG Nordrhein-Westfalen).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Da es zumindest derzeit bereits an einer Rechtsgrundlage in Baden-Württemberg für eine Kostenbeteiligung des Sicherungsverwahrten für die Überprüfung eingebrachter Elektrogeräte fehlt, muss der Senat hier die grundsätzliche Frage, ob Sicherungsverwahrte in Anbetracht des Charakters der Maßregel als Sonderopfer (vgl. BVerfG, a.a.O) überhaupt an Kosten für derartige Maßnahmen zur Gewährung der Sicherheit des Vollzuges beteiligt werden dürfen, vorliegend nicht entscheiden (vgl. auch OLG Hamm Beschluss vom 16.04.2020, 1 Vollz (Ws) 64/20; Beschluss vom 18.08.2021, 1 Vollz (Ws) 347/21 zum Maßregelvollzug; OLG Celle, Beschluss vom 28.08.2017, 3 Ws 369/17; jeweils juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, dem Betroffenen den mit ihrer ursprünglichen Entscheidung zu Unrecht in Rechnung gestellten Betrag zu erstatten.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table><tr><td>IV.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. § 465 StPO entsprechend.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>Der Gegenstandswert war – in Anwendung der §§ 65 S. 2, 63 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GKG für das gesamte Verfahren – entsprechend der exakt bezifferten Höhe der verfahrensgegenständlichen Überprüfungskosten i.H.v. 23,20 EUR festzusetzen (§§ 52 Abs. 1, 60 GKG).</td></tr></table></td></tr></table>
346,859
ovgni-2022-10-06-14-pa-24922
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
14 PA 249/22
"2022-10-06T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:20"
"2022-10-17T11:10:54"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 25. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des erstinstanzlichen Klageverfahrens hat keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Soweit sich die Beschwerde gegen die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrages hinsichtlich der Aufrechnungserklärung des Beklagten mangels nachgewiesener wirtschaftlicher und persönlicher Bedürftigkeit bezieht, ist der Antrag unstatthaft (1.). Im Übrigen ist er unbegründet (2.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>1. Nach § 146 Abs. 2 VwGO können Beschlüsse über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe nicht mit der Beschwerde angefochten werden, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe verneint hat. Im Umkehrschluss bleibt die Beschwerde zulässig, wenn das Gericht zumindest auch die Erfolgsaussichten in der Hauptsache verneint (vgl. BT-Drs. 17/11472, 48 f.; NdsOVG, Beschl. v. 5.9.2017 - 13 PA 235/17 -, juris Rn. 2; Kaufmann, in BeckOK, VwGO, Posser/Wolff, 62. Ed. Stand 01.01.2020, § 146 Rn. 2). Das Verwaltungsgericht hat hinsichtlich der Frage der Rechtmäßigkeit der Aufrechnung des Beklagten den Prozesskostenhilfeantrag zu diesem Teil ausschließlich mangels nachgewiesener wirtschaftlicher Bedürftigkeit abgelehnt und nicht zusätzlich die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtverfolgung in der Hauptsache verneint; im Gegenteil, es hat in seinem Nichtabhilfebeschluss vom 2. Juni 2022 ausgeführt, dass die Erfolgsaussichten der Klage für diesen Teil zwar gegeben seien, es allerdings an der Glaubhaftmachung der wirtschaftlichen Bedürftigkeit fehle.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Anwendung des § 146 Abs. 2 VwGO steht nicht entgegen, dass es sich vorliegend um eine Teilablehnung von Prozesskostenhilfe aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen handelt. Was für die umfassende Ablehnung von Prozesskostenhilfe mangels wirtschaftlicher Bedürftigkeit gilt, muss auch für die teilweise Ablehnung der Prozesskostenhilfe aus diesem Grund gelten, denn nur so kann dem Willen des Gesetzgebers, dass die Oberverwaltungsgerichte im Beschwerdeverfahren allein die Erfolgsaussichten der Hauptsache prüfen sollen, Geltung verschafft werden (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 4.12.2020 - 5 D 16/20 -, juris, Rn. 28). Dass eine differenzierte Betrachtung der Streitgegenstände - hier: Aufrechnung der Beklagten und Anspruch auf höhere Wohngeldleistung - grundsätzlich möglich ist, ergibt sich daraus, dass Prozesskostenhilfe auch nur teilweise gewährt wird, wenn die Erfolgsaussichten der Hauptsache nur zu einem Teil gegeben sind (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 166 Rn. 12; OVG NRW, Beschl. v. 16.4.2012 - 18 E 871/11 -, juris Rn. 25). Zudem sind die hier betroffenen Streitgegenstände auch ohne weiteres voneinander abgrenzbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>2. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die Klage hat hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Bewilligung von höheren Wohngeldleistungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2021 bis 31. November 2022 keine hinreichende Erfolgsaussicht i.S.d. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, juris Rn. 26).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Letzteres ist hier der Fall. Die Klage hat keine hinreichende Erfolgschance. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf seinen Beschluss vom 28. März 2022 im zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (2 B 55/22) - schlüssig und nachvollziehbar begründet, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Bewilligung von höheren Wohngeldleistungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2021 bis 31. November 2022 nicht zusteht, weil das Baukindergeld belastungsmindernd bei der Berechnung des Wohngeldes berücksichtigt wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Der hiergegen von der Klägerin mit der Beschwerde erhobene Einwand, das Baukindergeld dürfe bei der Wohngeldberechnung nicht belastungsmindernd berücksichtigt werden, greift nicht durch. Die Wohngeld-Lastenberechnung des Beklagten für den Zeitraum vom 1. Dezember 2021 bis 31. November 2022 in den Bescheiden Nr. 1 und 2 vom 7. Februar 2022 entspricht aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen den Regelungen der §§ 10 und 11 WoGG, insbesondere hat die Belastung, die sich aus § 10 WoGG ergibt, zu dem Anteil außer Betracht zu bleiben, der durch das Baukindergeld als Leistung aus öffentlichen Haushalten zur Senkung der Belastung gedeckt ist (§ 11 Abs. 2 Nr. 4 WoGG; vgl. Zimmermann, in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkomm. SRB, 2. Aufl. 2018, § 11 WoGG Rn. 5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Bei dem Baukindergeld handelt es sich um eine staatliche Förderung des Ersterwerbs von selbstgenutztem Wohneigentum für Familien mit Kindern mit dem Ziel der Wohneigentumsbildung). Es dient der Sicherung von Wohnraum und somit der Senkung der Belastung nach § 11 Abs. 2 Nr. 4 WoGG. Sie ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - vergleichbar mit der bis Ende 2005 geltenden Eigenheimzulage, die ebenfalls zur Erleichterung der Eigentumsbildung im Immobiliensektor für Familien mit Kindern diente und bei der Wohngeldberechnung belastungsmindernd Berücksichtigung fand (vgl. BayVGH, Beschl. v. 24.7.2006 - 9 CE 06.1458 -, Rn. 24).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Soweit die Klägerin vorträgt, sie habe keinen Zugriff auf das Baukindergeld, da sie dieses als Voraussetzung für die Vergabe des Kredits in einen Bausparvertrag einzahle, der wiederum an die finanzierende Bank abgetreten worden sei, und nach Ablauf von zehn Jahren der Restkredit mit dem angesparten Geld im Bausparvertrag getilgt werde, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Wie die Klägerin das Baukindergeld für die Finanzierung ihres Eigenheims einsetzt, ist für dessen Berücksichtigung bei der Berechnung der Wohngeldleistungen irrelevant. Andernfalls käme es zu einer Ungleichbehandlung zwischen denjenigen, die - wie die Klägerin - durch Einzahlung des Baukindergeldes in einen Bausparvertrag und Abtretung der Ansprüche hieraus keinen unmittelbaren Zugriff auf das Baukindergeld haben und denjenigen, die auf das Baukindergeld jederzeit zurückgreifen können. Denn Erstere könnten die Vorschrift des § 11 Abs. 2 Nr. 4 WoGG dann umgehen, was nicht sachgerecht wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Dem weiteren Vorbringen der Klägerin, dass der monatliche Abschlag höher wäre, wenn das Baukindergeld monatlich berücksichtigt würde und das Wohngeld dann in gleicher Höhe hätte berücksichtigt werden müssen, ist bereits nicht zu entnehmen, was sie damit genau geltend machen will. Wenn man dieses Vorbringen so verstünde, dass die monatliche Rate gegenüber der Bank höher wäre, wenn das Baukindergeld monatlich berücksichtigt und nicht in einem Bausparvertrag angespart würde, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn auch in diesem Fall stünde ihr das Baukindergeld zur Verfügung. Ob sie dies monatlich selbst anspart und damit die dann höhere Kreditrate abbezahlt oder eine geringere Tilgungsrate hat, aber dafür das Baukindergeld in einen Bausparvertrag einzahlt, macht keinen Unterschied.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Andere Gründe, die zu einer anderen Lastenberechnung und damit einem höheren Wohngeldanspruch der Klägerin in dem Zeitraum vom 1. Dezember 2021 bis 31. November 2022 führen könnten, sind von der Klägerin mit der Beschwerde nicht vorgebracht worden und auch sonst nicht ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO nicht erhoben. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO werden die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007265&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
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ovgni-2022-10-06-14-pa-24822
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
14 PA 248/22
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"2022-10-08T10:03:18"
"2022-10-17T11:10:54"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 25. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des erstinstanzlichen Klageverfahrens hat keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Senat hat lediglich darüber zu entscheiden, ob der Klägerin Prozesskostenhilfe für ihre auf Leistung eines höheren Wohngeldes gerichtete Klage zu gewähren ist. Auf die Beschwerde im Prozesskostenhilfeverfahren ist zu überprüfen, ob das Verwaltungsgericht die beantragte Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt hat. Dementsprechend ist Gegenstand der Beschwerde nur das, was von der Prüfung des Verwaltungsgerichts im Prozesskostenhilfeverfahren umfasst war. Das war aber nur der Anspruch auf eine höhere Wohngeldleistung. Hinsichtlich der mit Schriftsatz vom 3. Juni 2022 - nach Rechtshängigkeit der Beschwerde und im Übrigen ausschließlich gegenüber dem Verwaltungsgericht - erklärten Erweiterung des Streitgegenstandes, den bewilligten Wohngeldbetrag ohne Aufrechnung auszuzahlen, fehlt es an einer erstinstanzlichen Entscheidung, die zur Überprüfung durch den Senat gestellt werden könnte. Insoweit ist die Klägerin gehalten, ihren Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gegenüber dem Verwaltungsgericht geltend zu machen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Hinsichtlich des Anspruchs auf eine höhere Wohngeldleistung ist auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens davon auszugehen, dass das Verwaltungsgericht die beantragte Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussicht i.S.d. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu Recht verneint hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, juris Rn. 26).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Letzteres ist hier der Fall. Die Klage hat keine hinreichende Erfolgschance. Zur Begründung verweist Senat zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf seinen Beschluss vom 28. März 2022 im zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (2 B 55/22) - schlüssig und nachvollziehbar begründet, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Bewilligung von höheren Wohngeldleistungen für den Zeitraum vom 1. November 2020 bis 31. Oktober 2021 nicht zusteht, weil das Baukindergeld belastungsmindernd bei der Berechnung des Wohngeldes berücksichtigt wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der hiergegen von der Klägerin mit der Beschwerde erhobene Einwand, das Baukindergeld dürfe bei der Wohngeldberechnung nicht belastungsmindernd berücksichtigt werden, greift nicht durch. Die Wohngeld-Lastenberechnung des Beklagten für den Zeitraum vom 1. November 2020 bis 31. Oktober 2021 in den Bescheiden Nr. 1 und 2 vom 22. Oktober 2021 entspricht aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen den Regelungen der §§ 10 und 11 WoGG, insbesondere hat die Belastung, die sich aus § 10 WoGG ergibt, zu dem Anteil außer Betracht zu bleiben, der durch das Baukindergeld als Leistung aus öffentlichen Haushalten zur Senkung der Belastung gedeckt ist (§ 11 Abs. 2 Nr. 4 WoGG; vgl. Zimmermann, in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkomm. SRB, 2. Aufl. 2018, § 11 WoGG Rn. 5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Bei dem Baukindergeld handelt es sich um eine staatliche Förderung des Ersterwerbs von selbstgenutztem Wohneigentum für Familien mit Kindern mit dem Ziel der Wohneigentumsbildung. Es dient der Sicherung von Wohnraum und somit der Senkung der Belastung nach § 11 Abs. 2 Nr. 4 WoGG. Sie ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - vergleichbar mit der bis Ende 2005 geltenden Eigenheimzulage, die ebenfalls zur Erleichterung der Eigentumsbildung im Immobiliensektor für Familien mit Kindern diente und bei der Wohngeldberechnung belastungsmindernd Berücksichtigung fand (vgl. BayVGH, Beschl. v. 24.7.2006 - 9 CE 06.1458 -, Rn. 24).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Soweit die Klägerin vorträgt, sie habe keinen Zugriff auf das Baukindergeld, da sie dieses als Voraussetzung für die Vergabe des Kredits in einen Bausparvertrag einzahle, der wiederum an die finanzierende Bank abgetreten worden sei, und nach Ablauf von zehn Jahren der Restkredit mit dem angesparten Geld im Bausparvertrag getilgt werde, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Wie die Klägerin das Baukindergeld für die Finanzierung ihres Eigenheims einsetzt, ist für dessen Berücksichtigung bei der Berechnung der Wohngeldleistungen irrelevant. Andernfalls käme es zu einer Ungleichbehandlung zwischen denjenigen, die - wie die Klägerin - durch Einzahlung des Baukindergeldes in einen Bausparvertrag und Abtretung der Ansprüche hieraus keinen unmittelbaren Zugriff auf das Baukindergeld haben und denjenigen, die auf das Baukindergeld jederzeit zurückgreifen können. Denn Erstere könnten die Vorschrift des § 11 Abs. 2 Nr. 4 WoGG dann umgehen, was nicht sachgerecht wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Dem weiteren Vorbringen der Klägerin, dass der monatliche Abschlag höher wäre, wenn das Baukindergeld monatlich berücksichtigt würde und das Wohngeld dann in gleicher Höhe hätte berücksichtigt werden müssen, ist bereits nicht zu entnehmen, was sie damit genau geltend machen will. Wenn man dieses Vorbringen so verstünde, dass die monatliche Rate gegenüber der Bank höher wäre, wenn das Baukindergeld monatlich berücksichtigt und nicht in einem Bausparvertrag angespart würde, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn auch in diesem Fall stünde ihr das Baukindergeld zur Verfügung. Ob sie dies monatlich selbst anspart und damit die dann höhere Kreditrate abbezahlt oder eine geringere Tilgungsrate hat, aber dafür das Baukindergeld in einen Bausparvertrag einzahlt, macht keinen Unterschied.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Andere Gründe, die zu einer anderen Lastenberechnung und damit einen höheren Wohngeldanspruch der Klägerin in dem Zeitraum vom 1. November 2020 bis 31. Oktober 2021 führen könnten, sind von der Klägerin mit der Beschwerde nicht vorgebracht worden und auch sonst nicht ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO nicht erhoben. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO werden die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007264&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,856
lg-lubeck-2022-10-06-14-s-1322
{ "id": 1065, "name": "Landgericht Lübeck", "slug": "lg-lubeck", "city": 633, "state": 17, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
14 S 13/22
"2022-10-06T00:00:00"
"2022-10-08T10:02:38"
"2022-10-17T11:10:54"
Urteil
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Ahrensburg vom 23.12.2021, Az. 48 C 195/21, wird zurückgewiesen.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Amtsgerichts Ahrensburg ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Beschluss</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 1.425,18 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Am 8. August 2020 gegen 11:40 Uhr befuhr das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug VW Passat mit dem Kennzeichen ... die Bahnhofstraße in Trittau in Fahrtrichtung Grönwohld. Unmittelbar hinter diesem Fahrzeug fuhr der von der Klägerin gehaltene Linienbus Typ Lion’s City mit dem amtlichen Kennzeichen .... Ab der Haltestelle G... Straße bremste das voranfahrende Fahrzeug auf einer Strecke von 800 m immer wieder kurzzeitig ab. Auf der Höhe der Bahnhofstraße 20 hielt es sodann mit einem Abstand von ca. 10 m hinter einem am rechten Fahrzeugrand parkenden LKW und bog sodann links ab auf die Zufahrt zu einem Zoogeschäft. Dabei kam es aus im Einzelnen streitigen Gründen zu einem Zusammenstoß mit dem Bus, der mittlerweile zu einem Überholvorgang angesetzt hatte. Hierbei wurde der Linienbus im rechten Frontbereich und der Pkw am hinteren linken Seitenteil beschädigt. Die Klägerin machte erstinstanzlich einen Schaden von 2.325,80 EUR geltend. Zudem entstanden Sachverständigenkosten in Höhe von 524,55 EUR.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Die Klägerin behauptet, das voranfahrende Fahrzeug der Beklagten habe bei Erreichen des parkenden LKW den rechten Blinker gesetzt. Der klägerische Bus habe sich dem derart bereits seit einiger Zeit stehenden Fahrzeug genähert und zunächst hinter diesem wegen entgegenkommenden Verkehrs mit gesetztem linken Blinker gehalten. Als ein entgegenkommendes Fahrzeug dem Bus per Zeichen den Vorrang ließ, sei der Fahrer angefahren und haben den Bus auf die linke Spur gezogen, um das weiterhin stehende Fahrzeug der Beklagten zu überholen. Als sich der Busfahrer etwa in der Höhe des hinteren Stoßfängers des Beklagtenfahrzeuges befunden habe, sei die Fahrerin des stehenden Pkw unvermittelt ebenfalls angefahren, um links in eine Grundstückseinfahrt einzubiegen. In der Folge sei es zu dem Zusammenstoß gekommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die Beklagte behauptet, ihr Fahrzeug sei mit links gesetztem Blinker an den parkenden LKW herangerollt. Sie habe sodann zunächst den entgegenkommenden Verkehr passieren lassen. Als das letzte entgegenkommende Fahrzeug passiert habe, habe sich die Fahrerin nach hinten umgesehen und den Abbiegevorgang nach links eingeleitet. Sie habe sich bereits auf der Einfahrt befunden, als der Bus hinter ihr den Versuch unternommen haben, den parkenden LKW zu überholen, wobei er das Fahrzeug der Beklagten übersehen und mit der vorderen rechten Ecke des Buses beschädigt habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Hinsichtlich der weiteren tatsächlichen Feststellungen wird im Übrigen Bezug genommen auf das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Ahrensburg vom 23. Dezember 2021.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Das Amtsgericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung der Zeuginnen ... und ... sowie des Zeugen .... Es hat sodann entschieden, dass sich die Beklagte zu 50 % an dem entstandenen Schaden der Klägerin zu beteiligen hat. Zur Begründung hat das Amtsgericht angeführt, dass die Fahrerin des Beklagtenfahrzeuges gegen ihre Pflichten aus § 9 Abs. 5 StVO beim Linksabbiegen verstoßen habe. Hierfür spreche jedenfalls der Beweis des ersten Anscheins. Allerdings habe auch der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges seine Pflichten aus § 5 StVO verletzt. Insbesondere sei gem. § 5 Abs. 3 StVO ein Überholen bei unklarer Verkehrslage unzulässig. Eine derartige unklare Verkehrslage sei hier gegeben gewesen, da die Vernehmung der Zeugin ... ergeben hatte, dass das Beklagtenfahrzeug mittig auf der rechten Fahrspur stand, so dass der Fahrer des klägerischen Buses jedenfalls mit der Möglichkeit habe rechnen müssen, dass der Pkw der Beklagten zum Überholen des LKW ansetzen würde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Im Hinblick auf das Vorbringen der Parteien im Berufungsrechtszug wird im Übrigen auf die von ihnen in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Die Berufungsklägerin beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>die Beklagten unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Ahrensburg vom 23.12.2021 (Az. 48 C 195/21) zu verurteilen,</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>1. an die Klägerin 2.325,80 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 28.08.2020 zu zahlen.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>2. Die Klägerin von den Kosten des Sachverständigen ... gemäß Rechnung vom 14.08.2020 (Rechnungsnummer ...) über 524,55 EUR netto freizuhalten.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>3. Die Klägerin von den vorgerichtlichen Kosten des Unterzeichners über 293,30 EUR netto freizuhalten.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die Berufungsbeklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>die Berufung zurückzuweisen.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Der in zulässiger Weise eingelegten Berufung ist in der Sache der Erfolg versagt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>1. Zu Recht hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen, soweit die Klägerin einen höheren Betrag als die zuerkannten 1.162,90 EUR zzgl. Zinsen und zzgl. Sachverständigenkosten in Höhe von 262,28 EUR zzgl. Rechtsanwaltskosten in Höhe von 169,50 EUR für sich beansprucht. Aufgrund der nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG erforderlichen Abwägung der Verursachungsanteile an dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall kann die Klägerin von der Beklagten jedenfalls nicht mehr als zu bereits vom Amtsgericht zuerkannten 50 % des geltend gemachten Schadens verlangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>a. Gemäß § 17 Abs. 1 StVG hängt die Verpflichtung zum Umfang des Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Haftungsanteile nach § 17 Abs. 1 StVG sind nur unstreitige, zugestandene und erwiesene Tatsachen zu berücksichtigen; Vermutungen haben außer Betracht zu bleiben. Heranzuziehen sind die beiderseitigen objektiven Unfallursachen, das Verschulden der Fahrer sowie die Betriebsgefahr der beteiligten Kraftfahrzeuge.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>b. Im konkreten Fall liegt auch ein erheblicher Verursachungsbeitrag auf Seite der Klägerin vor. Diese muss sich einen Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO zurechnen lassen. Gemäß § 5 Abs. 3 StVO ist das Überholen bei unklarer Verkehrslage unzulässig. Hier muss sich der Führer des klägerischen Linienbusses jedoch vorwerfen lassen, dass er bei einer derartigen unklaren Verkehrslage überholt hat. Eine unklare Verkehrslage im Sinne dieser Vorschrift liegt dabei generell dann vor, wenn nach allen Umständen des Einzelfalles mit einem ungefährdeten Überholen nicht gerechnet werden darf. Dies ist auch dann der Fall, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden (vgl. etwa KG Berlin, Urteil vom 1. Februar 1999 – 12 U 8772/97 –, Juris). Eine derartige Situation lag auch nach neuerlicher Überprüfung im Anschluss an die mündliche Verhandlung hier auch zur Überzeugung der Berufungskammer vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>(1) Entgegen der amtsgerichtlichen Ausführungen kann sich die hierzu beweisbelastete Beklagtenseite insoweit allerdings nicht auf einen Anscheinsbeweis stützen. Eine hierfür erforderliche typische Situation, die nach allgemeiner Lebenserfahrung den Rückschluss zulässt, dass der Fahrer des Linienbusses trotz einer im obigen Sinne unklaren Verkehrslage zum Überholen angesetzt hat, bestand nicht. Insbesondere lässt sich aus dem Umstand des Zusammenstoßes allein nichts verlässliches auf die Verkehrssituation bei Beginn des Überholmanövers schließen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>(2) Jedoch konnten die Beklagten den Direktbeweis führen, dass bei Beginn des Überholmanövers eine unklare Verkehrslage im obigen Sinne vorlag.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Eine solche liegt zur Überzeugung des Gerichts nämlich auch dann vor, wenn das voranfahrende Fahrzeug seine Geschwindigkeit vor dem Überholvorgang erkennbar deutlich verlangsamt hat und dies in Verbindung mit der sonstigen Verkehrssituation und –örtlichkeit geeignet war, Zweifel über die beabsichtigte Fahrtweise aufkommen zu lassen (OLG Schleswig, Urteil vom 21. April 1993 - 9 U 18/92, NZV 1994, 30).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Dies war hier zur Überzeugung der Berufungskammer der Fall, denn unstreitig hat die Fahrerin des Beklagtenfahrzeuges vor dem unfallverursachenden Überholvorgang ihre Geschwindigkeit verringert und ist sogar zum Stehen gekommen. Dies war auch in Verbindung mit der weiteren Verkehrssituation geeignet, erhebliche Zweifel über die von ihr beabsichtigte weitere Fahrtweise aufkommen zu lassen. Aus der konkreten Verkehrssituation heraus musste für nachfolgende Fahrzeuge jedenfalls in erheblichem Maße unklar sein, wie sich der hinter dem parkenden LKW zum Stehen gekommene Pkw nun in der Folge verhalten würde. Es bestand insoweit sowohl die Möglichkeit, dass der Pkw – wie von der Zeugin ... gemutmaßt – hinter dem LKW für längere Zeit halten würde, als auch die Möglichkeit, dass der Pkw, nachdem der unstreitig vorhandene Gegenverkehr vorbeigefahren sein würde, nun seinerseits linksseitig an dem ein Fahrthindernis bildenden, parkenden LKW vorbeifahren würde. Letztere Möglichkeit war sogar in besonderem Maße naheliegend, da die Zeugin ... insoweit überzeugend und glaubhaft schilderte, dass die Fahrerin des Pkw eher mittig hinter dem LKW hielt, sich also gerade nicht im Sinne eines Parkens oder Haltens rechts entlang des Bordsteins einordnete.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Sichere Indizien, die insbesondere die Möglichkeit eines linksseitigen Ausscherens des Pkw nach Passieren des Gegenverkehrs objektiv ausschließen würden, lagen jedenfalls nach dem vom Gericht zu Grunde zu legenden Sachverhalt nicht vor. Insbesondere kann das Gericht nicht davon ausgehen, dass die Fahrerin des Pkw klare Lichtzeichen – und zwar weder nach links oder nach rechts – gab, da, wie vom Amtsgericht überzeugend dargelegt, die Zeugenaussagen insoweit unergiebig (Zeugin ...) oder widersprüchlich (Zeugin ... bzw. Zeuge ...) waren und keine Anhaltspunkte festgestellt werden konnten, die dafürsprechen könnten, der Schilderung einer der Zeugen bzw. Zeuginnen den Vorzug zu geben. Desgleichen kann auch der Abstand des haltenden Pkws zu dem parkenden LKW nicht als Anhaltspunkt herangezogen werden, der gegen die Möglichkeit eines anstehenden Überholvorgangs sprechen könnte. Zwar hat die Zeugin … insoweit erklärt, der Pkw sei zu dicht an dem LKW herangefahren um diesen in der Folge noch überholen zu können. Dies steht jedoch wiederum in klaren Widerspruch zu der Aussage des Fahrers des Linienbusses, der angab. Der Pkw habe in einem Abstand von ca. 8 – 10 Metern hinter dem LKW gehalten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>(3) Das Gericht sieht sich mit dieser Würdigung des Sachverhaltes auch nicht in Widerspruch zu der von Klägerseite im Anschluss an die mündliche Verhandlung noch umfangreich vorgetragene Rechtsprechung. Im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>(a) Die Mehrheit der in dem vorgelegten Urteil des Amtsgerichts Bad Segeberg vom 31. Januar 2013 - 17 C 196/12 – zitierten Entscheidungen sind für den hier vorliegenden Fall unergiebig. In einer Reihe der dort behandelten Fällen liegen jeweils Verkehrssituationen vor, in denen das voranfahrende Fahrzeug ohne ersichtlichen Grund auf freier Strecke seine Geschwindigkeit herabsetzte. Mit überzeugender Begründung entscheiden dort die Gerichte, dass die Herabsetzung der Geschwindigkeit allein noch keine unklare Verkehrssituation im obigen Sinne begründe (vgl. insb. KG Berlin, Urteil vom 1. Februar 1999 – 12 U 8772/97 –, Juris; KG Berlin, Urteil vom 15. August 2005 – 12 U 41/05 –, Juris; KG Berlin, Beschluss vom 13. August 2009 – 12 U 223/08 –, Juris; wohl auch OLG Koblenz, Urteil vom 26. Januar 2004 – 12 U 1439/02 –, Juris; LG Erfurt, Urteil vom 18. Juli 2007 – 2 S 361/06 –, juris). Dies steht nicht im Widerspruch zu den obigen Ausführungen, da sich in der hier zu entscheidenden Konstellation die Unklarheit der Verkehrssituation eben gerade nicht allein aus dem Stehenbleiben des Beklagten-Pkw ergab, sondern eben aus der Zusammenschau dieses Vorgangs mit der weiteren örtlichen Verkehrssituation (Stehenbleiben gerade vor einem die Weiterfahrt wegen des Gegenverkehrs störenden Hindernis – dem parkenden LKW) und dem konkreten Fahrverhalten der Zeugin (mittiges und damit eher für ein bei nächster Gelegenheit linksseitiges, das Hindernis umfahrendes Manöver sprechendes Fahrverhalten).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>(b) Die weiteren klägerseits genannten Entscheidungen stützen im Übrigen die vorliegende Entscheidung. Bei allen Unterschieden in der jeweiligen Fallgestaltung ist ihnen gemein, dass die Gerichte das Vorliegen einer unklaren Verkehrslage nicht schematisch prüfen, sondern – wie hier – eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles vornehmen. So hat etwa das brandenburgische Oberlandesgericht festgehalten, dass bereits eine unsichere Fahrweise, die auf eine Parkplatzsuche hindeutet, in der Zusammenschau mit einer herabgesetzten Geschwindigkeit eine unklare Verkehrslage begründen kann (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 26. Oktober 2006 – 12 U 71/06 –, Juris). Das Landgericht Mönchengladbach hat den Umstand, dass ein Fahrzeug nicht nur zunächst langsam fuhr, sondern sich dann auch noch mittig einordnete und dort – wie hier – sodann einige Zeit stand, als unklare Verkehrslage eingestuft (LG Mönchengladbach, Urteil vom 11. Dezember 2007 – 5 S 74/07 –, Juris). Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hat eine Verkehrssituation als unklar eingestuft, in der – näherungsweise vergleichbar mit der hiesigen Situation – eine sehr langsame Kehrmaschine ein Hindernis bildete, hinter dem weitere Fahrzeuge (noch) nicht überholt hatten (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 7. Juli 2005 – 7 U 3/03 –, Juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>c. In der Gesamtabwägung ist damit in der Zusammenschau mit dem rechtsfehlerfrei vom Amtsgericht festgestellten und auch von keiner Seite angegriffenen Verursachungsbeitrag der Beklagtenseite eine Mithaftung der Klägerin zu jedenfalls 50 % angemessen (so auch in vergleichbarer Situation Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 7. Juli 2005 – 7 U 3/03 –, Juris). Entsprechend kann diese mehr als die bereits vom Amtsgericht zuerkannten Beträge nicht verlangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO, die Entscheidung zur Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>4. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Insbesondere besteht aus den dargelegten Gründen keine abweichende obergerichtliche Rechtsprechung.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,846
vg-minden-2022-10-06-3-l-57922
{ "id": 845, "name": "Verwaltungsgericht Minden", "slug": "vg-minden", "city": 465, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
3 L 579/22
"2022-10-06T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:44"
"2022-10-17T11:10:52"
Beschluss
ECLI:DE:VGMI:2022:1006.3L579.22.00
<h2>Tenor</h2> <ul class="ol"><li> 1. <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> </li> <li> 2. <p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p> </li> <li> 3. <p>Der Streitwert wird auf 7.500,00 € festgesetzt.</p> </li> </ul><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Gründe:</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gestellte Antrag,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">„die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Ablehnungsbescheid des Antragsgegners vom 18.07.2022 wiederherzustellen“,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">mit welchem sich der Antragsteller auf seine am 26. Juli 2022 zum Aktenzeichen 3 K 2127/22 des beschließenden Gerichts erhobene Klage gegen den Ablehnungsbescheid des Antragsgegners vom 18. Juli 2022 bezieht, hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dabei versteht die Kammer den Antrag so, dass sich der Antragsteller allein gegen die Versagungsentscheidung (Ziffer 1), die Untersagungsverfügung (Ziffer 2) und die Zwangsmittelandrohung (Ziffer 3), nicht aber gegen die in dem streitgegenständlichen Bescheid ebenfalls enthaltene Festsetzung einer Verwaltungsgebühr i. H. v. 2.025,00 € (Ziffer 5 i. V. m. Seite 10 des Bescheids) wendet, gegen welche der Antragsteller keine Einwände erhebt und hinsichtlich derer die Zulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen § 80 Abs. 6 VwGO die – vorliegend nicht erfolgte – vorherige Beantragung der Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde voraussetzen würde.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die in dem streitgegenständlichen Bescheid enthaltene Versagungsentscheidung hinsichtlich der Erteilung einer Erlaubnis nach § 12 ProstSchG für den Betrieb der Prostitutionsstätte „Saunaclub H.      O.     “ in I.       (Ziffer 1), ist der – weil anwaltlich gestellt, grundsätzlich keiner Auslegung oder Umdeutung zugängliche – Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bereits unzulässig, weil unstatthaft. Insoweit ist in der Hauptsache keine Anfechtungs-, sondern eine Verpflichtungsklage statthaft. Vorläufiger Rechtsschutz wäre von daher im Wege des § 123 Abs. 1 VwGO zu verfolgen (vgl. auch § 123 Abs. 5 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Blick auf die Versagung der Erteilung einer Erlaubnis nach § 12 ProstSchG wäre – was hier letztlich offen bleiben kann – nach der Gesetzessystematik vorläufiger Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 VwGO allenfalls denkbar, soweit die Ablehnung des Antrages die Rechtsposition des Antragstellers verschlechtert, da zugleich mit der Ablehnung der Verlust einer bereits bestehenden Rechtsposition einhergeht.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Erlaubnis nach § 12 ProstSchG VG Köln, Beschluss vom 21. Februar 2019 – 1 L 41/19 –, juris, Rn. 7, sowie zu der aufenthaltsrechtlichen Fiktionswirkung eines Antrags auf Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels OVG NRW, Beschluss vom 5. Dezember 2007 – 17 B 1315/07 –, juris, Rn. 3, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Die bisherige Duldung des Betriebs der Prostitutionsstätte durch den Antragsgegner verleiht dem Antragsteller keine derartige Rechtsposition. Ferner kann dahinstehen, ob die Übergangsregelung in § 37 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 ProstSchG (Erlaubnisfiktion) eine Rechtsposition im vorgenannten Sinne begründet.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. dies ebenfalls offen lassend VG Köln, Beschluss vom 21. Februar 2019 – 1 L 41/19 –, juris, Rn. 9.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Denn die Voraussetzungen der Übergangsregelung des § 37 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 ProstSchG, wonach die Fortführung des Prostitutionsgewerbes bis zur Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis als erlaubt gilt, wenn bei bereits vor dem 1. Juli 2017 betriebenen Prostitutionsgewerben der Betrieb der zuständigen Behörde bis zum 1. Oktober 2017 angezeigt und ein Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis bis zum 31. Dezember 2017 vorgelegt wurde, sind vorliegend – schon unabhängig von der Frage, ob das Prostitutionsgewerbe in derselben Art und Weise bereits vor dem 1. Juli 2017 betrieben wurde – nicht erfüllt. Zwar erfolgte die Beantragung der Erlaubnis bereits am 9. November 2017. Der gestellte Antrag genügte indes offensichtlich nicht den gesetzlichen Anforderungen gemäß § 37 Abs. 2 i. V. m. § 12 ProstSchG.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach § 12 Abs. 5 Satz 2 ProstSchG sind dem Antrag das Betriebskonzept (Nr. 1), die weiteren erforderlichen Unterlagen und Angaben zum Nachweis des Vorliegens der Erlaubnisvoraussetzungen (Nr. 2) sowie bei einer natürlichen Person Name, Geburtsdatum und Anschrift derjenigen Person, für die die Erlaubnis beantragt wird, oder bei einer juristischen Person oder Personenvereinigung deren Firma, Anschrift, Nummer des Registerblattes im Handelsregister sowie deren Sitz (Nr. 3) beizufügen. Der Gesetzgeber hat damit ein qualifiziertes Antragserfordernis für die Erlaubniserteilung nach dem ProstSchG geschaffen. Es bedarf eines Antrags des Betreibers, aus dem die zur Erlaubniserteilung notwendigen Informationen ersichtlich sind, soweit sie vom Gewerbetreibenden selbst zur Verfügung gestellt werden können. Zu den vom Betreiber bereitzustellenden Unterlagen gehört u. a. das Betriebskonzept, das nach dem Willen des Gesetzgebers für den Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis vorliegen muss, da es eine wichtige Grundlage für die Beurteilung, ob die Ausgestaltung des Prostitutionsgewerbes den gesetzlichen Anforderungen genügt, darstellt. Auch die Vorschrift des § 37 Abs. 4 ProstSchG kann nur dahingehend verstanden werden, dass die Erlaubnisfiktion erst dann ausgelöst wird, wenn bis zum 31. Dezember 2017 ein vollständiger Antrag im Sinne von § 12 ProstSchG gestellt wurde. Mit der Übergangsregelung des § 37 ProstSchG sollte über einen gewissen Zeitraum eine schrittweise Anwendbarkeit der gesetzlichen Verpflichtungen für bereits bestehende Prostitutionsgewerbe gestaltet werden. Dementsprechend wurde bereits bestehenden Betrieben aufgegeben, das Gewerbe zunächst nur (innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes) anzuzeigen und dann erst – innerhalb von etwa drei weiteren Monaten – einen Erlaubnisantrag nach dem ProstSchG zu stellen. Der nach § 37 Abs. 2 ProstSchG vorgesehene zeitliche Abstand von fast drei Monaten zwischen Anzeige- und Antragspflicht sollte es dem jeweiligen Antragsteller ersichtlich ermöglichen, die erforderlichen Unterlagen für einen vollständigen Antrag im Sinne von § 12 ProstSchG zusammenzustellen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Minden, Beschlüsse vom 17. Dezember 2019 – 3 L 1232/19 –, juris, Rn. 20, vom 2. Juli 2019 – 3 L 25/19 –, n. v., S. 5 d. Urteilsabdrucks, und vom 21. Dezember 2018 – 3 L 1385/18 –, n. v., S. 4 d. Urteilsabdrucks; VG Köln, Beschluss vom 21. Februar 2019 – 1 L 41/19 –, juris, Rn. 11 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Ein vollständiger und prüffähiger Antrag im Sinne dieser Maßgaben lag hier mit der Antragstellung am 9. November 2017 nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">So fehlte es bei Antragstellung an der Vorlage einer Auskunft aus dem Gewerbezen-tralregister nach § 150 GewO bzw. des Nachweises über deren Beantragung zur Vorlage bei der Behörde nach § 150 Abs. 5 GewO. Diese ist zum Nachweis der für die Erlaubniserteilung vorausgesetzten gewerberechtlichen Zuverlässigkeit des Antragstellers erforderlich i. S. d. § 12 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 ProstSchG,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">vgl. Weidtmann-Neuer, in: PdK Bund, Teil K-2g, ProstSchG, 4. Fassung 2020, § 12 Rn. 5,</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">und wurde vom Antragsteller erst am 5. Februar 2020, mithin weit nach dem 31. Dezember 2017, nachgereicht (vgl. Bl. I-9 ff. des Verwaltungsvorgangs).</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dessen ungeachtet genügte auch das eingereichte Betriebskonzept den gesetzlichen Anforderungen in keiner Weise. Bei § 12 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 ProstSchG handelt sich um eine die Antragspflicht präzisierende Mitwirkungsobliegenheit. Dem Betriebskonzept kommt für die Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte eine essentielle Bedeutung zu, denn die Erlaubnis ist nicht nur betreiber-, sondern auch betriebsbezogen. Sie wird nur für ein bestimmtes Betriebskonzept und bestimmte bauliche Einrichtungen, Anlagen und darin befindliche Räume erteilt (§ 12 Abs. 1 und 2 ProstSchG).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Auch für die Prüfung des Nichtvorliegens von Versagensgründen nach § 14 Abs. 2 Nr. 1, 2, 4 bis 6 ProstSchG ist das Betriebskonzept essentiell, da diese unter anderem anhand der Ausführungen im Betriebskonzept zu erfolgen hat. Hinsichtlich der inhaltlichen Anforderungen an das Betriebskonzept finden sich in § 16 Abs. 1 und Abs. 2 ProstSchG weitere Konkretisierungen. Danach sind die wesentlichen Merkmale des Betriebs und die Vorkehrungen zur Einhaltung der Verpflichtungen nach dem Prostituiertenschutzgesetz zu beschreiben (§ 16 Abs. 1 ProstSchG). Es sollen dargestellt werden: 1. die typischen organisatorischen Abläufe sowie die Rahmenbedingungen, die die antragstellende Person für die Erbringung sexueller Dienstleistungen schafft; 2. Maßnahmen, mit denen sichergestellt wird, dass im Prostitutionsgewerbe der antragstellenden Person zur Erbringung sexueller Dienstleistungen keine Personen tätig werden, die a) unter 18 Jahre alt sind, b) als Personen unter 21 Jahren oder als Opfer einer Straftat des Menschenhandels durch Dritte zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution gebracht werden; 3. Maßnahmen, die dazu dienen, das Übertragungsrisiko sexuell übertragbarer Infektionen zu verringern; 4. sonstige Maßnahmen im Interesse der Gesundheit von Prostituierten und Dritten; 5. Maßnahmen, die dazu dienen, die Sicherheit von Prostituierten und Dritten zu gewährleisten; sowie 6. Maßnahmen, die geeignet sind, die Anwesenheit von Personen unter 18 Jahren zu unterbinden (§ 16 Abs. 2 ProstSchG).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Schon nach der Gesetzesbegründung bildet das Betriebskonzept eine wichtige Grundlage für die Beurteilung, ob die Ausgestaltung des Prostitutionsgewerbes den gesetzlichen Anforderungen genügt. Dort heißt es, es solle insgesamt erkennen lassen, dass die antragstellende Person sich der betriebsspezifischen Risiken ihres Gewerbes für Prostituierte, Kunden und für die Allgemeinheit bewusst sei.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen, BT-Drs. 18/8556, S. 81.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">In Ansehung dieser im Wortlaut des § 16 Abs. 1 ProstSchG und in der Gesetzesbegründung klar zu Tage tretenden Erwartung des Gesetzgebers, dass die maßgeblichen Vorkehrungen zur Einhaltung der Verpflichtungen nach dem Prostituiertenschutzgesetz bereits im Betriebskonzept dargestellt werden, sind im Rahmen eines den rechtlichen Anforderungen genügenden Betriebskonzeptes mithin auch Ausführungen zur Einhaltung der Betreiberpflichten nach §§ 24 bis 28 und 32 ProstSchG zwingend notwendig.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Angesichts der erheblichen rechtlichen Bedeutung des Betriebskonzepts fehlt es bereits an einem die Erlaubnisfiktion auslösenden Antrag, wenn das Betriebskonzept insoweit nicht detailliert und bestimmt genug ist.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Rixen, GewArch Beilage WiVerw Nr. 2018/2, 127, 148.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vor dem Hintergrund des Schutzzwecks des ProstSchG ist es mithin erforderlich, dass das Betriebskonzept inhaltlich so detailliert, konkret, aussagekräftig und aus sich heraus verständlich gefasst ist, dass die Behörde die einzelnen Betriebsabläufe ohne Weiteres nachvollziehen und den betriebsbezogenen Teil der Genehmigungsfrage (§ 12 Abs. 2 ProstSchG) unmittelbar allein anhand des Konzepts beantworten kann.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Unentbehrlich ist daher eine auf den individuellen Betrieb und dabei soweit möglich raum-, einrichtungs- und personenbezogene Beschreibung der typischen Betriebsabläufe, welche es ermöglicht, die tatsächlichen Umstände nachzuvollziehen, unter denen die Prostitutionsausübung vor Ort konkret stattfindet. Hierzu bedarf es einer die tatsächlichen Gegebenheiten hinreichend genau wiedergebenden Beschreibung der wesentlichen Merkmale des Betriebs, insbesondere ausreichender Darlegungen zu den Arbeitsbedingungen der Prostituierten, so etwa der beabsichtigten Vertragsbedingungen zwischen Prostituierter und dem Prostitutionsgewerbetreibenden einschließlich der Darlegung der konkreten Preisgestaltung für die gegenüber den Prostituierten seitens des Gewerbetreibenden erbrachten Dienstleistungen, etwa für Kost und Logis. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass der Gewerbetreibende sich von den Prostituierten keine Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung oder zu deren Vermittlung stehen, was die Gefahr begründen würde, dass die Prostituierten ihrerseits ihren Kunden gegenüber zu einer Gestaltung der Preise für ihre Dienstleistungen angehalten werden, die mit den Schutzzwecken des Gesetzes nicht mehr im Einklang steht. Außerdem ist festzulegen, welche Räume für die Prostitutionserbringung genutzt werden und welche Anzahl von Prostituierten sich während der Öffnungszeiten dort aufhalten soll. Des Weiteren muss erläutert werden, dass eine Gefährdung der Prostituierten bei ihrer Tätigkeit aufgrund der Beschaffenheit der Räume ausgeschlossen ist.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Beschluss vom 21. Februar 2019 – 1 L 41/19 –, juris, Rn. 32 f.; Weidtmann-Neuer, in: PdK Bund, Teil K-2g, ProstSchG, 4. Fassung 2020, § 16, Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nur die Einreichung eines Betriebskonzeptes, das diesen inhaltlichen Anforderungen so genügt, dass die Genehmigungsfrage durch die zuständige Behörde ohne Weiteres – sei es mit dem Betreiber zu erteilenden Auflagen oder ohne – entschieden werden kann, kann im Rahmen eines bis zum 31. Dezember 2017 zu stellenden Antrags nach § 37 Abs. 2 Satz 1 ProstSchG dazu führen, dass der Eingang dieses Antrags bei der zuständigen Behörde die Erlaubnisfiktion des § 37 Abs. 4 Satz 1 ProstSchG auslöst. Liegen dagegen Mängel des Betriebskonzeptes vor, die weder vor der Entscheidung der Behörde über den Erlaubnisantrag nach § 37 Abs. 4 Satz 2 ProstSchG noch nachträglich nach § 17 Abs. 1 Satz 2 ProstSchG durch Auflagen oder selbständige Anordnung kompensiert werden können, handelt es sich um einen unmittelbar ablehnungsreifen Erlaubnisantrag, der eine Erlaubnisfiktion schlechterdings nicht auslösen kann.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das vom Antragsteller mit seinem Antrag vom 9. November 2017 ursprünglich eingereichte Betriebskonzept (Bl. V-1 ff. des Verwaltungsvorgangs) genügte den oben genannten Anforderungen nicht, wobei das Gericht bei der rechtlichen Bewertung die offensichtlich durch den Sachbearbeiter des Antragsgegners mit Bleistift nachträglich hinzugefügten Anmerkungen in dem im Verwaltungsvorgang enthaltenen Betriebskonzept nicht berücksichtigt hat.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Auch wenn vom Antragsteller keine bestimmte Form der Antragstellung verlangt werden konnte, war dieses Betriebskonzept jedoch mit Blick auf die wesentlichen Merkmale des Betriebes und die Vorkehrungen zur Einhaltung der Verpflichtungen nach dem ProstSchG (§ 16 Abs. 1 ProstSchG) – unter anderem den Mindeststandards für Prostitutionsstätten gem. § 18 Abs. 2 ProstSchG – unvollständig, überwiegend pauschalierend gehalten und mithin nicht geeignet, sämtliche Unklarheiten im Hinblick auf den beantragten Prostitutionsbetrieb auszuräumen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Insbesondere enthielt es keine Angaben über das Preismodell, das Bezahlsystem und die Höhe der von den Prostituierten für die Vorhaltung der Prostitutionsstätte entrichteten Vergütung. Letztere geht auch nicht aus dem außerdem übersandten, mit „Mietvertrag/Eintrittskarte/Unterkunft“ überschriebenen Dokument (vgl. Bl. V-11 des Verwaltungsvorgangs) hervor. Dieses ist aus sich heraus bereits nicht verständlich. Vor allem ist dabei nicht nachzuvollziehen, ob sämtliche Prostituierte die Tagespauschale von 15,00 € für „kalt und warm Büffet, Getränke und Übernachtung“ zahlen müssen oder nur dann, wenn sie diese Dienstleistungen auch in Anspruch nehmen. Sofern die Tagespauschale unabhängig davon zu zahlen ist, ist auch nicht ersichtlich, ob sie zusätzlich zum Eintrittspreis anfällt und wieso sie in diesem Fall nicht direkt auf den Eintrittspreis aufgeschlagen wird. Ferner wird nicht klar, wieso eine Eintrittskarte ab 13.00 Uhr 15,00 € und ab 14.00 Uhr 30,00 € kosten soll. Möglicherweise bezieht sich dies auf Tage mit Öffnungszeiten von 13.00 Uhr bis 2.00 Uhr (Sonntag bis Donnerstag) bzw. von 14.00 Uhr bis 4.00 Uhr (Freitag und Samstag). Deutlich wird dies indes ohne weitere Erläuterung nicht. Auch zu der konkreten Betriebsart als sog. Saunaclub ergab sich keine hinreichende Beschreibung. Die nur aus wenigen Stichpunkten bestehende Beschreibung der typischen Betriebsabläufe blieb erkennbar unvollständig und schlicht nicht aussagekräftig. Darüber hinaus waren die Angaben zu den wesentlichen Merkmalen des Betriebes dahingehend unzureichend, als die Angabe der Anzahl der Beschäftigten und Kunden in dem Betrieb nahezu ohne nennenswerte – und somit prüffähige – Konkretisierung erfolgte. So gab der Antragsteller sowohl die Anzahl der in Betrieb insgesamt tätigen Prostituierten, der maximal gleichzeitig im Betrieb anwesenden Prostituierten und die durchschnittliche Anwesenheitsdauer einer Prostituierten während der Öffnungszeiten jeweils mit „unterschiedlich 1 bis 18“ an, wobei mit Blick auf letztere Angabe schon unklar war, auf welche Zeiteinheit (z. B. Tage oder Stunden) sich dies beziehen sollte. Die Anzahl der maximal gleichzeitig im Betrieb anwesenden Kunden war mit „unterschiedlich 0 bis 30“ und die durchschnittliche Aufenthaltsdauer eines Kunden während der Öffnungszeiten mit „von 1/2 Stunde bis ganzen Tag“ angegeben.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Mit Blick auf die sonstigen Mitarbeiter des Betriebs wurde in zwei Fällen jeweils der Name einer Mitarbeiterin als ihre Funktion im Betrieb aufgeführt, wobei eine Angabe zu ihren Aufgaben fehlte. Im Hinblick auf den Barkeeper und die Putzfrau fehlte wiederum die Angabe zur Art der Anstellung. Auch mit Blick auf die Beschreibung besonderer Aufgaben der Mitarbeiter war nicht nachvollziehbar, wer der vier genannten Personen mit den Aufgaben „Leitung des Clubs, Beaufsichtigung, Getränke ausschenken[,] Gäste [e]mpfangen“ betraut sein sollte. Auch die Ausstattung der Verrichtungszimmer konnte dem Betriebskonzept nicht entnommen werden. Insoweit gab der Antragsteller lediglich an, „9 Themenzimmer“ vorzuhalten. Auch im Übrigen blieben die Angaben unkonkret, bruchstückhaft und unzureichend. Zu etwaigen Schlaf- und/oder Wohnräumen im Betrieb führte der Antragsteller lediglich aus, es gebe „mehrere Schlafräume 2-3 Damen in ein Zimmer (Küche + Sozialraum + Waschraum + Bad) separat von Arbeitsräumen“. Angaben zu den Modalitäten der Vermietung solcher Räume fehlten vollständig. Die Anzahl der Waschgelegenheiten für Kunden wurde mit „1 bis 4“ angegeben. Auch die Beschreibung der Maßnahmen zur Verhinderung der Prostitution durch Opfer von Menschenhandel beläuft sich auf die Angabe „Gespräch zwischen Betreiber und ‚Prostituierten‘ unter Ausschluß durch ‚Dritte‘“. Ebenso blieben die Ausführungen zu den Pflichten zum Schutz von Minderjährigen ersichtlich vollkommen unzureichend. So gab der Antragsteller hierzu an „trifft nicht zu! Habe keine Minderjährige“ und führte im Übrigen als einzige Maßnahme eine nicht näher beschriebene „Ausweiskontrolle“ an. Wann und durch wen diese erfolgt, führte der Antragsteller nicht aus. Als Maßnahme zur Ermöglichung der gesundheitlichen Beratung und des Aufsuchens von Untersuchungs- und Beratungsangeboten während der Geschäftszeiten war lediglich das Stichwort „Gesundheitsamt“ angegeben. Auch zu etwaigen Hygieneplänen enthielt das Betriebskonzept keinerlei Angaben. Ob ein Alkoholausschank im Betrieb erfolgt, blieb offen. Die nach Angabe des Antragstellers vorhandene Gaststättenerlaubnis war seinem Antrag nicht beigefügt. Ferner blieben auch die Angaben zu Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten vollkommen unzureichend.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet all dessen findet die Übergangsregelung des § 37 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 ProstSchG vorliegend auch bereits deshalb keine Anwendung, weil der Antragsteller am 18. Juni 2021 – und damit nach dem in § 37 Abs. 4 Satz 2 ProstSchG genannten Zeitpunkt – ein von dem mit seinem ursprünglichen Antrag vom 9. November 2017 eigereichten Betriebskonzept erheblich abweichendes Betriebskonzept (vgl. Bl. V-65 ff. des Verwaltungsvorgangs) vorgelegt hat. Legt der Antragsteller der Genehmigungsbehörde im Laufe des Genehmigungsverfahrens ein von seinem ursprünglichen Antrag derart abweichendes Betriebskonzept vor, dass dieses bei wertender Gesamtbetrachtung als ein die Genehmigungsfrage gänzlich neu aufwerfendes Konzept und nicht lediglich als eine Ergänzung oder Vervollständigung des ursprünglichen Betriebskonzepts anzusehen ist, ist im Rahmen der Übergangsregelung auf den Zeitpunkt der Einreichung des neuen Betriebskonzepts und nicht auf denjenigen der ursprünglichen Antragstellung abzustellen. Denn die Genehmigung – und damit auch deren Beantragung – bezieht sich wie bereits dargestellt auf ein bestimmtes Betriebskonzept. Vor diesem Hintergrund fehlt es bei Einreichung eines nach den dargestellten Maßstäben neuen Betriebskonzepts an der erforderlichen Identität zum ursprünglichen Erlaubniserteilungsantrag. Eine durch fristgemäßen Antrag eingetretene Erlaubnisfiktion erlischt jedenfalls mit der Aufgabe des bei Antragstellung eingereichten Betriebskonzepts.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Fall liegt hier vor. Eine Identität des am 18. Juni 2021 eingereichten Betriebskonzepts mit dem bei Antragstellung am 9. November 2017 vorgelegten Betriebskonzept ist vorliegend bei wertender Gesamtbetrachtung nicht mehr gegeben. So weichen die Beschreibung der Betriebsabläufe und der vorgesehenen Schutzmaßnahmen deutlich voneinander ab. Ferner gehen die Öffnungszeiten wesentlich über die ursprünglich angegebenen hinaus. Gleiches gilt für die erhebliche Steigerung der Anzahl der im Betrieb insgesamt tätigen (1 bis 18 zu 40) und der maximal gleichzeitig in diesem anwesenden Prostituierten (1 bis 18 zu 25) sowie Kunden (0 bis 30 zu 80 bis 100). Starke Veränderungen finden sich auch hinsichtlich der Räume für sexuelle Dienstleistungen (von 9 Themenzimmern zu 8 Standard- und 3 Themenzimmern). Auch die Anzahl der sanitären Einrichtungen weist erhebliche Abweichungen auf. Letztlich handelt es sich angesichts der dargestellten Änderungen, insbesondere auch hinsichtlich der massiv ausgeweiteten Kapazitäten um ein völlig neues Betriebskonzept, welches von einer für das ursprüngliche Konzept hypothetisch erteilten Genehmigung ersichtlich nicht mehr gedeckt wäre, sondern erheblich über dieses hinausgeht und die Genehmigungsfrage gänzlich neu aufwirft.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Dass der Antragsteller daneben seinen ursprünglichen Antrag aufrechterhalten hätte, oder sein Prostitutionsgewerbe (weiterhin) nach dem zuerst eingereichten Betriebskonzept betreibt, ist nicht zu erkennen. Im Gegenteil teilte er mit E-Mail vom 21. Juni 2021 (Bl. V-78 des Verwaltungsvorgangs) mit, dass die am 18. Juni 2021 eingereichten Unterlagen die vorherigen im Rahmen seines Antragsverfahrens ersetzen sollen. Ausweislich des Aktenvermerks vom 16. August 2021 (Bl. IV-31 des Verwaltungsvorgangs) erklärte der Antragsteller an diesem Tag außerdem mündlich, seinen Betrieb nur mit den Angaben vom 18. Juni 2021 führen zu wollen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist der Antrag zulässig, insbesondere mit Blick auf die Untersagungsverfügung (Ziffer 2) als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2 VwGO und hinsichtlich der Zwangsmittelandrohung (Ziffer 3) als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO statthaft, aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Das Gericht kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn – wie vorliegend im Hinblick auf die Zwangsmittelandrohung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 112 JustG NRW – die aufschiebende Wirkung der Klage kraft Gesetzes entfällt. Es kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung wiederherstellen, wenn – wie hier für die Untersagungsverfügung – gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts angeordnet worden ist. Hierbei hat das Gericht jeweils eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dem privaten Interesse des Antragstellers, von der sofortigen Durchsetzung des Verwaltungsakts vorläufig verschont zu bleiben, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts gegenüberzustellen, wobei hinsichtlich § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die gesetzgeberische Wertung des Entfallens der aufschiebenden Wirkung der Klage zu beachten ist. Ausgangspunkt dieser Interessenabwägung ist eine – im Rahmen des Eilrechtsschutzes allein mögliche und gebotene summarische – Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Ergibt diese Prüfung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und ist deshalb die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen bzw. wiederherzustellen. Denn an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts kann grundsätzlich kein öffentliches Vollzugsinteresse bestehen. Erweist sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, in Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO allerdings nur dann, wenn zusätzlich ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts besteht. Denn die behördliche Vollziehungsanordnung stellt eine Ausnahme vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO dar und bedarf deswegen einer besonderen Rechtfertigung. Erscheinen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, ist die Entscheidung auf der Grundlage einer umfassenden Folgenabwägung zu treffen. Hat die Behörde die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes angeordnet, ist die Anordnung unabhängig von einer Interessenabwägung aufzuheben, wenn sie formell rechtswidrig ist.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO (Ziffer 4 des streitgegenständlichen Ablehnungsbescheids) ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Insbesondere bedurfte es vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung keiner Anhörung des Antragstellers. Die Anhörungspflicht aus § 28 Abs. 1 VwVfG NRW findet auf sie – entgegen der Auffassung des Antragstellers – schon deshalb keine Anwendung, weil es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung mangels Regelungswirkung nicht um einen Verwaltungsakt handelt. Denn die sachliche Regelung, nämlich die Begründung, Aufhebung, Änderung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten, ist bereits vollständig in dem Verwaltungsakt enthalten, auf den sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung bezieht. Überdies schafft die Anordnung der sofortigen Vollziehung keine Bestandskraft. Sie hat als verfahrensrechtliche Nebenentscheidung zum Verwaltungsakt lediglich eine verfahrensrechtliche Wirkung, indem sie die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs ausschließt. Auch ist § 28 Abs. 1 VwVfG NRW nicht analog auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung anzuwenden. Insoweit fehlt es angesichts der abschließenden Regelung der formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 3 VwGO bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Ferner besteht schon angesichts der vorstehenden Ausführungen keine vergleichbare Interessenlage zum Erlass eines Verwaltungsakts. Zudem kann der Betroffene Einwände gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung, die nicht schon ohnehin im Rahmen der für den zugrunde liegenden Verwaltungsakt grundsätzlich erforderlichen Anhörung zur Sprache gekommen sind, in der Regel jederzeit in den vergleichsweise raschen Verfahren nach § 80 Abs. 4 und § 80 Abs. 5 vorbringen. Ohnehin musste der bereits im verwaltungsverfahren anwaltlich vertretene Antragsteller vorliegend mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung, bei der es sich ersichtlich nicht um eine Überraschungsentscheidung handelt, rechnen und hatte im Rahmen seiner Anhörung zu der Untersagungsverfügung hinreichende Gelegenheit, auch hierzu Stellung zu nehmen.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24. März 1993 – 20 B 5005/92 –, juris; sowie ausführlich Gersdorf, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 62. Ed., 1. Juli 2021, § 80 VwGO, Rn. 80 f.; Puttler, in: Sodan/Ziekow, NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, VwGO § 80 Rn. 80 f.; Schoch, in: Schoch/Schneider, VerwR, 42. EL, Februar 2022, § 80 VwGO Rn. 258.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Ferner genügt die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügung (Seite 9 des Bescheids) den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO. Dem Antragsgegner war der Ausnahmecharakter des Sofortvollzuges ersichtlich bewusst und der Begründung lässt sich entnehmen, dass er eine sofortige Vollziehung ausnahmsweise für geboten hielt. Weitergehende Anforderungen stellt § 80 Abs. 3 VwGO nicht.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur OVG NRW, Beschlüsse vom 25. März 2015 – 4 B 1480/14 – und vom 9. Juni 2004 – 18 B 22/04 –, jeweils juris, Rn. 2 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügung des Antragsgegners überwiegt gegenüber dem Interesse des Antragstellers, von einer Vollziehung vorläufig verschont zu bleiben, denn die diesem gegenüber ergangene Untersagungsverfügung erweist sich nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen und auch nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als offensichtlich rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die in Ziffer 2 des Ablehnungsbescheids ausgesprochene Untersagungsverfügung ist § 15 Abs. 2 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO), weil das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) keine dem Regelungsgehalt des § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO entsprechende Vorschrift enthält. Danach kann bei einem Gewerbe, zu dessen Ausübung eine Erlaubnis, Genehmigung, Konzession oder Bewilligung (Zulassung) erforderlich ist und welches ohne diese Zulassung betrieben wird, die Fortsetzung des Betriebs von der zuständigen Behörde verhindert werden. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung ist – da es sich bei dieser um einen Dauerverwaltungsakt handelt – der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. März 2005 – 6 C 11.04 –, juris, Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Steht diese – wie vorliegend – noch aus, ist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. Juli 2007 – 6 S 2020/06 –, juris, Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO liegen vor. Die Tätigkeit des Antragstellers ist gewerberechtlich formell illegal, da er nicht im Besitz der für seine Tätigkeit erforderlichen Erlaubnis nach § 12 ProstSchG ist.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Eine solche Erlaubnis nach § 12 Abs. 1 Satz 1 ProstSchG ist erforderlich, denn es handelt sich bei der Tätigkeit des Antragstellers um den Betrieb eines Prostitutionsgewerbes.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Ein Prostitutionsgewerbe betreibt unter anderem, wer gewerbsmäßig Leistungen im Zusammenhang mit der Erbringung sexueller Dienstleistungen durch mindestens eine andere Person anbietet oder Räumlichkeiten hierfür bereitstellt, indem er eine Prostitutionsstätte betreibt (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 ProstSchG). Prostitutionsstätten sind Gebäude, Räume und sonstige ortsfeste Anlagen, die als Betriebsstätte zur Erbringung sexueller Dienstleistungen genutzt werden (§ 2 Abs. 4 ProstSchG). Betreiber einer Prostitutionsstätte ist dabei insbesondere, wer Räume gezielt zum Zwecke der Ausübung der Prostitution zur Verfügung stellt und dadurch einen wirtschaftlichen Nutzen aus der Prostitution anderer zieht.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen, BT-Drs. 18/8556, S. 60 f.; Bayrischer VGH, Beschluss vom 29. März 2019 – 22 CS 19.297 – juris, Rn. 18 f.; VG Minden, Beschluss vom 17. Dezember 2019 – 3 L 1232/19 – juris, Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Bei dem streitgegenständlichen Etablissement „Saunaclub H.      O.     “, N1.        Str. , I.       handelt es sich um eine solche Prostitutionsstätte i. S. d. ProstSchG, die vom Antragsteller als sog. Sauna- bzw. FKK-Club betrieben wird. Es stehen sog. Verrichtungszimmer zum Zwecke der Prostitution zur Verfügung sowie ein Wellnessbereich, Gasträume mit Thekenbereich und Tanzfläche mit Tanzstange, Aufenthaltsräume und Sanitäranlagen.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller ist weder im Besitz einer demnach erforderlichen Erlaubnis nach § 12 Abs. 1 Satz 1 ProstSchG noch profitiert er – wie bereits ausgeführt – von der Übergangsregelung des § 37 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 ProstSchG.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung des Antragsgegners, den Betrieb der Prostitutionsstätte ab Zustellung des Ablehnungsbescheids zu untersagen, ist zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch nicht ermessensfehlerhaft.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Im Gewerberecht ist anerkannt, dass die formelle Illegalität, also das Fehlen der erforderlichen Erlaubnis, die Betriebsuntersagung nach § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO grundsätzlich rechtfertigt. Eine Ausnahme gilt aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur dann, wenn die erforderliche Erlaubnis bereits beantragt ist oder mit Sicherheit beantragt wird und die materiellen Erlaubnisvoraussetzungen offensichtlich, d. h. ohne weitere Prüfung erkennbar, erfüllt sind, so dass die Untersagung nicht mehr zur Gefahrenabwehr erforderlich wäre. Verbleibende Unklarheiten oder Zweifel an der Erfüllung der Erlaubnisvoraussetzungen rechtfertigen dagegen ein Einschreiten.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. Oktober 2017 – 4 A 1607/16 –, juris, Rn. 70 f.; VG Minden, Beschluss vom 21. Dezember 2018 – 3 L 1385/18 –, n. v., S. 4 d. Urteilsabdrucks.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Eine weitere materielle Prüfung kann unter Umständen wegen einer ansonsten drohenden Existenzgefährdung ausnahmsweise geboten sein.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 23. September 1996 – 14 TG 4192/95 –, juris, Rn. 10; VG München, Beschluss vom 9. Dezember 2008 – M 16 S 08.5495 –, juris, Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vorliegend hat der Antragsgegner das ihm eingeräumte Ermessen sowohl bei Erlass des Ablehnungsbescheids vom 18. Juli 2022 als auch in der Folgezeit erkannt und ausgeübt. Er hat mit Recht angenommen, dass die materiellen Erlaubnisvoraussetzungen nicht vorliegen und die Ablehnung des Erlaubnisantrags die Betriebsuntersagung intendiert.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Erlaubnis nach § 12 ProstSchG zu Recht abgelehnt. Denn das hier maßgebliche, am 2. Februar 2022 vorgelegte Betriebskonzept vom 30. Januar 2022 (vgl. Bl. V-112 ff. des Verwaltungsvorgangs) genügt ebenfalls den oben dargestellten Anforderungen des § 16 ProstSchG nicht.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Dieses zuletzt vorgelegte Betriebskonzept enthält in weiten Teilen auffallend pauschale, nicht hinreichend auf die tatsächlichen Umstände im betreffenden Prostitutionsbetrieb abstellende Ausführungen, aus welchen sich dessen wesentliche Merkmale nicht in ausreichendem Maße nachvollziehen lassen. Die Beschreibung der typischen Betriebsabläufe ist derart allgemein gehalten, dass es ihr nicht nur an dem erforderlichen Bezug zu der konkreten Prostitutionsstätte fehlt, sondern diese sich sogar schablonenhaft auf nahezu jeden Betrieb einer Prostitutionsstätte anwenden ließe. So wird u. a. lediglich pauschal angegeben, dass „[d]as Unternehmen […] gegenüber den Prostituierten Räumlichkeiten zum Abschluss von Verträgen über entgeltliche Leistungen und deren Vollzug vor[halte]“, ohne dabei weiter auf die räumlichen Gegebenheiten vor Ort einzugehen, sodass unklar bleibt, wo genau die Anbahnung und wo der Vollzug der prostitutiven Leistungen stattfinden soll. Dies lässt sich auch nicht mit hinreichender Klarheit den im Verwaltungsvorgang enthaltenen Grundrissplänen (vgl. Bl. V5-55 ff. des Verwaltungsvorgangs) entnehmen. Dies gilt schon deshalb, weil diese 11 Zimmer für sexuelle Dienstleistungen aufweisen, während nach dem aktuellen Betriebskonzept nur 10 solche Zimmer vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund ist letztlich auch die Anzahl der Räume für sexuelle Dienstleistungen nicht zweifelsfrei erkennbar. Dies gilt auch für die nach dem Betriebskonzept vorgehaltenen 9 Schlafräume mit 22 Betten zur entgeltlichen Überlassung an die Prostituierten. Den vorgelegten Grundrissplänen sind lediglich 4 Schlafräume zu entnehmen. Zu den Modalitäten der Vermietung dieser Räume enthält das Betriebskonzept keine Angaben. Auch vor dem Hintergrund des mit E-Mail vom 18. Juni 2021 (vgl. Bl. V-63 f. des Verwaltungsvorgangs) eingereichten Ausnahmeantrags nach § 37 Abs. 5 ProstSchG, mit welcher der Antragsteller die Nutzung der für sexuelle Dienstleistungen bestimmten Räume als Schlaf- oder Wohnräume entgegen § 18 Abs. 2 Nr. 7 ProstSchG begehrt (vgl. Bl. V-75 f. des Verwaltungsvorgangs), lässt sich – schon ungeachtet aller weiteren Fragen – nicht nachvollziehen, welche der vorhandenen Räume tatsächlich als Schlafräume Verwendung finden sollen.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Insbesondere aber enthält das Betriebskonzept nur vollkommen unzureichende Darlegungen zu den Arbeitsbedingungen der Prostituierten. Es fehlt es an jeglichen konkreten Angaben zu den Kosten und Verdienstmöglichkeiten der Prostituierten. So ermöglicht das Betriebskonzept nicht die erforderliche Prüfung, ob der Versagungsgrund nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 ProstSchG vorliegt. Danach ist die Erlaubnis zu versagen, wenn aufgrund des Betriebskonzepts oder sonstiger tatsächlicher Umstände Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen § 26 Abs. 2 oder 4 ProstSchG vorliegen. Nach § 26 Abs. 4 ProstSchG ist es dem Betreiber eines Prostitutionsgewerbes verboten, sich von Prostituierten, die in seinem Prostitutionsgewerbe sexuelle Dienstleistungen erbringen oder erbringen wollen, für die Vermietung von Räumen, für die Vermittlung einer Leistung oder für eine sonstige Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren zu lassen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung oder zu deren Vermittlung stehen. Aus dem aktuellen Betriebskonzept geht lediglich hervor, dass das „Unternehmen von den Besuchern und von den Prostituierten eine Vergütung in Form eines Eintrittspreises für das Vorhalten der Einrichtung (Zimmer, Gastro-, Wellness u. Außenbereich)“ erhalte. Die Höhe dieser Vergütung bleibt dabei völlig offen. Sie geht auch nicht aus der zuletzt mit E-Mail vom 3. November 2021 vorgelegten Vergütungsvereinbarung hervor (vgl. Bl. V-102 des Verwaltungsvorgangs). Gleiches gilt für die nach den vorgelegten Unterlagen offen bleibende Vergütung für die Beherbergung der Prostituierten. Es liegt auf der Hand, dass eine Prüfung des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung konkrete Angaben zu der Höhe eben jener Gegenleistung voraussetzt.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der organisatorischen Abläufe im Betrieb kann ferner auf Grundlage des Betriebskonzepts nicht im Ansatz nachvollzogen werden, wie die räumlichen Gegebenheiten, insbesondere die lediglich 10 für sexuelle Dienstleistungen vorgehaltenen Räume, die gleichzeitige Anwesenheit von bis zu 25 Prostituierten und 100 Kunden ermöglichen sollen bzw. wie sich vor diesem Hintergrund ausreichende Verdienstmöglichkeiten für die einzelnen Prostituierten ergeben können.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Offensichtlich ungenügend ist das Betriebskonzept vom 30. Januar 2022 zudem hinsichtlich der Darlegungen zur Gewährleistung der Sicherheit der Prostituierten, insbesondere in Bezug auf das Notrufsystem (§§ 16 Abs. 2 Nr. 5, 18 Abs. 2 Nr. 2 ProstSchG). So wird in der Anlage A zum Betriebskonzept unter Ziffer 3 „Beschreibung zum Notrufsystem der einzelnen für sexuelle Dienstleistungen genutzten Räume“ (Bl. V-118 des Verwaltungsvorgangs) ausgeführt, dass sich in jedem Verrichtungszimmer ein für den Kunden verborgener Alarmknopf befinde, der im Falle seiner Betätigung ein akustisches und optisches Signal mit der Angabe der Zimmernummer „an der Theke“ auslöse. Welche weiteren betrieblichen Verfahrensabläufe ein solcher Notruf auslöst, bleibt vollkommen im Dunklen. Eine detaillierte Beschreibung solcher betrieblichen Verfahrensabläufe wäre aber erforderlich. Bezeichnenderweise sieht das Betriebskonzept nicht die Beschäftigung auch nur einer Person aus dem Bewachungsgewerbe vor, so dass letztlich nur der Schluss gezogen werden kann, dass auf die Betätigung des Notrufknopfs in einem Verrichtungszimmer wohl seitens der beiden Hausdamen, der Hauswirtschafterin oder der Küchenkraft (vgl. Übersicht der sonstigen Mitarbeiter im Betrieb, Bl. V-114 des Verwaltungsvorgangs) reagiert werden soll. Dass dies im Falle einer echten Gefährdung durch einen sexuellen Übergriff in einem Verrichtungszimmer eine betrieblich vollkommen unangemessene Reaktion wäre, bedarf keiner näheren Ausführungen.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Da die beantragte Erlaubnis bereits aus den dargelegten Gründen zu versagen ist, bedarf es keiner Prüfung der weiteren Erteilungsvoraussetzungen für die beantragte Erlaubnis nach § 12 ProstSchG.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Schließlich gehen auch die Ausführungen des Antragstellers zu einem vermeintlichen Verstoß der sich aus § 16 Abs. 1, Abs. 2 ProstSchG ergebenden Anforderungen an das Betriebskonzept gegen höherrangiges Unionsrecht fehl. Die maßgeblichen nationalgesetzlichen Vorschriften zu Genehmigungsverfahren und -formalitäten in ihrer hier dargestellten Auslegung stehen mit den Vorgaben der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) im Einklang.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Vorliegen eines Unionsbezugs und zur Anwendbarkeit der Regelungen in Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie auf rein innerstaatliche Sachverhalte EuGH, Urteil vom 30. Januar 2018 – C-360/15 und C-31/16 –, juris, sowie Urteil vom 1. Oktober 2015 – C-340/14 und C-341/14 –, juris, Rn. 41 f.; Ludwigs, in: Dauses/Ludwigs EU-WirtschaftsR-HdB, Werkstand: 56. EL April 2022, E. I. Grundregeln, Rn. 255, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Sie sind insbesondere im Sinne von Art. 13 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2006/123/EG weder abschreckend noch die Erbringung der Dienstleistung erschwerend oder verzögernd. So ist schon nicht ersichtlich, wieso es einem Dienstleistungserbringer nicht ohne Weiteres möglich sein sollte, im Rahmen des Betriebskonzepts eine hinreichend auf die konkrete Prostitutionsstätte bezogene Beschreibung der typischen Betriebsabläufe vorzunehmen. Jedenfalls sind die dargestellten Anforderungen an das Betriebskonzept durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses im Sinne von Art. 4 Nr. 8 der Richtlinie 2006/123/EG gerechtfertigt. Sie sind zum Schutz der öffentlichen Ordnung, konkret insbesondere zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Prostituierten und zur Vorbeugung von gegen diese gerichtete Straftaten, vor allem Menschenhandel, Zwangsprostitution und Prostitution Minderjähriger,</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">vgl. EuGH, Urteil vom 1. Oktober 2015 – C-340/14 und C-341/14 –, juris, Rn. 68; Rixen, GewArch Beilage WiVerw Nr. 2018/2, 127, 135,</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">geeignet, erforderlich und angemessen. Nur indem der Betreiber verpflichtet wird, die konkreten Abläufe in der Prostitutionsstätte bereits im Rahmen des Genehmigungsverfahrens detailliert und transparent darzulegen, kann gewährleistet werden, dass eine Genehmigung ausschließlich für solche Betriebe erteilt wird, von welchen von vornherein keine Gefahr für die genannten Rechtsgüter ausgeht. Dabei dienen diese Anforderungen dem Schutz hochrangiger, in engem Zusammenhang mit der Menschenwürde stehender Rechtsgüter der Prostituierten als besonders vulnerabler Gruppe. Demgegenüber ist ein damit einhergehender Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit des Betreibers der Prostitutionsstätte von geringem Gewicht, zumal es diesem – wie bereits dargestellt – ohne größere Umstände möglich ist, die geforderten Darlegungen im Rahmen seines Betriebskonzepts vorzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Auch die allgemeine Interessenabwägung fällt zum Nachteil des Antragstellers aus. Es besteht im vorliegenden Fall ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Untersagungsverfügung. Im Interesse der Allgemeinheit ist es nicht hinnehmbar, dass der Antragsteller unter Ausnutzung des Suspensiveffekts seiner Anfechtungsklage bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens den Betrieb seiner Prostitutionsstätte weiter fortsetzt. Dies gilt selbst dann, wenn man – wie der Antragsteller – von offenen Erfolgsaussichten seiner Verpflichtungsklage auf Erteilung der beantragten Erlaubnis nach § 12 ProstSchG ausgehen würde. Bei Fortsetzung des Betriebs einer Prostitutionsstätte bei der offen ist, ob sie die durch das ProstSchG aufgestellten Anforderungen erfüllt, droht eine Gefährdung des – wie bereits dargestellt – besonders schutzbedürftigen und hochrangigen Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung der im Betrieb tätigen Prostituierten. Demgegenüber sind die wirtschaftlichen Interessen des Antragstellers von geringerem Gewicht. Eine Existenzgefährdung ist vorliegend jedenfalls nicht hinreichend dargelegt. Doch selbst bei Unterstellung einer solchen überwiegt angesichts der in Rede stehenden Rechtsgüter das öffentliche Vollzugsinteresse.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der in Ziffer 3 des Bescheids ausgesprochenen Zwangsgeldandrohung geht die im Rahmen von § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO zu treffende Abwägungsentscheidung ebenfalls zugunsten des Antragsgegners aus. Nach der im vorliegenden Verfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage lässt die angefochtene Zwangsgeldandrohung keine Rechtsfehler erkennen. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2, 58, 60 und 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW). Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass die Höhe des angedrohten Zwangsgelds unverhältnismäßig wäre.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, die Festsetzung des Streitwerts auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 1.5, 54.1 und 54.2.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.</p>
346,860
vg-koln-2022-10-05-5-k-508521
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5 K 5085/21
"2022-10-05T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:32"
"2022-10-17T11:10:54"
Beschluss
ECLI:DE:VGK:2022:1005.5K5085.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>1.</p> <p>Das in der Hauptsache erledigte Verfahren wird eingestellt.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.</p> <p>2.</p> <p>Der Streitwert wird auf 5.000,00  Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist albanische Staatsangehörige und reiste im Juli 2015 gemeinsam mit dem Ehemann, R.     W.       , sowie den gemeinsamen minderjährigen Kindern E.      , E1.         und. E2.     zum Zwecke der Asylantragstellung in das Bundesgebiet ein.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Datum vom 21.10.2015 erfolgte die förmliche Asylantragstellung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid des BAMF vom 22.10.2015 wurde der Asylantrag der Familie als offensichtlich unbegründet abgelehnt und zudem festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Überdies wurde die Abschiebung in das Zielland Albanien angedroht.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Abschiebungsandrohung ist seit dem 30.10.2015 vollziehbar.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Ehemann R.     W.       wurde indessen in der LVR Klinik C.    stationär behandelt. Unter dem 11.07.2017 wurde ein Asylfolgeantrag hinsichtlich des Ehemannes gestellt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid BAMF vom 24.01.2019 wurde der Asylfolgeantrag des Ehemannes als unzulässig abgelehnt. Überdies wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 bzgl. der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ebenfalls abgelehnt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Gegen diese Entscheidung erhob der Ehemann der Klägerin am 24.01.2019 Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln (24 K 876/19.A) und stellte zudem am 29.01.2020 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (24 L 224/20.A). Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtes Köln vom 05.03.2020 (24 L 224/20.A) wurde der vorgenannte Antrag abgelehnt.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Klägerin und ihre Kinder wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtes Köln vom 27.05.2020 (Az.: 5 L 332/20) als unzulässig abgelehnt, da der Klägerin bereits eine materielle Duldung erteilt worden war. Denn dem Sohn E.      wurde 2021 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG erteilt, so dass der Klägerin eine Duldung analog zur Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis Ihres Sohnes nach der Regelung des § 60a Abs. 2b AufenthG ausgestellt wurde.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unter dem 04.08.2021 beantragte die Klägerin erstmals die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 32 Abs. 2 Nr. 5 BeschV, hilfsweise die Erteilung der Nebenbestimmung „Beschäftigung nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde erlaubt".</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Für den Fall der Versagung der beantragten Beschäftigungserlaubnis nach § 60a Abs. 6 AufenthG führte der Prozessbevollmächtigte aus, dass er eine solche Handhabung für verfassungswidrig halte.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 26.08.2021 wurde der Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 32 Abs. 2 Nr. 5 BeschV abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass gemäß § 60a Abs. 6 Nr. 3 AufenthG einem Ausländer, der eine Duldung besitzt, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden dürfe, wenn er Staatsangehöriger eines sicheren Herkunftsstaates nach § 29a AsylG sei und sein nach dem 31.08.2015 gestellter Asyl-/ Asylfolgeantrag abgelehnt worden sei. Beide Voraussetzungen lägen hier vor. Gesetzgeberisches Ziel von § 60a Abs. 2b AufenthG sei es, die Ausübung des Sorgerechts der Eltern für ihre minderjährigen Kinder zu schützen, und nicht, diesen auch eine Beschäftigung zu ermöglichen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zudem habe sich die Abwägung, ob eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden könne, an einwanderungspolitischen Aspekten auszurichten. Deshalb finde die Forderung, dem Duldungsinhaber nach § 60a Abs. 2b AufenthG müsse zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Weiteres eine Beschäftigung erlaubt werden, in § 60a Abs. 2b AufenthG keine Stütze.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zudem wolle der Gesetzgeber mit der Regelung des § 60a Abs. 6 Nr. 3 AufenthG den Flüchtlingen aus sichereren Herkunftsstaaten generell die Möglichkeit nehmen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um so den Anreiz nach Deutschland zu kommen, zu verringern.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Am 04.10.2021 hat die Klägerin Klage erhoben.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Sie ist der Auffassung, dass die Regelung des § 60a Abs. 6 AufenthG verfassungswidrig sei. Die Verfassungsmäßigkeit von § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG begegne insbesondere Bedenken mit Blick auf den Allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG (a) und das allgemeine Bestimmtheitsgebot aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG mit Blick auf die Ausnahme für die Rücknahme des Asylantrages aufgrund einer BAMF-Beratung (b). Es stelle sich die Frage der Verhältnismäßigkeit der Norm (c). Aus diesen Gründen werde eine Vorlage beim BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG angeregt (d). Es würden wesentlich gleiche Sachverhalte unterschiedlich behandelt, nämlich Ausländer aufgrund ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeit hinsichtlich ihrer Berechtigung, in Deutschland einer Beschäftigung nachzugehen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Ausländer aus sicheren Herkunftsstaaten, die keinen Asylantrag gestellt hätten und solche, deren Asylantrag abgelehnt oder zurückgenommen worden sei, würden gegenüber denjenigen Ausländern aus sicheren Herkunftsstaaten ungleich behandelt, bei denen eine Rücknahme aufgrund einer BAMF-Beratung erfolge. Diese (gesetzliche) Ungleichbehandlung gehe auch von demselben Träger hoheitlicher Gewalt aus, nämlich der Bundesrepublik Deutschland bzw. dem Gesetzgeber des Bundes. Für die Staatsangehörigen sicherer Herkunftsstaaten bedeute das ein generelles Beschäftigungsverbot und in aller Regel eine dauerhafte Verfestigung im Aufenthaltsstatus der Duldung. Viele Personen aus diesem Kreis hätten einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, etwa aus familiären Gründen - wie im vorliegenden Fall der Klägerin - oder weil sie krankheitsbedingt dauerhaft nicht reisefähig seien. In beiden Fällen sei eine Abschiebung aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 6 GG bzw. Art. 2 Abs. 2 GG) nicht möglich. Diese Personen könnten aber aufgrund des Verbotes der Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt nicht sichern und daher nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG grundsätzlich keine Aufenthaltserlaubnis (etwa nach § 25 Abs. 5 AufenthG und auch nach § 25a Abs. 2 AufenthG) bekommen. Insbesondere die Bleiberechtsregelungen für gut integrierte langfristig Geduldete in § 25a Abs. 2 AufenthG und § 25b Abs. 1 AufenthG sowie die durch dasselbe Gesetz wie die Verschärfung von § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG geschaffenen Institute der Beschäftigungsduldung nach § 60d AufenthG und der (neu gefassten) Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG seien somit für diesen Personenkreis praktisch gegenstandslos.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat angekündigt, zu beantragen,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung der Ordnungsverfügung vom 26.08.2021, zugestellt am 02.09.2021, zu verpflichten, ihr eine Beschäftigungserlaubnis nach § 32 Abs. 2 Nr. 5 BeschV zu erteilen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Hilfsweise hat sie beantragt,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.08.2021, zugestellt am 02.09.2021, zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung - insbesondere in Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG - des Gerichtes neu zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist dem Vortrag der Klägerin entgegengetreten.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Nach gerichtlichen Aufklärungs- und Hinweisverfügungen unter dem 24.01.2022 und 22.03.2022 erklärte sich die Beklagte bereit, der Klägerin unter Vorlage eines Arbeitsplatzangebotes eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b Abs. 1 AufenthG bei Vorliegens der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen zu erteilen. Unter dem 25.08.2022 teilte die Beklagte mit, dass sämtliche Unterlagen eingereicht seien und nach einem persönlichen Vorsprachetermin am 08.09.2022 die Aufenthaltskarten in Auftrag gegeben werden könnten.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Daraufhin haben die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt und wechselseitigen Kostenantrag gestellt.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">In entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist das übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärte Verfahren einzustellen. Unter den gegebenen Umständen entspricht es billigem Ermessen i.S.v. § 161 Abs. 2 VwGO, dass die Beklagte die Kosten des Verfahrens trägt. Sie wäre bei streitiger Durchführung des Klageverfahrens voraussichtlich unterlegen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Streitgegenstand des Verfahren ist die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis, die der Klägerin aufgrund der Regelung in § 60a Abs. 6 AufenthG, die Staatsangehörige sicherer Herkunftsstaaten von der Erwerbstätigkeit ausschließt, versagt wurde.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hält die Regelung in § 60a Abs. 6 AufenthG grundsätzlich nicht für verfassungsrechtlich problematisch. Nach Auffassung der Kammer ist die Regelung zusammen mit § 26 Abs. 2 BeschV (sog. Westbalkanregelung) zu lesen. Nach dieser Vorschrift können in den Jahren 2021 bis einschließlich 2023 Zustimmungen zur Beschäftigung mit Vorrangprüfung erteilt werden. Die erstmalige Zustimmung darf nur erteilt werden, wenn der Antrag bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung in dem Herkunftsland gestellt wird. Jedenfalls theoretisch, bei vertretbarer Verfahrensdauer in den deutschen Auslandsvertretungen, kann der Ausschluss jedweder Erwerbstätigkeit nach § 60a Abs. 6 AufenthG damit in fast wörtlichem Sinne „umgangen“ werden. Der Ausländer ist nach erteilter Beschäftigungserlaubnis legal im Bundesgebiet und kann bzw. wird nach § 19c Abs.1 AufenthG eine verlängerbare Aufenthaltserlaubnis erhalten.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dass es eine vergleichbare Regelung für Ausländer aus sicheren Herkunftsstaaten, die nicht im Westbalkan liegen, nicht gibt, ist in diesem Fall nicht weiter von Belang.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Regelung kann aber in besonderen Fallkonstellationen zu verfassungsrechtlich nicht tragbaren Ergebnissen führen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall einer faktisch alleinerziehenden Albanerin mit psychisch schwer erkranktem Ehemann, der unter Betreuung steht und in einer Einrichtung wohnt, und drei minderjährigen Kindern, davon eines mit Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet, ist die Regelung des § 26 Abs. 2 BeschV zur Erlangung einer Erwerbserlaubnis dauerhaft nicht erreichbar. Die Klägerin kann ihre Kinder nicht unbetreut über Monate im Bundesgebiet zurücklassen, ihr Ehemann ist für die Betreuung der Kinder während ihrer Abwesenheit krankheitsbedingt ungeeignet. Ohne Verlust des Aufenthaltsrechts des Kindes nach § 25a AufenthG kann auch nicht die gesamte Familie ausreisen und die Beschäftigungserlaubnis allein der Klägerin aus dem Ausland beantragen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">In einer Konstellation wie der vorliegenden, in der das Kind über seine Integration seinen zuvor ausreisepflichtigen Eltern ein Bleiberecht verschafft, stellt sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 60a Abs. 6 AufenthG aus Sicht des Rechts des aufenthaltsberechtigten Kindes auf Familienleben nach Art. 6 GG.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Zwar wird dem Recht des Kindes auf Familienleben insofern Rechnung getragen, dass es keine aufenthaltsrechtliche Trennung von den Eltern und Geschwistern befürchten muss. Diese erhalten eine Duldung nach § 60a Abs. 2b AufenthG. Die alleinerziehende Mutter ist vorliegend jedoch durch § 60a Abs. 6 AufenthG von der Integration in die bundesrepublikanischen Verhältnisse durch Erwerbstätigkeit <span style="text-decoration:underline">allein</span> aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit eines Landes, das als sicherer Herkunftsstaat qualifiziert wurde, ausgeschlossen und gegenüber anderen Eltern von Jugendlichen, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG innehaben und die nicht Staatsangehörige sicherer Herkunftsstaaten sind, benachteiligt. Die Regelung in § 60 a Abs. 6 AufenthG knüpft allein an die Staatsangehörigkeit und nicht an ein früheres Verhalten der Klägerin an. Andere Eltern, etwa aus Borundi, Ruanda, Jemen oder Armenien, dürfen bei völlig gleicher Einwanderungs- oder Asylverfahrensgeschichte erwerbstätig sein und ihnen kann bei Sicherung des Lebensunterhalts nach § 25a Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dieser in § 60a Abs. 6 AufenthG liegende Ausschluss von Integration durch Erwerbstätigkeit stellt nach Sicht des Gerichts einen ungerechtfertigten Eingriff in das Familienleben des aufenthaltsberechtigten Kindes nach Art. 6 GG und/oder Art. 8 EMRK dar, da er nicht aus einem sachlichen Grund gerechtfertigt werden kann,</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 - 1 BvL 14/07 (Ausschluss von Personen vom bayrischen Landeserziehungsgeld aus Gründen der Staatsangehörigkeit), zitiert nach juris, wonach es möglich ist, dass eine „Ungleichbehandlung ausländischer Staatsangehöriger in bestimmten Konstellationen hinsichtlich ihrer nachteiligen Auswirkungen auf die Betroffenen einer Unterscheidung nach den in Art. 3 III 1 GG genannten Merkmalen nahe kommt, so dass strenge verfassungsrechtliche Anforderungen an die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu stellen sind.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Den Gesetzgeber trifft die verfassungsrechtliche Pflicht, das Familienleben zu schützen. Es muss durch sachliche Gründe rechtfertigbar sein, wenn Eltern eines aufenthaltsberechtigten Kindes einem Erwerbsverbot unterliegen, das ihnen die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kindern beeinträchtigt. Das Erwerbstätigkeitsverbot wirkt sich zwangsläufig auf die wirtschaftliche Situation der Familie aus. Erschwerend sind diese Familien zudem auch vom Bezug vom Kindergeld ausgeschlossen, denn beim Bezug des Kindergeldes kommt es auf die aufenthaltsrechtliche Situation der Eltern und nicht der Kinder an.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Gründe, die den Gesetzgeber bewogen haben, Staatsangehörige aus sicheren Herkunftsstaaten hinsichtlich des Zugangs zum Erwerbsleben zu benachteiligen, sind sämtlich genereller Natur, dienen der „Abschreckung“ der im Herkunftsland verbliebenen, sollen „Fehlanreize“ im Asylrecht beseitigen,</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">vgl. Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar § 60 a X. Beschäftigungsverbot (Abs. 6) Rn 181 zitiert nach juris und Werdermann, Die Vereinbarkeit von Sonderrecht für Asylsuchende und Geduldete aus sicheren Herkunftsstaaten mit Art. 3 GG in ZAR 2018, 11.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Sie knüpfen also anders als die in § 60a Abs. 6 Nr. 1 und 2 AufenthG niedergelegten Gründe nicht an ein individuelles Verhalten des Ausländers, sondern allein an seine Staatsangehörigkeit an.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der verfassungsrechtliche Eingriff in das Rechts auf Familienleben des aufenthaltsberechtigten Kindes kann nicht durch das Argument vermieden werden, dass die gesamte Familie nach Albanien zurückkehren und dort leben und arbeiten könne.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Würde so argumentiert werden, verlöre § 25a AufenthG, der eben nicht zwischen Jugendlichen aus sicheren Herkunftsstaaten und sonstigen Drittausländern differenziert, für integrierte Jugendliche aus diesen Ländern faktisch Relevanz. Jede Schlechterbehandlung dieser Familien könnte mit dem Argument, dass diese Familien doch dahin zurückgehen könnten, wo sie herkommen, gerechtfertigt werden. Der gesetzgeberische Gedanke, gut integrierten Jugendlichen eine Bleibeperspektive zu geben würde konterkariert.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Schlechterbehandlung von Familien aus sicheren Herkunftsstaaten mit aufenthaltsberechtigtem Jugendlichen nach § 25a AufenthG ist aus sachlichen Gründen nicht zu rechtfertigen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Aus diesem verfassungsrechtlichen Grund, den die Beklagte hätte erkennen müssen, stellt sich dann die Frage nach der verfassungskonformen Anwendung des Aufenthaltsgesetzes. Kann § 60a Abs. 6 AufenthG unter Zuhilfenahme der sonstigen Regelungen des AufenthG nicht verfassungskonform ausgelegt werden, dann muss das Gericht die Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG vorlegen.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">§ 60 a Abs. 6 AufenthG ist eine zwingende Vorschrift, die keine Ausnahmen in atypischen Fallgestaltungen kennt. Bei der Frage der verfassungskonformen Auslegung des § 60 a Abs. 6 AufenthG muss also geprüft werden, ob zur Vermeidung des Erwerbstätigkeitsverbotes die Erteilung eines Aufenthaltsrechts, konkret eines humanitären Aufenthaltsrecht nach dem 5. Titel des Aufenthaltsgesetz in Betracht kommt.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Das Gericht verkennt nicht, dass aus Artikel 6 GG oder Artikel 8 EMRK kein Recht auf einen bestimmen Aufenthaltstitel folgt, solange das Recht auf gemeinsames Familienleben gewahrt ist. Dementsprechend sieht auch § 25a AufenthG in § 25a Abs 2 AufenthG nur unter bestimmten Bedingungen eine Aufenthaltserlaubnis für Eltern und Geschwister vor, ansonsten verbleibt es bei einer Duldung, allerdings mit der Beschäftigungsmöglichkeit nach § 32 Abs. 2 Nr. 5 BeschV.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Hätte die Klägerin eine Aufenthaltsberechtigung nach § 25 Abs. 5 AufenthG inne, dann wäre das Erwerbsverbot nach § 60a Abs. 6 AufenthG für sie gegenstandslos. Vorliegend steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entgegen, denn der Asylantrag der Klägerin wurde nicht nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 bis 6 AsylG abgelehnt. Um ihr erst die Aufnahme der Sicherung des Lebensunterhalts der Familie zu ermöglichen, kann die Beklagte von dem Erfordernis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG absehen. Das behördliche Ermessen dürfte hier aus den verfassungsrechtlichen Gründen reduziert sein.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Es entbehrt im vorliegenden Fall nicht einer gewissen Ironie, dass die Beklagte für die Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG in Betracht gezogen hat, da nach der gesetzlichen Überschrift die Vorschrift für besonders gut integrierte Ausländer gelten soll. Diese Integration sollte aber durch den § 60a Abs. 6 AufenthG verhindert werden.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Ziffer 1 dieses Beschlusses ist unanfechtbar (entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 2, § 158 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Anträge und Erklärungen können ohne Mitwirkung eines Bevollmächtigten schriftlich eingereicht oder zu Protokoll der Geschäftsstelle abgegeben werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem das Verfahren sich erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
346,845
olgce-2022-10-05-14-u-1922
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14 U 19/22
"2022-10-05T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:17"
"2022-10-17T11:10:52"
Urteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Auf die Berufung der Klägerin wird das am 20. Dezember 2021 verkündete Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg - 10 O 19/22 - abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 8.416,18 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 27. Mai 2019 zu zahlen;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">2. die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 1.646,74 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22. Februar 2021 zu zahlen;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">3. die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 405,48 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22. Februar 2021 zu zahlen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen die Klägerin zu 25% und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 75%.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 13.417,18 €.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong> I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Klägerin ist die gesetzliche Krankenversicherung des Zeugen B., der am 28. April 2017 durch einen Hundebiss seines eigenen Rauhaardackels verletzt wurde. Unmittelbar vor dem Biss wurde der Hund durch ein vom Beklagten zu 1 gesteuertes Fahrzeug überfahren, dessen Halter der Beklagte zu 1 ist, und das bei der Beklagten zu 2 versichert ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Zeuge B. ist im Bereich M. Jagdpächter. Er und der Beklagte zu 1 kennen sich schon seit Jahren und sind freundschaftlich verbunden. Beide teilen ein Interesse für die Jagd. Der Beklagte zu 1 hatte früher eine Jagd in S., wo der Zeuge als Gast des Beklagten zu 1 jagen durfte. Nachdem der Beklagte zu 1 seine Jagd verloren hatte und der Zeuge der Pächter der Gemeindejagd M. wurde, kam der Beklagte zu 1 ab und an zu diesem als Jagdgast und half bei gemeinschaftlichen Unternehmungen, wie bspw. dem Anlegen eines Pirschpfades oder dem Bau von Jagdeinrichtungen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Am 28. April 2017 brachte der Beklagte zu 1 auf Bitten des Zeugen Materialien für einen Hochsitz, den der Zeuge B. an einem vorher gemeinsam besprochenen Ort im Wald bauen wollte. Der Beklagte zu 1 befuhr den Waldweg zu diesem Zweck mit seinem geländegängigen Pick Up. Der Zeuge befand sich mit seinem Rauhaardackel schon vor Ort, den er an einer langen Leine mit sich führte. Nachdem die Beteiligten mit den Arbeiten begonnen hatten, wollte der Beklagte zu 1 sein Fahrzeug umsetzen. Beim Anfahren übersah er den Hund des Zeugen B., der von dem rechten Vorderrad des Beklagtenfahrzeugs überfahren wurde. Als der Zeuge unmittelbar nach dem Unfall seinen wie leblos daliegenden Hund aufhob, biss dieser dem Zeugen plötzlich tief in das linke Handgelenk.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die tiefe Bissverletzung entzündete sich im Verlauf der Abheilung und musste operiert werden. Der Zeuge B. war bis zum 17.9.2017 arbeitsunfähig, es entstanden Heilbehandlungskosten in Höhe von 11.221,53 €. Zwischen dem 1.5.2017 und dem 9.6.2017 erhielt der Zeuge 2.195,65 € Entgeltfortzahlung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen im Übrigen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen (<span style="text-decoration:underline">§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO</span>).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, den Beklagten komme eine Haftungsprivilegierung gem. §§ 104 ff. SGB VII zugute. Der Beklagte zu 1 habe unter arbeitnehmerähnlichen Umständen dem Zeugen geholfen, den Hochsitz zu errichten. Dabei habe seine Arbeit auch einen wirtschaftlichen Wert gehabt. Der Beklagte zu 1 habe über ein erforderliches geländegängiges Fahrzeug verfügt, das sich der Zeuge ansonsten hätte anmieten oder anders hätte beschaffen müssen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><table class="Rsp"><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td></tr></table></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Sie behauptet, es habe kein arbeitnehmerähnliches Beschäftigungsverhältnis gegeben, das die Anwendung eines Haftungsprivilegs rechtfertige. Es habe sich bei der Hilfe des Beklagten zu 1 um eine Gefälligkeit im Rahmen einer langjährigen Freundschaft und eines gemeinsamen Hobbys gehandelt. Bei der Verabredung zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort habe es sich nicht um eine „Weisung“, sondern um eine Notwendigkeit gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Überdies hätte sich der Schaden, selbst wenn man eine „wie-Beschäftigung“ unterstellen wollte, nicht bei der Ausführung dieser Tätigkeit ereignet, sondern allenfalls bei Gelegenheit. Es habe sich vorliegend nur um die Hinfahrt zum „Arbeitsort“ gehandelt, bei der der Unfall passiert sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Schließlich gehe das Landgericht von einer falschen Tatsache aus, wenn es annehme, der Zeuge sei der Pächter der betroffenen Fläche gewesen. Der Zeuge B. habe den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 31.1.2022 angerufen, um den Ausgang des Prozesses zu erfahren. In Laufe des Telefonats habe er angegeben, er sei in der Vergangenheit der Hauptpächter der Gemeindejagd M. gewesen. Dies habe er vor Gericht auch so gesagt. Dies sei schon lange nicht mehr so. Der Unfall habe sich im Übrigen auch gar nicht in der Gemeindejagd ereignet. Zum Unfallzeitpunkt habe er nur über einen unentgeltlichen Begehungsschein verfügt. Dieser werde als Anlage K8 eingereicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die Klägerin beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 11.221,53 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 27. Mai 2019 zu zahlen;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">2. die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 2.195,65 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">3. die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 478,62 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">hilfsweise, die Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Die Beklagten beantragen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p> die Berufung zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Beklagten behaupten, es habe sich um ein beschäftigungsähnliches Verhältnis gehandelt, als es zu dem Unfall gekommen sei. Der Zeuge B. habe wie ein Arbeitgeber über Zeit und Ort der Arbeitsleistung verfügt. Als Gegenleistung habe der Beklagte zu 1 jagen dürfen. Sie meinen, der Beklagte zu 1 sei als Jagdhelfer faktisch Betriebsangehöriger des Zeugen gewesen, mindestens aber ein sog. wie-Beschäftigter gem. § 2 Abs. 2 SGB VII und damit einem Betriebsangehörigen gleichgestellt (§ 105 Abs. 2 SGB VII). Der erstmals im Berufungsverfahren vorgelegte Berechtigungsschein sei verspätet gem. § 531 ZPO und nicht mehr zu berücksichtigen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben und begründet worden. In der Sache hat sie größtenteils Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz im tenorierten Umfang gem. §§ 7 Abs. 1; 17 Abs. 1, 4 StVG; § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG gegen die Beklagten als Gesamtschuldner gem. § 115 Abs. 1 Satz 4 VVG; § 421 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>a) Der Verkehrsunfall hat sich beim Betrieb des Beklagtenfahrzeuges i.S.d. § 7 Abs. 1 StVG ereignet, ohne dass ein Fall höherer Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG), ein sonstiger Haftungsausschluss (insbesondere gem. § 8 StVG) oder ein unabwendbares Ereignis i.S.v. § 17 Abs. 3 StVG vorgelegen hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Gem. § 7 Abs. 1 StVG muss der Schaden bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sein. Dies ist der Fall, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeuges steht (BGH, Urteil vom 21. Januar 2014 – VI ZR 253/13, Rn. 5 mwN). Dies ist der Fall, solange die einmal geschaffene Gefahrenlage fort- und nachwirkt (BGH, Urteil vom 26. März 2019 – VI ZR 236/18, Rn. 9, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>An diesem Zusammenhang fehlt es, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will (BGHZ 79, 259, 263; BGH, Urteil vom 1. Dezember 1981 - VI ZR 111/80 - VersR 1982, 243). Dies gilt insbesondere für Schäden, in denen sich ein gegenüber der Betriebsgefahr eigenständiger Gefahrenkreis verwirklicht hat (BGH, Urteil vom 2. Juli 1991 – VI ZR 6/91, Rn. 11 mwN). Dies ist vorliegend nicht der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Nach den vorgenannten Grundsätzen ist der geltend gemachte Schaden dem Grunde nach der von dem Beklagtenfahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr gem. § 7 Abs. 1 StVG zuzurechnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Der Unfall steht in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Betrieb des Fahrzeugs. Der Biss erfolgte noch vor Ort, nachdem der Hund gerade überrollt worden war, unmittelbar nach dem Hochheben des Hundes durch den Zeugen B.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Der Biss des gerade überfahrenen Dackels stellt auch keinen eigenen Gefahrenkreis dar, den sich die Klägerin zurechnen lassen muss. Der Hund hat - bei lebensnaher Betrachtung - zugebissen, weil er schockbedingt in dieser Ausnahmesituation nicht zwischen feindlicher und freundlicher Berührung unterscheiden konnte. Der Zeuge B. wurde auch erst durch das Überfahren des Tieres - bereits aus tierschutzrechtlichen Erwägungen - veranlasst, nach diesem zu sehen und es zu bergen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Februar 2013 – VI ZR 116/12, Rn. 16, juris, zum Sturz eines Geschädigten auf vereister Fläche nach einem Auffahrunfall. Der Bundesgerichtshof rechnet den Sturz der Betriebsgefahr des auffahrenden Fahrzeugs zu).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Dieser Fall ist insoweit nicht mit der Panikreaktion von Schweinen im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. Juli 1991 – VI ZR 6/91, juris, vergleichbar, die in erster Linie auf ein vom Geschädigten selbst gesetztes Risiko zurückzuführen war. Die Schweine waren auch nicht - wie hier - selbst Unfallbeteiligte, sondern gerieten durch ca. 50m entfernte Unfallgeräusche in Panik, was in dem dortigen Sachverhalt auf die beengten Haltungsumstände zurückzuführen war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Vorliegend war nichts Vergleichbares der Fall. Der Hund bewegte sich vor dem Vorfall angeleint im Wald. Es gibt keine Hinweise auf besondere Vorkommnisse oder andere Umstände, die mitursächlich für den Biss in die Hand des Zeugen sein könnten. Insbesondere die von den Beklagten behauptete generelle wesensmäßige Aggressivität von Rauhaardackeln ist - jedenfalls für den vorliegenden Hund - weder ersichtlich noch bewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Das Überfahren war auch die Ursache des Bisses. Für die Frage des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Überfahren des Hundes und dem anschließenden Biss reicht gem. § 286 ZPO ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, aus, um von der Erwiesenheit eines solchen Zusammenhangs auszugehen (st. Rspr., vgl. BGHZ 53, 245, 256; BGH, Urteil vom 18. April 1977 - VIII 286/75; BGH, Urteil vom 9. Mai 1989 - VI ZR 268/88; BGH, Urteil vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/02, Rn. 5, alle zitiert nach juris). Ein solcher Grad liegt nach der Auffassung des Senats vor. Denn der Hund hat sein eigenes Herrchen nicht anlasslos in die Hand gebissen, sondern aufgrund der zuvor erlebten Situation, die durch das Beklagtenfahrzeug hervorgerufen worden war (s.o.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Einer Haftung aus Betriebsgefahr steht nicht entgegen, dass sich der Unfall auf einem Waldweg ereignet hat, der ohne Erlaubnis nicht befahren werden durfte (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1994 – VI ZR 107/94, Rn. 20, juris, Unfall auf Privatgelände einer Pferderennbahn; BGH, Urteil vom 21. Januar 2014 – VI ZR 253/13 –, juris, zum Brand eines Fahrzeuges in einer privaten Tiefgarage; BGH, Urteil vom 20. Oktober 2020 – VI ZR 158/19, Rn. 5, juris, zum Brand eines Fahrzeuges in einer geschlossenen Werkstatthalle; Senat, Urteil vom 12. Mai 2021 – 14 U 189/20, Rn. 4 - 7, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG hat nach den erstinstanzlich festgestellten Tatsachen nicht für den Beklagten zu 1 vorgelegen. Die Beklagten, die für die Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens darlegungs- und beweisbelastet sind, haben bereits keine konkreten Tatsachen vorgetragen, deren Berücksichtigung eine andere Bewertung erfordern. Derjenige, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, muss sich wie ein „Idealfahrer“ verhalten haben. Dabei darf sich die Prüfung aber nicht auf die Frage beschränken, ob er in der konkreten Gefahrensituation „ideal“ reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein „Idealfahrer“ überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre, denn der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, dass er sich in der Gefahr nunmehr (zu spät) „ideal“ verhält. Damit verlangt § 17 Abs. 3 StVG, dass der „Idealfahrer“ auch die Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden (BGH, Urteil vom 13.12.2005 - VI ZR 68/04, Rn. 21, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Ein Idealfahrer hätte sich vor dem Anfahren versichert, dass der Hund hinreichend Abstand zum anfahrenden Fahrzeug hält bzw. sich nicht beim Anfahren unmittelbar vor dem Pkw in Fahrtrichtung befindet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>b) Die Klägerin unterfällt ebenfalls einer Gefährdungshaftung für die von dem Hund ausgehende Tiergefahr gemäß § 833 S. 1 BGB. Durch das Überfahren des Hundes und das daraufhin erfolgte Beißen des Zeugen B. hat sich eine typische Tiergefahr realisiert (vgl. Senat, Teilurteil vom 20. Januar 2016 – 14 U 128/13, Rn. 59 - 61, juris, zur Tiergefahr eines Pferdes). Das Tier, das durch das Überfahren durch das Beklagtenfahrzeug in eine konkrete Lebensgefahr gebracht wurde, begegnete dieser Situation mit einem instinkthaften Beißreflex.  Das ist Ausdruck tierischer Unberechenbarkeit, die den Grund der Gefährdungshaftung des Halters bildet (vgl. Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2014 – 1 U 115/13, Rn. 13, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Der Entlastungsbeweis gem. § 833 Satz 2 BGB wurde von der Klägerin nicht geltend gemacht und ist - nach Aktenlage - auch nicht einschlägig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>c) Im Rahmen der nach §§ 17 Abs. 1,2,4; 18 Abs. 3 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Zunächst ist das Gewicht des jeweiligen Verursachungsbeitrages der Kfz-Halter bzw. -Führer zu bestimmen, wobei zum Nachteil der einen oder anderen Seite nur feststehende, d. h. unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden dürfen, die sich auch nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben (Heß in: Burmann/Heß/Hühnermann/ Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 25. Auflage 2018, § 17 StVG Rn. 12). In einem zweiten Schritt sind die beiden Verursachungsanteile gegeneinander abzuwägen (Senat, Urteil vom 8. Mai 2018 – 14 U 9/18, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>aa) Ein Verschulden der Beklagten an dem Unfall ist weder unstreitig noch bewiesen. Es fehlen bereits Feststellungen, zu welchem Zeitpunkt der Hund vor das Fahrzeug des Beklagten zu 1 gelaufen ist und ob der Beklagte zu 1 den Hund vor dem Überfahren noch hätte sehen können und müssen bzw. ob er die Möglichkeit zu einer unfallvermeidenden Reaktion gehabt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Es kann daher dahinstehen, ob die StVO in dem streitgegenständlichen Waldgebiet überhaupt Anwendung gefunden hätte, und ob der Beißvorfall sodann in den Schutzbereich der relevanten Normen gefallen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>bb) Eine Sorgfaltspflichtverletzung des Zeugen B., die ein Verschulden auf Seiten der Klägerin begründen könnte, ist ebenfalls nicht erwiesen. Dies wäre dann der Fall, wenn der Zeuge die konkrete Gefahr hätte erkennen und vermeiden können und sonach die ihm im eigenen Interesse abzuverlangende Sorgfalt zur Schadensvermeidung außer Acht gelassen hätte. Im Bereich der Tierhalterhaftung liegt ein relevanter Beitrag des Anspruchstellers zur Entstehung des Schadens vor, wenn er eine Situation erhöhter Verletzungsgefahr herbeigeführt hat, obwohl er diese Gefahr erkennen und vermeiden konnte (OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. September 2005 – 5 U 21/05, Rn. 7 mwN, juris). Es ist weder bewiesen, dass der Zeuge B. im Vorfeld den Beißunfall mitverursacht hat, indem er den Hund nicht ausreichend beaufsichtigt hat (1), noch dass er den konkreten Beißunfall durch eine sorglose Näherung zu dem gerade überfahrenen Hund herbeigeführt hat (2).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>(1) Es liegt keine bewiesene Sorgfaltspflichtverletzung durch eine unterlassene Beaufsichtigung des Hundes vor. Nach dem unstreitigen Sachvortrag war der Hund angeleint. Der Zeuge B. überquerte mit einigen Metern Entfernung zum Fahrzeug des Beklagten zu 1 mit seinem Hund den Waldweg, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte und den Hund überfuhr. Es fehlen Feststellungen zur konkreten Situation, die ein Verschulden begründen könnten. Es ist unklar, wo und in welcher Entfernung zum Zeugen B. und zum Fahrzeug sich der Hund zum Zeitpunkt des Anfahrens befunden hat, ob er sich beispielsweise bereits vor dem Fahrzeug aufgehalten, oder plötzlich vor das Fahrzeug gelaufen ist und ob der Zeuge B. überhaupt eine Möglichkeit gehabt hätte, den Unfall zu verhindern, nachdem er das Anfahren des Fahrzeugs bemerkt hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>(2) Es liegt auch keine Sorgfaltspflichtverletzung vor, weil der Zeuge B. seinen Hund nach dem Überfahren hochgehoben hat. Die Beklagten rügen, dass der Zeuge die Gefahr hätte erkennen müssen und sich dem Hund nur mit großer Vorsicht hätte nähern dürfen. Dem folgt der Senat nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Ein Verhalten, mit dem sich der Zeuge einer erkennbaren Gefahr leichtfertig ausgesetzt hat, haben die Beklagten nicht bewiesen. Nach den nicht widerlegten Aussagen des Zeugen hielt er den Hund zunächst für tot („die Zunge hing ihm heraus“), nachdem dieser unstreitig vom rechten Vorderrad des Beklagtenfahrzeugs überfahren worden war und sich nicht bewegte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Nach dieser - nicht widerlegten - Sachverhaltsdarstellung hätte der Zeuge nicht damit rechnen müssen, von seinem - augenscheinlich - toten Hund gebissen werden zu müssen. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass ein kleiner Rauhaardackel nicht überlebt, wenn er von einem tonnenschweren Fahrzeug überrollt wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Dieser Fall liegt insoweit anders als der vom Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt entschiedene Fall, bei dem es sich um einen verletzten Hund handelte, der unmittelbar zuvor von einem anderen Hund angegriffen und verletzt worden war und sodann seinen Halter gebissen hatte. In diesem Fall - so das Oberlandesgericht - hätte sich der Halter dem angegriffenen und verletzten Hund nur sehr aufmerksam nähern dürfen, wobei er jederzeit mit einem Biss hätte rechnen müssen. (Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2014 – 1 U 115/13, Rn. 22, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>2.  Die Beklagten können keine Haftungsprivilegierungen gem. §§ 104 ff. SGB VII geltend machen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>Gem. § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, diesen sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 versicherten Weg herbeigeführt haben. Gem. § 105 Abs. 2 Satz 1 SGB VII gilt Absatz 1 entsprechend, wenn nicht versicherte Unternehmer geschädigt worden sind, was erst Recht auch für versicherte Unternehmer gilt (h.M. vgl. OLG Karlsruhe 24.5.2002, VersR 2003, 506; OLG Koblenz 19.4.2004, r+s 2004, 345; ebenso im Rahmen des § 106 Abs. 3 vom BGH so entschieden; BGH, Urteil vom 17.6.2008, NJW 2008, 2916; Rolfs, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, SGB VII § 105 Rn. 9 mwN).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>Der Beklagte zu 1 ist nicht betrieblich für den Zeugen B. tätig geworden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>Als betriebliche Tätigkeit des Schädigers ist grundsätzlich jede gegen Arbeitsunfall versicherte Tätigkeit zu qualifizieren. Entscheidend ist, ob es sich um eine betriebsbezogene Tätigkeit handelt, die dem Schädiger von dem Betrieb oder für den Betrieb übertragen oder die von ihm im Betriebsinteresse ausgeführt worden ist. Der Begriff der betrieblichen Tätigkeit ist weit auszulegen und objektiv zu bestimmen. Erforderlich ist eine unmittelbar mit dem Zweck der betrieblichen Beschäftigung zusammenhängende und dem Betrieb dienliche Tätigkeit, wobei es darauf ankommt, dass der Schaden in Ausführung einer betriebsbezogenen Tätigkeit verursacht wurde und nicht nur bei Gelegenheit (Hollo in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 105 SGB VII (Stand: 15.01.2022), Rn. 13; Wellner, in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, 31. Kap., Rn. 101 mwN; Senat, Urteil vom 28. Juli 2021 – 14 U 43/21, Rn. 36, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>a) Ein betriebliches Tätigwerden Beschäftigter nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII scheidet bereits wegen einer fehlenden Anstellung des Beklagten zu 1 beim Zeugen B. aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>b) Der Beklagte zu 1 ist auch nicht <em>wie ein Beschäftigter</em> betrieblich tätig geworden gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII<em>.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII erfasst tatbestandlich Tätigkeiten, die ihrer Art nach zwar nicht sämtliche Merkmale der Ausübung einer Beschäftigung iS von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII aufweisen, in ihrer Grundstruktur aber einer solchen ähneln. Es muss ebenfalls eine ernstliche, einem fremden Unternehmen dienende, dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert verrichtet werden, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte und regelmäßig verrichtet wird, die in einem fremden Unternehmen dafür eingestellt sind (vgl. BSG, Urteil vom 31.5.2005 - B 2 U 35/04 R - SozR 4-2700 § 2 Nr. 5; BSG Urteil vom 5.7.2005 - B 2 U 22/04 R - SozR 4-2700 § 2 Nr. 6; BSG Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 6/05 R - SozR 4-2700 § 2 Nr. 7 Rn. 14 mwN, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>Die Voraussetzungen einer arbeitnehmerähnlichen Tätigkeit sind insoweit: (1) Die Tätigkeit hat wirtschaftlichen Wert und dient einem Unternehmen, in dem der Handelnde nicht bereits als Beschäftigter nach Abs. 1 Nr. 1 versichert ist (sog. nutznießendes oder unterstütztes Unternehmen); (2) die Tätigkeit entspricht dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers; (3) die Tätigkeit kann ihrer Art nach von Arbeitnehmern verrichtet werden; (4) die Tätigkeit wird konkret unter arbeitnehmerähnlichen Umständen vorgenommen. Zur Beurteilung dieser Voraussetzungen kommt es nicht auf die unmittelbar zum Unfall führende Tätigkeit, sondern auf das Gesamtbild der tatsächlichen oder beabsichtigten Tätigkeit an (BSG Urt. v. 24.1.1991 – 2 RU 44/90, BeckRS 1991, 30736123). Deren Dauer hat dabei keine selbstständige Bedeutung und braucht nicht erheblich zu sein (vgl. Lilienfeld, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 118. EL März 2022, SGB VII § 2 Rn. 125 mwN).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Es kann vorliegend dahinstehen, ob die vorgenannten Voraussetzungen Nr. 1-3 vorgelegen haben, denn die Tätigkeit des Beklagten zu 1 wurde jedenfalls nicht unter arbeitnehmerähnlichen Umständen erbracht (Voraussetzung Nr. 4).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>Nicht jede einem Unternehmen dienende und dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit ist nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII versichert. Es muss vielmehr eine Tätigkeit sein, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die zu dem Unternehmer in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stehen. Die Tätigkeit muss also unter solchen Umständen geleistet werden, dass sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII ähnlich ist. Entscheidend ist, ob nach dem Gesamtbild der Tätigkeit diese beschäftigtenähnlich ausgeübt wird. Dies ist bei Verrichtungen zu verneinen, die in Erfüllung gesellschaftlicher, nicht rechtlicher Verpflichtungen erbracht werden. Eine Tätigkeit als „Wie-Beschäftigter“ scheidet insoweit aus, wenn das Tätigwerden auf besonderen Verpflichtungen und Rechtsverhältnissen beruht, die ein Arbeitsverhältnis typischerweise ausschließen, wie mitgliedschaftliche, gesellschaftsrechtliche oder familiäre Bindungen (Bieresborn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 2 SGB VII (Stand: 27.06.2022), Rn. 615 mwN).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Konkreter schließen Verrichtungen aufgrund freundschaftlicher oder nachbarschaftlicher Beziehungen eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit eines Verletzten und damit den Versicherungsschutz über § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII dann aus, wenn es sich um einen aufgrund der konkreten sozialen Beziehungen geradezu selbstverständlichen Hilfsdienst handelt oder die zum Unfall führende Verrichtung als Erfüllung gesellschaftlicher (nicht rechtlicher) Verpflichtungen anzusehen ist, die bei besonders engen Beziehungen zwischen Freunden typisch, üblich und deshalb zu erwarten sind (Bieresborn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 2 SGB VII (Stand: 27.06.2022), Rn. 653).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>Dabei kann die Ausübung einer Wie-Beschäftigung nach § 2 Abs. 2 SGB VII nicht allein deswegen verneint werden, weil die Verrichtung wegen und im Rahmen einer Sonderbeziehung zum Unternehmer erfolgt ist. Auch wenn eine solche „Sonderbeziehung“ besteht, sind alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Dabei kann sich ergeben, dass die konkrete Verrichtung außerhalb dessen liegt, was für enge Verwandte, Freunde oder Bekannte getan wird, oder dass sie nicht wegen der Sonderbeziehung vorgenommen wird; dann kann sie den Tatbestand der „Wie-Beschäftigung“ erfüllen (vgl. LSG Bayern Urt. v. 25.9.2013 – L 2 U 248/12, BeckRS 2013, 74234, beck-online).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>Von Bedeutung sind insoweit einerseits Art (z. B. Freundschaft, Bekanntschaft, Geschäftsbeziehung), Dauer und Ausmaß der persönlichen Beziehung einschließlich der Ausgestaltung wie z. B. in der Vergangenheit geleisteter Hilfen und deren Gegenseitigkeit und andererseits die übernommene Verrichtung nach Art (z. B. Schwierigkeit; Gefährlichkeit), Umfang und Dauer. Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob das persönliche Verhältnis (Freundschaft- bzw. Verwandtschaft) das Handlungsmotiv bildet und die Verrichtung als Gefälligkeitsleistung nach Art, Umfang und Zeitdauer durch die Stärke des persönlichen Verhältnisses (Freundschaft, Bekanntschaft oder Verwandtschaft) wesentlich geprägt wird oder ob es sich um eine Tätigkeit handelt, die über das hinausgeht, was allgemein im Rahmen eines solchen persönlichen Verhältnisses geleistet bzw. erwartet wird (vgl. hierzu auch Bayerisches LSG vom 28.05.2008 - L 2 U 28/08; Bieresborn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 2 SGB VII (Stand: 27.06.2022), Rn. 652 mwN; LSG Bayern Urt. v. 25.9.2013 – L 2 U 248/12, BeckRS 2013, 74234, beck-online).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>Ein weiteres wesentliches Abgrenzungskriterium ist die Gefährlichkeit der Tätigkeit. Eine bloße (unversicherte) Gefälligkeitshandlung liegt nicht mehr vor, wenn es sich um eine länger dauernde, anstrengende und zugleich gefährliche Tätigkeit handelt (Bieresborn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 2 SGB VII (Stand: 27.06.2022), Rn. 621).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p>Unter Beachtung dieser Grundsätze ist bei der zum Unfall führenden Tätigkeit des Beklagten zu 1 von einer nicht versicherten Gefälligkeitsleistung auszugehen, deren Handlungstendenz durch die Sonderbeziehung zwischen dem Zeugen B. und dem Beklagten zu 1 geprägt war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p>Eine erneute Zeugenvernehmung ist dabei nicht erforderlich. Ein Berufungsgericht ist dann verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es dessen Glaubwürdigkeit anders als der Erstrichter beurteilen oder die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (BGH, Beschluss vom 7. November 2018 - IV ZR 189/17, ZEV 2019, 281 Rn. 8 mwN; BGH, Beschluss vom 17. September 2020 – V ZR 305/19, Rn. 7 mwN, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_60">60</a></dt> <dd><p>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Senat übernimmt die vom Landgericht festgestellten Tatsachen und Würdigungen. Lediglich die daraus gezogenen rechtlichen Schlüsse weichen von denjenigen des Landgerichts ab. Diese andere rechtliche Bewertung der getroffenen Feststellungen führt jedoch nicht dazu, dass der Senat die gesamte Beweisaufnahme wiederholen muss. Im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_61">61</a></dt> <dd><p>Nach den Feststellungen des Landgerichts hat es sich bei dem Zeugen B. und dem Beklagten zu 1 um langjährige Jagdfreunde gehandelt. Unstreitig hatte zunächst der Beklagte zu 1 ein Jagdrevier, in dem der Zeuge B. gejagt hat. Später jagte der Beklagte zu 1 im Revier des Zeugen B. Der Beklagte zu 1 hat nach den Feststellungen des Landgerichts ausgeführt, es sei immer mal wieder vorgekommen, dass der Zeuge B. ihn um Unterstützung gebeten habe „immer ganz zwanglos, wenn Dinge eben angefasst werden mussten“. Das sei für ihn selbstverständlich gewesen und habe auch Spaß gemacht. Er habe dafür keine Kompensation bekommen, sondern dort jagen dürfen. Gegenleistung sei dafür aber nicht der richtige Begriff, weil dies ganz alltäglich und üblich sei. Sie hätten gemeinsam den Hochsitz geplant und im Rahmen ihrer jagdlichen Erfahrung überlegt, wie und wo er am besten gebaut werden sollte. Jeder habe Ideen gehabt, das habe Spaß gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_62">62</a></dt> <dd><p>Der Zeuge B. hat dies nach den Feststellungen des Landgerichts bestätigt. Beide kennen sich seit vielen Jahren. Er habe den Beklagten zu 1 ab zu und gefragt, ihm bei Unternehmungen wie diesen zu helfen. Es habe keine Kompensationen gegeben. Früher habe er auf dessen Gebiet gejagt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_63">63</a></dt> <dd><p>Nach den Feststellungen des Landgerichts war es für beide Beteiligte selbstverständlich, zusammen jagdliche Unternehmungen aus Spaß vorzunehmen. Es habe sich um eine langjährige Freundschaft gehandelt, eine Kompensation habe es nicht gegeben. Der Beklagte zu 1 gibt nach den Feststellungen des Landgerichts ausdrücklich an, die Erlaubnis zu jagen verstehe er nicht als Gegenleistung für seine Hilfe bei gemeinsamen Unternehmungen. Bereits diese Feststellungen lassen nach der Auffassung des Senats nur den Schluss zu, dass es sich um eine Gefälligkeit unter langjährigen Jagdfreunden im Rahmen der Ausübung einer gemeinsamen Freizeitgestaltung gehandelt hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_64">64</a></dt> <dd><p>Hinzu kommt, dass es sich bei der Hilfe des Beklagten zu 1 um eine Tätigkeit von sehr begrenztem Umfang gehandelt hat. Der Beklagte zu 1 hat einen einfachen Fahrdienst geleistet und im Rahmen einer jahrzehntelangen Jagdfreundschaft ein „paar Bretter“ in den Wald transportiert. Der Aufbau des Hochsitzes sollte unstreitig nicht erfolgen, der Zeuge B. hat sogar bekundet, das habe er allein machen wollen (Protokoll der mündlichen Verhandlung des Landgerichts vom 8.10.2021, Seite 3).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_65">65</a></dt> <dd><p>Dieser Sachverhalt ist insoweit nicht vergleichbar mit dem vom Oberlandesgericht Oldenburg entschiedenen Sachverhalt (Urteil vom 14.10.2015 - 5 U 46/15), in dem die verletzte Person gemeinsam mit einem gewerblichen Unternehmen Pannenhilfe geleistet und eine überwiegend fremdnützige Intention hatte (OLG Oldenburg, aaO, Rn. 37 ff., juris). In die gleiche Richtung geht auch der vom Oberlandesgericht Stuttgart entschiedene Sachverhalt (Urteil vom 13.11.2013 - 3 U 110/13), in dem die dortige Zeugin auf Anweisung eines TÜV-Mitarbeiters bei einer Kfz-Untersuchung Hilfstätigkeiten vorgenommen hatte. Auch im dortigen Sachverhalt handelte es sich - anders als im hiesigen Fall - um keine eigene Freizeitbeschäftigung, sondern um eine Hilfe bei der Erfüllung fremder betrieblicher Pflichten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_66">66</a></dt> <dd><p>Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Vorhabens ist ferner zu berücksichtigen, ob es sich um eine gefährliche Tätigkeit oder um eine solche von besonderem wirtschaftlichen Wert gehandelt hat. Beides war vorliegend nicht der Fall. Der Materialtransport war weder gefährlich noch wirtschaftlich besonders relevant, was die Auffassung des Senats zusätzlich unterstützt (anders bspw. die eintägige Mithilfe beim Aufbau einer Pergola, vgl. LSG Bayern Urt. v. 25.9.2013 – L 2 U 248/12, BeckRS 2013, 74234, beck-online).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_67">67</a></dt> <dd><p>Nach alldem ergibt sich aus den Feststellungen des Landgerichts kein Hinweis auf eine beschäftigungsähnliche Tätigkeit. Schließlich wurde die Erlaubnis zum Jagen auch von beiden Beteiligten nicht als Gegenleistung für den Materialtransport gesehen, was bei einer lebensnahen Gesamtbetrachtung der langjährigen Freundschaft der beiden Jäger auch eher fernliegend sein dürfte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_68">68</a></dt> <dd><p>3. Es sind sodann die beiderseitigen Gefährdungshaftungen gegeneinander abzuwägen. Der Senat erachtet vorliegend eine Haftungsquote von 75:25 zu Lasten der Beklagten für angemessen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_69">69</a></dt> <dd><p>Bei der Abwägung der beiderseitigen Gefährdungshaftungen ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte zu 1 mit seinem Fahrzeug die erste Ursache für den Unfall gesetzt und die gesamte Situation geprägt hat, was zu einem deutlichen Haftungsübergewicht auf Beklagtenseite führt. Das Überfahren des Hundes hat unmittelbar dessen tierisches Verhalten beeinflusst. Das daraufhin erfolgte Beißen des Hundes stellt sich daher nur als Reaktion auf das vorherige Überfahren dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_70">70</a></dt> <dd><p>Die Tiergefahr hat sich ebenso verwirklicht. Ist - wie vorliegend - das Tier durch einen Unfall unmittelbar betroffen und sogar (zumindest psychisch) verletzt worden, erhöht sich die einfache Tiergefahr. Ein verletztes Tier bringt durch seine erhöhte tierische Unberechenbarkeit ein größeres Gefahrenpotential mit sich als ein gesundes Tier, was sich vorliegend mit dem reflexhaften Biss in den Arm seines Halters auch ausgewirkt hat. Nach der Ansicht des Senats rechtfertigt diese erhöhte Tiergefahr eine klägerische Beteiligung an dem Schaden in Höhe von 25%.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_71">71</a></dt> <dd><p>Eine erhöhte Betriebsgefahr des geländegängigen sog. Pick Up findet dagegen keine Berücksichtigung. Es ist nicht erwiesen, dass sich die Schwere und Größe des Beklagtenfahrzeugs bei dem Unfallgeschehen ausgewirkt haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_72">72</a></dt> <dd><p>Der Haftungsbeschränkung gem. § 840 Abs. 3 BGB, wonach die Tiergefahr gegenüber der Verschuldenshaftung aus § 823 BGB keine Anwendung findet, kommt ebenfalls keine Bedeutung zu. Der in § 840 Abs. 3 BGB enthaltene Rechtsgedanke soll dann zum Tragen kommen, wenn auf Seiten des einen Schädigers nur ein Fall der Gefährdungshaftung, auf Seiten des Mitschädigers jedoch eine Haftung aus Verschulden vorliegt. In diesem Verhältnis soll letzterer allein für den Schaden aufkommen (vgl. Senat, Urteil vom 10. April 2018 – 14 U 147/17, Rn. 19 mwN; BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – VI ZR 23/15, Rn. 26; BGH, Urteil vom 25. Oktober 1994 - VI ZR 107/94; BGH, Urteil vom 23. September 2010 - III ZR 246/09, alle zitiert nach juris; kritisch: Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 840 Rn. 21 f. mwN). Vorliegend haften beide Parteien aus Gefährdungshaftung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_73">73</a></dt> <dd><p>4.  Die Höhe des Schadens ist unstreitig. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung von 75% der von ihr geltend gemachten Positionen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_74">74</a></dt> <dd><p>5. Der Zinsanspruch und die Rechtsverfolgungskosten ergeben sich aus §§ 280 Abs. 2; 286 Abs. 1; 288 Abs. 1 Satz 2, 291 BGB. Die Rechtsverfolgungskosten berechnen sich nach dem begründeten Betrag des Tenors zu Ziffer 1 (8.416,18 €), für den die Klägerin eine 0,65 Geschäftsgebühr begehrt. Der Betrag zu Ziffer 2 ist erst im Wege der Klagerhöhung geltend gemacht worden und fällt insoweit nicht in die Berechnung der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_75">75</a></dt> <dd><p>6. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Einführung der neuen Anlage K8 (Bl. 208) gem. § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO zuzulassen wäre. Es kommt nicht darauf an, ob der Zeuge B. selbst Pächter oder nur Inhaber eines unentgeltlichen Jagderlaubnisscheins war. Selbst wenn er Pächter gewesen wäre, wie das Landgericht festgestellt hat, könnten sich die Beklagten nicht auf eine Privilegierung berufen (s.o.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>III.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_76">76</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 92 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_77">77</a></dt> <dd><p>Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>IV.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_78">78</a></dt> <dd><p>Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und der Senat nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes oder eines anderen Oberlandesgerichts abweicht, so dass auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern, § 543 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>V.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_79">79</a></dt> <dd><p>Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren folgt aus § 3 ZPO, § 47 Abs. 1 GKG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE270912022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,936
olgbs-2022-10-04-1-wf-12522
{ "id": 602, "name": "Oberlandesgericht Braunschweig", "slug": "olgbs", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
1 WF 125/22
"2022-10-04T00:00:00"
"2022-10-15T10:00:51"
"2022-10-17T11:11:07"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Helmstedt vom 04.08.2022 dahingehend abgeändert, dass der Antragstellerin ihre Verfahrensbevollmächtigte zur Vertretung in dem Verfahren beigeordnet wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Das Beschwerdeverfahren betrifft die Anwaltsbeiordnung im Rahmen der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für die Durchführung eines Verfahrens zur Umgangsregelung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>In der Hauptsache hat die Antragstellerin mit anwaltlichem Schreiben vom 27.01.2022 die Regelung des Umgangs des Antragsgegners mit den beiden gemeinsamen, damals acht- und sechsjährigen, Kindern der Beteiligten beantragt und hierzu vorgebracht, eine außergerichtliche verlässliche Umgangsregelung sei auch mit Hilfe des Jugendamts wegen der Weigerungshaltung des Antragsgegners nicht zustande gekommen. Gleichzeitig hat die Antragstellerin die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Verfahrensbevollmächtigten beantragt und eine Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Anlagen eingereicht. Das Amtsgericht hat für die Kinder eine Verfahrensbeiständin bestellt und am 21.02.2022 die Kinder angehört. Im Erörterungstermin am 22.02.2022 haben die Beteiligten sodann abschließend eine umfangreiche Vereinbarung über die Regelung der regelmäßigen Wochenendumgänge und der Ferienumgänge getroffen. Im Nachgang hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 18.03.2022 den Verfahrenswert festgesetzt. Eine Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag der Antragstellerin hat es erst getroffen, nachdem die Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin mit Schreiben vom 10.07.2022 einen Antrag auf Vergütungsfestsetzung eingereicht hatte. Mit Beschluss vom 04.08.2022 ist der Antragstellerin ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt, dabei die Anwaltsbeiordnung jedoch abgelehnt worden, da es ihr wegen der einfachen Sach- und Rechtslage auch mit Blick auf den Amtsermittlungsgrundsatz zuzumuten gewesen sei, das Verfahren ohne anwaltlichen Beistand zu führen. Der Sachverhalt sei nicht zuletzt deshalb einfach gelagert, weil das Umgangsrecht des Vaters nicht in Frage gestellt worden sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Gegen den ihrer Verfahrensbevollmächtigten am 08.08.2022 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin mit ihrem beim Amtsgericht am 05.09.2022 eingegangenen Schreiben vom selben Tag sofortige Beschwerde eingelegt, mit der sie sich gegen die Ablehnung der Anwaltsbeiordnung wendet. Sie macht geltend, die Beiordnung dürfe nicht durch die Bezugnahme auf den Amtsermittlungsgrundsatz versagt werden. Zudem sei zu beachten, dass der Vater sich im Vorfeld geweigert habe, mit Hilfe des Jugendamts eine verlässliche Umgangsregelung zu treffen. Eine solche sei jedoch im Kindesinteresse erforderlich gewesen, zumal ihr Sohn bereits psychische Auffälligkeiten gezeigt habe. Auch habe der Antragsgegner die Antragstellerin durch die Verweigerung von Unterschriften in sorgerechtlichen Angelegenheiten und die fehlende Mitwirkung am Versorgungsausgleich unter Druck gesetzt. Sie habe sich angesichts dessen nicht in der Lage gesehen, den Antrag auf Umgangsregelung allein zu stellen, sondern habe anwaltlicher Unterstützung bedurft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Mit Beschluss vom 14.09.2022 hat das Amtsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen und die Angelegenheit dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Die gem. § 76 Abs. 2 FamFG i.V.m. §§ 127 Abs. 2, 567 ff. ZPO zulässige sofortige Beschwerde des Antragstellers hat auch in der Sache Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der Antragstellerin ist im Rahmen der bewilligten Verfahrenskostenhilfe antragsgemäß die von ihr bevollmächtigte Rechtsanwältin beizuordnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Ist eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt – wie vorliegend – nicht vorgeschrieben, so wird gemäß § 78 Abs. 2 FamFG einem Beteiligten auf seinen Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt seiner Wahl beigeordnet, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. Ein pauschaliertes Abstellen auf den Amtsermittlungsgrundsatz ist hierbei nicht zulässig (BGH, Beschluss vom 23.06.2010 – XII ZB 232/09, juris Rn. 16). Entscheidendes Kriterium ist vielmehr, ob im konkreten Einzelfall ein nicht bedürftiger Rechtsuchender in derselben Lage vernünftigerweise einen Rechtsanwalt beauftragt hätte, wobei es auch auf die subjektiven Fähigkeiten des Beteiligten ankommt (BGH, a.a.O., juris Rn. 23, 25). Ausreichend ist die Schwierigkeit der Sach- oder der Rechtslage (vgl. BGH, a.a.O., juris Rn. 14), von der in Umgangsstreitigkeiten nicht regelhaft ausgegangen werden kann, insbesondere wenn – wie hier – der Umgang als solcher nicht in Frage steht und es nur um dessen konkrete Regelung geht (vgl. Zöller-Feskorn, ZPO, 34. Auflage 2022, § 78 FamFG Rn. 10 m.w.N., Keidel-Weber, FamFG, 20. Auflage 2020, § 78 Rn. 12). Eine die Anwaltsbeiordnung in einem Umgangsverfahren rechtfertigende schwierige Sachlage kann jedoch ggf. durch massive Kommunikationsprobleme der Eltern begründet werden (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 17.11.2014 – 10 WF 121/14, juris Rn. 4; Thomas/Putzo-Seiler, ZPO, 42. Auflage 2021, § 78 FamFG Rn. 6). Auch können in subjektiver Hinsicht besondere psychische Belastungen des um Verfahrenskostenhilfe nachsuchenden Beteiligten zu berücksichtigen sein. Nach dem Vorbringen der Antragstellerin kommt es in Betracht, hier im Hinblick auf ihre Belastung durch die in verschiedenen Angelegenheiten erlebte Verweigerungshaltung des Antragsgegners und die von ihrem Sohn gezeigten psychischen Auffälligkeiten von einer Situation auszugehen, in der auch ein bemittelter Beteiligter anwaltlichen Beistand gesucht hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Im Ergebnis bedarf das Vorliegen der Voraussetzungen von § 78 Abs. 2 FamFG hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da der Antragstellerin jedenfalls mit Rücksicht auf das verfassungsrechtliche Gebot eines fairen Verfahrens die Anwaltsbeiordnung nicht versagt werden durfte. Wenn das Gericht bis zum Erörterungstermin nicht auf Bedenken gegen die Anwaltsbeiordnung hingewiesen hat, darf ein Beteiligter, der rechtzeitig vorab einen vollständigen Verfahrenskostenhilfeantrag eingereicht hat, darauf vertrauen, dass die beantragte Anwaltsbeiordnung erfolgen wird (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.10.2012 – 18 WF 303/12, juris Rn. 16 ff.; OLG Celle, Beschluss vom 18.02.2011 – 10 WF 53/11, juris Rn. 15; Keidel-Weber, a.a.O.). So liegt es auch hier. Obwohl das bereits zu Verfahrensbeginn eingereichte Verfahrenskostenhilfegesuch der Antragstellerin zum Zeitpunkt der Durchführung des Erörterungstermins entscheidungsreif war, hat das Familiengericht weder im Vorfeld noch während des Termins eine Entscheidung über den Verfahrenkostenhilfe- und Beiordnungsantrag getroffen oder zumindest einen Hinweis über insoweit bestehende Bedenken erteilt. Angesichts dessen durfte die Antragstellerin davon ausgehen, dass einer Beiordnung ihrer Verfahrensbevollmächtigten nichts im Wege steht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><strong>III.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren fallen aufgrund des Erfolgs der Beschwerde nicht an. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 76 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE271752022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,880
olgham-2022-10-04-4-uf-7521
{ "id": 821, "name": "Oberlandesgericht Hamm", "slug": "olgham", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
4 UF 75/21
"2022-10-04T00:00:00"
"2022-10-11T10:01:15"
"2022-10-17T11:10:58"
Beschluss
ECLI:DE:OLGHAM:2022:1004.4UF75.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Schwerte vom 17. März 2021 – 12 F 60/20– aufgehoben, festgestellt, dass bislang keine wirksame Endentscheidung vorliegt und die Sache zur erneuten Entscheidung – auch über die außergerichtlichen Kosten der zweiten Instanz – an das Familiengericht zurückverwiesen.</p> <p>Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben.</p> <p>Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.533,36 € festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.Der Antragsteller begehrt vom Antragsgegner die Rückzahlung von UVG-Leistungen, die er in der Zeit ab Juni 2019 für die leibliche Tochter des Antragsgegners erbracht hat.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit dem am 17.03.2021 erlassenen Beschluss hat das Familiengericht den Antragsgegner für die Zeit vom 01.06.2019 bis zum 29.02.2020 zur Zahlung von 1.719,40 € sowie für die Zeit von März bis August 2020 zu einem monatlichen Unterhaltsbetrag i.H.v. 135,66 €, für September 2020 in Höhe von 20,00 €, für Oktober 2020 in Höhe von 120,00 €, für November und Dezember 2020 in Höhe von monatlich 135,66 € sowie ab Januar 2021 in Höhe von monatlich 179,00 € verpflichtet. Den weitergehenden Antrag hat es zurückgewiesen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gegen die am 19.03.2021 zugestellte Entscheidung hat der Antragsgegner mit am 16.04.2021 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt und diese nach beantragter Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 21.06.2021 mit Schriftsatz von diesem Tage begründet.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">II.Die Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache vorläufigen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1.Da das Rechtsmittel der Beschwerde auch der Beseitigung der scheinbaren Wirkungen der angegriffenen Entscheidung – dazu nachfolgend – dient, ist diese hier nach den §§ 117 Abs. 1, 2. FamFG i.V.m. den in Bezug genommenen Regelungen zum Berufungsrecht der ZPO zulässig, insbesondere ist die Beschwerde form- und fristgerecht eingelegt worden. Denn ein Schein- oder Nichtbeschluss kann mit denjenigen Rechtsmitteln angefochten werden, welche gegen eine rechtlich existente Entscheidung gleichen Inhalts statthaft wären (BGH FamRZ 2012, 1287; Zöller/Feskorn, ZPO, 34. Aufl., 2022, vor § 300, Rn. 14).</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">2.Der am 17.03.2022 erlassene Beschluss des Amtsgerichts ist nichtig, weil er entgegen § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, § 313 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ohne volles Rubrum, also die Bezeichnung der Beteiligten, erlassen wurde. Bei einem Beschluss, aus welchem die Zwangsvollstreckung stattfinden soll, muss die genaue und eindeutige Bezeichnung des Rubrums unmittelbar aus dem Text der vom Richter unterzeichneten Urschrift ersichtlich sein. Dies ist im Hinblick auf die weitreichenden Wirkungen eines Vollstreckungstitels ein Gebot der Klarheit und Rechtssicherheit (BGH NJW 2003, 3136; OLG Düsseldorf FamRZ 2020, 530; OLG Köln, Beschluss vom 23.06.2020 – II-10 UF 60/20 –, FamRZ 2020, 1930 (Ls); OLG Saarbrücken, Beschluss vom 07.07.2021 – 6 UF 82/21 –, FamRZ 2022, 551 (Ls.)).</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier. Der angefochtene Beschluss enthält lediglich die Bezeichnung des Gerichts, das Datum der Entscheidung und den Namen des erkennenden Richters. Die Beteiligten des Verfahrens, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Prozessbevollmächtigten, die nach § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, § 313 Abs. 1 Nr. 1 ZPO anzugeben sind, sind gar nicht bezeichnet. Ein solcher Beschluss ist nach den Grundsätzen des sog. Schein- oder Nichturteils unbeachtlich und wirkungslos und beendet die Instanz nicht (vgl. OLG Düsseldorf FamRZ 2020, 530; Zöller/Feskorn, a.a.O., § 38 FamFG Rn. 8).</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dem steht auch nicht entgegen, dass Hauptanwendungsfall der Schein- oder Nichturteile das Fehlen einer ordnungsgemäßen Verkündung bzw. die Zustellung oder Mitteilung eines nicht verkündeten oder von der verkündeten Entscheidung abweichenden bloßen Entwurfs ist. Denn die vorliegende Fallkonstellation, dass ein vom Richter unterschriebener ordnungsgemäß verkündeter und auch als solcher den Beteiligten zugestellter Beschluss an einem gravierenden Rubrumsfehler leidet, da dort die Beteiligten nicht aufgeführt sind, ist der Fallgestaltung eines sog. Schein- oder Nichturteils gleichzusetzen (vgl. OLG Düsseldorf FamRZ 2020, 530; OLG Köln, Beschluss vom 23.06.2020 – II-10 UF 60/20 –, FamRZ 2020, 1930 (Ls); OLG Saarbrücken, Beschluss vom 07.07.2021 – 6 UF 82/21 –, FamRZ 2022, 551 (Ls.)).</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dieser Formfehler der Urschrift kann auch nicht durch mit vollständigem Rubrum versehene Ausfertigungen geheilt werden (vgl. BGH NJW 2003, 3136); abgesehen davon, dass auch solche hier ebenfalls nicht vorlagen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist die beanstandete Entscheidung – wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich – aufzuheben, festzustellen, dass bislang keine wirksame Endentscheidung vorliegt, und die Sache zwecks Beendigung des noch nicht abgeschlossenen Verfahrens und zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsmittelinstanz – an das Familiengericht zurückzuverweisen (vgl. OLG Düsseldorf FamRZ 2020, 530; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 07.07.2021 – 6 UF 82/21 –, FamRZ 2022, 551 (Ls.)).</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">III.Die Niederschlagung der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens ergibt sich aus § 20 FamGKG.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung ist unanfechtbar, da die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht gegeben sind (§ 70 FamFG).</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">IV.Im Rahmen der erneuten Entscheidung wird das Familiengericht zu berücksichtigen haben, dass die fiktive Leistungsfähigkeit nicht auf der Basis einer 48-Stunden-Woche ermittelt werden kann, da es keine Arbeitsstellen mit einer entsprechenden regelmäßigen Arbeitszeit gibt.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Allenfalls kommt – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – in Betracht, fiktiv eine Erwerbstätigkeit von 40-Stunden in der Woche sowie eine weitere Nebentätigkeit von 8-Wochenstunden anzunehmen. Ob vorliegend eine solche Annahme möglich ist, erscheint nach Aktenlage allerdings im Hinblick auf die vorgelegten Belege zu krankheitsbedingten Einschränkungen des Antragsgegners fraglich. Da die Stellungnahmen des ärztlichen Dienstes ohne konkrete Untersuchung und Vorstellung des Antragsgegners erstellt worden sind, dürfte die Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens geboten sein.</p>
346,943
ovgnrw-2022-09-30-15-a-27421
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
15 A 274/21
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:28"
"2022-10-17T11:11:08"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0930.15A274.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 501,81 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Ihre mit dem Zulassungsbegehren vorgebrachten, für die Prüfung maßgeblichen Einwände (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) begründen keinen der geltend gemachten Zulassungsgründe.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Dies gilt zunächst für den Zulassungsgrund der ernstlichen Richtigkeitszweifel.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Richtigkeitszweifel nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen (nur) dann, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, juris Rn. 15; OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2018 - 1 A 2092/16 -, juris Rn. 2.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das ist unter Berücksichtigung der mit der Zulassungsschrift vorgebrachten Rügen der Klägerin hier nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a) Der Einwand, der angegriffene Verwaltungsakt sei bereits deswegen rechtswidrig, da es an einer ausreichenden Anhörung gefehlt habe, greift nicht durch. Diesbezüglich hat das Verwaltungsgericht u. a. ausgeführt, eine unterbliebene Anhörung sei jedenfalls im Rahmen des Widerspruchsverfahrens oder zumindest im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nachgeholt worden mit der Folge, dass dadurch eine etwaige Verletzung der Anhörung geheilt worden sei. Die hierauf bezogene Rüge der Klägerin, dass es in keinem der beiden Verfahren zu einem ausreichenden Anhörungsäquivalent gekommen sei, überzeugt demgegenüber nicht. Denn schon durch das Widerspruchsverfahren ist eine Heilung der möglicherweise unterbliebenen Anhörung erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Eine Heilung setzt voraus, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Diese Aufgabe besteht nicht allein darin, dass der Betroffene seine Einwendungen vorbringen kann und diese von der Behörde zur Kenntnis genommen werden, sondern schließt ein, dass die Behörde ein etwaiges Vorbringen bei ihrer Entscheidung in Erwägung zieht. Eine funktionsgerecht nachgeholte Anhörung setzt deshalb voraus, dass sich die Behörde nicht darauf beschränkt, die einmal getroffeneSachentscheidung zu verteidigen, sondern das Vorbringen des Betroffenen erkennbar zum Anlass nimmt, die Entscheidung kritisch zu überdenken.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2022 - 4 A7.20 -, juris Rn. 25 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt. Im Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2018 hat sich die Beklagte ausführlich mit dem Vorbringen der Klägerin hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides auseinandergesetzt und deren im Widerspruch vom 30. November 2018 vorgetragenen Einwendungen chronologisch in der Reihenfolge ihres Vorbringens gewürdigt und beschieden. Dies gilt namentlich auch, soweit die Klägerin die Beifügung einer Rechnung des mit der Maßnahme beauftragten Unternehmens begehrt hat. Die Beklagte hat diesbezüglich in ihrem Widerspruchsbescheid auf die Möglichkeit einer Akteneinsicht verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unschädlich ist ferner, dass das Widerspruchsverfahren und die damit einhergehende Möglichkeit für die Klägerin, zur Sache vorzutragen, nicht von der Behörde angestoßen und die Klägerin nicht explizit zur Stellungnahme aufgefordert worden ist. Denn das Gehör kann sich die Betroffene auch aus eigener Initiative verschaffen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2022 - 4 A7.20 -, juris Rn. 26.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auf die weiteren in diesem Zusammenhang geäußerten Einwände der Klägerin, die eine unterbliebenen Heilung der fehlenden Anhörung im Klageverfahren und die Unbeachtlichkeit eines Verfahrensmangels bei gebundenen Verwaltungsakten betreffen, kommt es danach nicht an.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">b) Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Auffassung der Klägerin auch ohne Rechtsfehler angenommen, dass es sich bei der von der Beklagten abgerechneten Maßnahme um eine beitragsfähige Erneuerung handelt. Die Beitragsfähigkeit einer Erneuerung als Fall der nochmaligen Herstellung i. S. v. § 8 Abs. 2 Satz 1 KAG NRW setzt voraus, dass die Anlage - erstens - erneuerungsbedürftig und - zweitens - die übliche Nutzungszeit abgelaufen ist. Eine Erneuerungsbedürftigkeit ist anzunehmen, wenn die Anlage verschlissen ist, d. h. sich in einem insgesamt schadhaften, abgenutzten Zustand befindet, ohne dass bereits die Verkehrssicherheit der Anlage aufgehoben sein muss. Hinsichtlich einer Straßenbeleuchtungsanlage ist eine Nutzungszeit von etwa 30 bis 50 Jahren anzunehmen. Ist die übliche Nutzungszeit abgelaufen, hat eine unterlassene ordnungsgemäße Unterhaltung und Instandsetzung für das Vorliegen des Tatbestandes der beitragsfähigen nochmaligen Herstellung keine eigenständige Bedeutung mehr.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2016 ‑ 15 A 2693/15 ‑, juris Rn. 11 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der auf die letztgenannte Bewertung zielende Einwand der Klägerin, dass es sich hierbei um eine alte Rechtsprechung handele, die im Lichte der heutigen gesellschaftlichen Wertung eines ressourcenschonenden öffentlichen Managements der Korrektur bedürfe, so dass vielmehr anzunehmen sei, dass die Instandhaltungspflicht der Beklagten nie ende, greift demgegenüber nicht durch. Denn der vorgenannten Bewertung liegt die hiervon abweichende Überlegung zugrunde, dass eine Anlage auch bei ordnungsgemäßer Durchführung von Unterhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten eine generalisierend zu bemessende begrenzte Nutzungszeit hat und es nach Ablauf dieser Zeit nicht darauf ankommt, ob währenddessen eine ausreichende Wartung stattgefunden hat. Insoweit handelt es sich auch nicht um eine „alte“ Rechtsprechung, vielmehr hält der Senat hieran auch in neueren Entscheidungen fest.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschuss vom 29. November 2016- 15 A 2693/15 -, juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von den dargelegten Maßstäben hat das Verwaltungsgericht selbst Berechnungen zum Alter der streitgegenständlichen Beleuchtungseinrichtung angestellt und ist, ohne dass die Klägerin diese Berechnung substantiiert angreift, auf ein Alter von mindestens 40 Jahren gekommen. Zudem hat sich das Gericht durch Inaugenscheinnahme von Lichtbildern, die dem Verwaltungsvorgang der Beklagten beigefügt sind, vom schadhaften Zustand der Lampenmasten überzeugt. Auf den Lichtbildern sind deutlich die Abnutzungsspuren, namentlich Rostschäden, an dort aufgenommenen Lampen zu sehen. Dass das Verwaltungsgericht vor diesem Hintergrund im Rahmen seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zu der Auffassung gelangt ist, dass die Lampenanlagen verschlissen waren, ist nicht zu beanstanden. Entsprechend greift auch der Einwand der Klägerin nicht ein, dass die Überschreitung der Nutzungszeit von 30 Jahren nicht das alleinige Kriterium der Erneuerung der Straßenbeleuchtung sein könne.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">c) Ebenfalls führen die Rügen der Klägerin hinsichtlich des rückwirkenden Inkrafttretens der 247. KAG-Maßnahmensatzung der Beklagten vom 27. November 2015 nicht zur Annahme ernstlicher Richtigkeitszweifel. Diese enthält gemäß der Vorgaben in § 8 Nr. 1 der Straßenbaubeitragssatzung der Beklagten vom 28. Februar 2005 in der Fassung der Zweiten Änderung vom 5. Februar 2014 (SBS) zum einen die Zuordnung der Werheider Straße, in der die streitgegenständliche Beleuchtungsanlage erneuert wurde, zu einer der Straßenarten nach § 3 SBS, zum anderen die Bestimmung des Umfangs der Maßnahme als ausgleichspflichtiges Bauprogramm. Die Klägerin meint insofern, die auf den 1. August 2015 bezogene Rückwirkung der Maßnahmensatzung sei rechtswidrig, da zum Zeitpunkt ihres Erlasses die Erneuerung der Beleuchtungsanlage, die am 22. September 2015 in Betrieb genommen wurde, bereits abgeschlossen gewesen sei. Entsprechend stehe eine echte Rückwirkung dieser Satzung in Rede, die grundsätzlich wie auch vorliegend unzulässig sei.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dieser Vortrag greift nicht durch. Dabei kann dahinstehen, ob es bezüglich der in der 247. KAG-Maßnahmensatzung für das vorliegende Verfahren enthaltenen Regelungsgegenstände - namentlich des Bauprogramms - überhaupt einer Rückwirkung auf einen Zeitpunkt vor Abschluss der Arbeiten an der streitgegenständlichen Beleuchtungsanlage bedarf.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa zum Fall einer erst nachträglichen Billigung bereits verwirklichter Herstellungsmerkmale einer Verkehrsanlage mittels Bauprogramms Sächs. OVG, Beschluss vom 2. Oktober 2017 - 5 B 181/17 -, juris Rn. 11 f.; die Bestimmung der Straßenart dürfte - als Regelung eines Einzelfalls - ohnehin ohne weiteres auch nachträglich, etwa im Abgabenbescheid, getroffen werden können.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Für ein rechtliches Gebot, nach dem die technische Herstellung dem Beschluss des Bauprogramms in zeitlicher Hinsicht zwingend nachfolgen muss, dürften keine überzeugenden Gründe vorliegen. Das Erfordernis einer programmgemäßen Herstellung gemäß dem Bauprogramm dient nicht dem Vertrauensschutz der Beitragspflichtigen, sondern (lediglich) dazu, die Verwirklichung des Straßenausbaus in Übereinstimmung mit dem gemeindlichen Willen sicherzustellen und die tatsächlichen Gesichtspunkte für einen bestimmten Straßenzustand so konkret festzulegen, dass sie die Feststellung zulassen, ob die Anlage im Sinne des § 8 Abs. 7 KAG NRW endgültig hergestellt ist. So ist in der Rechtsprechung des Senats etwa anerkannt, dass eine Änderung des Bauprogramms bis zur Beendigung der Maßnahme möglich ist.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. Dietzel/Kallerhoff, Das Straßenbaubeitragsrecht nach § 8 des Kommunalabgabengesetzes Nordrhein-Westfalen, 8. Aufl. 2013, Rn. 318 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Damit dürfte es auch erlaubt sein - etwa bei zunächst programmwidriger, mithin unvollständiger Herstellung - die endgültige Herstellung durch Erstellung eines geänderten, dem Ist-Zustand entsprechenden Bauprogramms herbeizuführen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Was insofern für den vorliegenden Fall eines nicht geänderten, sondern erstmalig nachträglich bestimmten Bauprogramms gilt, kann vorliegend jedoch offenbleiben. Geht man nämlich mit der Klägerin davon aus, dass ein wirksames Bauprogramm bereits im Zeitpunkt der technischen Fertigstellung der Maßnahme gegeben sein muss, liegen hier jedenfalls die Voraussetzungen vor, unter denen ein rückwirkender Erlass der das Bauprogramm beinhaltenden Satzung zulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Nach der auch vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Rechtsprechung des Senats ist der rückwirkende Erlass von Rechtsnormen, also auch von Satzungen, zulässig, wenn eine nichtige oder entgegen höherrangigem Recht lückenhafte Regelung durch eine rechtmäßige Bestimmung ersetzt wird.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 15 A 808/17 -, juris Rn. 6 f. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vorliegend steht eine solche gesetzeswidrige Lückenhaftigkeit der zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Beleuchtungseinrichtung gültigen Straßenbaubeitragssatzung der Beklagten in Rede. Denn § 8 Nr. 1 SBS legt ausdrücklich fest, dass Bauprogramm und Straßenart durch besondere Satzung zu bestimmen sind. Deren Bestimmung ist auch nach höherrangigem Recht bzw. der zum Abgabenrecht ergangenen Rechtsprechung erforderlich, um einen rechtmäßigen Beitragsbescheid erlassen zu können. Dass sowohl die Bestimmung der Straßenart wie auch des Bauprogramms nicht unbedingt durch Satzung erfolgen müssen, sondern auch in anderer Weise erlassen werden können,</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">vgl. für die Bestimmung der Straßenart als öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache § 35 Satz 2 VwVfG NRW; für das Bauprogramm Dietzel/Kallerhoff, Das Straßenbaubeitragsrecht nach § 8 des Kommunalabgabengesetzes Nordrhein-Westfalen, 8. Aufl. 2013, Rn. 317, m. N. aus der Rspr. des OVG NRW,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">steht vorliegend der Annahme einer lückenhaften Regelungslage nicht entgegen. Denn jedenfalls die Abgabensatzung der Beklagten sieht eine solche satzungsmäßige Bestimmung vor und schließt damit den Erlass in einer anderen, in der Regelungshierarchie nachrangigen Form - z. B. Verwaltungsakt, formloser Beschluss des Rates - aus.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerin in ihrer Zulassungsbegründungsschrift in diesem Zusammenhang einwendet, nach der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts könne eine bislang lückenhafte Regelung nur dann rückwirkend vervollständigt werden, wenn dies zur Erfüllung des Beitragserhebungsgebots erforderlich sei,</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 17. Mai 1990 - 2 A500/88 -, juris Leitsatz 1,</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">dies fehle aber bei einer hier - nur - vorliegenden Verbesserung der bestehenden Anlage, ist dem nicht beizutreten. Die Klägerin verkennt hiermit den maßgeblichen Bezugspunkt der Erforderlichkeit, der sich in diesem Zusammenhang nicht auf die jeweilige Maßnahme, sondern auf das Erfordernis einer ausreichenden Rechtsgrundlage für die Beitragserhebung bezieht.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Angesichts des Umstands, dass hier nicht die Rückwirkung der Straßenbaubeitragssatzung der Beklagten, sondern lediglich der hierauf aufbauenden Maßnahmensatzung in Streit steht, führt auch der Einwand der Klägerin nicht weiter, die jeweiligen Anlieger wüssten vor Beginn der Maßnahme weder, ob Straßenausbaubeiträge erhoben würden, noch, in welcher Höhe dies erfolge. In der Straßenbaubeitragssatzung der Beklagten sind nämlich sowohl die Ersatzpflicht für Aufwendungen im Zusammenhang mit Beleuchtungseinrichtungen als auch - in § 3 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe g SBS - die abstrakte Höhe der Ersatzpflicht in Höhe von 70 v. H. bereits zum Zeitpunkt des Beginns der Bauarbeiten im August 2015 geregelt. Die konkrete Höhe der Ersatzpflicht ist demgegenüber eine Frage des jeweiligen Einzelfalls, die der Festsetzung durch den Beitragsbescheid vorbehalten bleibt. Warum die Klägerin vor diesem Hintergrund darauf hätte vertrauen dürfen, für die Arbeiten an den Beleuchtungseinrichtungen der X.         Straße nicht als ausgleichspflichtige Anliegerin herangezogen zu werden, ist nicht ersichtlich. Dies entspricht im Übrigen auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">vgl. Urteil vom 15. April 1983 - 8 C 170.81 -, juris Rn. 17,</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">wonach einer Erwartung, dass eine ihrem Wesen nach beitragspflichtige Leistung gleichwohl beitragsfrei gewährt werden solle, durchgreifend jedenfalls der vorangegangene Erlass einer Abgabensatzung entgegensteht, weil diese unmissverständlich den Willen der Gemeinde zum Ausdruck bringt, dass ein Beitrag erhoben werden soll.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes folgt entgegen der Auffassung der Klägerin schließlich aus der von ihr in diesem Zusammenhang ebenfalls benannten Neuregelung des § 8a KAG, nach dessen Absatz 1 die Gemeinde nunmehr ein Straßen- und Wegekonzept zu erstellen und nach Absatz 3 für beitragspflichtige Straßenausbaumaßnahmen frühzeitig eine verbindliche Anliegerversammlung abzuhalten hat. Diese Bestimmungen gelangen hier nicht zur Anwendung, weil § 8a, der durch Gesetz vom 19. Dezember 2019 (GV. NRW. S. 1029) in das KAG eingefügt wurde, erst am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist. Er erfasst danach den vorliegend maßgeblichen Rückwirkungszeitraum, der ausgehend vom Erlass der 247. Maßnahmensatzung am 27. November 2015 auf den 1. August 2015 bezogen ist, nicht. Im Übrigen ist § 8a KAG n. F. auch nicht etwa deswegen heranzuziehen, weil der vorliegend streitgegenständliche Abgabenbescheid bisher nicht bestandskräftig geworden ist. Vielmehr ist anerkannt, dass bezüglich der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Rahmen einer Anfechtungsklage, wie sie auch hier vorliegt, regelmäßig auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung,</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">vgl. allgemein Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 113 Rn. 97 m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">vorliegend also den Erlass des Widerspruchsbescheides am 12. November 2018, abzustellen ist, bei dem § 8a KAG ebenfalls noch nicht in Kraft war. Dass nach der Wertung des Gesetzgebers im vorliegenden Fall bezüglich § 8a KAG ausnahmsweise etwas anderes gelten soll, ist nicht ersichtlich. Insbesondere wird durch die Übergangsregelung des § 26 Abs. 2 KAG eine Rückwirkung, die zudem auch bereits abgeschlossene Vergabeverfahren betreffen soll, explizit nur für § 8a Abs. 6 und 7 KAG angeordnet. Diese Vorschriften beziehen sich indes auf Ratenzahlungen und Stundungen bei festgesetzten Straßenausbaubeiträgen und weisen danach mit den vorliegend in Streit stehenden Fragen keine Berührungspunkte auf.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">d) Die Klägerin legt auch keine Rechtsfehler des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die Bewertung des Verteilerwertes dar.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Dies gilt zunächst hinsichtlich der in diesem Zusammenhang gerügten Ansicht des Verwaltungsgerichts, der Beitragsbescheid müsse insbesondere keine erschöpfende Wiedergabe der Aufwandsermittlung und sämtlicher Berechnungsgrundlagen für die Aufwandsverteilung ausweisen. Dies entspricht vielmehr der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts, wonach die Behörde nicht jeden einzelnen Umstand, von dem sie bei Erlass des Verwaltungsaktes ausgegangen ist, in die Begründung aufnehmen muss. Denn dies kann zu einer Überfrachtung der Begründung führen, die im Ergebnis die Verständlichkeit der Bescheide nicht verbessern, sondern eher verschlechtern würde.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. Dietzel/Kallerhoff, Das Straßenbaubeitragsrecht nach § 8 des Kommunalabgabengesetzes Nordrhein-Westfalen, 8. Aufl. 2013, Rn. 633, m. N. aus der Rspr. des OVG NRW.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Soweit sich die Klägerin des Weiteren konkret gegen die Nichteinbeziehung des etwa 3 qm großen Flurstücks 585 in das Abrechnungsgebiet wendet, legt sie nicht dar, warum dieses gerade über die streitgegenständliche Anlage erschlossen werden soll. Denn das Grundstück grenzt nicht unmittelbar an die X.         Straße an. Ihr hierauf bezogener weiterer Einwand, dass die Nichtberücksichtigung zu einer massiven Ungleichbehandlung zu Lasten der von der Beitragspflicht Betroffenen führe, da das Grundstück dann bei keiner Ausbaumaßnahme heranzuziehen sei, ist ebenfalls nicht überzeugend, weil die fehlende Erschließung, die mit einem ausbleibenden wirtschaftlichen Vorteil einhergeht, ersichtlich eine Rechtfertigung für die Nichtheranziehung und damit die Ungleichbehandlung darstellen würde.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Auch hinsichtlich der von der Klägerin weiterhin angesprochenen Einbeziehung der Flurstücke 373, 374 und 375 werden in der fristgebundenen Zulassungsbegründungsschrift keine Anhaltspunkte für eine inhaltliche Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils vorgebracht. In diesem Zusammenhang wird vielmehr lediglich pauschal ausgeführt, die für diese Grundstücke erfolgte Tiefenbegrenzung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SBS, durch welche nicht die gesamte Grundstücksfläche berücksichtigt wurde, verstoße als nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil eine Tiefenbegrenzung per se andere Anlieger benachteilige und zu deren zusätzlicher Kostenlast führe. Dieses Vorbringen reicht vor dem Hintergrund, das nach der Rechtsprechung des entscheidenden Gerichts eine Tiefenbegrenzung im unbeplanten Innenbereich zulässig ist,</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Dietzel/Kallerhoff, Das Straßenbaubeitragsrecht nach § 8 des Kommunalabgabengesetzes Nordrhein-Westfalen, 8. Aufl. 2013, Rn. 298, m. N. aus der Rspr. des OVG NRW,</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">dem die in Rede stehenden Grundstücke nach den unbestrittenen Feststellungen im angegriffenen Urteil zuzuordnen sind, nicht zur Darlegung einer inhaltlichen Unrichtigkeit des Urteils aus. Das ebenfalls auf die Tiefenbegrenzung bezogene, neue Vorbringen in dem nachfolgenden klägerischen Schriftsatz vom 6. März 2021, in dem stattdessen auf die eine solche Tiefenbegrenzung ausschließende Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 2 Satz 2 SBS abgestellt wird, ist demgegenüber außerhalb der Zulassungsbegründungsfrist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erfolgt und danach bereits vor diesem Hintergrund unerheblich. Unabhängig davon steht der dort geltend gemachte Einwand, dass bezüglich des Flurstücks 373 bei Anwendung der Tiefenbegrenzung nur eine Kleinstfläche unberücksichtigt bleibe, bei der nicht ersichtlich sei, dass sie nicht von dem Straßenausbau profitiere, in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der vorgenannten Ausnahmeregelung, die eine Tiefenbegrenzung ausschließt, soweit die tatsächliche bauliche oder gewerbliche Nutzung den nach Maßgabe der Tiefenbegrenzung gemessenen Abstand überschreitet. Dass dies im Hinblick auf das Flurstück 373 der Fall ist, wird mit dem vorgenannten Vorbingen aber nicht dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">e) Schließlich begegnet die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Aufwandsermittlung der Beklagten nicht zu beanstanden ist, keinen ernstlichen Zweifeln. Der in der Zulassungsbegründungsschrift geäußerte „Verdacht“, dass jahrelang über dem Marktpreis liegende Rechnungen für sämtliche im Stadtgebiet vorgenommenen Erneuerungsmaßnahmen an der Beleuchtung von Seiten der ausführenden S.            AG gestellt worden seien bzw. die Beklagte „sich nicht an das Gebot der Notwendigkeit, Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit“ gehalten habe, wird nicht näher substantiiert. Auch insofern fehlt es danach an der hinreichenden Darlegung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Richtigkeitszweifel. Die nachfolgende Konkretisierung im Schriftsatz vom 6. März 2021, mit welchem drei konkrete Kostenpositionen angegriffen werden, ist wiederum außerhalb der Zulassungsbegründungsfrist erfolgt und kann damit die fehlende Darlegung im Ausgangsschriftsatz nicht kompensieren. Im Übrigen ist die dortige Begründung dafür, dass die von der Beklagten beauftragte S.            AG weit überhöhte Preise für die Erneuerung der Beleuchtung angesetzt habe, auch nicht überzeugend. Dies gilt zunächst für den Vortrag, wonach der Preis von 87,52 Euro für die Demontage der Leuchtmittel „wucherähnlich“ sei, da dies mit dem Entfernen einer Birne aus einer handelsüblichen Lampe („Birne rausschrauben“) vergleichbar sei. Dass die Konstruktion der vorliegend in Rede stehenden Beleuchtungsanlagen, bei denen es sich nach dem Tatbestand des verwaltungsgerichtlichen Urteils um Peitschenmasten mit Langfeldleuchten handelt, nicht mit der einer handelsüblichen Lampe vergleichbar ist, liegt auf der Hand. Auch der weitere Einwand, wonach es sich bei dem Preis von 611,94 Euro für die Position „Kleinstanschlüsse herstellen“ „maßgeblich um reine Arbeitskosten“ handele, wird schlicht behauptet, aber nicht näher begründet. Zur Demontage der Beleuchtungsmasten wird schließlich nur die Höhe der Kosten, welche 354,11 Euro pro Stück betragen haben sollen, mitgeteilt, aber keine Angaben dazu gemacht, inwiefern dieser Preis aus der Perspektive der Klägerin überhöht ist. Soweit sie in diesem Zusammenhang ergänzend vorträgt, dass ohne die Vorlage des zwischen der Beklagten und der S.            AG geschlossenen Vertrags keine Überprüfung der Kostenmitteilung erfolgen könne, ist einerseits darauf zu verweisen, dass dieser Vertrag im Internet abrufbar ist; zum anderen ist nicht ersichtlich, wieso es für die Überprüfung der Angemessenheit der Kosten auf den Vertrag zwischen der Beklagten und der S.            AG ankommen soll, da die Klägerin im selben Schriftsatz rügt, dass die Kosten mit den gängigen Markpreisen nichts mehr zu tun hätten. Danach müsste es aus ihrer Perspektive maßgeblich darauf ankommen, was andere Anbieter für die gleichen oder ähnliche Kostenpositionen berechnen, ohne dass hierzu von ihrer Seite allerdings eine Darlegung erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">2. Die Rechtssache weist entgegen dem Vorbringen der Klägerin auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Angriffe der Klägerin gegen die Tatsachenfeststellungen oder die rechtlichen Würdigungen, auf denen das angefochtene Urteil beruht, begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung gäben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären ließen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 15. April 2021 - 15 A 386/20 -, juris Rn. 31.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind mit Blick auf die unter Ziff. 1 angestellten Erwägungen nicht gegeben, was namentlich für die von der Klägerin in diesem Zusammenhang erneut benannte Norm des § 8a KAG gilt. Denn diese ist, wie ausgeführt, hinsichtlich der von der Klägerin problematisierten Bestimmungen auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">3. Ferner ist entgegen der Auffassung der Klägerin auch keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gegeben. Die Klägerin verweist hierzu erneut auf die Vorschrift des § 8a KAG und wirft die Frage auf, ob die Regelung bei entsprechender Anwendung auf den hier zu entscheidenden Fall dazu führen müsse, dass verschärfte Anforderungen an eine Heilung der zwischen den Beteiligten strittigen Anhörung zu stellen seien. Da die Norm mit Blick auf die einer Anhörungsregelung am nächsten kommende Vorgabe einer verbindlichen Anliegerversammlung nach Absatz 3 vorliegend nicht anwendbar ist, stellt sich die vorgenannte Frage jedoch nicht in entscheidungserheblicher Weise. Im Übrigen hat die Beklagte zutreffend darauf hingewiesen, dass gemäß der ausdrücklichen Bestimmung des § 8a Abs. 4 Satz 3 KAG die Rechtmäßigkeit eines Beitragsbescheides von der Erfüllung der Pflicht zur Durchführung einer Anliegerversammlung nach Absatz 3 unberührt bleibt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">4. Schließlich kann das Zulassungsbegehren auch nicht mit Erfolg auf § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO - Vorliegen eines Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruht - gestützt werden.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Dies gilt zunächst mit Blick auf den gerügten Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO, den die Klägerin auf unterlassene Aufklärungsmaßnahmen des Gerichts bezüglich der Frage des Eigentums an den Beleuchtungseinrichtungen, die Nichtberücksichtigung des Flurstücks 585 in der Berechnung des Verteilerwertes, die Frage der Erneuerungsbedürftigkeit der Beleuchtungseinrichtungen und die fehlende Anforderung des Vertrags zwischen der Beklagten und der S.            AG stützt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt ein Gericht seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts nämlich grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei nicht förmlich beantragt hat.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 191 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Solches ist vorliegend nach Maßgabe des Protokolls der mündlichen Verhandlung bezüglich aller vier genannten Gegenstände seitens des dort anwesenden Rechtsanwalts der Klägerin aber unterblieben, ohne dass die Klägerin hinreichende Anhaltspunkte dafür darlegt, dass sich dem Gericht eine weitere Aufklärung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Entsprechend greift auch die weitere von der Klägerin in diesem Zusammenhang erhobene Rüge, das Gericht habe ihr Beweisangebot hinsichtlich des Zustandes der vormaligen Beleuchtungseinrichtungen übergangen, nicht durch. Verfahrensfehlerhaft könnte allenfalls das Übergehen eines förmlichen Beweisantrags sein, der vorliegend aber - wie bereits erläutert - nach dem Protokoll der mündlichen Verhandlung nicht gestellt wurde.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
346,899
olgce-2022-09-30-13-kap-116
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13 Kap 1/16
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:01"
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Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Feststellungsziele VI.1.a, b., d. und e. werden als unzulässig zurückgewiesen. Die Feststellungsziele VI.2. bis 13. und VIII.4.c. werden soweit sie sich auf Äußerungen beziehen, die den vorgenannten Feststellungszielen zu Grunde liegen, als unzulässig zurückgewiesen; im Übrigen werden die Feststellungsziele VI.5., 8.a. bis 13. und VIII.4.c. als unbegründet zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Feststellungsziele</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">I.1.,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">II.3. bis 4., 7.a., 8., 10. und 11.,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">III.5., 5.a., 5.c. bis 9.,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">IV.5., 8a. bis 13.,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">V.3., 4., 7.a. bis 11.,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">VII.5., 8.a. bis 13.,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">VIII.4.a und b.,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">XI.1. bis 3., 5. bis 8. sowie</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:18pt">XII.2. bis 4., 6. und 7.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>werden zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Feststellungsziele III.3., IV.1., VI.1.c. und VII.1 werden insoweit zurückgewiesen, als sie auf die Feststellung gerichtet sind, die jeweils in Bezug genommenen Mitteilungen seien <em>grob</em> fehlerhaft oder irreführend gewesen. Das Feststellungsziel VII.1. wird auch im Hinblick auf die festzustellende Zielsetzung zurückgewiesen, die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 hätte darauf abgezielt, einen weiteren Kursverfall zu verhindern und dadurch weitere Verluste zu vermeiden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Feststellungsziele III.4., IV.2., VI.2. (soweit nicht bereits unzulässig) und VII.2. werden betreffend die Musterbeklagte zu 1 insoweit zurückgewiesen, als sie auf die Feststellung gerichtet sind, die Musterbeklagten hätten Kenntnis von der vermeintlichen <em>groben</em> Unrichtigkeit dieser Äußerungen gehabt bzw. ihre Unkenntnis einer <em>groben</em> Unrichtigkeit habe auf grober Fahrlässigkeit beruht. Betreffend die Musterbeklagte zu 2 werden diese Feststellungsziele insgesamt zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Das Feststellungsziel II.2. wird insoweit zurückgewiesen, als es auf die Feststellung einer Kenntnis von C. W. gerichtet ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Hinsichtlich der Feststellungsziele im Übrigen sind der Vorlagebeschluss des Landgerichts Hannover vom 13. April 2016 sowie die Erweiterungs- und Berichtigungs- bzw. Ergänzungsbeschlüsse des Senats vom 12. Januar 2017, vom 11. September und 19. November 2018 sowie vom 29. März und 23. Mai 2022 gegenstandslos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die noch nicht beschiedenen Erweiterungsanträge werden zurückgewiesen.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a auto="off" name="rd_"><!--emptyTag--></a></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>B. <span style="text-decoration:underline">Sachbericht</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Musterverfahrens-Beteiligten streiten im Rahmen eines Verfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) im Wesentlichen um die Richtigkeit von Ad-hoc-Mitteilungen und Pressemitteilungen, die die Musterbeklagte zu 1 in dem Zeitraum vom 3. März 2008 bis zum 26. Oktober 2008 veröffentlicht hat. Gegenstand dieser Mitteilungen ist insbesondere ihre Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 und der Versuch, diese zu übernehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>In den insoweit ausgesetzten Ausgangsverfahren begehren die Ausgangskläger Ersatz der Schäden, die sie durch Transaktionen mit Bezug auf die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 erlitten haben. Sie machen im Kern geltend, die Musterbeklagte zu 1 habe zunächst ihre Absicht, die Musterbeklagte zu 2 übernehmen zu wollen, fehlerhaft dementiert bzw. über diese nicht hinreichend informiert, um den Anteilsaufbau nicht zu verteuern. Nachdem sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Musterbeklagte zu 1 unter anderem aufgrund der weltweiten Finanzkrise so weit verschlechtert hätten, dass eine Übernahme nicht mehr zu realisieren gewesen sei und ihre eigene Insolvenz gedroht habe, habe sie am 26. Oktober 2008 ihre – nach Auffassung der Ausgangskläger tatsächlich nicht mehr umsetzbare – Absicht mitgeteilt, die Musterbeklagte zu 2 zu übernehmen, um mit der aufgrund dieser Mitteilung erwarteten Explosion der Aktienkurse Gewinne zu erzielen und ihren <em>„Kopf aus der Schlinge zu ziehen“</em>.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 ist eine europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea [SE]) und die Muttergesellschaft des Porsche-Konzerns, die ihren Sitz in Stuttgart hat. Wegen des Inhalts ihrer Satzung wird auf die Anlage MBPor 162 Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 2 ist die Muttergesellschaft des Volkswagen-Konzerns und gehört zu den größten Automobilherstellern der Welt. Ihr gezeichnetes Kapital war im Jahr 2008 in rund 300 Mio. stimmberechtigte Stamm- und etwa 105 Mio. stimmrechtslose Vorzugsaktien aufgeteilt. Das Land Niedersachsen hielt 20,1 % der Stammaktien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Im Jahr 2005 begann die Musterbeklagte zu 1, Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zu erwerben. Mit dem Beteiligungsaufbau gingen Überlegungen über die Höhe der Beteiligung und mögliche Ziele einher, zu denen jedenfalls auch der Erwerb von 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags (im Folgenden nur: Beherrschungsvertrag) gehörten. Diese Szenarien waren u. a. Gegenstand in Treffen des Gesellschafterausschusses. In dem Gesellschafterausschuss besprachen die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 regelmäßig Themen anstehender Aufsichtsratssitzungen vor. Ob die Musterbeklagte zu 1 sich bereits frühzeitig – oder auch nur vor Oktober 2008 – auf eine zumindest 75%ige Beteiligung und den Abschluss eines Beherrschungsvertrages festlegte, ist streitig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 erwarb aus vorhandener eigener Liquidität im September und Oktober 2005 18,53 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2. Im November 2006 erhöhte sie ihren Anteil auf 27,4 % und erreichte damit eine aktienrechtliche Sperrminorität bei der Musterbeklagten zu 2. Durch Aktienkäufe im März 2007 stockte sie ihren Anteil auf 30,93 % auf und gab ein Pflichtangebot an die Aktionäre der Musterbeklagten zu 2 zur Übernahme sämtlicher Volkswagenaktien ab. Dieses Pflichtangebot führte zu einem Erwerb von ca. einem weiteren Prozent der Stammaktien. Insoweit wird auf den Inhalt der Pressemitteilungen der Musterbeklagten zu 1 vom 30. April 2007 (Anlage MBPor 67) und vom 4. Juni 2007 (Anlage MBPor 68) sowie auf die Stimmrechtsmitteilung der Musterbeklagten zu 2 vom 3. April 2007 (Anlage MBPor 66) verwiesen. Bereits mit Pressemitteilung vom 24. März 2007 (Anlage MBPor 65) hatte die Musterbeklagte zu 1 darauf hingewiesen, dass <em>„weitere Beteiligungserhöhungen“</em> keine erneute Pflicht zur Abgabe eines Angebots auslösten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 schloss am 26. März 2007 zur Finanzierung ihres Pflichtangebots einen Konsortialkreditvertrag über 35 Mrd. €. Der Kreditvertrag wurde mit Ergänzungsvereinbarung vom 27. Juni 2007 abgeändert und die Kreditlinie auf 10 Mrd. € abgesenkt. Er enthielt in § 20.5a, b eine sog. Negative-Pledge-Klausel, wegen derer Einzelheiten auf die Anlage MBPor 163 Bezug genommen wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Zur Umsetzung des Beteiligungsaufbaus schloss die Musterbeklagte zu 1 beginnend mit dem 22. Juli 2005 mit der M. Bank insgesamt acht Optionsstrategien ab, die dem Erwerb von Stamm- und Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2 dienen sollten. Mit Ausnahme der Optionsstrategie VI und teilweise der Optionsstrategie III bestanden die Optionsstrategien aus einer Kombination von Kauf- (Call-) und Verkaufs- (Put-)Optionen (sog. symmetrische Optionsstrategien). Dabei waren die Optionsgeschäfte mit Ausnahme der bereits 2007 beendeten Optionsstrategie IV nicht auf die Lieferung physischer Aktien, sondern auf Barausgleich (cash-gesettelt) gerichtet. Für die Musterbeklagte zu 1 bestand keine Verpflichtung, etwaige von der M. Bank bzw. deren Kontrahenten zur Absicherung gehaltene Stamm- bzw. Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2 abzunehmen. Zwischen der Musterbeklagten zu 1 und der M. Bank war vertraglich vereinbart, dass die M. Bank die Meldeschwellen nach § 21 WpHG a.F. nicht überschreiten durfte. In den Optionsvereinbarungen war mit der M. Bank Folgendes vereinbart (zit. nach Schriftsatz der Musterbeklagten zu 1 vom 28. Juli 2017, Rn. 350):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Aus Gründen des Risikomanagements werden wir zur Absicherung unserer Verpflichtungen gegenüber ihrem Haus Gegengeschäfte eingehen (Hedging). Dieses Hedging wird von uns lege artis durchgeführt und kann den Erwerb von physischen oder derivativen Positionen in VW umfassen. Die M. Bank wird sicherstellen, dass für sie gruppenweit keine Mitteilungspflicht nach Wertpapierhandelsgesetz in derzeit geltender Fassung entstehen.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Grundsätzlich ermöglicht der Erwerb einer Call-Option dem Käufer, die dem Optionsgeschäft zugrundeliegende Aktie zu einem im Voraus bestimmten Ausübungspreis (<em>„Strike“</em>) während oder nach Ablauf der Laufzeit der Option von seinem Vertragspartner zu kaufen bzw. im Falle eines vereinbarten Barausgleichs die Zahlung des Differenzbetrags zwischen dem aktuellen Börsenkurs und dem vereinbarten Strike zu erhalten. Dies bedeutete, dass die Musterbeklagte zu 1 bei einer Call-Option einen Gewinn erzielte, wenn der Aktienkurs zum Zeitpunkt der Ausübung der Option über dem vereinbarten Ausübungspreis lag. Dieser von der M. Bank zu zahlende Barausgleich wurde dabei mit von der Musterbeklagten zu 1 zu leistenden Prämien, d. h. Kaufpreisen für die Kaufoptionen verrechnet. Soweit der Aktienkurs hingegen den Ausübungspreis unterschritt, übte die Musterbeklagte zu 1 die Call-Option nicht aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Bei dem Verkauf einer Put-Option erwirbt der Käufer das Recht, die der Option zugrundeliegende Aktie zu einem vorher festgelegten Ausübungspreis zu verkaufen bzw. einen entsprechenden Barausgleich in Höhe der Differenz zwischen Ausübungspreis und Aktienkurs zu erhalten. Für den Verkauf einer Put-Option erhielt die Musterbeklagten zu 1 von der M. Bank eine Prämie. Diese Prämie stellte für die Musterbeklagte zu 1 den aus diesem Optionsgeschäft möglichen Gewinn dar. Auf der anderen Seite hatte die Musterbeklagte zu 1 bei sinkenden Aktienkursen der M. Bank einen Barausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem festgesetzten Ausübungspreis und dem Aktienkurs zu leisten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die einzelnen Optionsstrategien sahen unterschiedliche Ausübungstermine vor, in denen die bestehenden Call- und Put-Optionen geschlossen und abgerechnet wurden (sog. Rolltermine). Gleichzeitig wurden neue Call- und Put-Optionen zu einem geänderten bzw. zu demselben Ausübungspreis eröffnet. Die Optionen wurden wöchentlich bzw. monatlich gerollt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Neben Optionsprämien für Call-Optionen hatte die Musterbeklagte zu 1 der M. Bank Gebühren zu zahlen, u.a. monatlich 0,075 % aus dem jeweiligen Gesamtoptionsvolumen. Darüber hinaus musste sie in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Wertes der Positionen eine sog. <em>„Basissicherheit“</em> leisten. Diese war abhängig von der Entwicklung des Kurses der zugrundeliegenden Aktien, so dass die Musterbeklagte zu 1 bei fallenden Aktienkursen weitere Sicherheiten leisten musste, bei steigenden Kursen geleistete Sicherheiten wieder frei wurden. Weiter musste sie ggf. Nachschusssicherheiten leisten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Zu den Optionenstrategien im Einzelnen (vgl. auch die tabellarische Darstellung im Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. Mai 2017, Rn. 212):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die <em>Optionsstrategie I</em> wurde am 22. Juli 2005 vereinbart und hatte einen Umfang, der – mehrfach geändert – einem Anteil zwischen 4,9 % und 13 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 entsprach. In dieser Optionsstrategie kaufte die Musterbeklagte zu 1 Call-Optionen und verkaufte Put-Optionen, die jeweils auf Barausgleich gerichtet waren. Die Optionen wurden wöchentlich automatisch gerollt. Zu jedem Rolltermin wurde der Ausübungspreis dem aktuellen Börsenkurs der Stammaktie angepasst.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Die gleichfalls auf die Kombination von Call- und Put-Optionen gerichtete <em>Optionsstrategie II </em>wurde am 12. September 2006 begonnen und war auf eine Beteiligung von bis zu 20 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 ausgerichtet. Sie wurde monatlich gerollt, ohne aber die ursprünglich vereinbarten Ausübungspreise an den aktuellen Börsenkurs anzupassen. Die Ausübungspreise lagen bei dieser Optionsstrategie bei 85 €. Die Strategie wurde am 16. Juni 2008 sowie am 2. und 7. Oktober 2008 teilweise geschlossen, um den Erwerb von Stammaktien zu finanzieren. Die weiteren <em>Optionsstrategien III und VII</em> entsprachen weitgehend der Optionsstrategie II, die Strategie III wurde aber wöchentlich gerollt. Bei einem fixen Ausübungspreis von 93 € war die am 20. Februar 2007 vereinbarte Optionsstrategie III auf ein Volumen von bis zu 15 % der Stammaktien ausgerichtet. Die am 4. März 2008 mit einem Basispreis von 120 € vereinbarte Optionsstrategie VII hatte eine Größenordnung von bis zu 10 % der Stammaktien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Die <em>Optionsstrategie IV</em> war auf die physische Lieferung von 3,66 % der Stammaktien gerichtet und wurde am 26. März 2007 beendet. Die Musterbeklagte zu 1 übte an diesem Tag die Optionen aus und erhielt von der M. Bank entsprechende Stammaktien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Die <em>Optionsstrategien V und VIII</em> waren jeweils auf bis zu 25 % der Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2 gerichtet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die <em>Optionsstrategie VI</em> war ausschließlich auf den Verkauf von Put-Optionen (<em>„naked-puts“</em>) in der Größenordnung zwischen 13,87 % und 20,67 % der Stammaktien gerichtet. Auch die Optionsstrategie III enthielt z.T. solche isolierten Put-Optionen, denen also keine Call-Optionen gegenüberstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Laut ihrem Geschäftsbericht 2006/2007 hat die Musterbeklagte zu 1 Aktienoptionen mit einem Nominalvolumen von rund 10,5 Mrd. € aktiviert und Aktienoptionen mit einem Nominalwert von rund 13,5 Mrd. € passiviert. Wegen des weiteren Inhalts des Geschäftsberichts wird auf die Anlage MBPor 106 Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Der Beteiligungsaufbau der Musterbeklagten zu 1, die hierfür mehrere Milliarden Euro aufwandte, stellte sich wie folgt dar:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><table class="Rsp"> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left"><strong>Datum</strong> </p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left"><strong>VW-Stammaktien insg.</strong></p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left"></p> </td> <td colspan="1" rowspan="1"><strong>Porsche SE</strong></td> <td colspan="1" rowspan="1"></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left"><strong>Anteil</strong></p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1"></td> <td colspan="1" rowspan="1"></td> <td colspan="1" rowspan="1"><strong>Aktien</strong></td> <td colspan="1" rowspan="1"><strong>Optionen</strong></td> <td colspan="1" rowspan="1"><strong>Summe</strong></td> <td colspan="1" rowspan="1"></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">28.03.2007</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">287.317.457</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">88.874.462</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">56.012.094</td> <td colspan="1" rowspan="1">144.886.556</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">50,427%</p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">10.08.2007</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">290.227.657</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">89.046.680</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">60.958.331</td> <td colspan="1" rowspan="1">150.005.011</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">51,685%</p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">03.03.2008</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">291.361.077</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">89.046.680</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">90.371.219</td> <td colspan="1" rowspan="1">179.417.899</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">61,579%</p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">16.06.2008</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">291.437.017</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">89.046.680 +<br>14.400.000</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">94.156.562</td> <td colspan="1" rowspan="1">197.603.242</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">67,803%</p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">24.07.2008</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">291.449.027</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">89.046.680 +<br>14.400.000</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">108.145.170</td> <td colspan="1" rowspan="1">211.591.850</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">72,6% </p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">16.09.2008</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">294.368.987</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">103.446.680</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">114.362.017</td> <td colspan="1" rowspan="1">217.808.697</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">73,991%</p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">10.10.2008</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">294.584.537</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">125.496.680</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">90.312.017</td> <td colspan="1" rowspan="1">215.808.697</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">73,258%</p> </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">15.10.2008</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">294.584.537</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">125.486.680</p> </td> <td colspan="1" rowspan="1">90.312.017</td> <td colspan="1" rowspan="1">215.798.697</td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p style="text-align:left">73,255%<br></p> </td> </tr> </table></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Weitere Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 wurden von der Porsche Gesellschaft m.b.H. mit Sitz in Salzburg gehalten, deren Aufsichtsratsmitglieder Prof. Dr. F. P., Dr. H. M. P., Dr. W. P. und H. P. P. waren. Diese schloss am 22. Juni 2006 mit der M. Bank eine Vereinbarung über den Aufbau von Optionen in Höhe von 2,5 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 ab. Bis zum 25. April 2007 waren 7.005.262 Optionen aufgebaut. Die Porsche Gesellschaft m.b.H. übte diese am 15. Oktober 2008 aus und erwarb dieselbe Anzahl an Stammaktien von der M. Bank.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Trotz dieses hohen Anteils von Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und hierauf bezogener Optionen konnte die Musterbeklagte zu 1 keinen Beherrschungsvertrag mit der Musterbeklagten zu 2 schließen. Dem standen die Satzung der Musterbeklagten zu 2 und das Gesetz über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand (im Folgenden: VW-Gesetz) in der Fassung vom 31. Juli 1970 entgegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>In § 25 der Satzung der Musterbeklagten zu 2 war geregelt, dass Beschlüsse der Hauptversammlung, für die nach gesetzlichen Vorschriften eine Mehrheit erforderlich ist, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfasst, einer Mehrheit von mehr als vier Fünftel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals der Gesellschaft bedürfen. Damit verfügte das Land Niedersachsen aufgrund seiner Beteiligung in Höhe von 20,1 % der Stammaktien über eine Sperrminorität. Eine entsprechende Regelung enthielt § 4 Abs. 3 VW-Gesetz, nach der für wesentliche Maßnahmen der Musterbeklagten zu 2 eine 80 %-Mehrheit erforderlich war. Daneben enthielten das VW-Gesetz und die Satzung der Musterbeklagten zu 2 inhaltsgleiche Bestimmungen über ein Höchststimmrecht jedes Aktionärs von maximal 20 % sowie über ein Entsenderecht der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Niedersachsen für je zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Mit Urteil vom 23. Oktober 2007 (C-112/05) kam der Europäische Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Zusammenspiel von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz (Höchststimmrecht in Verbindung mit der Sperrminorität) eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Artikel 56 Abs. 1 EGV darstelle, und erklärte Teile des VW-Gesetzes für europarechtswidrig. Das Bundesjustizministerium erklärte in einer Presseerklärung vom 16. Januar 2008 die Absicht, das VW-Gesetz so weit wie möglich zu erhalten und deshalb nur die Vorschriften aufzuheben, die vom Europäischen Gerichtshof für europarechtswidrig erklärt wurden. Der am 8. Februar 2008 veröffentlichte Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz zur Änderung des VW-Gesetzes sah dementsprechend lediglich eine Streichung des Höchststimm- und Entsenderechts in § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 VW-Gesetz vor, die Sperrminorität in § 4 Abs. 3 VW-Gesetz sollte hingegen aufrecht erhalten bleiben. Mit diesem Inhalt trat das Gesetz am 11. Dezember 2008 in Kraft. Die von der Europäischen Kommission diesbezüglich wegen fehlender Umsetzung des Urteils vom 23. Oktober 2007 erhobene Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung hat der Europäischen Gerichtshof – nach dem hier maßgeblichen Zeitraum – mit Urteil vom 22. Oktober 2013 (C-95/12) zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 unternahm <em>„massive Lobbytätigkeit“</em> (Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. Mai 2017, Rn. 487), um eine Änderung dieser Regelungen zur Sperrminorität zu erreichen. In der Hauptversammlung der Musterbeklagten zu 2 am 24. April 2008 beantragte sie erfolglos, die Satzung zu ändern, indem die Regelungen über das Entsenderecht, die Höchststimmregelung und die Sperrminorität gestrichen werden. Gegen den ihren Antrag ablehnenden Beschluss der Hauptversammlung erhob die Musterbeklagte zu 1 am 26. Mai 2008 Anfechtungsklage vor dem Landgericht Hannover, die – ebenfalls nach dem hier maßgeblichen Zeitraum – durch Urteil vom 27. November 2008 (21 O 61/08) zurückgewiesen wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Am 3. März 2008 beschloss der Vorstand der Musterbeklagten zu 1, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auch auf über 50 % des Grundkapitals hinaus zu erhöhen, die dafür notwendigen Finanzierungsmaßnahmen durchzuführen, alle für die Beteiligungserhöhung erforderlichen behördlichen Genehmigungen einzuholen, die erforderlichen Pflichtangebote abzugeben und für die genannten Maßnahmen die Ermächtigung des Aufsichtsrats einzuholen. Der Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 ermächtigte den Vorstand am selben Tag, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auch auf über 50 % des Grundkapitals hinaus zu erhöhen und die dafür erforderlichen Vorbereitungen und Begleitmaßnahmen zu ergreifen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Ebenfalls am 3. März 2008 veröffentlichte die Musterbeklagte zu 1 eine Ad-hoc-Mitteilung folgenden Inhalts (Anlage MK 9):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<em>Der Aufsichtsrat der Porsche Automobil Holding SE, Stuttgart, hat grünes Licht für die Erhöhung der Beteiligung an der Volkswagen AG auf über 50 Prozent gegeben. Das Kontrollgremium ermächtigte den Vorstand am Montag in einer außerordentlichen Sitzung, weltweit alle dafür notwendigen aufsichts- und kartellrechtlichen Schritte einzuleiten. Die Prüfungen der Aufsichtsbehörden werden voraussichtlich einige Monate dauern. Sobald die erforderlichen Freigaben vorliegen, kann die Porsche SE die Aktienmehrheit an Volkswagen erwerben. Dr. W. W., Vorstandsvorsitzender der Porsche SE: 'Unser Ziel ist die Schaffung einer der innovativsten und leistungsstärksten Automobil-Allianzen der Welt, die dem verschärften internationalen Wettbewerb gerecht wird.' Eine Fusion der beiden Unternehmen ist nicht geplant.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Mit der am selben Tage veröffentlichten Pressemitteilung (Anlage MBPor 70) teilte die Musterbeklagte zu 1 über den Text der Ad-hoc-Mitteilung hinaus, deren letzter Satz dort allerdings nicht aufgenommen war, Folgendes mit:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Mit der Entscheidung werde der Weg dafür geebnet, dass Volkswagen und Porsche künftig ‚gemeinsam in einer fairen und kollegialen Partnerschaft ein neues Kapitel Automobilgeschichte schreiben können‘. (...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Sobald der Mehrheitserwerb erfolgt ist, wird die Volkswagen AG – neben </em><em>der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG – ein weiterer Teilkonzern der Porsche Automobil Holding SE. Damit werden Arbeitnehmervertreter aus dem Volkswagen-Konzern in den Aufsichtsrat der Porsche Automobil Holding SE einziehen. Gemeinsam mit den Vertretern der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG werden sie die Arbeitnehmerseite im zwölfköpfigen Kontrollgremium der Holding bilden. (...)“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>In Reaktion auf diese Mitteilungen erfolgten Presseberichte, die Musterbeklagte zu 1 wolle nach internen Planungen ihre Anteile an der Musterbeklagten zu 2 auf 75 % aufstocken (Anlagen MK 40, 41). Daraufhin veröffentlichte die Musterbeklagte zu 1 am 10. März 2008 eine Pressemitteilung mit folgendem Inhalt (Anlage MK 10 / MBPor 77):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Porsche weist Spekulationen über Aufstockung auf 75 Prozent bei VW zurück</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Aufsichtsratsbeschluss betrifft lediglich Mehrheitsbeteiligung</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die Porsche Automobil Holding SE, Stuttgart, weist Medienberichte zurück, wonach das Unternehmen beabsichtige, seinen VW-Anteil auf 75 Prozent aufzustocken. Die Spekulation, auf 75 Prozent zu gehen, übersehe die Realitäten in der Aktionärsstruktur von VW. Vor dem Hintergrund, dass das Land Niedersachsen als zweiter Großaktionär über 20 Prozent der Anteile an Volkswagen hält, ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, die dafür notwendigen Aktien aus dem Streubesitz zu erwerben.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Hintergrund der aktuellen Medienberichte sind offenbar Börsengerüchte, die auf Gedankenspiele von Analysten und Investoren zurückgehen.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Am 23. Juli 2008 gab die EU-Kommission die Freigabe der von der Musterbeklagten zu 1 eingereichten Kartellanmeldung bekannt. Am selben Tag ermächtigte der Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 deren Vorstand, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auf über 75 % der Stammaktien zu erhöhen und die dazu notwendigen Finanzierungsmaßnahmen zu ergreifen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Gleichfalls am 23. Juli 2008 veröffentlichte das Manager Magazin folgende Äußerung eines namentlich nicht genannten Pressesprechers der Musterbeklagten zu 1 (Anlage MK 42):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„(...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>‚Wir begrüßen die Entscheidung der EU-Kommission‘, sagte ein Porsche-Sprecher am Mittwochabend in Stuttgart. Mit der Freigabe aus Brüssel lägen nun die Genehmigungen von acht Kartellbehörden vor. Nach der Freigabe durch die Kartellbehörden in weiteren Länder werde Porsche seinen Stimmrechtsanteil an VW auf eine Mehrheit aufstocken. ‚Das dürfte im Herbst der Fall sein‘, sagte der Sprecher.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Theoretisch ist mit dem Bescheid der EU-Kommission vom Mittwoch der Weg für Porsche frei, VW künftig noch stärker unter seine Kontrolle zu bringen. Dazu bräuchte Porsche keine weitere Erlaubnis der Kommission mehr.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Zu weiteren Anteilskäufen, mit denen Porsche seinen Stimmrechtsanteil auf bis zu knapp 80 Prozent aufstocken könnte, wollte sich der Porsche-Sprecher jedoch nicht äußern. ‚Wir reden heute über die Mehrheit‘, sagte er.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Das Land Niedersachsen ist mit gut 20 % der Stimmrechte an VW beteiligt und will dieses Paket behalten. Das jüngst novellierte VW-Gesetz sichert dem Land mit diesem Anteil eine Sperrminorität zu, die nach dem deutschen Aktienrecht üblicherweise ein Viertel der Stimmrechte erfordert.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Porsche läuft gegen dieses Sonderrecht des Landes Sturm, (...). Mit der Sperrminorität kann Niedersachsen derzeit verhindern, dass Porsche wichtige Unternehmensentscheidungen wie die Schließung eines Werks oder einen Gewinnabführungsvertrag verlangen könnte. (...)“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>In einem am 28. Juli 2008 veröffentlichten Interview mit der Frankfurter Allgemeine Zeitung äußerte sich der Finanzvorstand der Musterbeklagten zu 1 H. H. u.a. wie folgt (Anlage MK 72):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„(...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Dann hat Schaeffler vielleicht schneller die Mehrheit bei Conti als Porsche bei VW? Bei Ihnen zieht sich der Übernahmeprozess nun ja schon seit bald drei Jahren hin.</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Wir sind doch nicht auf der Rennstrecke. Und unser Zeitplan steht. Wir haben fest vor, in diesem Jahr die 51-Prozent-Grenze zu überschreiten, und dafür müssen nun mal eine ganze Reihe Kartellämter zustimmen. Die Vereinigten Staaten liegen vor, seit letzter Woche auch die Genehmigung der EU-Kommission; China ist gerade angekommen. Das ist alles im grünen Bereich. Aber einige Balkan-Staaten brauchen beispielsweise noch weitere Unterlagen. Und die Beamten anderer südeuropäischer Länder haben uns mitgeteilt, dass sie jetzt im Urlaub sind und erst Mitte September zu einer Entscheidung kommen werden. Trotzdem gehen wir davon aus, dass wir im September sukzessive aufstocken werden.</em><br><em>(...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Für einen normalen Aktionär wäre das jetzt teuer. Der Kurs der VW-Aktie ist mittlerweile auf mehr als 200 Euro gestiegen. Als Porsche vor fast drei Jahren die erste Tranche kaufte, lag er noch bei 35 Euro.</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Wir haben Kurssicherungsgeschäfte getätigt, also sogenannte ‚cash settled Options‘, die uns einen bestimmten Kurs sichern, wie ja der Begriff aussagt.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Können Sie das genauer erklären?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Eigentlich nicht, sonst ist doch die Blaupause auf dem Markt. (...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Auf jeden Fall ist Ihnen ganz egal, wo der Kurs der VW-Aktie jetzt ist.</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Mit Hilfe der Kurssicherungsgeschäfte konnten wir uns einen Preis sichern, den wir für weitere Käufe zu bezahlen haben.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Möglicherweise verdienen Sie noch daran?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><em>Das kann schon passieren.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Wo ein Gewinner ist, muss es ja auch eine Menge Verlierer geben. Wahrscheinlich haben die Banken ein schlechtes Geschäft gemacht?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Das mit Gewinnern und Verlierern ist bei allen Optionsgeschäften so. Aber ich gehe davon aus, dass die Banken ihre Positionen entsprechend abgesichert haben.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Und Sie ziehen das jetzt durch, auch wenn es noch viel Streit gibt über die Mitbestimmung. Und das VW-Gesetz ist ja auch noch nicht vom Tisch.</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Es ist nun halt leider so, dass wir aufgrund der politischen Diskussion in eine Schleife gezwungen werden, bis das Ganze vor dem Europäischen Gerichtshof geregelt wird. (...) Aber wir haben gegen die Hauptversammlungsbeschlüsse zur Satzungsänderung geklagt (...).</em><br><em>(...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Gibt es denn wenigstens Annäherung bei der Mitbestimmungsvereinbarung, wo es ja um die Aufteilung der Macht zwischen den verschiedenen Arbeitnehmervertretern geht?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Da sind wir relativ nah an einer Lösung. Aber immer, wenn wir meinen, am Ziel zu sein, kommt der VW-Betriebsratsvorsitzende mit Nachforderungen. Wir haben das Gefühl, dass sich im Hintergrund ein Machtkampf innerhalb der IG Metall abspielt. Die Rolle von IG-Metall-Funktionär Jürgen Peters im VW-Aufsichtsrat beispielsweise ist nicht unbedingt zielführend. Ob er wirklich nur die Interessen der Belegschaft im Auge hat, scheint mir doch eher zweifelhaft.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Die Stimmung ist gegen Sie. Wie kann man das Problem nun lösen?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Sobald wir die nächsten Etappen genommen haben, also die faktische Mehrheit und dann die 51 Prozent, wird es wieder um operative Themen gehen. Dann wird sich auch die Diskussion versachlichen.</em><br><em>(...)“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Am 16. September 2008 veröffentlichte die Musterbeklagte zu 1 eine Pressemitteilung mit folgendem Wortlaut (Anlage MK 11):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<em>Die Porsche Automobil Holding SE, Stuttgart, hat an diesem Dienstag, 16. September, weitere 4,89 Prozent der Volkswagen-Stammaktien erworben. Die Beteiligung an dem Wolfsburger Automobilhersteller erreicht damit insgesamt 35,14 Prozent der Stimmrechte. „Das Ziel bleibt weiterhin, unseren Anteil an Volkswagen auf über 50 Prozent zu erhöhen. Der heutige Schritt ist ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg“, so der Porsche-Vorstandsvorsitzende Dr. W. W.. Er fügte hinzu: „Wir freuen uns auf die Fortsetzung und Vertiefung der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Volkswagen-Vorstand und hoffen auf eine rasche Lösung im Konflikt zwischen den Arbeitnehmervertretungen von Porsche und VW. (...)“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Unter Bezugnahme auf einen Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (Anlage MBPor 154, Bl. 2676 d.A.) veröffentlichte Spiegel-online am 18. September 2008 – bestrittene – Äußerungen eines namentlich nicht benannten Sprechers der Musterbeklagten zu 1 sowie deren Finanzvorstands H. (Anlage MK 43):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Porsche plant laut einem Bericht der ‚Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‘, seinen Einfluss bei dem Autobauer aus Wolfsburg auszuweiten. Bei einem vertraulichen Treffen mit niedersächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten habe der Finanzvorstand des Sportwagenbauers, H. H., erstmals einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag ins Spiel gebracht, schreibt die Zeitung.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Demnach würde VW zu einem reinen Befehlsempfänger. Außerdem müssten die Wolfsburger ihren gesamten Gewinn nach Stuttgart überweisen. Porsche werde dieses Ziel nicht einfach aufgeben, nur weil ein neues VW-Gesetz in der Vorbereitung sei, wird H. aus Teilnehmerkreisen zitiert.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Ein Porsche-Sprecher sagte der Zeitung, H. habe lediglich eine theoretische Möglichkeit angesprochen. Derzeit stehe ein Beherrschungsvertrag nicht zur Debatte und sei auch ‚völlig unrealistisch‘.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Weiter äußerte sich Dr. W. auf dem Pariser Autosalon zu der Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2. Diese Äußerung wurde in einem Artikel von Finanzen.net vom 2. Oktober 2008 wie folgt wiedergegeben (Anlage MK 44):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„(...)</em><br><em>Porsche wolle sich die Option auf eine Beteiligung von 75% an Volkswagen offen halten, fügte der Vorstandsvorsitzende hinzu. Dies sei im Moment aber eine ‚rein theoretische Möglichkeit‘.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Im September hatte Porsche ihren Anteil an Volkswagen auf 35,14% erhöht. Damit verfügt Porsche über eine so genannte faktische Mehrheit an Volkswagen. W. hatte zudem angekündigt, dass Porsche ihren Anteil an Volkswagen bis November auf über 50% aufstocken will.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>In einem in der Frankfurter Allgemeine Zeitung am 6. Oktober 2008 veröffentlichten Interview sind entsprechende Äußerungen von W. wie folgt wiedergegeben (Anlage MK 45):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„(...) Eine 75-prozentige Beteiligung an VW wolle er in Zukunft nicht ausschließen. (...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Die VW-Kollegen fürchten, dass sie zur Abteilung von Porsche degradiert werden, dass Sie den VW-Anteil auf 75 Prozent erhöhen und einen Beherrschungsvertrag abschließen. Können Sie ihnen diese Sorge nehmen?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Wir wären schlechte Unternehmer, wenn wir jetzt sagen würden, wir schließen langfristig eine Beherrschung aus. 75 Prozent sind heute kein Thema, das ist klar. Die theoretische Möglichkeit aber wollen wir uns erhalten. (...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Deswegen streiten Sie so vehement gegen das VW-Gesetz: Bisher kann das Land Niedersachsen mit seinen 20 Prozent jede Beherrschung verhindern?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Wir kämpfen gemeinsam mit der EU-Kommission um nichts mehr, als dass für VW Regeln gelten wie für jeden anderen Dax-Konzern</em><br><em>(...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Wird das VW-Gesetz am Ende fallen?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Sonderregeln werden auf Dauer keinen Bestand haben. Wenn die Europäische Kommission gegen die Neuauflage des Gesetzes vorgeht, wird es in Berlin nicht zu halten sein. Das ist nur eine Frage der Zeit.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Die Börse spekuliert schon jetzt darauf, dass Sie auf 75 Prozent an VW aufstocken - oder wie erklären Sie den irren Anstieg der VW-Aktie?</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die 75 Prozent sind heute kein Thema; wir treiben den Kurs nicht. Auf Dauer wäre ein so hoher Kurs auch nicht gut.</em><br><em>(...)“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Der Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 war zunächst von 149,10 € am 3. März 2008 angestiegen und bewegte sich für einen Zeitraum von rund 2 Monaten vor dem 15. September 2008 – dem Tag der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers – in der Größenordnung von etwa 200 €. Ursache für diesen kontinuierlichen Anstieg, der zuletzt entgegen dem allgemeinen Trend in der Finanzkrise erfolgte, war die Marktverknappung im Zusammenhang mit dem Beteiligungsaufbau durch die Musterbeklagte zu 1. In dem folgenden Monat stieg der Kurs in zwei Wellen von 207 € auf 398,84 € am 16. Oktober mit einem Höchststand von 452 € am 7. Oktober (vgl. etwa Kurshistorie Anlage MBPor 99 und Kursdiagramme im Schriftsatz der Musterbeklagten zu 1 vom 28. Juli 2017, Rn. 159, 186, 551, Bl. 1764, 1770, 1869 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Unter dem 17. Oktober 2008 untersuchte das Analysehaus Bernstein Research die längerfristigen Kursgewinne der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 und führte diese u.a. auf die Optionsstrategien der Musterbeklagten zu 1 zurück. Die Analyse gelangte zu dem Schluss, dass die Musterbeklagte zu 1 ihren Anteil an der Musterbeklagten zu 2 wahrscheinlich auf deutlich über 55 %, möglicherweise auch auf mehr als 70 % aufstocken werde. Sie vermutete, die Musterbeklagte zu 1 habe Aktien an Hedgefonds verliehen und dadurch die hohe Volatilität der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 in den Vorwochen begünstigt (Anlage MK 47). Die Musterbeklagte zu 1 wies diese Vermutung gegenüber der Financial Times als <em>„Märchen“</em> zurück (veröffentlicht am 21. Oktober 2008, Anlage MBPor 112):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„In a research note last week, Max Warburton, an analyst at Sanford Bernstein, blamed Porsche for the massive swings in VW´s share price. Mr Warburton suggested Porsche was fuelling the squeeze by lending stock to hedge funds. However, a spokesman at Porsche denied this, dismissing Mr Warburton´s ideas as a ‚fairytale‘. ‚We never lend any shares‘, he said.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>Nach dem 16. Oktober 2008 kam es zu einem deutlichen Kursverlust der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2. Der Schlusskurs lag am 24. Oktober 2008 bei 210,85 € (vgl. etwa Kursdiagramme im Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. Mai 2017, Rn. 363, Bl. 919 d.A. und im Schriftsatz der Musterbeklagten zu 1 vom 28. Juli 2017, Rn. 186, 189, Bl. 1770, 1772 d.A., sowie Anlage MBPor 99). In der Woche vom 20. bis zum 24. Oktober 2008 musste die Musterbeklagte zu 1 der M. Bank aufgrund dieser Kursverluste Basissicherheiten und Nachschüsse in Höhe von jedenfalls deutlich mehr als 2 Mrd. € leisten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Der Vorstand der Musterbeklagten zu 1 fasste am 26. Oktober 2008 den Beschluss, den Umfang der Kurssicherungsgeschäfte und der zu diesem Zeitpunkt gehaltenen Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 offen zu legen sowie die Beteiligung abhängig von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Jahr 2009 auf 75 % der Stammaktien zu erhöhen, um in der Folge einen Beherrschungsvertrag zu schließen. In der am selben Tage veröffentlichten Pressemitteilung heißt es (Anlage MK 5):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<strong><em>Porsche strebt Beherrschungsvertrag an</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Volkswagenanteil auf 42,6 Prozent aufgestockt</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Aufgrund der dramatischen Verwerfungen auf den Finanzmärkten hat sich die Porsche Automobil Holding SE, Stuttgart, am Wochenende entschlossen, ihre Aktien und Kurssicherungspositionen im Zusammenhang mit der Übernahme der Volkswagen AG, Wolfsburg, offen zu legen. Demnach hält die Porsche SE am Ende der vergangenen Woche 42,6 Prozent der Volkswagen Stammaktien sowie zusätzlich 31,5 Prozent cash gesettelte Optionen auf Volkswagen Stammaktien zur Kurssicherung, was in der Summe einen Betrag von 74,1 Prozent ergibt. Bei Auflösung dieser cash gesettelten Optionen erhält Porsche die Differenz zwischen dem dann aktuellen Volkswagen Kurs und dem darunterliegenden Absicherungskurs (dem sogenannten „Strike“) ausbezahlt. Die Volkswagen Papiere werden zum jeweils aktuellen Kurs gekauft.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Zielsetzung ist, sofern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, im Jahr 2009 auf 75 Prozent aufzustocken und damit den Weg für einen Beherrschungsvertrag frei zu machen. An dem Fahrplan, noch im November/Dezember 2008 die 50 Prozent Hürde bei VW zu nehmen, wird unverändert festgehalten.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Porsche hat sich zu dieser Bekanntgabe entschlossen, nachdem offenkundig geworden ist, daß deutlich mehr Shortpositionen im Markt sind als erwartet. Die Offenlegung soll deshalb den sogenannten Shortsellern - also Finanzinstituten, die auf einen fallenden VW Kurs gewettet haben oder </em><em>noch wetten - Gelegenheit geben, ihre Positionen in Ruhe und ohne größeres Risiko aufzulösen.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Hinzu kommt, dass nach Presseberichten vom Wochenende die EU-Kommission schon in überschaubarer Zukunft die von der Bundesregierung geplante Neuauflage des VW Gesetzes als europarechtswidrig einstufen wird. Es ist zu erwarten, dass in der Folge eine erneute Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht wird.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Auch die Tatsache, dass sich die Porsche Eigentümerfamilien Porsche und Piech geschlossen und uneingeschränkt hinter das Vorgehen der Porsche SE Vorstände Dr. W. W. und H. H. stellen, bestärkte den jetzt erfolgten Schritt zur Offenlegung. Wie berichtet, haben sich vergangene Woche die Familien eindeutig für eine Beherrschung des Volkswagen Konzerns durch Porsche ausgesprochen</em>.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Am 27. Oktober 2008 öffnete die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 mit 350 € und erreichte einen Tageshöchstwert von 635 €. Der Eröffnungskurs lag am Folgetag bei 500 € mit einem Tageshöchststand von 1.005,01 € sowie einem Schlusskurs von 945 €.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Am 28. Oktober 2008 beschloss der Vorstand der Musterbeklagten zu 1, je nach Marktlage ihre Kurssicherungsgeschäfte in Höhe von bis zu 5 % der Volkswagen-Stammaktien aufzulösen. Am 29. Oktober 2008 veröffentlichte die Musterbeklagte zu 1 eine entsprechende Pressemitteilung (Anlage MK 57).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Die Vorzugsaktie der Musterbeklagten <span style="text-decoration:underline">zu 1</span>, die am 24. Oktober 2008 bei einem Kurs von 39,347 € schloss, eröffnete am 27. Oktober 2008 bei 37,953 €. Ihr Schlusskurs belief sich auf 35,774 €. An den beiden darauffolgenden Tagen kam es zu einem Kursanstieg von 39,321 € (Schlusskurs am 28. Oktober 2008) auf 53,896 € (Schlusskurs am 29. Oktober 2008). Das Handelsvolumen dieser Vorzugsaktie bewegte sich in den Tagen vom 24. bis zum 29. Oktober 2008 zwischen einem Volumen von 2.337.640 und 7.242.855 Stück. Insoweit wird auf die Darstellung unter Rn. 220 des Schriftsatzes der Musterklägerin vom 4. Oktober 2017 Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Am 5. Januar 2009 erwarb die Musterbeklagte zu 1 zu einem Kaufpreis von jeweils 255,841 € weitere 6.266.907 Stammaktien der Musterbeklagten zu 2. Sie finanzierte dies durch Auflösung einer entsprechenden Anzahl von Kaufoptionen aus der Optionsstrategie II unter gleichzeitigem Rückkauf von Put-Optionen. Der Finanzvorstand der Musterbeklagten zu 1 H. verhandelte über die Refinanzierung des 10 Mrd. € - Kredits. Eine entsprechende Verlängerung des Kreditvertrags wurde am 24./25. März 2009 abgeschlossen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin und die Beigeladenen verlangen in den Ausgangsverfahren Ersatz der ihnen aufgrund der dargestellten Kapitalmarktinformationen entstandenen Schäden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>Sie behaupten, der Gesellschafterausschuss sei das allein maßgebliche Entscheidungsgremium der Musterbeklagten zu 1 gewesen. Er habe durch einen <em>„Grundlagenbeschluss“</em> vom 15. Juli 2005 als Ziel des Beteiligungsaufbaus den Erwerb von über 80 % der Stammaktien verbindlich festgelegt. Die Beschlüsse des Gesellschafterausschusses seien für die dem Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 angehörenden Anteilseignervertreter im Hinblick auf die Ausübung ihres Stimmrechts bindend gewesen. Den förmlichen Beschlussfassungen des Aufsichtsrats sei keine wesentliche Bedeutung für die Entscheidungsfindung mehr zugekommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>Der Gesellschafterausschuss habe in einer Sitzung am 11. Februar 2008 klargestellt, dass allein der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags die getätigten Investitionen rechtfertigen könne. Spätestens am 3. März 2008 hätten die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. und H. in Abstimmung mit dem Gesellschafterausschuss die <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em>, mithin die Absicht gehabt, die Beteiligung am Stammkapital der Musterbeklagten zu 2 auf mindestens 75 % aufzustocken und – wie durch den Start der Optionsstrategien VII und VIII am 4. März 2008 geschehen – konkrete Maßnahmen einzuleiten, um die Anteilsaufstockung auf 75 % umzusetzen. Ferner habe das Ziel bestanden, einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag abzuschließen, um den ausgelösten Kapitaleinsatz refinanzieren zu können. Bei dieser <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> habe es sich um eine Ad-hoc-pflichtige Insiderinformation gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagten zu 1 habe die Kommunikationsstrategie verfolgt, die wahren Absichten, mithin den bereits bestehenden Entschluss zu verschleiern, die Beteiligung auf 75 % der Stammaktien zu erhöhen. Mit den im Rahmen dieser Kommunikationsstrategie im Zeitraum ab dem 3. März 2008 abgegebenen Mitteilungen und Äußerungen, wie näher in Rn. 27 - 38 dargestellt, habe sie ihre <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> grob unrichtig und irreführend dementiert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>Unabhängig davon hätte die Musterbeklagte zu 1 nicht nur die von ihr gehaltenen Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 – unter anderem bei Überschreiten von Meldeschwellen – offenlegen müssen, sondern auch die Optionsstrategien. Diese hätten zu einer synthetischen Nachbildung der Stammaktie geführt, so dass das wirtschaftliche Risiko bereits mit dem Aufbau der Optionen vollständig begründet gewesen sei. Es habe sich nicht um Kurssicherungsgeschäfte gehandelt, sondern vielmehr faktisch um den Kauf von Stammaktien der Musterbeklagten zu 2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>Es habe einen faktischen Abnahmezwang für die gesicherten Stammaktien gegeben. Die M. Bank habe sich für Optionsgeschäfte mittels Hedging abgesichert. Die Musterbeklagte zu 1 habe gewusst, dass sich der Markt der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 durch die Hedgingaktivitäten der M. Bank zunehmend verengte. Die Musterbeklagte zu 1 habe Kapitalmarktteilnehmer dahingehend instrumentalisiert, Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 leer zu verkaufen, um die entsprechenden Short-Positionen für die sich absichernde M. Bank und weitere Investmentbanken in der Hedgingkette zu schaffen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>Um die Umsetzung ihrer Beherrschungsabsicht nicht zu gefährden, habe die Musterbeklagte zu 1 in Kauf genommen, dass die Musterbeklagte zu 2 keine <em>„saubere Dieseltechnologie“</em> entwickelt, sondern <em>„Betrugssoftware“</em> eingesetzt habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Der Vorstand der Musterbeklagten zu 1 habe am 4. September 2008 gegenüber der Bank L. den Finanzierungsbedarf für eine Aufstockung von über 50 % hinaus auf 75 % auf weitere 10 Mrd. € quantifiziert und diese Aufstockung für das erste Quartal 2009 dargestellt. Spätestens im Oktober 2008 sei der Musterbeklagten zu 1 von verschiedenen Banken mitgeteilt worden, dass sowohl die Refinanzierung des bestehenden 10 Mrd. € - Kredits als auch eine darüberhinausgehende Einräumung von Krediten kurzfristig nicht möglich sei. Wegen der im Herbst 2008 bestehenden Banken- und Finanzmarktkrise hätten zudem die in die Hedgingkette eingebundenen Banken begonnen, ihr Risiko zu reduzieren, so dass sich die Zahl der Hedgingpartner reduziert und die Risikoprämien für Derivategeschäfte erhöht hätten. Der Kursverlust der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 vom 17. bis 24. Oktober 2008 habe bei der Musterbeklagten zu 1 zu einem drastischen Verlust des Wertes der Optionskombinationen sowie zu einem exorbitanten Liquiditätsabfluss aufgrund von Nachbesicherungspflichten geführt. Die Musterbeklagte zu 1 habe am 24. Oktober 2008 beim Rollen der Optionsstrategie I einen Verlust von ca. 200 Mio. € aus gekauften Call-Optionen sowie einen Verlust in Höhe von 2,3 Mrd. € aus den begebenen Put-Optionen realisiert. Die Liquiditätsbelastung betreffend Vorzugsaktien habe selbst unter Berücksichtigung frei gewordener Sicherheiten aufgrund der dortigen Herabsetzung des Strike-Preises bei mindestens 1,131 Mrd. € gelegen. Die Marktwertverluste der Optionsstrategien zwischen dem 20. und dem 24. Oktober 2008 hätten insgesamt zu einer Liquiditätsbelastung in Höhe von 3,875 Mrd. € geführt. Wegen des Kurssturzes seien die Partner der M. Bank dazu übergegangen, die von ihnen zur Absicherung gehaltenen Stammaktien in den Markt zu verkaufen, solange diese noch überbewertet bzw. werthaltig waren. Dies habe im Ergebnis dazu geführt, dass die Musterbeklagte zu 1 am 24. Oktober 2008 am Rande der Insolvenz und unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit gestanden habe, weil sie nur noch über eine freie Liquidität in Höhe von 27 Mio. € verfügt habe. Die Musterbeklagte zu 1 habe anhand einer vorgenommenen Value-at-Risk Berechnung davon ausgehen müssen, dass ihr schon am 27. Oktober 2008 weitere Nachschussverpflichtungen in Höhe von 2,1 Mrd. € drohten. Sie habe nicht die Möglichkeit gehabt, die Optionen aufzulösen, ohne die Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zu erwerben, weil dies zu weiteren Marktwertverlusten geführt hätte. Die Musterbeklagte zu 1 habe weder über die finanziellen Mittel verfügt, die Stammaktien zu erwerben, noch habe die Möglichkeit bestanden, die von ihr bereits gehaltenen Stammaktien zu verkaufen oder zu verpfänden. In dieser Situation hätte sie eine Gewinnwarnung veröffentlichen müssen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>Die stattdessen veröffentlichte Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 sei grob unrichtig gewesen. Hinter ihrer Veröffentlichung habe ausschließlich das Eigeninteresse der Musterbeklagten zu 1 gestanden, Leerverkäufer durch die Suggestion eines Kaufzwangs zum Schließen ihrer Positionen zu bewegen, sie aus dem Markt zu vertreiben und anschließend von weiteren Handelsaktivitäten abzuhalten, um einen weiteren Kursverlust der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 zu verhindern. Die Musterbeklagte zu 1 habe darüber hinaus die von ihr erlittenen Verluste bei den Put-Optionen verschwiegen, sodass die Marktteilnehmer davon hätten ausgehen müssen, dass die Musterbeklagte zu 1 weitere Stammaktien zu jedem beliebigen Preis werde erwerben können. Die Pressemitteilung sei auch deshalb irreführend, weil die Musterbeklagte zu 1 verschwiegen habe, dass die gemeinsam mit ihr handelnde Porsche GmbH Salzburg über einen Anteil an Stammaktien in Höhe von 2,37 % verfügte. Den Marktteilnehmern war bekannt, dass das Land Niedersachsen über einen Anteil von 20,1 % der Stammaktien verfügte, so dass die Pressemitteilung eine Marktenge suggeriert habe. Die Aussage, die Stammaktien zum aktuellen Kurs zu kaufen, sei objektiv so zu verstehen gewesen, dass die Musterbeklagte zu 1 den festen Entschluss habe und es ihr auch möglich sei, die durch Kurssicherungsgeschäfte gesicherten Stammaktien zu erwerben, um auf einen Anteil von 74,1 % zu kommen. Eine entsprechende Finanzierung sei der Musterbeklagten zu 1 aber nicht möglich gewesen. Die in der Pressemitteilung geäußerten Motive seien zudem unzutreffend gewesen. Die Eigentümerfamilien Po. und P. hätten sich nicht erst im Oktober 2008 geschlossen und uneingeschränkt hinter das Vorgehen der Musterbeklagten zu 1 gestellt. Die Erwähnung von Presseberichten im Hinblick auf die Reform des VW-Gesetzes sei ein konstruierter Vorwand gewesen. Positive Signale habe die europäische Kommission nicht erst im Oktober 2008, sondern bereits Anfang Juni 2008 mit der Einleitung eines erneuten Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland gegeben. Den angeblich am 26. Oktober 2008 gefassten Beschluss habe der Vorstand in der Sache lange zuvor gefasst, nämlich am 3. März 2008. Im Übrigen hätte die Musterbeklagte zu 1 als Emittent ihrer Vorzugsaktie die Inhalte der Pressemitteilung als Ad-hoc-Mitteilung veröffentlichen müssen, weil es sich bei der Aufstockung auf 74,1 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und dem beabsichtigten Abschluss eines Beherrschungsvertrags um kursrelevante Informationen gehandelt habe. Mit dieser Pressemitteilung habe die Musterbeklagte zu 1 bewusst einen Short Squeeze auslösen wollen. Der Free Float der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 habe am 26. Oktober 2008 nur ca. 5 % betragen. Durch die Derivatgeschäfte, die die Musterbeklagten zu 1 nicht bekannt gegeben habe, habe diese zielgerichtet den Markt verengt. Die Investmentbank L. habe die Musterbeklagte zu 1 fortlaufend über die Zahl der Leerverkäufer informiert. Den Verantwortlichen der Musterbeklagten zu 1 sei am 26. Oktober 2008 bekannt gewesen, dass der Anteil der leerverkauften Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 bei mindestens 10 % lag und der Anteil der im Markt verfügbaren Stammaktien aufgrund der von der Musterbeklagten zu 1 eingegangenen physischen und synthetischen Beteiligung nicht ausgereicht habe, um die Nachfrage der Leerverkäufer zu bedienen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Aufgrund gewinnabhängiger Vorstandsvergütungen hätten die damaligen Vorstände der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. und H. ein erhebliches Eigeninteresse gehabt. Auch die Familien Po. und P. hätten von dem Marktverhalten der Musterbeklagten zu 1 und der Kursentwicklung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 profitiert. Die Musterbeklagte zu 1 und die Porsche GmbH Salzburg hätten es daher auch vorsätzlich unterlassen, Geschäfte mit Aktien und Finanzinstrumenten der Musterbeklagten zu 2 gemäß § 15a Abs. 1 Satz 1 WpHG a.F. der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (im Folgenden: BaFin) und der Musterbeklagten zu 2 mitzuteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>Den Verantwortlichen der Musterbeklagten zu 2 sei im Jahr 2008 bekannt gewesen, dass die Musterbeklagte zu 1 eine Übernahme und den Abschluss eines Beherrschungsvertrags konkret beabsichtige. Dieses Wissen hätten sowohl der damalige Vorstandsvorsitzende der Musterbeklagten zu 2 Dr. M. W. als auch die dem Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 2 angehörenden Dr. W., H., Prof. Dr. P., Dr. W. P. und der damalige niedersächsische Ministerpräsident C. W. gehabt. Prof. Dr. P. und Dr. W. Po. seien als Mitglieder des Aufsichtsrats und des Gesellschafterausschusses der Musterbeklagten zu 1 ebenso umfassend informiert gewesen wie Dr. W. und H. als deren Vorstand. Die Kenntnis des Vorstandsvorsitzenden Dr. W. ergebe sich aus von der Musterbeklagten zu 2 eingeholten Analysen und Studien zu den Plänen der Musterbeklagten zu 1 sowie aus Gesprächen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden Prof. Dr. P.. Darüber hinaus habe der damalige Leiter des Wirtschaftsreferats in der niedersächsischen Staatskanzlei, Dr. M., kurz vor dem 10. März 2008 Ministerpräsident W. über den Inhalt einer Besprechung vom 25. Februar 2008 informiert. Bei dieser Besprechung in Berlin hätten Vertreter der Musterbeklagten zu 1 gegenüber Dr. M. ausdrücklich klargestellt, dass die Übernahme der Musterbeklagten zu 2 und der Abschluss eines Beherrschungsvertrags geplant sei. Der Musterbeklagten zu 2 sei das Wissen ihrer Aufsichtsratsmitglieder zu zurechnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>Verschiedene Anleger hätten hierdurch Schäden erlitten. Sog. <em>Early Seller</em>, die Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 vor dem 26. Oktober 2008 verkauft haben, hätten sie in Kenntnis der Beherrschungsabsicht der Musterbeklagten zu 1 nicht verkauft. Leerverkäufer, die im Oktober 2008 auf einen fallenden Kurs der Stammaktie gesetzt hatten, hätten sich in Folge des Short Squeezes zu überhöhten Preisen eindecken müssen, um ihre vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen. Die von den Klägern der Ausgangsverfahren geltend gemachten Schäden belaufen sich auf mehrere Milliarden Euro.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>Unter dem 13. April 2016 hat das Landgericht Hannover auf Grundlage des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes einen Vorlagebeschluss erlassen, der am 20. April 2016 im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlicht worden ist. Mit Beschlüssen vom 12. Januar 2017, vom 11. September und 19. November 2018 sowie vom 29. März und 23. Mai 2022hat der Senat das Musterverfahren erweitert bzw. zugelassene Feststellungsziele berichtigt oder ergänzt, so dass nunmehr folgende Feststellungsziele Gegenstand des Musterverfahrens sind:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex I:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">I.1. Es wird festgestellt, dass die Verpflichtung zur Ad-hoc-Publizität eines Emittenten nicht deshalb entfällt, weil ein Mitglied des Aufsichtsrats des Emittenten über eine Insiderinformation verfügt, aufgrund eines Doppelmandats aber einer anderen Gesellschaft gegenüber nach Maßgabe nationalen Gesellschaftsrechts zur Verschwiegenheit verpflichtet ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex II:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.1. Die Vorstände der Musterbeklagten zu 1, Dr. W. W. und H. H., hatten jeweils am 3. März 2008, 10. März 2008, 16. Juni 2008, 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5./6. Oktober 2008 die Zielsetzung, die Beteiligung der Musterbeklagten zu 1 am Stammkapital der Musterbeklagten zu 2 – gegebenenfalls auch noch im Jahr 2009 – auf mindestens 75 % aufzustocken, insbesondere um damit den Weg für einen Beherrschungsvertrag freizumachen, und hierzu auch konkrete Maßnahmen eingeleitet, insbesondere durch den Abschluss der Optionsstrategien VII und VIII.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.2. Die Aufsichtsräte der Musterbeklagten zu 2, Dr. W. W., H. H., Prof. Dr. h.c. F. P., Dr. W. P. und C. W., hatten von der konkreten Beherrschungsabsicht i.S.d. Ziff. 1 Kenntnis zu den jeweils in Ziff. 1 genannten Daten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.3. Die in Ziff. 2 genannte Kenntnis der Aufsichtsräte ist der Musterbeklagten zu 2 seit dem 3. März 2008 zuzurechnen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Die Musterbeklagte zu 2 muss sich seit dem 3. März 2008 so behandeln lassen, als ob sie Kenntnis von der konkreten Beherrschungsabsicht im Sinne der Ziff. 1 gehabt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.3.a. Die in Ziff. 2 genannten Aufsichtsräte der Musterbeklagten zu 2 können sich nicht auf konfligierende Geheimhaltungspflichten berufen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.4. Die Musterbeklagte zu 2 hatte seit dem 3. März 2008 Kenntnis von der konkreten Beherrschungsabsicht i.S.d. Ziff. 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.5. Die konkrete Beherrschungsabsicht der Musterbeklagten zu 1 stellt eine Insiderinformation i.S.d. § 13 WpHG dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.6. Diese Insiderinformation betraf die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 unmittelbar i.S.d. § 37b Abs. 1 WpHG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.7. Die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 haben es unterlassen, diese Insiderinformation unverzüglich i.S.d. § 15 Abs. 1 WpHG zu veröffentlichen, insbesondere zu den in Ziff. 1 genannten Daten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.7.a. Diese Veröffentlichungspflicht oblag den Musterbeklagten zu 1 und zu 2 zumindest im Zeitraum vom 3. März 2008 bis 26. Oktober 2008; in diesem Zeitraum entstand diese Veröffentlichungspflicht täglich als jeweils eigenständige Pflicht aufs Neue.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.8. Diese Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 und zu 2 beruhte jeweils auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VIII.1. Eine Haftung der Musterbeklagten zu 1 aus §§ 37b, 37c WpHG umfasst auch Schäden aus Transaktionen in VW-Stammaktien; Anspruchsberechtigte, welche solche Transaktionen getätigt haben, sind insoweit aktivlegitimiert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VIII.1.a. Anspruchsberechtigt gemäß §§ 37b, 37c WpHG sind Personen, die folgende Transaktionen getätigt haben:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) Verkauf von VW-Stammaktien im Zeitraum vom 10. März 2008 bis 26. Oktober 2008, hilfsweise im Zeitraum vom 16. Juni 2008 bis 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines Kassageschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines unbedingten Termingeschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">d) Verkauf von Call-Optionen auf VW-Stammaktien vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.10. Indem die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 die unverzügliche Mitteilung unterlassen haben, haben sie sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">II.11. Die Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 und zu 2 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex III:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.1. Die Ad-hoc-Mitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 3. März 2008 stellt eine Insiderinformation i.S.d. § 13 WpHG dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.2. Die Insiderinformation bezüglich der Ad-hoc-Mitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 3. März 2008 betraf die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 unmittelbar i.S.d. § 37b Abs. 1, § 37c Abs. 1 WpHG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.3. Es wird festgestellt, dass die Ad-hoc-Mitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 3. März 2008 wegen Verschweigens folgender Umstände fehlerhaft ist:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Die Absicht der Musterbeklagten zu 1, 75 % der VW-Stammaktien zu erwerben (Beherrschungsabsicht);</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Die Entwicklung und Umsetzung von Optionsstrategien zum Erwerb von 75 % der VW-Stammaktien (Zugriffsstrategie);</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Die Entwicklung und Umsetzung einer Desinformationskampagne, um die Beherrschungsabsicht und die Zugriffsstrategie zu verheimlichen, zu leugnen und/oder irreführend darzustellen (Irreführungsstrategie);</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Der am 3. März 2008 gefasste Beschluss des Vorstands der Musterbeklagten zu 1, über 50 % der VW-Stammaktien zu erwerben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.4. Die Musterbeklagten zu 1 und 2 kannten die Unrichtigkeit der Insiderinformation bezüglich der Ad-hoc-Mitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 3. März 2008; hilfsweise: die Unkenntnis der Musterbeklagten zu 1 und 2 bezüglich der Unrichtigkeit dieser Ad-hoc-Mitteilung beruhte auf grober Fahrlässigkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.5. Die Musterbeklagte zu 1 war gemäß § 15 Abs. 2 S. 2 WpHG zur unverzüglichen Berichtigung der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 verpflichtet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.5.a. Diese Veröffentlichungspflicht bezüglich der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 oblag der Musterbeklagten zu 1 zumindest im Zeitraum vom 3. März 2008 bis 26. Oktober 2008; in diesem Zeitraum entstand diese Veröffentlichungspflicht täglich als jeweils eigenständige Pflicht aufs Neue.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.5.b. Diese Berichtigung bezüglich der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 hat die Musterbeklagte zu 1 unterlassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.5.c. Diese Unterlassung bezüglich der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 beruhte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.6. Indem die Musterbeklagte zu 1 die unverzügliche Berichtigung der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 unterlassen hat, hat sie sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.7. Die Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.8. Die Veranlassung der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 durch die Musterbeklagte zu 1 war sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">III.9. Die Musterbeklagte zu 1 hat in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter durch diese Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VIII.4.a. Die Musterbeklagte zu 2 war Mittäter oder Beteiligte i.S.d. § 830 BGB an den sittenwidrigen Handlungen der Musterbeklagten zu 1 bezüglich der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex IV:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">IV.1. Es wird festgestellt, dass die Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 10. März 2008 fehlerhaft ist</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">a) wegen Verschweigens folgender Umstände:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Die Absicht der Musterbeklagten zu 1, 75 % der VW-Stammaktien zu erwerben (Beherrschungsabsicht);</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Die Entwicklung und Umsetzung von Optionsstrategien zum Erwerb von 75 % der VW-Stammaktien (Zugriffsstrategie);</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Die Entwicklung und Umsetzung einer Desinformationskampagne, um die Beherrschungsabsicht und die Zugriffsstrategie zu verheimlichen, zu leugnen und/oder irreführend darzustellen (Irreführungsstrategie);</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- Der am 3. März 2008 gefasste Beschluss des Vorstands der Musterbeklagten zu 1, über 50 % der VW-Stammaktien zu erwerben;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">b) wegen der Darstellung in der Pressemitteilung,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- dass die Wahrscheinlichkeit „äußerst gering“ sei, dass die Musterbeklagte zu 1 die für eine Aufstockung ihres Anteils an VW-Stammaktien „auf 75 Prozent“ erforderlichen Aktien „aus dem Streubesitz“ erlangen kann;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- dass der „Aufsichtsratsbeschluss [...] lediglich Mehrheitsbeteiligung“ betrifft;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- dass „Porsche [...] Spekulationen über die Aufstockung auf 75 Prozent bei VW“ als falsch zurückweist und die Spekulationen die „Realitäten in der Aktionärsstruktur“ übersähen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.2. Die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 kannten die Unrichtigkeit der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 10. März 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.5. Die Musterbeklagte zu 1 war am 10. März 2008 nach Herausgabe ihrer Pressemitteilung vom 10. März 2008 verpflichtet, deren unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen per Ad-hoc-Mitteilung zu korrigieren, hilfsweise den von dieser Pressemitteilung am Kapitalmarkt erzeugten irreführenden Eindruck per Ad-hoc-Mitteilung zu korrigieren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.6. Der Umstand,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass die Pressemitteilung vom 10. März 2008 unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen enthält,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass mit dieser Pressemitteilung ein irreführender Eindruck am Kapitalmarkt erzeugt wird,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">stellt eine Insiderinformation i.S.d. § 13 WpHG dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.7. Diese Insiderinformation bezüglich der Pressemitteilung vom 10. März 2008 betraf die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 unmittelbar i.S.d. § 37b Abs. 1 WpHG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.8. Die Musterbeklagte zu 1 hat es unterlassen, diese Insiderinformation bezüglich der Pressemitteilung vom 10. März 2008 unverzüglich i.S.d. § 15 Abs. 1 WpHG zu veröffentlichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.8.a Diese Veröffentlichungspflicht bezüglich der Pressemitteilung vom 10. März 2008 oblag der Musterbeklagten zu 1 zumindest im Zeitraum vom 10. März 2008 bis 26. Oktober 2008; in diesem Zeitraum entstand diese Veröffentlichungspflicht täglich als jeweils eigenständige Pflicht aufs Neue.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.9. Diese Unterlassung bezüglich der Pressemitteilung vom 10. März 2008 beruhte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.10. Indem die Musterbeklagte zu 1 die unverzügliche Mitteilung bezüglich der Berichtigung der Pressemitteilung vom 10. März 2008 unterlassen hat, hat sie sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.11. Die Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 bezüglich der Berichtigung der Pressemitteilung vom 10. März 2008 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter auch vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.12. Die Veranlassung der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 10. März 2008 durch die Musterbeklagte zu 1 war sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">IV.13. Die Veranlassung der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 10. März 2008 durch die Musterbeklagte zu 1 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VIII.4.b. Die Musterbeklagte zu 2 war Mittäter oder Beteiligte i.S.d. § 830 BGB an den sittenwidrigen Handlungen der Musterbeklagten zu 1 bezüglich der Pressemitteilung vom 10. März 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex V:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.3. Die Kenntnis der Aufsichtsräte der Musterbeklagten zu 2, Dr. W. W., H. H., Prof. Dr. h.c. F. P. und Dr. W. P., von dem Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 ist der Musterbeklagten zu 2 seit dem 23. Juli 2008 zuzurechnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.4. Die Musterbeklagte zu 2 hatte seit dem 23. Juli 2008 Kenntnis von dem Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.5. Der Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 stellt eine Insiderinformation i.S.d. § 13 WpHG dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.6. Diese Insiderinformation betraf die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 unmittelbar i.S.d. § 37b Abs. 1 WpHG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.7.a. Diese Veröffentlichungspflicht betreffend den Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 oblag den Musterbeklagten zu 1 und zu 2 zumindest im Zeitraum vom 23. Juli 2008 bis 26. Oktober 2008; in diesem Zeitraum entstand diese Veröffentlichungspflicht täglich als jeweils eigenständige Pflicht aufs Neue.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.8. Diese Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 und zu 2 betreffend den Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 beruhte jeweils auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.10. Indem die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 die unverzügliche Mitteilung betreffend den Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 unterlassen haben, haben sie sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">V.11. Die Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 und zu 2 von der unverzüglichen Mitteilung betreffend den Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter auch vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex VI:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.1.a. Die Äußerung eines namentlich nicht genannten Pressesprechers der Musterbeklagten zu 1 vom 23. Juli 2008 war unrichtig, unvollständig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.1.b. Die Äußerung des Finanzvorstandes der Musterbeklagten zu 1 H. H. in der FAZ vom 28. Juli 2008 war unrichtig, unvollständig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.1.c. Es wird festgestellt, dass die Äußerung des Vorstandsmitglieds der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. W., welche in der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 16. September 2008 zitiert wird, fehlerhaft ist, weil</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">a) die Musterbeklagte zu 1 den Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 verschweigt;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">b) die Musterbeklagte zu 1 mit der Bezugnahme auf die Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 suggeriert, dass sich die Beschlusslage gegenüber diesem Zeitpunkt nicht geändert habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.1.d. Die Äußerungen eines namentlich nicht benannten Sprechers der Musterbeklagten zu 1 sowie deren Finanzvorstands H. H., welche im Handelsblatt vom 18. September 2008 zitiert werden, waren unrichtig, unvollständig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.1.e. Die Äußerung des Vorstandsmitglieds der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. W. vom 5. Oktober 2008 in der FAS war unrichtig, unvollständig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.2. Die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 kannten die Unrichtigkeit der Äußerungen im Sinne der Ziff. 1 (fortan auch „Äußerungen“).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.5. Die Musterbeklagte zu 1 war nach der jeweiligen Äußerung vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008 verpflichtet,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">deren unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen per Ad-hoc-Mitteilung zu korrigieren,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise,</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">den von diesen Äußerungen am Kapitalmarkt erzeugten irreführenden Eindruck per Ad-hoc-Mitteilung zu korrigieren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.6. Der Umstand,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass die Äußerungen vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008 unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen enthalten,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass mit diesen Äußerungen ein irreführender Eindruck am Kapitalmarkt erzeugt wird,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">stellt eine Insiderinformation i.S.d. § 13 WpHG dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.7. Diese Insiderinformation bezüglich der Äußerungen vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008 betraf die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 unmittelbar i.S.d. § 37b Abs. 1 WpHG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.8.a. Diese Veröffentlichungspflicht bezüglich der Äußerungen vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008 oblag der Musterbeklagten zu 1 zumindest im Zeitraum vom 23. Juli 2008 bis 26. Oktober 2008; in diesem Zeitraum entstand diese Veröffentlichungspflicht täglich als jeweils eigenständige Pflicht aufs Neue.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.9. Diese Unterlassung bezüglich der Äußerungen vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008 beruhte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.10. Indem die Musterbeklagte zu 1 die unverzügliche Ad-hoc-Mitteilung betreffend die Korrektur der unrichtigen, unvollständigen oder irreführenden Aussagen vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008 unterlassen hat, hat sie sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.11. Die Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 einer unverzüglichen Ad-hoc-Mitteilung betreffend die Korrektur der unrichtigen, unvollständigen oder irreführenden Aussagen vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter auch vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VIII.4.c. Die Musterbeklagte zu 2 war Mittäter oder Beteiligte i.S.d. § 830 BGB an den sittenwidrigen Handlungen der Musterbeklagten zu 1 bezüglich der Äußerungen vom 23. Juli 2008, 28. Juli 2008, 16. September 2008, 18. September 2008 und 5. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.12. Die Verlautbarung dieser Äußerungen durch die Musterbeklagte zu 1 war sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VI.13. Die Verlautbarung dieser Äußerungen durch die Musterbeklagte zu 1 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex VII:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.1. Es wird festgestellt, dass die Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 26. Oktober 2008 fehlerhaft ist, weil</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">a) die von der Musterbeklagten zu 1 gehaltenen Put-Optionen verschwiegen werden;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">b) die von der Porsche GmbH Salzburg gehaltenen VW-Stammaktien verschwiegen werden;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">c) die Call-Optionen als „Kurssicherungspositionen“ bezeichnet werden;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">d) die Pressemitteilung suggeriert,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- dass die Musterbeklagte zu 1 ohne weiteren Beschluss eines ihrer Organe den Erwerb von 75 % der VW-Stammaktien vollenden kann;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- dass der Vorstand der Musterbeklagten zu 1 am 26. Oktober erstmals die Absicht gefasst habe, 75 % der VW-Stammaktien zu erwerben;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">e) die Musterbeklagte zu 1 eine Marktenge und somit den „Shortsellern“ einen Kaufzwang für VW-Stammaktien suggeriert, der tatsächlich nicht bestand, indem</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- sie die von ihr gehaltenen VW-Stammaktien und Call-Optionen zusammenrechnete und „in der Summe [mit] eine[m] Betrag von 74,1 %“ angab;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- sie die „Shortseller“ zum „Auflösen“ ihrer „Positionen“ aufforderte;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- sie mit der Ankündigung der Zielsetzung eines Beherrschungsvertrages die endgültige Verknappung der VW-Stammaktie und somit die Notwendigkeit der Auflösung der Positionen hervorhob;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">f) die Musterbeklagte zu 1 zu diesem Zeitpunkt bewusst eine rechtlich und wirtschaftlich nicht realistisch umsetzbare Zielsetzung (nämlich den Abschluss eines Beherrschungsvertrages) kommuniziert;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">g) die von der Musterbeklagten zu 1 genannten Motive nicht die tatsächlichen Gründe für die Veröffentlichung der Pressemitteilung waren, nämlich</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- die Behauptung, dass „dramatische Verwerfungen auf den Finanzmärkten“ und „deutlich mehr Shortseller im Markt als erwartet“ der Auslöser für die Veröffentlichung waren;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- die Erwartung, dass die „geplante Neuauflage des VW-Gesetzes“ „in überschaubarer Zukunft“ von der EU-Kommission als europarechtswidrig eingestuft werde;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">- die Behauptung, dass „die Familien [sich vergangene Woche] eindeutig für eine Beherrschung des Volkswagen Konzerns durch Porsche ausgesprochen“ hätten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Die Pressemitteilung zielte darauf ab, den Kapitalmarkt dahingehend zu manipulieren, dass</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">a) Leerverkäufer von VW-Stammaktien ihre Leerverkäufe nach Kenntniserlangung dieser Pressemitteilung eindeckten,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">b) Personen, welche die in Komplex II zum Feststellungsziel VIII.1.a. Buchst. b) bis d) aufgeführten Transaktionen getätigt haben, nach Kenntniserlangung dieser Pressemitteilung Deckungsgeschäfte durchführten,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise für den Fall, dass das Ziel der Kapitalmarktmanipulation nicht festgestellt wird,</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">und zielte darauf ab, einen weiteren Kursverfall zu verhindern und dadurch weitere Verluste aus den Optionsstrategien der Musterbeklagten zu 1 zu vermeiden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.2. Die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 kannten die Unrichtigkeit der Pressemitteilung und deren Ziel im Sinne der Ziff. 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.5. Die Musterbeklagte zu 1 war am 26. Oktober 2008 nach Herausgabe ihrer Pressemitteilung verpflichtet,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">deren unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen per Ad-hoc-Mitteilung zu korrigieren,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise,</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">den von dieser Pressemitteilung am Kapitalmarkt erzeugten irreführenden Eindruck per Ad-hoc-Mitteilung zu korrigieren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.6. Der Umstand,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen enthält,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass mit dieser Pressemitteilung ein irreführender Eindruck am Kapitalmarkt erzeugt wird,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">stellt eine Insiderinformation i.S.d. § 13 WpHG dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.7. Diese Insiderinformation im Hinblick auf die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 betraf die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 unmittelbar i.S.d. § 37b Abs. 1 WpHG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.8. Die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 haben es unterlassen, diese Insiderinformation im Hinblick auf die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 unverzüglich i.S.d. § 15 Abs. 1 WpHG zu veröffentlichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.8.a. Ab dem 26. Oktober 2008 entstand diese Veröffentlichungspflicht betreffend die Insiderinformation im Hinblick auf die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 täglich als jeweils eigenständige Pflicht aufs Neue.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.9. Diese Unterlassung einer Veröffentlichung bezüglich des Umstands,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen enthält,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass mit dieser Pressemitteilung ein irreführender Eindruck am Kapitalmarkt erzeugt wird,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">beruhte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.10. Indem die Musterbeklagten zu 1 und zu 2 die unverzügliche Mitteilung bezüglich des Umstands,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen enthält,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass mit dieser Pressemitteilung ein irreführender Eindruck am Kapitalmarkt erzeugt wird,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">unterlassen haben, haben sie sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.11. Die Unterlassung der Musterbeklagten zu 1 und zu 2 einer Veröffentlichung bezüglich des Umstands,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 unrichtige, unvollständige oder irreführende Aussagen enthält,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">dass mit dieser Pressemitteilung ein irreführender Eindruck am Kapitalmarkt erzeugt wird,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlageentscheidungen Dritter auch vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.12. Die Veranlassung der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 26. Oktober 2008 durch die Musterbeklagte zu 1 war sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VII.13. Die Veranlassung der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 26. Oktober 2008 durch die Musterbeklagte zu 1 war in Bezug auf die Beeinflussung von Anlagenentscheidungen Dritter vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex VIII:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VIII.2. Eine Haftung der Musterbeklagten zu 1 aus § 826 BGB umfasst auch Schäden aus Transaktionen in VW-Stammaktien; Anspruchsberechtigte, welche solche Transaktionen getätigt haben, sind insoweit aktivlegitimiert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VIII.3. Anspruchsberechtigt gemäß § 826 BGB sind Personen, die folgende Transaktionen getätigt haben:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) Verkauf von VW-Stammaktien im Zeitraum vom 10. März 2008 bis 26. Oktober 2008, hilfsweise im Zeitraum vom 16. Juni 2008 bis 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines Kassageschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines unbedingten Termingeschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">d) Verkauf von Call-Optionen auf VW-Stammaktien vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex X:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">X.1. Der Schadensersatzanspruch aus §§ 37b, 37c WpHG und aus § 826</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">BGB kann im Falle</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">a) von Leerverkäufen auch auf Ersatz des infolge der vorzeitigen Auflösung der Position entstandenen Schadens (Vertragsauflösungsschaden) gerichtet sein,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">b) von in Komplex II zum Feststellungsziel VIII.1.a. Buchst. c) bis d) aufgeführten Transaktionen auch auf den Ersatz des Schadens gerichtet sein, der infolge der Durchführung eines Deckungsgeschäfts vor dem vertraglich vorgesehenen Verfallstag entstandenen ist (Vertragsauflösungsschaden).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">X.2. Der im Rahmen des Schadensersatzanspruchs aus §§ 37b, 37c WpHG und aus § 826 BGB zu ersetzende Vertragsabschlussschaden berechnet sich</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) im Falle eines Leerverkaufs von VW-Stammaktien im Wege eines Kassageschäfts aus der Differenz zwischen den vom Verkäufer für das Deckungsgeschäft gemachten und dafür objektiv erforderlichen Aufwendungen und dem vom Vertragspartner des Leerverkaufs erhaltenen Kaufpreis;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) im Falle eines Leerverkaufs von VW-Stammaktien im Wege eines unbedingten Termingeschäfts aus der Differenz zwischen den vom Verkäufer für das Deckungsgeschäft gemachten und dafür objektiv erforderlichen Aufwendungen und dem vom Vertragspartner des Leerverkaufs erhaltenen Kaufpreis;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) im Falle eines Verkaufs von Call-Optionen auf VW-Stammaktien aus der Differenz zwischen den vom Verkäufer für das Deckungsgeschäft gemachten und dafür objektiv erforderlichen Aufwendungen und der vom Vertragspartner des Optionsgeschäfts erhaltenen Gegenleistung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">X.3. Der im Rahmen des Schadensersatzanspruchs aus §§ 37b, 37c WpHG und aus § 826 BGB zu ersetzende Vertragsauflösungsschaden berechnet sich</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) im Falle eines Leerverkaufs von VW-Stammaktien im Wege eines Kassageschäfts aus der Differenz zwischen den vom Verkäufer für das Deckungsgeschäft gemachten und dafür objektiv erforderlichen Aufwendungen und den Aufwendungen, die er ohne die Informationspflichtverletzung für das Deckungsgeschäft hätte machen müssen;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) im Falle eines Leerverkaufs von VW-Stammaktien im Wege eines unbedingten Termingeschäfts aus der Differenz zwischen den vom Verkäufer für das Deckungsgeschäft gemachten und dafür objektiv erforderlichen Aufwendungen und den Aufwendungen, die er ohne die Informationspflichtverletzung am Verfallstag für das Deckungsgeschäft hätte machen müssen;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) im Falle eines Verkaufs von Call-Optionen auf VW-Stammaktien aus der Differenz zwischen den vom Verkäufer für das Deckungsgeschäft gemachten und dafür objektiv erforderlichen Aufwendungen und den Aufwendungen, die er ohne die Informationspflichtverletzung am Verfallstag zur Erfüllung seiner Verpflichtungen gegenüber dem Vertragspartner des Optionsgeschäfts hätte machen müssen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">X.4. Bei der Berechnung des Vertragsabschlussschadens und des Vertragsauflösungsschadens sind absichernde Gegengeschäfte nicht zu berücksichtigen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span> nur insoweit zu berücksichtigen, als es sich um solche mit Bezug zu VW-Stammaktien handelte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">X.5. Für die Ersatzfähigkeit des Vertragsauflösungsschadens im Rahmen der §§ 37b, 37c WpHG und § 826 BGB muss</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) der Verkäufer im Falle eines Leerverkaufs von VW-Stammaktien im Wege eines Kassageschäfts nicht die Kausalität der Informationspflichtverletzung für die Durchführung des Deckungsgeschäfts darlegen und beweisen, sondern dass – wäre die haftungsauslösende Informationspflichtverletzung nicht begangen worden – der Kurs zum Zeitpunkt der Durchführung des Deckungsgeschäfts niedriger gewesen wäre als der vom Vertragspartner des Leerverkaufs erhaltene Kaufpreis;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) der Verkäufer im Falle eines Leerverkaufs von VW-Stammaktien im Wege eines unbedingten Termingeschäfts nicht die Kausalität der Informationspflichtverletzung für die Durchführung des Deckungsgeschäfts vor dem vertraglich vorgesehenen Verfallstag darlegen und beweisen, sondern dass – wäre die haftungsauslösende Informationspflichtverletzung nicht begangen worden – der Kurs zum Zeitpunkt der Durchführung des Deckungsgeschäfts niedriger gewesen wäre als der vom Vertragspartner des Leerverkaufs erhaltene Kaufpreis;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) der Verkäufer im Falle eines Verkaufs von Call-Optionen auf VW-Stammaktien nicht die Kausalität der Informationspflichtverletzung für die Durchführung des Deckungsgeschäfts vor dem vertraglich vorgesehenen Verfallstag darlegen und beweisen, sondern dass – wäre die haftungsauslösende Informationspflichtverletzung nicht begangen worden – der Kurs zum Zeitpunkt der Durchführung des Deckungsgeschäfts niedriger gewesen wäre als der Basispreis der Call-Option.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex XI:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.1. Die VW-Stammaktie und auf diese bezogenen Optionen stellten einen eigenständigen sachlich und räumlich relevanten Markt i.S.d. § 19 Abs. 2 GWB dar in folgenden Zeiträumen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) vom 3. März 2008 bis 13. Januar 2009;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>: vom 3. März 2008 bis 31. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) vom 16. Juni 2008 bis 13. Januar 2009;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>: vom 16. Juni 2008 bis 31. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">höchst hilfsweise</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) vom Zeitpunkt der Bekanntgabe der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 bis 13. Januar 2009;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span>: vom Zeitpunkt der Bekanntgabe der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 bis 31. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.2. Die Musterbeklagte zu 1 war hinsichtlich der VW-Stammaktie und der auf diese bezogenen Optionen marktbeherrschend i.S.d. § 19 Abs. 2 GWB in den in Ziff. 1 genannten Zeiträumen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.3. In den in Ziff. 1 genannten Zeiträumen hat die Musterbeklagte zu 1 ihre marktbeherrschende Stellung missbräuchlich ausgenutzt i.S.d. § 19 Abs. 1 GWB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.4. Anspruchsberechtigt gemäß § 33 Abs. 1, 3 GWB sind Personen, die folgende Transaktionen getätigt haben:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) Verkauf von VW-Stammaktien im Zeitraum vom 10. März 2008 bis 26. Oktober 2008, hilfsweise im Zeitraum vom 16. Juni 2008 bis 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines Kassageschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines unbedingten Termingeschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">d) Verkauf von Call-Optionen auf VW-Stammaktien vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.5. Die Musterbeklagte zu 1 hat gegen § 19 Abs. 1 GWB verstoßen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.6. Die Musterbeklagte zu 1 hat gegen Art. 82 EG-Vertrag (entspricht dem heutigen 102 AEUV) verstoßen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.7. Die in Ziff. 5 und 6 genannten Verstöße der Musterbeklagten zu 1 erfolgten vorsätzlich oder fahrlässig i.S.d. § 33 Abs. 3 S. 1 GWB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XI.8. Die Musterbeklagte zu 2 war Mittäter oder Beteiligte i.S.d. § 830 BGB an den Verstößen der Musterbeklagten zu 1 i.S.d. Ziff. 5. und 6.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex XII:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XII.1. Unternehmen, welche</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">im Zeitraum vom 10. März 2008 bis 13. Januar 2009,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt"><span style="text-decoration:underline">hilfsweise</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">im Zeitraum vom 10. März 2008 bis 31. Oktober 2008</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">VW-Stammaktien im Wege der in diesem Komplex zum Feststellungsziel XII.5. a) bis d) aufgeführten Transaktionen als Verkäufer anboten oder als Käufer nachfragten, standen mit der Musterbeklagten zu 1 in einem konkreten Wettbewerbsverhältnis und waren daher Mitbewerber i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG im Verhältnis zur Musterbeklagten zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XII.2. Der Aufbau der Beteiligung der Musterbeklagten zu 1 an den VW-Stammaktien im Zeitraum vom 3. März 2008 bis 26. Oktober 2008 stellt eine Wettbewerbshandlung i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XII.3. Die in den Komplexen I. bis XI. genannte Ad-hoc-Mitteilung der Musterbeklagten zu 1 sowie ihre dort genannten Pressemitteilungen und sonstigen Äußerungen sind Wettbewerbshandlungen i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XII.4. Die in Ziff. 2 und 3 genannten Wettbewerbshandlungen der Musterbeklagten zu 1 waren unlauter i.S.d. § 3 UWG i.V.m. § 4 Nr. 1 UWG oder § 4 Nr. 10 UWG oder § 4 Nr. 11 UWG oder § 5 UWG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XII.5. Die unlauteren Wettbewerbshandlungen der Musterbeklagten zu 1 i.S.d. Ziff. 4 waren zur Beeinträchtigung geeignet i.S.d. § 3 UWG hinsichtlich von Personen, die folgende Transaktionen getätigt haben:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">a) Verkauf von VW-Stammaktien im Zeitraum vom 10. März 2008 bis 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">b) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines Kassageschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">c) Leerverkauf von VW-Stammaktien im Wege eines unbedingten Termingeschäfts vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">d) Verkauf von Call-Optionen auf VW-Stammaktien vor dem 26. Oktober 2008 und Durchführung eines Deckungsgeschäfts nach dem 26. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XII.6. Die unlauteren Wettbewerbshandlungen der Musterbeklagten zu 1 erfolgten vorsätzlich oder fahrlässig i.S.d. § 9 Satz 1 UWG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XII.7. Die Musterbeklagte zu 2 war Mittäter oder Beteiligte i.S.d. § 830 BGB an den unlauteren Wettbewerbshandlungen der Musterbeklagten zu 1 i.S.d. Ziff. 2 bis 4.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Komplex XIII:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XIII.1. Zu Lasten der Musterbeklagten zu 1 und 2 liegen spätestens seit dem 26. Oktober 2008 die Voraussetzungen der §§ 849, 246 BGB vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">XIII.2. Zu Lasten der Musterbeklagten zu 1 und 2 liegen spätestens seit dem 26. Oktober 2008 die Voraussetzungen der § 33 Abs. 3 Sätze 4 und 5 GWB, § 288 Abs. 2 BGB vor, falls es sich bei den Anspruchsberechtigten um keinen Verbraucher handelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 bestreitet, sich vor dem 26. Oktober 2008 auf einen Beteiligungsaufbau in der Größenordnung von 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und auf den Abschluss eines Beherrschungsvertrages festgelegt zu haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Vor dem 26. Oktober 2008 habe es keine entsprechende Entscheidung des Vorstands gegeben, sondern lediglich Prüfungen und Diskussionen über die Reichweite des Beteiligungsaufbaus. Der Gesellschafterausschluss habe in seiner Sitzung am 11. Februar 2008 die Voraussetzungen und Folgen sowohl der Variante einer Aufstockung auf knapp über 50 % als auch einer Aufstockung auf 75 % der Stammaktien bei Abschluss eines Beherrschungsvertrags diskutiert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p>Sie hebt hervor, dass Liquiditätsabflüssen in der Woche nach dem 17. Oktober 2008 Zuflüsse aus der vorangegangenen Zeit gegenüberstanden. Insbesondere bei den auf Stammaktien bezogenen Optionsstrategien sei im Saldo ein leichtes Liquiditätsplus verblieben. Bei den auf Vorzugsaktien bezogenen Optionsstrategien sei in der Woche nach dem 26. Oktober 2008 ein Liquiditätszufluss aufgrund freiwerdender Nachschusssicherheiten zu erwarten gewesen. Die Gesamtliquidität habe im Konzern der Musterbeklagten zu 1 am 26. Oktober 2008 rund 7,5 Mrd. € betragen, wovon rund 4,5 Mrd. € in Sicherheiten für die M. Bank gebunden gewesen seien. Freie Liquidität habe in Höhe von jedenfalls mehr als 2 Mrd. € zur Verfügung gestanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_60">60</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_61">61</a></dt> <dd><p>Die nicht nachgelassenen Schriftsätze der Musterklägerin vom 31. August 2022, der Musterbeklagten zu 1 vom 18. Juli 2022, der Musterbeklagten zu 2 vom 9. August 2022 und der E.-Beigeladenen vom 19. September 2022 geben dem Senat nach pflichtgemäßem Ermessen keine Veranlassung, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>C. <span style="text-decoration:underline">Rechtliche Erwägungen</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I. <span style="text-decoration:underline">Statthaftigkeit des Vorlagebeschlusses</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_62">62</a></dt> <dd><p>Der Vorlagebeschluss ist statthaft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_63">63</a></dt> <dd><p>1. Bedenken gegen die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses nach § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG bestehen nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_64">64</a></dt> <dd><p>a) Die in § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG angeordnete Bindungswirkung greift nicht ein, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann, also nicht unter § 1 Abs. 1 KapMuG fällt (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2017 - III ZB 61/16, juris Rn. 10). Das ist hier aber nicht der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_65">65</a></dt> <dd><p>Der Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes ist u.a. dann eröffnet, wenn – wie vorliegend – in Rechtsstreitigkeiten Schadensersatzansprüche wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen geltend gemacht werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_66">66</a></dt> <dd><p>Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KapMuG sind öffentliche Kapitalmarktinformationen solche, die für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmt sind und Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten enthalten, die einen Emittenten von Wertpapieren oder Anbieter von sonstigen Vermögensanlagen betreffen. Nicht entscheidend dabei ist, in welcher Form die Veröffentlichung erfolgt. Denn unter einer Kapitalmarktinformation ist nicht die Ad-hoc- oder Pressemitteilung als solche zu verstehen, sondern die darin enthaltene einzelne Information (Kruis in: Kölner Kommentar zum KapMuG, 2. Aufl., § 1 Rn. 23). Kapitalmarktinformationen liegen daher immer dann vor, wenn eine Information über einen Umstand veröffentlicht wird, der (angeblich) in dem Emittenten oder der sonstigen Vermögensanlage seinen Grund hat (Kruis, a.a.O., § 1 Rn. 63). Dies gilt auch für Informationen, die durch eine Pressemitteilung (vgl. Kruis, a.a.O.) oder durch sonstige Äußerungen, etwa ein Fernseh- oder Zeitungsinterview, veröffentlicht werden; eine Schriftlichkeit ist nicht erforderlich (vgl. Kruis, a.a.O., § 1 Rn. 49; Toussaint in: BeckOK ZPO, 45. Ed., § 32b Rn. 3).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_67">67</a></dt> <dd><p>Gegenstand der Feststellungsziele sind hier die nach dem Vorbringen der Kläger der Ausgangsverfahren unrichtigen und unvollständigen Erklärungen der Musterbeklagten zu 1 in den im Jahr 2008 veröffentlichten Ad-hoc- und Pressemitteilungen zum Beteiligungsaufbau an der Musterbeklagten zu 2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_68">68</a></dt> <dd><p>Das Musterverfahren ist nicht beschränkt auf die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen von sich aus dem Wertpapierhandelsgesetz oder ähnlichen Gesetzen ergebenden Schadensersatzansprüchen. Auch Feststellungen zu Schadensersatzansprüchen nach § 826 BGB, aus § 33 GWB oder § 9 UWG können im Musterverfahren getroffen werden. Die Anwendungsfälle von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 KapMuG stimmen darin überein, dass die Klage die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen zum Gegenstand haben muss. Dabei kommt es aber nicht darauf an, ob Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden, die auf bestimmten spezialgesetzlichen Regelungen beruhen; die vorgenannte Regelung umfasst alle Haftungstatbestände (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Januar 2007 - X ARZ 381/06, juris Rn. 10 zu § 32b ZPO; Kruis, a.a.O., § 1 Rn. 70; Schultzky in: Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 32b Rn. 4).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_69">69</a></dt> <dd><p>b) Für die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses kommt es auf die Aktivlegitimation der Kläger in den Ausgangsverfahren nicht an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_70">70</a></dt> <dd><p>Das mit einem Musterverfahren befasste Oberlandesgericht ist befugt, das Vorliegen der allgemeinen Prozessvoraussetzungen zu prüfen (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2017, a.a.O., juris Rn. 13; Beschluss vom 9. März 2017 - III ZB 135/15, juris Rn. 13; Vollkommer in: KK-KapMuG, 2. Aufl., § 11 Rn. 18). Der Gesetzgeber hat mit der Vorgabe der Bindungswirkung zwar das Risiko in Kauf genommen, dass rechtsfehlerhaft eingeleitete oder unzweckmäßige Musterverfahren durchgeführt werden. Er zwingt den Oberlandesgerichten die Durchführung jedoch dann nicht auf, wenn notwendige allgemeine Verfahrensvoraussetzungen fehlen. Hierzu gehört das Rechtsschutzbedürfnis, dessen Fehlen einen in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigenden Mangel darstellt und zur Unzulässigkeit des verfahrenseinleitenden Antrags führt. Allerdings fehlt das Rechtsschutzbedürfnis nur in Ausnahmefällen (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2017, a.a.O., juris Rn. 13 f.; Beschluss vom 9. März 2017, a.a.O., juris Rn. 13 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_71">71</a></dt> <dd><p>Der Einwand der Musterbeklagten zu 2, dass die Musterklägerin als Klägerin des einzigen gegen sie gerichteten Ausgangsverfahrens vor dem Landgericht Hannover (18 O 89/15) nicht aktivlegitimiert sei, da der Musterklägerin die aus abgetretenem Recht geltend gemachten Schadensersatzansprüche wegen der Nichtigkeit der Abtretungen nicht zustünden, und damit bereits das Rechtsschutzbedürfnis im Ausgangsverfahren fehle, greift nicht durch. Aus § 13 Abs. 1, 2 und 4 KapMuG geht hervor, dass (selbst) der Wegfall des Musterklägers oder eine von ihm erklärte Rücknahme das Musterverfahren als solches unberührt lassen (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2017, a.a.O., juris Rn. 16). Damit ist es dem mit dem Musterverfahren befassten Oberlandesgericht im Allgemeinen nicht gestattet, eigenständig zu prüfen und zu entscheiden, ob der Musterverfahrensantrag unzulässig ist, weil der zu Grunde liegende Rechtsstreit unabhängig von den geltend gemachten Feststellungszielen entscheidungsreif ist. Diesen Umstand hat gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG allein das (jeweilige) Prozessgericht zu beurteilen (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2017, a.a.O., juris Rn. 20). Der Aussetzungsbeschluss des Landgerichts Hannover vom 11. Mai 2016 in dem Ausgangsverfahren 18 O 89/15 besteht fort. Gegenteiliges hat die Musterbeklagte zu 2 nicht vorgetragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_72">72</a></dt> <dd><p>c) Unzulässig sind allerdings die Feststellungsziele VI.1.a., b., d. und e. und die weiteren Feststellungsziele in Komplex VI insoweit, als sie sich auf die vorgenannten unzulässigen Feststellungsziele beziehen. Diese sind ohne Sachentscheidung zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_73">73</a></dt> <dd><p>Soweit die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit einer Kapitalmarktinformation hinsichtlich mehrerer Aussagen festgestellt werden soll, handelt es sich bei jeder angeblich fehlerhaften oder unzureichenden Aussage um ein eigenständiges Feststellungsziel i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG, so dass jede einzelne beanstandete Aussage oder Auslassung in der Kapitalmarktinformation einen eigenständigen Streitgegenstand des Musterverfahrens bildet. Das Begehren im Musterverfahren kann nicht darauf gerichtet sein, nur generell zu klären, ob eine Kapitalmarktinformation fehlerhaft ist. Anspruchsbegründende Voraussetzungen i.S.d. § 2 Abs. 1 KapMuG sind die konkreten Umstände, die die Unrichtigkeit oder Auslassung der Kapitalmarktinformation im Einzelfall begründen sollen, mithin die konkreten Aussagen (BGH, Beschluss vom 19. September 2017 – XI ZB 17/15, juris Rn. 33 f.) oder – im Falle des Verschweigens – die unterlassenen Aussagen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_74">74</a></dt> <dd><p>Diesen Anforderungen wird die Formulierung in den vorgenannten Feststellungszielen nicht gerecht, in denen lediglich pauschal die Feststellung begehrt wird, dass Äußerungen der Vorstandsmitglieder der Musterbeklagten zu 1 oder ihrer Sprecher unrichtig, unvollständig oder irreführend waren. Ein auf die Feststellung einer fehlerhaften Kapitalmarktinformation gerichtetes Feststellungsziel ist nur dann hinreichend bestimmt formuliert, wenn es die beanstandete Aussage oder Auslassung der Kapitalmarktinformation selbst wiedergibt. Zwar ist für Inhalt und Reichweite des materiellen Klagebegehrens nicht allein der Wortlaut des Klageantrags maßgeblich; dieser ist vielmehr unter Berücksichtigung des zu seiner Begründung Vorgetragenen auszulegen, so dass dementsprechend auch der Umfang eines Feststellungsziels anhand des tatsächlichen und rechtlichen Vorbringens auszulegen ist, das es ausfüllen soll (BGH, Beschluss vom 19. September 2017, a.a.O., juris Rn. 57). Es ist jedoch nicht Aufgabe des Oberlandesgerichts, sich aus dem Parteivorbringen die Umstände herauszusuchen, aufgrund derer eine Kapitalmarktinformation unrichtig, unvollständig oder irreführend ist, und dies in einer stattgebenden Entscheidung erstmals selbstständig auszuformulieren (BGH, Beschluss vom 19. September 2017, a.a.O., juris Rn. 65).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_75">75</a></dt> <dd><p>Soweit in weiteren Feststellungszielen eines Komplexes nachfolgend auf eine zuvor hinreichend bestimmt bezeichnete Unrichtigkeit einer Kapitalmarktinformation oder die unrichtigen, unvollständigen oder irreführenden Aussagen in der Kapitalmarktinformation Bezug genommen wird, steht dies der Bestimmtheit nicht entgegen. Bei diesen Formulierungen handelt es sich – so die Auslegung des Senats – um eine Bezugnahme auf die jeweils eingangs der einzelnen Komplexen aufgeführten konkreten Aussagen, die zur Fehlerhaftigkeit der Kapitalmarktinformationen führen sollen. Danach sind die weiteren Feststellungsziele in Komplex VI aber nur insoweit hinreichend bestimmt, als sie sich auf die Pressemitteilung vom 16. September 2008 (Feststellungsziel VI.1.c.) beziehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_76">76</a></dt> <dd><p>2. Das Musterverfahren ist auch insoweit statthaft, als es gegen die Musterbeklagte zu 2 gerichtet ist, obwohl diese allein in dem Ausgangsverfahren 18 O 89/15 vor dem Landgericht Hannover Beklagte ist und mithin das Quorum gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 KapMuG in ihrer Person nicht erfüllt ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_77">77</a></dt> <dd><p>Die Gleichgerichtetheit von Musterverfahrensanträgen beurteilt sich nämlich nicht nach der Identität der in Anspruch genommenen Schuldner, sondern nur aus dem Zusammenhang von Feststellungsziel und gleichem (haftungsbegründenden) Lebenssachverhalt. Stellt der weit zu verstehende Lebenssachverhalt gegenüber mehreren Schuldnern eine verbindende Einheit dar, sind alle darauf gestützten Musterverfahrensanträge gleichgerichtet, mögen sie sich auch gegen unterschiedliche Beklagte richten (Vollkommer, a.a.O., § 6 Rn. 28; Fullenkamp in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, 1. Aufl., § 4 Rn. 22; i. Erg. auch Riedel in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Aufl., § 4 Rn. 13). Eine solche Verbindung besteht hier, weil die Haftung der Musterbeklagten zu 2 auf ihrer von der Musterklägerin behaupteten Kenntnis der Unrichtigkeit und Unvollständigkeit der von der Musterbeklagten zu 1 veröffentlichten Kapitalmarktinformationen beruhen soll.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II. <span style="text-decoration:underline">Begründetheit der Feststellungsziele</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_78">78</a></dt> <dd><p>Die hiernach zulässigen Feststellungsziele sind teilweise unbegründet, insbesondere soweit sie die vermeintliche Fehlerhaftigkeit von Kapitalmarktinformationen, entsprechende Kenntnisse der Musterbeklagten und die Sittenwidrigkeit dieser Vorgänge betreffen. Im Übrigen sind die Feststellungsziele gegenstandslos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_79">79</a></dt> <dd><p>Für die Entscheidung über die einzelnen Feststellungsziele im Musterentscheid gelten folgende Grundsätze:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_80">80</a></dt> <dd><p>Das Oberlandesgericht hat im Kapitalanleger-Musterverfahren fortlaufend zu prüfen, ob für die einzelnen Feststellungsziele ein Sachentscheidungsinteresse fortbesteht. Das ist dann nicht der Fall, wenn auf Grundlage der bisherigen Ergebnisse durch die beantragte Feststellung keines der ausgesetzten Verfahren weiter gefördert werden kann (Vollkommer, a.a.O., § 11 Rn. 24 f.). An einer erschöpfenden Erledigung des Vorlagebeschlusses besteht in diesen Fällen kein berechtigtes Interesse, da das Musterverfahren nicht dazu dient, abstrakte Tatsachen- oder Rechtsfragen ohne Bezug zur Entscheidung in zumindest einem der ausgesetzten Ausgangsverfahren zu beantworten (BGH, Beschluss vom 19. September 2017, a.a.O., juris Rn. 49; Beschluss vom 22. November 2016 – XI ZB 9/13, juris Rn. 106; Vollkommer, a.a.O., Rn. 25). Ist die Entscheidungserheblichkeit einzelner Feststellungsziele aufgrund der vorausgegangenen Prüfung im Musterverfahren entfallen, ist der zugrundeliegende Vorlagebeschluss hinsichtlich dieser Feststellungsziele gegenstandslos geworden. Dies ist im Tenor und in den Gründen des Musterentscheids zum Ausdruck zu bringen (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 – II ZB 14/16, juris Rn. 60; Beschluss vom 19. September 2017, a.a.O., juris Rn. 49; Beschluss vom 22. November 2016, a.a.O., juris Rn. 106; Beschluss vom 1. Juli 2014 – II ZB 29/12, juris Rn. 63).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_81">81</a></dt> <dd><p>Die hier von der Musterklägerin und den Beigeladenen formulierten Feststellungsziele, die im Zusammenhang mit etwaigen Ansprüchen aus § 826 BGB stehen, bezeichnen zum Teil nur einzelne, aus dem umfangreich vorgetragenen Sachverhalt herausgegriffene Umstände. Der Senat hat nicht nur diese Umstände in die Prüfung des § 826 BGB einbezogen, sondern darüber hinaus eine Gesamtbetrachtung des vorgetragenen Sachverhalts vorgenommen<em>.</em> Denn nur auf diese Weise ist eine Beurteilung möglich, ob auf der Grundlage der Ergebnisse des Musterverfahrens keines der ausgesetzten Verfahren weiter gefördert werden kann. Entgegen der von den sog. E.-Beigeladenen vertretenen Auffassung kann der Senat diese Gesamtwürdigung im vorliegenden Musterverfahren abschließend vornehmen. Einzelne Feststellungsziele zielen explizit auf die Beurteilung der Sittenwidrigkeit einzelner Kapitalmarktinformationen. Für die Annahme der Sittenwidrigkeit gem. § 826 BGB bedarf es immer einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblicher Umstände (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 28). Es ist auch nicht vorgetragen, dass in einzelnen Ausgangsverfahren individuelle Umstände gegeben wären, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten. Der Senat hat die Parteien in der mündlichen Verhandlung auf diese Vorgehensweise hingewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_82">82</a></dt> <dd><p>1. Eine Haftung der Musterbeklagten zu 1 kommt ausgehend von den unstreitigen Tatsachen und den streitigen Behauptungen der Musterklägerin sowie der Beigeladenen bereits dem Grunde nach unter keinem Gesichtspunkt in Betracht. Der Vortrag ist unschlüssig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_83">83</a></dt> <dd><p>a) Ersatzansprüche ergeben sich nicht aus § 37b bzw. § 37c WpHG i.V.m. § 15 WpHG (Normzitate betreffend das Wertpapierhandelsgesetz beziehen sich hier und im Folgenden auf die im Jahr 2008 geltende Fassung nach dem Anlegerschutzverbesserungsgesetz vom 28. Oktober 2004 [BGBl. I Nr. 56, S. 2630 ff.], soweit nicht anders angegeben). Denn die Musterbeklagte zu 1 haftet aus §§ 37b, 37c WpHG für das Unterlassen der Veröffentlichung einer Insiderinformation bzw. für die Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen einem Dritten nur, wenn es um nachteilige Veräußerungs- oder Erwerbsgeschäfte des Dritten hinsichtlich von ihr emittierter Aktien oder darauf bezogener Finanzinstrumente geht und nicht – wie vorliegend – um Schadensersatz für Transaktionen der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 bzw. darauf bezogener Derivate, die die Musterbeklagte zu 1 nicht emittiert hatte. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, knüpft die Schadensersatzpflicht nur an nachteilige Veräußerungs- oder Erwerbsgeschäfte hinsichtlich der Aktien (Finanzinstrumente) des veröffentlichenden bzw. veröffentlichungspflichtigen Emittenten an (OLG Frankfurt, Urteil vom 18. April 2007 – 21 U 71/06, juris Rn. 71; OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016 – 7 U 59/14, juris Rn. 43 f.; Sethe in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl., §§ 37b, 37c Rn. 45 m.w.N.; Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl., §§ 97, 98 Rn. 73).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_84">84</a></dt> <dd><p>Mangels planwidriger Regelungslücke ist eine analoge Anwendung von §§ 37b, 37c WpHG abzulehnen (vgl. zur analogen Anwendung auf andere Kapitalmarktinformationen als Ad-hoc-Mitteilungen: BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 17). Eine Regelungslücke ist auch nicht betreffend Fälle anzunehmen, in denen ein Unternehmen mit dem Emittenten seit längerer Zeit personell und wirtschaftlich verbunden ist und an diesem eine maßgebliche Beteiligung hält. Der Vortrag der Musterklägerin, die Musterbeklagte zu 1 habe die Kontrolle über wesentliche operative Entscheidungen der Musterbeklagten zu 2, über sämtliche relevanten Informationen und über den Informationsfluss an den Kapitalmarkt ausüben können, rechtfertigt ebenfalls keine weitergehende Anwendung dieser Vorschriften. Eine Haftung der Musterbeklagten zu 1 aus einer Gesetzesanalogie zu §§ 37b, 37c WpHG auf Schäden in Bezug auf Transaktionen einer nicht von ihr emittierten Aktie kommt daher nicht in Betracht (so auch OLG Braunschweig, Urteil 12. Januar 2016 – 7 U 59/14, juris Rn. 42; OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015 – 2 U 102/14, juris Rn. 166).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_85">85</a></dt> <dd><p>b) Ersatzansprüche folgen nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a WpHG. Die Vorschrift des § 15a WpHG ist nach überwiegender Auffassung, der sich der Senat anschließt, kein Schutzgesetz, weil ihr keine individualschützende Wirkung zukommt (vgl. näher Pfüller in: Fuchs, WpHG, 2. Aufl., § 15a Rn. 200 f.; Zimmer/Osterloh in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl., § 15a WpHG, Rn. 110, jew. m.w.N.; zu Art. 19 MAR jetzt Kumpan/Schmidt in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 5. Aufl., Art. 19 VO (EU) 596/2014, Rn. 287; vgl. auch § 26 Abs. 2, 3 WpHG i.d. ab dem 1.8.2022 geltenden Fassung).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_86">86</a></dt> <dd><p>Entsprechendes gilt für § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15 WpHG (vgl. Pfüller, a.a.O., § 15 Rn. 539).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_87">87</a></dt> <dd><p>Auch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 20a Abs. 1 WpHG folgen schon deshalb keine Ersatzansprüche, weil es sich bei § 20a Abs. 1 WpHG ebenfalls nicht um ein Schutzgesetz handelt (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 19 ff.; Fleischer in: Fuchs, WpHG, 2. Aufl., § 20a Rn. 154, m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_88">88</a></dt> <dd><p>c) Ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG kommt nicht in Betracht. Die in der Pressemitteilung veröffentlichten Informationen waren nicht in <em>„Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand"</em> i.S.d. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG enthalten. Unter ersteren versteht man alle Berichte, die den Vermögensstand des Unternehmens so umfassend wiedergeben, dass sie ein Gesamtbild über die wirtschaftliche Lage der Aktiengesellschaft ermöglichen und den Eindruck der Vollständigkeit erwecken; letztere sind Zusammenstellungen von Zahlenmaterialien, insbesondere alle Arten von Bilanzen, die einen Gesamtüberblick über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens ermöglichen (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011, a.a.O., juris Rn. 18). Bei den streitbefangenen Mitteilungen der Musterbeklagten zu 1 ist weder das eine noch das andere der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_89">89</a></dt> <dd><p>d) Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB, § 31 BGB scheiden schon mangels Stoffgleichheit des erstrebten Vermögensvorteils und des verursachten Vermögensschadens aus (vgl. näher BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 218/03, juris Rn. 31 f.; LG Stuttgart, Urteil vom 17. März 2014 – 28 O 183/13, juris Rn. 138 f.; OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., juris Rn. 165). Vermögensverschiebungen fanden hier jedenfalls nicht unmittelbar zwischen der Musterklägerin bzw. den Beigeladenen und der Musterbeklagten zu 1 statt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_90">90</a></dt> <dd><p>e) Eine Ersatzpflicht der Musterbeklagten zu 1 folgt – zunächst im Hinblick auf deren Handeln <span style="text-decoration:underline">vor dem 26. Oktober 2008</span> – auch nicht aus § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_91">91</a></dt> <dd><p>Zwar scheidet ein Anspruch aus § 826 BGB gegen die Musterbeklagte zu 1 auf Ersatz von Schäden, die die Ausgangskläger aufgrund ihrer Transaktionen von Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 erlitten haben, nicht bereits deshalb aus, weil nach §§ 37b, 37c WpHG nur der Anleger geschützt ist, der Finanzinstrumente des nach § 15 WpHG verpflichteten Emittenten gekauft oder verkauft hat. Die gesetzgeberische Wertung, dass die Haftung aus §§ 37b, 37c WpHG an die Veröffentlichungspflichten <em>des Emittenten</em> eben derjenigen Papiere anknüpft, die der Geschädigte im Vertrauen auf die Richtigkeit oder das Fehlen einer Insiderinformation erworben oder veräußert hat, beschränkt nur etwaige Ansprüche aus diesen Vorschriften. Sie begrenzt nicht den weiter gefassten Anwendungsbereich des § 826 BGB, der eine Generalklausel des allgemeinen deliktsrechtlichen Vermögensschutzes darstellt (Wagner in: MüKoBGB, 8. Aufl., § 826 Rn. 4). Dies folgt auch aus dem Wortlaut der § 37b Abs. 5, § 37c Abs. 5 WpHG sowie des § 15 Abs. 6 Satz 2 WpHG, der insoweit jeweils keine Einschränkungen enthält (vgl. auch BGH, Urteil vom 9. Mai 2005 – II ZR 287/02, juris Rn. 15).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_92">92</a></dt> <dd><p>Die Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 betreffend ihre Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 im Zeitraum vom 3. März bis vor dem 26. Oktober 2008, die Gegenstand der Feststellungsziele sind, waren aber nicht sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_93">93</a></dt> <dd><p>aa) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Die Verletzung einer Ad-hoc-Mitteilungspflicht oder ein Verstoß gegen § 20a WpHG würde also nicht genügen. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit des Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (BGH, Urteil vom 28. Juni 2016 – VI ZR 536/15, juris Rn. 16).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_94">94</a></dt> <dd><p>Nach den von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundsätzen der Kapitalmarktinformationshaftung kann diese besondere Verwerflichkeit bei einer direkt vorsätzlichen unlauteren Beeinflussung des Sekundärmarktpublikums durch eine grob unrichtige Ad-hoc-Mitteilung indiziert sein (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 28; Urteil vom 4. Juni 2007 – II ZR 147/05, juris Rn. 10; Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 402/02, juris Rn. 49). Gleiches kann für die Verbreitung sonstiger grob falscher Informationen, die zu einer Anlageentscheidung führen, gelten (OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016 – 7 U 59/14, juris Rn. 54, 58 ff.; OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015 – 2 U 102/14, juris Rn. 181; Oechsler in: Staudinger [Stand: 2021] § 826 Rn. 531), wobei diskutiert wird, ob in diesen Fällen strengere Anforderungen an eine Haftung zu stellen sind (OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 181 f.; vgl. auch OLG Braunschweig, a.a.O., Rn. 59; Oechsler, a.a.O., Rn. 532). Einer Vielzahl grob unrichtiger Mitteilungen wird im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung ein größeres Gewicht als nur einer einzelnen grob unrichtigen Mitteilung zukommen, wenngleich eine Haftung nicht notwendig auf Fälle beschränkt ist, in denen eine Vielzahl grob unrichtiger Mitteilungen veröffentlicht wurden (anders aber: OLG Braunschweig a.a.O., Rn. 61). Auch die vorsätzliche Veröffentlichung nur einer einzelnen bewusst unwahren Kapitalmarktinformation kann unter Umständen als sittenwidrig anzusehen sein (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 402/02, juris Rn. 48 ff.). Stets bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblicher Umstände (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011, a.a.O.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_95">95</a></dt> <dd><p>Maßstab für die Bestimmung der Unrichtigkeit ist der Horizont eines verständigen Anlegers, der am Handel mit entsprechenden Finanzinstrumenten beteiligt ist, zum Zeitpunkt der Publikation der Meldung (OLG Braunschweig, a.a.O., Rn. 50 f. m.w.N.; vgl. zur Haftung nach §§ 37b, 37 c WpHG: Sethe in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., §§ 37b, 37c, Rn. 68; Assmann in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., Art. 7 VO Nr. 596/2014 Rn. 78 ff. m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_96">96</a></dt> <dd><p>Die Unrichtigkeit einer Mitteilung kann sich auch daraus ergeben, dass sie in irreführender Weise unvollständig ist, also nicht alle Angaben enthält, die es dem Publikum ermöglichen, sich ein zutreffendes Bild von der veröffentlichten Information zu verschaffen. Irreführend sind Angaben, die zwar inhaltlich richtig sind, jedoch durch ihre Darstellung beim Empfänger der Information eine falsche Vorstellung über den geschilderten Sachverhalt nahelegen (vgl. Vogel in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 20a Rn. 62; Mülbert in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., Art. 12 VO Nr. 596/2014, Rn. 63), wenn also die Unwahrheit zwar nicht ausdrücklich zum Ausdruck kommt, aber nach der Verkehrsanschauung durch sonstiges Verhalten schlüssig miterklärt wird (vgl. Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 15. Juli 2005, VI.3.2.1.4.). Maßgeblich ist dabei der Gesamteindruck der Mitteilung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_97">97</a></dt> <dd><p>Die Bewertung des infrage stehenden Verhaltens der Musterbeklagten zu 1 anhand dieses Maßstabes kann der Senat aufgrund eigener Sachkunde vornehmen. Das insoweit notwendige kapitalmarkttechnische Wissen und die Sichtweise des Kapitalmarktes sind ihm durch umfangreichen Vortrag der Musterklägerin – insbesondere auch durch von ihr in Bezug genommene Ausführungen u.a. des Privatsachverständigen P. – und der Beigeladenen, durch Vortrag der Musterbeklagten, soweit dieser unstreitig ist, sowie durch diverse vorgelegte Analysen und Reaktionen des Finanzmarkts in ausreichender Weise vermittelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_98">98</a></dt> <dd><p>bb) Die Musterklägerin und die Beigeladenen machen geltend, dass die Musterbeklagte zu 1 sittenwidrig gehandelt habe, weil die infrage stehenden Kapitalmarktinformationen (vor dem 26. Oktober 2008) insbesondere die von der Musterklägerin so bezeichnete <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> der Musterbeklagten zu 1 in grob unrichtiger Weise dementiert oder verschleiert hätten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_99">99</a></dt> <dd><p>Dieser Vortrag greift nicht durch. Das Veranlassen der Mitteilungen stellt sich weder ihrem Inhalt nach noch bei der im Rahmen des § 826 BGB gebotenen Gesamtbetrachtung der weiteren Umstände als sittenwidrig dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_100">100</a></dt> <dd><p>(1) Diese Kapitalmarktinformationen suggerierten entgegen der Auffassung der Musterklägerin und der Beigeladenen nicht, dass nur eine Beteiligungsaufstockung auf knapp über 50 % – und nicht auf 75 % oder 80 % – geplant gewesen sei; jedenfalls waren sie insoweit nicht <em>grob</em> unrichtig. Auch unter anderen Gesichtspunkten waren sie nicht irreführend oder (grob) unrichtig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_101">101</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 hat mit den infrage stehenden Kapitalmarktinformationen nicht irreführend oder verschleiernd über die Zielsetzung einer Aufstockung der Beteiligung auf 75 % oder 80 % und eines Beherrschungsvertrags informiert. Die Mitteilungen enthielten insoweit jedenfalls keine grobe Falschdarstellung, selbst wenn eine <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> des Vorstands der Musterbeklagten zu 1 bestanden haben sollte, wie sie die Musterklägerin und die Beigeladenen vortragen. Nach diesem Vortrag sollen die Vorstandsmitglieder zielgerichtet eine solche Aufstockung der Beteiligung und den Abschluss eines Beherrschungsvertrages angestrebt haben. Dabei seien sie durch Festlegungen des sog. Gesellschafterausschusses gebunden gewesen und sie hätten mit dem Abschluss von Optionsstrategien bereits konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Ziels eingeleitet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_102">102</a></dt> <dd><p>Verständigen Kapitalmarktteilnehmern war schon aus vorangegangenen Mitteilungen (vgl. zur Gesamtschau unter Rn. 169 ff., zu entsprechenden Presseberichten und Analysen Rn. 185 ff.) bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1 bereits vor März 2008 Pläne für eine Beteiligungsaufstockung verfolgt hatte, die über die jeweils konkret kommunizierten Beteiligungsziele hinausgingen und die durch Aktienoptionen abgesichert waren. Verschiedene weitere Umstände bestärkten diesen Eindruck, insbesondere Bemühungen der Musterbeklagten zu 1, eine Änderung des VW-Gesetzes hinsichtlich der Sperrminorität des Landes Niedersachsen herbeizuführen (näher: Rn. 195, 198 ff.). Für verständige Kapitalmarktteilnehmer bestand daher Grund für die Annahme, die Musterbeklagte zu 1 strebe möglicherweise eine Beteiligung von 75 % bzw. 80 % und einen Beherrschungsvertrag an. Die Mitteilungen wurden jedenfalls von einem erheblichen Teil der Fachpresse auch so verstanden, dass es das Ziel der Musterbeklagten zu 1 sei oder zumindest sein könne, die Beteiligung auf 75 % aufzubauen und einen Beherrschungsvertrag abzuschließen (näher u.a. Rn. 135, 141, 156, 161, 166, 193, 197).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_103">103</a></dt> <dd><p>Zu den in Rede stehenden Mitteilungen im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_104">104</a></dt> <dd><p>(a) Die Musterbeklagte zu 1 hat mit den Veröffentlichungen der Ad-hoc-Mitteilung (Anlage MK 9) und der Pressemitteilung (Anlage MBPor 70) vom <span style="text-decoration:underline">3. März 2008</span> nicht verwerflich und damit nicht sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gehandelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_105">105</a></dt> <dd><p>Nachdem der Vorstand und der Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 zuletzt am 24. März 2007 eine Aufstockung der Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auf knapp über 30 % beschlossen hatten, beschlossen sie am 3. März 2008, dass die Beteiligung <em>„auch auf über 50 %“</em> erhöht werden dürfe. Anders als in früheren Beschlüssen war eine Begrenzung nach oben nicht bestimmt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_106">106</a></dt> <dd><p>Die Ad-hoc-Mitteilung vom selben Tag hatte folgenden Inhalt:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Porsche Automobil Holding SE: Aufsichtsrat gibt grünes Licht für Mehrheitsbeteiligung an VW</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Porsche Automobil Holding SE / Firmenübernahme</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>(...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Der Aufsichtsrat der Porsche Automobil Holding SE, Stuttgart, hat grünes Licht für die Erhöhung der Beteiligung an der Volkswagen AG auf über 50 Prozent gegeben. Das Kontrollgremium ermächtigte den Vorstand am Montag in einer außerordentlichen Sitzung, weltweit alle dafür notwendigen aufsichts- und kartellrechtlichen Schritte einzuleiten. Die Prüfungen der Aufsichtsbehörden werden voraussichtlich einige Monate dauern. Sobald die erforderlichen Freigaben vorliegen, kann die Porsche SE die Aktienmehrheit an Volkswagen erwerben. Dr. W. W., Vorstandsvorsitzender der Porsche SE: ‚Unser Ziel ist die Schaffung einer der innovativsten und leistungsstärksten Automobil-Allianzen der Welt, die dem verschärften internationalen Wettbewerb gerecht wird.' Eine Fusion der beiden Unternehmen ist nicht geplant.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_107">107</a></dt> <dd><p>Mit der Pressemitteilung teilte die Musterbeklagte zu 1 über den Text der Ad-hoc-Mitteilung hinaus, deren letzter Satz dort allerdings nicht aufgenommen war, Folgendes mit:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Sobald der Mehrheitserwerb erfolgt ist, wird die Volkswagen AG – neben </em><em>der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG – ein weiterer Teilkonzern der Porsche Automobil Holding SE. Damit werden Arbeitnehmervertreter aus dem Volkswagen-Konzern in den Aufsichtsrat der Porsche Automobil Holding SE einziehen. Gemeinsam mit den Vertretern der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG werden sie die Arbeitnehmerseite im zwölfköpfigen Kontrollgremium der Holding bilden.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>(...)</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Der Erwerb weiterer 20 Prozent an VW entspricht beim derzeitigen Börsenkurs von rund 150 Euro je Stammaktie einem Investment von knapp zehn Milliarden Euro.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_108">108</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin macht geltend, dass diese Mitteilungen fehlerhaft seien, weil die Musterbeklagte zu 1 damit über den am 3. März 2008 gefassten Beschluss des Vorstands der Musterbeklagten zu 1, über 50 % – nach anderem Vortrag auch: über 75 % (z.B. Musterklagebegründung Rn. 696, 964) – der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zu erwerben, sowie über ihre Absicht getäuscht habe, 75 % dieser Stammaktien zu erwerben (Beherrschungsabsicht). Weiter habe sie über die von ihr entwickelten und umgesetzten Optionsstrategien zum Erwerb von 75 % der Stammaktien (Zugriffsstrategie) in die Irre geführt, um die Beherrschungsabsicht und die Zugriffsstrategie zu verheimlichen, zu leugnen und/oder irreführend darzustellen (Irreführungsstrategie) (Feststellungsziel III.3. in der Fassung des 2. Erweiterungsbeschlusses). Dies ist nicht der Fall. Die Mitteilungen informieren weitgehend zutreffend, jedenfalls aber nicht grob unrichtig oder irreführend über die gefassten Beschlüsse und Absichten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_109">109</a></dt> <dd><p>(aa) Die Ad-hoc-Mitteilung und die Pressemitteilung vom 3. März 2008 waren nicht deshalb unrichtig oder irreführend, weil sie suggeriert hätten, dass eine Beteiligungsaufstockung auf lediglich knapp über 50 % geplant gewesen sei, selbst wenn die Vorstände der Musterbeklagten zu 1, wie von der Musterklägerin behauptet, damals bereits eine <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> über die Musterbeklagte zu 2 gehabt hätten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_110">110</a></dt> <dd><p>Die Ad-hoc-Mitteilung und die Pressemitteilung waren offen dahingehend formuliert, dass der Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 grünes Licht für die Erhöhung der Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auf über 50 % gegeben habe. Unabhängig davon, dass die Musterbeklagte zu 1 lediglich eine Entscheidung ihres Aufsichtsrats mitteilte, war die Formulierung <em>„auf über 50 Prozent“</em> nicht auf eine konkrete Beteiligungshöhe beschränkt. Dies war gerade für den verständigen Kapitalmarktteilnehmer – sowohl bei isolierter Betrachtung dieser Mitteilungen als auch im Vergleich dieser Mitteilungen zu früheren Informationen über Beteiligungserhöhungen – ersichtlich. Diese Sprachregelung wurde auch tatsächlich in diesem Sinne verstanden, so beispielsweise in dem sog. Bernstein-Report vom 17. Oktober 2008 (Anlage MK 47, S. 5), der diese Formulierung als recht offen formulierte Erklärung (<em>„rather open-ended statement“</em>) herausstellte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_111">111</a></dt> <dd><p>Es kann deshalb offenbleiben, ob sich die beschlossene Ermächtigung tatsächlich entsprechend dem Vortrag der Musterbeklagten zu 1 nur auf eine Beteiligungserhöhung auf knapp über 50 % oder entsprechend dem Vortrag der Musterklägerin auf eine Beteiligungserhöhung auf bis zu 74,9 % oder sogar mehr bezog. Die Mitteilungen schlossen ein weitergehendes Verständnis nicht aus, dass ein Beteiligungsaufbau von 75 % oder mehr möglich sei und auch durch den Aufsichtsrat in Zukunft beschlossen werden könne.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_112">112</a></dt> <dd><p>Die Mitteilungen schlossen auch nicht aus, dass Verantwortliche der Musterbeklagten zu 1 bereits einen weitergehenden Anteilsaufbau in den Blick genommen und Vorbereitungen hierfür getroffen hatten. Auch angesichts der Kommunikation früherer Beteiligungserhöhungen (dazu näher Rn. 179) und des Umstand, dass die Musterbeklagte zu 1 diese Erhöhungen erkennbar jeweils bereits vorab durch Aktienoptionen abgesichert hatte (dazu näher Rn. 182, 185 ff.), war für den verständigen Kapitalmarktteilnehmer auch zum vorliegenden Zeitpunkt naheliegend, dass ein weitergehender Beteiligungsaufbau durch Aktienoptionen abgesichert war oder zukünftig abgesichert werden sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_113">113</a></dt> <dd><p>Nichts Anderes ergibt sich aus dem letzten Absatz der Pressemitteilung, in dem die Kosten eines Erwerbs von 20 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 vorgerechnet wurden. Zum einen ließ auch dies schon der Formulierung nach die Möglichkeit einer zukünftigen weiteren Beteiligungsaufstockung offen. Die lediglich auf eine 20%ige Aufstockung bezogene Berechnung war auch bei einer angenommenen Absicht einer weitergehenden Beteiligungsaufstockung nicht sinnlos, weil eine Aufstockung der physischen Beteiligung auf über 50 % hinaus ohnehin noch weiter in der Zukunft lag. Tatsächlich hielt die Musterbeklagte zu 1 noch im September 2008 Anteile an der Musterbeklagten zu 2 in Höhe von lediglich knapp über 35 %. Eine Aufstockung auf 42,6 % erfolgte erst im Oktober. Die Möglichkeit einer Aufstockung auf über 75 % war auch nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen ursprünglich erst im 1. Halbjahr 2009 vorgesehen, auch wenn zwischenzeitlich ein früherer Erwerb jedenfalls diskutiert worden sei (<em>„Projekt Blitz“</em>). Schon da die Aktienkursentwicklung derart langfristig nicht vorhersehbar ist, wäre eine weitergehende Berechnung in der Pressemitteilung objektiv unsinnig gewesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_114">114</a></dt> <dd><p>Auch aus dem Umstand, dass aktienrechtlich eine Beteiligung von knapp über 50 % eine andere Relevanz als eine Beteiligung von über 75 % hat, lässt sich aus den Mitteilungen nicht schlussfolgern, dass Letztere ausgeschlossen sein sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_115">115</a></dt> <dd><p>Die Ad-hoc-Mitteilung (Anlage MK 9) war auch nicht deshalb grob unrichtig oder irreführend, weil sie mit der Aussage schloss, eine Fusion sei nicht geplant. Der Begriff der Fusion ist nicht abschließend definiert. Im engeren gesellschaftsrechtlichen Sinn wird er regelmäßig für die Verschmelzung zweier Unternehmen verwandt (vgl. etwa Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 9. Aufl., Rn. 7.263), die hier jedenfalls nicht beabsichtigt war. Weitergehend wird der Begriff der Fusion etwa im kartellrechtlichen Zusammenhang auch auf die Zusammenlegung zweier Unternehmen zu einer wirtschaftlichen Einheit angewandt, die dauerhaft einer einheitlichen Leitung unterstellt werden (Wessely/Wegner in: MüKoEuWettbR, 3. Aufl., Art. 3 FKVO Rn. 18; Hölters a.a.O.; vgl. auch Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Aufl., Art 3 FKVO Rn. 10). Auch eine solche faktische Fusion war nicht geplant. Der allenfalls beabsichtigte Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages unterfällt im kartellrechtlichen Sinne nicht einer Fusion nach Art. 3 Abs. 1 lit. a) FKVO, sondern vielmehr einem Zusammenschluss durch Kontrollerwerb nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) FKVO (Wessely/Wegner a.a.O., Rn. 60). Ob der Begriff der Fusion darüber hinaus teilweise auch auf die vorliegend infrage stehenden Fälle von Beherrschungsverträgen angewandt wird, wie die Musterklägerin behauptet, kann offenbleiben. Verständige Marktteilnehmer konnten sich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass die fragliche Aussage einen derart weiten Inhalt haben sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_116">116</a></dt> <dd><p>(bb) Dass die Musterbeklagte zu 1 eine weitere Beteiligungsaufstockung und einen Beherrschungsvertrag anstrebte, sofern dessen Abschluss möglich wäre, lag für verständige Marktteilnehmer nicht fern, nachdem sie seit September 2005 ihre Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 kontinuierlich aufgestockt und diese Aufstockung der physischen Beteiligung auch dem Markt mitgeteilt hatte (dazu näher Rn. 179). Auch die von der Musterklägerin vorgetragene fundamentale Überbewertung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 spätestens seit Anfang 2008 ließ den Rückschluss auf eine damit im Zusammenhang stehende erhebliche Nachfrage als naheliegende Erklärung zu (dazu näher Rn. 202; zu weiteren Gesichtspunkten auch Rn. 195 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_117">117</a></dt> <dd><p>(cc) Wie sich aus verschiedenen Presseartikeln und Analystenberichten ergibt, haben die angesprochenen Anlegerkreise die Ad-hoc-Mitteilung und die Pressemitteilung auch so verstanden, dass sie einen zukünftigen weiteren Beteiligungsaufbau nicht ausschließen. Zum Teil wurden ausdrücklich weitergehende Überlegungen der Musterbeklagten zu 1 angenommen, den Beteiligungsaufbau auf 75 % auszuweiten, wie insbesondere in den Presseberichten vom 8. März 2008 in FOCUS-online (Anlage MK 40) und vom 10. März 2008 in der Zeitschrift FOCUS (Anlage MK 41), die Anlass für die nachfolgend betrachtete Pressemitteilung vom 10. März 2008 waren. Die Einzelheiten der Berichterstattung sind im Zusammenhang mit der Erörterung dieser Pressemitteilung vom 10. März 2008 dargestellt. Obwohl verschiedene weitere Analystenberichte überwiegend auch diese Pressemitteilung vom 10. März 2008 (<em>„Porsche weist Spekulationen über Aufstockung auf 75 Prozent bei VW zurück“</em>) berücksichtigt haben, wird aus ihnen doch deutlich, dass sie auch die Mitteilungen vom 3. März 2008 nicht dahin verstanden, dass die Musterbeklagte zu 1 keine weitere Beteiligungsaufstockung erwöge (näher u.a. Rn. 135).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_118">118</a></dt> <dd><p>(dd) Auch wenn die Ad-hoc-Mitteilung und die Pressemitteilung damit interpretationsfähig waren, waren sie doch nicht unrichtig, jedenfalls nicht grob unrichtig. Nach zutreffender Auffassung sind mehrdeutige Formulierungen, die ein Analyst durchschauen kann, zumindest grundsätzlich nicht sittenwidrig (OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., Rn. 186 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_119">119</a></dt> <dd><p>Nichts Anderes ergäbe sich unter Zugrundelegung des Vortrags, nach der Auffassung des 1. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart spreche einiges dafür, dass der Aufsichtsrat am 3. März 2008 de facto grünes Licht für eine Aufstockung der Beteiligung auf über 75 % gegeben habe, weil der Beschluss des Aufsichtsrats vom 3. März 2008 keine Deckelung nach oben vorgesehen habe (vgl. dazu OLG Stuttgart, Beschluss vom 18. August 2014 – 1 Ws 68/14, juris Rn. 21). Die Mitteilungen entsprächen dem, weil sie ebenfalls keine Begrenzung nach oben darstellten und das Verständnis zuließen, dass der Aufsichtsratsbeschluss auch eine weitergehende Beteiligungsaufstockung deckte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_120">120</a></dt> <dd><p>(ee) Die Musterklägerin macht geltend, dass die Ad-hoc- und die Pressemitteilung auch deshalb irreführend seien, weil dem zitierten Aufsichtsratsbeschluss keine Bedeutung zugekommen sei; denn der Vorstand hätte angesichts der synthetischen Beteiligung längst – zumindest formlos – für eine Übernahmeoption entschieden. Auch dieser Vortrag greift nicht durch. Denn selbst wenn der Vorstand der Musterbeklagten zu 1 bereits zu diesem Zeitpunkt eine <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> gehabt haben sollte, kann diese auch nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen doch nicht endgültig darauf gerichtet gewesen sein, eine entsprechende Beteiligungsaufstockung ohne Rücksicht insbesondere auf möglicherweise entgegenstehende erhebliche äußere Hindernisse (dazu unten, Rn. 205 ff.) durchzuführen. Auch bei Annahme einer <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> der Vorstände der Musterbeklagten zu 1 in diesem Sinn kamen dem Aufsichtsratsbeschluss und dem Vorstandsbeschluss vom 3. März 2008, die sich auf eine konkrete und – nach Vorliegen der erforderlichen Freigaben – zeitnahe Aufstockung der Beteiligung bezogen, daher jedenfalls eigenständige Bedeutung zu. Die Information über diese Beschlüsse war nicht überflüssig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_121">121</a></dt> <dd><p>(ff) Gleichfalls führt es nicht zur Fehlerhaftigkeit der Ad-hoc-Mitteilung, dass die Musterbeklagte zu 1 den an demselben Tag getroffenen Vorstandsbeschluss nicht veröffentlicht hat. Eine Kapitalmarktinformation informiert über einzelne Umstände und enthält nicht notwendig eine vollständige Gesamtdarstellung. Zudem werden in der Ad-hoc-Mitteilung und der Pressemitteilung das Einverständnis des Vorstandsvorsitzenden Dr. W. mit dem Beteiligungsaufbau wiedergegeben. Damit ist dem Kapitalmarkt bekannt, dass jedenfalls der Vorstandsvorsitzende der Musterbeklagten zu 1 eine dem Beschluss des Aufsichtsrats gleichgerichtete Auffassung vertritt. Die Mitteilung des förmlichen Vorstandsbeschlusses hätte daher keine wesentlich weitergehende Relevanz gehabt; ihr Unterlassen konnte keine wesentliche Fehlvorstellung bei dem Kapitalmarktpublikum hervorrufen. Jedenfalls war mit dieser Auslassung keine grobe Irreführung verbunden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_122">122</a></dt> <dd><p>(gg) Die von der beigeladenen H. GmbH beanstandete Unrichtigkeit der Pressemitteilung dahin, die Ausführungen zum Einzug von Arbeitnehmervertretern der Musterbeklagten zu 2 in den Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 seien falsch und vermittelten dem Leser ein falsches Bild von dem Einfluss auf die Musterbeklagte zu 2, ist bereits nicht Gegenstand des Musterverfahrens. Darüber hinaus hatte dieser Aspekt auch keine maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung der Absicht zur weiteren Beteiligungsaufstockung und der möglichen Beherrschungsabsicht. Ihm kommt daher für die Beurteilung der Verwerflichkeit keine wesentliche Bedeutung zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_123">123</a></dt> <dd><p>(hh) Dass die Musterbeklagte zu 1 die behauptete <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> und die Optionsstrategie einschließlich des aktuellen Bestands der Optionspositionen nicht veröffentlichte, ist nach den folgenden diesbezüglichen Erwägungen zur Verwirklichung des Tatbestands des § 826 BGB durch Unterlassen (unten, Rn. 236 ff.) nicht geeignet, den Vorwurf der Sittenwidrigkeit zu begründen. Eine entsprechende (sittliche) Verpflichtung bestand nicht. In Konsequenz hierzu bestand auch keine Verpflichtung, darüber aufzuklären, dass insbesondere die behauptete Beherrschungsabsicht verschwiegen werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_124">124</a></dt> <dd><p>(b) Bei der im Rahmen des § 826 BGB gebotenen Gesamtbetrachtung stellt sich auch weder das Veranlassen der Pressemitteilung vom <span style="text-decoration:underline">10. März 2008</span> (Anlage MK 10 / MBPor 77) noch deren unterlassene Berichtigung als sittenwidrig dar. Die Pressemitteilung enthält keine grobe Falschdarstellung, selbst wenn eine <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> des Vorstands des Musterbeklagten zu 1 bestanden haben sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_125">125</a></dt> <dd><p>Die Pressemitteilung hatte – ausweislich der Anlage MK 10 – folgenden Inhalt:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Porsche weist Spekulationen über Aufstockung auf 75 Prozent bei VW zurück</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Aufsichtsratsbeschluss betrifft lediglich Mehrheitsbeteiligung</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die Porsche Automobil Holding SE, Stuttgart weist Medienberichte zurück,</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>wonach das Unternehmen beabsichtige, seinen VW-Anteil auf 75 % aufzustocken. Die Spekulation, auf 75 % zu gehen, übersehe die Realitäten in der Aktionärsstruktur von VW. Vor dem Hintergrund, dass das Land Niedersachsen als zweiter Großaktionär über 20 % der Anteile an Volkswagen hält, ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, die dafür notwendigen Aktien aus dem Streubesitz zu erwerben.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Hintergrund der aktuellen Medienberichte sind offenbar Börsengerüchte, die auf Gedankenspiele von Analysten und Investoren zurückgehen.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_126">126</a></dt> <dd><p>(aa) Dieser Pressemitteilung waren Presseberichte vom 8. März 2008 in FOCUS-online (Anlage MK 40) und vom 10. März 2008 in der Zeitschrift FOCUS (Anlage MK 41) vorangegangen, die ausführten, die Musterbeklagte zu 1 wolle nach internen Planungen ihre Anteile an der Musterbeklagten zu 2 auf 75 % aufstocken.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_127">127</a></dt> <dd><p>Das im Text der Pressemitteilung und auch in der Überschrift (<em>„Porsche weist Spekulationen über Aufstockung auf 75 Prozent bei VW zurück“</em>) enthaltene Dementi war in seiner Reichweite relativiert:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_128">128</a></dt> <dd><p>Zum einen lenkt die Unterüberschrift in der Pressemitteilung (<em>„Aufsichtsratsbeschluss betrifft lediglich Mehrheitsbeteiligung“</em>) die Blickrichtung auf den Aufsichtsratsbeschluss vom 3. März 2008, wobei letzteres Datum zwar nicht ausdrücklich genannt war, aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs aber auf der Hand lag. In dem als Anlage MBPor 77 vorgelegten Ausdruck der Pressemitteilung finden sich die beiden Überschriften zwar in umgekehrter Reihenfolge; inhaltlich änderte sich hierdurch aber nichts. Dadurch, dass die Musterbeklagte zu 1 das Dementi in formaler Hinsicht nur mit dem Inhalt des Aufsichtsratsbeschlusses begründete, blieb trotz des dem Wortlaut nach weitergehenden Dementis die unausgesprochene Möglichkeit, dass über den Aufsichtsratsbeschluss hinaus weitere Überlegungen, Planungen und möglicherweise auch Absichten bestanden haben, die auch eine Anteilsaufstockung auf über 75 % umfassten. Dies war für einen verständigen Kapitalmarktteilnehmer, der zwischen einzelnen durch Vorstand und Aufsichtsrat zu beschließenden Zwischenschritten einer Beteiligungserhöhung und möglichen weitergehenden, auf ein letztendliches (Übernahme-)Ziel gerichteten Plänen unterschied, auch naheliegend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_129">129</a></dt> <dd><p>Zum anderen lässt auch die im Text der Pressemitteilung folgende inhaltliche Begründung unausgesprochen die Möglichkeit weitergehender Überlegungen oder Absichten offen. Die Aussagen, die Spekulationen in den Medienberichten übersähen die Realitäten in der Aktionärsstruktur der Musterbeklagten zu 2 und die Wahrscheinlichkeit sei äußerst gering, die für eine Aufstockung auf 75 % notwendigen Aktien aus dem Streubesitz zu erwerben, implizierten, dass die Musterbeklagte zu 1 zumindest Überlegungen hinsichtlich einer entsprechenden Beteiligungsaufstockung angestellt hatte. Sie ließen sich auch dahin verstehen, dass eine entsprechende Aufstockung in Betracht komme, wenn sich entweder die Aktionärsstruktur ändere oder es sonst gelänge, die notwendigen Aktien zu erwerben. Hierfür spricht – wenn auch eher mit untergeordneter Bedeutung –, dass diese Aussage im Indikativ (<em>„ist [...] äußerst gering“</em>) und nicht im Konjunktiv (<em>„wäre [...] äußerst gering“</em>) formuliert war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_130">130</a></dt> <dd><p>Zwar stand in der Pressemitteilung der Aussagegehalt des Dementis im Vordergrund. Dennoch drängte sich gerade Analysten, professionellen Anlegern und allgemein verständigen Kapitalmarktteilnehmern, die Pressemitteilungen nicht nur für sich genommen genau lesen und analysieren, sondern auch vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Plausibilität betrachten, auf, dass die Pressemitteilung kein kategorisches Dementi enthielt. Besonders deutlich herausgestellt ist dies in dem sog. Bernstein-Report vom 17. Oktober 2008 (Anlage MK 47, S. 5), der sich bei der Diskussion der Frage, welchen Anteil an der Musterbeklagten zu 2 die Musterbeklagte zu 1 halte, ausdrücklich auf diese Pressemitteilung bezog, diese als sorgfältig formuliert (<em>„carefully worded“</em>) charakterisierte und es im Anschluss hieran als möglich erachtete, dass die Musterbeklagte zu 1 zukünftig einen Anteil von insgesamt 70 % oder mehr halten werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_131">131</a></dt> <dd><p>Die Pressemitteilung war damit jedenfalls nicht grob falsch. Sie ist allenfalls missverständlich formuliert oder einen Interpretationsspielraum zulassend (so OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016 - 7 U 59/14, juris Rn. 63 ff.), möglicherweise auch gewollt missverständlich (OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., juris Rn. 187 f.), ohne dass sie aber geeignet gewesen wäre, verständige Kaitalmarktteilnehmer in wesentlicher Weise irrezuführen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_132">132</a></dt> <dd><p>(bb) Auch die Ausführungen im letzten Absatz der Pressemitteilung, wonach die jüngsten Medienberichte auf <em>„Börsengerüchte“</em> und <em>„Gedankenspiele von Analysten und Investoren“</em> zurückgeführt werden, geben der Pressemitteilung keinen falschen oder irreführenden Inhalt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_133">133</a></dt> <dd><p>Ein kategorisches Dementi hätte erkennbar deutlich einfacher und klarer erfolgen können als durch die umständliche Zurückweisung von Berichten und Gerüchten, die nicht auf Informationen der Musterbeklagten zu 1 selbst beruhten. Zugleich gab die Musterbeklagte zu 1 damit – deutlich erkennbar – gerade keine Interna über den aktuellen Stand ihrer Pläne preis. Im Gegenteil schloss dieser Bezug gerade nicht aus, dass die Musterbeklagte zu 1 selbst entsprechende Überlegungen hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_134">134</a></dt> <dd><p>(cc) Dafür, dass diese Pressemitteilung von den angesprochenen Verkehrskreisen nicht als kategorisches Dementi verstanden wurde, spricht zudem, dass der Beteiligungsaufbau von 75 % auch in der Folgezeit Gegenstand von Analystenberichten war und insoweit als mögliche Option der Musterbeklagten zu 1 angesehen wurde (vgl. auch OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., juris Rn. 190):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_135">135</a></dt> <dd><p>Analysten von JP Morgan kamen in ihrer Analyse vom 12. März 2008 (S. 3 f., in Anlagenkonvolut MBPor 138) unter ausdrücklicher Berücksichtigung der infrage stehenden Pressemitteilung zu der Einschätzung, dass die Musterbeklagte zu 1 u.a. das Erreichen einer absoluten Kontrolle als strategische Option zu berücksichtigen haben werde. Eine Analyse von M.M. Warburg & Co. vom 26. März 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 138) setzte sich mit den unterschiedlichen am Markt bestehenden Auffassungen auseinander, ob sich die Musterbeklagte zu 1 mit 50 % begnügen oder aber kurzfristig eine Beteiligung von mehr als 75 % anstreben werde, wobei der Analyst von M.M. Warburg & Co. nach eigener Einschätzung eine weitere Aufstockung auf über 75 % als unwahrscheinlich ansah. Diese Einschätzung wurde in der <em>„Morning Mail“</em> von M.M. Warburg & Co. vom 10. April 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 138) wiederholt, dort aber eine Aufstockung auf über 75 % für den Fall einer vollständigen Aufhebung des VW-Gesetzes für möglich gehalten. In einem Bericht vom 21. April 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 138) befassten sich die Analysten von Goldman Sachs Global Investment Research nicht nur mit der Optionsstrategie der Musterbeklagten zu 1, sondern kamen auch zu der Einschätzung, dass diese eine Beherrschung der Musterbeklagten zu 2 anstrebe und daher eine Beteiligung von 75,1 % aufbauen werde. Nach den vorgenannten Analystenberichten wurde maßgeblich als Empfehlung für eine Anlageentscheidung darauf abgestellt, dass die Musterbeklagte zu 1 zum angekündigten Beteiligungsaufbau weiterhin im großen Umfang Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 kaufen und entsprechende Optionsgeschäfte tätigen werde. In einer Analyse der Landsbanki vom 28. Mai 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 138) wurde angenommen, das letztendliche Ziel der Musterbeklagten zu 1 sei der Abschluss eines Beherrschungsvertrages mit der Musterbeklagten zu 2. Gleiches haben die MainFirst Bank AG in einer Analyse vom 18. September 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 138) und UBS in einer Analyse vom 17. Oktober 2008 (Seite 5, in Anlagenkonvolut MBPor 138) vertreten. Auch die bereits angesprochene Analyse der Sanford C. Bernstein & Co., LLC vom 17. Oktober 2008 gelangte – unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Pressemitteilung vom 10. März 2008 – zu dem Schluss, dass die Musterbeklagte zu 1 ihren Anteil an der Musterbeklagten zu 2 wahrscheinlich auf deutlich über 55 %, möglicherweise auch auf mehr als 70 % aufstocken werde (Anlage MK 47).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_136">136</a></dt> <dd><p>(dd) Bei dem weiteren Inhalt der Pressemitteilung zur Realisierbarkeit einer Anteilsaufstockung auf 75 % handelte es sich um eine Einschätzung der Musterbeklagten zu 1 zur Wahrscheinlichkeit, insgesamt 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 erwerben zu können. Einschätzungen und Prognosen sind nur dann unrichtig, wenn sie sich auf eine falsche Tatsachenbasis gründen oder aus – auch richtigen – Tatsachen gezogene Schlussfolgerungen schlechterdings nicht vertretbar sind (vgl. Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 15. Juli 2005, VI.3.2.1.3.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_137">137</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin hat nicht dargelegt, dass diese in der Pressemitteilung geäußerte Bewertung unrichtig gewesen wäre. Selbst wenn die von der Musterbeklagten zu 1 abgeschlossenen Optionen nach dem Vortrag der Musterklägerin den Zugriff auf physische Aktien verschafften, wäre zu diesem Zeitpunkt der Zugriff auf lediglich insgesamt gut 61 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 gesichert gewesen. Die Musterklägerin geht selbst davon aus, dass die Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 im Besitz des Landes Niedersachsen unverkäuflich und damit für die Musterbeklagte zu 1 nicht verfügbar waren. Darüber hinaus geht die Musterklägerin davon aus, dass Indexfonds aufgrund ihrer Anlagebedingungen die von ihnen gehaltenen Aktien grundsätzlich nicht haben verkaufen, sondern allenfalls verleihen können, und auch andere institutionelle Anleger nicht bereit gewesen seien, ihre Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zu verkaufen, solange die Preise gestiegen seien. Selbst wenn die Musterbeklagte zu 1 angenommen hätte, dass durch den steigenden Aktienkurs Leerverkäufer <em>„angelockt“</em> worden wären, vermittels derer sie auch Zugriff auf eigentlich unverkäufliche Aktien hätte erhalten können, wäre dies doch nur eine zunächst spekulative Erwartung, ohne dass der Erwerb der nötigen Aktien dadurch gesichert oder auch nur wahrscheinlich gewesen wäre. Diese <em>„Realitäten in der Aktionärsstruktur“</em> stellten tatsächlich Hindernisse für einen Beteiligungsaufbau auf mehr als 75 % dar. Dass die Musterbeklagte zu 1 nach dem Vortrag der Musterklägerin selbst nicht davon ausgegangen sein mag, dass ein Beteiligungsaufbau der fraglichen Größenordnung unrealistisch sei, ist für die Beurteilung der objektiven Vertretbarkeit der Bewertung nicht wesentlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_138">138</a></dt> <dd><p>Selbst wenn man jedoch mit der Musterklägerin aus dem Umstand, dass es der Musterbeklagten zu 1 später gelungen ist, eine <em>„synthetische“</em> Beteiligung in Höhe von insgesamt rund 75 % aufzubauen, darauf schließt, dass bereits aus der Perspektive ex ante die Umsetzung einer solchen Beteiligungsaufstockung nicht unrealistisch gewesen wäre, rechtfertigte dies jedenfalls nicht, die wiedergegebene Einschätzung als grob unrichtig einzuordnen. Ohnehin hätte dies vorausgesetzt, dass die Aktienoptionen der Musterbeklagten zu 1 entsprechend dem Vortrag der Musterklägerin den Zugriff auf die physischen Aktien sicherten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_139">139</a></dt> <dd><p>Gegen eine Unvertretbarkeit der mitgeteilten Einschätzung spricht im Übrigen auch, dass eine Aufstockung auf 75 % ohnehin allenfalls in fernerer Zukunft erfolgen konnte. Die aufsichtsbehördliche und kartellrechtliche Prüfung für eine Aufstockung auf über 50 % standen noch aus. Zudem würde bereits diese Aufstockung auf über 50 % einen nicht unerheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen; tatsächlich wurde diese Schwelle erst im Januar 2009 überschritten. Zudem hätte selbst eine Beteiligungsaufstockung auf 75 % ohne Änderungen der Regelungen zur Sperrminorität im VW-Gesetz und der Satzung der Musterbeklagten zu 2 – oder der Feststellung ihrer Europarechtswidrigkeit – nicht ausgereicht, um einen Beherrschungsvertrag durchzusetzen (vgl. näher unten, Rn. 205 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_140">140</a></dt> <dd><p>(ee) Die Pressemitteilung suggerierte entgegen der Auffassung der Musterklägerin auch nicht, dass die Musterbeklagte zu 1 keinerlei Vorkehrungen für eine mögliche zukünftige Aufstockung getroffen, insbesondere keine Optionsgeschäfte abgeschlossen habe. Aus der dargestellten Einschätzung zur Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Beteiligungsaufstockung lässt sich allein der Schluss ziehen, dass der dafür erforderliche Anteilserwerb jedenfalls nicht oder zumindest nicht weitgehend gesichert und der Erfolg solcher Bemühungen unsicher sei. Dies traf zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_141">141</a></dt> <dd><p>Dass sich die Musterbeklagte zu 1 im Hinblick auf einen späteren weiteren Anteilserwerb durch Optionen abgesichert hatte, nahmen im Übrigen weitgehend auch Analysten an, zum Teil auch, dass sie daran verdiene. Solche Analysen und Berichte lagen bereits vor dem 10. März 2008 vor, so in der der Financial Times Deutschland vom 3. September 2007, der Süddeutschen Zeitung vom 3. September 2007, der Stuttgarter Zeitung vom 18. September 2007 (alle Anlagenkonvolut MBPor 109), der MainFirst Bank AG vom 1. Oktober 2007 (dort insb. S. 7 – 9) und der UBS Investment Research vom 3. Oktober 2007 (jeweils in Anlage MBPor 111), der FAZ vom 14. November 2007, der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 14. November 2007 und der Financial Times Deutschland vom 4. März 2008 (alle Anlagenkonvolut MBPor 109). Auch nach der Presserklärung vom 10. März 2008 gingen Analysten von entsprechenden – zumindest möglichen – Optionsstrategien der Musterbeklagten zu 1 aus, so die Analyse von Goldman Sachs Global Investment Research vom 21. April 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 111/138) sowie – unter ausdrücklicher Berücksichtigung auch der Pressemitteilung vom 10. März 2008 – der sog. Bernstein-Report vom 17. Oktober 2008 (Anlage MK 47, S. 5 f.). Die Analyse von M.M. Warburg & Co. vom 26. März 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 138) äußerte zwar Zweifel an weitergehenden Optionsstrategien, stützte diese aber nicht auf den Inhalt der Pressemitteilung vom 10. März 2008 oder anderer Mitteilungen der Musterbeklagten zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_142">142</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung der sog. E.-Beigeladenen hat die Musterbeklagte zu 1 mit dieser Pressemitteilung auch nicht dementiert, Put-Optionen verkauft zu haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_143">143</a></dt> <dd><p>(ff) Schließlich ist im Rahmen einer Gesamtabwägung aller Umstände zu berücksichtigen, dass die Pressemitteilung in Reaktion auf die Presseberichte über einen weitergehenden Beteiligungsaufbau erfolgte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_144">144</a></dt> <dd><p>Für den Fall einer – hier nicht vorliegenden – Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG sollte ein Emittent auf Gerüchte im Markt zwar grundsätzlich keine gegensätzlichen Erklärungen abgeben oder durch Dementis widersprüchliche Signale setzen (Pfüller in: Fuchs, WpHG, 2. Aufl., § 15 Rn. 490; Assmann in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 15 Rn. 170). Vielmehr solle er eine strikte <em>„no comment policy“</em> verfolgen, um eine Irreführung der Öffentlichkeit zu vermeiden (Pfüller, a.a.O.). Auch sonst besteht kein Recht zur Lüge. Der Umstand, dass in der Öffentlichkeit Spekulationen aufgekommen sind, die einem Unternehmen ungelegen kommen, weil sie Kosten verursachen können, gibt dem Unternehmen keine Legitimierung dafür, der Öffentlichkeit gegenüber grob falsche Erklärungen abzugeben und so Marktteilnehmer zu nachteiligen Vermögensdispositionen zu veranlassen (OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., juris Rn. 184). Auf der anderen Seite soll der Emittent durch Dritte nicht mit der gezielten Streuung von Gerüchten und dabei erzielten <em>„Zufallstreffern“ </em>zur Ad-hoc-Publizität gezwungen werden (vgl. für den Fall einer Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG: Pfüller, a.a.O.). Vorliegend musste die Musterbeklagte zu 1 davon ausgehen, dass ein Schweigen in ihrer konkreten Lage möglicherweise als Bestätigung der Gerüchte gewertet worden wäre (so auch OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016, a.a.O., juris Rn. 72).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_145">145</a></dt> <dd><p>Auch unter Berücksichtigung dieser Wertungen war die Veröffentlichung der zwar – möglicherweise auch gezielt – missverständlichen, aber jedenfalls nicht grob unrichtigen oder irreführenden Pressemitteilung in der Gesamtschau auch dann nicht verwerflich, wenn sie, wie die Musterklägerin behauptet, bezweckte, weitere Kursanstiege infolge der Presseberichte vom 8./10. März 2008 zu verhindern.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_146">146</a></dt> <dd><p>(c) Nach der Behauptung der Musterklägerin hat ein namentlich nicht bekannter Sprecher der Musterbeklagten zu 1 gegenüber dem Manager Magazin, so wie in dem dortigen Artikel vom <span style="text-decoration:underline">23. Juli 2008 </span>(Anlage MK 42) zitiert, geäußert: <em>„Wir reden heute über die Mehrheit“</em>. Selbst vor dem Hintergrund, dass der Aufsichtsrat den Vorstand am Tag dieser Veröffentlichung vorsorglich – nach Vortrag der Musterbeklagten zu 1 u.a. vor dem Hintergrund der bevorstehenden Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter der Musterbeklagten zu 2 im Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 – im Rahmen eines Vorratsbeschlusses ermächtigte, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auch auf 75 % derer Stammaktien aufzustocken, war diese behauptete Äußerung gegenüber der Presse jedenfalls nicht grob unrichtig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_147">147</a></dt> <dd><p>Die Äußerung stellte kein kategorisches Dementi einer möglichen weitergehenden Absicht dar, sondern war sogar dem ausdrücklichen Wortlaut des Presseartikels nach offen formuliert. Dem wörtlichen Zitat war die Aussage vorangestellt, der Sprecher wolle sich zu weiteren Anteilskäufen, die zu einer Aufstockung auf bis zu knapp 80 % führen könnten, nicht äußern. Dies und die Einschränkung, man rede <em>„heute“</em> über die Mehrheit, lässt ausdrücklich die Möglichkeit offen, dass weitere Anteilskäufe zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen könnten, die die Beteiligung deutlich erhöhten. Aus Sicht eines verständigen Kapitalanlegers wird mit dieser Erklärung ein Beteiligungsaufbau von über 75 % in der Zukunft gerade nicht ausgeschlossen. Der Pressesprecher hat sich lediglich zum Mehrheitserwerb zu dem damaligen Zeitpunkt im Juli 2008 erklärt. Gerade der Zusatz, sich zu weiteren Anteilskäufen nicht äußern zu wollen, ließ zudem zumindest die Interpretation zu, dass diesbezüglich auch bereits Überlegungen erfolgt waren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_148">148</a></dt> <dd><p>Die Erklärung, man rede <em>„heute“</em> über die Mehrheit, schloss sowohl für sich genommen als auch in dem zuvor dargestellten Kontext ebenfalls nicht aus, dass interne Gespräche, Überlegungen oder Planungen betreffend eine weitergehende Anteilsaufstockung erfolgten. Für den verständigen Kapitalmarktteilnehmer war vielmehr ersichtlich, dass sich die Aussage nur auf die konkret anstehenden nächsten Schritte und nicht auf erst weiter in der Zukunft liegende und unsichere Ziele bezog.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_149">149</a></dt> <dd><p>Die Äußerung des Sprechers war auch nicht deshalb unrichtig oder irreführend, weil sich die <em>„synthetische“</em> Beteiligung – also die Summe des Aktien- und Optionsbestands – einschließlich der von der Porsche GmbH Salzburg gehaltenen Optionen zu dem damaligen Zeitpunkt bereits auf rund 75 % belaufen habe und die Musterbeklagte zu 1 die M. Bank bereits am Folgetag angewiesen habe, den Optionsaufbau bei über 75 % auszusetzen. Diese Optionen sollten einen späteren Beteiligungsaufbau wirtschaftlich ermöglichen. Nach dem Vortrag der Musterklägerin sicherten sie zwar auch den Zugriff auf <em>„physische“</em> Aktien. Einem physischen Beteiligungsaufbau kamen sie aber schon deshalb nicht gleich, weil der Kauf physischer Aktien jedenfalls erhebliche weitere Liquidität erforderte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_150">150</a></dt> <dd><p>(d) Auch die Äußerungen des Finanzvorstandes H. im Interview gegenüber der FAZ, das am <span style="text-decoration:underline">28. Juli 2008</span> veröffentlicht wurde (Anlage MK 72, Bl. 2438 ff. d.A.), waren nicht unrichtig, jedenfalls nicht grob irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_151">151</a></dt> <dd><p>Die Aussage, die Musterbeklagte zu 1 habe fest vor, im Laufe des Jahres 2008 die <em>„51-Prozent-Grenze“</em> zu überschreiten, kam dem späteren tatsächlichen Ablauf nahe. Die Musterbeklagte zu 1 stockte ihre Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 im Dezember 2008 auf 47,37 % und am 5. Januar 2009 auf 50,76 % auf (vgl. Gutachten Dr. V. vom 15. Oktober 2009 [im Folgenden: V.-GA], Anlage MK 37, Rn. 55). Zu einem möglichen weiteren Beteiligungsaufbau im Jahr 2009 äußerte sich H. nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_152">152</a></dt> <dd><p>Die Aussage, nachdem die Musterbeklagte zu 1 die nächsten Etappen genommen habe, werde es wieder um operative Themen gehen, ließ zwar durchaus die Interpretation zu, es sei nur eine Aufstockung auf diesen Anteil geplant. Ebenso konnte die Bezeichnung der genannten Schritte als <em>„nächste Etappen“</em> aber bedeuten, dass es noch weitere, sich daran anschließende Etappen geben werde. Jedenfalls stellte diese Aussage keine grobe Irreführung dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_153">153</a></dt> <dd><p>Diese Aussagen waren auch nicht deshalb falsch, weil die genannte Beteiligungsschwelle unter Einbeziehung der Optionspositionen der Musterbeklagten zu 1 bereits damals überschritten gewesen wäre. Die Aussagen zur Beteiligungshöhe bezogen sich nicht auf Optionsgeschäfte, sondern auf den tatsächlichen Beteiligungsaufbau.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_154">154</a></dt> <dd><p>Zudem wies H. in dem FAZ-Interview ausdrücklich darauf hin, Kurssicherungsgeschäfte insbesondere durch cash-gesettelte Optionen getätigt zu haben, um den Preis für weitere Käufe abzusichern. Einzelheiten zu den Optionsgeschäften hatte er ausdrücklich nicht offen gelegt, allerdings sogar eingeräumt, dass die Musterbeklagte zu 1 an diesen möglicherweise noch verdienen könne. Gleiches war auch Gegenstand des Berichtes im Manager Magazin vom 29. Juli 2008 (Anlage MBPor 108).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_155">155</a></dt> <dd><p>(e) Die Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom <span style="text-decoration:underline">16. September 2008</span> (Anlage MK 11) war ebenfalls nicht unrichtig oder grob irreführend. Gegenstand dieser Mitteilung war der Erwerb von weiteren 4,89 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2, womit die Beteiligung <em>„insgesamt 35,14 Prozent der Stimmrechte“</em> erreiche. Die in diesem Zusammenhang zitierte Äußerung des Vorstandsvorsitzenden Dr. W., das Ziel bleibe weiterhin, <em>„den Anteil an Volkswagen auf über 50 % zu erhöhen“</em>, gab keine Begrenzung noch oben wieder. Sie verhielt sich nicht zu einer möglichen über 50 % hinausgehenden Beteiligung. Der verständige Kapitalanleger erwartete von einer solchen Äußerung auch nicht, dass eine umfassende Information in allen Einzelheiten erfolgte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_156">156</a></dt> <dd><p>Der Markt verstand diese Pressemitteilung auch nicht dahingehend, dass die Musterbeklagte zu 1 einen weitergehenden Beteiligungsaufbau ausschließen wollte. Beispielsweise ging etwa die MainFirst Bank AG nur zwei Tage später in ihrer Analyse vom 18. September 2008 (Anlage MBPor 138) davon aus, dass das langfristige Ziel der Musterbeklagten zu 1 sei, die Musterbeklagte zu 2 zu beherrschen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_157">157</a></dt> <dd><p>Eine Fehlerhaftigkeit der Äußerung ergibt sich weiter nicht daraus, dass sie den Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 nicht erwähnte. Zwar nahm sie am Ende der Mitteilung den Aufsichtsratsbeschluss vom 3. März 2008 in Bezug. Die vorrangig kommunizierte Anteilsaufstockung auf gut 35 % erfolgte jedoch aufgrund dieses letztgenannten Beschlusses. Dass die Beschlusslage unverändert geblieben sei, wurde damit nicht, jedenfalls aber nicht eindeutig erklärt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_158">158</a></dt> <dd><p>Dass diese Pressemitteilung die Höhe der <em>„synthetischen“</em> Beteiligung nicht darstellte, ist entsprechend den obigen Erwägungen (Rn. 149) unerheblich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_159">159</a></dt> <dd><p>(f) Auch die – von der Musterbeklagten zu 1 bestrittenen und von der Musterklägerin und den Beigeladenen nicht unter Beweis gestellten – Äußerungen eines namentlich nicht benannten Porsche-Sprechers, die der Artikel von Spiegel-online vom <span style="text-decoration:underline">18. September 2008</span> (Anlage MK 43) sowie der Bericht der Hannoversche Allgemeine Zeitung vom selben Tag, auf die sich der vorgenannte Artikel bezog (MBPor 154, Bl. 2676), zum Gegenstand hatten, waren jedenfalls nicht grob irreführend. Der Sprecher wird dort dahin zitiert, <em>„H. habe lediglich eine theoretische Möglichkeit angesprochen. Derzeit stehe ein Beherrschungsvertrag nicht zur Debatte und sei auch ‚völlig unrealistisch‘."</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_160">160</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung der Musterklägerin bestätigte der Sprecher dort eine vermeintlich bestehende Beschränkung des zu erwartenden Beteiligungsaufbaus auf 50 % nicht. Die Äußerung des Sprechers bezog sich dem Zitat nach auf die in der Hannoversche Allgemeine Zeitung wiedergegebene Aussage des Finanzvorstands H., der erstmals einen Beherrschungsvertrag ins Spiel gebracht habe; der Sprecher bezeichnete dies als bloß theoretische Möglichkeit, ein Beherrschungsvertrag stehe <em>„derzeit“</em> nicht zur Debatte und sei auch völlig unrealistisch. Dies ließ – gerade auch in Zusammenschau mit der in Bezug genommenen Äußerung H.s – die Interpretation zu, dass ein solcher Plan zu einem späteren Zeitpunkt verwirklicht werden könnte, wenn die rechtlichen und wirtschaftlichen Umstände dies ermöglichen sollten, insbesondere der Abschluss eines Beherrschungsvertrages nicht mehr aufgrund des damals geltenden VW-Gesetzes völlig unrealistisch wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_161">161</a></dt> <dd><p>Entsprechend wurde die behauptete Äußerung des Sprechers der Musterbeklagten zu 1 auch nicht als Dementi verstanden. Der Artikel in der Hannoversche Allgemeine Zeitung zitiert die Äußerung und befasst sich im Anschluss mit Umständen, die für und gegen eine weitergehende Aufstockung und den Abschluss eines Beherrschungsvertrages sprechen. Schon nach der dortigen Überschrift (<em>„Porsche will VW zum Befehlsempfänger machen“</em>) geht der Autor des Artikels von einer solchen Möglichkeit aus. Ausdrücklich konstatiert er, die Musterbeklagte zu 1 <em>„schweige sich darüber aus“</em>, bei welchem Punkt sie <em>„mit dem Zukaufen aufhören“</em> wolle. Auch der Bericht von Spiegel-online steht unter der Überschrift, die Musterbeklagte zu 1 erwäge einen weiteren Machtausbau. Dieser Artikel führt gerade auch den Umstand, dass sie sich <em>„so vehement“</em> gegen eine Novelle des VW-Gesetzes wehre, als Indiz für entsprechende Absichten an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_162">162</a></dt> <dd><p>Zwar stand die geäußerte Einschätzung, der Abschluss eines Beherrschungsvertrages sei <em>„völlig unrealistisch“</em>, in einem Spannungsverhältnis dazu, dass die Musterbeklagte zu 1 versuchte, eine Änderung des VW-Gesetzes zu erreichen, und dass sie unter anderem im September 2008 über die Finanzierung einer Anteilsaufstockung auf 75 % mit verschiedenen Banken verhandelte und dabei auch eine entsprechende Aufstockung im Jahre 2009 in den Blick nahm; ferner lag bereits ein auf die weitere Anteilsaufstockung bezogener Vorratsbeschluss ihres Aufsichtsrates vor. Aber auch der Vortrag der Musterklägerin lässt nicht erkennen, dass sich die Musterbeklagte zu 1 zu diesem Zeitpunkt definitiv – selbst für den Fall, dass der Abschluss eines Beherrschungsvertrages weiterhin insbesondere mangels entsprechender Änderung des VW-Gesetzes unrealistisch bleiben sollte – auf eine entsprechende Beteiligungsaufstockung festgelegt hätte. Darüber hinaus liegen der wiedergegebenen Einschätzung durchaus Tatsachen zu Grunde, die diese objektiv rechtfertigen, sodass eine mögliche Irreführung jedenfalls nicht grob wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_163">163</a></dt> <dd><p>(g) Weiter waren die Äußerung des Vorstandsvorsitzenden Dr. W. auf dem Pariser Autosalon, die in dem Artikel von Finanzen.net vom <span style="text-decoration:underline">2. Oktober 2008</span> (Anlage MK 44) sowie in dem am <span style="text-decoration:underline">6. Oktober 2008</span> veröffentlichten Interview mit der FAZ (Anlage MK 45) wiedergegeben sind, nicht falsch oder grob irreführend. Dr. W. wird dort mit den Aussagen zitiert: <em>„Die Situation bei Volkswagen dürfte sich beruhigen, sobald Porsche ihren Anteil auf über 50% in der zweiten Jahreshälfte angehoben habe, (...). Porsche wolle sich die Option auf eine Beteiligung von 75% an Volkswagen offen halten, (...). Dies sei im Moment aber eine ‚rein theoretische Möglichkeit‘.“</em> (Anlage MK 44) sowie: <em>„Wir wären schlechte Unternehmer, wenn wir jetzt sagen würden, wir schließen langfristig eine Beherrschung aus. 75 Prozent sind heute kein Thema, das ist klar. Die theoretische Möglichkeit aber wollen wir uns erhalten. Dies heute aufzugeben, nur um Ruhe hineinzubekommen, wäre falsch. Das würde man uns eines Tages vorwerfen – zu Recht.“</em> (Anlage MK 45).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_164">164</a></dt> <dd><p>Dr. W. wies dort ausdrücklich darauf hin, dass sich die Musterbeklagte zu 1 die Option auf eine Beteiligung von 75 % offen halte – der Artikel vom 2. Oktober 2008 stand sogar unter dieser Überschrift –, bzw. dass die Musterbeklagte zu 1 eine Beherrschung langfristig nicht ausschließe. Daraus wurde – auch in Zusammenhang mit vorangegangenen Berichten über den Einsatz von Optionen zur Absicherung weiterer Beteiligungsaufstockungen – deutlich, dass die Musterbeklagte zu 1 konkrete Überlegungen im Hinblick auf eine Beteiligungsaufstockung auf 75 % und den Abschluss eines Beherrschungsvertrages angestellt hatte. Die Bezeichnung insbesondere der Anteilsaufstockung auf 75 % als bloße theoretische Möglichkeit, die <em>„heute kein Thema“</em> sei, schwächte zwar die Aussage <em>„Wir wären schlechte Unternehmer, wenn wir jetzt sagen würden, wir schließen langfristig eine Beherrschung aus“</em>, ab. Dies war aber jedenfalls nicht grob unrichtig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_165">165</a></dt> <dd><p>Zudem hatte Dr. W. in dem Interview ausgeführt, gegen das damals geltende VW-Gesetz zu kämpfen, und die Erwartung geäußert, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis dieses nicht mehr zu halten sei. Diese letztgenannten Äußerungen ließen erkennen, dass die Musterbeklagte zu 1 durchaus konkrete Schritte unternahm, um den Abschluss eines Beherrschungsvertrages zu ermöglichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_166">166</a></dt> <dd><p>Auch Analysten gingen weiterhin davon aus, das letztendliche Ziel der Musterbeklagten zu 1 sei der Abschluss eines solchen Beherrschungsvertrages mit der Musterbeklagten zu 2 – so UBS in einer Analyse vom 17. Oktober 2008 (Seite 5, Anlage MBPor 138) –, oder hielten eine Anteilsaufstockung auf mehr als 70 % zumindest für möglich – so Sanford C. Bernstein & Co., LLC in einer Analyse vom selben Tag (Anlage MK 47, sog. Bernstein-Report, S. 5; vgl. weiter Rn. 185 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_167">167</a></dt> <dd><p>(h) Schließlich hat die Musterbeklagte zu 1 entgegen der Darstellung der Musterklägerin auch nicht die Äußerungen des Analysten Warburton in dem sog. Bernstein-Report (Anlage MK 47) in unzutreffender Weise als <em>„Märchen“</em> bezeichnet. Die entsprechende Äußerung gegenüber der Financial Times (veröffentlicht am 21. Oktober 2008, Anlage MBPor 112) bezog sich vielmehr dezidiert auf die Vermutung, die Musterbeklagte zu 1 habe Aktien an Hedgefonds verliehen und dadurch die hohe Volatilität der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 in den Vorwochen begünstigt. Dass diese Vermutung zugetroffen hätte, sodass ihre Zurückweisung falsch gewesen wäre, hat die Musterklägerin nicht dargelegt und ist auch nicht sonst ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_168">168</a></dt> <dd><p>Die Beschränkung dieses Dementis ausdrücklich auf diese untergeordnete Teilaussage der Analyse war darüber hinaus objektiv geeignet, die Aufmerksamkeit des verständigen Kapitalmarktteilnehmers darauf zu lenken, dass die übrigen Aussagen der Analyse insbesondere betreffend die Aufstockungsabsicht und die Optionsstrategien – auch im Hinblick auf Put-Optionen – nicht dementiert wurden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_169">169</a></dt> <dd><p>(2) Auch bei einer Würdigung aller maßgeblicher Gesichtspunkte im Rahmen von § 826 BGB hat die Musterbeklagte zu 1 mit der streitgegenständlichen Kapitalmarktkommunikation nicht verwerflich und sittenwidrig gehandelt. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung sind die nachfolgend genannten Umstände zu berücksichtigen (vgl. zu weiteren Gesichtspunkten auch Rn. 355 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_170">170</a></dt> <dd><p>Unter anderem lag den Mitteilungen das Muster zugrunde, nur auf einzelne Aspekte einzugehen und weitere Umstände und Überlegungen im Rahmen des rechtlich Zulässigen nicht vollständig offenzulegen. Diese Strategie war für Marktteilnehmer erkennbar und wurde verbreitet – beispielsweise in Analysen und Presseberichten – auch so erkannt. Sie führte nicht zu einer Irreführung der Marktteilnehmer. Im Übrigen waren für verständige Marktteilnehmer verschiedene weitere Umstände ersichtlich, die naheliegend darauf schließen ließen, dass sich die Musterbeklagte zu 1 zumindest die Option weiterer Beteiligungserhöhungen und den späteren Abschluss eines Beherrschungsvertrages offenhielt. Beispielsweise waren die verbreitet wahrgenommenen Anstrengungen der Musterbeklagten zu 1, eine Änderung der Satzung der Musterbeklagten zu 2 und des VW-Gesetzes hinsichtlich der dort geregelten Sperrminorität herbeizuführen, naheliegend nicht anders erklärbar. Ferner ließen die erheblichen Optionspositionen der Musterbeklagten zu 1 solche Überlegungen erkennen. Diese Schlüsse wurden auch gezogen. Im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_171">171</a></dt> <dd><p>(a) Diese Kapitalmarktkommunikation war nicht deshalb sittenwidrig, weil die Musterbeklagte zu 1 eine übergreifende Kommunikationsstrategie verfolgte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_172">172</a></dt> <dd><p>Diese Kommunikationsstrategie soll nach Auffassung der Musterklägerin und der Beigeladenen die Beherrschungsabsicht der Musterbeklagten zu 1 verschleiert haben. Nach dem Vortrag der beigeladenen H. GmbH soll diese Strategie bereits seit dem Jahr 2006 vorgesehen haben, bis zur vollständigen Umsetzung des Übernahmeplans mit Beherrschungsabsicht sämtliche Fragen der Öffentlichkeit nach einem weiteren Beteiligungsaufbau zurückzuweisen und unter zusätzlicher Verwendung der Wörter <em>„gegenwärtig“</em>, <em>„derzeit“</em> oder <em>„zur Zeit“</em> die aktuellen Übernahmeabsichten zu verschleiern; Fragen zu der Übernahmeabsicht sollten als<em> „bloße Spekulation abgetan werden“</em>.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_173">173</a></dt> <dd><p>Tatsächlich erfolgte die Kommunikation regelmäßig dergestalt, dass die Musterbeklagte zu 1 – für Kapitalmarktteilnehmer erkennbar – nur auf bestimmte Aspekte einging und über weitergehende Pläne und Überlegungen zum weiteren Beteiligungsaufbau im Rahmen des rechtlich Zulässigen keine nähere Auskunft gab.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_174">174</a></dt> <dd><p>Auch die von der Musterklägerin konkret beanstandeten Informationen bezogen sich im Wesentlichen – teilweise ausdrücklich – nur auf die von Vorstand bzw. Aufsichtsrat beschlossenen konkreten nächsten Schritte. Sie enthielten keine bestimmten Aussagen zu darüber hinausgehenden Zielen, Plänen und Absichten der Musterbeklagten zu 1. Soweit sie sich daneben – etwa in Reaktion auf entsprechende Gerüchte – auch auf solche weitergehenden Absichten bezogen, dementierten sie diese nicht eindeutig, sondern waren für verständige Kapitalmarktteilnehmer ersichtlich gezielt nicht abschließend formuliert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_175">175</a></dt> <dd><p>Diese Mitteilungen verneinten Überlegungen betreffend einen weitergehenden Beteiligungsaufbau und dessen Absicherung erkennbar gerade nicht klar. Die eine Übernahmeabsicht dementierende Mitteilung vom 10. März 2008 (Anlage MK 10) war zumindest nach der Überschrift nur auf einen vorangegangenen Aufsichtsratsbeschluss bezogen. Nach dem Bericht vom 23. Juli 2008 wollte sich ein Sprecher gerade nicht zu weiteren Aufstockungsplänen äußern und erklärte, <em>„heute“</em> über die Mehrheit zu reden (Anlage MK 42). Die behauptete, in einem Bericht vom 18. September 2008 wiedergegebene Äußerung eines Sprechers der Musterbeklagten zu 1 betreffend einen Beherrschungsvertrag ging zwar dahin, dieser sei <em>„völlig unrealistisch“</em>, war zugleich aber dahin eingeschränkt, ein solcher stehe <em>„derzeit“</em> nicht zur Debatte (Anlage MK 43). Der Vorstandsvorsitzende Dr. W. bezeichnete Anfang Oktober 2008 die Option auf eine Beteiligung von 75 % zwar als <em>„rein theoretische Möglichkeit“</em>, erklärte aber ausdrücklich, sich diese offenhalten (Anlage MK 44) bzw. sie langfristig nicht ausschließen zu wollen (Anlage MK 45).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_176">176</a></dt> <dd><p>Verständige Kapitalmarktteilnehmer konnten gerade durch diese Kommunikationstechnik erkennen, dass die Musterbeklagte zu 1 in diesem Zusammenhang nicht <em>„alle Karten auf den Tisch legte“</em>. Klare Dementi hätte die Musterbeklagte zu 1 ersichtlich jeweils einfacher und eindeutiger zum Ausdruck bringen können. Schon deshalb waren die Kapitalmarktinformationen auch insoweit nicht (grob) irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_177">177</a></dt> <dd><p>Auch vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 (vgl. dazu im Folgenden, Rn. 178 ff.), die es zumindest als möglich erscheinen ließen, dass die Musterbeklagte zu 1 weitergehende Überlegungen anstellte, die über die jeweils kommunizierten Zwischenschritte hinausgingen, und vor dem Hintergrund des entsprechenden Verständnisses dieser Informationen durch den Kapitalmarkt erweckten diese Aussagen nicht den Eindruck, dass solche weitergehenden Pläne und Absichten ausgeschlossen werden sollten. Sie waren damit auch in dieser Gesamtschau jedenfalls nicht grob irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_178">178</a></dt> <dd><p>(b) Verständigen Kapitalmarktteilnehmern war bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1 schon vor März 2008 Pläne betreffend eine Beteiligungsaufstockung verfolgt hatte, die über die jeweils konkret kommunizierten Beteiligungsziele hinausgingen und die durch Aktienoptionen abgesichert waren. Die streitgegenständlichen Kapitalmarktinformationen fügten sich in das schon in der Vergangenheit erkennbare Kommunikationsschema ein. Sie ließen auch in dieser Gesamtschau erkennen, dass über die kommunizierten Schritte hinausgehende Ziele nicht ausgeschlossen waren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_179">179</a></dt> <dd><p>(aa) Unter anderem aufgrund der Mitteilungen der Musterbeklagten zu 1 vom 24. März 2007, vom 3. und 30. April 2007 sowie vom 4. Juni 2007 (Anlagen MBPor 64 - 68) war bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1 einen Anteil von rund 31 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 hielt. In der zeitgleich mit der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 veröffentlichten Pressemitteilung (Anlage MBPor 70) wies die Musterbeklagte zu 1 ferner darauf hin, dass ein Anteilserwerb weiterer 20 % bei dem damaligen Börsenkurs von rund 150 € je Stammaktie ein Investment von knapp 10 Mrd. € bedeuten würde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_180">180</a></dt> <dd><p>Diese insoweit umgesetzten Pläne hatte die Musterbeklagte zu 1 im Vorfeld erkennbar nur eingeschränkt kommuniziert. Schon mit Pressemitteilung vom 20. Oktober 2005 (Anlage MBPor 105) hatte sie einen Bericht dementiert, ihre Beteiligung auf 24,9 % aufstocken zu wollen, und dies dahin näher ausgeführt, zitierte angebliche Äußerungen nicht getätigt zu haben. Am 6. März 2007 hatte der Vorstandsvorsitzende Dr. W. erklärt, es gäbe <em>„zur Zeit“</em> keine Pläne, die über eine 29,9%ige Beteiligung hinausgingen (Anlage B-H. 4, Bl. 1655). Bereits am 24. März 2007 hatte sie demgegenüber die beabsichtigte Überschreitung der Kontrollschwelle von 30 % ad hoc mitgeteilt; es stünde <em>„gegenwärtig noch nicht fest, (...) ob, wann und zu welchen Konditionen“</em> weitere Zukäufe erfolgten (MBPor 64 f.; vgl. auch MBPor 158). Nach einem Pressebericht vom 26. März 2007 im manager magazin online (Anlage B-H. 5, Bl. 1656) werde eine Übernahme <em>„derzeit“</em> aber nicht angestrebt. In diesem Bericht wurde ausdrücklich herausgestellt, dass die Musterbeklagte zu 1 bereits im September 2005 betont hatte, <em>„auf keinen Fall“</em> die Schwelle von 30 % erreichen zu wollen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_181">181</a></dt> <dd><p>Nach verschiedenen Presseberichten Anfang September 2007 hatte die Musterbeklagte zu 1 erklärt, es gebe keine Entscheidung des Aufsichtsrats, auf <em>„über 31 % zu gehen“</em>. Zugleich wurde der Finanzvorstand H. mit der Aussage zitiert, <em>„man habe sich natürlich Optionen auf VW-Aktien gesichert, um diese dann eines Tages gegebenenfalls ausüben zu können</em>“ (div. Presseberichte in Anlagenkonvolut MBPor 109). Dem Kapitalmarkt war damit bekannt, dass es nicht nur allgemeine Überlegungen gab, die auf eine Beteiligungsaufstockung über die ausdrücklich kommunizierten Beteiligungsschwellen hinaus abzielten, sondern dass die Musterbeklagte zu 1 diese nicht näher dargestellten Pläne auch bereits konkret durch Optionsgeschäfte abgesichert hatte. Dabei war für den Kapitalmarkt auch erkennbar, dass diese Optionsgeschäfte einen erheblich über die bis dahin kommunizierte Beteiligungsgröße hinausgehenden Beteiligungsaufbau absichern sollten, weil der nächste strategische Schritt eine Mehrheitsbeteiligung war. So analysierte die Main Bank AG am 1. Oktober 2007, die Musterbeklagte zu 1 habe zwischen den Zeilen klar zum Ausdruck gebracht, ihre Beteiligung bald auf über 50 % erhöhen zu können, und ging von dem letztendlichen Ziel einer Beteiligung von 75 % und dem Abschluss eines Beherrschungsvertrages aus (in Anlagenkonvolut MBPor 139). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete am 14. November 2007 (in Anlagenkonvolut MBPor 109) darüber, dass durch die Optionen die nötigen Aktien für die <em>„Mehrheit bei VW“</em> gesichert wurden. Nach dem Bericht der Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 14. November 2007 (in Anlagenkonvolut MBPor 109) erwartete der Kapitalmarkt damals eine Mehrheitsbeteiligung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_182">182</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus hatte die Musterbeklagte zu 1 sowohl in ihrem Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr 2006/2007 (Anlage MBPor 106) als auch mit Halbjahresfinanzbericht zum 31. Januar 2008 (Anlage MBPor 107) mitgeteilt, dass sie zur Absicherung der Aufstockung ihres Anteils an der Musterbeklagten zu 2 Kurssicherungsgeschäfte in Form von Aktienoptionen mit Barausgleich abgeschlossen und darüber hinaus Aktienoptionen mit verschiedenen Basiswerten zur Liquiditätsbeschaffung eingesetzt habe. Dass es sich dabei um Aktienoptionen mit einem großen Umfang handelte, ergab sich schon daraus, dass diese mit 10,5 Mrd. € aktiviert und mit 13,5 Mrd. € passiviert waren, auch wenn diesen Bilanzansätzen für sich genommen nicht entnommen werden kann, dass sie allein Optionen betrafen, die sich auf Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 bezogen (vgl. insoweit auch etwa die hierauf bezogene Analyse der Privatsachverständigen M. vom 31. August 2012, Anlage B-H. 3, Bl. 1611 ff. d.A., S. 6 ff., 17 ff., 29 ff.; vgl. näher auch Rn. 474 ff.). Wenn der Finanzvorstand H. demgegenüber in dem Pressebericht der Financial Times Deutschland vom 3. September 2007 (in Anlagenkonvolut MBPor 109) dahin zitiert wird, die Musterbeklagte zu 1 habe sich <em>„einige Optionen gesichert“</em>, war dies eine für den verständigen Kapitalmarktteilnehmer erkennbare Untertreibung, die nicht geeignet war, ein Fehlverständnis herbeizuführen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_183">183</a></dt> <dd><p>Im Anschluss an die Ziehung der Kreditlinie über 10 Mrd. € am 20. Februar 2008 hat die Musterbeklagte zwar in einer Pressemitteilung ausgeführt, die Kreditmittel kurzfristig zinsbringend anlegen zu werden (dazu u.a. Vortrag RA B. im Verhandlungstermin am 28. Mai 2019; wiedergegeben in Anlage MK 136, S. 11 sowie im Verhandlungstermin am 25. Juni 2019; wiedergegeben in Anlage MK 138, S. 25; s. auch Bl. 11745). Auch diese damalige, für sich genommen möglicherweise irreführende Mitteilung führt nicht dazu, dass die hier streitgegenständlichen Kapitalmarktmitteilungen fehlerhaft oder irreführend oder sonst in der Gesamtschau sittenwidrig gewesen wären. Für sich genommen wäre diese Angabe zwar möglicherweise geeignet, den Umfang des Optionsaufbaus zu verschleiern, weil sie bei isolierter Betrachtung die Annahme nahe gelegt haben mag, dass die Musterbeklagte zu 1 diese umfangreichen Mittel nicht auch zum Aufbau der Optionspositionen verwenden werde. Dabei kann offen bleiben, ob der genutzte Begriff der zinsbringenden Anlage von verständigen Kapitalmarktteilnehmern als Anlage in verzinsliche Wertpapiere im engeren Sinne und nicht bloß als Synonym für eine gewinnbringende Anlage zu verstehen war. Jedenfalls ist nicht vorgetragen, dass Kapitalmarktteilnehmer diese Mitteilung tatsächlich dahin verstanden hätten, dass diese Mittel nicht für den Aufbau der physischen und synthetischen Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 verwandt worden wären und sie deshalb im Unklaren über den Umfang insbesondere des Aufbaus der Optionspositionen gewesen wären. Aus den vorgelegten Analystenberichten folgt eine derartige Rezeption der Aussage in der Pressemitteilung vom 20. Februar 2008 ebenfalls nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_184">184</a></dt> <dd><p>Auch die Zeitschrift FOCUS kam in ihrem Bericht vom 10. März 2008 (Anlage MK 41) zu dem Schluss: <em>„Mit immer neuen Optionen finanziert H. bis heute die Aufstockung der VW-Anteile.“</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_185">185</a></dt> <dd><p>(bb) Die Fachpresse berichtete zudem wiederholt gerade auch über diese Kommunikations- und Absicherungsstrategien der Musterbeklagten zu 1 und nahm an, dass die Musterbeklagte zu 1 eine über die jeweils kommunizierten Schritte hinausgehende Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 und ggf. auch den Abschluss eines Beherrschungsvertrages anstrebe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_186">186</a></dt> <dd><p>Soweit Analystenberichte und sonstige Anlagen lediglich in englischer Sprache vorliegen, ist deren Berücksichtigung bei der Entscheidung auch ohne eine von den Parteien beigefügte Übersetzung – hier wie im Folgenden – nicht durch § 184 GVG ausgeschlossen. Das Gericht kann fremdsprachige Schriftstücke verwerten, wenn die mit der Entscheidung befassten Richter der Sprache hinreichend mächtig sind (OLG Celle, Urteil vom 26. Mai 2016 – 13 U 76/15, juris Rn. 49). Dies ist der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_187">187</a></dt> <dd><p>Grundsätzlich befasste sich etwa die Analyse der MainFirst Bank AG vom 1. Oktober 2007 (S. 4, in Anlagenkonvolut MBPor 111) unter der Überschrift, niemand solle von Porsche erwarten, vorzeitig seine nächsten Schritte bekanntzugeben, näher mit dieser Kommunikationsstrategie. Die Betonung liege regelmäßig auf Ausdrücken wie <em>„zur Zeit nicht, im Moment nicht, gegenwärtig nicht“</em>. Diese Aussagen schlössen aber nicht aus, dass die Musterbeklagte zu 1 bereits in naher Zukunft neue Entscheidungen treffe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_188">188</a></dt> <dd><p>In dieser ausführlichen Analyse begründete die MainFirst Bank AG weiter ihre Auffassung, dass es das letztendliche Ziel der Musterbeklagten zu 1 sei, die Beteiligung auf 75 % aufzubauen und einen Beherrschungsvertrag abzuschließen. Es sei davon auszugehen, dass die Musterbeklagte zu 1 sich Aktienkurse durch cash-gesettelte Optionen gesichert habe; einen Großteil dieser Optionen habe sie vermutlich bereits vor Januar 2006 begründet. Auch den Verkauf von Put-Optionen nahm diese Analyse an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_189">189</a></dt> <dd><p>In einer Analyse vom 3. Oktober 2007 (in Anlagenkonvolut MBPor 111, S. 1 f., 3, 7 f.) nahm UBS Ltd. an, dass die Musterbeklagte zu 1 beabsichtige, die Anteile an der Musterbeklagten zu 2 bald auf über 50 % zu erhöhen, und zu diesem Zweck sowohl Call-Optionen gekauft als auch Put-Option verkauft habe. Auch Citi Investment Research ging in einer Analyse vom 23. Oktober 2007 davon aus, dass die Musterbeklagte zu 1 den Erwerb von 75 % der Aktien und den Abschluss eines Beherrschungsvertrages anstrebe und dies durch Optionsgeschäfte abgesichert habe. Die Analyse enthielt auch die Feststellung starker Handelsaktivitäten betreffend <em>„VW-Puts“</em> (in Anlagenkonvolut MBPor 139).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_190">190</a></dt> <dd><p>Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fasste in einem Bericht vom 13. November 2007 zusammen, dass die Musterbeklagte zu 1 vor jeder der in mehreren Schritten erfolgten Erhöhung der <em>„VW-Anteile“ </em><em>„Optionen auf VW-Aktien“</em> erworben hatte (zit. nach V.-GA, Anlage MK 37, S. 29 Fn. 7).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_191">191</a></dt> <dd><p>Auch darüber hinaus hatte die Presse verschiedentlich darüber berichtet, dass sich die Musterbeklagte zu 1 für zukünftige Anteilsaufstockungen durch Optionen abgesichert habe, zum Teil auch, dass sie daran verdiene, so in der Financial Times Deutschland vom 3. September 2007 und vom 4. März 2008, der Süddeutschen Zeitung vom 3. September 2007, der Stuttgarter Zeitung vom 18. September 2007, der FAZ vom 14. November 2007, der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 14. November 2007 (alle Anlagenkonvolut MBPor 109), der Citigroup vom 4. März 2008 (S. 3, in Anlagenkonvolut MBPor 139) und näher analysiert von Goldman Sachs am 21. April 2008 (S. 8, in Anlagenkonvolut MBPor 138; vgl. im Übrigen auch die Zitate unter Rn. 193, 197, 200 ff., 478).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_192">192</a></dt> <dd><p>(cc) Dass die hier infrage stehenden Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 in Analysen oder sonstigen Berichten dahingehend verstanden worden wären, dass eine Beteiligungserhöhung auf über 75 % und der Abschluss eines Beherrschungsvertrages ausgeschlossen wären, entsprechende Planungen nicht existierten oder keine Optionsgeschäfte zur Absicherung einer solchen weiteren Beteiligungserhöhung getätigt worden wären, ist nicht näher dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_193">193</a></dt> <dd><p>Im Gegenteil hat etwa die Goldman Sachs Group Inc. in einer Analyse vom 15. August 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 128) bei der Bestimmung des Kursziels die Spekulationen um einen weiteren Anteilsausbau berücksichtigt. Eine Analyse von <em>„FOCUS Money“</em> vom 2. Oktober 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 128) nahm an, dass die Musterbeklagte zu 1 ihren Anteil massiv ausbauen werde, wenn das VW-Gesetz falle; es gebe Gerüchte, dass sie bereits Optionen habe, um auf 75 % aufstocken zu können. Auf weitere entsprechende Analysen wird auch im Folgenden eingegangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_194">194</a></dt> <dd><p>Diese und die nachgenannten Analysen lassen weiter erkennen, dass der Kapitalmarkt das Kommunikationsverhalten der Musterbeklagten zu 1 auch ausgehend von einer bereits gefassten <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> jedenfalls nicht als verwerflich ansah.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_195">195</a></dt> <dd><p>(dd) Auch im Übrigen bestand für verständige Anleger Grund zu der Annahme, die Musterbeklagte zu 1 strebe als eine Möglichkeit eine Beteiligung von 75 % bzw. 80 % und nachfolgend den Abschluss eines Beherrschungsvertrages an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_196">196</a></dt> <dd><p>(aaa) Es war bekannt, dass zur Finanzierung des Vorhabens der Musterbeklagten zu 1 u.a. die Kreditlinie von insgesamt 10 Mrd. € zur Verfügung stand (vgl. nur Bericht im Handelsblatt vom 4. März 2008, Anlage MBPor 72 a.E.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_197">197</a></dt> <dd><p>(bbb) Der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages war für die Musterbeklagte zu 1 schon zur Refinanzierung ihrer Investitionen von erheblicher Bedeutung. Analysten von Goldman Sachs Global Investment Research äußerten am 21. April 2008 die Einschätzung, der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages sei der einzige wirtschaftlich nachvollziehbare Grund, der schon das ursprüngliche Investment der Musterbeklagten zu 1 in die Musterbeklagte zu 2 rechtfertigen könne (S. 10, in Anlagenkonvolut MBPor 138). Zu der wirtschaftlichen Bedeutung eines solchen Schritts äußerten sich zuvor bereits Analysten von JPMorgan in einer Analyse vom 12. März 2008 (S. 3 f., in Anlagenkonvolut MBPor 138) und von M.M. Warburg & Co. in einer Analyse vom 10. April 2008 (S.3, in Anlagenkonvolut MBPor 138).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_198">198</a></dt> <dd><p>(ccc) Die Musterbeklagte zu 1 unternahm Anstrengungen, auch im Wege von Lobbytätigkeit eine Aufhebung u.a. der im VW-Gesetz enthaltenen Regelung zur Sperrminorität zu erreichen. Gleichfalls versuchte sie, eine Änderung der Satzung der Musterbeklagten zu 2 u.a. in diesem Punkt zu erreichen. Nachdem ein entsprechender Ergänzungsantrag zur Hauptversammlung, der Gegenstand ihrer Pressemitteilung vom 14. März 2008 (Anlage MBPor 78 = MBPor 123) war, keinen Erfolg hatte, versuchte sie, ihr Anliegen im Klagewege durchzusetzen. Diese Klage war letztlich erfolglos; ein Urteil erging allerdings erst nach dem hier streitgegenständlichen Zeitraum (LG Hannover, Urteil vom 27. November 2008 – 21 O 61/08, juris). Diese Bemühungen der Musterbeklagten zu 1 ließen es zumindest als naheliegend erscheinen, dass sie für den Fall des Erwerbs einer 75%igen Beteiligung die Voraussetzungen dafür schaffen wollte, Entscheidungen, die grundsätzlich der Regelung betreffend die Sperrminorität unterfielen, auch gegen den Willen des Landes Niedersachsen durchzusetzen, wie insbesondere den Abschluss eines Beherrschungsvertrages.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_199">199</a></dt> <dd><p>Bereits in der Pressemitteilung vom 24. März 2007 über die beabsichtigte Aufstockung auf bis zu 31 % (MBPor 65) hatte die Musterbeklagte zu 1 als einen Hintergrund für diese Aufstockung auf über 30 % den erwarteten Fall des VW-Gesetzes bezeichnet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_200">200</a></dt> <dd><p>Diese Anstrengungen der Musterbeklagten zu 1 waren verständigen Kapitalmarktteilnehmern bekannt. Sie waren Gegenstand sowohl verschiedener Pressemitteilungen der Musterbeklagten zu 1 als auch verschiedener sonstiger Presseberichte und Analysen, in denen sie teilweise ausdrücklich in einen Zusammenhang mit der Annahme gestellt wurden, die Musterbeklagte zu 1 arbeite auf den Abschluss eines Beherrschungsvertrages hin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_201">201</a></dt> <dd><p>In einem Pressebericht vom 10. März 2008 stellte die Zeitschrift Focus im Zusammenhang mit der angenommenen Absicht einer Beteiligungsaufstockung auf 75 % heraus, dass u.a. die Sperrminorität des Landes Niedersachsen die <em>„Machtpläne“</em> der Musterbeklagten zu 1 beeinträchtige, letztere aber im Kampf um das VW-Gesetz auf Hilfe aus Brüssel hoffen könne (Anlage MK 41, S. 3 f.). Die Independent Research GmbH analysierte unter dem 28. Mai 2008, die Musterbeklagte zu 1 wolle sich scheinbar vor einer weiteren Anteilsaufstockung mehr Klarheit verschaffen; <em>„sollte die Sperrminorität von 20 % doch EU-gesetzeskonform sein, hätte Porsche nicht die gewünschten unternehmerischen Entscheidungsbefugnisse bei Volkswagen“</em> (in Anlagenkonvolut MBPor 128). Das Manager Magazin analysierte am 23. Juli 2008: <em>„Das jüngst novellierte VW-Gesetz sichert dem Land mit diesem Anteil eine Sperrminorität zu, die nach dem deutschen Aktienrecht üblicherweise ein Viertel der Stimmrechte erfordert. Porsche läuft gegen dieses Sonderrecht des Landes Sturm, (...). Mit der Sperrminorität kann Niedersachsen derzeit verhindern, dass Porsche wichtige Unternehmensentscheidungen wie die Schließung eines Werks oder einen Gewinnabführungsvertrag verlangen könnte. (...)“</em> (Anlage MK 42). Ein Bericht der Wirtschaftswoche vom 12. September 2008 hatte entsprechende Bemühungen der Musterbeklagten zu 1 zum Gegenstand und zitierte den Vorsitzenden der IG-Metall dahingehend, die Musterbeklagte zu 1 wolle das VW-Gesetz kippen, um einen Beherrschungsvertrages abschließen zu können (Anlage MBPor 86). Spiegel-online berichtete am 18. September 2008 über Erwägungen der Musterbeklagten zu 1 betreffend den Abschluss eines Beherrschungsvertrages und betrachtete gerade den Umstand, dass sie sich <em>„so vehement“</em> gegen eine Novelle des VW-Gesetzes wehre, die nach wie vor eine entsprechende Regelung zur Sperrminorität enthalten sollte, als Indiz für entsprechende Absichten (Anlage MK 43). Eine Analyse des Anlegermagazins <em>„FOCUS Money“</em> vom 2. Oktober 2008 äußerte die Annahme, die Musterbeklagte zu 1 werde ihre Anteile massiv ausbauen, wenn das VW-Gesetz falle (in Anlagenkonvolut MBPor 128). In einem am 6. Oktober 2008 veröffentlichten Interview mit der FAZ (Anlage MK 45) äußerte der Vorstandsvorsitzende der Musterbeklagten zu 1 Dr. W., gemeinsam mit der EU-Kommission gegen das VW-Gesetz zu kämpfen und zu erwarten, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis es falle (weitere Berichte im Manager Magazin vom 23. Mai 2008 [Anlage MBPor 97], Analyse der SeeNews Germany vom 18. Juni 2008 [in Anlagenkonvolut MBPor 81]).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_202">202</a></dt> <dd><p>(ddd) Im Übrigen hatten verständige Anleger jedenfalls Anhaltspunkte für einen nachhaltigen Nachfrageüberhang nach Stammaktien der Musterbeklagten zu 2. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung berichtete am 18. September 2008 im Zusammenhang mit der Überlegung, ob die Musterbeklagte zu 1 einen Beherrschungsvertrag anstrebe, dass an der Börse <em>„jede freie VW-Aktie schnell einen Käufer“</em> finde (Anlage MBPor 154, Bl. 2676). Auch die von der Musterklägerin vorgetragene fundamentale Überbewertung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 spätestens seit Anfang 2008 ließ den Rückschluss auf eine damit im Zusammenhang stehende erhebliche Nachfrage als naheliegende Erklärung zu. In Zusammenschau mit den dem Markt zumindest dem Grunde nach bekannten Kurssicherungsgeschäften durch cash-gesettelte Aktienoptionen und entsprechenden physischen Hedging-Geschäften stellt dies ebenfalls ein Indiz für eine erhebliche Nachfrage zumindest auch im Zusammenhang mit Kurssicherungsgeschäften der Musterbeklagten zu 1 dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_203">203</a></dt> <dd><p>(c) Die einzelnen Mitteilungen waren entgegen der Auffassung der Musterklägerin und der Beigeladenen auch nicht deshalb unrichtig oder irreführend, weil die kommunizierten Organbeschlüsse nur zum Schein gefasst worden, die entsprechenden Schritte tatsächlich aber informell längst beschlossen gewesen wären. Soweit die Kapitalmarktinformationen Organbeschlüsse zum Gegenstand hatten, handelte es sich bei diesen nicht um <em>„vermeintliche“</em> Beschlüsse, die tatsächlich aufgrund längst informell gefasster Beschlüsse obsolet gewesen wären. Diese Auffassung verkennt den Unterschied zwischen den auf ein letztendliches Ziel gerichteten Plänen, die bereits frühzeitig gefasst worden sein mögen, und den zur Realisierung dieses Ziels notwendigen, beschlossenen und umgesetzten Zwischenschritten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_204">204</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 hatte zwar nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen die konkrete Absicht, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auf über 75 % bzw. auf über 80 % aufzustocken und einen Beherrschungsvertrag zu schließen. Diese Absicht war aber nur in Zwischenschritten zu realisieren, die auch nach dem klägerischen Vortrag gerade in zeitlicher Hinsicht von äußeren Umständen abhingen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_205">205</a></dt> <dd><p>(aa) Die Umsetzung des vorgetragenen Übernahmeplanes hing von äußeren Rahmenbedingungen ab. Diese ließen eine sofortige oder auch nur in zeitlicher Hinsicht klar festzulegende Umsetzung bis auf Weiteres nicht zu. Es war auch zu keinem Zeitpunkt sicher, dass sich dies ändern würde. Schon deshalb kann auch der Vortrag der Musterklägerin, eine Beteiligungsaufstockung auf über 75 % und der Abschluss eines Beherrschungsvertrages sei von den maßgeblich handelnden Personen als alternativlos angesehen worden, nicht dahin verstanden werden, dass die Möglichkeit, diese Zielsetzungen zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren, ausgeschlossen worden sei, was auch lebensfremd gewesen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_206">206</a></dt> <dd><p>(aaa) Die Musterklägerin trägt zwar vor, die Finanzierung einer Anteilsaufstockung auf über 75 % wäre im Jahr 2008 – bis zur Bankenkrise im Herbst des dortigen Jahres – gesichert gewesen, wenn die bestehende Kreditlinie von insgesamt 10 Mrd. € gezogen und zudem eine Anleiheemission mit einem Volumen von ca. 7 Mrd. € vorgenommen worden wäre. Im Juli 2008 habe ein Bankenkonsortium die Machbarkeit der Übernahme bestätigt und ihre Finanzierung grundsätzlich zugesagt; bereits im Dezember 2007 habe L. die Finanzierung schriftlich zugesagt (Vortrag RA T. im Verhandlungstermin am 9. April 2019; wiedergegeben in Anlage MK 135, S. 15).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_207">207</a></dt> <dd><p>Gleichzeitig trägt die Musterklägerin aber vor, dass Finanzierungskonditionen im Hinblick auf eine weitere Kreditgewährung für die Anteilsaufstockung erst bei einem sog. Kick-Off-Meeting am 22. September 2008 mit verschiedenen Banken hätten festgelegt werden sollen. Den Großteil der sich ursprünglich auf 35 Mrd. € belaufenden Kreditlinie habe die Musterbeklagte zu 1 zuvor noch zurückgegeben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_208">208</a></dt> <dd><p>(bbb) Eine solche Beteiligungsaufstockung erforderte zudem aufsichtsbehördliche und kartellrechtliche Genehmigungen. Die Genehmigungen für eine Aufstockung auf über 50 % lagen jedenfalls selbst im September 2008 noch nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_209">209</a></dt> <dd><p>(ccc) Darüber hinaus setzte insbesondere der Abschluss eines Beherrschungsvertrages eine Aufhebung oder wesentliche Änderung des VW-Gesetzes oder jedenfalls die Feststellung der Europarechtswidrigkeit der dort geregelten Sperrminorität oder eine – nicht abzusehende – Änderung der Haltung des Landes Niedersachsen hierzu voraus. Der europäische Gerichtshof erklärte zwar in einem Urteil vom 23. Oktober 2007 das Zusammenspiel des damals geltenden 20%igen Höchststimmrechts und der 20%igen Sperrminorität für europarechtswidrig (Urteil vom 23. Oktober 2007 – C-112/05, juris). Umstritten war in der Folgezeit aber, ob die Regelung betreffend die Sperrminorität auch für sich genommen gegen Europarecht verstieß. Nach dem in Reaktion auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs eingebrachten Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 25. September 2008 (BT-Drs. 16/10389) sollte die 20%ige Sperrminorität weiter gelten. Dies war bereits Gegenstand der am 16. Januar 2008 vorgestellten Eckpunkte des Bundesjustizministeriums für die Gesetzesnovelle (vgl. Anlage MB VW 6).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_210">210</a></dt> <dd><p>Selbst wenn die maßgeblichen Personen nach dem Vortrag der Musterklägerin davon ausgegangen sein mögen, dass diese Regelung – auch unter Berücksichtigung eines möglichen weiteren Vertragsverletzungsverfahrens – nicht zu halten sein werde, ist ihr Vortrag nicht dahin zu verstehen, dass deren Absicht dahin gegangen wäre, eine entsprechende Beteiligungsaufstockung ohne Wenn und Aber ohne Berücksichtigung dieser äußeren Rahmenbedingungen vorzunehmen, oder dass sie gar unter Verkennung dieser Rahmenbedingungen in jedem Fall angenommen hätten, einen Beherrschungsvertrag abschließen zu können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_211">211</a></dt> <dd><p>Noch weitergehender formulieren die E.-Beigeladenen etwa im Schriftsatz vom 4. Oktober 2021 (S. 3), die für die Musterbeklagte zu 1 handelnden Personen seien nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs davon ausgegangen, dass sowohl die im VW-Gesetz als auch die in der Satzung der Musterbeklagten zu 2 enthaltenen Regelungen zur Sperrminorität bereits <em>„unmittelbar“</em> nicht anwendbar seien. Auch dieser Vortrag ist aber nur dahin zu verstehen, dass es sich hierbei um den von der Musterbeklagten zu 1 vertretenen Rechtsstandpunkt gehandelt habe. Schon aus dem von den E.-Beigeladenen dort in Bezug genommenen weiteren Vortrag der Musterklägerin ergibt sich, dass der Musterbeklagten zu 1 bekannt war, dass dieser Standpunkt u.a. von der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Niedersachsen nicht geteilt wurde. Deutlich wird diese – auch nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen – von der Musterbeklagten zu 1 berücksichtigte Unsicherheit auch aus dem weiteren Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen: Zur Durchsetzung der <em>„fundamentalen These der vollständigen Europarechtswidrigkeit“</em> und zur Umsetzung im Rahmen der Novellierung des VW-Gesetzes habe die Musterbeklagte zu 1 <em>„an allen Fronten“</em> gekämpft; der Widerstand Niedersachsens habe <em>„gebrochen“</em> werden sollen (Vortrag RA B. im Verhandlungstermin am 25. Juni 2019; wiedergegeben in Anlage MK 138, S. 15, 17). Der anwaltliche Berater Dr. B. habe der Musterbeklagten zu 1 zu Alternativplanungen für den Fall geraten, dass sie nicht die erforderliche Mehrheit erlangen könne (E-Mail vom 28. Februar 2008, zitiert im Vortrag von RA B. im Verhandlungstermin am 25. Juni 2019; wiedergegeben in Anlage MK 138, S. 16).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_212">212</a></dt> <dd><p>(bb) Hätte die Musterbeklagte zu 1 trotz dieser Abhängigkeit der Umsetzung der behaupteten Übernahmeabsicht von äußeren Umständen kommuniziert, dass sie <em>„in jedem Fall“</em> einen Beherrschungsvertrag mit der Musterbeklagten zu 2 abschließen werde, wäre gerade dies grob unrichtig und irreführend gewesen, weil es den Eindruck erweckt hätte, dass sie hierzu unabhängig von der weiteren Entwicklung der wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen in der Lage sein werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_213">213</a></dt> <dd><p>(cc) Die Musterbeklagte zu 1 hatte sich auch nicht informell dahingehend festgelegt, <em>in jedem Fall</em> – also ohne Wenn und Aber und unabhängig von der Entwicklung äußerer Rahmenbedingungen und in einem zeitlich klar abgesteckten Rahmen – ihre Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auf über 75 % aufzustocken und einen Beherrschungsvertrag abzuschließen. Auch nach dem Vortrag der Musterklägerin hat sie eine derartige Absicht nicht gefasst, die letztlich wirtschaftlich unsinnig gewesen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_214">214</a></dt> <dd><p>Der von der Musterklägerin regelmäßig verwandte Begriff der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> ist ausfüllungsbedürftig und wird von der Musterklägerin auch teilweise durch die Formulierung des Feststellungsziels II.1. und im Übrigen insbesondere in der Begründung der Musterklage ausgefüllt. Sie versteht den Begriff der Absicht als zielgerichtetes Streben der Vorstände der Musterbeklagten zu 1, die durch Festlegungen des Gesellschafterausschusses gebunden gewesen seien, ohne dass dies zwingend einen förmlichen Beschluss vorausgesetzt hätte. Die Beherrschungsabsicht sei demgemäß das zielgerichtete Streben nach dem Abschluss eines Beherrschungsvertrags und einer Aufstockung der Beteiligung auf über 75 %. Diese Absicht habe, so die Musterklägerin, bereits seit dem 15. Juli 2005, spätestens aber Anfang März 2008 vorgelegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_215">215</a></dt> <dd><p>Dabei differenziert die Musterklägerin selbst zutreffend zwischen der auf das letztendliche Ziel des Abschlusses eines Beherrschungsvertrags gerichteten Absicht und der Umsetzung in einzelnen Zwischenschritten, indem sie den Begriff der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> in der Musterklagebegründung dahin definiert, dass er kumulativ sowohl die Übernahmeabsicht als auch den Beginn der konkreten Umsetzung der Anteilsaufstockung umfasst. Eine darüber hinausgehende Festlegung auf die Erreichung dieses Ziels zu einem bestimmten Zeitpunkt oder auch nur darauf, dieses Ziel auf jeden Fall ohne Rücksicht auf mögliche entgegenstehende Umstände zu erreichen, haben die Musterklägerin und die Beigeladenen demgegenüber nicht behauptet, auch wenn einzelner Tatsachenvortrag für sich genommen in diese Richtung gehend verstanden werden könnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_216">216</a></dt> <dd><p>Auch die beigeladene H. GmbH versteht die behauptete konkrete Beherrschungsabsicht als <em>„Agenda“</em>, welche bestimmte Zwischenstufen vorsehe, und unter anderem auch verschiedene gesondert zu treffende Gremienentscheidungen zur Anteilsaufstockung und die Umsetzung dieser Entscheidungen erfordere; sie differenziert damit wie die Musterklägerin zwischen der auf das letztendliche Ziel gerichteten Beherrschungsabsicht und notwendigen Zwischenschritten, die – wie insbesondere einzelne Anteilsaufstockungen – jeweils gesonderte Entscheidung des Vorstands und Aufsichtsrats erfordern. Auch die sog. E.-Beigeladenen heben die Abhängigkeit der Umsetzung der Beherrschungsabsicht etwa in ihrem Schriftsatz vom 28. April 2022 (Rn. 17 ff.) hervor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_217">217</a></dt> <dd><p>Im Einzelnen ergibt sich aus folgenden Gesichtspunkten, dass bereits nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen nicht von einer Festlegung der Musterbeklagten zu 1 auf den Abschluss eines Beherrschungsvertrags auf jeden Fall und ohne Rücksicht auf mögliche entgegenstehende Umstände auszugehen ist:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_218">218</a></dt> <dd><p>(aaa) Die Musterklägerin trägt vor, bereits auf einer Sitzung des Gesellschafterausschusses am 15. Juli 2005 hätten die Gesellschafter auf der Basis einer umfangreichen Stellungnahme von L. und F. verschiedene Beteiligungsszenarien diskutiert und eine <em>„Gesamtübernahme“</em> der Musterbeklagten zu 2 befürwortet. Hierdurch hätten sie den Organen der Musterbeklagten zu 1 verbindlich die Zielsetzungen für einen Erwerb von (damals) mehr als 80 % der Stammaktien vorgegeben. Diesen Beschluss bezeichnet die Musterklägerin verschiedentlich als Grundsatzentscheidung oder Grundsatzbeschluss. Hierdurch wurde aber nur das letztendliche Ziel definiert, ohne festzulegen, wie, wann, mit welchen Zwischenschritten und in welchen Abhängigkeiten von äußeren Rahmenbedingungen es erreicht werden sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_219">219</a></dt> <dd><p>Am 7. und 12. März 2007 hätten die Familienaktionäre beschlossen, die 30 %-Schwelle zu überschreiten und mittel- bis langfristig eine Mehrheit von mehr als 50 % anzustreben; selbst einen Erwerb von 100 % der Anteile hätten sie nicht ausgeschlossen. Dies verdeutlicht eine jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt noch bestehende Offenheit hinsichtlich des letztlich zu realisierenden Beteiligungsziels und insbesondere hinsichtlich der konkreten Umsetzung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_220">220</a></dt> <dd><p>Am 11. Februar 2008 habe der Gesellschafterausschuss verschiedene Beteiligungsszenarien diskutiert und anschließend klargestellt, dass allein der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages die bereits getätigten Investitionen rechtfertigen und die beschlossenen Ziele realisieren könne. Konkrete Schritte wurden auch hier aber nicht beschlossen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_221">221</a></dt> <dd><p>Noch am 2. Juli 2008 seien bei einem Familientreffen Chancen und Risiken verschiedener dargestellter Szenarien diskutiert worden und es sei den Vorständen eine Freigabe für <em>„alle dargestellten Handlungsoptionen, d. h. insbesondere auch hinsichtlich eines Überschreitens der 75 %-Beteiligungsschwelle und der Verfolgung eines Beherrschungsvertrages“</em> erteilt worden. Anschließend habe ein detaillierter Arbeitsplan für die weitere Aufstockung der Beteiligung erstellt werden sollen. Auch hier gab es mithin keine konkreteren Festlegungen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_222">222</a></dt> <dd><p>Am 18. Juli 2008 habe der Gesellschafterausschuss förmlich beschlossen, dass der Aufsichtsrat den Vorstand der Musterbeklagten zu 1 ermächtigen solle, die Beteiligung auf über 75 % hinaus zu erhöhen und die notwendigen Finanzierungsmaßnahmen zu ergreifen, was entsprechend am 23. Juli 2008 erfolgte. Auch hier wurde nur das letztendliche Ziel gebilligt bzw. festgelegt oder bestätigt, ohne aber konkrete Schritte zu dessen Verwirklichung zu beschließen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der behaupteten Zusage von Prof. Dr. P., als Leiter der Hauptversammlung der Musterbeklagten zu 2 bei einer Abstimmung über einen Beherrschungsvertrag von einem Quorum von 75 % auszugehen. Eine solche Abstimmung lag ohnehin noch in ferner Zukunft; sie setzte zumindest den vorherigen Erwerb einer Beteiligung von 75 % voraus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_223">223</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin trägt weiter vor, es seien anschließend am 25. August 2008 mit Anwälten der Kanzlei F. pp. weitere Schritte zum Abschluss eines Beherrschungsvertrages erörtert worden. Dabei geht auch die Musterklägerin nicht davon aus, dass der Zeitpunkt einer abschließenden Umsetzung der Beherrschungsabsicht für die maßgeblich beteiligten Personen festgestanden hätte. Vielmehr sei etwa in dem Projekt <em>„Alternative Blitz“</em> im August/September 2008 erwogen worden, das Beteiligungsziel von 75 % blitzartig bereits im November 2008 zu erreichen, ohne dieses Projekt abschließend weiterzuverfolgen. Die sog. Pfinztalrunde habe einen weniger ambitionierten Zeitplan verfolgt. Die Überlegungen der Musterbeklagten zu 1 hätten sich auch auf einen Abschluss des angestrebten Beteiligungsaufbaus im 1. Halbjahr 2009 und – bedingt durch Finanzierungsschwierigkeiten – später auf einen Abschluss im 2. Halbjahr 2009 bezogen. Die Liquiditätsplanung der Musterbeklagten zu 1 sei zumindest Mitte des Jahres 2008 vom Zustandekommen eines Beherrschungsvertrages im Geschäftsjahr 2009/2010 ausgegangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_224">224</a></dt> <dd><p>(bbb) Nach der Behauptung der Musterklägerin sollen Beschlüsse der Gremien der Musterbeklagten zu 1 zwar nicht notwendig schriftlich getroffen worden sein. Selbst wenn der Gesellschafterausschuss aber mündlich weitergehende Entscheidungen getroffen hätte – die die Musterklägerin und die Beigeladenen jedoch schon nicht näher darlegen –, hätten diese ersichtlich nicht zu einer Bindung der Organe der Musterbeklagten zu 1 geführt, die Beteiligung <em>unabhängig</em> von der weiteren Entwicklung auf 75 % oder 80 % aufzustocken.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_225">225</a></dt> <dd><p>Soweit nach der Behauptung u.a. der Musterklägerin Entscheidungen des Gesellschafterausschusses den Vorstand faktisch gebunden haben sollen – eine rechtliche Bindung existierte ersichtlich nicht –, konnte diese Bindung schon angesichts der dargestellten Unwägbarkeiten hinsichtlich des Vorliegens der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Umsetzung des Vorhabens und dessen zeitlichen Fortgangs naheliegend allenfalls dahingehend bestanden haben, mit allen Kräften das Ziel einer Beteiligungsaufstockung auf über 75 % und des Abschlusses eines Beherrschungsvertrages zu erreichen und etwaige Widerstände auf dem Weg dorthin zu überwinden, nicht aber, dieses Ziel auch tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt oder auch nur überhaupt auf jeden Fall zu erreichen. Entsprechend bezieht sich die Musterklägerin in diesem Zusammenhang auch auf ein Schreiben der damaligen Vorstände der Musterbeklagten zu 1 vom 7. Oktober 2008 an Dr. W. Po. (Musterklagebegründung Rn. 609), in dem diese ausführten, Gesellschafter, Aufsichtsrat und Vorstand seien sich einig, so schnell wie möglich einen Beherrschungsvertrag erreichen zu müssen. Dazu seien verschiedene Wege diskutiert und beschrieben worden, hier seien sie bereits unterwegs. Eine konkretere Festlegung war hiernach auch zu diesem verhältnismäßig späten Zeitpunkt noch nicht erfolgt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_226">226</a></dt> <dd><p>Auch der von der Musterklägerin behauptete spätestens am 3. März 2008 mündlich gefasste und nicht dokumentierte Beschluss des Vorstands der Musterbeklagten zu 1, die Beteiligung auf über 75 % aufzustocken und einen Beherrschungsvertrag abzuschließen, hätte ersichtlich keinen weitergehenden Inhalt als die vorstehend dargestellte Festlegung dieses Ziels gehabt. Insbesondere ist dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen nicht zu entnehmen, dass der behauptete mündliche Beschluss des Vorstands konkretere Einzelheiten zur Art und zum Zeitpunkt der Umsetzung oder gar eine Bindung dahingehend beinhaltet hätte, die <em>„Beherrschungsabsicht“</em> unbedingt ohne Rücksicht auf möglicherweise entgegenstehende Umstände durchzusetzen. Nichts Anderes ergibt sich vor dem Hintergrund, dass der Vorstand dem Gesellschafterausschuss am 18. Juli 2008 erläutert habe, die Liquiditätsplanung gehe von einem Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages im Jahr 2010 aus. Auch dies bestätigt lediglich entsprechende Planungen, nicht aber eine bindende Festlegung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_227">227</a></dt> <dd><p>Dass die Musterbeklagte zu 1 nach der Behauptung der Musterklägerin keine konkreten Alternativplanungen zu dem Szenario des letztlichen Abschlusses eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages hatte – minimalistische Alternativplanungen seien lediglich aus Gründen rechtlicher Vorsicht erfolgt –, zeigt allenfalls, wie auch beispielsweise im Schriftsatz vom 30. August 2019 (Seite 6) formuliert, dass die Musterbeklagte zu 1 dieses Ziel verfolgte, nicht aber, dass Alternativen unabhängig von äußeren Umständen vollständig ausgeschlossen gewesen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_228">228</a></dt> <dd><p>Im Übrigen hatte der rechtliche Berater der Musterbeklagten zu 1 Dr. B. in einer E-Mail vom 28. Februar 2008 empfohlen, <em>„vorsorglich auch Planungen durchzuführen, wie die Beteiligung zu führen sei, wenn wir nicht die für einen Beherrschungsvertrag erforderliche Mehrheit erreichen“</em> (Vortrag RA T., Stenografisches Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 8. April 2019 [Anlage MK 134], S. 40; Vortrag RA B., Stenografisches Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25. Juni 2019 [Anlage MK 138] S. 16). Auch dies zeigt, dass die Musterbeklagte zu 1 auch nach dem Vortrag der Musterklägerin die Abhängigkeit der behaupteten Zielsetzung von äußeren Rahmenbedingungen gesehen hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_229">229</a></dt> <dd><p>(ccc) Die Musterklägerin und die Beigeladenen tragen weiter vor, die Beherrschungsabsicht habe sich dadurch konkretisiert, dass die Musterbeklagte zu 1 spätestens Anfang März 2008 damit begonnen habe, die physische und synthetische Beteiligung auf über 75 % auszubauen. Am 4. März 2008 habe sich der kumulierte Bestand von Aktien und Optionspositionen bereits auf gut 61 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 belaufen; die Optionsstrategien hätten eine Aufstockung auf bis zu 81,5 % zum Ziel gehabt. Hiermit seien erhebliche Investitionen verbunden gewesen, die nur im Hinblick auf die Refinanzierung durch den angestrebten Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag wirtschaftlich vertretbar gewesen seien. Zudem hätten die Optionspositionen eine derartige Größe erreicht, dass eine Auflösung dieser Positionen nicht mehr ohne erhebliche Verluste möglich gewesen wäre. Aufgrund der Größe der Optionspositionen habe schon faktisch keine Alternative zum weiteren Beteiligungsaufbau und zum Abschluss eines Beherrschungsvertrages bestanden. Deshalb und weil das mit der Kursentwicklung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 zusammenhängende wirtschaftliche Risiko bereits mit dem Aufbau der Optionen aufgrund der synthetischen Nachbildung der Aktie vollständig begründet worden sei, habe die Übernahmestrategie keine Optionalität aufgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_230">230</a></dt> <dd><p>Auch dieser Vortrag lässt eine wesentliche weitere Konkretisierung des Vorstandswillens der Musterbeklagten zu 1 nicht erkennen. Der Aufbau der Optionsstrategien, die die weitere Beteiligungsaufstockungen wirtschaftlich absichern sollten, lässt nicht darauf schließen, dass die Organe der Musterbeklagten zu 1 über die vorstehend genannten Beschlüsse des Gesellschafterausschusses hinaus gebunden und zwingend auf eine – auch zeitlich konkrete – weitere Beteiligungsaufstockung festgelegt gewesen wären. Zwar lassen die von der Musterklägerin umfangreich dargelegten – teilweise bestrittenen – wirtschaftlichen Konsequenzen der Optionsstrategien erkennen, dass nach diesem Vortrag zumindest ab März 2008 das Ziel einer Aufstockung der Beteiligung auf über 75 % – und nachfolgend der Abschluss eines Beherrschungsvertrages – (auch) für den Vorstand der Musterbeklagten zu 1 Priorität gegenüber anderen Beteiligungsszenarien gehabt und sich der Vorstand gerade auch durch diese Optionsstrategien und deren wirtschaftliche Folgen auf dieses letztendliche Ziel ausgerichtet hätte. Hiervon zu trennen war aber die Frage, wie sich dieses Ziel konkret erreichen ließe. Insbesondere lag für die Musterbeklagte zu 1 offen zu Tage, dass sie ohne Änderung des VW-Gesetzes oder eine Mithilfe des Landes Niedersachsen keinen Beherrschungsvertrag erreichen konnte (dazu näher Rn. 209). Beide Voraussetzungen waren zumindest ungewiss und, wie sich später zeigte, tatsächlich nicht gegeben. Es mag sein, dass – wie die Musterklägerin behauptet – eine Aufgabe der Übernahmepläne aufgrund der Optionspositionen mit gravierenden wirtschaftlichen Nachteilen für die Musterbeklagte zu 1 verbunden gewesen wäre. Ausgeschlossen war etwa eine marktschonende Auflösung der Optionen oder eine Übertragung auf einen dritten Investor aber nicht, wie – ex post – die weitere Entwicklung im Jahre 2009 zeigte. Dass die Musterbeklagte zu 1 insoweit nach der Behauptung der Musterklägerin keine konkreten Alternativplanungen vorgenommen hatte, lässt nicht darauf schließen, dass sie davon ausgegangen wäre, die durch die Optionsgeschäfte gesicherten Aktien zwingend abnehmen zu müssen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_231">231</a></dt> <dd><p>(ddd) Der Umstand, dass der Vorstand jeweils die Optionsstrategien abschloss und mit deren Aufbau begann, bevor Aufsichtsrat und Vorstand entsprechende Beteiligungsaufstockungen beschlossen hatten, lässt entgegen der Auffassung der Musterklägerin aus den vorgenannten Gründen ebenso wenig darauf schließen, dass dem Optionsaufbau korrespondierende Beteiligungsaufstockungen jeweils bereits frühzeitiger – informell – bindend beschlossen worden wären. Vielmehr dienten die Optionsstrategien gerade der frühzeitigen wirtschaftlichen Sicherung eines Aktienkursniveaus, das bei fortschreitender Umsetzung der Übernahmepläne absehbar gestiegen wäre. Trotz der erheblichen wirtschaftlichen Konsequenzen waren sie nicht mit einem tatsächlichen Anteilserwerb gleichzusetzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_232">232</a></dt> <dd><p>(eee) Gleiches gilt für den Erwerb von Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2 durch die Musterbeklagte zu 1 bzw. insbesondere die Eingehung von Optionsgeschäften, denen diese Vorzugsaktien als Basiswert zugrunde lagen. Diese Geschäfte hatten nach dem Vortrag der Musterklägerin zwar den Zweck, spätere im Falle eines Abschlusses eines Beherrschungsvertrages zu leistende Abfindungen abzusichern. Sie stellten eine der Vorbereitungsmaßnahmen dar, um eine Beteiligungserhöhung auf 75 % (bzw. 80 %) und den Abschluss eines Beherrschungsvertrages zu erreichen. Auch unter Berücksichtigung dieser Geschäfte wären entsprechende Entscheidungen der Musterbeklagten zu 1 aber nicht als unbedingte Festlegung dahingehend zu verstehen, diese Absicht in jedem Fall umzusetzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_233">233</a></dt> <dd><p>(fff) Die Musterklägerin behauptet zwar, die Musterbeklagte zu 1 sei spätestens im März 2008 davon ausgegangen, sämtliche (vermeintlichen) Hindernisse aus dem Weg räumen zu können, sie habe insbesondere die durch das VW-Gesetz und die Satzung der Musterbeklagten zu 2 begründete Sperrminorität nicht als dauerhaftes Hindernis angesehen. Auch damit legten die Organe der Musterbeklagten zu 1 ihren Planungen zwar eine solche Prognose zugrunde, sich aber nicht frühzeitig darauf fest, die Beteiligungsaufstockung ohne Berücksichtigung der äußeren Rahmenbedingungen vorzunehmen. Die Musterklägerin führt in anderem Zusammenhang – bezogen auf die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 – selbst aus, es sei eine Selbstverständlichkeit, dass ein Beteiligungsaufbau von stimmigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhänge.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_234">234</a></dt> <dd><p>Die weitere Behauptung, die Musterbeklagte zu 1 habe ihren Plan auch gegen alle Widerstände und rechtliche Restriktionen umsetzen wollen, ist zu pauschal, um hieraus die tatsächlich fernliegende Annahme folgern zu können, die Organe der Musterbeklagten zu 1 hätten beispielsweise die Pläne einer Anteilsaufstockung auf über 75 % auch dann weiterverfolgt, wenn endgültig festgestanden hätte, dass aufsichtsbehördliche oder kartellrechtliche Genehmigungen nicht erteilt worden wären oder die im VW-Gesetz und der Satzung der Musterbeklagten zu 2 begründete Sperrminorität auch europarechtlich Bestand gehabt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_235">235</a></dt> <dd><p>(ggg) Eine frühzeitige Festlegung der Musterbeklagten zu 1 auf eine erheblich über 50 % hinausgehende Beteiligung lässt sich entgegen der Auffassung der Musterklägerin nach den vorstehenden Erwägungen auch nicht dem behaupteten Umstand entnehmen, der Vorstand habe in der Aufsichtsratssitzung am 3. März 2008 auf Nachfrage ausgeführt, die zu beschließende Erhöhung auf über 50 % umfasse grundsätzlich auch eine vollständige Übernahme; <em>„heute“</em> werde aber nur über eine Erhöhung auf 50,1 % bis 74,9 % abgestimmt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_236">236</a></dt> <dd><p>f) Eine Ersatzpflicht der Musterbeklagten zu 1 aus § 826 BGB besteht auch nicht wegen eines <span style="text-decoration:underline">Unterlassens</span> im Zeitraum vom 3. März bis vor dem 26. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_237">237</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin wirft der Musterbeklagten zu 1 vor, verschiedene Umstände, die sie unter dem Begriff der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> zusammenfasst, nicht unverzüglich u.a. nach § 15 Abs. 1 WpHG veröffentlicht zu haben, insbesondere die Absicht der Vorstände Dr. W. und H., die Beteiligung der Musterbeklagten zu 1 an der Musterbeklagten zu 2 auf 75 % aufzustocken und einen Beherrschungsvertrag abzuschließen. Sie wirft ihr ferner die unterlassene Mitteilung vor, konkrete Maßnahmen hierfür eingeleitet zu haben, insbesondere am 20. Februar 2008 die Kreditlinie in Höhe von 10 Mrd. € gezogen zu haben, um sie für den weiteren Beteiligungsaufbau zu verwenden, sowie am 4. März 2008 die Optionsstrategien VII und VIII abgeschlossen und in der Folgezeit den Optionsbestand aufgebaut zu haben. Auch dieses von der Musterklägerin beanstandete Unterlassen erfüllte nicht den Tatbestand einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung im Sinn des § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_238">238</a></dt> <dd><p>Allgemein verletzt ein Unterlassen die guten Sitten nur dann, wenn das geforderte Tun einem sittlichen Gebot entspricht. Hierfür reicht die Nichterfüllung einer allgemeinen Rechtspflicht oder einer vertraglichen Pflicht nicht aus. Es müssen vielmehr besondere Umstände hinzutreten, die das Unterlassen – entsprechend den vorgenannten allgemeinen Grundsätzen – wegen seines Zwecks oder wegen des angewandten Mittels oder mit Rücksicht auf die dabei gezeigte Gesinnung nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und des als <em>„anständig“</em> Geltenden verwerflich machen (BGH, Urteil vom 20. Juli 2017 – IX ZR 310/14, juris Rn. 16; Urteil vom 28. Juni 2016 – VI ZR 536/15, juris Rn. 16; Urteil vom 20. November 2012 – VI ZR 268/11, juris Rn. 25 m.w.N.; OLG München, Urteil vom 18. Mai 2011 – 20 U 4879/10, juris Rn. 65). Stets bedarf es dabei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 28).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_239">239</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 traf auch unter Zugrundelegung des Vortrags der Musterklägerin und der Beigeladenen keine Handlungspflicht, die unter dem Begriff der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> zusammengefassten Umstände im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen oder sonst bekannt zu machen, aufgrund derer Verletzung die Schädigung gerade der Musterklägerin und der Beigeladenen als sittenwidrig zu bewerten wäre. Eine solche Handlungspflicht ergab sich weder aus §§ 21 f. WpHG noch auch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbesondere nicht aus Ingerenz oder Treu und Glauben. Soweit Mitteilungspflichten aus § 15 WpHG oder § 15a WpHG in Betracht kamen, war ihr Bestehen fraglich. Sie waren zumindest nicht offensichtlich. Bereits dies spricht dagegen, eine etwaige Verletzung dieser Pflichten als verwerflich einzuordnen. Schäden aufgrund von Transaktionen von Aktien der Musterbeklagten zu 2 oder hierauf bezogenen Optionen fielen zudem bereits nicht in den Schutzbereich etwaiger die Musterbeklagte zu 1 treffender Publizitätspflichten. Jedenfalls war der Umstand, dass die Musterbeklagte zu 1 ihre <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> nicht näher offenlegte, bei einer Gesamtbetrachtung nicht geeignet, ihr Handeln als sittenwidrig erscheinen zu lassen. Im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_240">240</a></dt> <dd><p>aa) Die Musterbeklagte zu 1 teilte das Überschreiten der Meldeschwellen nach §§ 21 f. WpHG unter Berücksichtigung des tatsächlichen Aktienbestandes jeweils zutreffend mit. Dass sie dabei die sog. synthetische Beteiligung aufgrund der cash-gesettelten Optionen unberücksichtigt ließ, war rechtlich nicht zu beanstanden und auch nicht nach sittlichen Maßstäben für sich genommen und in der Gesamtschau mit weiteren Umständen verwerflich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_241">241</a></dt> <dd><p>(1) Eine Mitteilungspflicht gem. §§ 21, 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 25 WpHG bestand im Jahr 2008 für die auf Barausgleich gerichteten Optionsgeschäfte in Deutschland nicht (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015 – 2 U 102/14, juris Rn. 191 ff.; LG Stuttgart, Urteil vom 17. März 2014 – 28 O 183/13, juris Rn. 148 m. w. N.; Cascante/Topf, AG 2009, 53, 62; vgl. auch die Gesetzesbegründung der Bundesregierung zur Neuregelung in § 25a WpHG, BT-Drs. 17/3628, S. 1, 17, 19).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_242">242</a></dt> <dd><p>Erst mit der Einführung des § 25a WpHG durch das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz zum 1. Februar 2012 sind Derivate mit Barausgleich von den Mitteilungspflichten nach §§ 21 ff. WpHG erfasst worden. Bis dahin waren bei Call-Optionen die unterlegten Aktien nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WpHG dem Investor nur dann zuzurechnen, wenn er bei Ausübung der Option nicht nur einseitig den Kaufvertrag über den Erwerb der Aktien, sondern zugleich die Übereignung bewirken konnte. Dazu musste der Verkäufer im Optionsvertrag die dingliche Übertragungserklärung bereits verbindlich und unwiderruflich abgegeben haben. Erhielt der Investor bei der Optionsausübung lediglich einen schuldrechtlichen Anspruch auf Lieferung der Aktien, wurden ihm die Basiswerte nicht zugerechnet (Cascante/Topf, AG 2009, 53, 62; Baums/Sauter, ZHR 173 [2009], 454, 463 ff., 469 f., 473 Fn. 66; Meyer/Kiesewetter, WM 2009, 340, 345 ff.; B. in: Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl., § 22 Rn. 108, 147; Pressemitteilung der BaFin vom 21. August 2008 [Anlage MBPor 110]).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_243">243</a></dt> <dd><p>Soweit die Musterklägerin der Ansicht ist, dass die Optionsstrategien einen endgültigen, verpflichtenden und keineswegs bloß optionalen Charakter gehabt hätten, da ihr wirtschaftliches Resultat einem Forward- bzw. Termingeschäft entsprochen habe, ist dies für die Mitteilungspflicht nach §§ 21 ff. WpHG unbeachtlich. Dass die M. Bank als Verkäuferin der Put-Optionen eine dingliche Übertragungserklärung unwiderruflich abgegeben hätte, behauptet auch die Musterklägerin nicht. Sie macht vielmehr nur geltend, dass die Kombination von Kauf- und Verkaufsoptionen dem tatsächlichen (<em>„physischen“</em>) Erwerb der entsprechenden Aktien (sog. <em>„synthetische Beteiligung“</em>) wirtschaftlich entsprochen habe. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Musterklägerin als Anlage MK 32 vorgelegten Stellungnahme des Privatgutachters P. vom 29. Januar 2016, der unter 2.2.3 gleichfalls nicht von einem tatsächlichen Erwerb der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 ausgeht. Eine Anwendung von § 21 Abs. 1 WpHG entgegen dem klaren Wortlaut auf lediglich cash-gesettelte Optionen ist selbst dann nicht gerechtfertigt, wenn innerhalb einer Hedging-Kette zur Absicherung physische Aktien gehalten werden und ein faktischer, wirtschaftlicher Zwang bestehen mag, diese bei Auflösung der Optionen zu erwerben (vgl. gegen eine analoge Anwendung auch Baums/Sauter, ZHR 173 [2009], 454, 463 ff., 469 f., 473 Fn. 66; Meyer/Kiesewetter, WM 2009, 340, 345 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_244">244</a></dt> <dd><p>Auf die rechtsvergleichenden Überlegungen der Musterklägerin kommt es nicht an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_245">245</a></dt> <dd><p>(2) Dass die Musterbeklagte zu 1 die auf Barausgleich gerichteten Optionen möglicherweise einsetzte, um Meldepflichten nach §§ 21, 25 WpHG zu vermeiden, war auch nicht sonst verwerflich im Sinn des § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_246">246</a></dt> <dd><p>Der Gesetzgeber hat diese Meldepflichten gezielt u.a. mithilfe kasuistisch geregelter Einzeltatbestände eingegrenzt (näher: Baums/Sauter a.a.O., 470). Diese bewusste gesetzgeberische Entscheidung ist auch bei der Beurteilung der Verwerflichkeit eines diese Lückenhaftigkeit ausnutzenden Verhaltens zu berücksichtigen und steht einer maßgeblichen Berücksichtigung dieses Umstandes entgegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_247">247</a></dt> <dd><p>Der Einsatz der auf Barausgleich gerichteten Kaufoptionen ermöglichte es im Übrigen zwar unter Umständen, nicht nur Aktienkurse für den weiteren Beteiligungsaufbau, sondern nach dem Vortrag der Musterklägerin auch den tatsächlichen Zugriff auf entsprechende Aktienbestände zu sichern, die meldepflichtig gewesen wären, wenn die Optionen auf die Lieferung physischer Aktien gerichtet gewesen wären. Auch insoweit gilt aber, dass nach der gesetzlichen Regelung eine Mitteilungspflicht gerade nicht bestand.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_248">248</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus hatte die Musterbeklagte zu 1 dem Kapitalmarkt bereits mitgeteilt, den zukünftigen Beteiligungsaufbau durch solche auf Barausgleich gerichteten Optionen abgesichert zu haben (vgl. u.a. Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr 2006/2007, S. 167 [Anlage MBPor 106], dazu näher Rn. 474 ff.), was auch Gegenstand der Presseberichterstattung war (Zitate im Einzelnen unter Rn. 478).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_249">249</a></dt> <dd><p>Dem verständigen Kapitalmarktteilnehmer war bekannt, dass diese auf Barausgleich gerichteten Optionen damals nicht den Meldepflichten unterlagen und damit geeignet waren, gerade ohne Auslösung solcher Meldepflichten einen Beteiligungsaufbau vorzubereiten (vgl. nur die ausführliche Analyse der Main Bank AG vom 1. Oktober 2007, S. 7 ff. <em>„Cash settled options are so handy“</em>, in Anlagenkonvolut MBPor 111). Er musste deshalb davon ausgehen, dass die Summe des physischen Aktienbestandes sowie der eine Beteiligungserhöhung absichernden Aktienoptionen – gegebenenfalls auch die Höhe einer sog. synthetischen Beteiligung – Meldeschwellen überschritt, ohne Meldepflichten auszulösen. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten war es nämlich naheliegend, dass die Musterbeklagte zu 1 zum Zeitpunkt der Ankündigung einer Beteiligungserhöhung auf über 50 % diesen angekündigten Anteilserwerb durch Aktienoptionen wirtschaftlich abgesichert hatte. Entsprechende Mitteilungen nach §§ 21 ff. WpHG waren aber nicht erfolgt. Die Musterbeklagte zu 1 hatte den Kapitalmarkt damit nicht im Unklaren darüber gelassen, dass Beteiligungserhöhungen auch über die Meldeschwellen des § 21 WpHG hinaus abgesichert gewesen sein konnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_250">250</a></dt> <dd><p>Damit war die Vorgehensweise der Musterbeklagten zu 1 allgemein erkennbar, selbst wenn der genaue Optionsbestand unbekannt blieb. Aus der Sicht des verständigen Kapitalmarktteilnehmers war dies nicht verwerflich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_251">251</a></dt> <dd><p>bb) Eine Verletzung von Publizitätspflichten nach § 15 WpHG, indem die Musterbeklagte zu 1 ihre Beteiligungsziele und die Maßnahmen, um diese zu erreichen, nicht weitergehend (ad hoc) mitteilte, wäre schon im Ausgangspunkt nicht geeignet, die geltend gemachte Haftung aus § 826 BGB zu begründen, weil entsprechende Schäden nicht vom Schutzzweck dieser gesetzlichen Regelung umfasst waren. Unabhängig davon waren entsprechende mögliche Pflichtverletzungen zumindest nicht geeignet, das Verhalten der Musterbeklagten zu 1 als verwerflich erscheinen zu lassen. Soweit entsprechende Publizitätspflichten überhaupt bestanden haben könnten, waren sie jedenfalls nicht offensichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_252">252</a></dt> <dd><p>(1) Eine Verletzung von aus § 15 WpHG folgenden Handlungspflichten wäre schon unter dem Gesichtspunkt des Schutzzwecks der Norm nicht geeignet, die geltend gemachten Ersatzansprüche aufgrund fehlgeschlagener Investitionen in Aktien der Musterbeklagten zu 2 oder in hierauf bezogene Optionen zu begründen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_253">253</a></dt> <dd><p>(a) Die Haftung aus § 826 BGB ist auf solche Schäden begrenzt, die typischerweise in den Schutzbereich der verletzten (sittlichen) Pflicht fallen; der Geschädigte muss vom persönlichen Schutzbereich der jeweils verletzten Pflicht umfasst sein, soweit sich seine Schädigung nicht sonst als sittenwidrig darstellt (BGH, Urteil vom 11. November 1985 – II ZR 109/84, juris Rn. 16 f.; Wagner in: MüKoBGB, 8. Aufl., § 826 Rn. 49; Wilhelmi in: Erman, BGB, 16. Aufl., § 826 Rn. 16; Reichold in: jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 826 Rn. 76). Das schadensauslösende Verhalten muss sich gerade auch in Bezug auf den Geschädigten als sittenwidrig darstellen (BGH, Urteil vom 20. Februar 1979 – VI ZR 189/78, juris Rn. 18; Urteil vom 7. Mai 2019 – VI ZR 512/17, juris Rn. 8).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_254">254</a></dt> <dd><p>(b) Bei der hier in Rede stehenden Informationsdeliktshaftung für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen wird die Integrität der Willensentschließung des potentiellen Anlegers vor einer unlauteren irreführenden Beeinträchtigung durch falsche Ad-hoc-Publizität geschützt (BGH, Urteil vom 3. März 2008 – II ZR 310/06, juris Rn. 15, 17). Geschützt ist unter Berücksichtigung der § 15 WpHG zugrunde liegenden Wertungen allerdings nicht jeder (potentielle) Anleger auf dem Kapitalmarkt, sondern nur derjenige, der einen Schaden im Zusammenhang mit Transaktionen von Insiderpapieren erlitten hat, die der Verpflichtete emittiert hat oder deren Preis nach § 12 S. 1 Nr. 3 WpHG von Finanzinstrumenten abhing, die der Verpflichtete emittiert hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_255">255</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin und die Beigeladenen haben nach ihrem Vortrag einen Schaden aber nicht im Zusammenhang mit Transaktionen von Aktien der Musterbeklagten zu 1 oder hierauf bezogenen Finanzinstrumenten erlitten, sondern im Zusammenhang mit Finanzinstrumenten, die sich auf Aktien der Musterbeklagten zu 2 bezogen. Sie waren damit nicht von dem persönlichen Schutzbereich der (rechtlichen und sittlichen) Handlungspflicht erfasst (vgl. grundsätzlich – auch gestützt auf rechtspolitische Erwägungen: Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., § 97 WpHG, Rn. 73 a.E.; allg. auch Wagner/Köster, WM 2020, 1711, 1716 [bei Fn. 80]).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_256">256</a></dt> <dd><p>Abgesehen davon, dass das vorliegend infrage stehende wertpapierrechtliche Handlungsgebot nach § 15 WpHG ohnehin keinen individuellen Schutz einzelner Anleger bezweckt, weshalb diese Norm – wie ausgeführt (Rn. 86) – auch kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB war, knüpften die Handlungspflichten an die (potentielle) Bedeutung ihrer Erfüllung für den Kurs der durch das jeweilige Unternehmen emittierten Aktien (oder hierauf bezogener Finanzinstrumente) an. Die mögliche Beeinflussung des Preises anderer Finanzinstrumente begründete keine Veröffentlichungspflicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_257">257</a></dt> <dd><p>Soweit das Wertpapierhandelsrecht in diesem Zusammenhang in §§ 37b, c WpHG Schadensersatzpflichten begründete, erfassten diese nur den Schaden, der einem Dritten aufgrund des Erwerbs oder der Veräußerung gerade von dem Verpflichteten emittierter Finanzinstrumente entsteht (näher Rn. 83). Der Schaden aufgrund der Investition in andere Finanzinstrumente war hiernach nicht geschützt. Diese Regelungen konkretisieren den Schutzzweck der Haftung (zu §§ 97 f. WpHG n.F.: Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., § 97 WpHG, Rn. 69).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_258">258</a></dt> <dd><p>Der Bundesgerichtshof hat zwar eine Beschränkung der Rechtsfolgen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung i.S.d. § 826 BGB im Hinblick auf den Schutzzweckzusammenhang im Bereich der Kapitalmarktinformationshaftung insoweit abgelehnt, als die Haftung über die Regelung in §§ 37b, c WpHG hinaus auch Vorstände des Emittenten treffen kann, die (grob) falsche Ad-hoc-Mitteilungen veranlasst haben (BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 402/02, juris Rn. 43). Um falsche Miteilungen durch Vorstände des Emittenten der Papiere der Anspruchsteller – hier: der Vorstände der Musterbeklagten zu 2 – geht es vorliegend aber nicht. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs lässt nicht den Schluss zu, dass im Falle (grob) fehlerhafter Ad-hoc-Mitteilungen jeder irgendwie hierdurch Geschädigte ersatzberechtigt wäre; sie betraf im Übrigen eine Haftung aufgrund positiven Tuns und nicht aufgrund eines Unterlassens. Auch die dort in Bezug genommene Erwägung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, ein Haftungsausschluss in Fällen betrügerischer oder sittenwidriger Schädigung <em>„Dritter“</em> wäre mit den Grundsätzen der Rechtsordnung nicht vereinbar (Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drs. 12/7918, S. 102), rechtfertigt nicht, entgegen allgemeinen Grundsätzen eine Haftung unabhängig davon anzunehmen, ob das (sittliche) Gebot gerade den Schutz des konkret Geschädigten bezweckt. Vielmehr ist die Schädigung eines Dritten nur in diesem Fall überhaupt sittenwidrig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_259">259</a></dt> <dd><p>(c) Dass das Handlungsgebot des § 15 WpHG selbst nicht – und zwar auch nicht reflexartig – den Schutz beliebiger Anleger bezweckt, die einen Schaden aufgrund von Transaktionen von anderen Finanzinstrumenten als den von dem Handlungsverpflichteten emittierten erlitten haben, schließt zwar nicht grundsätzlich aus, dass der Schutzzweck einer an diese Vorschrift anknüpfenden sittlichen Handlungspflicht weiterreicht. Einer Erstreckung auf weitere Anleger steht jedoch zumindest im Regelfall die fehlende Schutzwürdigkeit ihres etwaigen Vertrauens entgegen. Diese Anleger dürfen nicht darauf vertrauen, dass ein nicht emittierendes Unternehmen ihnen gegenüber zum Schutz ihres Vermögens Ad-hoc-Pflichten einhält.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_260">260</a></dt> <dd><p>Während ein Anleger schon aufgrund der Regelung der §§ 15, 37b, 37c WpHG darauf vertrauen darf, durch den Emittenten über Umstände informiert zu werden, die für den Kurs des von ihm gehaltenen Finanzinstruments relevant sind, lässt sich die Rechtfertigung eines Vertrauens gegenüber dritten Unternehmen, die die fraglichen Finanzinstrumente nicht emittiert haben, aus diesen gesetzlichen Regelungen nicht herleiten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_261">261</a></dt> <dd><p>Insoweit unterscheidet sich die Schutzwürdigkeit beim Unterlassen einer Kapitalmarktinformation von der (aktiven) Veröffentlichung einer grob unrichtigen Kapitalmarktinformation. Dort steht nicht das Vertrauen eines Anlegers infrage, dass eine für ihn relevante Information überhaupt veröffentlicht wird, sondern vielmehr das Vertrauen darin, dass tatsächlich veröffentlichte Informationen nicht grob unrichtig sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_262">262</a></dt> <dd><p>(2) Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass außerhalb des Verhältnisses des Anlegers zum Emittenten der Finanzinstrumente eher strengere Haftungsvoraussetzungen bestehen (vgl. OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016, a.a.O., Rn. 52, 59; LG Braunschweig, Urteil vom 30. Juli 2014 – 5 O 401/13, juris Rn. 37, 55 ff.), sofern eine Haftung nicht wie hier bereits am fehlenden Schutzzweckzusammenhang scheitert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_263">263</a></dt> <dd><p>(3) Selbst wenn man die Verletzung einer Publizitätspflicht nach § 15 WpHG unterstellte und annähme, dass die Schäden der Ausgangskläger vom Schutzzweck der Norm erfasst wären, fehlte es jedenfalls an besonderen Umständen, die das Unterlassen wegen seines Zwecks oder wegen des angewandten Mittels oder mit Rücksicht auf die dabei gezeigte Gesinnung nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und des als <em>„anständig“</em> Geltenden verwerflich machten, insbesondere die Handlungspflicht zu einem sittlichen Gebot erwachsen ließen. Allgemein muss für einen Anspruch aus § 826 BGB unter dem Gesichtspunkt der Informationsdeliktshaftung das Verhalten des Schädigers gegen Mindestanforderungen des lauteren Rechtsverkehrs auf dem Kapitalmarkt verstoßen (BGH, Urteil vom 3. März 2008 – II ZR 310/06, juris Rn. 10 m.w.N.). Das ist im Hinblick darauf, dass die Musterbeklagte zu 1 die von der Musterklägerin unter dem Stichwort <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> vorgetragenen Umstände nicht weitergehend mitteilte, nicht der Fall, insbesondere, weil eine solche Handlungspflicht jedenfalls nicht offensichtlich bestand:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_264">264</a></dt> <dd><p>(a) Soweit vereinzelt vertreten wird, eine sittenwidrige Schädigung durch eine unterlassene Ad-hoc-Mitteilung käme schon grundsätzlich nicht in Betracht, weil es an einem qualifizierten Vertrauenstatbestand fehle (so: Rützel, AG 2003, 69, 73; noch weitergehender: Holzborn/Foelsch, NJW 2003, 932, 939), folgt der Senat dem so allerdings nicht. Insbesondere im Verhältnis des Anlegers zum jeweiligen Emittenten bzw. zu dessen Vorständen – das vorliegend allerdings nicht infrage steht – kommt ein besonderes Vertrauen auf die Einhaltung der kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten durchaus in Betracht (die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Haftung nimmt auch der BGH an: Urteil vom 20. Juli 2021 – II ZR 152/20, juris Rn. 19 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_265">265</a></dt> <dd><p>(b) In Fällen aktiven Tuns hat die Rechtsprechung eine Sittenwidrigkeit regelmäßig angenommen, wenn das Sekundärmarktpublikum bewusst durch grob unrichtige Ad-hoc-Mitteilungen in die Irre geführt wird, damit sich ein Vorstandsmitglied bereichern kann (näher: Rn. 94). Diese Wertung stützt sich zum einen darauf, dass die Verantwortlichen durch die Veröffentlichung inhaltlich grob unrichtiger Ad-hoc-Mitteilungen gezeigt hätten, dass ihnen jedes Mittel recht sei, um in den potentiellen Anlegern falsche Vorstellungen über den Wert des Unternehmens hervorzurufen und über die einsetzende Nachfrage den Aktienkurs <em>„zu pushen“</em>. Zum anderen wird dieses Verhalten deshalb als sittenwidrig eingestuft, weil die Verantwortlichen dort in erheblichem Umfang Aktien des Emittenten besaßen und deshalb von dem mit der unrichtigen Mitteilung bezweckten <em>„Pushen“</em> der Kurse selbst in eigennütziger Weise profitierten (BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 217/03, juris Rn. 49 f.; vgl. hierzu auch Hellgardt in: Assmann/Schneider/Müllbert, 7. Aufl., § 97 WpHG, Rn. 161).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_266">266</a></dt> <dd><p>Hiermit ist die vorliegende Fallkonstellation schon deshalb nicht vergleichbar, weil die Verantwortlichen der Musterbeklagten zu 1 nicht durch grob unrichtige Kapitalmarktinformationen aktiv eine Täuschung des Publikums herbeigeführt und damit nicht gezeigt haben, dass ihnen jedes Mittel zur persönlichen Bereicherung recht war. Darüber hinaus diente ihr von der Musterklägerin vorgetragenes Verhalten zwar zweifelsfrei Zwecken der Musterbeklagten zu 1 und auch eigenen Zwecken. Diese Eigennützigkeit ist jedoch ihrem sittlichen Unwertgehalt nach nicht mit der Eigennützigkeit des Verantwortlichen eines Unternehmens vergleichbar, der dessen Aktienkurs in die Höhe treiben will, um sich aufgrund des manipulativ in die Höhe getriebenen Kurses selbst zu bereichern (näher auch Rn. 362 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_267">267</a></dt> <dd><p>(c) Soweit die Rechtslehre die Möglichkeit einer sittenwidrigen Schädigung durch pflichtwidrig unterlassene Ad-hoc-Mitteilungen diskutiert (nicht näher problematisiert in BGH, Urteil vom 20. Juli 2021 – II ZR 152/20, juris Rn. 19 f.), knüpft sie weitgehend an die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur Kapitalmarktinformationshaftung an. Sie dürfte sich – entsprechend der dort entschiedenen Sachverhalte – im Wesentlichen auf Konstellationen beziehen, in denen ein Anleger Schadensersatz vom Emittenten des Finanzinstruments bzw. von den Vorständen des Emittenten dieses Finanzinstruments begehrt, auf das sich seine Anlageentscheidung bezieht, mithin bereits auf anders gelagerte Sachverhalte als den vorliegenden. Insoweit wird zudem vertreten, an die Sittenwidrigkeit unterlassener Pflichtmitteilungen seien allgemein höhere Anforderungen zu stellen (Fleischer DB 2004, 2031, 2034; vgl. auch OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016, a.a.O., Rn. 55).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_268">268</a></dt> <dd><p>Auch unter Berücksichtigung dieser Literaturansichten kommt eine Haftung der Musterbeklagten zu 1 nicht in Betracht:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_269">269</a></dt> <dd><p>(aa) Die wohl herrschende Lehre zieht eine Sittenwidrigkeit in Betracht, wenn zu einem rechtswidrigen Schweigen eine verwerfliche Motivation, etwa die angestrebte persönliche Bereicherung, hinzutritt (Hellgardt a.a.O., § 97 WpHG, Rn. 162 m.w.N.; Oechsler in: Staudinger [2021], § 826 BGB, Rn. 523; Fleischer, ZIP 2005, 1805, 1806; ders., DB 2004, 2031, 2034; Möllers, JZ 2005, 75, 76; Krause ZGR 2002, 799, 824 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_270">270</a></dt> <dd><p>Eine solche eigennützige Gesinnung liegt hier jedenfalls nicht in einem das Sittenwidrigkeitsurteil rechtfertigenden Maße vor, auch wenn u.a. die Vorstandsmitglieder der Musterbeklagten zu 1 über die gewinnabhängige Vorstandsvergütung vom Erfolg der Optionsstrategien profitiert haben (näher Rn. 362 ff.). Auch soweit nach dem Vortrag der Musterklägerin die Kommunikationsstrategie der Musterbeklagten zu 1 erhöhte Kosten des Beteiligungsaufbaus vermeiden sollte, ist dies in seinem Unwertgehalt nicht mit den diskutierten Fällen eines eigennützigen Verhaltens vergleichbar (dazu näher Rn. 368).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_271">271</a></dt> <dd><p>(bb) Darüber hinaus wird vertreten, dass eine Sittenwidrigkeit in Fällen des direkten Vorsatzes in Betracht kommt, wenn die Veröffentlichungsbedürftigkeit offensichtlich ist (Möllers JZ 2005, 75, 76; Fuchs in: Fuchs, 2. Aufl., Vor §§ 37b, 37c, Rn. 37; Möllers/Leisch in: KK-WpHG, 2. Aufl., §§ 37b, c, Rn. 452; dag. Hellgardt, a.a.O.; vgl. auch unten, Rn. 278).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_272">272</a></dt> <dd><p>Dieser Ansatz erscheint zu weitgehend. Richtig ist allerdings, dass im Einzelfall ein objektiv eindeutig rechtswidriges Unterlassen ein Indiz dafür sein kann, dass dem Verantwortlichen jedes Mittel recht ist, seine Ziele durchzusetzen, und in diesem Ausnahmefall bereits für sich genommen die Sittenwidrigkeit begründen mag. Auch kann die Evidenz eines Rechtsverstoßes im Rahmen der gebotenen Gesamtschau eher für die Annahme einer Sittenwidrigkeit sprechen, selbst wenn weitere Umstände – etwa die eigennützige Gesinnung – für sich genommen diese Bewertung noch nicht rechtfertigten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_273">273</a></dt> <dd><p>Dies kann hier offenbleiben. Die Musterbeklagte zu 1 hatte schon keinen direkten Vorsatz betreffend die Verletzung möglicher aus § 15 WpHG folgender Publizitätspflichten. Dass sie von einer Kursrelevanz der entsprechenden Informationen für von ihr emittierte Aktien ausgegangen wäre und damit bewusst gegen solche Publizitätspflichten verstoßen hätte, behauptet die Musterklägerin bereits nicht. Im Gegenteil ergibt sich aus der von der Musterklägerin in Bezug genommenen E-Mail des rechtlichen Beraters der Musterbeklagten zu 1 Dr. B. vom 25. Oktober 2008 (zitiert in der Musterklagebegründung vom 1. Mai 2017, Rn. 422, wobei der Begriff <em>„Nolde-Aktie“</em> dort für die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 verwandt wurde; vgl. auch Schriftsatz vom 15. Oktober 2018, Rn. 175 ff.), dass dieser selbst für die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 keine Ad-hoc-Relevanz für die Musterbeklagte zu 1, wohl aber eine Kursrelevanz für die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 sah. Soweit die Musterklägerin aus der zugleich angeratenen Rückfrage bei der BaFin schlussfolgert, dass Dr. B. sich nicht vollständig sicher gewesen sei, ob die dortige Pressemitteilung nicht vielleicht doch ad-hoc-pflichtig sei, lässt weder dies noch der Umstand, dass die Musterbeklagte zu 1 diesem Rat nicht folgte, einen Rückschluss auf einen direkten Vorsatz oder auch nur auf bedingten Vorsatz zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_274">274</a></dt> <dd><p>Selbst bei Annahme einer aus § 15 WpHG folgenden Publikationspflicht wäre diese, wie nachfolgend (Rn. 277 ff.) erörtert, nicht derart offensichtlich, dass dies das entsprechende Sittenwidrigkeitsurteil für sich genommen oder in der Gesamtschau mit den weiter relevanten Umständen rechtfertigte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_275">275</a></dt> <dd><p>(cc) Die Auffassung, schon jedes vorsätzliche Unterlassen einer nach § 15 Abs. 1 WpHG gebotenen Ad-hoc-Mitteilung sei sittenwidrig, weil der Gesetzgeber für die Befreiung von der Ad-hoc-Mitteilungspflicht in § 15 Abs. 3 WpHG eine klare Regelung geschaffen habe, deren Missachtung allein bereits den Vorwurf der Sittenwidrigkeit rechtfertige (Sethe in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., §§ 37b, c, Rn. 144), teilt der Senat nicht. Dass die Musterbeklagte zu 1 nicht das Verfahren der Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG wählte, rechtfertigt nicht in jedem Fall einer auch nur fraglichen Veröffentlichungsbedürftigkeit den Vorwurf einer besonderen Verwerflichkeit. Zudem handelte die Musterbeklagte zu 1 – wie dargestellt – nicht vorsätzlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_276">276</a></dt> <dd><p>(dd) Teilweise wird auch die Ansicht vertreten, jedenfalls Geschäfte mit besonders hohem Finanzvolumen, die nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Vermögens- oder Finanzlage haben, sondern auch von existenzieller Bedeutung für das Unternehmen sind, seien solche offensichtlich veröffentlichungsbedürftigen Tatsachen (so: Möllers a.a.O.; Möllers/Leisch in: KK-WpHG, 2. Aufl., §§ 37b, c, Rn. 452; zu diesem Gesichtspunkt auch: LG Stuttgart, Vorlagebeschluss vom 28. Februar 2017 – 22 AR 1/17 Kap, juris Rn. 82; Urteil vom 24. Oktober 2018 – 22 O 101/16, juris Rn. 443). Dies überzeugt so allgemein schon aufgrund der Möglichkeit, dass der Markt entsprechende Informationen antizipiert hat, nicht. Zudem hatten die Optionsgeschäfte vorliegend zwar ein sehr hohes Finanzvolumen, bedrohten die Existenz der Musterbeklagten zu 1 aber jedenfalls vor Mitte Oktober 2008 auch nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen nicht, jedenfalls nicht konkret.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_277">277</a></dt> <dd><p>(d) Ein etwaiger Verstoß gegen § 15 Abs. 1 WpHG wäre unter Berücksichtigung der Gesamtumstände schon deshalb nicht geeignet, das Verhalten der Musterbeklagten zu 1 als sittenwidrig erscheinen zu lassen, weil jedenfalls keine offensichtliche Pflicht der Musterbeklagten zu 1 bestand, die unter dem Begriff der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> zusammengefassten Umstände im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_278">278</a></dt> <dd><p>Allgemein besteht eine sittliche Pflicht zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen allenfalls dann, wenn die Veröffentlichungsbedürftigkeit der fraglichen Tatsache offenkundig ist (OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016, a.a.O., Rn. 55; Förster in: BeckOK § 826 BGB [Stand: 1. Mai 2022], Rn. 188; vgl. auch oben, Rn. 271; vgl. zu Fällen fraglicher Kursrelevanz: Möllers, WM 2003, 2393, 2395). Ist diese demgegenüber zweifelhaft, ist nicht nur die Vorwerfbarkeit des Unterlassens gemindert. Auch das mögliche Vertrauen von Anlegern wäre nicht in gleichem Maße schutzwürdig. Das Unterlassen ist in diesen Fällen nach seinem sittlichen Unwertgehalt nicht mit der Veröffentlichung grob unrichtiger Informationen vergleichbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_279">279</a></dt> <dd><p>Eine solche offensichtliche Mitteilungspflicht bestand nicht gem. § 15 Abs. 1 WpHG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_280">280</a></dt> <dd><p>Der u.a. von der Musterklägerin regelmäßig verwandte Begriff der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> bezeichnet die Absicht, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auf über 75 % aufzustocken und einen Beherrschungsvertrag abzuschließen (näher: Rn. 213 ff.). Auch nach dem Verständnis der Musterklägerin war damit nicht verbunden, dass diese Absicht kurzfristig oder auch nur zu einem abschließend festgelegten Zeitpunkt vollständig hätte umgesetzt werden sollen oder unbedingt in dem Sinne gewesen wäre, die genannten Ziele ohne Berücksichtigung der tatsächlich bestehenden Rahmenbedingungen zu realisieren. Diese behauptete Absicht der Musterbeklagten zu 1 stellte auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Musterbeklagte zu 1 schon erste Schritte zu ihrer Umsetzung unternommen hatte, keine offensichtlich veröffentlichungspflichtige Insiderinformation dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_281">281</a></dt> <dd><p>Eine Insiderinformation im Sinne von § 15 Abs. 1 WpHG ist nach § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG eine konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf die Insiderpapiere selbst bezieht und die geeignet ist, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen. Diese Voraussetzungen waren hier jedenfalls nicht offenkundig erfüllt. Verständige Marktteilnehmer hatten aufgrund der verfügbaren Informationen Anhaltspunkte für eine Beherrschungsabsicht der Musterbeklagten zu 1. Verschiedene Marktbeobachter gingen in Analysen und Berichten ausdrücklich auf diese Beherrschungsabsicht ein. Die als unterlassen beanstandete Veröffentlichung hatte daher keine offensichtliche oder naheliegende Kursrelevanz.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_282">282</a></dt> <dd><p>(aa) Allerdings stellten die in Frage stehenden Umständen überwiegend hinreichend <em>konkrete</em> Informationen dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_283">283</a></dt> <dd><p>(aaa) Bei der behaupteten Übernahme- und Beherrschungsabsicht des Vorstands der Musterbeklagten zu 1, der Absicht der Beteiligungsaufstockung auf über 75 %, dem Vorstandsbeschluss vom 3. März 2008, dem <em>„Vorratsbeschluss“</em> vom 23. Juli 2008, der Befassung des Gesellschafterausschusses, dem jeweiligen Abschluss der Optionsstrategien und den vorgetragenen Finanzierungsmaßnahmen handelte es sich nach dem Vortrag der Musterklägerin um einzelne Zwischenschritte auf dem Weg zu einer Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 mit 75 % ihrer Stammaktien und zum Abschluss eines Beherrschungsvertrags. Der Umstand, dass es sich um einzelne <em>Zwischenschritte</em> handelt, sperrt eine Einordnung als Insiderinformationen nicht. Denn bei einem zeitlich gestreckten Vorgang können nicht nur der am Ende der Entwicklung stehende Umstand oder das Ereignis, sondern auch die mit der Verwirklichung des Umstands oder des Ereignisses verknüpften Zwischenschritte präzise Informationen i.S.d. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG der Kommission vom 22. Dezember 2003 sein (EuGH, Urteil vom 28. Juni 2012 – C-19/11, juris Rn. 38). Dementsprechend kommt jedes einzelne Ereignis auf dem Weg zu einem beabsichtigten Ergebnis als Insiderinformation nach § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG in Betracht (BGH, Beschluss vom 23. April 2013 – II ZB 7/09, juris Rn. 15).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_284">284</a></dt> <dd><p>(bbb) Die infrage stehenden Umstände stellten hinsichtlich dieser behaupteten Zwischenschritte <em>hinreichend konkrete</em> bzw. präzise Informationen dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_285">285</a></dt> <dd><p>(α) Dies ist zwar bei bloßen Überlegungen nicht der Fall, die bisher über den engen persönlichen Bereich nicht hinausgelangt sind (BGH, Beschluss vom 23. April 2013, a.a.O., juris Rn. 19). Im Gegensatz dazu stellen die – wie von der Musterbeklagten zu 1 selbst vorgetragen – fortlaufend auf deren Machbarkeit geprüften Szenarien des Beteiligungsaufbaus Überlegungen dar, die nicht aus dem Anwendungsbereich des § 13 WpHG herausfallen. Denn diese Szenarien, die zumindest auch eine Beteiligung von 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und einen Beherrschungsvertrag beinhalteten, thematisierte die Musterbeklagte zu 1 über einen engen persönlichen Bereich hinaus bereits unternehmensintern unter Hinzuziehung externer Berater; sie waren Gegenstand von Sitzungen des Vorstands und des Aufsichtsrats. Ob letztere bereits einen entsprechenden Beschluss gefasst hatten, ist nicht entscheidend. Bereits ein einer Beschlussfassung vorausgehender Planungsakt kann ausreichen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2013, a.a.O., juris Rn. 26: nicht abgeschlossener unternehmensinterner Entscheidungsprozess; Assmann in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 15 Rn. 60; Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 15. Juli 2005, IV.2.2.7). Die bloße Absicht des Vorstands kann daher eine Insiderinformation sein (Assmann, a.a.O., Rn. 59; Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl., § 15 Rn. 142).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_286">286</a></dt> <dd><p>(β) Bei den dargestellten Zwischenschritten handelt es sich um bereits eingetretene Ereignisse und nicht – wie bei der Beteiligungsaufstockung auf 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und dem Abschluss eines Beherrschungsvertrags – um künftige Umstände und Ereignisse. Nur für die Information über künftige Ereignisse kommt es auf die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ereignisses an, um sie als präzise Informationen zu qualifizieren (EuGH, Urteil vom 28. Juni 2012, a.a.O., juris Rn. 55; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. April 2013, a.a.O., juris Rn. 17).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_287">287</a></dt> <dd><p>(γ) Für solche künftigen Ereignisse war allerdings eine für die Annahme einer Ad-hoc-Mitteilungspflicht hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit zu den maßgeblichen Zeitpunkten im Frühjahr/Sommer 2008 nicht gegeben. Diese künftigen Ereignisse hingen von verschiedenen Voraussetzungen ab, deren Eintritt im Zeitpunkt der Mitteilungen unsicher war:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_288">288</a></dt> <dd><p>Einem Beherrschungsvertrag stand zunächst objektiv entgegen, dass das Land Niedersachsen mehr als 20 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 hielt, deshalb nach § 4 Abs. 3 des VW-Gesetzes und nach § 25 Abs. 2 der Satzung der Musterbeklagten zu 2 insbesondere im Hinblick auf den Abschluss eines solchen Beherrschungsvertrages über eine Sperrminorität verfügte und keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass es dem Abschluss eines solchen Beherrschungsvertrages zustimmen würde. Zwar erklärte der Europäische Gerichtshof Teile des VW-Gesetzes mit Urteil vom 23. Oktober 2007 für europarechtswidrig. Der daraufhin novellierte Entwurf des VW-Gesetzes der Bundesregierung vom 16. Januar 2008 sah aber eine Aufrechterhaltung der Sperrminorität vor. Dieser Gesetzesentwurf wurde am 25. September 2008 in den Bundestag eingebracht. Die Musterbeklagte zu 1 bemühte sich zwar, eine weitergehende Änderung zu erreichen, die Erfolgsaussichten waren jedoch offen und – wie sich später herausstellte – letztlich nicht gegeben. Die Musterbeklagte zu 1 versuchte zudem ohne Erfolg, in der Hauptversammlung der Musterbeklagten zu 2 am 24. Mai 2008 zu erreichen, dass § 25 Abs. 2 der Satzung gestrichen werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_289">289</a></dt> <dd><p>Selbst für den Fall einer Änderung der vorgenannten Regelungen musste die Musterbeklagte zu 1 für den Abschluss eines Beherrschungsvertrages zumindest über 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 erwerben. Dass ihr dies gelingen könnte, war angesichts des von dem Land Niedersachsen gehaltenen Anteils von gut 20 % und weiterer von institutionellen Investoren gehaltener Anteile jedenfalls bis zum Abschluss des Optionsaufbaus am 24. Juli 2008 zumindest zweifelhaft. Darüber hinaus war auch die Finanzierung einer solchen weiteren Aufstockung nicht abschließend gesichert (näher: Rn. 137 ff., 310; vgl. auch Rn. 408 ff. zum Zeitraum ab Oktober 2008).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_290">290</a></dt> <dd><p>Es kann daher hier offen bleiben, ob darüber hinaus auch eine mögliche Uneinigkeit der Aktionäre der Musterbeklagten zu 1 ein Risiko für die Umsetzung der Beteiligungsabsicht darstellte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_291">291</a></dt> <dd><p>(bb) Eine Insiderinformation setzt weiter voraus, dass die nicht öffentlich bekannten Umstände geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsenpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen (<em>Kursrelevanz</em>). Ob diese Voraussetzung hier vorlag, kann offen bleiben. Für die Beurteilung der Ersatzpflicht der Musterbeklagten zu 1 genügt die Feststellung, dass eine solche Kursrelevanz jedenfalls nicht offensichtlich war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_292">292</a></dt> <dd><p>Der Markt hatte in dem infrage stehenden Zeitraum durchgehend Kenntnis davon, dass die Musterbeklagte zu 1 ihren Anteil an der Musterbeklagten zu 2 wiederholt erheblich ausbauen wollte. Die Musterbeklagte zu 1 hatte die beschlossenen jeweils konkret bevorstehenden Schritte des Anteilsaufbaus ausreichend bekannt gemacht. Der Markt ging zudem davon aus, dass sie diese beabsichtigten Aufstockungen durch Optionen vorbereitet hatte. In der Gesamtschau dieser Umstände hätte es das Anlegerverhalten nach Überzeugung des Senats nicht offensichtlich beeinflusst, wenn die Musterbeklagte zu 1 zusätzlich mitgeteilt hätte, zu einem späteren Zeitpunkt eine noch höhere Beteiligung zwecks Abschluss eines Beherrschungsvertrages anzustreben, zumal die Umsetzbarkeit dieser weiteren Pläne unsicher war. Zudem war aus der Kapitalmarktkommunikation der Musterbeklagten zu 1 nicht nur erkennbar, dass Überlegungen und Planungen betreffend eine weitergehende Beteiligungsaufstockung nicht nur nicht ausgeschlossen waren; der Kapitalmarkt ging vielmehr verbreitet von solchen weitergehenden Plänen aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_293">293</a></dt> <dd><p>Im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_294">294</a></dt> <dd><p>(aaa) Maßgeblich für die Publizitätspflicht der Musterbeklagten zu 1 ist allein das Kursbeeinflussungspotential der infrage stehenden Informationen für die Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 1 oder hierauf bezogene Finanzinstrumente, nicht aber für die Stamm- oder Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_295">295</a></dt> <dd><p>Eine Veröffentlichungspflicht nach § 15 Abs. 1 WpHG besteht nur dann, wenn die Insiderinformation den Emittenten selbst oder die von ihm emittierten Finanzinstrumente betrifft (vgl. Assmann in: Assmann/Schneider, § 15 Rn. 56). Die Musterbeklagte zu 1 war daher nicht verpflichtet, Informationen zu veröffentlichen, die lediglich für den Kurs der Aktien der Musterbeklagten zu 2, nicht aber für den Kurs der von ihr selbst emittierten Vorzugsaktien relevant sein konnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_296">296</a></dt> <dd><p>Eine Veröffentlichungspflicht im Hinblick auf Finanzinstrumente der Musterbeklagten zu 2 ergibt sich nicht aus dem von der Musterklägerin behaupteten Umstand, dass jedenfalls seit dem 3. März 2008 ein faktisches Konzernverhältnis mit der Musterbeklagten zu 2 bestanden habe. Die Veröffentlichungspflicht nach § 15 WpHG besteht ausschließlich für den Emittenten, den die Information unmittelbar betrifft. Die Regelung des § 15 WpHG enthält keine Konzernklausel, so dass die bloße Zugehörigkeit zu einem Konzern, dem auch ein Inlandsemittent von Finanzinstrumenten angehört, keine Ad-hoc-Publizitätspflicht begründet (Assmann in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 15 Rn. 48; Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl., § 15 Rn. 206). Im Rahmen des § 15 WpHG ist somit eine gesonderte Betrachtung jeder einzelnen Konzerngesellschaft geboten (Trennungsprinzip). Jedes Konzernunternehmen ist im Hinblick auf die Ad-hoc-Publizität grundsätzlich als selbstständiges Unternehmen zu betrachten, das nur dann Adressat der Veröffentlichungspflicht nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 WpHG ist, wenn es selbst ein Inlandsemittent ist, den die in Frage stehende Insiderinformation unmittelbar betrifft (Assmann in: Assmann/Schneider, § 15 Rn. 48). Zwar werden Zurechnungen für Fälle diskutiert, in denen die Muttergesellschaft jederzeit uneingeschränkt auf Insiderinformationen in der Tochtergesellschaft zugreifen kann (so etwa: Pfüller, a.a.O., m.w.N.). Dies betrifft aber nur die Wissenszurechnung; auch bei Annahme einer solchen Zurechnung entsteht die Publizitätspflicht nur für dasjenige Unternehmen, für dessen Finanzinstrumente die Information kursrelevant ist (Spindler/Speier, BB 2005, 2031, 2032 f./2034).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_297">297</a></dt> <dd><p>(bbb) Entscheidend für die Kursrelevanz ist, ob ein verständiger Anleger die Information über den jeweiligen Umstand als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidung nutzen würde. Das Kursbeeinflussungspotential einer Information ist in objektiv-nachträglicher Ex-ante-Prognose zu ermitteln (BGH, Beschluss vom 23. April 2013, a.a.O., juris Rn. 22; Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 41). Dabei kommt es nicht darauf an, dass mit einem hinreichenden Maß an Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden kann, dass sich der potenzielle Einfluss der Information auf die Kurse der betreffenden Finanzinstrumente in eine bestimmte Richtung auswirken wird, wenn sie öffentlich bekannt werden (EuGH, Urteil vom 11. März 2015 – C-628/13, juris Rn. 38). Unerheblich ist weiter, ob der Handelnde die Information für kurserheblich hielt oder nicht, oder ob der Kurs des betroffenen Papiers nach Bekanntwerden der Information tatsächlich eine Veränderung erfährt (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011, a.a.O., juris Rn. 41). Der tatsächliche Kursverlauf kann aber Indizwirkung haben, wenn andere Umstände als das öffentliche Bekanntwerden der Insiderinformation für eine erhebliche Kursänderung praktisch ausgeschlossen werden können (BGH, Beschluss vom 23. April 2013, a.a.O., juris Rn. 23; Urteil vom 13. Dezember 2011, a.a.O.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_298">298</a></dt> <dd><p>Entgegen der möglicherweise von der Musterklägerin und der beigeladenen H. GmbH vertretenen Auffassung folgt aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Fall Lafonta (Urteil vom 11. März 2015 – C-628/13, juris) nicht, dass der Abschluss von Derivatepositionen zur Absicherung einer Beteiligungsaufstockung und die dem zugrunde liegenden Planungen der übernehmenden Gesellschaft allgemein stets kursrelevante Informationen wären. Zwar nahm das vorlegende Gericht dort ersichtlich eine Kursrelevanz an. Die Entscheidung des europäischen Gerichtshofs betrifft die Auslegung des Merkmals der Kursrelevanz aber nicht unmittelbar (EuGH, a.a.O., Rn. 29). Sie enthält zwar ein obiter dictum dahingehend, dass eine Information auch dann eine solche Relevanz haben kann, wenn sie es nicht erlaubt, die Änderung des Kurses der betreffenden Finanzinstrumente in eine bestimmte Richtung vorherzusehen (a.a.O. Rn. 34; dazu auch Zetsche, AG 2015, 381, 384 f.), löst sich aber nicht von den bereits zuvor entwickelten diesbezüglichen Grundsätzen, auch wenn sie die Tendenz erkennen lässt, insoweit geringe Voraussetzungen an die Publizitätspflicht zu stellen. Im Übrigen konnte die Musterbeklagte zu 1 diese Wertungen des Europäischen Gerichtshofs nicht kennen, weil die Entscheidung erst weit nach 2008 fiel. Damit ist ein möglicher Verstoß gegen diese Wertungen ohnehin nur eingeschränkt geeignet, einen Sittenwidrigkeitsvorwurf zum damaligen Zeitpunkt zu begründen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_299">299</a></dt> <dd><p>(ccc) Der Anspruchsteller trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen (für Ansprüche auf Grundlage von §§ 37b, 37c WpHG: OLG Düsseldorf, Urteil vom 7. April 2011 – 6 U 7/10, juris Rn. 117; Sethe in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., §§ 37b, 37c Rn. 79). Bei dem Tatbestandsmerkmal der Kursrelevanz handelt es sich nicht um eine dem Beweis zugängliche Tatsache, sondern um einen Erfahrungssatz (Sethe, a.a.O., Rn. 81), hier in Form der Ex-ante-Prognose. Die Tatsachengrundlage, auf der die Prognose beruht, ist vom Kläger darzulegen und zu beweisen (Sethe a.a.O.). Aus den Vorschriften des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes ergibt sich keine andere Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Dieses Gesetz trifft keine materiell-rechtlichen Regelungen und legt dementsprechend die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast nicht abweichend von den allgemeinen Grundsätzen fest (BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – XI ZB 12/12, juris Rn. 107; Vollkommer in: KK-KapMuG, 2. Aufl., § 11 Rn. 115).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_300">300</a></dt> <dd><p>Diese objektiv-nachträgliche Ex-ante-Prognose kann der Senat – soweit hier erforderlich – aufgrund eigener Sachkunde treffen. Der Vortrag der Musterverfahrensbeteiligten hat dem Senat eine zuverlässige Kenntnis der Gesamtumstände verschafft und ihn in die Lage eines mit den Marktgegebenheiten vertrauten, börsenkundigen Anlegers versetzt, dem alle verfügbaren Informationen bekannt sind. Zwar mag die abschließende Feststellung eines fehlenden Kursbeeinflussungspotenzials nicht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens möglich sein. Dass ein solches Beeinflussungspotenzial aber zumindest nicht offensichtlich war, kann der Senat auf der Grundlage des umfangreichen Sachvortrags aus eigener Sachkunde feststellen. Es bedarf insoweit keiner Einholung eines Sachverständigengutachtens, um den Standpunkt eines verständigen Anlegers zu ermitteln (vgl. Sethe a.a.O.; Möllers/Leisch in: KK-WpHG, 2. Aufl., §§ 37b, c, Rn. 152; allg. i. Erg. auch: BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 43 f.; vgl. zum Verkehrsverständnis auch BGH, Urteil vom 9. Juni 2011 – I ZR 113/10, juris Rn. 13 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_301">301</a></dt> <dd><p>(ddd) Auf der Grundlage des Vorbringens der Musterklägerin und der Beigeladenen sowie des unstreitigen Vorbringens der Musterbeklagten kann der Senat feststellen, dass wederdie behauptete Beherrschungsabsicht im Vorstand und dessen Absicht der Beteiligungsaufstockung auf über 75 % noch der auf den Anteilserwerb von über 50 % gerichtete Vorstandsbeschluss, der <em>„Vorratsbeschluss“</em> vom 23. Juli 2008, die Befassung des Gesellschafterausschusses mit dem Beteiligungsaufbau, die konkrete Finanzierung der Übernahme noch der Abschluss und die genaue Ausgestaltung sowie der Bestand der Optionsstrategien offensichtlich geeignet waren, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Kurs der Vorzugsaktie der Musterbeklagten zu 1 erheblich zu beeinflussen. Dass ein verständiger Anleger die Informationen über die vorgenannten Zwischenschritte bei einer Anlagenentscheidung insbesondere zu den im Komplex II im Feststellungsziel II.1. genannten Zeitpunkten am 3. März 2008, am 10. März 2008, am 16. Juni 2008, am 23. Juli 2008, am 28. Juli 2008, am 16. September 2008, am 18. September 2008 und am 5./6. Oktober 2008 berücksichtigt hätte, war jedenfalls nicht offensichtlich oder auch nur naheliegend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_302">302</a></dt> <dd><p>Der verständige – also mit den Marktgegebenheiten vertraute, börsenkundige – Anleger (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011, a.a.O., juris Rn. 41), der zum Zeitpunkt seines Handelns alle verfügbaren Informationen kennt und in seine Entscheidung mit einbezieht (vgl. Mennicke/Jakovou in: Fuchs, 2. Aufl., § 13 Rn. 141), berücksichtigt daneben auch, wie andere Marktteilnehmer voraussichtlich reagieren werden; dies umfasst auch <em>„irrationale Reaktionen“</em> (Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl., § 15 Rn. 195). Der verständige Anleger wird eine Information bei seiner Anlageentscheidung – nur – dann berücksichtigen, wenn ein Kauf- oder Verkaufsanreiz gegeben ist und ihm das Geschäft lohnend erscheint. Danach scheiden solche Fälle aus, in denen die Verwertung einer nicht öffentlich bekannten Information von vornherein keinen nennenswerten wirtschaftlichen Vorteil verspricht und damit kein Anreiz besteht, die Information zu verwenden (Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 15. Juli 2005, III.2.1.4). Der Kurs wird nicht nur von den Informationen über das betreffende Unternehmen selbst, sondern auch von der Verfassung des Gesamtmarkts oder der Branche sowie von zusätzlichen Faktoren wesentlich geprägt (Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 15. Juli 2005, III.2.1.4; Pfüller, a.a.O., Rn. 197, 198). Es sind daher für die Anlagenentscheidung die Gesamttätigkeit des Emittenten, die Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstige Marktvariablen, die das entsprechende Finanzinstrument beeinflussen dürften, zu berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 23. April 2013, a.a.O., Rn. 22). Sofern der Markt eine Information bereits beispielsweise als Gerücht oder <em>„Übernahmefantasie“</em> vorweggenommen hat, reduziert dies ein mögliches Preisbeeinflussungspotenzial (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 – II ZB 24/14, juris Rn. 61; Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 15. Juli 2005, III.2.1.14).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_303">303</a></dt> <dd><p>Im Einzelnen gilt vorliegend dabei Folgendes:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_304">304</a></dt> <dd><p>(α) Die Einschätzung des Kursbeeinflussungspotentials der Information über die <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> am und nach dem 3. März 2008 hat die von der Musterbeklagten zu 1 an diesem Tag veröffentlichte Ad-hoc-Mitteilung zu berücksichtigen. Darin teilte die Musterbeklagte zu 1 mit, dass ihr Aufsichtsrat grünes Licht für die Erhöhung der Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auf über 50 % gegeben habe. Zudem wurde in der Ad-hoc-Mitteilung der Vorstandsvorsitzende Dr. W. mit der Äußerung zitiert: <em>„Unser Ziel ist die Schaffung einer der innovativsten und leistungsstärksten Automobil-Allianzen der Welt, die dem verschärften internationalen Wettbewerb gerecht wird.“</em> Damit war dem Kapitalmarkt bekannt, dass der Vorstand, jedenfalls aber der Vorsitzende des aus Dr. W. und dem Finanzvorstand H. bestehenden Vorstandes der Musterbeklagten zu 1 eine dem Beschluss des Aufsichtsrats gleichgerichtete Auffassung vom Beteiligungsaufbau vertrat. Dass der Vorstand insoweit bereits einen förmlichen Beschluss gefasst hatte, hatte für die Anlageentscheidung des verständigen Anlegers keine weitergehende Bedeutung. Die Information, dass auch der Vorstand einen entsprechenden Beschluss der Beteiligungserhöhung gefasst hatte, war daher aufgrund der veröffentlichten Umstände nicht kursrelevant.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_305">305</a></dt> <dd><p>(β) Dem verständigen Anleger war bewusst, dass die Musterbeklagte zu 1 in der Folgezeit nach den von den Aufsichts- und Kartellbehörden noch zu erteilenden Freigaben in großem Umfang Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 erwerben werde. Aufgrund der Pressemitteilungen der Musterbeklagten zu 1 vom 24. März 2007, vom 3. und 30. April 2007 sowie vom 4. Juni 2007 (Anlagen MBPor 64 - 68) war zudem öffentlich bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1 einen Anteil von rund 31 % dieser Stammaktien hielt. In der zeitgleich mit der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 veröffentlichten Pressemitteilung (Anlage MBPor 70) wies die Musterbeklagte zu 1 ferner darauf hin, dass ein Anteilserwerb weiterer 20 % bei dem damaligen Börsenkurs von rund 150 € je Stammaktie ein Investment von knapp 10 Mrd. € bedeuten würde. Auch weitere dem Markt bekannte Umstände ließen die Absicht der Musterbeklagten zu 1 erkennen (vgl. dazu näher Rn. 178 - 202).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_306">306</a></dt> <dd><p>Dem verständigen Marktteilnehmer war damit bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1 aktuell und auch zukünftig Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 in einem erheblichen Umfang zu erheblichen Kosten erwerben werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_307">307</a></dt> <dd><p>Betreffend den künftigen Umstand eines Beteiligungsaufbaus auf 75 % und den Abschluss eines Beherrschungsvertrags wird ein verständiger Anleger zudem nach den Regeln der allgemeinen Erfahrung in einer umfassenden Würdigung der bereits verfügbaren Anhaltspunkte (EuGH, Urteil vom 28. Juni 2012 – C-19/11, juris Rn. 44, 56) beurteilen, ob eher mit dem Eintreten des künftigen Ereignisses als mit seinem Ausbleiben zu rechnen ist, wobei die Wahrscheinlichkeit nicht zusätzlich hoch sein muss (BGH, Beschluss vom 23. April 2013, a.a.O., juris Rn. 29).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_308">308</a></dt> <dd><p>Ein verständiger Anleger hätte vor diesem Hintergrund einer Information über eine <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> des Vorstands der Musterbeklagten zu 1 mit dem eingangs bezeichneten Inhalt naheliegend keine weitere erhebliche Relevanz für seine Anlageentscheidung beigemessen. Während die Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 eine Entscheidung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten zu 1 über eine konkret und verhältnismäßig zeitnah anstehende Beteiligungserhöhung betraf, stellte die weitergehende Absicht im Vorstand bzw. im Gesellschafterausschuss erst einen ersten Planungsschritt für einen weitergehenden Beteiligungsaufbau dar. Zudem waren die Informationen über den angekündigten Beteiligungsaufbau auf über 50 % und über den bislang nicht angekündigten weiteren Aufbau auf 75 % gleichgelagert und jeweils in die Zukunft gerichtet, so dass ein weitergehender Kauf- oder Verkaufsanreiz eher nicht gegeben war, zumal die Erreichung der weitergehenden Ziele eines Beteiligungsaufbaus auf über 75 % und des Abschlusses eines Beherrschungsvertrages von weitergehenden Voraussetzungen – insbesondere auch der Änderung des VW-Gesetzes – abhing. Außerdem konnte ein verständiger Anleger davon ausgehen, dass die Musterbeklagte zu 1 den Kapitalmarkt über eine Aufstockung auf 75 % zumindest dann informieren werde, wenn diese konkret bevorstehe. Aus der Offenlegung der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> hätte ein verständiger Anleger daher vor dem 26. Oktober 2008 zwar die Information ziehen können, dass die Musterbeklagte zu 1 auch in weiterer Zukunft Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 kaufen werde, soweit dies den Rahmenbedingungen nach möglich und im Hinblick auf den angestrebten Abschluss eines Beherrschungsvertrages zielführend wäre. Dies stellte im Hinblick auf Anlageentscheidungen in die Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 1 aber keinen über den Inhalt der Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008 wesentlich hinausgehenden Erkenntnisgewinn dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_309">309</a></dt> <dd><p>Es war zudem zunächst ungewiss, ob und wann die Musterbeklagte zu 1 überhaupt auf insgesamt 75 % – bzw. ohne Aufhebung der Regelungen zur Sperrminorität auf insgesamt 80 % – der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zugreifen könnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_310">310</a></dt> <dd><p>Mit Abschluss des Optionsaufbaus am 24. Juli 2008 hatte die Musterbeklagte zu 1 nach dem Vortrag der Musterklägerin zwar Zugriff auf insgesamt 75 % der Stammaktien. Abgesehen von der verbleibenden Unsicherheit betreffend die Fortgeltung der Sperrminorität hatte die Musterbeklagte zu 1 aber die Übernahme dieser Stammaktien wirtschaftlich noch nicht zweifelsfrei gesichert. Die an der Finanzierung der Übernahme beteiligten Banken gingen zwar von der Machbarkeit dieses Vorhabens aus, dies aber zuletzt mit einer zeitlichen Perspektive bis zum 1. Halbjahr 2009; die für eine Anteilsaufstockung auf bis zu 75 % erforderlichen Kredite hatte die Musterbeklagte zu 1 noch nicht erhalten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_311">311</a></dt> <dd><p>Im zeitlichen Zusammenhang hiermit hatte zudem der Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 deren Vorstand zwar förmlich ermächtigt, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 auch über die Schwelle von 75 % zu erhöhen und die notwendigen Finanzierungsmaßnahmen zu ergreifen. Mit dieser Ermächtigung, die einer Entscheidung des Gesellschafterausschusses vom 18. Juli 2008 folgte, war die Entscheidung für die entsprechende Anteilsaufstockung aber weder zwingend gefallen noch stand eine solche weitere Aufstockung konkret bevor. Auch wenn der Wunsch des Gesellschafterausschusses klar gewesen sein und den Vorstand in seinen Bemühungen gebunden haben mag, oblag die letztliche Entscheidung dem Vorstand, der sie unter Berücksichtigung der weiteren Rahmenbedingungen treffen musste.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_312">312</a></dt> <dd><p>(γ) Weiter war dem verständigen Kapitalmarktteilnehmer bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1 in ihrem im Herbst 2007 veröffentlichten Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr 2006/2007 (Anlage MBPor 106) und ähnlich auch mit dem Halbjahresfinanzbericht zum 31. Januar 2008 (Anlage MBPor 107) bereits mitgeteilt hatte, dass sie zur Absicherung der Aufstockung ihres Anteils an der Musterbeklagten zu 2 Kurssicherungsgeschäfte in Form von Aktienoptionen mit Barausgleich abgeschlossen und darüber hinaus Aktienoptionen mit verschiedenen Basiswerten zur Liquiditätsbeschaffung eingesetzt habe. Dass es sich dabei um Aktienoptionen mit einem großen Umfang handelte, ergab sich schon daraus, dass diese mit 10,5 Mrd. € aktiviert und mit 13,5 Mrd. € passiviert waren, auch wenn diesen Bilanzansätzen für sich genommen nicht entnommen werden kann, dass sie allein Optionen betrafen, die sich auf Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 bezogen (vgl. auch Rn. 182, 474 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_313">313</a></dt> <dd><p>Zudem berichtete die Presse verschiedentlich über die Optionsstrategie der Musterbeklagten zu 1 (näher dazu Rn. 185 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_314">314</a></dt> <dd><p>Dass der genaue Optionsbestand und der Umfang der damit nach dem Vortrag der Musterklägerin verbundenen Marktenge bei den Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 nicht bekannt waren, ist – anders als betreffend diese Stammaktien – im Hinblick auf Anlageentscheidungen in Bezug auf die Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 1 nicht unmittelbar von Bedeutung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_315">315</a></dt> <dd><p>Mit der vorhandenen Information über die Optionsgeschäfte hatte der verständige Kapitalmarktteilnehmer grundsätzlich Kenntnis davon, dass hiermit bei entsprechender Marktentwicklung ein potentielles wirtschaftliches Risiko für die Musterbeklagte zu 1 verbunden war. Ein <em>abstraktes</em> Risiko war unabhängig davon erkennbar, ob der Optionsbestand auf eine Beteiligungserhöhung auf 50 % oder auf 75 % gerichtet war. Auch bei Absicherung einer Aufstockung auf nur 50 % waren die zur Liquiditätsbeschaffung eingesetzten Aktienoptionen erkennbar mit erheblichen – abstrakten – wirtschaftlichen Risiken verbunden. Wie in den bereits in Bezug genommenen Analysen näher ausgeführt, war es für den Markt naheliegend, dass die Musterbeklagte zu 1 insoweit in erheblichem Umfang Put-Optionen verkauft hatte. Das genaue Ausmaß dieses Risikos war für den verständigen Marktteilnehmer zwar nicht erkennbar. Er hatte weder Kenntnis von dem genauen Optionsbestand – insbesondere auch nicht von dem Verkauf sog. freistehender Put-Optionen – noch von der genauen Ausgestaltung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_316">316</a></dt> <dd><p>Allerdings bestand auch nach dem Vortrag der Musterklägerin bis Mitte Oktober 2008 kein <em>konkretes</em> erhebliches Risiko, weil aufgrund der mit den Optionsstrategien verbundenen Nachfrage ein gleichbleibender bzw. leicht steigender Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 garantiert gewesen sei. Wären dem verständigen Anleger diese Umstände insgesamt bekannt gewesen, hätte er damit dem abstrakt mit den Optionsstrategien verbundenen Risiko keine wesentliche Bedeutung für die Anlageentscheidung betreffend Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 1 beigemessen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_317">317</a></dt> <dd><p>(δ) Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kapitalmarkt teilweise – wenn auch nicht einheitlich – sogar ausdrücklich davon ausging, dass die Musterbeklagte zu 1 eine Beherrschung der Musterbeklagten zu 2 anstrebte (vgl. näher Rn. 188 f., 193, 197, 200 f.). Verschiedene Erklärungen der Musterbeklagten zu 1 und sonstige Umstände – etwa deren Bestrebungen, eine Änderung des VW-Gesetzes herbeizuführen (näher: Rn. 198 ff.) – ließen dahingehende Überlegungen auch naheliegend erscheinen. Diese Erwartungen (<em>„Übernahmefantasien“</em>) reduzierten ein etwaig verbleibendes Kursbeeinflussungspotenzial zusätzlicher Informationen weiter.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_318">318</a></dt> <dd><p>Die Auffassung der Musterklägerin, die mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 mitgeteilten Umstände seien für den Kapitalmarkt völlig neu und überraschend gewesen, trifft daher nicht zu. Überraschend mögen zwar insbesondere der Zeitpunkt des konkreten Beschlusses, der genaue Umfang der Kurssicherungsstrategien und die damit verbundene Marktenge gewesen sein. Dies ändert jedoch nichts an dem jedenfalls nicht offensichtlichen Kursbeeinflussungspotenzial dieser und weiterer Details vor dem 26. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_319">319</a></dt> <dd><p>(ε) Der tatsächliche Kursverlauf der Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 1 indiziert keine Kursrelevanz der infrage stehenden Informationen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_320">320</a></dt> <dd><p>Nach dem Bericht des Handelsblatts vom 4. März 2008 (Anlagenkonvolut MBPor 72 a.E.) zeigte sich <em>„die Börse“</em> zwar überrascht über die Ankündigung der Musterbeklagten zu 1 vom 3. März 2008, ihren Anteil an der Musterbeklagten zu 2 auf über 50 % aufstocken zu wollen; die <em>„Porsche-Aktie“</em> habe um knapp 3 % <em>„zugelegt“</em>. Aus dieser Reaktion auf die konkret und zeitnah bevorstehende Beteiligungserhöhung lassen sich aber keine tragfähigen Rückschlüsse ziehen, wie der Kapitalmarkt auf die Mitteilung der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> reagiert hätte, deren weitergehende Umsetzung – wie dargestellt – in der Zukunft lag und unsicherer war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_321">321</a></dt> <dd><p>Die Kursentwicklung der Porsche-Vorzugsaktie in den Tagen nach dem 3. März 2008 hat die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Musterklägerin trotz des Hinweis- und Auflagenbeschlusses des Senats vom 11. September 2017 nicht dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_322">322</a></dt> <dd><p>Hinweise auf eine Kursrelevanz dieser Informationen folgen ebenso wenig aus der Kursentwicklung nach dem 26. Oktober 2008, mithin nach der Veröffentlichung der Absicht einer Anteilsaufstockung und Beherrschung der Musterbeklagten zu 2. Aus den vorgetragenen Daten für den Zeitraum vom 20. bis 31. Oktober 2008 (Schriftsatz vom 4. Oktober 2017 [Rn. 220], Bl. 3330 d.A.) ergibt sich zwar ein deutlich erhöhtes Handelsvolumen nach der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008, wobei dieses allerdings bereits am 24. Oktober 2008 gegenüber den Vortagen deutlich angestiegen war, so dass dies für sich genommen keine Rückschlüsse auf eine Kurserheblichkeit zulässt. Ein deutlicher Kurssprung auf rund 56 € ist erst am 29. Oktober 2008 zu verzeichnen, möglicherweise beeinflusst durch die an diesem Tag erfolgte Ankündigung, einen Teil der Optionspositionen aufzulösen. Der weitere Vortrag der Musterklägerin mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2018 (dort Rn. 365), der Kurs der Vorzugsaktien sei unmittelbar nach der Veröffentlichung der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 von unter 40 € auf über 60 € gestiegen, bezieht sich ersichtlich auf diesen Kursanstieg ab dem 29. Oktober. Der Schlusskurs am 24. Oktober 2008 mit 39,347 € und die Eröffnungs- und Schlusskurse am 27. und 28. Oktober 2008 zwischen 37,953 € und 39,321 € bewegen sich ebenso wie der Tageshöchstkurs am 28. Oktober 2008 mit 42,552 € in einer <em>„üblichen“</em> Bandbreite. Dass der Tiefstkurs von 32,149 € am 27. Oktober 2008 unüblich niedrig gewesen wäre und Rückschlüsse auf eine Kursrelevanz zuließe, ist dem Vortrag nicht zu entnehmen. Auch die Schwankungsbreite der Kurse am 27. und 28. Oktober 2008 von gut 26 % lässt entgegen der Auffassung der Musterklägerin keine Rückschlüsse auf eine Kursrelevanz zu; bereits an den beiden Tagen des 23. und 24. Oktober 2008 gab es eine ähnliche Schwankungsbreite.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_323">323</a></dt> <dd><p>Es gibt daher – ex post – keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine Kursrelevanz. Ohnehin sind Rückschlüsse aus der Kursentwicklung in diesem späteren Zeitraum auf die Kursrelevanz der in Frage stehenden Umstände vor dem 26. Oktober 2008 allenfalls sehr eingeschränkt möglich, weil dort jedenfalls die Kursentwicklung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2, deren Auswirkungen auf die Kursentwicklung der Vorzugsaktie der Musterbeklagten zu 1 ebenfalls in Frage stehen, nach dem Vortrag der Musterklägerin durch die besondere Situation nicht nur einer Marktenge, sondern auch eines hohen Anteils an Leerverkäufen geprägt war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_324">324</a></dt> <dd><p>Rückschlüsse auf eine Kursrelevanz für die Vorzugsaktie der Musterbeklagten zu 1 aus einer möglichen Beeinflussung des Kurses der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 durch die Erklärung vom 3. März 2008 sind nicht schlüssig dargelegt und auch nicht sonst ersichtlich. Die Musterklägerin stützt sich insoweit darauf, dass die Handelsaktivität in den Tagen des 8. bis 10. März 2008 die Kursrelevanz der Information belegte; diese Handelsaktivität habe im Zusammenhang mit Presseberichten vom 8. und 10. März 2008 über die Übernahme und den Abschluss eines Beherrschungsvertrags (Anlagen MK 40, 41) gestanden. Eine solche Kursrelevanz wird aber durch die als Anlage MBPor 99 vorgelegte Kurshistorie der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 gerade nicht bestätigt. Am Freitag, den 7. März 2008, belief sich der Schlusskurs auf 151,75 €, am Montag, den 10. März 2008, auf 154,25 € und am Dienstag, den 11. März 2008, auf 154,51 € und stieg in den folgenden Tagen bis zum 14. März 2008 auf 157,15 €. Größere Kursprünge waren erst ab dem 17. bis zum 26. März 2008 zu vermerken, als der Kurs bis auf 186,54 € stieg. Eine unmittelbare Kursbeeinflussung lässt sich daher weder auf die Presseartikel noch auf die Pressemitteilung vom 10. März 2008 zurückführen. Auch in den vorangegangenen Tagen lässt sich eine Auswirkung jedenfalls der tatsächlich erfolgten Mitteilungen auf den Aktienkurs nicht erkennen. Der Eröffnungskurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 am 3. März 2008, dem Tag der Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung, betrug 149,1 €. Der Tagesschlusskurs belief sich auf 152,35 € mit einem Höchstkurs bei 154,3 €. Auch in den darauffolgenden Tagen lag er zwischen 150,29 € und 154,44 €. Solche Kursänderungen liegen im Rahmen der üblichen Schwankungsbreite üblicher Börsentage.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_325">325</a></dt> <dd><p>Nach dem zumindest nicht ausdrücklich bestrittenen Vortrag der Musterbeklagten zu 1 war auch die BaFin nach einer Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kursverlauf der Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 1 insbesondere im September und Oktober 2008 (einschließlich den Tagen nach dem 26. Oktober 2008) dem allgemeinen Markttrend folgte und die Veröffentlichung der Musterbeklagten zu 1 zu keiner eigenständigen Kursentwicklung führte (Bl. 1958, 3444). Auf diese vorgetragene Untersuchung kommt es aber nicht mehr entscheidend an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_326">326</a></dt> <dd><p>(ζ) Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Der – eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift darstellende (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 44) – Emittentenleitfaden (Stand 15. Juli 2005, IV.2.2.4) führt in dem Katalog veröffentlichungspflichtiger Insiderinformationen sowohl Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsverträge als auch den Erwerb von wesentlichen Beteiligungen als Fallkonstellationen an, bei denen sich die Frage der Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung stellt. Dass bei diesen Fallgestaltungen in der Regel von einem erheblichen Preisbeeinflussungspotential auszugehen wäre, nahm aber auch die BaFin (anders als im Emittentenleitfaden 2009) nicht an. Im Übrigen ging es – nach der Behauptung der Musterklägerin – nur um den künftigen Umstand eines Beherrschungsvertrags, so dass zu berücksichtigen war, ob dieser Umstand nach allgemeiner Erfahrung in Zukunft überhaupt eintreten würde (vgl. auch Rn. 287 ff.). Den Erwerb einer wesentlichen Beteiligung hat die Musterbeklagte zu 1 durch die Ad-hoc-Mitteilung bekannt gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_327">327</a></dt> <dd><p>(cc) Ob schließlich auch ein Fall des rechtmäßigen Alternativverhaltens vorläge, weil sich die Musterbeklagte zu 1 für einen Aufschub der Veröffentlichung gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG entschieden hätte, wenn sie das – unterstellte – Vorliegen einer Insiderinformation erkannt hätte, und ob die Voraussetzungen für eine solche <em>„Selbstbefreiung“</em> vorgelegen haben (vgl. dazu etwa BGH, Beschluss vom 23. April 2013 – II ZB 7/09, juris Rn. 33 ff.), muss hiernach nicht entschieden werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_328">328</a></dt> <dd><p>(dd) Weitergehende Publizitätspflichten bestehen nicht deshalb, weil kursrelevante Falschinformationen über konkrete selbstbezogene Umstände, welche ein Emittent auf anderem Wege als durch Ad-hoc-Mitteilung in den Kapitalmarkt gegeben hat, eine Pflicht zur unverzüglichen Publizierung einer berichtigenden Ad-hoc-Mitteilung auslösten (OLG München, Beschluss vom 15. Dezember 2014 – Kap 3/10, juris Rn. 462 f.). Die infrage stehenden Pressemitteilungen und weiteren Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 waren weder (grob) falsch noch in kursrelevanter Weise (grob) irreführend (vgl. auch Rn. 330 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_329">329</a></dt> <dd><p>(ee) Zudem waren die Publizitätspflichten nach § 15 WpHG zum damaligen Zeitpunkt in der rechtlichen Diskussion noch nicht vollständig aufgearbeitet. Insbesondere die maßgeblichen Entscheidungen zur Publizitätspflicht bei zeitlich gestreckten Vorgängen (EuGH, Urteil vom 28. Juni 2012 – C-19/11, juris; BGH, Beschluss vom 23. April 2013 – II ZB 7/09, juris) sind erst deutlich nach dem hier infrage stehenden Zeitraum ergangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_330">330</a></dt> <dd><p>cc) Eine allgemeine Rechtspflicht, die angenommene <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> zu veröffentlichen, bestand auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Ingerenz (vgl. dazu etwa LG Stuttgart, Vorlagebeschluss vom 28. Februar 2017 – 22 AR 1/17 Kap, juris Rn. 82).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_331">331</a></dt> <dd><p>Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine Garantenstellung aus Ingerenz ein pflichtwidriges Vorverhalten voraus (BGH, Beschluss vom 8. März 2017 – 1 StR 466/16, juris Rn. 26; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. September 2005 – II ZR 380/03, juris Rn. 27). An einem solchen pflichtwidrigen Vorverhalten der Musterbeklagten zu 1 fehlt es hier. Der Beteiligungsaufbau ab dem Jahr 2005, den die Musterbeklagte zu 1 durch Kapitalmarktinformationen bekannt gemacht hat, und der Abschluss der einzelnen Optionsstrategien waren zulässig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_332">332</a></dt> <dd><p>Auch die Veröffentlichung einer fehlerhaften Pressemitteilung kann die Pflicht zu deren Korrektur auslösen. Dies ist für den Fall anerkannt, dass die weiteren Voraussetzungen der Ad-hoc-Publizitätspflicht nach § 15 WpHG vorliegen (vgl. nur OLG München, Beschluss vom 15. Dezember 2014 – KAP 3/10, juris Rn. 449 ff.). Hier bestand eine solche Publizitätspflicht zumindest nicht offensichtlich. Die einzelnen Veröffentlichungen der Musterbeklagten zu 1 insbesondere zum Beteiligungsaufbau waren – wie ausgeführt – auch nicht falsch, jedenfalls nicht grob falsch. Gleiches gilt umso mehr für die Ad-hoc-Mitteilungen und Pressemitteilungen vor dem 3. März 2008. Diese früheren Mitteilungen wirkten darüber hinaus in dem streitgegenständlichen Zeitraum, in dem Impulse für Anlageentscheidungen der Musterklägerin und der Beigeladenen gesetzt worden sein mögen, nicht mehr fort (vgl. dazu etwa die Erwägungen des Senats unter III.1. in dem Beschluss vom 12. Januar 2017, an denen der Senat festhält). Dies gilt gleichfalls für die im Anschluss an die Ziehung der Kreditlinie über 10 Mrd. € am 20. Februar 2008 erfolgte Mitteilung, diese Kreditmittel kurzfristig zinsbringend anzulegen. Dass hierdurch ein – zumal im hier streitgegenständlichen Zeitraum – korrekturbedürftiges Fehlverständnis hervorgerufen worden wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich (näher: Rn. 183 ff.). Diese vorangegangenen Umstände lösten deshalb jedenfalls keine Korrekturpflicht aus, die ihrerseits einem sittlichen Gebot entspräche und im Rahmen der infrage stehenden Haftung nach § 826 BGB relevant wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_333">333</a></dt> <dd><p>dd) Es bestand auch keine aus § 242 BGB folgende, auf möglichem Vertrauen der Marktteilnehmer beruhende oder sonst etwa sittlich gebotene Handlungspflicht, und zwar auch nicht zur Veröffentlichung des Vorratsbeschlusses des Aufsichtsrats vom 23. Juli 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_334">334</a></dt> <dd><p>Entgegen der Ansicht der Musterklägerin schafft der Umstand, dass die Musterbeklagte zu 1 in der Vergangenheit Ermächtigungsbeschlüsse des Aufsichtsrats in Bezug auf den Beteiligungsaufbau – teilweise auch im Wege von Ad-hoc-Mitteilungen – veröffentlicht hatte, keinen Vertrauenstatbestand, auch in Zukunft so zu verfahren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_335">335</a></dt> <dd><p>Dem steht bereits entgegen, dass die Veröffentlichungspflicht nicht im Belieben des Emittenten steht, sondern eine Kursrelevanz voraussetzt. Es ist in jedem Einzelfall vom Emittenten zu prüfen, ob bei einem Vorratsbeschluss die Voraussetzungen des § 15 WpHG vorliegen. Allein der Umstand, dass in der Vergangenheit Ermächtigungsbeschlüsse des Aufsichtsrats bekannt gemacht wurden, reicht nicht aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_336">336</a></dt> <dd><p>Der Beschluss des Aufsichtsrats vom 23. Juli 2008, den Vorstand vorsorglich auf Vorrat zu ermächtigen, die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 1 auch auf über 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 aufzustocken, unterschied sich wesentlich insbesondere von dem durch eine Ad-hoc-Mitteilung bekannt gemachten Aufsichtsratsbeschluss vom 24. März 2007, der den Vorstand ermächtigt hatte, die Beteiligung auf bis zu 31 % zu erhöhen. Letztgenannten Ermächtigungsbeschluss setzte der Vorstand zeitnah um. Die Beteiligungsaufstockung stand im Zeitpunkt des Ermächtigungsbeschlusses und der Information hierüber ersichtlich konkret und hinreichend wahrscheinlich bevor. Die Situation bei Veröffentlichung des Aufsichtsratsbeschlusses vom 3. März 2008 war vergleichbar. Demgegenüber bestehen auch nach dem klägerischen Vortrag keine Anhaltspunkte dafür, dass der Ermächtigungsbeschluss vom 23. Juli 2008 zeitnah umgesetzt werden sollte. Vielmehr erklärt die Musterbeklagte zu 1 diesen Vorratsbeschluss – ohne dass es hierauf letztlich ankäme – durchaus plausibel damit, dass sie durch die vorgezogene Ermächtigung mögliche Probleme wegen der bevorstehenden Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter der Musterbeklagten zu 2 im Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 vermeiden wollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_337">337</a></dt> <dd><p>Dass die Musterbeklagte zu 1 durch Pressemitteilung vom 15. November 2006 einen Vorratsbeschluss des Aufsichtsrates vom selben Tag bekannt gemacht hatte, der ebenfalls nicht zeitnah umgesetzt und schließlich durch den weiteren Ermächtigungsbeschluss vom 24. März 2007 überholt wurde, begründete kein schützenswertes Vertrauen der Marktteilnehmer darin, dass die Musterbeklagte zu 1 auch Ermächtigungsbeschlüsse, deren Umsetzung nicht konkret bevorsteht, stets bekanntmachen werde. Ein solches Vertrauen setzte schon im Ausgangspunkt eine regelmäßige, sich häufig wiederholende, vergleichbare Handhabung voraus, an der es hier bereits fehlt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_338">338</a></dt> <dd><p>Ohne dass es hierauf noch ankäme, wäre bei der gebotenen Gesamtbetrachtung noch die Motivation und die Vorstellung der Musterbeklagten zu 1 zu berücksichtigen. Diese hat ausgeführt, nach Hinzuziehung ihrer Rechtsberater zu dem Ergebnis gekommen zu sein, dass aufgrund des bloßen Vorratscharakters keine Veröffentlichungspflicht bestehe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_339">339</a></dt> <dd><p>ee) Ob Mitteilungs- und Veröffentlichungspflichten für sog. Directors‘ Dealings nach § 15a WpHG bestanden, braucht nicht entschieden zu werden. Sie waren jedenfalls nicht offensichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_340">340</a></dt> <dd><p>Nach verbreiteter Auffassung können bei einem Verstoß gegen § 15a WpHG Schadensersatzansprüche wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB in Betracht kommen (Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl., § 15a Rn. 199; Sethe in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 15a Rn. 141; Zimmer/Osterloh in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl., § 15a WpHG Rn. 110). Zweifel hieran bestehen allerdings insoweit, als diese Vorschrift lediglich Mitteilungspflichten gegenüber der BaFin sowie dem Emittenten begründet. Vorschriften, die den Schutz der Allgemeinheit oder die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts betreffen, kommen zur Konkretisierung der individualschützenden Vorschrift des § 826 BGB allenfalls eingeschränkt in Betracht (dazu: Fuchs in: Fuchs, 2. Aufl., vor §§ 37b, 37c Rn. 33). Dies kann ebenso offen bleiben wie die Frage, ob die Musterbeklagte zu 1 überhaupt gegen § 15a WpHG verstoßen hat. Denn selbst ein solcher Verstoß reichte – auch in der Gesamtschau – für ein Verwerflichkeitsurteil nicht aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_341">341</a></dt> <dd><p>(a) Nach § 15a Abs. 1 S. 1, 2 WpHG könnte eine Pflicht der Musterbeklagten zu 1 bestanden haben, ihre Geschäfte mit Aktien der Musterbeklagten zu 2 und mit hierauf bezogenen Optionen der Musterbeklagten zu 2 sowie der BaFin mitzuteilen. Die Musterbeklagte zu 2 wäre dann nach § 15a Abs. 4 WpHG verpflichtet gewesen, diese Informationen zu veröffentlichen. Anders als etwa nach §§ 21, 22 WpHG waren insoweit grundsätzlich auch Optionsgeschäfte mitteilungspflichtig, die auf Barausgleich gerichtet waren (Pfüller, a.a.O., Rn. 140a).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_342">342</a></dt> <dd><p>§ 15a Abs. 1 S. 1 WpHG begründete eine Pflicht zur Mitteilung von eigenen Geschäften mit Aktien der Musterbeklagten zu 2 und hierauf bezogenen Derivaten für Personen, die bei der Musterbeklagten zu 2 Führungsaufgaben nach § 15a Abs. 2 WpHG wahrnehmen. Solche Führungsaufgaben hatten als Mitglieder des Aufsichtsrats der Musterbeklagten zu 2 die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. und H. sowie die Mit-Anteilseigner der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. P. und Prof. Dr. F. P..</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_343">343</a></dt> <dd><p>§ 15a Abs. 1 S. 1, 2, Abs. 3 S. 2, 3 WpHG erstreckte diese Mitteilungspflicht u.a. auf juristische Personen, bei denen solche Personen Führungsaufgaben wahrnehmen, die direkt oder indirekt von einer solchen Person kontrolliert werden, die zugunsten einer solchen Person gegründet wurden oder deren wirtschaftliche Interessen weitgehend denen einer solchen Person entsprechen. Es kommt in Betracht, dass es sich bei der Musterbeklagten zu 1 um eine hiervon erfasste juristische Person handelte. Allerdings ist der Wortlaut von § 15a Abs. 3 S. 2, 3 WpHG nach allgemeiner Auffassung zu weit gefasst und teleologisch zu reduzieren, um nur solche Fälle zu erfassen, die vom Regelungszweck, nämlich der Verhinderung von Umgehungssachverhalten, betroffen sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_344">344</a></dt> <dd><p>Die BaFin vertritt die Auffassung, dass nur die Geschäfte solcher Gesellschaften zu erfassen seien, bei denen für die natürliche Person eine Möglichkeit besteht, sich einen nennenswerten wirtschaftlichen Vorteil zu sichern; ein solch nennenswerter wirtschaftlicher Vorteil könne zum Beispiel dann erzielt werden, wenn die Führungsperson (...) an der Gesellschaft mit mindestens 50 % beteiligt ist, mindestens 50 % der Stimmrechte an der Gesellschaft hält oder ihr mindestens 50 % der Gewinne der Gesellschaft zugerechnet werden (BaFin, Emittentenleitfaden 2005, S. 72 f.; Emittentenleitfaden 2009, S. 87; zustimmend: OLG Stuttgart, Urteil vom 17. November 2010 – 20 U 2/10, juris Rn. 699; Sethe in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 15a Rn. 56 f.; wohl ebenso: Heinrich in: KK-WpHG, 2. Aufl., § 15a Rn. 48; krit.: Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl., § 15a Rn. 106b; ders. in: Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2. Aufl., § 23 Rn. 30 [offen jetzt in: 3. Aufl., § 22 Rn. 47]; Zimmer/Osterloh, a.a.O., Rn. 75; Osterloh, Directors‘ Dealings, 458 ff.; Sethe/Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., Art. 19 VO (EU) Nr. 596/2014, Rn. 52).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_345">345</a></dt> <dd><p>Diese von der BaFin formulierten Grenzen von jeweils 50 % der Beteiligung an der Musterbeklagten zu 1, der Stimmrechte oder der Gewinnzurechnung wurden von den genannten Personen, die Führungsaufgaben bei der Musterbeklagten zu 2 wahrnahmen, auch nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen nicht überschritten. Die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. und H. erhielten hiernach in dem fraglichen Zeitraum Gewinnbeteiligungen in Höhe von 1,0 % bzw. 0,2 % des um 100 Mio. € gekürzten Ergebnisses des Porsche-Konzerns. Die Mit-Anteilseigner der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. P. und Prof. Dr. F. P. verfügten hiernach in dem maßgeblichen Zeitraum selbst über unmittelbare Beteiligungsquoten an der Musterbeklagten zu 1 von jeweils etwa 15 %. Nur unter Hinzurechnung der Stimmrechtsanteile der weiteren Stammaktionäre – weitere Mitglieder der Familien Po. und P. – wäre die genannte Stimmrechtsquote überschritten. Gewinne von <em>„rund“</em> 50 % der Musterbeklagten zu 1 waren ihren Familien nach diesem Vortrag auch nur in der Gesamtschau zurechenbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_346">346</a></dt> <dd><p>Diese Gesichtspunkte könnten dafür sprechen, § 15a Abs. 1, 3 WpHG hier nicht anzuwenden. Das kann aber letztlich offenbleiben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_347">347</a></dt> <dd><p>(b) Selbst wenn die Musterbeklagte zu 1 solche Mitteilungspflichten verletzt haben sollte, wäre ihr Verhalten – insbesondere die unterlassene Veröffentlichung ihrer <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> und der zugrundeliegenden Umstände – noch nicht sittenwidrig im Sinne des § 826 BGB. Hierauf ist der Senat in dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. Mai 2022 näher eingegangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_348">348</a></dt> <dd><p>(aa) Der mögliche Verstoß gegen § 15a WpHG war unter Berücksichtigung der von der BaFin im Emittentenleitfaden formulierten Maßstäbe jedenfalls nicht eindeutig. Es ist nicht ersichtlich, dass die Musterbeklagte zu 1 sich absichtlich über eindeutige Verhaltenspflichten hinweggesetzt hätte. Das Oberlandesgericht Stuttgart (a.a.O., Rn. 695 ff.) hat einen solchen Verstoß im Hinblick auf letztlich denselben Sachverhalt verneint.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_349">349</a></dt> <dd><p>(bb) Ferner sind die Interessen des Kapitalmarkts, denen die Mitteilungspflichten nach § 15a WpHG dienen, hier schon nicht konkret betroffen. Selbst wenn die Musterbeklagte zu 1 eine entsprechende Mitteilungspflicht verletzt haben und dies für einen Schaden von Kapitalmarktteilnehmern kausal geworden sein sollte, fehlte es doch an einem funktionalen Zusammenhang gerade mit den durch die Regelung des § 15a WpHG verfolgten Zielen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_350">350</a></dt> <dd><p>(aaa) Der Regelung des § 15a WpHG liegt die Erwägung zugrunde, dass Personen mit Führungsaufgaben im Regelfall einen Wissensvorsprung über die Verhältnisse des Emittenten haben und ihre Geschäfte mit Wertpapieren des Emittenten deshalb für das breite Publikum Rückschlüsse auf die gegenwärtige oder künftige Unternehmensentwicklung erlauben können; diese Geschäfte haben damit eine sog. Indikatorwirkung (Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung, BT-Drs. 14/8017, S. 87). Die Mitteilungspflicht soll bewirken, dass das breite Anlegerpublikum an einem solchen Wissensvorsprung indirekt teilhat (Pfüller, a.a.O., Rn. 22, 24; Sethe, a.a.O. [6. Aufl.], Rn. 12 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_351">351</a></dt> <dd><p>Im vorliegenden Fall beruhten die konkreten Wertpapier- und Derivategeschäfte der Musterbeklagten zu 1 demgegenüber nicht auf einem speziellen Wissensvorsprung ihrer Vorstände und Anteilseigner, die diese gerade in ihrer Funktion als Aufsichtsräte der Musterbeklagten zu 2 erlangt hätten. Dadurch, dass die Musterbeklagte zu 1 keine Mitteilungen nach § 15a WpHG vorgenommen hat, hatte sie dem Kapitalmarkt in der Sache kein derartiges Insiderwissen vorenthalten. Die Musterklägerin behauptet zwar mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2008, das Eingehen des erheblichen Risikos durch den Verkauf von Put-Optionen sei nur dadurch zu erklären, dass die Musterbeklagte zu 1 die Kontrolle über wesentliche operative Entscheidung der Musterbeklagten zu 2, sämtliche relevanten Informationen und den Informationsfluss an den Kapitalmarkt habe ausüben können. Diese Behauptung ist bereits zu pauschal und könnte damit unbeachtlich sein. Sie steht aber zusätzlich im Widerspruch zu grundlegendem Vortrag unter anderem aus der Musterklagebegründung (u.a. Rn. 247, 252 ff., 345 ff.) und dem Schriftsatz vom 4. Oktober 2017. Dort trägt die Musterklägerin vor: Voraussetzung für den Erfolg des Übernahmeplans sei ein gleichbleibender oder leicht steigender Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 gewesen. Die kontinuierliche Nachfrage nach diesen Aktien aufgrund der Hedging-Geschäfte in Verbindung mit der hierdurch erzeugten Marktverengung habe diese Kursentwicklung garantiert. Der Aktienkurs habe sich damit nicht nur vom allgemeinen Markttrend, sondern auch von dem inneren Wert der Aktie entkoppelt. Dies habe ein künstliches Preisniveau geschaffen und an sich angezeigte Kursrückgänge verhindert. Dieser Mechanismus habe erst nach dem 15. September 2008 versagt. Hiernach kam der tatsächlichen operativen Tätigkeit und der Kapitalmarktkommunikation der Musterbeklagten zu 2 und damit einem möglichen diesbezüglichen speziellen Wissensvorsprung der Personen mit Führungsaufgaben der Musterbeklagten zu 1 in dieser Zeit gerade keine wesentliche Bedeutung für die Umsetzung des Übernahmeplans zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_352">352</a></dt> <dd><p>Nach dem Vortrag der Musterklägerin enthielt die Musterbeklagte zu 1 zwar Informationen zum Umfang des Beteiligungsaufbaus als solchem vor – und damit indirekt auch zu einer mit diesem Beteiligungsaufbau selbst zusammenhängenden möglichen künftigen Wertentwicklung der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2. Diese Umstände standen aber nicht im Zusammenhang mit möglichem Insiderwissen der Führungspersonen der Musterbeklagten zu 1 aus ihrer Tätigkeit als Aufsichtsräte der Musterbeklagten zu 2. § 15a WpHG dient – anders als §§ 21 f. WpHG – nicht dem Zweck, allgemein Transparenz über Beteiligungsverhältnisse zu schaffen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_353">353</a></dt> <dd><p>(bbb) § 15a WpHG dient zwar auch dem Zweck, bereits den Anschein eines Ausnutzens von Insiderwissen zu vermeiden und allgemein die Redlichkeit des Marktes zu fördern (BT-Drs. 14/8017, S. 88; Pfüller, a.a.O., Rn. 23, 27; Sethe, a.a.O. [6. Aufl.], Rn. 14). Diese allgemein präventiven Funktionen mögen vorliegend durch eine Verletzung der Mitteilungspflicht berührt gewesen sein. Die mögliche Schädigung der vorliegend beteiligten Anleger ist hierauf aber nicht zurückzuführen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_354">354</a></dt> <dd><p>(cc) Darüber hinaus war das Verhalten der Musterbeklagten zu 1 nicht deshalb sittenwidrig, weil sie ein auf unterbliebenen Mitteilungen nach § 15a WpHG beruhendes Vertrauen der Anleger darin ausgenutzt hätte, dass hiernach mitteilungspflichtige Geschäfte nicht erfolgt wären. Vielmehr war dem verständigen Kapitalmarktteilnehmer schon aufgrund der Presse- und Ad-hoc-Mitteilungen und der Meldungen nach § 21 f. WpHG ersichtlich, dass die Musterbeklagte zu 1 die fraglichen Geschäfte nicht nach § 15a WpHG für mitteilungspflichtig hielt, solche Mitteilungen jedenfalls nicht vornahm.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_355">355</a></dt> <dd><p>g) Auch in einer <span style="text-decoration:underline">übergreifenden Gesamtschau</span> stellt sich das Verhalten (Handeln und Unterlassen) der Musterbeklagten zu 1 in dem Zeitraum vor dem 26. Oktober 2008 nicht als verwerflich dar. Diese Kapitalmarktkommunikation ist insbesondere weder aufgrund ihrer Auswirkungen auf den Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 noch aufgrund der Verfolgung eigener Ziele durch die Musterbeklagte zu 1 oder aufgrund des behaupteten Zusammenhangs mit dem <em>„Diesel-Abgasskandal“</em> sittenwidrig (vgl. zu weiteren Gesichtspunkten schon Rn. 169 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_356">356</a></dt> <dd><p>aa) Dass die Musterbeklagte zu 1 nicht von sich aus über ihre Überlegungen im Hinblick auf eine mögliche Aufstockung ihrer Anteile an der Musterbeklagten zu 2 auf 75 % und einen möglichen Beherrschungsvertrag sowie den zur Sicherung solcher Schritte erfolgten Aufbau von Optionspositionen im Detail informierte und teilweise Nachfragen oder Gerüchten mit Presseäußerungen begegnete, die jeweils interpretationsfähig waren und teilweise bei entsprechender Interpretation bei Außerachtlassung der sonstigen Umstände auch dahin verstanden werden konnten, dass Entsprechendes nicht beabsichtigt sei, reicht auch in einer Gesamtschau nicht aus, um ihr Verhalten als sittenwidrig im Sinn des § 826 BGB einzustufen. Die Äußerungen waren jeweils so formuliert, dass verständige Marktteilnehmer – zumal insbesondere professionelle Anleger – ebenso wie Analysten erkennen konnten, dass die Musterbeklagte zu 1 abschließende Dementis gezielt vermied. Auch im Ergebnis erweckte die Musterbeklagte zu 1 – wie die verschiedenen in Bezug genommenen Analystenberichte belegen – insoweit im Wesentlichen keinen unrichtigen Eindruck. Dass die einzelnen Äußerungen und das Unterlassen einer Information über die <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> nach dem Vortrag der Musterklägerin Teil einer übergreifenden Kommunikationsstrategie war, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Wegen der Einzelheiten wird auf die obigen Erwägungen (Rn. 171 ff.) Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_357">357</a></dt> <dd><p>Gerade dass Analysten teilweise unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 von deren Ziel ausgegangen waren, die Musterbeklagte zu 2 zu beherrschen (dazu Rn. 135, 185 ff.), zeigt schon, dass diese Kommunikationsstrategie nach den Maßstäben des verständigen Kapitalmarktteilnehmers nicht verwerflich war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_358">358</a></dt> <dd><p>bb) Die Kommunikationsstrategie der Musterbeklagten zu 1 war nicht deshalb verwerflich, weil sie gemeinsam mit dem Beteiligungsaufbau einschließlich der Hedging-Aktivitäten dazu führte – und nach dem Vortrag der Musterklägerin auch führen sollte –, dass der Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 mit einer leicht steigenden Tendenz stabil gehalten und zu starke Kursanstiege vermieden werden sollten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_359">359</a></dt> <dd><p>Dieser Beteiligungsaufbau und die ihn flankierende Kommunikationsstrategie waren nicht unter Verstoß gegen § 20a WpHG marktmanipulativ. Auf spezielle Gesichtspunkte des sog. Cornering und allgemein das Verhältnis zu der Mitteilung vom 26. Oktober 2008 wird im dortigen Zusammenhang eingegangen (Rn. 543 ff.). Die Musterklägerin setzt sich diesbezüglich nicht mit der umfassenden Würdigung des Privatsachverständigen V. in seinem von ihr vorgelegten Gutachten vom 15. Oktober 2009 (Anlage MK 37) auseinander. Der Senat schließt sich dessen Erwägungen an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_360">360</a></dt> <dd><p>Auch abgesehen davon ist die behauptete Kursbeeinflussung nicht als verwerflich einzustufen. Der verständige Kapitalmarktteilnehmer rechnet damit, dass einerseits die durch eine Beteiligungsaufstockung generierte Nachfrage kurssteigernd wirkt und dass andererseits die übernehmende Gesellschaft kein Interesse an Kursübertreibungen oder übermäßigen Kurssteigerungen im Vorfeld der Übernahme hat und deshalb eine eher zurückhaltende Informationspolitik verfolgen wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_361">361</a></dt> <dd><p>cc) Eine die Ersatzpflicht nach § 826 BGB auslösende Verwerflichkeit dieser Kommunikationsstrategie lässt sich ebenso wenig damit begründen, dass die Musterbeklagte zu 1 es billigend in Kauf genommen hätte, dass die Doppelmandatsträger wesentliche Informationen nicht an die Musterbeklagte zu 2 weiterleiteten, so dass diese einer ihr im Falle einer solchen Kenntnis obliegenden Ad-hoc-Pflicht nicht habe nachkommen können. Dieser Vorwurf läuft letztlich darauf hinaus, dass die Musterbeklagte zu 1 ihre Übernahmepläne weiter verfolgte, obwohl der Kapitalmarkt hierüber nicht vollständig informiert war. Es bestehen indes keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kapitalmarkt darauf vertraute, von der Musterbeklagten zu 2 über Übernahmepläne der Musterbeklagten zu 1 informiert zu werden, was gerade wiederum vorausgesetzt hätte, dass u.a. diese Doppelmandatsträger ihre gegenüber der Musterbeklagten zu 1 bestehenden Geheimhaltungspflichten (dazu näher Rn. 631 ff.) verletzt hätten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_362">362</a></dt> <dd><p>dd) Das fragliche Verhalten der Musterbeklagten zu 1 war trotz der teilweise offenen und – im Hinblick auf die Äußerung vom 10. März 2008 – möglicherweise missverständlichen Formulierung nicht deshalb verwerflich, weil die Musterbeklagte zu 1 mit dieser zurückhaltenden Informationspolitik eigene Ziele fördern wollte, insbesondere, wie die Musterklägerin vorträgt, einen übermäßigen Kursanstieg der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 vermeiden und sich den Zugriff auf diese Aktien auch bei zunehmender Marktenge erhalten wollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_363">363</a></dt> <dd><p>In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird in Fällen der Kapitalmarktinformationshaftung der Gesichtspunkt einer angestrebten persönlichen Bereicherung bislang nur zusätzlich zur groben Unrichtigkeit der Mitteilung berücksichtigt (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 402/02, juris Rn. 49 f.; Oechsler in: Staudinger [Stand: 2021], § 826 Rn. 523; dag. MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl., § 826 Rn. 117). Einzelne obergerichtliche Entscheidungen stellten demgegenüber schwerpunktmäßig auf eine (gesteigerte) Absicht der persönlichen Bereicherung ab, ohne dass die Begründung erkennen ließ, dass die – dort wohl jeweils vorliegende – grobe Unrichtigkeit der Mitteilungen ebenso Voraussetzung des Verwerflichkeitsurteils war (so: OLG Frankfurt, Urteil vom 17. März 2005 – 1 U 149/04, juris Rn. 21; den Umstand der <em>„dreisten und sich ständig wiederholenden Lüge“</em> stärker betonend: OLG München, Urteil vom 20. April 2005 – 7 U 5303/04, juris Rn. 10; vgl. in aktienrechtlichem Zusammenhang auch BGH, Urteil vom 22. Juni 1992 – II ZR 178/90, juris Rn. 96; so auch: Sethe in: Assmann/Schneider, 6.Aufl., §§ 37b, 37c Rn. 143).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_364">364</a></dt> <dd><p>Das hier der behaupteten <em>„Kommunikationsstrategie“</em> zu Grunde liegende Gewinnstreben der Musterbeklagten zu 1 war nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und des als <em>„anständig“</em> Geltenden nicht als sittlich anstößig zu bewerten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_365">365</a></dt> <dd><p>(1) Zwar kann im Rahmen des § 826 BGB eine angestrebte persönliche Bereicherung einen die Verwerflichkeit begründenden Umstand darstellen (Fleischer, ZIP 2005, 1805, 1806; ders., DB 2004, 2031, 2034; Möllers, JZ 2005, 75, 76; Krause ZGR 2002, 799, 824 f.). So kann es wegen des verfolgten Zwecks sittenwidrig sein, wenn der Vorstand eines Unternehmens eine Täuschung vornimmt, um Aktien des Unternehmens noch zu einem guten Kurs verkaufen oder eigene Aktien noch preiswert kaufen zu können. In diesen Fallkonstellationen wird Insiderwissen zur persönlichen Bereicherung auf Kosten und durch Täuschung des Anlegerpublikums ausgenutzt; dies sei wegen der eigennützigen Gesinnung als verwerflich zu qualifizieren (Möllers, WM 2003, 2393, 2394; so auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. Januar 2010 - 15 U 230/09, juris Rn. 58; Sethe, a.a.O., Rn. 143).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_366">366</a></dt> <dd><p>(2) Eine solche eigennützige Gesinnung ist hier aber nicht darin zu sehen, dass die Vorstandsmitglieder der Musterbeklagten zu 1 über die gewinnabhängige Vorstandsvergütung im Ergebnis von dem Erfolg der Optionsstrategien für die Musterbeklagte zu 1 partizipiert haben. Die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 Dr. W. und H. erhielten nach dem Vortrag der Musterklägerin Gewinnbeteiligungen in Höhe von rund 66 Mio. € bzw. 13 Mio. € für das Geschäftsjahr 2006/2007 und in Höhe von rund 98 Mio. € bzw. 30 Mio. € für das Geschäftsjahr 2007/2008, die überwiegend auf den mit den Derivategeschäften erzielten Buchgewinnen beruhten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_367">367</a></dt> <dd><p>Es ist bereits nicht ersichtlich, dass die Vorstandsmitglieder der Musterbeklagten zu 1 mit dem Aufbau der Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 vorwiegend eigene Ziele statt der Interessen der Musterbeklagten zu 1 verfolgten. Zudem hing der Erfolg der Optionsstrategien nicht unmittelbar mit der Kursentwicklung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 zusammen (vgl. allg. auch Möllers/Leisch in: KK-WpHG, 2. Aufl., §§ 37b, c Rn. 453). Die Musterbeklagte zu 1 war jedenfalls bis Mitte Oktober 2008 weder an deutlich steigenden noch an deutlich fallenden Kursen interessiert. Steigende Kurse hätten trotz der Optionsstrategien zur Verteuerung des Beteiligungsaufbaus und fallende Kurse aufgrund der Put-Optionen zu Liquiditätsabflüssen führen können. Steigende Kurse führten zwar (kurzfristig) zu Buchgewinnen, die sich auf die gewinnabhängige Vorstandsvergütung auswirkten. Hierbei handelte es sich aber selbst nach dem Vortrag der Musterklägerin nicht um das mit der Kommunikationsstrategie verfolgte Ziel der Musterbeklagten zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_368">368</a></dt> <dd><p>(3) Dabei ist nicht zu verkennen, dass die Pressemitteilung vom 10. März 2008 und allgemein die Kommunikationsstrategie der Musterbeklagten zu 1 nach dem Vortrag der Musterklägerin den angestrebten Beteiligungsaufbau <em>„verschleiern“</em> sollte, um einen Kursanstieg zu verhindern und damit erhöhte Kosten des Beteiligungsaufbaus zu vermeiden. Diese Vermeidung erhöhter Kosten ist jedoch in ihrem Unwertgehalt mit den diskutierten Fällen eines eigennützigen Verhaltens nicht vergleichbar. Ein gewisses Gewinnstreben ist jedem wirtschaftlichen Handeln immanent. Dass ein solches Gewinnstreben vorliegend auch von den Marktteilnehmern nicht als sittlich anstößig bewertet wird, zeigt schon die verbreitete Einschätzung der Pläne der Musterbeklagten zu 1 in den vorgelegten Analysen. Die Analysten haben – ersichtlich unter Berücksichtigung marktüblicher Gepflogenheiten – nicht angenommen, weitergehende Beteiligungsabsichten seien nach den veröffentlichten Informationen ausgeschlossen. Zudem ist im Hinblick auf eine mögliche Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG anerkannt, dass das Interesse eines Bieters an der Nichtveröffentlichung eines Übernahmevorhabens zur Vermeidung einer Verteuerung des Kaufpreises ein berechtigtes Interesse darstellen kann (vgl. Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl., § 15 Rn. 448 m.w.N.). Selbst wenn die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 WpHG letztlich nicht vorgelegen haben mögen, ist diese Wertung im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung zu berücksichtigen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_369">369</a></dt> <dd><p>ee) Weitergehend wird teilweise bereits die bewusste Täuschung des Anlegerpublikums im Rahmen von Pflichtveröffentlichungen, aber auch bei freiwilligen Kapitalmarktinformationen als sittenwidrig angesehen, ohne besondere eigennützige Motive und möglicherweise auch ohne eine grobe Unrichtigkeit zu verlangen (Fuchs in: Fuchs, 2. Aufl., vor §§ 37b, 37c Rn. 34 ff., wobei allerdings die Erwägungen in Fn. 96 Zweifel erwecken, ob nicht eine grobe Unrichtigkeit vorausgesetzt wird). Dieser Auffassung folgt der Senat, jedenfalls soweit eine grobe Unrichtigkeit der Veröffentlichungen nicht vorausgesetzt werden sollte, nicht. Denn dies vernachlässigte den gesteigerten Unwertgehalt, der dem Sittenwidrigkeitsvorwurf zu eigen ist (vgl. etwa Larenz/Canaris, Schuldrecht, Bd. II/2, 13. Aufl., S. 451; Deutsch, JZ 1963, 385, 389; ders., Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl., Rn. 66 a.E.; in dogmatischer Hinsicht kritisch: Oechsler, WM 2015, 853, 856; eine Haftung aber ebenfalls auf <em>„besonders schwere Sorgfaltsverstöße“</em> beschränkend: ders. in: Staudinger [2021], § 826 BGB, Rn. 523).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_370">370</a></dt> <dd><p>ff) Die Musterklägerin sieht das Verhalten der Musterbeklagten zu 1 in einer Gesamtschau auch deshalb als verwerflich an, weil die Musterbeklagte zu 1 es im Interesse ihrer Übernahmeabsicht in Kauf genommen und möglicherweise auch veranlasst habe, dass die Musterbeklagte zu 2 die Entwicklung einer sauberen Dieseltechnologie vernachlässigt und stattdessen unzulässige Abschalteinrichtungen verwandt habe. Zum einen habe die Musterbeklagte zu 1 bereits frühzeitig eine Kooperation und Überkreuzbeteiligung der Musterbeklagten zu 2 mit der DaimlerChrysler AG verhindert, die die Entwicklung einer sauberen Dieseltechnologie zum Inhalt gehabt hätte, indem sie am 25. September 2005 angekündigt habe, sich mit 20 % an der Musterbeklagten zu 2 beteiligen zu wollen, und indem sie die Absetzung des früheren Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten zu 2 P. betrieben habe. Eine Kooperation und Überkreuzbeteiligung der Musterbeklagten zu 2 mit der DaimlerChrysler AG habe nicht im Interesse der Musterbeklagten zu 1 gelegen, weil sie dem von der Musterbeklagten zu 1 angestrebten Erwerb von insgesamt 75 % oder 80 % der Anteile an der Musterbeklagten 2 entgegengestanden und allgemein die Zusammenarbeit beider Musterbeklagter behindert hätte. Zum anderen habe die Musterbeklagte zu 1 die eigene Entwicklung einer sauberen Dieseltechnologie durch die Musterbeklagte zu 2 verhindert, weil diese kostenintensiv gewesen wäre, eine erfolgreiche Umsetzung des Übernahmeplanes aber vorausgesetzt habe, dass die nach dem Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages <em>„zu plündernde Kriegskasse“</em> der Musterbeklagten zu 2 hinreichend gefüllt war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_371">371</a></dt> <dd><p>Auch dieser Vortrag der Musterklägerin lässt die hier infrage stehenden Kapitalmarktinformationen in der Gesamtschau nicht als sittenwidrig erscheinen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_372">372</a></dt> <dd><p>(1) Gegenstand des Musterverfahrens sind Ansprüche wegen falscher, irreführender oder unterlassener Kapitalmarktinformationen (vgl. auch § 1 Abs. 1 KapMuG). Zwar ist zur Beurteilung der Sittenwidrigkeit einer solchen Kapitalmarktinformation im Wege einer Gesamtbetrachtung auch eine mögliche verwerfliche Gesinnung und dabei insbesondere die Absicht zu berücksichtigen, die hinter dem Informationsverhalten steht. Allerdings besteht zwischen den hier behaupteten unternehmerischen Entscheidungen und dem Informationsverhalten ein allenfalls mittelbarer und entfernter Bezug.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_373">373</a></dt> <dd><p>Selbst wenn man zugrunde legte, dass die Musterbeklagte zu 1 zur Ermöglichung der Beteiligungsaufstockung oder zur rückwirkenden Finanzierung tatsächlich den u.a. von der Musterklägerin unter dem Stichwort <em>„Dieselgate“</em> umschriebenen Sachverhalt im Sinne eines Eventualvorsatzes billigend in Kauf genommen oder gar veranlasst hätte, führte dies nicht dazu, dass das <em>Informationsverhalten</em> der Musterbeklagten zu 1 über den Aufbau einer Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 als verwerflich zu beurteilen wäre. Das Ziel eines (möglichen) Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags war für sich genommen nicht verwerflich. Wenn die Musterbeklagte zu 1 es verfolgen wollte, musste nach eigenem Vortrag der Musterklägerin eine Überkreuzbeteiligung der Musterbeklagten zu 2 und der DaimlerChrysler AG ohnehin – unabhängig von der <em>„Dieselgate-Thematik“</em> – ausscheiden, weil sich im Falle einer solchen Beteiligung der DaimlerChrysler AG an der Musterbeklagten zu 2 die notwendige 75 %- oder 80 %-Beteiligung der Musterbeklagten zu 1 nicht realisieren ließe. Eine dahingehende unternehmensstrategische Entscheidung wäre rechtlich nicht zu beanstanden gewesen. Soweit die Musterklägerin in diesem Zusammenhang behauptet, dass die Musterbeklagte zu 2 schon im Jahr 2006 die Entscheidung getroffen habe, <em>„teure Entwicklungsprobleme durch den Einsatz sogenannter defeat devices kostengünstig zu umgehen“</em> und dass sich die Übernahme nur so hätte finanzieren lassen, hat dies mit der Frage der Verwerflichkeit der streitgegenständlichen Kapitalmarktinformationen aus dem Jahr 2008 über den Beteiligungsaufbau der Musterbeklagten zu 1 nur so entfernt zu tun, dass es im Rahmen der Gesamtschau nicht wesentlich ins Gewicht fällt. In der Terminologie der <em>„Mittel-Zweck-Relation“</em> war die Abgasmanipulation nicht der <em>„Zweck“</em> der angegriffenen Kapitalmarktkommunikation.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_374">374</a></dt> <dd><p>(2) Darüber hinaus ist schon nicht mit Substanz dargelegt, dass die Musterbeklagte zu 1 – ihre Vorstände oder auch ihre Mehrheitsgesellschafter – die als <em>„Dieselgate“</em> bezeichnete Entwicklung als konkrete mögliche Folge des beabsichtigten Beteiligungsaufbaus im Interesse dieses Beteiligungsaufbaus gewollt oder auch nur billigend in Kauf genommen hätten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_375">375</a></dt> <dd><p>Noch im Ansatz – wenn auch wohl nicht ausreichend – substantiiert ist zwar dargelegt, dass die Musterbeklagte zu 1 durch <em>„Einsetzung“</em> des neuen Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten zu 2 W. und möglicherweise auch durch die Bekanntgabe der Absicht ihrer Beteiligungserhöhung auf 20 % eine ursprünglich geplante Überkreuzbeteiligung der Musterbeklagten zu 2 mit der DaimlerChrysler AG zum Scheitern gebracht habe, so dass der Musterbeklagten zu 2 der Zugriff auf die sog. Clean-Diesel-Technologie der DaimlerChrysler AG verwehrt geblieben sei. Eine solche unternehmensstrategische Entscheidung ist für sich genommen aber nicht sittenwidrig und impliziert auch nicht, dass sich die Musterbeklagte zu 1 bewusst gewesen wäre, dass die Musterbeklagte zu 2 zur Entwicklung einer solchen <em>„sauberen“</em> Dieseltechnologie selbst nicht in der Lage war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_376">376</a></dt> <dd><p>Der weitergehende Vortrag betreffend die Veranlassung oder zumindest Inkaufnahme von Abgasmanipulationen ist jedenfalls auch prozessual unbeachtlich. Er beschränkt sich durchgehend auf pauschale Behauptungen, die eine genaue zeitliche und inhaltliche Einordnung der behaupteten entsprechenden Kenntnisse und Handlungen insbesondere der Vorstände nicht zulassen. <em>„Man“</em> habe von entsprechenden Investitionen abgesehen, da die freie Liquidität für die Refinanzierung der Übernahme benötigt worden sei. Bereits 2006 sei nach Erkenntnissen US-amerikanischer Justizbehörden die Entscheidung getroffen worden, teure Entwicklungsprobleme durch den Einsatz sog. <em>„defeat devices“</em> kostengünstig zu umgehen. Nur so hätten die Ziele der Familien Po. und P. erreicht werden können. Die Übernahme habe den Dieselbetrug verursacht. Nachdem Anfang des Jahres 2006 die damaligen Vorstände der Musterbeklagten zu 1 in den Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 2 eingerückt seien, habe <em>„man“</em> nach Berufung des engen P.-Vertrauten W. unmittelbaren Zugriff auf die Entscheidungen des Vorstands der Musterbeklagten zu 2 gehabt. Folgerichtig sei u.a. auf die kostenträchtige Entwicklung einer sauberen Dieseltechnologie verzichtet worden. Stattdessen habe <em>„man“</em> sich zum Einsatz einer Betrugssoftware entschlossen. Die damaligen Vorstände der Musterbeklagten zu 1 hätten als Mitglieder des Aufsichtsrats der Musterbeklagten zu 2 u.a. Sonderinformationen zu der Entwicklung des Motors EA 189 und zu den Problemen bei der Abgasreinigung gehabt. <em>„Man“</em> habe die Musterbeklagte zu 2 bereits 2005/2006 veranlasst, zugunsten der eigenen Übernahmepläne auf die Entwicklung tatsächlich emissionsarmer Dieselmotoren zu verzichten. Diese Unternehmenspolitik sei konzernweit durchgesetzt worden. Die Übernahme gefährdende Mehrausgaben und Investitionen seien durch die Einflussnahme der Musterbeklagten zu 1 bzw. der Eigentümerfamilien gezielt verhindert worden. Hierdurch verursachte Schäden seien billigend in Kauf genommen worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_377">377</a></dt> <dd><p>Diese Behauptungen hat die Musterbeklagte zu 1 bestritten und zutreffend als unsubstantiiert und ins Blaue hinein aufgestellt und damit als prozessual unbeachtlich charakterisiert. Deshalb und aufgrund der Offensichtlichkeit der mangelnden Substanz des Vortrags war ein gerichtlicher Hinweis insoweit entbehrlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_378">378</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin und die Beigeladenen haben nicht einmal Anhaltspunkte für eine Kenntnis zum einen der für die Musterbeklagte zu 1 verantwortlichen Personen und zum anderen bereits in dem hier maßgeblichen Zeitraum vor 2008 vorgetragen. Die Musterklägerin hat vielmehr in diesem Zusammenhang unter anderem einen Bericht der Süddeutsche.de vom 26. Juli 2018 vorlegt (Anlagen MK 83 und MK 85, Bl. 6017, 6024), wonach ein <em>„hochrangiger VW-Techniker“</em> den früheren Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten zu 2 W. dahin belastet habe, dieser habe <em>„bereits“</em> im Frühjahr 2015 – also sieben Jahren nach dem hier in Rede stehenden Geschehen – im Detail von den Abgasmanipulationen gewusst. Entgegen der Auffassung der Musterklägerin besteht angesichts der mangelnden Substanz und des offensichtlich ins Blaue hinein aufgestellten Vortrags auch keine sekundäre Darlegungslast der Musterbeklagten dazu, wann welche jeweils verantwortliche Person Kenntnis unter anderem von dem Einsatz der Manipulationssoftware erlangt hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_379">379</a></dt> <dd><p>gg) Soweit die Musterklägerin weiter vorträgt, die Musterbeklagte zu 1 habe der Musterbeklagten zu 2 durch eine <em>„parasitäre“</em> Zusammenarbeit und eine <em>„Pervertierung“</em> gesellschaftsrechtlicher Entscheidungsstrukturen geschadet, ist dies für die infrage stehende Beurteilung der Sittenwidrigkeit der Schädigung von Kapitalmarktteilnehmern durch die infrage stehenden Kapitalmarktinformationen ohne Bedeutung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_380">380</a></dt> <dd><p>hh) Ebenso wenig führt es zur Sittenwidrigkeit der Kommunikationsstrategie, dass diese dazu geführt habe, Leerverkäufer <em>„anzulocken“</em>, und die Musterbeklagte zu 1 dies auch bezweckt habe, um den in die Hedging-Kette eingebundenen Banken Zugriff auf Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zur Absicherung ihrer Positionen zu gewähren und damit mittelbar den eigenen Zugriff sicherzustellen. Die jeweiligen Leerverkäufer trafen ihre Entscheidung eigenverantwortlich, ohne durch grob unrichtige oder irreführende Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 provoziert worden zu sein. Dass die Musterbeklagte zu 1 darauf gebaut haben mag, dass Kapitalmarktteilnehmer auf fallende Kurse der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 – möglicherweise auch für den Fall eines Scheiterns oder eines sonstigen Endes der Übernahmeaktivitäten der Musterbeklagten zu 1 – spekuliert und deshalb diese Leerverkäufe getätigt haben, begründet keine solche Verwerflichkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_381">381</a></dt> <dd><p>Dabei ist es nicht von Bedeutung, dass es sich bei den Ausgangsklägern teilweise um Hedgefonds und Leerverkäufer handelt (vgl. näher auch Rn. 565).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_382">382</a></dt> <dd><p>ii) Schließlich liegen auch die subjektiven Voraussetzungen eines sittenwidrigen Verhaltens der Musterbeklagten zu 1 nicht vor, ohne dass es hierauf noch entscheidend ankäme.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_383">383</a></dt> <dd><p>Die Haftung nach § 826 BGB setzt grundsätzlich voraus, dass der Schädiger die Tatumstände kennt, die sein Verhalten als sittenwidrig erscheinen lassen. Handelt er nach einer vertretbaren Gesetzesauslegung, ist dies regelmäßig nicht sittenwidrig. Auch wenn es den Schädiger allein noch nicht entlastet, dem Rat eines Rechtsanwalts gefolgt zu sein, fehlt die für die Annahme einer Sittenwidrigkeit erforderliche Kenntnis, wenn er der redlichen Überzeugung war, entsprechend handeln zu dürfen. Auch ein grob leichtfertiges, gewissenloses Verhalten kann allerdings sittenwidrig sein, wenn sich der Schädiger einer Kenntnis der die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände bewusst verschließt. Hierfür genügt, dass starke Verdachtsmomente für solche Umstände bestehen, der Handelnde aber eine sich bietende Möglichkeit der Aufklärung bewusst nicht wahrnimmt (zum Ganzen: BGH, Urteil vom 14. Mai 1992 – II ZR 299/90, juris Rn. 19 ff.; Urteil vom 10. Februar 2015 – VI ZR 569/13, juris Rn. 17; Urteil vom 21. April 2009 – VI ZR 304/07, juris Rn. 20 ff.; Sprau in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 826 Rn. 8 f.; Förster in: BeckOK BGB [63. Ed.], § 826 Rn. 28, jew. m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_384">384</a></dt> <dd><p>Vorliegend bestehen auch nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 sich derart gewissenlos über die rechtlichen und sittlichen Maßstäbe hinweggesetzt hätten. Allein der Umstand, dass sie ihre Überlegungen zu dem Beteiligungsaufbau und dem etwaigen späteren Abschluss eines Beherrschungsvertrages nicht in vollem Umfang offengelegt haben, genügt für die Annahme objektiv sittenwidrigen Verhaltens nicht. Hinzukommen müssten vielmehr weitere Umstände, unter anderem, dass die tatsächlichen Mitteilungen in einem solchen Maß unvollständig waren, dass eine dadurch etwaig hervorgerufene Irreführung unter Berücksichtigung der Erwartungshaltung verständiger Kapitalmarktteilnehmer als <em>„grob“</em> einzustufen wäre, oder dass weitere Voraussetzungen einer Offenlegungspflicht vorgelegen hätten, beispielsweise eine Kursrelevanz für Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 1. Auch insoweit hätten die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 Kenntnis haben oder sich dieser Kenntnis grob leichtfertig und gewissenlos verschlossen haben müssen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_385">385</a></dt> <dd><p>Nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen soll die die tatsächlichen Absichten der Musterbeklagten zu 1 <em>„verschleiernde“</em> Kommunikationsstrategie zwar dem Ziel gedient haben, den weiteren Beteiligungsaufbau zu ermöglichen bzw. nicht zu gefährden. Dies lässt aber nicht den Rückschluss zu, dass die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 die erforderlichen Kenntnisse hatten oder sich diesen bewusst und leichtfertig verschlossen hätten. Im Gegenteil lassen es einzelne auch von der Musterklägerin und den Beigeladenen vorgetragene Umstände naheliegend erscheinen, dass die Musterbeklagte zu 1 auch unter ständiger rechtsanwaltlicher Beratung und teilweise unter Beteiligung der BaFin zwar rechtliche Spielräume ausgenutzt hatte, aber sorgfältig bemüht war, diese rechtlichen Grenzen nicht zu überschreiten (vgl. abgrenzend zu diesem Grundsatz auch Musterklagebegründung Rn. 415). Eine solche Sorgfalt erscheint schon deshalb naheliegend, weil die Musterbeklagte zu 1 mit dem Beteiligungsaufbau und den diesen begleitenden Kommunikationsakten ersichtlich im Fokus der Öffentlichkeit stand und damit rechnen musste, dass jegliche Fehler und Grenzüberschreitungen zu rechtlichen Konsequenzen führten. Bereits vor diesem Hintergrund ließe selbst eine fehlerhafte Bewertung <em>einzelner</em> für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit maßgeblicher Umstände für sich genommen nicht den Schluss auf ein leichtfertiges oder gar vorsätzlich Verhalten zu, zumal entsprechende Bewertungen – wie gezeigt – zumindest nicht offensichtlich waren. Weiterer Vortrag, der dennoch die Annahme eines leichtfertigen und gewissenlosen Verhaltens zuließe, fehlt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_386">386</a></dt> <dd><p>h) Eine Ersatzpflicht der Musterbeklagten zu 1 aus § 826 i.V.m. § 31 BGB besteht weiter auch nicht aufgrund ihres Verhaltens im Zusammenhang mit der <span style="text-decoration:underline">Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008</span> (Anlage MK 5; vgl. zum Text Rn. 40).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_387">387</a></dt> <dd><p>aa) Die Pressemitteilung war weder unrichtig noch irreführend, jedenfalls aber nicht grob unrichtig oder grob irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_388">388</a></dt> <dd><p>Kern der Mitteilung ist, dass die Musterbeklagte zu 1 den Stand ihrer physischen und synthetischen Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 mitteilt, dass sie an dem Fahrplan festhält, noch im November/Dezember 2008 <em>„die 50 Prozent Hürde“</em> zu nehmen und dass es ihr Ziel sei, <em>„sofern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, im Jahr 2009 auf 75 Prozent aufzustocken“</em>.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_389">389</a></dt> <dd><p>Die mitgeteilten Anteile trafen zu. Auch die Darstellung weiterer Umstände war richtig. Soweit sich die Pressemitteilung nicht zu weiteren Einzelheiten verhielt, etwa der finanziellen Lage der Musterbeklagten zu 1 und der genauen Struktur ihrer Optionspositionen, war die Pressemitteilung in der Gesamtschau nicht (grob) unrichtig oder irreführend. Im Einzelnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_390">390</a></dt> <dd><p>(1) Die mitgeteilten Anteile der Musterbeklagten zu 1 – 42,6 % Stammaktien und 31,5 % cash-gesettelte Optionen, die der Kurssicherung dienten – trafen zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_391">391</a></dt> <dd><p>Die Pressemitteilung war nicht etwa deshalb unrichtig oder irreführend, weil die Musterbeklagte zu 1 die von der Porsche GmbH Salzburg gehaltenen Anteile nicht mit anführte. Bei der Porsche GmbH Salzburg handelt es sich um ein selbstständiges Unternehmen. In der Pressemitteilung hat die Musterbeklagte zu 1 ihren eigenen Beteiligungsaufbau mit Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und cash-gesettelte Optionen zur Kurssicherung dargestellt. Sie war nicht verpflichtet, den Beteiligungsaufbau von dritten Unternehmen bekannt zu geben. Eine solche umfassendere Offenlegung suggerierte die Pressemitteilung auch nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_392">392</a></dt> <dd><p>Insoweit fehlte es zudem an einem Zurechnungszusammenhang zwischen der fehlenden Mitteilung über die Anteile der Porsche GmbH Salzburg und einer möglichen Anlageentscheidung der angesprochenen Marktteilnehmer. Denn die Mitteilung, dass die Porsche GmbH Salzburg weitere Anteile in Höhe von 2,37 % hielt, hätte den Kaufdruck allenfalls verstärken, nicht aber mindern können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_393">393</a></dt> <dd><p>(2) Die Aussage, einen Beherrschungsvertrag anzustreben, daran festzuhalten, noch im November/Dezember 2008 50 % der (physischen) Anteile der Musterbeklagten 2 zu übernehmen <em>(„die 50 Prozent Hürde bei VW zu nehmen“</em>), und zu beabsichtigen, diesen Anteil im Jahr 2009 auf 75 % aufzustocken, <em>„sofern die Rahmenbedingungen stimmen“</em>, war richtig. Weder war die damit kommunizierte Absicht objektiv nicht mehr umsetzbar noch hatte die Musterbeklagte zu 1 die gerade auch nach dem Vortrag der Musterklägerin zunächst bestehende Absicht vor dem 26. Oktober 2008 wieder aufgegeben oder ihre Umsetzung für ausgeschlossen gehalten. Dass sie Risiken betreffend diese Umsetzung gesehen haben mag, führt nicht zu einer Unrichtigkeit der Pressemitteilung oder einer Irreführung durch diese.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_394">394</a></dt> <dd><p>(a) Verständige Marktteilnehmer mussten die Aussage der Musterbeklagten zu 1, dass sie anstrebe, einen Beherrschungsvertrag abzuschließen, und dass sie bereits 42,6 % der Stammaktien sowie zusätzlich 31,5 % cash-gesettelte Optionen auf diese Stammaktien zur Kurssicherung halte, zwar dahin verstehen, dass die Musterbeklagte zu 1 nicht nur diese Absicht hatte, sondern auch von der Möglichkeit ausging, jedenfalls die durch die Optionspositionen bezüglich des Kurses <em>„gesicherten“</em> Stammaktien – im Rahmen des dargestellten Zeitplans – zu erwerben, um auf einen Anteil von zunächst 74,1 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zu kommen. Sie suggerierte damit aber nicht, dass die Möglichkeit dieser weiteren Aufstockung (wirtschaftlich und rechtlich) gesichert sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_395">395</a></dt> <dd><p>Die mitgeteilte Zielsetzung, <em>„im Jahr 2009 auf 75 Prozent aufzustocken und damit den Weg für einen Beherrschungsvertrag freizumachen“</em>, stand ausdrücklich unter dem Vorbehalt stimmender wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Diese Einschränkung bezog sich entgegen der Auffassung der Musterklägerin nicht nur auf den angestrebten Abschluss eines Beherrschungsvertrages, sondern auch auf die Aufstockung auf einen Anteil von 75 %. Hingegen erweckte die Pressemitteilung nicht den Eindruck, dass wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Aufstockung auf einen Anteil von insgesamt 74,1 % keine Rolle spielten. Selbst die Ankündigung, bis zum Jahresende <em>„die 50 Prozent Hürde bei VW zu nehmen“</em>, wurde nur als <em>„Fahrplan“</em> und nicht als definitive Festlegung dargestellt. Die vorgenommene Einschränkung war entgegen der Auffassung der Musterklägerin auch nicht bloß dahin zu verstehen, dass eine Aufstockung nach den gegebenen Umständen ohne weiteres realisierbar gewesen wäre und allenfalls durch Veränderungen der Rahmenbedingungen hätte verhindert werden können. Bereits die bis dahin nicht erfolgte Aufhebung der Regelung der Sperrminorität im VW-Gesetz veranschaulichte dem verständigen Marktteilnehmer, dass die genannten Ziele auch unter den damals gegebenen Bedingungen nicht ohne weiteres umzusetzen waren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_396">396</a></dt> <dd><p>Nichts Anderes lässt sich der Formulierung entnehmen, die Aktien würden zum jeweils aktuellen Kurs gekauft. Diese Aussage steht ersichtlich im Zusammenhang mit der Darstellung des Mechanismus der cash-gesettelten Optionen. Sie wird von den angesprochenen Marktteilnehmern nicht dahin verstanden, dass ein Erwerb der Aktien definitiv, in jedem Fall erfolgen werde. Gegenteiliges lässt sich auch nicht aus der englischen Fassung der Pressemitteilung schlussfolgern, <em>„the Volkswagen shares will be bought in each case at market price.“</em> Der Ausdruck <em>„in each case“</em> wird entgegen der Auffassung der Musterklägerin jedenfalls überwiegend nicht im Sinne von <em>„in jedem Fall“</em>, sondern vielmehr im Sinne von <em>„jeweils“</em> verstanden, so dass die entsprechende Aussage in der englischen Fassung der Pressemitteilung mit derjenigen der deutschen Fassung übereinstimmt. Den Bedeutungsgehalt des bezeichneten englischen Ausdrucks kann der Senat aus eigener Sachkunde feststellen, ohne ein Gutachten einzuholen. Sämtliche Mitglieder des Senats sind der englischen Sprache hinreichend mächtig. Er stimmt mit dem Inhalt allgemein zugänglicher Wörterbuchdateien überein (vgl. etwa bei www.linguee.de [Verwendung meistens im Sinne von <em>„jeweils“</em>, seltener im Sinne von <em>„in jedem Fall“</em>], www.dict.cc [„jeweils“; dem Ausdruck <em>„in jedem Fall“</em> entspreche der Ausdruck <em>„in each and every case“</em>]; ähnlich: de.pons.com [<em>„im Einzelfall“</em>]). Selbst wenn dieser Ausdruck abhängig vom jeweiligen Kontext im Einzelfall auch im Sinne von <em>„in jedem Fall“</em> verstanden werden kann, lag ein solches Verständnis auch der englischsprachigen Fassung schon aufgrund des folgenden Absatzes fern, in dem der Erwerb jedenfalls eines über 50 % hinausgehenden Anteils wiederum ausdrücklich unter dem Vorbehalt passender wirtschaftlicher Rahmenbedingungen stand und auch der Erwerb eines Anteils von 50 % nur als unveränderte Absicht dargestellt wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_397">397</a></dt> <dd><p>(b) Es ist nicht in beachtlicher Weise dargelegt oder sonst ersichtlich, dass die Musterbeklagte zu 1 am 26. Oktober 2008 ihre Übernahmeabsicht aufgegeben hätte oder davon ausgegangen wäre, dass deren Umsetzung ausgeschlossen gewesen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_398">398</a></dt> <dd><p>(aa) Die Musterklägerin und die Beigeladenen tragen zwar verschiedentlich vor, die Musterbeklagte zu 1 sei von einer mangelnden Umsetzbarkeit ausgegangen und habe ihre Absicht aufgegeben. Hierbei handelt es sich aber im Kern nur um Schlussfolgerungen aus der behaupteten Kenntnis der Musterbeklagten zu 1 von den Umständen, die einer Finanzierbarkeit oder auch nur einer ausreichenden Liquidität entgegengestanden hätten (vgl. beispielweise Musterklagebegründung Rn. 478, 778, 840, 847; Schriftsatz der Beigeladenen vom 6. April 2018 Rn. 47; Schriftsatz der Musterklägerin vom 28. Januar 2019 Rn. 94 f.). Schwierigkeiten betreffend die weitere Kreditvergabe und Liquiditätsrisiken schlossen aber eine Fortführung der Übernahme in dem kommunizierten zeitlichen Rahmen und unter dem genannten Vorbehalt der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen prognostisch nicht aus (näher: Rn. 407 ff.). Dass die Musterbeklagte zu 1 Kenntnis von diesen Umständen hatte, lässt deshalb den von der Musterklägerin und den Beigeladenen gezogenen Schluss auf die Kenntnis einer mangelnden Umsetzbarkeit des Übernahmeplans bzw. dessen Aufgabe nicht zu. Letztere Behauptungen sind damit bereits ohne hinreichende Substanz.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_399">399</a></dt> <dd><p>Beweisantritte beziehen sich jeweils auch nur auf die mangelnde Finanzierbarkeit und Liquiditätsschwierigkeiten bzw. die Kenntnis der zugrundeliegenden Umstände, nicht jedoch auf eine Kenntnis der mangelnden Umsetzbarkeit des Übernahmeplans bzw. dessen Aufgabe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_400">400</a></dt> <dd><p>(bb) Der Vortrag zu der vermeintlichen Aufgabe des Übernahmeplans ist auch inkonsistent.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_401">401</a></dt> <dd><p>Nach dem Vortrag der Musterklägerin hat die Musterbeklagte zu 1 ihren Übernahmeplan zumindest bis Anfang Oktober 2008 verfolgt (Musterklagebegründung Rn. 334 ff., 615 sowie Feststellungsziel II.1.), obwohl ihr zumindest nach dem sog. Kick-off-Meeting mit verschiedenen Banken am 22./25. September 2008 maßgebliche Schwierigkeiten der Kreditvergabe bekannt gewesen seien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_402">402</a></dt> <dd><p>Vereinzelt hat die Musterklägerin vorgetragen, die Musterbeklagte zu 1 habe den Übernahmeplan am 26. Oktober 2008 als endgültig gescheitert angesehen und ihn aufgegeben. Demgegenüber hat sie aber auch klargestellt, die Musterbeklagte zu 1 habe einen Kursverfall der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 nicht als sicher, sondern nur als drohend angenommen (Schriftsatz vom 28. Januar 2019 Rn. 99). In der Musterklagebegründung hatte sie ihren Vortrag noch dahin präzisiert, die Musterbeklagte zu 1 habe angenommen, ihre mitgeteilte Strategie sei <em>„auf absehbare Zeit“</em> nicht umsetzbar gewesen (a.a.O. Rn. 778). Die E.-Beigeladenen haben vorgetragen, die Musterbeklagte habe ihre Übernahmeabsichten <em>„bedroht“</em> gesehen und die weitere Börsenentwicklung <em>„fürchten“</em> müssen (Schriftsatz vom 14. März 2019, Rn. 26). Die vollständige Übernahme sei nicht mehr möglich gewesen, solange Banken keine weiteren Kredite gaben; die Musterbeklagte zu 1 habe Zeit für weitere Gespräche mit Kreditgebern gewinnen wollen (Vortrag im Termin zur mündlichen Verhandlung am 5. September 2019, vgl. auch Anlage MK 142, S. 13 f.). Sie habe sich <em>„Luft zum Überleben“</em> verschaffen wollen (Schriftsatz der Beigeladenen vom 14. März 2019, Rn. 81). Dieser Vortrag impliziert gerade nicht, dass sie den Übernahmeplan endgültig für gescheitert gehalten und aufgegeben hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_403">403</a></dt> <dd><p>(cc) Auch das Verhalten der Musterbeklagten zu 1 lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass die kommunizierte Möglichkeit der beabsichtigten Anteilsaufstockung nicht gegeben gewesen wäre oder die Musterbeklagte zu 1 dies auch nur angenommen hätte. Das Gegenteil ist der Fall.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_404">404</a></dt> <dd><p>Die Musterbeklagte zu 1 hatte noch am 2. Oktober 2008 8,75 Mio. Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 (3,48 %) und am 7. Oktober 2008 weitere 13,3 Mio. dieser Stammaktien (5,29 %) erworben. Im Dezember 2008 stockte sie ihre Beteiligung von 42,6 % auf 47,37 % und am 5. Januar 2009 auf 50,76 % auf (vgl. Anlage MK 37 [V.-GA], Rn. 54 f.). Im März 2009 führte die Musterbeklagte zu 1 Kreditverhandlungen mit dem Ziel, ihre Beteiligung von 50,8 % durch Ausübung von Optionen um weitere 20 % zu erhöhen. Bis zum Vorstandswechsel am 23. Juli 2009 setzte die Musterbeklagte zu 1 die Optionsstrategien fort (vgl. Anlage MK 37 [V.-GA] Rn. 108 f., 123 f.). Diese Bewertung des Handelsverhaltens der Musterbeklagten zu 1 entspricht im Übrigen auch der Auffassung der BaFin, die keine Anhaltspunkte dafür gesehen hat, dass die Musterbeklagte zu 1 die Mitteilung am 26. Oktober 2008 veröffentlichte, weil sie steigende Kurse herbeiführen musste, da ihr ansonsten zu starke Verluste aus ihren Short-Put-Positionen entstanden wären; vielmehr entspreche das Handelsverhalten der Musterbeklagten zu 1 ihrer Darstellung, dass ein langfristiger Aufbau einer synthetischen Long-Position in Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 angestrebt worden sei, die der Finanzierung von weiteren Aktienkäufen habe dienen sollen (Vermerk vom 27. März 2009 – WA 23-Wp5115-2008/0061, auszugsweise wiedergegeben im V.-GA, Rn. 342).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_405">405</a></dt> <dd><p>Gegenteiliges lässt sich auch der in der Welt Online vom 12. Mai 2009 (Anlage B-H. 11, Bl. 1678) veröffentlichten Äußerung von Prof. Dr. P. nicht entnehmen, gestiegene Zinsen hätten im Oktober 2008 eine Übernahme unrealistisch gemacht. Diese Aussage bezog sich auf das damalige Zinsniveau und damit auf eine mögliche Übernahme zum damaligen Zeitpunkt, die aber auch nicht angekündigt wurde. Vielmehr teilte die Musterbeklagte zu 1 eine Zielsetzung mit, im Jahr 2009 auf 75 % aufzustocken, sofern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen würden. Zudem hatte Prof. Dr. P. in einem am 23. Oktober 2008 veröffentlichten Interview (Anlage MBPor 91) – mithin noch vor der Entwicklung, die nach der Behauptung der Musterklägerin am Wochenende des 24./25. Oktober 2008 zu der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 geführt haben soll und damit unbeeinflusst von den dort vermeintlich entwickelten Überlegungen – angegeben, <em>„ein Zusammengehen von Volkswagen und Porsche“</em> sei <em>„richtig“</em>; es sei nichts gegen eine Beherrschung einzuwenden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_406">406</a></dt> <dd><p>(dd) Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass der Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen zu einer Aufgabe der Übernahmeabsicht nicht ausreichend ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_407">407</a></dt> <dd><p>(c) Die Darstellung der Übernahmeabsicht in der Pressemitteilung war auch nicht deshalb unrichtig, weil festgestanden hätte, dass die Musterbeklagte zu 1 mangels Liquidität damals absehbar nicht in der Lage gewesen wäre, die <em>„gesicherten“</em> Aktien physisch zu erwerben, oder eine solche Unfähigkeit jedenfalls mit hinreichender Wahrscheinlichkeit absehbar gewesen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_408">408</a></dt> <dd><p>(aa) Unstreitig konnte die Musterbeklagte zu 1 einen solchen weiteren Anteilserwerb im fraglichen Umfang nicht aus vorhandener Liquidität finanzieren, sondern benötigte hierfür Kredite. Unstreitig ist auch, dass bisherige Kreditlinien weitgehend erschöpft waren. Dass bei Veröffentlichung der Pressemitteilung aber festgestanden hätte oder auch nur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit absehbar gewesen wäre, dass eine für die entsprechende Anteilsaufstockung erforderliche Gewährung weiterer Kredite ausgeschlossen gewesen wäre, haben die Musterklägerin und die Beigeladenen nicht schlüssig dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_409">409</a></dt> <dd><p>Dabei ist im Ausgangspunkt weitgehend unstreitig, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Kreditvergaben aufgrund der Bankenkrise seit September 2008 deutlich verschlechtert hatten. Auch nach der Darstellung der Musterbeklagten zu 1 waren beteiligte Banken deshalb jedenfalls im Hinblick auf die kurzfristige Bereitstellung zusätzlichen Fremdkapitals zurückhaltend. Dennoch konnte die Musterbeklagte zu 1 von der Möglichkeit der Finanzierung ausgehen. Die Musterklägerin trägt zwar einerseits vor, dem damaligen Finanzvorstand der Musterbeklagten zu 1 sei spätestens im Herbst 2008 signalisiert worden, dass jegliche weitere Finanzierung der Übernahme durch angesprochene Banken ausscheide; Wünschen nach einer Finanzierung des für die Übernahme erforderlichen Betrags in Höhe von etwa 20 Mrd. € sei eine deutliche Absage erteilt worden. Andererseits trägt die Musterklägerin vor, die B. Bank sei am 14. Oktober 2008 davon ausgegangen, dass die Musterbeklagte zu 1 ihren physischen Anteil an der Musterbeklagten zu 2 noch im ersten Quartal 2009 auf über 75 % aufstocken werde. Auch die Bank L. habe am 13./14. Oktober 2008 zwar das Ziel einer entsprechenden Anteilsaufstockung noch im ersten Quartal 2009 gerade aufgrund der Finanzierungsschwierigkeiten korrigiert, sei aber von einer Realisierbarkeit im zweiten Quartal 2009 ausgegangen (Musterklagebegründung Rn. 335 f.). Beide Banken waren nach dem Vortrag der Musterklägerin an den Finanzierungsgesprächen vom 22./25. September 2008 (sog. Kick-off-Meeting) beteiligt und hatten damit Kenntnis der insoweit maßgeblichen Rahmenbedingungen. Die Bank L. hatte die vorstehende Einschätzung nach dem Vortrag der Musterklägerin sogar vorgenommen, obwohl sie sich selbst an der Refinanzierung des bereits früher gewährten 10 Mrd.-Euro-Kredites nicht habe beteiligen wollen. L. habe sogar nach der Veröffentlichung der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 keine Verwunderung gezeigt, sondern nur auf <em>„weiteren Diskussionsbedarf“</em> zu den <em>„angebotenen Finanzierungen“</em> verwiesen (Musterklagebegründung Rn. 336). Auch wenn angesprochene Banken eine weitere Kreditvergabe im Herbst 2008 ausgeschlossen haben sollten, durfte die Musterbeklagte zu 1 ebenso wie die genannten Banken eine Finanzierung der weiteren Aufstockung im ersten Halbjahr 2009 für möglich halten. Sie war am 26. Oktober 2008 lediglich <em>„auf absehbare Zeit“</em> nicht umsetzbar (Musterklagebegründung, Rn. 778).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_410">410</a></dt> <dd><p>Dem steht auch der Vortrag der beigeladenen H.-GmbH nicht entgegen, die Finanzierungsgespräche im September 2008 seien erfolglos verlaufen und auf das Frühjahr 2009 verschoben worden. Vielmehr impliziert auch dieser Vortrag gerade, dass eine Kreditvergabe letztlich nicht ausgeschlossen wurde. Soweit sie weiter vorträgt, die im Oktober 2008 erheblich gestiegenen Zinsen hätten eine weitere Finanzierung unrealistisch gemacht, bezieht sich auch dies nur auf das damals aktuelle Zinsniveau. Vergleichbar trägt die Musterklägerin bereits in der Musterklagebegründung vor, <em>„kurzfristig“</em> habe kein weiteres zusätzliches Fremdkapital mehr aufgenommen werden können. Mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2018 hat sie weiter ausgeführt, eine weitere erhebliche Kreditvergabe in dem erforderlichen Umfang sei <em>„zu diesem Zeitpunkt“</em> fernliegend gewesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_411">411</a></dt> <dd><p>(bb) Ebenfalls stand damals weder fest noch war mit hinreichender Wahrscheinlichkeit absehbar, dass die Musterbeklagte zu 1 deshalb zur Realisierung der dargestellten Übernahmeabsicht nicht in der Lage gewesen wäre, weil ihre Insolvenz gedroht hätte. Der diesbezügliche Vortrag der Musterklägerin geht dahin, dass freie Liquidität der Musterbeklagten zu 1 aufgrund vorangegangener Kursverluste sowohl der Stammaktie als auch der Vorzugsaktie der Musterbeklagten zu 2 nur noch in geringem Umfang vorhanden gewesen sei und aufgrund eines weiter zu erwartenden Kursverfalls Nachschussverpflichtungen gedroht hätten, die die vorhandene Liquidität überstiegen hätten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_412">412</a></dt> <dd><p>Unergiebig ist dabei zunächst der pauschale Hinweis auf erhebliche Verluste in den Optionsstrategien aufgrund des Kursverfalls der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 in den Wochen vor dem 24. Oktober 2008. Diesen Verlusten standen erhebliche Gewinne aufgrund des vorangegangenen Kursanstiegs gegenüber (vgl. näher unten, Rn. 414 f., 427). Die isolierte Berücksichtigung dieser Kursverluste lässt deshalb eine ausreichende Beurteilung der wirtschaftlichen Lage der Musterbeklagten zu 1 nicht zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_413">413</a></dt> <dd><p>Auch die von der Musterklägerin weiter vorgetragenen Umstände ermöglichen nicht den Schluss, dass die Insolvenz der Musterbeklagten zu 1 mit auch nur hinreichender Wahrscheinlichkeit bevorgestanden hätte oder dass die Übernahmepläne aufgrund der wirtschaftlichen Lage der Musterbeklagten zu 1 auch nur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht mehr durchführbar gewesen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_414">414</a></dt> <dd><p>(aaa) Die Darstellung der freien Liquidität der Musterbeklagten zu 1 am 26. Oktober 2008 durch die Musterklägerin stimmt jedenfalls weitgehend mit den Darlegungen der Musterbeklagten zu 1 überein. Letztere hatte vorgetragen, die Liquidität der Musterbeklagten zu 1 als Einzelgesellschaft habe am 31. Juli 2008 etwa 8 Mrd. €, was als solches nicht bestritten ist, und am 16. Oktober 2008 etwa 6,9 Mrd. € betragen. In der Folgewoche bis zum 24. Oktober sei es aufgrund des Kursrückgangs zu Liquiditätsabflüssen gekommen, die in etwa den vorherigen durch einen Kursanstieg verursachten Zuflüssen von rund 2,3 Mrd. € in der Optionsstrategie I entsprochen hätten. Hiernach hätte sich die Liquidität der Musterbeklagten zu 1 als Einzelgesellschaft am 24. Oktober 2008 – dem letzten Handelstag vor dem 26. Oktober 2008 – auf rund 4,6 Mrd. € belaufen. Hiervon seien der M. Bank als Barsicherheiten rund 4,5 Mrd. €, nach früherem Vortrag rund 4,6 Mrd. €, verpfändet gewesen. Dies deckt sich weitgehend mit den auf Annahmen der Staatsanwaltschaft Stuttgart gestützten Darlegungen der Musterklägerin und der beigeladenen H. GmbH, die freie Liquidität habe sich am 24. Oktober auf rund 27 Mio. € bzw. auf rund 326 Mio. € belaufen (vgl. dazu auch die in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart enthaltene tabellarische Aufstellung, abgedruckt unter 3.3.3 des Gutachtens des Privatsachverständigen P. vom 4. Oktober 2017, Anlage MK 73, S. 20 [Bl. 3033 d.A.]). Trotz der Unterschiede im Detail bestanden auch hiernach keine Anhaltspunkte für eine Zahlungsunfähigkeit oder gar für eine Überschuldung der Musterbeklagten zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_415">415</a></dt> <dd><p>Das Gutachten des Privatsachverständigen P. vom 4. Oktober 2017 (Anlage MK 73), dessen Inhalt sich die Musterklägerin zu eigen gemacht hat, enthält zwar einzelne Schlussfolgerungen, die der Darstellung des Liquiditätsverlaufs durch die Musterbeklagte zu 1 widersprechen. So sei es insbesondere im Zeitraum vom 31. Juli 2008 bis zum 16. Oktober 2008 in der Optionsstrategie I nur zu einem Zufluss in Höhe von rund 1,9 Mrd. € gekommen, wohingegen die Musterbeklagte zu 1 einen Zufluss in Höhe von 2,3 Mrd. € vorgetragen hat. Zum 24. Oktober 2008 habe es einen Abfluss aufgrund von Nachschusssicherheiten in dieser Strategie in Höhe von rund 2,5 Mrd. € gegeben. Darüber hinaus sei es schon bis zum 16. Oktober 2008 in den Strategien V und VIII zu Abflüssen in Höhe von rund 700 Mio. € gekommen (Anlage MK 73, Nr. 3.1.4.), bis zum 24. Oktober 2008 sogar in Höhe von rund 404 Mio. € und 660 Mio. € (a.a.O., Nr. 3.4.15.). Diese Annahmen hätten zwar zur Konsequenz, dass die freie Liquidität der Musterbeklagten zu 1 bereits zur Begleichung dieser Nachschusspflichten nicht ausgereicht hätte – ein Schluss, den die Musterklägerin so ausdrücklich nicht zieht. Auch dies rechtfertigte jedoch aus verschiedenen Gründen nicht die Annahme einer Zahlungsunfähigkeit oder gar einer Überschuldung der Musterbeklagten zu 1 am 24. Oktober 2008:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_416">416</a></dt> <dd><p>Zum einen hat die Musterbeklagte zu 1 vorgetragen, die Liquidität <em>im Konzern</em> habe am 31. Juli 2008 rund 11,4 Mrd. € betragen – was als solches nicht bestritten ist – und habe sich am 24. Oktober 2008 auf rund 7,5 Mrd. € belaufen, so dass abzüglich der Barsicherheiten eine freie Liquidität in Höhe von rund 3 Mrd. € im Konzern (2 Mrd. € unter Berücksichtigung nur der Porsche AG) vorhanden gewesen sei. Selbst wenn es entsprechend der Annahmen des Privatsachverständigen P. zu höheren Abflüssen gekommen wäre, wäre insoweit jedenfalls noch freie Liquidität vorhanden gewesen (so auch P. in der mündlichen Verhandlung am 3. September 2019, Anlage MK 140, S. 33 rechts). Die Musterklägerin hat zwar vorgetragen, die freie Liquidität habe nicht für die Abdeckung von Derivaterisiken zur Verfügung gestanden, weil die Porsche AG ansonsten das operative Geschäft hätte einstellen müssen. Dieser Gesichtspunkt mag zwar einem vollständigen Zugriff auf Liquiditätsreserven der Tochtergesellschaften entgegengestanden haben, ohne einen solchen Zugriff aber insgesamt auszuschließen. Der Einwand der beigeladenen H. GmbH, ein Zugriff sei ausgeschlossen gewesen, weil die Bonität der Musterbeklagten zu 1 infrage gestanden habe und Verlustausgleichsansprüche gefährdet gewesen wären, greift schon mangels konkreter Gefährdung der Bonität der Musterbeklagten zu 1 (dazu sogleich) nicht durch.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_417">417</a></dt> <dd><p>Weiter wären nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen Liquiditätsdefizite der Musterbeklagten zu 1 ohnehin im Wesentlichen darauf zurückzuführen gewesen, dass diese im September und Oktober 2008 – abzüglich von Erlösen aus den Optionsstrategien – saldiert rund 3,2 Mrd. € für den Erwerb weiterer Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 aufgewandt hatte. Jedenfalls zur Überbrückung kurzfristiger Liquiditätsengpässe hätte die Möglichkeit bestanden, einen Teil dieser Aktien zu verleihen oder sogar kursschonend zu verkaufen, ohne deshalb den geplanten Anteilsaufbau insgesamt aufzugeben. Die von der Musterklägerin in Bezug genommene sog. Negative-Pledge-Klausel des Konsortialkreditvertrages stand dem nicht entgegen, da diese allenfalls die Verwertung des Aktienbestandes als Sicherheit für weitere Liquiditätsbeschaffungen untersagte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_418">418</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin behauptet zwar, dass eine Auflösung der Derivatepositionen ohne den entsprechenden Erwerb der <em>„gesicherten“</em> Aktien zu einem massiven Kursverlust, einer Entwertung der Put-Optionen und damit zu Ausgleichszahlungen in Milliardenhöhe geführt hätte. Dieser Vortrag ist aber mit Substanz nur auf die vollständige Auflösung der Derivatepositionen oder die Auflösung zumindest eines wesentlichen Teils davon bezogen (beispielsweise Schriftsatz vom 4. Oktober 2017, Rn. 51, 54). Dass die Auflösung nur eines untergeordneten Teils dieser Positionen zur Abdeckung eines vorübergehenden Liquiditätsbedarfs nicht möglich gewesen wäre, ist demgegenüber nicht mit Substanz dargelegt. Dass eine solcher Verkauf eines Teils der Aktien oder die Auflösung eines Teils der Optionspositionen möglich gewesen wäre, ohne dass dies zu für die Musterbeklagte zu 1 nicht mehr hinnehmbaren Konsequenzen geführt hätte, zeigt schon die Auflösung eines Teils der Optionen nach dem 29. Oktober 2008, die letztlich zu einer Normalisierung des Kursniveaus, nicht aber zu einem Kursrutsch beigetragen hatte, aufgrund dessen die Put-Optionen entwertet worden wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_419">419</a></dt> <dd><p>Ohne dass es hierauf noch entscheidend ankäme, hätte die Musterbeklagte zu 1 schließlich auch die Möglichkeit gehabt, Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zumindest im Rahmen der Optionsstrategie I, bei der dies vertraglich gegenüber der M. Bank vorgesehen war, im Austausch gegen Barsicherheiten an die M. Bank zu verpfänden. Die in § 20.5 (a) des Konsortialkreditvertrages vom 27. Juni 2007 (auszugsweise in Anlage MBPor 163) enthaltene Negative-Pledge-Klausel galt nach § 20.5 (b) (xi) nicht für Sicherungsrechte, die gemäß Rahmenverträgen (...) für Derivatekonstruktionen (...) mit einer Bank oder einem Finanzinstitut geschlossen werden, begründet oder geduldet werden. Nach dem unbestrittenen Vortrag der Musterbeklagten zu 1 bestand ein solcher Rahmenvertrag für Derivategeschäfte für die Optionsstrategien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_420">420</a></dt> <dd><p>(bbb) Weitere erhebliche Liquiditätsabflüsse aufgrund zukünftiger Kursverluste der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 waren nicht konkret zu erwarten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_421">421</a></dt> <dd><p>Liquiditätsabflüsse drohten bei fallenden Kursen in jedem Fall im Rahmen der auf Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 bezogenen Optionsstrategie I, bei der die Ausübungspreise bei jedem Rolltermin entsprechend des jeweiligen Aktienkurses neu festgesetzt wurden. Der Ausübungspreis am 26. Oktober 2008 lag bei 210,52 €. Bei Unterschreiten dieses Kurses um mehr als 2 % bzw. 5 % waren Nachschusssicherheiten zu leisten. Lag der tatsächliche Kurs beim nächsten Rolltermin unter dem Ausübungspreis, war die Differenz von der Musterbeklagten zu 1 zu zahlen, wobei bereits geleistete Nachschusssicherheiten teilweise angerechnet werden konnten. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Musterbeklagte zu 1 bereits Sicherheiten in Höhe von rund 4,5 Mrd. € geleistet hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_422">422</a></dt> <dd><p>Bei den Optionsstrategien mit fixem Ausübungspreis drohten Nachschusspflichten im Rahmen der Pflicht zur Stellung temporärer Sicherheiten zwischen den Rollterminen erst dann, wenn der aktuelle Kurs das 1,4-fache (bzw. bei Vorzugsaktien das 1,3-fache) des Ausübungspreises unterschritt. Der Ausübungspreis lag in den Strategien II, III und VII bei 85 €, 93 € und 120 €. Nachschusssicherheiten wären daher hier erst bei einem Aktienkurs unterhalb von 119 €, 130,20 € bzw. 168 € zu leisten gewesen. In der Strategie VI, die freistehende Put-Optionen umfasste, lag der Ausübungspreis jedenfalls unterhalb von 145 €, so dass Nachschusssicherheiten jedenfalls erst bei Kursen unterhalb von 203 € zu leisten gewesen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_423">423</a></dt> <dd><p>Nach der – allerdings einzelne Effekte ausblendenden – Berechnung in dem von den sog. E.-Beigeladenen in Auftrag gegebenen und vorgelegten Gutachten der Privatsachverständigen A. und N. vom 12. März 2019 im Zusammenhang mit der dort vorgenommenen sog. VaR-Analyse (Anlage B-E._3 zum Schriftsatz vom 14. März 2019, S. 26 [Bl. 8099], in deutscher Übersetzung Anlage B-E._4 [Bl. 8139]) wäre beispielsweise selbst bei einem Kurs der Stammaktie von 178,53 € (und einem Kurs der Vorzugsaktie in Höhe von 39,83 €) nach Abzug von Nachschussforderungen in Höhe von 792 Mio. € noch eine Liquidität in Höhe von 1,842 Mrd. € verblieben. In dem von der Musterklägerin in Auftrag gegebenen und vorgelegten Gutachten des Privatsachverständigen P. vom 20. November 2015 (Anlage MK 35, S. 56) geht dieser bei einem Kurs der Stammaktie von 176,91 € und einem Kurs der Vorzugsaktie von 39,56 € von Nachschusspflichten in Höhe von insgesamt 2,128 Mrd. € aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_424">424</a></dt> <dd><p>Der Schlusskurs der Stammaktie am 24. Oktober 2008 von 210,85 € lag noch so deutlich über diesen Ausübungspreisen bzw. für die Liquidität kritischen Kursen, dass zumindest nicht konkret abzusehen war, dass der Kurs kurzfristig nach dem Wochenende des 25./26. Oktober 2008 unter diese Schwellen zu fallen drohte. Ausgehend von der im Konzern vorhandenen und der Musterbeklagten zu 1 zumindest zur Verfügung stehenden Liquidität drohte damit auch ohne den Verkauf von Aktien oder deren Verpfändung im Austausch gegen Barsicherheiten die Zahlungsunfähigkeit zumindest nicht unmittelbar. Aber auch über einen solchen kurzen Zeitraum hinaus waren konkret keine erheblichen und liquiditätswirksamen Kursverluste zu erwarten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_425">425</a></dt> <dd><p>Zwar bringt die Musterklägerin vor, dass – auch kurzfristig – erheblich fallende Kurse zu erwarten waren, aufgrund derer die Insolvenz der Musterbeklagten zu 1 drohte. Hinreichende Anknüpfungstatsachen für diese Prognose sind aber nicht dargelegt oder sonst erkennbar. Dies kann der Senat – auch unter Berücksichtigung der vorgelegten Parteigutachten – aus eigener Sachkunde feststellen. Ein Gutachten zu der fiktiven weiteren Kursentwicklung ist deshalb nicht einzuholen, zumal dies ohne nähere Anknüpfungstatsachen insoweit auf eine unzulässige Ausforschung hinausliefe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_426">426</a></dt> <dd><p>(α) Konkrete Anhaltspunkte für einen erheblichen weiteren Kursverlust der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 ergeben sich nicht aus dem bisherigen Kursverlauf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_427">427</a></dt> <dd><p>Nachdem ihr Kurs in der ersten Jahreshälfte 2008 zunächst relativ kontinuierlich leicht angestiegen war und sich für einen Zeitraum von rund 2 Monaten vor dem 15. September 2008 in der Größenordnung von etwa 200 € bewegt hatte, stieg er in dem folgenden Monat in zwei Wellen von 207 € auf 398,84 € am 16. Oktober, mit einem Höchststand von 452 € am 7. Oktober (vgl. etwa Kurshistorie Anlage MBPor 99 und Kursdiagramme im Schriftsatz der Musterbeklagten zu 1 vom 28. Juli 2017, Rn. 159, 186, 551, Bl. 1764, 1770, 1869 d.A.). Der Auslöser für diese letztgenannten Kursbewegungen ist streitig. Nach dem Vortrag der Musterklägerin beruhten sie im Wesentlichen auf einem kurzfristigen Nachfrageüberhang nach der Insolvenz der Bank Lehman Brothers, nach dem Vortrag der Musterbeklagten handelte es sich um sog. Short Squeezes aufgrund der Nachfrage von Leerverkäufern. Jedenfalls handelte es sich um kurzfristige Kursübertreibungen aufgrund eines auf einer Sondersituation beruhenden Nachfrageüberhangs.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_428">428</a></dt> <dd><p>Ab dem 17. Oktober 2008 kam es zu einem deutlichen Kursrückgang auf gut 242 €. In den Folgetagen fiel der Kurs weiter auf rund 201 € am 24. Oktober 2008; der Schlusskurs lag dort bei 210,85 € (vgl. etwa Kursdiagramme im Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. Mai 2017, Rn. 363, Bl. 919 d.A. und im Schriftsatz der Musterbeklagten zu 1 vom 28. Juli 2017, Rn. 186, 189, Bl. 1770, 1772 d.A., sowie Anlage MBPor 99). Er entsprach damit am letzten Handelstag vor der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 in etwa wieder dem durchschnittlichen Kurs des letzten halben Jahres (vgl. etwa Kursdiagramm im Schriftsatz der Musterbeklagten zu 1 vom 28. Juli 2017, Rn. 186 und Rn. 192, Bl. 1770, 1773 d.A.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_429">429</a></dt> <dd><p>Dieser Kursverlauf spricht für sich genommen nicht dafür, dass zu erwarten gewesen wäre, dass der Kurs in nächster Zeit deutlich weiter fallen werde. Die akuten Übertreibungen im September/Oktober 2008 waren korrigiert. Der zwischenzeitlich erhebliche Kursverlust hatte sich bereits seit dem 21. Oktober abgeschwächt. Im Tagesverlauf des 24. Oktober war es nach anfänglichen leichten Verlusten zwar zu einem volatilen Verlauf gekommen, der sich aber in etwa zwischen 202 € und 210 € mit steigender Tendenz zum Handelsschluss bewegte. Vielmehr lag bei Betrachtung allein dieses Verlaufes die Annahme näher, dass der Kurs sich nunmehr wieder auf dem Niveau von gut 200 € einpendeln werde, das er von Ende Juli bis Mitte September vor den Kursübertreibungen gehalten hatte, auch wenn in diesem Zusammenhang kurzfristige weitere Schwankungen nicht auszuschließen gewesen sein dürften.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_430">430</a></dt> <dd><p>Auch nach Abklingen zumindest der unmittelbaren Folgen des auf die Pressemitteilung vom 26. Oktober folgenden Short Squeezes hielt sich der Aktienkurs bis Juli 2009 wiederum bei gut 200 €.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_431">431</a></dt> <dd><p>Entgegen der mit Schriftsatz vom 30. August 2019 (Rn. 81) vertretenen Auffassung spricht für kurzfristige weitere Kursverluste bis zu einem Niveau von etwa 165 € oder weniger auch nicht, dass sich – wie es in dem Schriftsatz heißt – <em>„ein Kurswert von über 200 € erst infolge des durch das Cornering der Musterbeklagten zu 1 entstandenen Nachfrageüberhangs einstellte“</em> und die Entkopplung des Kurses der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 nach Abschluss des Optionsaufbaus nicht würde aufrechterhalten werden können. Mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2018 (Seite 157) hat die Musterklägerin vorgetragen, der Aktienkurs sei noch bis Sommer 2009 deshalb nicht unter 210 € gefallen, weil die Optionsstrategien und Hedgingaktivitäten fortbestanden hätten. Gerade wenn sich ein Kurswert von über 200 € im Jahr 2008 erst durch ein <em>„Cornering“</em> bzw. durch die Hedgingaktivitäten eingestellt und sich bis zum Sommer 2009 nur durch Optionsstrategien und dieses Hedging über 210 € gehalten haben sollte, spricht dies dagegen, dass am 24. Oktober 2008 erhebliche Kursverluste deshalb zu erwarten waren, weil der Optionsaufbau abgeschlossen war. Es war auch nicht absehbar, dass das Hedging in nächster Zeit und in nennenswertem Umfang beendet werden würde (näher dazu: Rn. 436).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_432">432</a></dt> <dd><p>(β) Ebenso wenig sprechen die mit der Bankenkrise im Herbst 2008 verschlechterte Lage an den Kapitalmärkten im Allgemeinen und die angespannte wirtschaftliche Lage in der Autobranche im Besonderen für weitere Kursverluste der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2. Nach der Bewertung in dem Privatgutachten von A./N. (Seite 3, Bl. 8076; in deutscher Übersetzung Bl. 8114) hatte sich der Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 in dieser Krise erheblich von anderen Aktien und den allgemeinen Bedingungen am Aktienmarkt abgekoppelt, weil diese Aktie durch andere Kräfte beeinflusst worden sei. Der Aktienkurs wurde – wie vorstehend zitiert von der Musterklägerin vorgetragen – auch weiterhin durch die im Zusammenhang mit den Optionsstrategien und den Hedgingaktivitäten bestehende Nachfrage gestützt (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Erwägungen im V.-GA, Anlage MK 37, Rn. 26).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_433">433</a></dt> <dd><p>(γ) Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 insbesondere nach dem Vortrag der Musterklägerin in großem Umfang leer verkauft worden war und Leerverkäufe nach dem Vortrag der Musterklägerin – und jedenfalls verbreiteter Auffassung – geeignet sein können, übertriebene Bewertungen zu korrigieren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_434">434</a></dt> <dd><p>Jedoch waren die potenziell kurssenkenden Impulse durch die bereits getätigten Leerverkäufe bereits gesetzt. Weitere erhebliche durch Leerverkäufe bedingte Kursverluste hätten vorausgesetzt, dass auch weiterhin Leerverkäufe in erheblichem Umfang erfolgt wären, was zumindest nach Offenlegung der Absichten der Musterbeklagten zu 1 und des Bestandes an physischen Aktien und Kaufoptionen nicht mehr konkret zu erwarten war. Hiermit korrespondiert auch die in der von der Musterklägerin in Bezug genommenen E-Mail des rechtlichen Beraters der Musterbeklagten zu 1 Dr. B. vom 26. Oktober 2008 (Musterklagebegründung Rn. 424) angesprochene Motivation, <em>„später erneute Kursexplosionen zu vermeiden“</em>. Dies lässt gerade keine Sorge vor einem weiteren Kursverfall im Zusammenhang mit Leerverkäufen erkennen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_435">435</a></dt> <dd><p>Soweit die Musterklägerin und die Beigeladenen der Auffassung sind, dass die Aufdeckung der Details der wirtschaftlichen Lage der Musterklägerin auch angesichts der allgemeinen Wirtschaftslage, der Marktverfassung und der Bewertung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 durch Analysten weitere Leerverkäufer angelockt hätte, was einen erheblichen Kursverfall ausgelöst hätte, war die Musterbeklagte zu 1 zu einer solchen umfassenden Aufdeckung weder rechtlich noch sittlich verpflichtet (näher: Rn. 487).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_436">436</a></dt> <dd><p>(δ) Ein weiterer Kursverfall drohte nach Auffassung der Musterklägerin auch deshalb, weil die Gefahr bestand, dass Hedgingpartner zur Absicherung gehaltene Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 in den Markt hätten geben können und teilweise auch damit gedroht hätten. Solche Verkäufe sollen aber erst bei weiteren Kursverlusten gedroht haben. Letztere waren nicht zu erwarten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_437">437</a></dt> <dd><p>(ε) Die Musterklägerin behauptet weiter, die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 sei nach einhelliger Analystenmeinung im streitgegenständlichen Zeitraum massiv überbewertet gewesen. Der Aktienkurs sei entgegen dem allgemeinen Markttrend insbesondere der Automobilbranche allein aufgrund der Optionsgeschäfte der Musterbeklagten zu 1 und der damit verbundenen Hedginggeschäfte erheblich über den inneren Wert dieser Aktie hinaus gestiegen. Aufgrund des allgemeinen Marktumfeldes und des durch Leerverkäufe erzeugten Angebotsüberhangs sei ein weiterer Kurssturz das einzig realistische Szenario gewesen. Die Richtigkeit dieser Behauptungen unterstellt – das Bestreiten der Musterbeklagten zu 1 stützt sich weit überwiegend auf eher ältere Analystenberichte – wäre zwar mit einem, möglicherweise auch erheblichen, Kursrückgang zu rechnen gewesen. Dieser Vortrag lässt aber keine hinreichenden Rückschlüsse darauf zu, innerhalb welchen Zeitraums damals ein Kursrückgang in welcher Höhe zu erwarten gewesen wäre, zumal der Kurs nach dem Vortrag der Musterklägerin gerade durch die Optionsgeschäfte und die Hedgingaktivitäten gestützt wurde (s. auch Rn. 431 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_438">438</a></dt> <dd><p>Auch die in der Tabelle unter Rn. 341 des Schriftsatzes der Musterklägerin vom 1. Mai 2017 (Bl. 910 f. d.A.) dargestellte Übersicht von Analystenmeinungen aus September/Oktober 2008 lässt eine solche konkretere Einschätzung, die im Übrigen auch von der Musterklägerin selbst nicht vorgenommen wird, nicht hinreichend zu. Diese Analysen liegen – abgesehen von der im Anlagenkonvolut MBPor 128 mit eingereichten Analyse der Goldman Sachs Group vom 17.10.2008 – nicht vor. Es ist schon offen, auf welchen Zeithorizont sie bezogen sind; nach dem – unbestrittenen – Vortrag der Musterbeklagten zu 1 sind Analystenprognosen langfristig angelegt und geben keine Indikation für den kurzfristigen Kursverlauf. Insbesondere bleibt auch offen, welche Befundtatsachen diesen Analysen jeweils zugrunde lagen, namentlich inwieweit sie die mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 bekannt gemachte Beherrschungsabsicht bereits antizipiert haben (vgl. dazu auch Rn. 443 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_439">439</a></dt> <dd><p>(ζ) Die Musterklägerin macht geltend, es sei auch auf der Grundlage einer Risikoabschätzung nach der sog. Value-at-Risk (VaR)-Methode, die unstreitig auch die Musterbeklagte zu 1 vornahm, mit erheblich fallenden Aktienkursen zu rechnen gewesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_440">440</a></dt> <dd><p>Die aufgrund der vorgetragenen VaR-Berechnung gewonnene, auf den 24. Oktober 2008 bezogene Prognose, der Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 werde mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % am nächsten Geschäftstag, dem 27. Oktober 2008, nicht unter 176,91 €, innerhalb der nachfolgenden fünf Geschäftstage nicht unter 136,46 € und innerhalb der nachfolgenden zehn Geschäftstage nicht unter 106,77 € fallen – das Privatgutachten von A./N. gelangt auf Seite 26 (Bl. 8099, in deutscher Übersetzung Bl. 8139) zu geringfügig anderen Werten, ohne dass dies einen grundsätzlichen Unterschied darstellte –, ließ nicht die Annahme zu, dass mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen wäre, dass der Aktienkurs überhaupt – und wenn, dann in einem erheblichen Maße – weiter fallen werde. Bei der VaR-Betrachtung handelt es sich um ein Modell der Risikoabschätzung, das angibt, welche Verlusthöhe innerhalb eines vorgegebenen Zeitraumes mit einer definierten Wahrscheinlichkeit <em>nicht</em> überschritten wird. Die von der Musterklägerin in Bezug genommene Prognose enthält entsprechend keine hinreichend detaillierte Aussage dazu, welche Kursentwicklung umgekehrt mit Wahrscheinlichkeit <em>zu erwarten</em> war. Dass eine Unterschreitung der genannten Kurse mit 95%iger – also ganz überwiegender – Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten gewesen sei, lässt offen, mit welcher Wahrscheinlichkeit überhaupt auch nur fallende Kurse zu erwarten gewesen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_441">441</a></dt> <dd><p>Ob die Berücksichtigung der historischen Volatilität des Aktienkurses zur Berechnung des Value at Risk hier überhaupt methodisch sachgerecht war, kann offen bleiben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_442">442</a></dt> <dd><p>(η) Das von den E.-Beigeladenen vorgelegte Gutachten der Privatsachverständigen A./N. (S. 27 f., Bl. 8100 f., in deutscher Übersetzung Bl. 8140 ff.) stützt die Annahme eines drohenden Zahlungsausfalls der Musterbeklagten zu 1 weiter auf die Untersuchung einer sog. simulierten Ausfallwahrscheinlichkeit, wobei unterschiedliche Kurspfade entsprechend des Trends in einem bestimmten Zeitraum (sog. Drift) simuliert wurden. Mit Ausnahme der Berücksichtigung der Drift der letzten sechs Tage – die aufgrund der vorstehenden Erwägungen (Rn. 427 ff.) nicht repräsentativ sein dürfte – gelangt diese Simulation zu dem Ergebnis, dass der Musterbeklagten zu 1 mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit am 3. November 2008 der Zahlungsausfall gedroht hätte. Allerdings handelt es sich hierbei um eine statistische Analyse, die nach der dargelegten Methodik die Sondersituation der aufgrund der Sicherungsgeschäfte bestehenden Marktenge und damit die Sondersituation betreffend die Kursentwicklung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 nicht berücksichtigt hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_443">443</a></dt> <dd><p>(θ) Nach den vorstehenden Erwägungen war bereits nicht konkret mit einem erheblichen weiteren Kursverfall der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 zu rechnen. Hinzu kommt, dass anzunehmen war, dass die Aktienkurse mit großer Wahrscheinlichkeit jedenfalls nicht weiter fallen würden, nachdem der Kapitalmarkt mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 die – zutreffenden – Informationen über die Höhe der Beteiligung und den Umfang der Call-Optionen sowie über die Beherrschungsabsicht erhielte, wovon auch die Musterklägerin selbst ausgeht. Auch beispielsweise die Analyse von Focus Money vom 2. Oktober 2008 (vorgelegt im Anlagenkonvolut MBPor 128) ging von einem entsprechenden Effekt einer solchen Offenlegung aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_444">444</a></dt> <dd><p>Da bei Mitteilung dieser tatsächlichen Gegebenheiten daher nicht mit fallenden, sondern im Gegenteil selbst nach dem Vortrag der Musterklägerin mit steigenden Kursen zu rechnen war, fehlte erst recht jede Grundlage für die Annahme einer bevorstehenden Insolvenz oder einer sonst auf der wirtschaftlichen Lage der Musterbeklagten zu 1 beruhenden mangelnden Umsetzbarkeit der mitgeteilten Aufstockungs- und Beherrschungsabsicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_445">445</a></dt> <dd><p>Diese Wertung ist entgegen der u.a. von dem Parteigutachter R. vertretenen Auffassung zu berücksichtigen, weil die Mitteilung gerade keine Täuschung darstellte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_446">446</a></dt> <dd><p>Der tatsächliche Kursverlauf der Stammaktie nach dem 26. Oktober 2008 bestätigt letztlich im Rahmen einer Ex-post-Betrachtung diese Einschätzung, selbst wenn der massive Short Squeeze in den Tagen nach der Veröffentlichung der Pressemitteilung ausgeblendet wird. Nach der Auffassung der Musterklägerin beruhte dieser weitere Kursverlauf zwar darauf, dass die Optionsstrategien und Hedgingaktivitäten fortbestanden. Mangels zu erwartender kritischer Verluste stand aber auch am 26. Oktober 2008 nicht zu erwarten, dass sich die Marktenge auflösen werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_447">447</a></dt> <dd><p>(ccc) Entgegen der von der Musterklägerin unter Berufung auf das Parteigutachten von A./N. vorgetragenen Auffassung bestand auch bei unverändertem Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 kein erhebliches Insolvenzrisiko (Schriftsatz vom 15. Oktober 2018, Rn. 235, Bl. 5935). Die insoweit wohl von der Musterklägerin in Bezug genommenen Erwägungen der Parteigutachter beziehen sich auf eine <em>„Drift“</em> von Null, mithin eine Situation, in der die Kurse keinem bestimmten Trend folgten (S. 27 des Gutachtens, Bl. 8100; in deutscher Übersetzung Bl. 8141), aber nicht notwendig auf gleichbleibende Kurse. Anhaltspunkte für ein konkretes Insolvenzrisiko bei gleichbleibenden Kursen sind trotz des Hinweises des Senats in der mündlichen Verhandlung vom 30. Oktober 2018 nicht dargelegt. Sie folgen insbesondere auch nicht aus den – insoweit von der Musterklägerin und den Beigeladenen auch nicht konkret in Bezug genommenen – Erwägungen der Privatgutachter A./N. betreffend die Liquiditätsanalyse und den Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeit bei der Musterbeklagten zu 1 im dritten Quartal 2008 (S. 21 ff. des Gutachtens, Bl. 8094 ff.; in deutscher Übersetzung Bl. 8133 ff.). Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, dass die Musterbeklagte zu 1 im dritten Quartal 2008 nicht über ausreichend Liquidität verfügt habe, um u.a. durch fallende Aktienkurse ausgelöste Nachschussforderungen abzudecken. Zu gleichbleibenden Kursen verhalten sie sich nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_448">448</a></dt> <dd><p>(ddd) Erhebliche wirtschaftliche Risiken aufgrund der sich auf die Vorzugsaktie der Musterbeklagten zu 2 beziehenden Optionsstrategien V und VIII sind ebenfalls nicht schlüssig dargelegt. Auch diesen lag ein fixer Ausübungspreis von (am 24. Oktober 2008) 60 € bzw. 70 € zu Grunde, der zwar in der Woche vor dem 24. Oktober 2008 unterschritten wurde (vgl. zum Kursverlauf etwa Diagramm unter Rn. 366 im Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. Mai 2017, Bl. 921 d.A.). Der Kurs schloss am 24. Oktober 2008 bei rund 43,97 € (nach P., Gutachten vom 20. November 2015, 3.4.18, Tab. 7 [Anlage MK 35]). Dies hatte im Laufe der Woche vor dem 24. Oktober 2008 erhebliche Nachschusspflichten ausgelöst. Dass die Musterbeklagte zu 1 dies aber wirtschaftlich verkraften konnte, zeigt schon, dass sie in der Lage war, zum 27. Oktober 2008 – also noch vor dem Liquiditätszufluss infolge einer teilweisen Auflösung der Optionen nach dem 29. Oktober 2008 – den Ausübungspreis unter Inkaufnahme von Rollverlusten und Prämienzahlungen auf jeweils 30 € zu reduzieren. Auch nach den auf den 24. Oktober 2008 bezogenen VaR-Analysen sowohl des Privatsachverständigen P. als auch der Privatsachverständigen A./N. sollte dieser Kurs zumindest in den nächsten 10 bzw. 6 Handelstagen mit mehr als 95%iger Wahrscheinlichkeit nicht unterschritten werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_449">449</a></dt> <dd><p>Dass die Vertragsparteien den Ausübungspreis herabsetzten, bedeutet nicht, dass die Musterbeklagte zu 1 selbst von insgesamt fallenden Aktienkursen ausgegangen wäre. Zumindest besteht aufgrund der unterschiedlichen Nachfrage- und Angebotssituation kein Zusammenhang mit der möglichen Kursentwicklung der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_450">450</a></dt> <dd><p>(d) Zwar ist nicht zu verkennen, dass sich aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung insbesondere nach dem Vortrag der Musterklägerin die Aussichten einer erfolgreichen Übernahme verschlechtert hatten. Die insoweit möglicherweise bestehende Unsicherheit, unter anderem die fehlende Sicherheit betreffend eine hinreichende Kreditgewährung, musste in der Pressemitteilung aber nicht ausdrücklich offen gelegt werden, weil die Umsetzung des dargestellten Übernahmeplans gerade nicht als sicher dargestellt wurde, sondern vielmehr sogar ausdrücklich unter den Vorbehalt stimmender wirtschaftlicher Rahmenbedingungen gestellt wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_451">451</a></dt> <dd><p>Einzelheiten zur wirtschaftlichen Lage der Musterbeklagten zu 1 waren nicht zu veröffentlichen. Insbesondere bestehen auch nach dem Vortrag der Musterklägerin keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Insolvenz bereits derart konkret bevorgestanden hätte, dass diese Umstände aufgrund einer Kursrelevanz für die Stammaktie der Musterbeklagten zu 1 nach § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG ad-hoc-publizitätspflichtig gewesen wären (vgl. zu den diesbezüglichen Maßstäben etwa Fuchs/Pfüller, § 15 WpHG Rn. 260 ff.). Dass die Musterbeklagte zu 1 im Zusammenhang mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 keine Publizitätspflichten verletzt hatte, entspricht im Übrigen auch der Auffassung der BaFin (Vermerk vom 27. März 2009 – WA 23-Wp 5115-2008/0061, auszugsweise wiedergegeben im V.-GA [MK 37], Rn. 136, 231, 342). Auch die möglicherweise unterlassene Veröffentlichung einer Gewinnwarnung in diesem zeitlichen Zusammenhang führte jedenfalls nicht zur Sittenwidrigkeit dieser Pressemitteilung und der durch sie verursachten Schädigung der klagenden Anleger (dazu näher unten: Rn. 530 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_452">452</a></dt> <dd><p>Im Übrigen bestehen auch nach dem Vortrag der Musterklägerin durchaus Zweifel an der Behauptung, die Musterbeklagte zu 1 habe die Pressemitteilung in Kenntnis erheblicher Risiken veröffentlicht. So lässt etwa die von der Musterklägerin in Bezug genommene E-Mail des rechtlichen Beraters der Musterklägerin Dr. B. vom 26. Oktober 2008 (Musterklagebegründung Rn. 424) die Motivation erkennen, spätere <em>„erneute Kursexplosionen zu vermeiden“</em>, nicht aber die Sorge vor Kursverlusten und Liquiditäts- oder Finanzierungsschwierigkeiten. Vielmehr ergibt die dort mitgeteilte Motivation nur im Hinblick auf eine weitere Umsetzung der Übernahmeabsicht Sinn. Auf diese Widersprüche in dem Vortrag kommt es aber nicht mehr entscheidend an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_453">453</a></dt> <dd><p>(3) Die Pressemitteilung ist auch nicht deshalb unrichtig, weil die Musterbeklagte zu 1 eine Marktenge bzw. eine dauerhafte Marktenge unzutreffend und möglichst nachhaltig suggeriert hätte, wodurch bei Leerverkäufern ein Kaufdruck hätte erzeugt oder verstärkt werden können. Zwar führte die Pressemitteilung den Marktteilnehmern vor Augen, dass das Angebot an Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 auf dem Markt möglicherweise geringer war, als die Marktteilnehmer annahmen. Sie enthielt aber keine unrichtigen oder irreführenden Informationen. Auch der hierdurch erweckte Eindruck war nicht unrichtig oder irreführend. Die Musterbeklagte zu 1 hat die Angebotssituation zudem nicht unnötigerweise dramatisch dargestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_454">454</a></dt> <dd><p>(a) Die mitgeteilten Tatsachen zu dem von der Musterbeklagten zu 1 gehaltenen Anteil an den physischen Stammaktien der Musterbeklagten zu 2, zum Umfang der gehaltenen cash-gesettelten Call-Optionen und zur Aufstockungs- und Beherrschungsabsicht waren nicht unrichtig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_455">455</a></dt> <dd><p>Zutreffend stellte die Musterbeklagte zu 1 dar, dass die Optionen cash-gesettelt – also auf Barausgleich gerichtet – waren und damit zumindest unmittelbar keinen Anspruch auf Lieferung der Aktien selbst vermittelten. Die Pressemitteilung erweckte auch angesichts der Aussage, die Stammaktien würden zum jeweils aktuellen Kurs gekauft, für einen verständigen Marktteilnehmer nicht den Eindruck, dass Aktien im Umfang der mitgeteilten Optionsgeschäfte zwingend dem Markt entzogen wären, weil diese jeweils physisch <em>„gehedgt“</em> worden wären, also von den Vertragspartnern der Musterbeklagten zu 1 zur Absicherung derer Verpflichtungen aus den Optionsgeschäften physisch gehalten worden wären. Vielmehr stand die fragliche Aussage zum Kauf der Stammaktien ersichtlich im Zusammenhang mit der Beschreibung des Mechanismus der Optionen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_456">456</a></dt> <dd><p>Selbst wenn ein solcher Eindruck der Marktteilnehmer, im Umfang der Optionen seien die Aktien – dauerhaft – dem Markt entzogen, entstanden wäre, entspräche dieser doch nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen weitgehend der Realität. Diese haben behauptet, die M. Bank bzw. weitere im Wege von Derivaten eingebundene Banken hätten jede Call-Option letztlich physisch abgesichert. Angesichts dieser – von der Musterklägerin und den Beigeladenen selbst behaupteten – Sicherungsgeschäfte hätte eine Ausübung der Call-Optionen und damit eine Aufstockung des physischen Aktienbestands der Musterbeklagten zu 1 keine Auswirkungen auf die Marktenge gehabt. Soweit die beigeladene P.P. L.P. mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2019 (Rn. 30) vorträgt, es habe keinen Engpass an für Leerverkaufspositionen zu Verfügung stehenden Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 gegeben, hat die Pressemitteilung Gegenteiliges nicht suggeriert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_457">457</a></dt> <dd><p>Eine Einschränkung erfährt dieser Vortrag zur physischen Absicherung nur dadurch, dass Banken nach der Behauptung der Musterklägerin und der beigeladenen Y. LLP infolge der Bankenkrise in Einzelfällen zur Absicherung gehaltene Aktien verkauft hätten oder dies gedroht habe, so dass diese dann wieder dem Markt zur Verfügung gestanden hätten. Zum einen lässt sich diesem Vortrag aber schon nicht entnehmen, dass dies überhaupt im Hinblick auf einen auch nur nennenswerten Teil von Aktien der Fall gewesen sein soll, sodass bereits im Ansatz nicht ersichtlich ist, dass der Markt hierüber hätte aufgeklärt werden müssen, um eine mögliche Irreführung zu vermeiden, die ohnehin insoweit allenfalls unerheblich gewesen wäre. Zum anderen hat die Musterklägerin vorgetragen, die Schwierigkeiten der Hedgingpartner seien am Markt bekannt gewesen. Schließlich ist insoweit wiederum zu berücksichtigen, dass die Pressemitteilung zumindest ausdrücklich überhaupt nicht auf ein <em>„Hedging“</em> eingeht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_458">458</a></dt> <dd><p>Die in der Pressemitteilung offen gelegten Call-Optionen drohten auch nicht wegen eines zu erwartenden Kursverfalls der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 oder einer bevorstehenden Insolvenz der Musterbeklagten zu 1 wertlos zu werden. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_459">459</a></dt> <dd><p>(b) Die Pressemitteilung stellte auch die tatsächlich gegebene Marktsituation nicht unnötig dramatisch dar. Sie legte offen, dass ein Erwerb weiterer über 50 % hinausgehender Anteile erst im Jahr 2009 anstehe. Auch wenn dieser Aussage bei Unterstellung eines vollständigen physischen Hedgings für eine Beurteilung der Marktenge letztlich keine Bedeutung zukäme, war aufgrund des angegebenen Zeithorizontes jedenfalls keine – von der Musterbeklagten zu 1 ausgehende – kurzfristige weitere Verengung des Marktes zu befürchten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_460">460</a></dt> <dd><p>Die Pressemitteilung legte zudem nur die von der Musterbeklagten zu 1 selbst gehaltenen Call-Optionen und nicht auch die weiteren von der Porsche GmbH Salzburg gehaltenen Optionen offen (vgl. dazu auch Rn. 392). Letzteres hätte eine weitergehende Marktverengung gezeigt und einen erhöhten Kaufdruck auslösen können. Auch implizierte die Pressemitteilung nach der Auffassung des Privatsachverständigen P. in dessen Gutachten vom 20. November 2015 (Anlage MK 35, unter 3.3.5) durch die ausschließliche Berücksichtigung der Call-Optionen einen zu hohen Free Float. Auch damit schwächte sie den Eindruck vom Ausmaß der Marktenge und den kurstreibenden Effekt eher ab.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_461">461</a></dt> <dd><p>Die vorgenommene Zusammenrechnung der physischen und der synthetischen Positionen verstärkte – gerade für verständige Marktteilnehmer – den Eindruck einer Marktenge nicht in unzutreffender Weise. Im Übrigen sah auch etwa § 25a Abs. 2 S. 3 WpHG i.d.F. v. 6. Dezember 2011 vergleichbar eine kumulierte Darstellung vor. Diese ist nicht zu beanstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_462">462</a></dt> <dd><p>(c) Ohnehin war bereits vor dieser Pressemitteilung ersichtlich, dass die Musterbeklagte zu 1 Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 in großem Umfang nachfragte und dies das Angebot verknappte. Der Finanzvorstand H. bekräftigte beispielsweise im FAZ-Interview vom 28. Juli 2008 (Anlage MBPor 82), noch im Jahr 2008 die <em>„51-Prozent-Grenze“</em> überschreiten zu wollen. Vergleichbare Aussagen tätigte der Vorstandsvorsitzende W. laut Presseberichten noch Anfang Oktober 2008 (Anlagen MK 44, 45). Am 16. September 2008 veröffentlichte die Musterbeklagte zu 1, eine Beteiligung in Höhe von 35,14 % erreicht zu haben; eine weitere Erhöhung solle in den weiteren Monaten folgen (Anlage MBPor 83). Schon hiernach war mit einer weiteren substantiellen Nachfrage bis zum Jahresende zu rechnen. Hinzu kommt, dass Dr. W. laut den vorgenannten Presseberichten Anfang Oktober 2008 weiter erklärt hatte, dass eine Erhöhung auf 75 % nicht ausgeschlossen sei, was Analysten ohnehin schon vermutet hatten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_463">463</a></dt> <dd><p>(4) Die Pressemitteilung ist weiter nicht deshalb unrichtig oder irreführend, weil die Musterbeklagte zu 1 ihre Eigeninteressen verschwiegen oder hierzu unrichtige Angaben gemacht oder die von ihr begebenen Put-Optionen oder sonstige Einzelheiten der Optionsstrategien verschwiegen hätte. Ohnehin käme diesem Gesichtspunkt allenfalls ergänzende Bedeutung dahin zu, dass er geeignet sein könnte, die Kernaussagen der Pressemitteilung über den tatsächlichen Bestand der Aktien und Optionen und die Aufstockungs- und Beherrschungsabsicht etwas zu verschleiern oder andererseits etwaige Zweifel an diesen Aussagen zu zerstreuen. Eine solche Unrichtigkeit oder Irreführung bestand aber nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_464">464</a></dt> <dd><p>Nach dem – in Einzelheiten nicht ganz konsistenten – Vortrag der Musterklägerin sei es das Interesse der Musterbeklagten zu 1 gewesen, einerseits hohe Kurse zu provozieren, um Verluste aus den Put-Optionen zu vermeiden, und andererseits, Spekulationen zu vermeiden, die zu nicht wertgerechten zeitweiligen Kurserhöhungen (Short Squeezes) führen konnten, unter anderem wegen damit verbundener steuerlicher Belastungen. Insgesamt habe das Interesse bestanden, Leerverkäufe zu unterbinden, damit sich der Kurs stabilisiere. Zudem habe das Interesse bestanden, dass sich der von der Musterbeklagten zu 1 manipulierte – leicht steigende – Kurs nicht auf einem niedrigeren Stand normalisiere. Darüber hinaus hätten Eigeninteressen sowohl der Eigentümerfamilien Po. und P. als auch der Vorstände bestanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_465">465</a></dt> <dd><p>(a) Zunächst besteht bereits keine rechtliche oder auch sittliche Pflicht, die mit einer Pressemitteilung verfolgten Eigeninteressen offen zu legen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_466">466</a></dt> <dd><p>(b) Weiter war es aus der Sicht des Kapitalmarkts naheliegend, dass die Musterbeklagte zu 1 mit der Pressemitteilung – auch – eigene Interessen verfolgte, auch wenn sie in der Pressemitteilung ausdrücklich ein altruistisches Motiv benannte. Da die Musterbeklagte zu 1 die Erklärung nicht als Ad-hoc-Mitteilung veröffentlicht hatte, sprach nichts dafür, dass sie nur gesetzlichen Informationspflichten hätte genügen wollen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_467">467</a></dt> <dd><p>Gerade die Ansprache an die Shortseller und der Hinweis auf die <em>„dramatischen Verwerfungen auf den Finanzmärkten“</em> zeigte, dass es das Ziel der Musterbeklagten zu 1 war, weitere Wetten auf sinkende Kurse der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 zu verhindern, verbunden jedenfalls mit der Vermeidung einer erhöhten Volatilität, der Vermeidung erneuter erheblicher Kursübertreibungen und – aus Sicht der angesprochenen Marktteilnehmer – möglicherweise auch der Verhinderung zukünftiger kurssenkender Leerverkäufe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_468">468</a></dt> <dd><p>Zudem zeigte die Offenlegung der Call-Optionen, dass die Musterbeklagte zu 1 für die angestrebte Beteiligungsaufstockung im Wesentlichen nicht auf niedrige Aktienkurse angewiesen war, weil sie sich gegen steigende Kurse abgesichert hatte. Dass der Umfang der offen gelegten Kurssicherungspositionen nicht ganz ausreichte, um den angestrebten Erwerb von mehr als 75 % der Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 abzusichern, rief angesichts des verhältnismäßig geringen ungedeckten Teils und des insoweit längerfristigen Zeithorizonts des angestrebten Erwerbs vorhersehbar keine abweichende Vorstellung hervor. Die angesprochenen Marktteilnehmer mussten auch angesichts dieser Informationen den Eindruck gewinnen, dass die Musterbeklagte zu 1 kein wesentliches Interesse an fallenden Kursen hatte, die Pressemitteilung also eher einer Kursstabilisierung auf dem damaligen Niveau oder leicht steigenden Kursen dienen sollte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_469">469</a></dt> <dd><p>(c) Die Pressemitteilung enthielt zwar keine weiteren Einzelheiten zu der genauen Optionsstrategie, insbesondere nicht zu den begebenen – auch frei stehenden – Put-Optionen. Dieser Umstand führt aber nicht zur Unrichtigkeit oder zu einer wesentlichen Irreführungsgefahr. Für den verständigen Kapitalmarktteilnehmer war aus den nachfolgend erörterten Gründen zumindest ersichtlich, dass die Musterbeklagte zu 1 ihre Optionsstrategie abgesehen von den vorgenannten Call-Optionen nicht vollständig offengelegt hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_470">470</a></dt> <dd><p>(aa) Der Kapitalmarkt erwartet grundsätzlich nicht, dass er durch eine solche Kapitalmarktinformation – im Gegensatz etwa zu einem Prospekt – umfassend informiert werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_471">471</a></dt> <dd><p>(bb) Der Text der Pressemitteilung erweckte nicht den Eindruck, dass die Musterbeklagte zu 1 damit sämtliche Optionsgeschäfte offenlegte. Mit den nach der Mitteilung offengelegten <em>„Kurssicherungspositionen“</em> im Zusammenhang mit der Übernahme der Musterbeklagten zu 2 konnten zwar bei einem weiten Begriffsverständnis auch die zur Finanzierung der Beteiligungsaufstockung verkauften Put-Optionen gemeint sein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_472">472</a></dt> <dd><p>Ein mögliches entsprechendes Fehlverständnis der angesprochenen Kapitalmarktteilnehmer korrigierte die Musterbeklagte zu 1 im Folgesatz aber dadurch, dass sie dort allein den Bestand der physischen Aktien sowie der zur Kurssicherung gehaltenen Optionen bezifferte. Dabei war aus den folgenden Sätzen, die das Prinzip der Kurssicherung beschrieben, für den verständigen Kapitalmarktteilnehmer erkennbar, dass die Musterbeklagte zu 1 bei der Offenlegung ihrer <em>„Aktien und Kurssicherungspositionen“</em> nur auf diejenigen Optionen einging, aufgrund derer sie <em>„die Differenz zwischen dem dann aktuellen Volkswagen Kurs und dem darunterliegenden Absicherungskurs“</em> ausbezahlt erhielt, mithin nur auf die Call-Optionen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_473">473</a></dt> <dd><p>Entgegen der von der Musterklägerin vertretenen Auffassung suggerierte der verwandte Begriff der Kurssicherungspositionen dem verständigen Kapitalmarktteilnehmer eine vollständige Offenlegung sämtlicher Optionsgeschäfte auch nicht deshalb, weil die Musterbeklagte zu 1 ihn in ihrem Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr 2006/2007 auch in einem umfassenderen – und wohl ungenauen – Sinn verwendet hatte, nämlich dort mit <em>„Kurssicherungsgeschäften“</em> sämtliche Transaktionen in Aktienoptionen bezeichnete hatte (S. 19, 32 f., 141 f. des Geschäftsberichts, Anlage MK 74). Zum Einen fanden sich auf S. 167 des Geschäftsberichts insoweit genauere Angaben: „<em>Zur Absicherung der im Berichtsjahr vorgenommenen Aufstockung des Anteils an der Volkswagen AG ... wurden Kurssicherungsgeschäfts abgeschlossen. Dabei handelt es sich um Aktienoptionen mit Barausgleich. Darüber hinaus werden Aktienoptionen mit verschiedenen Basiswerten zur Liquiditätsbeschaffung eingesetzt</em>“. Vor allem aber war aufgrund der in der Pressemitteilung ausdrücklich vorgenommenen Erläuterung des Mechanismus der Kurssicherung erkennbar, dass die Musterbeklagte zu 1 solche Aktienoptionen – etwa Put-Optionen –, die keine Absicherung gegen steigende Kurse darstellten, hier nicht offenlegte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_474">474</a></dt> <dd><p>(cc) Einer Irreführungsgefahr stand zudem entgegen, dass verständige Kapitalmarktteilnehmer früheren Erklärungen der Musterbeklagten zu 1 entnehmen konnten, dass sie in erheblichem Umfang derivative Geschäfte auch zur Liquiditätsbeschaffung getätigt hatte. Dies haben Analysten zutreffend dahin verstanden, dass sie jedenfalls in erheblichem Umfang auch auf die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 bezogene Put-Optionen verkauft hatte. Auch vor dem Hintergrund dieses dem verständigen Kapitalmarktteilnehmer erkennbaren Umstandes war hinreichend ersichtlich, dass die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 gerade nicht sämtliche Aktienoptionen der Musterbeklagten zu 1 offenlegte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_475">475</a></dt> <dd><p>(aaa) So war dem Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr 2006/2007 (Anlage MBPor 106, siehe auch Anlage MK 74) ausdrücklich zu entnehmen, dass die Musterbeklagte zu 1 nicht nur zur Absicherung der vorgenommenen Aufstockung ihres Anteils an der Musterbeklagten zu 2 Kurssicherungsgeschäfte in Form von Aktienoptionen mit Barausgleich abgeschlossen, sondern darüber hinaus Aktienoptionen mit verschiedenen Basiswerten zur Liquiditätsbeschaffung eingesetzt hatte – wenn auch ungenau ebenfalls als Kurssicherungsgeschäft bezeichnet (vgl. auch Rn. 312). Schon diese ausdrückliche Darstellung legte nahe, dass diese zur Liquiditätsbeschaffung eingesetzten Optionen einen nennenswerten Umfang hatten. Die Bezifferung der Erträge aus Aktienoptionen mit rund 6,9 Mrd. € (S. 141 des Geschäftsberichts) und die nicht näher differenzierte Bilanzierung von Aktienoptionen mit 10,5 Mrd. € (Aktiva) und 13,5 Mrd. € (Passiva; S. 168 des Geschäftsberichts) unterstrichen diesen Eindruck.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_476">476</a></dt> <dd><p>Der Finanzvorstand H. hatte im Interview gegenüber der FAZ, das am 28. Juli 2008 veröffentlicht wurde (Anlage MK 72, Bl. 2438 ff. d.A.; ebenfalls Gegenstand des Berichtes im Manager Magazin vom 29. Juli 2008, Anlage MBPor 108) darauf hingewiesen, dass die Musterbeklagte zu 1 an diesen Optionsstrategien <em>„möglicherweise“</em> noch verdiene. Ausdrücklich gab er an, keine Einzelheiten zu den Optionsgeschäften offenlegen zu wollen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_477">477</a></dt> <dd><p>Zwar enthielten auch die Geschäftsberichte keine näheren Einzelheiten zur genauen Struktur der Optionsstrategien; angegeben war, dass zur Liquiditätsbeschaffung Aktienoptionen mit verschiedenen Basiswerten eingesetzt würden. Es war für den verständigen Kapitalmarktteilnehmer aber naheliegend, dass zumindest ein erheblicher Teil hiervon auf die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 als Basiswert bezogen war, weil sich die Optionsstrategie erkennbar – und auch ausdrücklich angegeben – gerade auf diesen Basiswert konzentrierte. Auch die genaue Art der hierfür eingesetzten Aktienoptionen war nicht näher beschrieben. Naheliegend – und vom Kapitalmarkt wie nachfolgend ausgeführt auch so verstanden – war aber der Verkauf von Put-Optionen. Diesen Schluss hat auch die Musterklägerin selbst noch in ihrem Schriftsatz vom 4. Oktober 2017 (S. 50 f., Bl. 3286 f.) gezogen. Auch dem Gutachten des Privatsachverständigen P. vom 20. November 2015 (Anlage MK 35) liegen unter 3.5.7 vergleichbare Erwägungen zugrunde. Zudem hat die Privatsachverständige M. im Auftrag der beigeladenen H. GmbH die fraglichen Angaben in den Geschäftsberichten in ihrem Gutachten vom 31. August 2012 (Anlage B-H. 3, Bl. 1611 ff., S. 29 ff.) auch zur Abschätzung u.a. des Umfangs der einzelnen Aktienoptionen im Ansatz vergleichbar ausgewertet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_478">478</a></dt> <dd><p>(bbb) Entsprechend gingen verschiedene Presse- und Analystenberichte davon aus, dass die Musterbeklagte zu 1 auch Put-Optionen verkauft habe. Bereits die Analyse der MainFirst Bank AG vom 1. Oktober 2007 (Anlagenkonvolut MBPor 111/139) führte auf Seite 9 (übersetzt) aus, höchstwahrscheinlich seien synthetische Long-Positionen aufgebaut worden, indem sowohl <em>„VW calls“</em> gekauft als auch <em>„VW puts“</em> verkauft worden seien, unter anderem um den Liquiditätsbedarf zu verringern. Hiervon gingen auch die Analysen von UBS vom 3. Oktober 2007 (Anlagenkonvolut MBPor 111/139, S. 3, 7 ff.), der Citi Investment Research vom 23. Oktober 2007, die starke Handelsaktivitäten in <em>„June 09 VW Puts“</em> festgestellt hatte (in Anlagenkonvolut MBPor 139), von JP Morgan vom 27. Februar 2008, die annimmt, dass die Musterbeklagte zu 1 zuletzt Put-Optionen verkauft habe, und die insbesondere auch starke Handelsaktivitäten bezogen auf solche Put-Optionen im Spätsommer 2007 feststellte (Anlagenkonvolut MBPor 139, S. 13 f.), der Goldman Sachs Group vom 21. April 2008 (Anlagenkonvolut MBPor 111/139, Seite 11) und – ausführlich – der Bericht von Bernstein Research vom 17. Oktober 2008 (Anlage MK 47; inhaltlich wiedergegeben auch im Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. Mai 2017) aus (vgl. auch Rn. 184, 188 ff).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_479">479</a></dt> <dd><p>Der informierte Anleger hatte daher durch diese Analystenberichte sowie u. a. durch den Geschäftsbericht der Musterbeklagten zu 1 für das Geschäftsjahr 2006/2007 ein der tatsächlichen Optionsstrategie der Musterbeklagten zu 1 im Grundsatz entsprechendes Gesamtbild vorliegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_480">480</a></dt> <dd><p>Auch vor dem Hintergrund dieser Analysen bestanden für informierte Anleger keine Anhaltspunkte dafür, dass Put-Optionen zwar zu einem früheren Zeitpunkt – etwa zur Finanzierung des Übernahmeangebots im Jahr 2007 – verkauft worden, inzwischen aber im Wesentlichen ausgelaufen seien. Auch sonst war die Pressemitteilung entgegen der – hilfsweise – im Termin zur mündlichen Verhandlung am 3. September 2019 ausgeführten Annahme der Musterklägerin für verständige Kapitalmarktteilnehmer nicht dahin zu verstehen, dass solche der Liquiditätsbeschaffung dienende Aktienoptionen – insbesondere Put-Optionen – am 26. Oktober 2008 nicht mehr bestanden hätten. Dass die vorangegangenen Mitteilungen insbesondere im Geschäftsbericht falsch gewesen wären, ist dieser Pressemitteilung nicht zu entnehmen. Dass sämtliche der Liquiditätsbeschaffung dienenden Aktienoptionen zwischenzeitlich aufgelöst worden oder ausgelaufen wären, war ersichtlich fernliegend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_481">481</a></dt> <dd><p>Diese in den Analysen gezogenen Schlüsse hat die Musterbeklagte zu 1 auch nicht dementiert. Der Pressemitteilung vom 10. März 2008 ist betreffend die Optionsstrategien allenfalls die – zutreffende – Aussage zu entnehmen, dass der Erwerb der für den Abschluss eines Beherrschungsvertrages erforderlichen Beteiligungen noch nicht gesichert war. Das gegen den sog. Bernstein-Report gerichtete, am 21. Oktober 2008 veröffentlichte Dementi (Anlage MBPor 112) war ausdrücklich auf eine andere Aussage dieser Analyse bezogen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_482">482</a></dt> <dd><p>(ccc) Dass diese unter anderem aus den Geschäftsberichten zu ziehenden Schlüsse mangels dezidierter Offenlegung der Optionsstrukturen unbeachtlich wären, ist entgegen der Auffassung der Musterklägerin auch nicht der sog. IKB-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 38 f.) zu entnehmen. Zwar hat der Bundesgerichtshof Rückschlüsse aus Geschäftsberichten dort nicht ausreichen lassen, weil die genaue Zusammensetzung des in Frage stehenden Engagements und insbesondere der entscheidende, darin jeweils enthaltene Subprime-Anteil daraus nicht hervorgegangen seien. Die dortigen Erwägungen waren aber unmittelbar auf das Merkmal des nicht öffentlich bekannten Umstands im Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG bezogen. Zudem war die Kernbotschaft der dort in Frage stehenden Mitteilung, von der <em>„Subprime-Krise“ </em>nicht betroffen zu sein. Demgegenüber war die maßgebliche Kernbotschaft vorliegend, einen Beherrschungsvertrag anzustreben und hierfür Kurssicherungsgeschäfte abgeschlossen zu haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_483">483</a></dt> <dd><p>(dd) Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 unter Außerachtlassung dieser Umstände dahin verstanden worden wäre, dass die Musterbeklagte zu 1 die gesamte Optionsstrategie im Detail offen legte. Im Gegenteil schrieb etwa die E. Ltd. am 28. Oktober 2008 – mithin nur zwei Tage nach der in Frage stehenden Pressemitteilung – an die Musterbeklagte zu 1, konkrete Angaben zur Optionsstruktur hätten in der Pressemitteilung gefehlt; durch die Veröffentlichung habe die Musterbeklagte zu 1 den Kursverfall der VW-Aktie gestoppt und <em>„massive Verluste aus Put-Verpflichtungen“</em> zunächst verhindert (Anlage MBPor 141). Die Citigroup Global Markets Ltd. ging in einer Analyse vom 29. Oktober 2008 (Anlagenkonvolut MBPor 139) nach wie vor davon aus, dass die Musterbeklagte zu 1 <em>„calls“</em> gekauft und <em>„puts“</em> verkauft habe. Auch der Spiegel ging in einem Bericht vom 29. Oktober 2008 (Anlage MBPor 140) mit der Annahme, Porsche müsse der Bank bei fallenden Kursen die Differenz zahlen, in der Sache davon aus, dass die Musterbeklagte zu 1 Put-Optionen begeben hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_484">484</a></dt> <dd><p>(ee) Nach allem ist es unerheblich, dass durch eine ausdrückliche Erwähnung oder nähere Offenlegung der Put-Optionen das – auch sonst erkennbare – Eigeninteresse der Musterbeklagten zu 1 an steigenden oder gleich bleibenden Kursen noch deutlicher erkennbar geworden wäre. Unerheblich ist auch, dass ohne Offenlegung der Put-Optionen <em>„massive Verluste“</em> aus den Optionsstrategien für Marktteilnehmer nicht erkennbar gewesen seien. Angaben über Gewinne und Verluste aus den Optionsstrategien hatte die Musterbeklagte zu 1 ohnehin nicht gemacht. Zudem bezogen sich die von der Musterklägerin vorgetragenen erheblichen Verluste nur auf den Zeitraum der letzten Wochen; bei längerfristiger Betrachtung bestanden diese so nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_485">485</a></dt> <dd><p>Die unterbliebene Offenlegung von Put-Optionen führte auch nicht deshalb zur Unrichtigkeit der Pressemitteilung, weil unrichtige Vorstellungen über den Marktwert der Optionspositionen begründet worden wären und GuV-wirksame Wertverluste nicht erkennbar gewesen seien. Der Marktwert der Optionen war erkennbar nicht Gegenstand der Pressemitteilung. Der Umstand, dass es zu GuV-wirksamen Verlusten gekommen sein mag, hätte keine tragfähigen Rückschlüsse auf die Umsetzbarkeit der mitgeteilten Übernahmeabsicht zugelassen (vgl. dazu näher auch die Erwägungen zur unterbliebenen Gewinnwarnung unter Rn. 533 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_486">486</a></dt> <dd><p>Dass einzelne Anleger bei einer Offenlegung der Put-Optionen nach der Annahme der Musterklägerin Verlustrisiken erkannt hätten, von dem Risiko einer Nicht-Finanzierbarkeit der Anteilsaufstockung ausgegangen wären und sich nicht zu Eindeckungskäufen veranlasst gesehen hätten, führt nicht zur Verwerflichkeit dieser Mitteilung. Wie dargestellt, war nicht konkret damit zu rechnen, dass die beabsichtigte weitere Anteilsaufstockung nicht umsetzbar gewesen wäre. Selbst wenn die letztlich eingetretene Marktpanik aber durch solche detaillierten Informationen hätte verhindert oder abgeschwächt werden können, bestand keine Verpflichtung zu einer derartigen Offenlegung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_487">487</a></dt> <dd><p>Bedeutung hätte weiteren Angaben zur Optionsstrategie insbesondere dann zukommen können, wenn nicht nur Einzelheiten zu deren Ausgestaltung offengelegt worden wären, insbesondere Details zum Ausübungspreis, zur Laufzeit, zur Sicherheitenstellung etc., sondern auch die übrigen Rahmenbedingungen, insbesondere die Liquiditätslage der Musterbeklagten zu 1 und die Aussicht auf weitere Kredite. Auch hieraus hätten verständige Marktteilnehmer aus den vorgenannten Gründen aber nicht den Schluss ziehen können, dass die Umsetzbarkeit der mitgeteilten Übernahmeabsicht konkret gefährdet gewesen wäre. Sofern die Mitteilung solcher Einzelheiten im Übrigen die Möglichkeit eröffnet hätte, den Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 durch gezielte Spekulationen soweit zu drücken, dass der Übernahmeplan nicht mehr umsetzbar gewesen wäre und die Marktenge sich zumindest abgeschwächt hätte, hätte dies zwar unter Umständen den folgenden Short Squeeze und damit die eingetretenen Schäden der Leerverkäufer verhindern können. Dass die Musterbeklagte zu 1 solche Spekulationen aber nicht durch die weitgehende Offenlegung von Einzelheiten ermöglichte, ist jedenfalls nicht verwerflich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_488">488</a></dt> <dd><p>(d) Unerheblich ist weiter, dass die Pressemitteilung keine Angaben zu den Optionsgeschäften enthielt, die auf Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2 bezogen waren. Die Pressemitteilung suggerierte – wie dargestellt – nicht, sämtliche Optionsgeschäfte offenzulegen, und erweckte damit nicht den Eindruck, die Musterbeklagte zu 1 habe keine Optionsgeschäfte getätigt, die auf andere Aktien als die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 bezogen waren. Auch wenn eine Information über diese Optionsgeschäfte weitere Anhaltspunkte dafür vermittelt hätte, dass die Kursrückgänge der Vorwochen zu Liquiditätsabflüssen bei der Musterbeklagten zu 1 geführt haben könnten, war die Musterbeklagte zu 1 nicht verpflichtet, diese Einzelheiten dem Kapitalmarkt mitzuteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_489">489</a></dt> <dd><p>(5) Die Bezeichnung der auf Barausgleich gerichteten Call-Optionen – auf die sich die Pressemitteilung ihrem Inhalt nach allein bezog – als Kurssicherungsgeschäfte war ebenso wenig aus anderen Gründen unrichtig oder irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_490">490</a></dt> <dd><p>Mit den Call-Optionen konnte die Musterbeklagte zu 1 durch den bei einem Kursanstieg erlösten Barausgleich dem Kursanstieg entsprechende Einnahmen erzielen, die den gestiegenen Kaufpreis für die Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 mitfinanzieren sollten, sodass die Charakterisierung als Kurssicherung zumindest vertretbar ist. Dass die Musterbeklagte zu 1 entsprechende Gewinne aus der Optionsstrategie I zum Aktienerwerb eingesetzt und nicht zur Kompensation möglicher zukünftiger Rollverluste <em>„konserviert“</em> hatte, führt nicht dazu, dass diese Bezeichnung unzutreffend geworden wäre. Auch, dass Erträge aus den Optionsgeschäften der Ertragsbesteuerung unterlagen und damit nicht mehr vollständig zur Sicherung gegen steigende Aktienkurse zur Verfügung standen, führt nicht zur Unrichtigkeit dieser Bezeichnung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_491">491</a></dt> <dd><p>Die Bezeichnung als Kurssicherungsgeschäft war auch nicht deshalb fehlerhaft und jedenfalls nicht grob irreführend, weil die Musterbeklagte zu 1 allgemein aufgrund der Kombination dieser Optionen mit den Put-Optionen das volle Kursrisiko getragen hätte. Zumindest bei den Optionsstrategien mit festem Ausübungspreis trug die Musterbeklagte zu 1 das Kursrisiko ohnehin erst bei einer Unterschreitung dieses Ausübungspreises, die jedenfalls nicht konkret absehbar war. Insbesondere beschreibt die Pressemitteilung aber nur den Mechanismus der Absicherung gegen steigende Kurse, ohne zu suggerieren, dass fallende Kurse keine Verlustrisiken auslösen könnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_492">492</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung der beigeladenen H. GmbH suggerierte die Verwendung dieses Begriffs schon aufgrund der nachfolgenden Erläuterung auch nicht, dass die Musterbeklagte zu 1 Hedging-Geschäfte getätigt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_493">493</a></dt> <dd><p>(6) Die Pressemitteilung suggerierte nicht, dass der Ausübungspreis der Optionen stets unter dem tatsächlichen Preis der Aktie liegen werde. Ein solcher Inhalt war weder der Aussage, bei Auflösung der Optionen werde die Differenz zwischen dem aktuellen Aktienkurs und dem darunterliegenden Absicherungskurs ausbezahlt, noch der Bezeichnung als Kurssicherungsgeschäfte zu entnehmen. Aus Sicht des verständigen Marktteilnehmers war es selbstverständlich, dass ein Unterschreiten eines wie auch immer festgesetzten Ausübungspreises nicht ausgeschlossen werden kann. Die Erklärung enthält auch keine Einzelheiten zu den jeweiligen Ausübungspreisen und suggeriert nicht, dass diese besonders niedrig lägen. Sie ist deshalb auch vor dem Hintergrund nicht unrichtig oder irreführend, dass der Ausübungspreis in der Strategie I zu jedem Rolltermin dem jeweils aktuellen Aktienkurs angepasst wurde. Eine möglicherweise hierdurch hervorgerufene Irreführung wäre jedenfalls nicht als grob zu bewerten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_494">494</a></dt> <dd><p>(7) Die Musterklägerin beanstandet weiter, in der Pressemitteilung seien unrichtige Motive dafür genannt worden, das Ziel mitzuteilen, 75 % der Anteile der Musterbeklagten zu 2 zu übernehmen, obwohl sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hierfür zu diesem Zeitpunkt verschlechtert hatten. Die Eigentümerfamilien P. und Po. hätten sich nicht, wie in der Pressemitteilung zum Ausdruck gebracht, erst neuerdings, sondern bereits seit 2005 uneingeschränkt hinter den Plan gestellt, die Musterbeklagte zu 2 zu beherrschen. Auch habe es keine neuen Signale betreffend eine Aufhebung oder Änderung des VW-Gesetzes gegeben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_495">495</a></dt> <dd><p>Unabhängig davon, ob diese Angaben in der Pressemitteilung für sich genommen unrichtig oder irreführend waren, führte dies jedenfalls nicht dazu, dass die Pressemitteilung insgesamt und insbesondere in ihren für die Anlageentscheidung der angesprochenen Marktteilnehmer relevanten Kernaussagen unrichtig oder grob irreführend gewesen wäre. Die Schilderung dieser Motive mag den Zweck gehabt haben, die sonstigen Darstellungen in der Pressemitteilung plastischer und greifbarer zu machen. Möglicherweise mag die Musterbeklagte zu 1 mit ihnen auch bezweckt haben, Zweifel der angesprochenen Marktteilnehmer insbesondere an der Ernsthaftigkeit der Übernahmeabsicht abzuschwächen. Sie änderte aber nichts daran, dass die maßgeblichen Kernaussagen zutrafen. Durch die Angabe dieser Motive verschleierte die Musterbeklagte zu 1 ihr Eigeninteresse an zumindest gleichbleibenden oder steigenden Kursen nicht. Dieses war vielmehr – wie dargestellt – hinreichend erkennbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_496">496</a></dt> <dd><p>Abgesehen davon waren diese Angaben in den Pressemitteilungen aber auch nicht für sich genommen unrichtig oder irreführend:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_497">497</a></dt> <dd><p>(a) Die Angaben zur Einigkeit der Eigentümerfamilien und den diesbezüglichen Berichten der Vorwoche trafen zu. Auch nach den Angaben der Musterklägerin hatte Prof. Dr. P. der Beherrschung zugestimmt. Hierüber berichteten eine Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 24. Oktober 2008 (Anlage MBPor 90) sowie verschiedene Presseorgane am 23., 24. und 25. Oktober 2008 (Anlagen MBPor 91, 92).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_498">498</a></dt> <dd><p>Auch soweit die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 zum Ausdruck brachte, die bezeichnete Einigkeit sei erst kurz zuvor erzielt worden, ist eine Unrichtigkeit selbst auf der Grundlage des Vortrags der Musterklägerin und der Beigeladenen nicht ersichtlich. Die Musterklägerin hat nicht ausreichend dargelegt, dass in den Eigentümerfamilien Po. und P. immer Einigkeit über das Vorgehen des Porsche-Vorstands bei dem Beherrschungsziel bestand, insbesondere, dass die Familien das Beherrschungsziel auch in den Monaten vor der Pressemitteilung stets einvernehmlich unterstützt hatten (vgl. Hinweisbeschluss des Senats vom 26. Oktober 2017). Es mag sein, dass Prof. Dr. P. schon am 18. Juli 2008 in einer Gesellschafterausschusssitzung – und möglicherweise auch zuvor – zugesagt hatte, die Beschlussfassung über einen Beherrschungsvertrag zu ermöglichen, was jedenfalls nicht zu einer Stimmbindung im eigentlichen Sinn führte, und dass auch frühere Beschlüsse des Gesellschafterausschusses betreffend die Beherrschungsabsicht einstimmig ergangen waren. Offenbar waren aber jedenfalls in der Zeit nach dem von Prof. Dr. P. mitgetragenen Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 Zweifel entstanden, ob er den Plan tatsächlich unterstützte. Das beruhte u.a. darauf, dass er es durch sein Fernbleiben von der Aufsichtsratssitzung der Musterbeklagten zu 2 am 12. September 2008 und durch seine Stimmenthaltung per Stimmbotschaft ermöglichte, dass der Aufsichtsrat gegen die Stimmen von Dr. W. P., Dr. W. W. und H. H. den Beschluss über die Einrichtung eines <em>„Ausschusses für besondere Geschäftsbeziehungen“</em> bei der Musterbeklagten zu 2 fasste, mit dem u.a. alle Geschäfte zwischen der Porsche AG und der Audi AG der Zustimmung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten zu 2 unterworfen wurden. Aus dem als Anlage MBPor 127 vorgelegten Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden W. ergibt sich, dass die Musterbeklagte zu 1 hinter den Störungen Prof. Dr. P. vermutete. Die Wirtschaftswoche berichtete am 12. September 2008: „<em>Damit ist es zwischen den Porsche-Eigentümerfamilien zum Eklat gekommen. ‚Ich bin entsetzt über das Abstimmungsverhalten des VW-Aufsichtsratsvorsitzenden‘, sagte W. Porsche nach der Sitzung (...). Der Bruch zwischen den Porsche-Eigentümerfamilien liegt damit nun offen zu Tage. (...) ‚P. treibt die Konfrontation nun auf die Spitze‘ (...)</em>“ (Anlage MBPor 86). Auch in weiteren Presseartikeln wurde insbesondere im September und Oktober 2008 über einen Machtkampf zwischen dem Porsche-Vorstand und W. P. auf der einen Seite und Prof. Dr. P. auf der anderen Seite berichtet (Bericht der Zeit-online vom 18. September 2008 [Anlage MBPor 87], Bericht der FAZ vom 14. September 2008 „<em>P.s Machtkampf - Allein gegen alle</em>“ [Anlage MBPor 88], Bericht im Manager-Magazin vom 3. Oktober 2008 [Anlage MBPor 149]; vgl. auch Bericht des FOCUS-online vom 10. März 2008 [Bl. 2378 d.A., in Anlage MB VW 3]).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_499">499</a></dt> <dd><p>Auch die E-Mail des rechtlichen Beraters Dr. B. vom 12. Oktober 2008 (Schriftsatz der Musterklägerin vom 29. Oktober 2018, Bl. 6231; vgl. dazu auch Bl. 5982), die von der Musterklägerin als Beleg dafür vorgelegt wird, dass eine etwaige Opposition von Prof. Dr. P. jederzeit hätte überwunden werden können, spricht dafür, dass es jedenfalls nach Juli 2008 entsprechende Konflikte gab, die zumindest bis Mitte Oktober 2008 vorlagen: FP (F. P.) müsse sich an früheren Erklärungen festhalten lassen; er müsse im Unternehmensinteresse der Musterbeklagten zu 1 durch die <em>„Möglichkeit“</em>, ihn aus dem Aufsichtsrat abwählen zu können, auf Linie gebracht werden; Störmanöver beim weiteren Beteiligungsaufbau müssten ausgeschlossen werden. Dem von der Musterklägerin zitierten Schreiben der Vorstände Dr. W. und H. an Dr. W. P. vom 7. Oktober 2008 (S. 33 des Schriftsatzes vom 1. Mai 2017, Bl. 800 d.A.) lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Zwar spricht dieses Schreiben dafür, dass eine entsprechende Einigkeit zu einem früheren, nicht näher genannten Zeitpunkt bestanden haben dürfte, diese Einigkeit aber Anfang Oktober 2008 von den Vorständen gerade wieder eingefordert wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_500">500</a></dt> <dd><p>Prof. Dr. P. wird zwar in einem Bericht der Welt-Online vom 12. Mai 2009 (Anlage B-H. 11 zum Schriftsatz vom 10. Juli 2017) mit den Worten zitiert, er habe den Einstieg Porsches bei VW zunächst vor Oktober 2008 nicht behindert. Tragfähige Anhaltspunkte für eine Einigkeit der Beteiligten vor Oktober lassen sich dieser möglichen Äußerung, die zudem in zeitlichem Abstand und zudem ersichtlich in der späteren Konfrontation mit dem Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten zu 1 gefallen sein soll, nicht entnehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_501">501</a></dt> <dd><p>Eine Verständigung wurde jedenfalls nach außen hin erst nach der außerordentlichen Aufsichtsratssitzung vom 20. Oktober 2008 kommuniziert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_502">502</a></dt> <dd><p>Soweit die Musterklägerin behauptet, dass dies alles nur ein <em>„Akt inszenierter Zwietracht“</em> gewesen sei, sind dafür keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Eine solche Inszenierung einer Zwietracht erscheint auch in der Sache fernliegend. Hinzu kommt, dass der Vortrag der Musterklägerin, der Vorstandsbeschluss vom 26. Oktober 2008 und die Entscheidung, diesen durch die Pressemitteilung zu kommunizieren, seien überstürzt gefasst worden, im Widerspruch dazu steht, dass die Musterbeklagte zu 1 dies durch die längerfristige Inszenierung einer Zwietracht und der darauffolgenden Einigung am 20. Oktober mit den sich anschließenden Presseberichten in der Sache vorbereitet haben könnte. Demgegenüber erscheint es durchaus plausibel, dass die Musterbeklagte zu 1 gerade die (wieder) hergestellte Einigkeit nutzte, um mit dem Beschluss vom 26. Oktober 2008 und der entsprechenden Pressemitteilung auf dem Weg zu einer Beherrschung der Musterbeklagten zu 2 konkret voran zu schreiten (vgl. zur Entwicklung auch das von der Musterklägerin vorgelegte stenografische Wortprotokoll der Angaben des Zeugen H. in der mündlichen Verhandlung vor dem LG Stuttgart am 20. Oktober 2015, Anlage MK 16, S. 45). Hierfür spricht auch die in der vorzitierten E-Mail von Dr. B. vom 12. Oktober 2008 weiter enthaltene Aussage, <em>„der Durchmarsch auf die 75 Prozent“</em> sei auch zur Klärung des Konfliktes in der Familie entscheidend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_503">503</a></dt> <dd><p>Die unter Beweisantritt vorgetragene Behauptung, ein Mitarbeiter von Dr. W. habe im Ermittlungsverfahren ausgesagt, Prof. Dr. P. habe <em>„den Gesamtplan immer unterstützt“</em>, wäre schon aufgrund ihrer Substanzarmut keine hinreichende Grundlage für die Feststellung, dass die <em>„Zwietracht“</em> im September 2008 inszeniert gewesen wäre. Im Übrigen – ohne dass es hierauf entscheidend ankäme – setzt sich die Musterklägerin mit ihrem neuen Vortrag in Widerspruch hierzu, selbst nach Oktober 2008 habe Prof. Dr. P. versucht, auf Banken einzuwirken um den Übernahmeplan <em>„von hinten auszutrocknen“</em> (Schriftsatz vom 22. Mai 2022, S. 2 f.). Dass diese dort vorgetragene fortbestehende Abwehrhaltung dem Vorstand und den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern der Musterbeklagten zu 1 bekannt gewesen wäre, ist allerdings ebenfalls nicht mit Substanz vorgetragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_504">504</a></dt> <dd><p>Die Angabe des Motivs der Einigkeit der Eigentümerfamilien in der Pressemitteilung war auch nicht deshalb unrichtig oder irreführend, weil – wie die Musterklägerin unter Bezugnahme auf die vorstehend zitierte E-Mail von Dr. B. vom 12. Oktober 2008 vorträgt – Widerstand von Prof. Dr. P. der Umsetzung der Beherrschungsabsicht letztlich nicht entgegengestanden hätte, weil dieser als Aufsichtsratsvorsitzender hätte abgewählt werden können. In der E-Mail vom 12. Oktober 2008 wurde eine Abwahl nur als Ultima Ratio dargestellt. Vorzugswürdig sollte sein, Prof. Dr. P. – gegebenenfalls mit der Androhung einer solchen Abwahl – <em>„noch auf Linie zu bringen“</em>.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_505">505</a></dt> <dd><p>(b) Ebenso wenig ist die Angabe unrichtig oder irreführend, dass die EU-Kommission nach Presseberichten vom Wochenende des 25./26. Oktober 2008 schon in überschaubarer Zukunft die von der Bundesregierung geplante Neuauflage des VW-Gesetzes als europarechtswidrig einstufen werde und es zu erwarten sei, dass in der Folge eine erneute Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht werde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_506">506</a></dt> <dd><p>Die hierin enthaltene Einschätzung ist vertretbar. Sie beruht auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage und wird zudem ex post dadurch bestätigt, dass die Europäische Kommission wegen des am 10. Dezember 2008 in Kraft getreten Gesetzes zur Änderung des VW-Gesetzes vor dem Europäischen Gerichtshof Klage gegen Deutschland erhoben hat (zurückgewiesen mit Urteil vom 22. Oktober 2013 - C-95/12, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_507">507</a></dt> <dd><p>Zwar trifft es zu, dass es bereits in der Zeit vor Oktober 2008 Signale für diese Einschätzung der Kommission und für eine mögliche Klage gab, insbesondere die erneute Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens am 5. Juni 2008. Eine für den 15./16. Oktober 2008 vorgesehene weitere Stellungnahme der Kommission unterblieb aber im Hinblick auf einen EU-Gipfel Mitte Oktober 2008 zunächst. Am 25. Oktober 2008 erschienen schließlich zwei Presseartikel, in denen eine baldige erneute Klage gegen das VW-Gesetz in Aussicht gestellt wurde, sollte dieses wie geplant verabschiedet werden (Anlagen MBPor 95, 96). Dass eine solche Entscheidung auf <em>„massiver Lobbytätigkeit“</em> der Musterbeklagten zu 1 beruht haben mag, ist unerheblich. Dass die Musterbeklagte zu 1 diese Berichterstattung als Motiv für den Beschluss vom 26. Oktober 2008 nur vorschob, lässt sich auch nicht daraus schließen, dass die Presseartikel erst am Vortag erschienen waren. Der Artikel in Spiegel Online war ausweislich des vorgelegten Abdrucks (Anlage MBPor 95) bereits um 10:30 Uhr erschienen. Die Musterbeklagte zu 1 konnte ihn problemlos berücksichtigen. Dass diese Presseberichte erst Auslöser der in den Vorstandsbeschluss und in die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 mündenden Erwägungen waren, hat die Musterbeklagte zu 1 nicht behauptet. Schließlich ist nicht ersichtlich, dass die Musterbeklagte zu 1 diese Information aufgrund ihrer Lobbytätigkeit deutlich früher als durch die Presse am 25. Oktober 2008 erhalten hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_508">508</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung der Musterklägerin wäre eine mögliche Änderung des VW-Gesetzes auch nicht ohne Bedeutung für die Umsetzung der Beherrschungsabsicht gewesen. Zwar war eine § 4 Abs. 3 des VW-Gesetzes entsprechende Regelung der Sperrminorität auch in der Satzung der Musterbeklagten zu 2 enthalten; diese wäre von der Feststellung der Europarechtswidrigkeit der gesetzlichen Regelung nicht unmittelbar betroffen gewesen. Indes war die ersichtlich von der Musterbeklagten zu 1 vertretene Auffassung zumindest nicht fernliegend, der Bestand der Satzungsregelung sei jedenfalls mittelbar mit der europarechtlichen Bewertung der gesetzlichen Bestimmung verknüpft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_509">509</a></dt> <dd><p>Schon im Hinblick auf diesen erkennbaren Zusammenhang suggerierte die Pressemitteilung entgegen der Auffassung der Musterklägerin auch nicht, dass sich die Haltung des Landes Niedersachsen in Bezug auf eine Satzungsänderung geändert hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_510">510</a></dt> <dd><p>(8) Die Musterklägerin macht ohne Erfolg geltend, dass die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 fehlerhaft sei, weil sie suggeriere, dass es zur Anteilserhöhung auf 75 % keiner weiteren Organbeschlüsse mehr bedürfe. Zwar hat der anwaltliche Berater der Musterbeklagten zu 1, Dr. B., nach dem Vortrag der Musterklägerin eine solche Einschätzung im Strafverfahren dargelegt (zitiert auf S. 72 f. des Schriftsatzes vom 4. Oktober 2017, Rn. 170, Bl. 3308 f. d.A.). Insoweit hat der Zeuge seine Ansicht wiedergegeben, dass er weitere Organbeschlüsse darüber für notwendig gehalten habe, ob die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorliegen und zu welchem Preis gekauft werden solle. Ob diese Einschätzung zutraf, kann offen bleiben. Die Pressemitteilung enthielt dazu bereits keine Angaben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_511">511</a></dt> <dd><p>(9) Entgegen der Auffassung der beigeladenen H. GmbH ist die Pressemitteilung auch nicht deshalb unrichtig oder irreführend, weil sie auf <em>„dramatische Verwerfungen auf den Finanzmärkten“</em> Bezug nahm. Zumindest bei der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 war es in den Vorwochen zu entsprechenden erheblichen <em>„Verwerfungen“</em> gekommen. Dass diese Verwerfungen ein Grund für die Pressemitteilung gewesen sein können, lässt auch die von der Musterklägerin in Bezug genommene Erklärung des als Zeugen benannten J.B. vom 4. Februar 2016 (Anlage MK 55) erkennen, wonach die von der Musterbeklagten zu 1 auf Aktivitäten von Leerverkäufern zurückgeführten <em>„frustrierenden“</em> Preisentwicklungen hätten beendet werden sollen. Näher spezifiziert ist dieser Bezug in der Pressemitteilung ohnehin nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_512">512</a></dt> <dd><p>(10) Schließlich ist die Pressemitteilung auch nicht deshalb unrichtig, weil sie eine neue Beschlussfassung suggerierte, ein entsprechender Vorstandsbeschluss in der Sache aber längst (informell) gefasst gewesen sei. Die Pressemitteilung suggerierte weder eine grundlegend neue Beschlusslage noch eine nur (wesentlich) geänderte Zielsetzung der Musterbeklagten zu 1. Die Pressemitteilung implizierte nicht, dass die Musterbeklagte zu 1 zuvor etwa eine Aufstockung der Beteiligung auf deutlich über 50 % oder das Ziel eines Beherrschungsvertrages ausgeschlossen hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_513">513</a></dt> <dd><p>Neu war allerdings der Entschluss, diese grundsätzliche Zielsetzung öffentlich mitzuteilen und in diesem Zusammenhang den Bestand an Aktien und cash-gesettelten Optionen zur Kurssicherung offenzulegen. Die mit der Pressemitteilung erfolgte Offenlegung war ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Umsetzung der bereits zuvor bestehenden Beherrschungsabsicht und ging insoweit über bislang gefasste Beschlüsse hinaus. Dies ist in der Pressemitteilung entsprechend dargestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_514">514</a></dt> <dd><p>bb) Auch unter Vornahme einer Gesamtschau war das Verhalten der Musterbeklagten zu 1 im Zusammenhang mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 nicht sittenwidrig. Weder verfolgte die Musterbeklagte zu 1 mit dieser Pressemitteilung verwerfliche Zwecke noch war die Pressemitteilung auch ohne (grobe) Unrichtigkeit oder (grobe) Irreführung der Kapitalmarktteilnehmer als Mittel zu dem angestrebten Zweck zu beanstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_515">515</a></dt> <dd><p>(1) Die Musterbeklagte zu 1 verfolgte mit der Pressemitteilung keine unzulässigen Zwecke. Auch unter Berücksichtigung der Eigeninteressen war die jedenfalls weitgehend zutreffende Pressemitteilung nicht verwerflich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_516">516</a></dt> <dd><p>(a) Der mit der Pressemitteilung verfolgte Zweck, Spekulationen mit der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 durch Mitteilung der zutreffenden Umstände zu den Beteiligungsverhältnissen und zur Beherrschungsabsicht entgegenzuwirken, ist weder rechtlich noch sittlich zu beanstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_517">517</a></dt> <dd><p>Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Musterbeklagte zu 1 mit der Pressemitteilung einen Short Squeeze zielgerichtet herbeigeführt hätte, um diesen anschließend durch Auflösung von Optionen zur Liquiditätsbeschaffung auszunutzen. Die Musterbeklagte zu 1 hat die beabsichtigte Auflösung erst nach Rücksprache mit der BaFin am 29. Oktober 2008 bekannt gemacht und in der Folgezeit teilweise umgesetzt, wobei sie insbesondere die Höchststände des Aktienkurses nicht ausnutzte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_518">518</a></dt> <dd><p>Die Pressemitteilung diente auch nicht deshalb einem zu missbilligenden Zweck, weil sie eine <em>„kriminelle Verstrickung in den Dieselbetrug“</em> hätte verdecken sollen, die bei einer Insolvenz der Musterbeklagten zu 1 von einem Insolvenzverwalter hätte aufgedeckt werden können. Abgesehen davon, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Pressemitteilung eine Insolvenz habe verhindern sollen, und zudem nicht hinreichend dargelegt ist, dass die Musterbeklagte zu 1 in die Vorgänge eingebunden gewesen wäre, die unter dem Begriff <em>„Dieselgate“</em> beschrieben werden (näher: Rn. 370 ff.), wäre ein Zusammenhang zwischen der Pressemitteilung und der vermeintlichen Verdeckung einer solchen Verstrickung wiederum derart mittelbar, dass dies auch in der Gesamtschau nicht zu einer Verwerflichkeit der Mitteilung führte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_519">519</a></dt> <dd><p>(b) Zwar mag aufgrund der Pressemitteilung – gerade auch aufgrund der Ansprache der Leerverkäufer – ein Kursanstieg zu erwarten gewesen sein. Soweit die Musterklägerin aber vorträgt, dass die Musterbeklagte zu 1 einen solchen Kursanstieg in der Form eines Short Squeezes beabsichtigt und erwartet habe, steht dies nicht nur in Widerspruch zu der von der Musterklägerin selbst zitierten E-Mail des Beraters Dr. B. vom 26. Oktober 2008 (Musterklagebegründung Rn. 424), nach der die Musterbeklagte zu 1 gerade die Absicht gehabt habe, spätere erneute Kursexplosionen zu vermeiden, nachdem unmittelbar vorangegangene Kursübertreibungen gerade korrigiert waren. Der Vortrag, die Musterbeklagte zu 1 habe nicht nur einen Kursanstieg, sondern den tatsächlich eingetretenen Short Squeeze erwartet, begegnet auch deshalb Bedenken, weil für eine solche Prognose nicht nur die von der Musterklägerin behauptete Kenntnis des Umfangs erfolgter Leerverkäufe, sondern auch Kenntnis davon erforderlich gewesen sein dürfte, welche Laufzeit die den Leerverkäufen zugrundeliegenden Geschäfte – insbesondere Aktienleihen – hatten, ob mithin ein kurzfristiger Eindeckungsbedarf bestand. Dass die Musterbeklagte zu 1 auch diese Informationen hatte, wird nicht behauptet. Soweit die Musterklagebegründung (Rn. 468) auf eine interne Präsentation der Musterbeklagten zu 1 vom 17. Dezember 2008 verweist, die den Short Squeeze retrospektiv analysierte, ergibt sich hieraus nicht, dass die dort genannten Umstände dem Vorstand der Musterbeklagten zu 1 so bereits am 26. Oktober 2008 bewusst waren und er auch den Short Squeeze gerade beabsichtigt gehabt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_520">520</a></dt> <dd><p>Außerdem durfte die Musterbeklagte zu 1 diese – zutreffenden – Informationen in den Markt geben, auch wenn sie eine entsprechende Kursrelevanz für die Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 erkannt hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_521">521</a></dt> <dd><p>Nach dem insoweit unwidersprochenen Vortrag der Musterbeklagten zu 1 fanden bereits seit einiger Zeit Leerverkäufe in erheblichem Umfang statt. Es ist der Musterbeklagten zu 1 deshalb auch nicht vorzuwerfen, die Pressemitteilung zu dem fraglichen Zeitpunkt veröffentlicht zu haben. Dass eine Pressemitteilung des fraglichen Inhalts gerade am 26. Oktober 2008 zu den erheblichen Kursverwerfungen führen musste, dies aber bei einem gewissen zeitlichen Aufschub – erkennbar – nicht der Fall gewesen wäre, ist nicht vorgetragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_522">522</a></dt> <dd><p>(c) Nach dem Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen habe die Musterbeklagte zu 1 angenommen, dass ein weiterer Kursverfall gedroht habe, und durch die Pressemitteilung ihre <em>„Haut retten“ </em>wollen. Auch wenn sie hiernach die Umsetzung ihrer Pläne bedroht gesehen und mit der Pressemitteilung das Ziel verfolgt haben sollte, solche Gefahren abzuwenden, wäre dies vor dem Hintergrund, dass die mitgeteilten Tatsachen zutrafen, nicht verwerflich gewesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_523">523</a></dt> <dd><p>Sie wäre selbst dann nicht als sittenwidrig zu beurteilen, wenn die Musterbeklagte zu 1 davon ausgegangen wäre, ihre Beherrschungsabsicht ohne die (zutreffende) Mitteilung der bereits gehaltenen Anteile und Kaufoptionen nicht weiter umsetzen zu können (vgl. zum letzteren Gesichtspunkt näher Rn. 443 ff.), was aber bereits – wie erörtert – nicht hinreichend vorgetragen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_524">524</a></dt> <dd><p>Entsprechendes gilt im Hinblick auf die unterstellte Motivation, eine bei einem weiteren Kursverfall drohende Ausübung der Put-Optionen zu verhindern. Ohnehin war jedenfalls bei den auf die Stammaktie Musterbeklagten zu 2 bezogenen Optionsstrategien mit fixem Ausübungspreis keine Unterschreitung dieser Preisschwelle absehbar (vgl. näher Rn. 420, 422 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_525">525</a></dt> <dd><p>(d) Soweit Vorbringen der Musterklägerin und der Beigeladenen implizieren sollte, dass die Pressemitteilung auch mit der Absicht veröffentlicht worden sei, nicht nur Gefahren für die Musterbeklagte zu 1 abzuwenden, sondern das Vermögen der Eigentümerfamilien durch die Kursgewinne zu mehren, sind hinreichende Anhaltspunkte für eine solche weitergehende Absicht nicht ersichtlich. Dafür hätte die Musterbeklagte zu 1 davon ausgehen müssen, dass der kurssteigernde Effekt der Pressemitteilung nachhaltig gewesen wäre. Dies ist nicht vorgetragen. Jedenfalls die Annahme der beigeladenen Y. LLP aus dem Schriftsatz vom 10. Juli 2017 (Rn. 111), der erst am 15. Oktober 2008 erfolgte umfangreiche Erwerb von Stammaktien durch die Porsche GmbH, Salzburg, lasse solche eigennützigen Absichten als zwingend erscheinen, greift darüber hinaus schon deshalb nicht durch, weil nach dem ausdrücklichen Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen die zur Veröffentlichung der Pressemitteilung führenden Überlegungen erst am Wochenende des 25./26. Oktober 2008 erfolgt seien. Erhebliche Gewinne hätte die Porsche GmbH und mit ihr die Gesellschafter zudem dann erzielen können, wenn sie diese Stammaktien kurz nach der Pressemitteilung bei einem Kurshöchststand wieder verkauft hätte. Abgesehen davon ist es nicht verwerflich, wenn die Mitteilung zutreffender Umstände zu einem Gewinn der Gesellschaft und damit auch der Gesellschafter führt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_526">526</a></dt> <dd><p>(e) Zwar mögen die Vorstände der Musterbeklagten zu 1 aufgrund der erheblichen gewinnabhängigen Vergütungsbestandteile ein erhebliches Eigeninteresse daran gehabt haben, sowohl die bereits in der Vergangenheit verdienten Boni behalten zu können, als auch aktuell durch weitere Buchgewinne weitere Boni zu erzielen. Das führt aber nicht zur Verwerflichkeit der Pressemitteilung. Dabei kann dahinstehen, ob in der Vergangenheit realisierte Boni im Falle einer möglichen Insolvenz der Musterbeklagten zu 1 überhaupt der Rückforderung unterlegen hätten und ob sich ein Short Squeeze – abgesehen von der vermeintlichen Sicherung des Überlebens der Musterbeklagten zu 1 – auf zukünftige Boni ausgewirkt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_527">527</a></dt> <dd><p>(f) Selbst wenn die Musterbeklagte zu 1 die Absicht gehabt haben sollte, Leerverkäufer <em>„aus dem Markt zu drängen“</em>, oder – wie der als Zeuge benannte J.B. in seiner als Anlage MK 55 vorgelegten eidesstattlichen Versicherung vom 4. Februar 2016 formuliert hatte – Hedgefonds aufgrund der als frustrierend empfundenen Kursentwicklung der letzten Wochen dazu zu veranlassen, nicht mehr <em>„mitzuspielen“</em>, machte dies die Pressemitteilung nicht verwerflich. Diese beschränkte sich in der Sache darauf, Leerverkäufern bzw. Hedgefonds solche Finanzgeschäfte, die auf fallende Kurse der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 setzten, als unattraktiv darzustellen. Dies ist weder rechtlich noch sittlich zu beanstanden, zumal die Mitteilung insbesondere nicht mit einer (groben) Irreführung verbunden war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_528">528</a></dt> <dd><p>(2) Bei der im Rahmen des § 826 BGB erforderlichen Gesamtbetrachtung berücksichtigt der Senat ferner die Ansicht der Musterklägerin, dass die Musterbeklagte zu 1 mit der Pressemitteilung die falsche Form gewählt und keine Ad-hoc-Mitteilung veröffentlich habe. Zwar wird einer formlosen Mitteilung am Kapitalmarkt ein geringeres Gewicht beigemessen (OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015 – 2 U 102/14, juris Rn. 182; Buck-Heeb, NZG 2016, 1125, 1126 f.; vgl. auch Oechsler in: Staudinger [2021], § 826 BGB, Rn. 532). Eine Haftung nach § 826 BGB vermag dieser Umstand aber nicht zu begründen. Denn mit der Pressemitteilung genügte die Musterbeklagte zu 1 dem Zweck der Mitteilungspflicht nach § 15 WpHG, den Kapitalmarkt zu informieren. Der informierte Kapitalanleger wird bei seiner Anlageentscheidung eine Pressemitteilung wie die vorliegende berücksichtigen. Der Schutzzweck des § 15 WpHG wird auch durch die Veröffentlichung mittels einer solchen Pressemitteilung jedenfalls weitgehend erreicht. Die Ad-hoc-Publizitätspflicht soll dazu beitragen, dass Kapitalmarktteilnehmer frühzeitig über marktrelevante Informationen verfügen, damit sie sachgerechte Anlagenentscheidung treffen können (BT-Drucksache 14/8017, Seite 87; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 56). Da einer formlosen Mitteilung am Kapitalmarkt – wie dargestellt – eher ein geringeres Gewicht beigemessen wird, wäre der kurssteigernde Effekt bei einer Veröffentlichung im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung ohnehin jedenfalls nicht geringer gewesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_529">529</a></dt> <dd><p>Ob die mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 mitgeteilten Informationen ad-hoc-publizitätspflichtig waren, insbesondere ob eine Kursrelevanz für die von der Musterbeklagten zu 1 emittierte Porsche-Vorzugsaktie mit Substanz dargelegt ist, kann offen bleiben. Wie bereits ausgeführt, bestanden jedenfalls keine konkreten Anhaltspunkte für eine drohende Insolvenz der Musterbeklagten zu 1, die als solche im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung hätten bekannt gemacht werden müssen. Zudem bestehen – auch im Hinblick auf die von der Musterklägerin vorgetragene E-Mail des rechtlichen Beraters Dr. B. vom 25. Oktober 2008 (Musterklagebegründung Rn. 422; vgl. dazu auch näher oben, Rn. 273) – keine Anhaltspunkte dafür, dass die Musterbeklagte zu 1 bewusst eine falsche Form der Veröffentlichung gewählt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_530">530</a></dt> <dd><p>(3) Nach Auffassung der Musterklägerin und der Beigeladenen hätte die Musterbeklagte zu 1 zwar spätestens am 26. Oktober 2008 eine Gewinnwarnung aufgrund GuV-wirksamer Marktwertverluste der streitgegenständlichen Optionsstrategien in dem Zeitraum von August 2008 bis zum 24. Oktober 2008 in Höhe von rund 2,562 Mrd. € ad hoc veröffentlichen müssen. Die unterlassene Veröffentlichung einer solchen Gewinnwarnung führte aber nicht zur Sittenwidrigkeit der Pressemitteilung und der hierdurch verursachten Schädigung der klagenden Anleger. Ob eine solche Gewinnwarnung überhaupt zu veröffentlichen gewesen wäre, kann offenbleiben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_531">531</a></dt> <dd><p>(a) Schon vom Schutzzweck her zielte ein etwaiges Veröffentlichungsgebot gem. § 15 WpHG im Allgemeinen und ein Gebot der Veröffentlichung einer Gewinnwarnung im Besonderen nur auf den Schutz von Anlegern in Aktien der Musterbeklagten zu 1 oder hierauf bezogenen Finanzinstrumenten. Die vorliegend geschädigten Kläger der Ausgangsverfahren gehörten nicht zu diesem von § 15 WpHG geschützten Personenkreis. Die mögliche Verletzung einer anderen Personen gegenüber bestehenden Pflicht führt nicht zur Sittenwidrigkeit der Schädigung der hier klagenden Anleger (näher: Rn. 252).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_532">532</a></dt> <dd><p>Diese Unterscheidung ist gerade auch bei der in Frage stehenden Gewinnwarnung geboten. Diese mag Rückschlüsse auf eine mögliche Entwicklung der Aktie der Musterbeklagten zu 1 und auf mögliche Renditeerwartungen für Anleger in dieser Aktie zulassen. Hinreichende Rückschlüsse auf die Umsetzbarkeit des Übernahmeplans, die für Anleger in Aktien der Musterbeklagten zu 2 erheblich sein konnten, ließ sie aber – wie nachfolgend erörtert – nicht zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_533">533</a></dt> <dd><p>(b) Aber auch abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Schutzzweck der Publizitätspflicht war das Unterlassen einer Gewinnwarnung bzw. die Veröffentlichung der Mitteilung vom 26. Oktober 2008 ohne einen entsprechenden Zusatz nicht verwerflich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_534">534</a></dt> <dd><p>(aa) Entgegen der von der Musterklägerin unter anderem unter Berufung auf das Rechtsgutachten von Prof. Dr. M. vom 12. Januar 2019 (Anlage MK 103, S. 33 ff.) vertretenen Auffassung hatte der von der Musterklägerin behauptete bilanzielle Verlust nicht zur Konsequenz, dass die Musterbeklagte zu 1 ihre in der Pressemitteilung mitgeteilte Absicht nicht hätte umsetzen können, ihren Aktienanteil an der Musterbeklagten zu 2 bei stimmigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Laufe des Jahres 2009 auf 75 % aufzustocken. Insbesondere der Kursrückgang der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 – auf ein bis Mitte September 2008 übliches Niveau – stand dieser Umsetzbarkeit unter Berücksichtigung der tatsächlichen Liquidität im Konzern der Musterbeklagten zu 1 nicht entgegen und ließ dies auch nicht konkret erwarten (näher Rn. 407 ff.). Auch der Streit der Parteien darüber, ob die Anfang Oktober 2008 aus der Auflösung eines Teils der Optionspositionen in der Strategie II erzielten Gewinne in Höhe von jedenfalls rund 1,85 Mrd. € <em>bilanziell</em> zu berücksichtigen waren, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Die von der Musterklägerin vertretene Berechnung blendet diese Gewinne aus. Tatsächlich waren sie aber entstanden und standen der Musterbeklagten zu 1 zur Verfügung bzw. hatte sie diese für den Kauf weiterer Stammaktien eingesetzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_535">535</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus führten Kursverluste der Aktien der Musterbeklagten zu 2 zwar aufgrund von Nachbesicherungspflichten zu tatsächlichen Liquiditätsbelastungen. Aufgrund der überwiegend noch deutlich niedrigeren Strike-Preise der einzelnen Optionen auf Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 drohten aber konkret keine Zahlungspflichten, die die Musterbeklagte zu 1 nicht mehr hätte tragen können (näher Rn. 420 ff.). Auch bei den auf Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2 bezogenen Optionen, die maßgeblich zu den behaupteten GuV-wirksamen Verlusten geführt haben, war eine (erneute) Unterschreitung dieser Strike-Preise aufgrund deren bevorstehenden Herabsetzung unwahrscheinlich (Rn. 448).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_536">536</a></dt> <dd><p>(bb) Auch darüber hinaus hätte eine Gewinnwarnung keine tragfähigen Rückschlüsse auf die Realisierbarkeit der mitgeteilten Übernahmeabsicht zugelassen, die über die Rückschlüsse hinausgegangen wären, die Kapitalmarktteilnehmer bereits aus den mitgeteilten und den allgemein bekannten Umständen ziehen konnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_537">537</a></dt> <dd><p>Soweit ein verständiger Anleger von einer Verschlechterung des Bilanzergebnisses darauf geschlossen hätte, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Übernahmeplan verschlechtert hatten, hätte ihm dies keine konkreten Rückschlüsse auf die Umsetzbarkeit ermöglicht. Ohnehin hätte ein verständiger Anleger berücksichtigt, dass sich die möglicherweise mitzuteilenden Buchwertverluste nur auf den zeitlichen Ausschnitt eines Gesamtgeschehens bezogen und ihnen erhebliche Buchgewinne betreffend Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 und hierauf bezogener Optionen aus dem vorangegangenen Geschäftsjahr gegenüberstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_538">538</a></dt> <dd><p>Soweit Kapitalanleger aus einer Gewinnwarnung darauf geschlossen hätten, dass die Musterbeklagte zu 1 den Übernahmeplan nicht mehr hätte umsetzen können, wäre gerade dieser Eindruck aus damaliger Sicht fehlerhaft gewesen. Um eine solche Irreführung zu vermeiden, hätte die Musterbeklagte zu 1 im Falle einer Gewinnwarnung gleichzeitig darauf hinweisen müssen, dass diese prognostisch nicht gegen die Umsetzung der Übernahmeabsicht gesprochen hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_539">539</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung der Musterklägerin und der Beigeladenen hätte eine Gewinnwarnung auch nicht maßgeblich auf die nach dem Vortrag der Musterklägerin bestehende tatsächliche Interessenlage der Musterbeklagten zu 1 schließen lassen, auf steigende Aktienkurse angewiesen zu sein. Ein grundsätzliches Interesse der Musterbeklagten zu 1 an (leicht) steigenden oder zumindest gleichbleibenden Kursen war bereits aufgrund der Pressemitteilung und der vorhandenen Informationen unabhängig von einer Gewinnwarnung erkennbar (näher: Rn. 466 ff.). Eine Gewinnwarnung hätte die Bedeutung einer solchen Kursentwicklung zwar möglicherweise unterstrichen. Ohne Kenntnis der Einzelheiten der Optionsstrategien sowie u.a. der Liquiditätslage der Musterbeklagten zu 1 und deren Aussicht, weitere Kredite zu erhalten, ließ allein die Kenntnis dieses Interesses der Musterbeklagten zu 1 aber keine hinreichenden Rückschlüsse darauf zu, ob und inwieweit sie die Optionsstrategien fortsetzen und sich damit die bestehende Marktenge fortsetzen würde. Dass die Musterbeklagte zu 1 diese weiteren Informationen, die unter Umständen kurswirksame Spekulationen anderer Marktteilnehmer ermöglicht hätten, nicht offenlegte, war – wie ausgeführt (Rn. 487) – weder rechtlich noch sittlich zu beanstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_540">540</a></dt> <dd><p>(4) Die Pressemitteilung und die nach dem Vortrag der Musterklägerin durch sie verursachte Schädigung der klagenden Anleger waren – in der Gesamtschau – auch nicht deshalb sittenwidrig, weil die Musterbeklagte zu 1 mit der Veröffentlichung der Pressemitteilung ohne die Offenlegung der verkauften Put-Optionen gegen das Verbot der Marktmanipulation mittels einer sonstigen Täuschungshandlung nach § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 WpHG verstoßen hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_541">541</a></dt> <dd><p>(a) Schon grundlegend ist dabei die gesetzgeberische Entscheidung zu berücksichtigen, § 20a WpHG als Gefährdungstatbestand auszugestalten, der lediglich öffentlichen Interessen dient und dessen Verletzung nach dieser gesetzgeberischen Wertung grundsätzlich keine Schadensersatzansprüche begründet (näher: BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – XI ZR 51/10, juris Rn. 19 ff.; vgl. auch oben, Rn. 87). Bei der Anwendung von § 826 BGB ist dieser Differenzierung durch eine zurückhaltende Berücksichtigung einer Verletzung des in erster Linie aufsichtsrechtlichen Tatbestandes des § 20a WpHG im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung Rechnung zu tragen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 7. April 2011 – 6 U 7/10, juris Rn. 180; OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016 – 7 U 59/14, juris Rn. 81; LG Braunschweig, Urteil vom 30. Juli 2014 – 5 O 401/13, juris Rn. 65; i.d.S. ebenso BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011, a.a.O., Rn. 27 ff., in dem der zuvor thematisierte mögliche Verstoß gegen § 20a Abs. 1 Nr. 1 WpHG bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit nicht näher berücksichtigt wurde).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_542">542</a></dt> <dd><p>(b) Darüber hinaus dürfte die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 den Tatbestand einer Marktmanipulation i.S.d. § 20a WpHG nicht erfüllen. Jedenfalls führte selbst die Annahme einer Marktmanipulation unter Berücksichtigung aller Umstände nicht zu einer Verwerflichkeit i.S.d. § 826 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_543">543</a></dt> <dd><p>(aa) Nach § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 WpHG i.V.m. § 4 Abs. 3 Nr. 1 MaKonV a.F. ist eine verbotene Täuschungshandlung unter anderem auch die Sicherung einer marktbeherrschenden Stellung über das Angebot von Finanzinstrumenten durch eine Person mit der Folge, dass unmittelbar oder mittelbar insbesondere Ankaufs- oder Verkaufspreise bestimmt werden. Ein solcher Fall des sog. Cornering liegt hier nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_544">544</a></dt> <dd><p>Insoweit kann offen bleiben, ob die Musterbeklagte zu 1 betreffend die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 eine marktbeherrschende Stellung hatte, was voraussetzte, dass ihr auch etwaige durch die M. Bank oder in die Sicherungskette eingebundene Banken <em>„gehedgte“</em> Aktien bzw. das Marktverhalten dieser Banken zuzurechnen wäre (dazu: Vogel in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 20a Rn. 232, Fn. 552; vgl. weiter zur Marktbeherrschung auch: Schröder/Poller in: Schröder, Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 4. Aufl., 3. Kap., Rn. 325). Jedenfalls erfordert diese Fallgruppe der sonstigen Täuschungshandlung die <em>„Sicherung“</em> einer marktbeherrschenden Stellung. Für diese Sicherung genügt es nicht, dass sich jemand eine in legitimer Weise erlangte Position schlicht bewahrt bzw. diese aufrecht erhält. Vielmehr muss der Täter sich die marktbeherrschende Stellung tätig sichern, also vorsätzlich handelnd herbeiführen, beispielsweise dadurch, dass er auf einem Markt, auf dem ungedeckte Leerverkäufe epidemisch sind, den verbleibenden Free Float aufkauft, um ihn den erfüllungspflichtigen Leerverkäufern zu diktierten Preisen zurück zu verkaufen (Vogel in: Assmann/Schneider, § 20a Rn. 232a). Eine derartige Sicherung ihrer möglichen marktbeherrschenden Stellung hat die Musterbeklagte zu 1 jedenfalls nicht vorgenommen. Der für sich gesehen legale Aufbau einer marktbeherrschenden Stellung zur Übernahme einer börsennotierten Gesellschaft ist nicht unter dem Gesichtspunkt des § 4 Abs. 3 Nr. 1 MaKonV a.F. verboten (Vogel, a.a.O., Rn. 231; ähnlich: Schröder/Poller, a.a.O., Rn. 323).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_545">545</a></dt> <dd><p>Ob die Musterbeklagte zu 1 infolge einer möglichen marktbeherrschenden Stellung insbesondere Preise bestimmte, kann somit offen bleiben. Nicht zu verkennen ist allerdings, dass derjenige, der sich nicht am Handel beteiligt, auch in marktbeherrschender Stellung keine Preise festgelegt (Vogel, a.a.O., Rn. 232b). Im Zeitraum um den 26. Oktober 2008 hat sich die Musterbeklagte zu 1 nicht am Handel beteiligt. Sie tat dies erst nach Abstimmung mit der BaFin ab dem 29. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_546">546</a></dt> <dd><p>(bb) Zwar mag die Veröffentlichung der Pressemitteilung ohne Angaben insbesondere zu den eingegangenen Put-Optionen den Tatbestand des § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 WpHG verwirklicht haben, wonach die Vornahme sonstiger Täuschungshandlungen verboten war, die geeignet waren, auf Preise eines dort näher bestimmten Finanzinstrumentes einzuwirken. Auch dieser Gesichtspunkt rechtfertigt es in der Gesamtschau aber nicht, die Veröffentlichung als sittenwidrig einzustufen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_547">547</a></dt> <dd><p>Ein Unterfall einer solchen sonstigen Täuschungshandlung ist nach der Konkretisierung (dazu: Fleischer in: Fuchs, 2. Aufl., § 20a Rn. 59) in § 4 Abs. 1 MaKonV a.F. eine Handlung, die geeignet ist, einen verständigen Marktteilnehmer über die wahren wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem betreffenden Markt in die Irre zu führen und den Preis eines näher bezeichneten Finanzinstruments zu beeinflussen. Eine solche sonstige Täuschungshandlung lag nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 MaKonV a.F. insbesondere vor, wenn u.a. die Stellungnahme oder ein Gerücht zu einem Finanzinstrument in näher bezeichneten Medien kundgegeben wurde, nachdem Positionen über dieses Finanzinstrument eingegangen worden waren, ohne dass dieser Interessenkonflikt zugleich mit der Kundgabe in angemessener und wirksamer Weise offenbart wurde. Eine von dieser Fallgruppe umfasste Empfehlung beinhaltet die stillschweigende Erklärung, dass sie nicht mit dem sachfremden Ziel der Kursbeeinflussung zu eigennützigen Zwecken bemakelt sei (BGH, Urteil vom 6. November 2003 – 1 StR 24/03, juris Rn. 21).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_548">548</a></dt> <dd><p>(aaa) Vorliegend könnte die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 noch als eine derartige Abgabe einer Stellungnahme im Hinblick auf die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 einzuordnen sein, betreffend die die Musterbeklagte zu 1 Positionen eingegangen war. Der Begriff der Stellungnahme umfasst Empfehlungen und Informationen, durch die eine Anlagestrategie empfohlen oder vorgeschlagen wird. Ausreichend ist, dass ein verständiger Anleger aus den Informationen eine entsprechende Empfehlung ableiten kann. Reine Tatsachenbehauptungen ohne wertende Elemente reichen demgegenüber nicht aus (näher: Schmolke, in: Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, Art. 12 Rn. 365 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_549">549</a></dt> <dd><p>Die Pressemitteilung enthielt zwar in erster Linie die bloße Mitteilung über Tatsachen, nämlich u.a. den von der Musterbeklagten zu 1 gehaltenen Bestand an physischen Aktien und hierauf bezogenen Call-Optionen sowie die Beherrschungsabsicht. Hiermit verbunden war aber implizit die mit einer Stellungnahme oder einem Gerücht vergleichbare Aussage, dass mit einem Rückgang des Nachfragedrucks und damit mit einem hierdurch bedingten weiteren Kursrückgang nicht zu rechnen sei, die durch die explizite Ansprache der Leerverkäufer verstärkt wurde. Damit kommunizierte die Musterbeklagte zu 1 Umstände, die einen verständigen Anleger zu Rückschlüssen im Rahmen seiner Anlageentscheidung in die Lage versetzten (dazu: Stoll in: KK-WpHG, 2. Aufl., § 20a Anh. I - § 4 MaKonV, Rn. 35). Sofern sie damit auch eine Stellungnahme zu solchen Leerverkaufspositionen abgegeben haben sollte, wäre dies demgegenüber unerheblich; diese Positionen gehörten nicht zu den von § 4 Abs. 1 MaKonV a.F. erfassten Finanzinstrumenten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_550">550</a></dt> <dd><p>(bbb) Die Musterbeklagte zu 1 dürfte den aufgrund ihrer eigenen Positionen bestehenden Interessenkonflikt nicht zugleich mit der Kundgabe in angemessener und wirksamer Weise offenbart haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_551">551</a></dt> <dd><p>Zwar war hierfür jedenfalls keine dezidierte Offenlegung der genauen Ausgestaltung und des genauen Umfangs der eingegangenen Positionen erforderlich. Grundsätzlich ist die Offenlegung der Art der eingegangenen Positionen ausreichend (Stoll a.a.O., Rn. 38; Vogel in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 20a Rn. 234; tendenziell auch BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2013 – 1 StR 106/13, juris Rn. 40). Allenfalls mag ein Hinweis auf die besondere Erheblichkeit der eigenen Interessenbindung notwendig sein (Stoll, a.a.O.; Schmolke a.a.O., Rn. 376). Dem Markt war – wie bereits ausgeführt – auch verbreitet bekannt, dass die Musterbeklagte zu 1 Put-Optionen in erheblichem Umfang verkauft hatte. Es war daher erkennbar, dass insoweit bei fallenden Kursen Verlustrisiken drohen konnten. § 4 Abs. 3 Nr. 2 MaKonV a.F. erforderte aber, dass die Offenbarung des Interessenkonflikts <em>„zugleich“</em> mit der Kundgabe erfolgt. Dies ist vorliegend unterblieben. Die Pressemitteilung enthielt selbst keinen Hinweis darauf, dass die Musterbeklagte zu 1 Put-Optionen oder sonstige Aktienoptionen verkauft hatte, aufgrund derer solche Verlustrisiken bei fallenden Kursen drohen konnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_552">552</a></dt> <dd><p>(ccc) Problematisch ist allerdings, ob die Musterbeklagte zu 1 mit der Kundgabe ihrer Pressemitteilung über das Internet im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 2 MaKonV einen <em>„gelegentlichen oder regelmäßigen Zugang zu traditionellen oder elektronischen Medien“</em> nutzte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_553">553</a></dt> <dd><p>Typischerweise erfasst dieser Tatbestand des sog. Scalpings Täuschungshandlungen in der Wirtschaftspresse (Kramer WM 2016, 1163) durch fachliche Autoritäten bzw. Börsengurus (Kölbel in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., 5. Teil, Kap. 1, Rn. 254; Trüg in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, 10. Teil, Kap. 2, Rn. 50; Saliger in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, 5. Aufl., Kap. 6.1 Rn. 180 Fn. 565). Da zumindest die Nutzung des Internets bereits 2008 jedermann offen stand, spricht einiges dafür, die in § 4 Abs. 3 Nr. 2 MaKonV a.F. und auch in Art. 12 Abs. 2 lit. d) VO (EU) Nr. 596/2014 enthaltene Voraussetzung des zumindest gelegentlichen Medienzugangs dahin auszulegen, dass es sich um einen Medienzugang handeln muss, der auch in der modernen Mediengesellschaft nicht jedermann und jederzeit eröffnet ist (Stoll, a.a.O., Rn. 34). Darunter fällt die jedermann und jederzeit zur Verfügung stehende Möglichkeit, Pressemitteilungen oder ähnliche Äußerungen im Internet zu veröffentlichen, nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_554">554</a></dt> <dd><p>Eine solche Einschränkung wird heute aber nahezu einhellig abgelehnt (Oulds in: Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl., Verbot der Marktmanipulation (Art. 15, 12 ff. MAR), Rn. 12.58; Mülbert in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., Art. 12 VO (EU) Nr. 596/2014, Rn. 246; Schmolke in: Klöhn, a.a.O., Rn. 366; de Schmidt in: Just/Voß/Ritz/Becker, WpHG, 1. Aufl., § 20a Rn. 238, 240; Grundmann in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2016, 6. Teil, 3. Abschn., D.II., Rn. 467; Zimmer/Bator in: Schwark/Zimmer, 5. Aufl., VO (EU) 596/2014 Art. 12 Rn. 86; Poelzig in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl., Marktmissbrauchs-VO Art. 12- Anhang I Rn. 35; Wentz, WM 2019, 196, 199), ohne dass sich diese Auffassung allerdings näher mit dem Wortlaut der Norm auseinandersetzte. Sie begegnet deshalb Zweifeln.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_555">555</a></dt> <dd><p>Diese Frage kann aber letztlich offen bleiben. In der Gesamtschau sind die maßgeblichen Gesichtspunkte in ihrer jeweiligen Bedeutung für das Verwerflichkeitsurteil letztlich unabhängig davon zu berücksichtigen, ob der Tatbestand einer Marktmanipulation als solcher verwirklicht ist; ausgehend von der dargestellten herrschenden Auffassung wäre dieser Tatbestand derart weit, dass seiner Verwirklichung insoweit eine eher geringe Indizwirkung zukäme.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_556">556</a></dt> <dd><p>(ddd) Auch abgesehen von der grundsätzlich eingeschränkten Bedeutung eines Verstoßes gegen § 20a WpHG für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit führen diese Umstände bei wertender Betrachtung nicht dazu, dass die Musterbeklagte zu 1 mit der Veröffentlichung der Pressemitteilung verwerflich gehandelt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_557">557</a></dt> <dd><p>Es lag auf der Hand, dass die Musterbeklagte zu 1 mit dieser Veröffentlichung Eigeninteressen verfolgte, die jedenfalls – wie die Ansprache der Leerverkäufer verdeutlichte – auch darin bestanden, weitere Spekulationen unattraktiv zu machen (näher: Rn. 466 ff.). Zudem war schon aus der Pressemitteilung selbst erkennbar, dass die Musterbeklagte zu 1 sich gegen steigende Kurse abgesichert hatte und die Erklärung deshalb eher kursstützend bzw. -stabilisierend wirken sollte. Erkennbar war zudem, dass die Musterbeklagte zu 1 in dieser Erklärung ihre Optionsstrategien nicht vollständig offengelegt hatte. Jedenfalls lag auch auf der Hand, dass es sich bei der Pressemitteilung nicht um eine – vermeintlich – neutrale Information wie etwa bei einer Empfehlung im typischen Fall des sog. Scalping handelte. Auch der Charakter der Pressemitteilung überhaupt als Empfehlung war nur schwach ausgeprägt und blieb hinter den typischen Fällen des <em>„Scalpings“</em> ebenfalls signifikant zurück.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_558">558</a></dt> <dd><p>Weiter konnten verständige Marktteilnehmer aufgrund der bekannten Aussagen und Analysen erkennen, dass die Musterbeklagte zu 1 aufgrund in erheblichem Umfang verkaufter Put-Optionen bei fallenden Aktienkursen jedenfalls potenziell Verlustrisiken ausgesetzt war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_559">559</a></dt> <dd><p>Der Mehrwert einer Offenlegung der Put-Optionen in der Pressemitteilung wäre demgegenüber gering gewesen, soweit die Musterbeklagte zu 1 nicht sämtliche weiteren Einzelheiten in Zusammenhang mit den Optionsstrategien und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Beteiligungsaufbaus mitteilte, wozu sie aber weder rechtlich noch sittlich verpflichtet war (s. auch Rn. 487). Die im Kern kommunizierte Marktenge bestand und wäre auch durch den ausdrücklichen Hinweis auf Put-Optionen nicht wesentlich relativiert worden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_560">560</a></dt> <dd><p>Schließlich ist im Rahmen der Gesamtwürdigung weiter zu berücksichtigen, dass eine Verletzung von § 20a Abs. 1 WpHG zumindest nicht offensichtlich war und keine Anhaltspunkte für einen diesbezüglichen Vorsatz der Musterbeklagten zu 1 vorgetragen oder sonst ersichtlich sind. Auch die BaFin hatte ausweislich des Vermerks vom 27. März 2009 (WA 23 – Wp 5115 – 2008/0061, S. 25, zitiert nach V.-GA, Anlage MK 37 Rn. 231) keine Anhaltspunkte für einen entsprechenden Verstoß.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_561">561</a></dt> <dd><p>(cc) Auch wenn die unterbliebene Offenlegung der Put-Optionen den Tatbestand des § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 WpHG erfüllt haben sollte (dazu etwa S. 16 ff. des Rechtsgutachtens des Privatsachverständigen Dr. P. vom 1. Februar 2019, Anlage B-E._2, Bl. 8052 ff.) oder die unterbliebene Korrektur von Pressemitteilungen (dazu etwa der zurückgewiesene Erweiterungsantrag zu II.1. im Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019) den Tatbestand des § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 WpHG erfüllt haben sollten, ergäbe sich aus den vorstehenden Gründen keine abweichende Beurteilung der Verwerflichkeit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_562">562</a></dt> <dd><p>(5) Das Verhalten der Musterbeklagten zu 1 stellt sich schließlich nicht deshalb als verwerflich dar, weil sie vor dem 26. Oktober 2008 Informationen zur ins Auge gefassten Beherrschung der Musterbeklagten zu 2 zunächst nur zurückhaltend veröffentlicht, insbesondere entsprechende Marktgerüchte im Rahmen des rechtlich noch Zulässigen dementiert hatte, und die Beherrschungsabsicht erst nach dem entsprechenden Vorstandsbeschluss bekannt gemacht hat. Dieses Vorgehen, das durchaus rechtliche Spielräume ausgenutzt hat, ist auch in der Gesamtschau nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für den Umstand, dass der Beteiligungsaufbau u.a. über Optionen vorbereitet und abgesichert wurde (vgl. auch Schröder, Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl., 3. Kap., Rn. 504a).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_563">563</a></dt> <dd><p>(6) Im Rahmen der Gesamtwürdigung ist weiter zu berücksichtigen, dass ohnehin nicht nur allgemein für verständige Marktteilnehmer Anhaltspunkte für eine entsprechende Beherrschungsabsicht der Musterbeklagten zu 1 vorlagen (näher Rn. 178 ff., 185 ff., 195 ff.), sondern sich entsprechende Signale gerade in der der Pressemitteilung unmittelbar vorangegangenen Zeit verdichtet hatten. Anfang Oktober 2008 hatte der Vorstandsvorsitzende Dr. W. erklärt, eine Beherrschung langfristig nicht ausschließen zu wollen. Prof. Dr. P. hatte nach Berichten der Nachrichtenagenturen Reuters (Anlage MBPor 91) und dpa sowie von wallstreet-online vom 23. Oktober 2008 sowie der Neue Zürcher Zeitung vom 25. Oktober 2008 (in Anlagenkonvolut MBPor 92) erklärt, es sei nichts gegen eine Beherrschung der Musterbeklagten zu 2 einzuwenden. Hiernach konnten verständige Marktteilnehmer bereits kurz vor Veröffentlichung der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 erkennen, dass die Musterbeklagte zu 1 eine solche Beherrschungsabsicht – entgegen insbesondere der Annahme von Leerverkäufern – trotz der allgemeinen wirtschaftlichen Krise durchaus konkret in den Blick genommen hatte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_564">564</a></dt> <dd><p>(7) Nicht zu verkennen ist zwar die erhebliche Höhe des eingetretenen Schadens bei den klagenden Anlegern. Auch dieser Umstand führt in der Gesamtschau aber nicht zur Verwerflichkeit der Veröffentlichung. Hinzu kommt, dass die Schadenshöhe letztlich auch auf den umfangreichen Spekulationen der Geschädigten beruhte, auch wenn diese weder sittlich noch rechtlich zu beanstanden waren. Ob den Geschädigten dabei anzulasten wäre, keine hinreichenden Absicherungspositionen eingegangen zu sein (dazu näher: Klageerwiderung der Musterbeklagten zu 1 vom 28. Juli 2017, Rn. 170 f.), kann an dieser Stelle offenbleiben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_565">565</a></dt> <dd><p>(8) Bei der Gesamtabwägung ist allerdings nicht zulasten der Geschädigten zu berücksichtigen, dass es sich bei diesen teilweise um Hedgefonds und Leerverkäufer handelt. § 15 Abs. 1 WpHG hat das Ziel, eine gleichmäßige Information aller Marktteilnehmer sowie Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und Transparenz der Kapitalmärkte (Informationseffizienz) zu schaffen. Für einen Verstoß kommt es nicht darauf an, ob die Kapitalanlage hochspekulativen Charakter hat und der Anleger mit diesem Umstand vertraut ist (Oechsler in: Staudinger [2021], § 826 Rn. 523; vgl. allg. auch BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 402/02, juris Rn. 42; a.A. OLG Braunschweig, Urteil vom 12. Januar 2016, a.a.O., Rn. 72). Unabhängig von der konkreten Art des – legalen – Geschäftsmodells der Ausgangskläger waren diese nicht weniger schutzwürdig gegenüber – tatsächlich nicht vorliegenden – täuschenden oder sonst sittenwidrigen Verhaltensweisen der Musterbeklagten. Dem steht nicht entgegen, dass die von den Ausgangsklägern getätigten Anlagen jedenfalls teilweise hochspekulativen Charakter gehabt haben mögen und sich letztlich das diesen Anlagegeschäften immanente Risiko verwirklicht haben könnte (so: Schröder/Poller in: Schröder, Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 4. Aufl., 3. Kap., Rn. 325).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_566">566</a></dt> <dd><p>i) Es bestehen keine kartellrechtlichen Ansprüche aus § 33 Abs. 1, 3 GWB i.V.m. § 19 GWB in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 15. Juli 2005 (BGBl. I Nr. 44, S. 2114 ff.; im Folgenden: a.F.) und Art. 82 EG-Vertrag in der im Jahr 2008 geltenden Fassung. Zwar spricht einiges dafür, dass die kartellrechtlichen Regelungen auch auf den Wertpapiermarkt betreffende Verhaltensweisen Anwendung finden (a.A. OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., Rn. 158). Die Musterbeklagte zu 1 hat jedoch nicht kartellrechtswidrig gehandelt. Zum einen hatte sie bereits keine marktbeherrschende Stellung. Zum anderen nutzte sie eine – unterstellte – marktbeherrschende Stellung nicht nach § 19 Abs. 1, 4 GWB a.F. bzw. Art. 82 EG-Vertrag a.F. missbräuchlich aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_567">567</a></dt> <dd><p>aa) Die Musterbeklagte zu 1 hatte auf dem infrage stehenden Markt keine beherrschende Stellung. Die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 und darauf bezogene Optionen stellten auch in dem hier maßgeblichen Zeitraum – insbesondere zu den in dem Feststellungsziel XI.1. aufgeführten Zeiträumen vom 3. März 2008 bis zum 13. Januar 2009 – keinen eigenständigen sachlich und räumlich relevanten Markt i.S.d. § 19 Abs. 2 Satz 1 GWB a.F. bzw. Art. 82 EG-Vertrag a.F. dar (vgl. nur OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., Rn. 157 ff.). Eine marktbeherrschende Stellung der Musterbeklagten zu 1 auf einem umfassenderen Markt – etwa auf einem Markt für Unternehmensbeteiligungen an europäischen (oder auch nur deutschen) Autoherstellern oder auf einem Markt für Aktien sämtlicher im DAX vertretener Unternehmen – ist nicht mit Substanz dargelegt oder sonst erkennbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_568">568</a></dt> <dd><p>(1) Um eine marktbeherrschende Stellung eines Unternehmens zu ermitteln, ist der für die Marktstellung des Unternehmens relevante Markt von anderen Märkten abzugrenzen (Paschke in Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 95. Lfg., § 18 GWB Rn. 27). Diese Marktabgrenzung erfolgt allein nach kartellrechtlichen und nicht nach kapitalmarktrechtlichen Maßstäben. Der Begriff der marktbeherrschenden Stellung nach § 4 Abs. 3 Nr. 1 MaKonV a.F. deckt sich nicht mit dem kartellrechtlichen Begriff (Vogel in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 20a Rn. 232).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_569">569</a></dt> <dd><p>Ausgangspunkt der Marktabgrenzung ist das Bedarfsmarktkonzept. Danach sind dem relevanten Markt alle Produkte und Dienstleistungen zuzurechnen, die aus der Sicht der Nachfrager nach Eigenschaft, Verwendungszweck und Preislage zur Deckung eines bestimmten Bedarfs austauschbar sind (BGH, Urteil vom 24. Januar 2017 – KZR 2/15, juris Rn. 20; Paschke, a.a.O., Rn. 51). Die Austauschbarkeit oder Ersetzbarkeit beurteilt sich dabei nicht allein mit Blick auf die objektiven Eigenschaften der fraglichen Erzeugnisse und Dienstleistungen, sondern es müssen auch die Wettbewerbsbedingungen sowie die Struktur der Nachfrage und des Angebots auf dem Markt in Betracht gezogen werden (EuG, Urteil vom 15. Dezember 2010 – T-427/08, juris Rn. 67).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_570">570</a></dt> <dd><p>Bei der Bestimmung des Verwendungszwecks der miteinander zu vergleichenden Waren oder gewerblichen Leistungen kommt es nicht auf deren objektive Eignung, sondern auf die Sicht der Nachfrager, mithin auf die Sicht der Marktgegenseite an (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2016 – KVR 11/15, juris Rn. 30; Paschke, a.a.O., Rn. 61 f.; Bechtold/Bosch, GWB, 10. Aufl., § 18 Rn. 6 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_571">571</a></dt> <dd><p>(2) Bei einer Unternehmensbeteiligung wie der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 gehören grundsätzlich alle Unternehmensbeteiligungen bzw. alle Aktien zum relevanten sachlichen Markt (vgl. Wiedemann in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 4. Aufl., § 23 GWB, Rn. 12 m.w.N.; a.A. Fuchs/Möschel in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl., § 18 GWB Rn. 87 <em>„Unternehmensbeteiligung“</em>;), möglicherweise nach der sog. eingeschränkten Portfoliobetrachtung auch beschränkt insbesondere auf geographische Bereiche und die Art, in der die Anteile gehandelt werden (so im Ausgangspunkt auch Fleischer/Bueren, ZIP 2013, 1253, 1259; F., Gutachten vom 10. Dezember 2014 [Anlage MK 70; im Folgenden: F.-Gutachten] Rn. 82-85). Denn Aktien und andere Finanzinstrumente sind letztendlich marktgleichwertig, da die Nachfrager ohne große Anpassungsleistungen zwischen den einzelnen Finanzinstrumenten auswählen und auf andere Finanzinstrumente ausweichen können. Dies gilt gleichfalls für Optionsgeschäfte im Hinblick auf einzelne Aktien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_572">572</a></dt> <dd><p>Soweit demgegenüber eine normative Wechselwirkung zwischen § 4 Abs. 3 Nr. 1 MaKonV a.F. und § 19 Abs. 2 Satz 1 GWB a.F. mit der Folge angenommen wird, dass sich der sachlich relevante Markt stets auf das einzelne Finanzinstrument beschränke (so: Mock, Gutachtliche Stellungnahme vom 29. September 2014, Anlage MK 71, Seite 6 ff.), überzeugt dies schon aufgrund der unterschiedlichen Regelungsziele des Kapitalmarktrechts und des Kartellrechts nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_573">573</a></dt> <dd><p>(3) Eine Austauschbarkeit war hiernach für die sog. Early Seller, d.h. die Verkäufer der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 vor dem 26. Oktober 2008, jederzeit gegeben. Sie waren in keiner Weise daran gehindert, diese Stammaktien zu halten oder zu verkaufen. Dies gilt gleichfalls für die auf fallende Kurse setzenden Leerverkäufer, deren Rückgabeverpflichtungen vor dem 26. Oktober 2008 endeten. Diese Leerverkäufer waren nicht gehindert, ihre Positionen aufzulösen und ggf. auf andere Aktien zum Leerverkauf auszuweichen. Denn nach dem eigenen Vortrag der Musterklägerin ist der Kurs der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 bis zum 26. Oktober 2008 gefallen. Das Vorstehende gilt gleichfalls für Leerverkäufer, die erst nach Veröffentlichung der Pressemitteilung am 26. Oktober 2008 ihre Verpflichtungen eingegangen sind und auf einen fallenden Kurs dieser Stammaktie gesetzt haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_574">574</a></dt> <dd><p>Aber auch soweit Leerverkäufer betroffen sind, die ihre Verpflichtungen vor dem 26. Oktober 2008 begründet haben und deren Rückgewährpflicht zeitlich unmittelbar nach dem 26. Oktober 2008 lag, liegt kein relevanter Teilmarkt vor. Zwar wird vereinzelt vertreten, in Ausnahmefällen verenge sich der Markt für Unternehmensbeteiligungen auch kurzfristig auf eine einzelne Beteiligung. Diesen Auffassungen folgt der Senat jedoch nicht (in der Sache ebenso: Wiedemann a.a.O.; LG Stuttgart, Urteil vom 17. März 2014 – 28 O 183/13, juris Rn. 174; OLG Stuttgart, Urteil vom 26. März 2015, a.a.O., Rn. 158).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_575">575</a></dt> <dd><p>(a) Teilweise wird angenommen, in Ausnahmesituationen sei eine engere Marktabgrenzung geboten, die sich auf eine bestimmte Aktie beschränke, wenn hinreichend viele Anleger auf diese fokussiert seien, insbesondere, wenn sie diese auf Termin leerverkauft hätten und deshalb zur Zeit des Auslaufens ihres Kontraktes auf den Erwerb dieser Aktie angewiesen seien. Zu diesem Zeitpunkt sei dieser Teil der Nachfrage starr, so dass ein Marktteilnehmer, der das Angebot an dieser Aktie insbesondere in Fällen eines sog. Cornering kontrolliere, Marktmacht ausüben könne (so: Fleischer/Bueren, a.a.O., 1259 f.; F.-Gutachten Rn. 117 ff.). Insoweit wird eine Marktverengung aufgrund ereignisbezogener temporärer Mangellagen angenommen (so ausdrücklich: F.-Gutachten Rn. 117). Dieser Gesichtspunkt rechtfertigt es aber jedenfalls in Fällen wie hier nicht, eine temporäre Marktverengung mit der Folge anzunehmen, dass die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 und darauf bezogene Optionen kartellrechtlich einen eigenständigen sachlich und räumlich relevanten Markt darstellten. Es trifft zwar zu, dass Leerverkäufer in einer solchen Situation zur Vermeidung einer Schadensersatzpflicht auf den Erwerb der leerverkauften Aktie innerhalb eines bestimmten engen Zeitraums angewiesen sein können. Diese Bedarfslage beruht aber auf einer eigenverantwortlichen Entscheidung der Anleger, die sich kurzfristig in der – letztlich möglicherweise enttäuschten – spekulativen Erwartung fallender Kurse an die betreffende Aktie gebunden haben. Diese temporäre Besonderheit führt nicht zu einer Marktverengung und der Abgrenzung eines Marktes, auf dem die Musterbeklagten zu 1 eine beherrschende Stellung i.S.d. § 19 GWB a.F. innegehabt hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_576">576</a></dt> <dd><p>(aa) Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass es in Fällen, in denen durch den Erwerb längerfristig nutzbarer Investitionsgüter ein davon abgeleiteter spezifischer Bedarf des Erwerbers begründet worden ist, für die Marktabgrenzung darauf ankommt, welche Alternativen dem Nachfrager zur Verfügung stehen, nachdem er eine Investitionsentscheidung getroffen hat (BGH, Urteil vom 24. Januar 2017 – KZR 2/15, juris Rn. 20 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_577">577</a></dt> <dd><p>Eine unternehmensbedingte Abhängigkeit – oder relative Marktmacht – im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 GWB a.F. ist ferner in Fällen angenommen worden, in denen sich ein Händler so stark auf den Verkauf von Produkten eines bestimmten Herstellers ausgerichtet hat, dass er nur unter Inkaufnahme erheblicher Wettbewerbsnachteile auf die Vertretung eines anderen Herstellers überwechseln kann (BGH, Urteil vom 23. Februar 1988 – KZR 20/86, juris Rn. 25; Urteil vom 21. Februar 1995 – KZR 33/93, juris Rn. 28). Dieser Gedanke ist anwendbar etwa auf das Verhältnis eines Kraftfahrzeugherstellers zu einer mit ihm vertraglich verbundenen Werkstatt (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2011 – KZR 6/09, juris Rn. 26) oder zu einem auf Fahrzeuge des Herstellers spezialisierten Tuning-Unternehmen (BGH, Urteil vom 6. Oktober 2015 – KZR 87/13, juris Rn. 53 ff.). Selbst wenn die Abhängigkeit ohne vertragliche Vereinbarung im Wege einer autonomen Bezugskonzentration selbst geschaffen worden ist, kann der Tatbestand unternehmensbedingter Abhängigkeit dann erfüllt sein, wenn die Ausrichtung des Geschäftsmodells erheblich über eine bloß einseitige Spezialisierung hinausgeht und etwa den Erwerb besonderen, markenspezifischen Know-hows umfasst, das für eine wertschöpfende Tätigkeit im Zusammenhang mit den Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen erforderlich ist. Der Umstand, dass die Abhängigkeit in diesem Fall auf einem einseitigen, autonomen Entschluss des Abnehmers beruht, ist dann im Rahmen der Interessenabwägung bei der Billigkeitsprüfung zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 26. Januar 2016 – KZR 41/14, juris Rn. 28; Urteil vom 6. Oktober 2015 – KZR 87/13, juris Rn. 54).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_578">578</a></dt> <dd><p>Die sachliche Marktabgrenzung kann indes grundsätzlich nicht allein mit dem autonomen Verhalten eines einzelnen Marktteilnehmers begründet werden (BGH, Urteil vom 6. Oktober 2015 – KZR 87/13, juris Rn. 52).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_579">579</a></dt> <dd><p>(bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hatte die Musterbeklagte zu 1 keine marktbeherrschende Stellung gegenüber Leerverkäufern inne, selbst wenn die Leerverkäufer nach dem 26. Oktober 2008 aufgrund ihrer vertraglichen Verpflichtungen Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 erwerben mussten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_580">580</a></dt> <dd><p>Es fehlt bereits an einer unternehmensbedingten Abhängigkeit. Durch die Leerverkäufe haben die Investoren sich nicht langfristig an den Erwerb dieser Stammaktien gebunden und ihr Geschäftsmodell auf Dauer einseitig darauf ausgerichtet. Außerdem hat nicht eine etwaige Marktmacht der Musterbeklagten zu 1 zu den Leerverkäufen geführt, sondern eine jeweils autonome Entscheidung der Investoren. Die Leerverkäufe lagen nicht im Verantwortungsbereich der Musterbeklagten zu 1, die diese Investitionsentscheidungen nicht beeinflusst hat. Eine unternehmensbezogene Abhängigkeit im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lag daher nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_581">581</a></dt> <dd><p>(b) Soweit vertreten wird, dass eine Marktverengung durch fehlerhafte Kapitalmarktinformationen eintreten könne, weil der Anleger an die fragliche Aktie gebunden werde, wolle er nicht sehenden Auges Verlust machen (so: Schwintowski, WuW 2015, 834, 840), überzeugt dies ebenfalls nicht. Dieser Ansatz löst sich von der Betrachtung der objektiven Marktlage; der jeweilige Bedarf besteht unabhängig davon, ob er etwa durch Täuschung oder eine (verbreitete) Fehleinschätzung ohne täuschendes Verhalten eines Marktteilnehmers entstanden ist. Dass sich – zumal bei spekulativen Geschäften – das Risiko von Verlusten verwirklicht hat, steht einer Austauschbarkeit des jeweiligen Gutes nicht entgegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_582">582</a></dt> <dd><p>Schließlich waren die Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 ohnehin nicht fehlerhaft, so dass auch nach diesem Ansatz keine Marktverengung im vorgenannten Sinne anzunehmen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_583">583</a></dt> <dd><p>bb) Selbst eine marktbeherrschende Stellung unterstellt, hätte die Musterbeklagte zu 1 diese nicht missbräuchlich ausgenutzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_584">584</a></dt> <dd><p>(1) Die Musterbeklagte zu 1 hat insbesondere das Regelbeispiel des § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB a.F. bzw. des Art. 82 Abs. 2 lit. a) EG-Vertrag a.F. nicht verwirklicht. Sie hat keine unangemessenen Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen gefordert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_585">585</a></dt> <dd><p>(a) Die Musterbeklagte zu 1 hat selbst weder den Klägern der Ausgangsverfahren noch sonst Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 verkauft und dadurch möglicherweise unangemessene Kaufpreise erzielt. Zwar ist grundsätzlich auch die mittelbare Erzwingung unangemessener Preise ausreichend (so ausdrücklich Art. 82 Abs. 2 lit. a) EG-Vertrag a.F.). Mittelbar erzwungen sind dabei Preis- und Konditionenbindungen der zweiten Hand sowie Preise im Falle einer Weiterwälzung auf die Vertragspartner des unmittelbar Betroffenen (Fuchs in: Immenga/Mestmäcker, 6. Aufl., Art. 102 AEUV, Rn. 174). Diese Konstellationen sind hier nicht ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_586">586</a></dt> <dd><p>(b) Darüber hinaus wird vertreten, nach Sinn und Zweck des Missbrauchsverbotes reiche es für die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung bereits aus, dass ein Marktteilnehmer das betroffene Produkt ohne direkten Kauf beim Normadressaten zu einem wegen des Wettbewerbsverstoßes überhöhten Preis erworben hat (F.-Gutachten Rn. 174; Fleischer/Bueren a.a.O., 1262 f.). Dieser Ansatz ist jedoch allenfalls zur Bestimmung der Schadenshöhe, nicht jedoch zur Feststellung des Anspruchsgrundes geeignet, wie bereits der Rekurs auf den Preisschirmeffekt nahelegt. Er setzt gerade einen Wettbewerbsverstoß voraus, ohne aber einen konkreten Missbrauch zu verlangen. Ohnehin schränken Fleischer/Bueren diesen Ansatz auf Fälle ein, in denen Täter und Geschädigter zur gleichen Zeit am Markt aktiv waren, was vorliegend im Hinblick auf die Musterbeklagte zu 1 nicht zutraf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_587">587</a></dt> <dd><p>(c) Die Auffassung, eine Ausbeutung liege bereits dann vor, wenn der Marktbeherrscher das Preisniveau in Richtung auf einen unangemessenen Preisanstieg beeinflusse und hiervon mittelbar durch kapitalmarktbezogene Geschäfte profitiere (so: F.-Gutachten Rn. 175 f.), führt nicht weiter. Es kann dahinstehen ob in der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 eine solche Beeinflussung gelegen hat. Allein der Umstand, dass der Marktbeherrscher (mittelbar) von überhöhten Preisen profitiert, rechtfertigt die Annahme eines Preishöhenmissbrauchs jedenfalls ohne weitere wertende Schritte auch dann nicht, wenn der Marktbeherrscher das Preisniveau mit beeinflusst hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_588">588</a></dt> <dd><p>Insbesondere eine nach Art. 82 Abs. 2 lit. a) EGV a.F. unzulässige Erzwingung setzt voraus, dass Preise oder Bedingungen den Geschäftspartnern vom marktbeherrschenden Unternehmen einseitig auferlegt werden (Brand in: Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder/Seeliger, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 102. Lfg., Art. 102 AEUV, Rn. 178; Fuchs, a.a.O.). Auch § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB a.F. setzt die Forderung nicht marktgerechter Bedingungen voraus. Vorliegend haben sich die erheblich über dem inneren Wert liegenden Preise für die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 aber aufgrund von Verhaltensweisen der Marktgegenseite entwickelt, nachdem die Musterbeklagte zu 1 in ansonsten nicht zu beanstandender Art und Weise ihre Beteiligungsverhältnisse und Ziele offengelegt hatte. Durch die Auflösung von Call-Optionen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Preise wieder deutlich unter ihrem Höchststand lagen, hat die Musterbeklagte zu 1 zwar an den immer noch hohen Preisen verdient. Nach der Argumentation der Musterklägerin und des Privatgutachters Fuchs habe sie weiter davon profitiert, dass Put-Optionen aufgrund des Kursanstiegs des Basiswertes entwertet und drohende Verluste der Musterbeklagten zu 1 aus den begebenen Put-Optionen vermieden worden seien, wobei allerdings – wie ausgeführt (Rn. 420 ff., 524) – keine konkreten Anhaltspunkte für einen weiteren derart erheblichen Kursverlust bestanden, dass eine Entwertung der Put-Optionen gedroht hätte. Sie hat diese Preise aber jedenfalls nicht einseitig gefordert oder auferlegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_589">589</a></dt> <dd><p>Unabhängig hiervon stellt sich die vorgeworfene Verhaltensweise bei wertender Betrachtung nicht als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung dar. Die Musterbeklagte zu 1 war nicht verpflichtet, den eine Übernahme der Musterbeklagten zu 2 vorbereitenden Anteilsaufbau auszusetzen oder teilweise rückgängig zu machen, um das Kursniveau zu reduzieren. Die teilweise Auflösung von Call-Optionen war nicht deshalb zu beanstanden, weil dies einen Liquiditätszufluss bewirkte. Die Auflösung erfolgte erst nach Rücksprache mit der BaFin zu einem Zeitpunkt, zu dem die Aktienkurse bereits deutlich unter den Höchststand zurückgefallen waren. Es ist nicht zu beanstanden, dass ein Marktbeherrscher von Preisen profitiert, die sich ohne eigenes Verhalten ergeben haben, das im Übrigen missbräuchlich wäre. Zudem konnte die Musterbeklagte zu 1 durch die Auflösung von Call-Optionen oder durch den Verkauf von Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 gerade auf eine Entspannung der Marktenge und einen niedrigeren Aktienkurs hinwirken.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_590">590</a></dt> <dd><p>(d) Ob der Preis der Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 in der Zeit nach dem 26. Oktober 2008 unangemessen hoch war, kann hiernach offen bleiben. Zwar stand der Preis ersichtlich außer Verhältnis zu dem inneren Wert der Unternehmensbeteiligung. Er hat sich jedoch ohne weitere Beeinflussung durch die Musterbeklagte zu 1 aus dem erheblichen Nachfrageüberhang der Leerverkäufer ergeben. Er spiegelte die tatsächlichen Marktverhältnisse wieder, insbesondere die nicht nur kurzfristige Angebotsverknappung aufgrund der Beteiligung der Musterbeklagten zu 1 an der Musterbeklagten zu 2. Zu welchen Preisen die Aktie zu anderen Zeitpunkten gehandelt wurde (so: Fleischer/Bueren a.a.O., 1261), ist demgegenüber unerheblich. Der zulässige Anteilsaufbau (vgl. dazu auch Schröder/Poller in: Schröder, Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 4. Aufl., 3. Kap., Rn. 325) kann jedenfalls nicht mit einer monopolistischen Mengenrestriktion gleichgesetzt werden (so aber wohl F.-Gutachten, Rn. 182).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_591">591</a></dt> <dd><p>(2) Auch sonst liegt kein Missbrauch nach der Generalklausel des § 19 Abs. 1 GWB a.F. bzw. Art. 82 Abs. 1 EG-Vertrag a.F. vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_592">592</a></dt> <dd><p>j) Schließlich bestehen auch keine wettbewerbsrechtlichen Ersatzansprüche.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_593">593</a></dt> <dd><p>aa) Nach § 9 UWG i. V. m. § 3 UWG in der Fassung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 3. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1414 ff.) setzt ein Schadensersatzanspruch eine Wettbewerbshandlung voraus, die geeignet ist, den Wettbewerb zum Nachteil der Mitbewerber, der Verbraucher oder der sonstigen Marktteilnehmer nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen. Wettbewerbshandlung ist jede Handlung mit dem Ziel, zugunsten des eigenen oder eines fremden Unternehmens den Absatz oder den Bezug von Waren oder die Erbringung oder den Bezug von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, zu fördern, § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG a. F.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Eine Wettbewerbsabsicht liegt bei Ad-hoc-Mitteilungen und anderen Kapitalmarktinformationen nur dann vor, wenn sie auf die Förderung des operativen Geschäfts gerichtet sind, nicht aber, wenn sie der Erfüllung von Mitteilungspflichten dienen oder allein im Zusammenhang mit dem Absatz oder dem Bezug von Wertpapieren stehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_594">594</a></dt> <dd><p>(1) Nach teilweise vertretener Auffassung ist eine Instrumentalisierung wettbewerbsrechtlicher Ansprüche nach dem UWG zur Begründung einer kapitalmarktrechtlichen Haftung des Emittenten im Hinblick auf die unterschiedlichen Regelungsgegenstände und -zwecke abzulehnen. Die kapitalmarktrechtlich indizierte Veröffentlichung von Kapitalmarktinformationen stelle regelmäßig schon keine Wettbewerbshandlung – bzw. in der Terminologie des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG n.F. keine geschäftliche Handlung – dar, und zwar weder auf dem Markt der Wertpapiere noch auf dem Markt des operativen Geschäfts (Fuchs in: Fuchs, 2. Aufl., Vor §§ 37b, 37c Rn. 68; Klöhn, ZHR 172 (2008), 388, 389 f., 392 f., 397 ff.; anders aber Sosnitza in: Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl., § 2 Rn. 30; Fritzsche in: Teplitzky/Pfeifer/Leistner, UWG, 2. Aufl., § 2 Rn. 178; Diekmann in: Seichter, jurisPK-UWG, 5.Aufl. [Stand: 29.4.2022], § 5 Rn. 680; Bornkamm/Feddersen in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 40. Aufl., § 5 Rn. 4.123).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_595">595</a></dt> <dd><p>(2) Dieser Ansatz trifft zu. Er ist nicht auf die Haftung des Emittenten beschränkt. Vielmehr fehlt es in sämtlichen Fällen von Informationen, die – wie vorliegend – an den Kapitalmarkt gerichtet sind und in keinem Zusammenhang mit der Förderung des daneben bestehenden operativen Geschäftes stehen, regelmäßig an einer Wettbewerbsabsicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_596">596</a></dt> <dd><p>Aufgrund der Wertungswidersprüche und konzeptionellen Unterschiede zwischen dem Wettbewerbsrecht und sowohl dem im Wertpapierhandelsgesetz geregelten Kapitalmarktrecht im engeren Sinne (dazu Klöhn a.a.O., 389 f., 392 f., 406 ff., 410 f.) als auch den Grundsätzen der Kapitalmarktinformationshaftung im Allgemeinen stellte selbst die Absicht der Förderung des Bezugs oder des Absatzes von Wertpapieren durch solche Informationen keine Wettbewerbsabsicht i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG a. F. dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_597">597</a></dt> <dd><p>Die Anforderungen an Kapitalmarktinformationen beim Handel mit Finanzinstrumenten sind im Wertpapierhandelsgesetz und in den einschlägigen Verordnungen speziell geregelt. Einer Schadensersatzpflicht wegen nicht ordnungsgemäßer Kapitalmarktinformationen sind nach diesen Vorschriften Grenzen gesetzt. Insbesondere sehen die dem individuellen Anlegerschutz dienenden §§ 37b, 37c WpHG einen Schadensersatzanspruch ausschließlich gegen den Emittenten, nur wegen unterlassener oder unwahrer Insiderinformationen und nur unter bestimmten weiteren Voraussetzungen vor. Zudem sind §§ 15 und 20a WpHG nach zutreffender Auffassung keine Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB, so dass aus dem bloßen Verstoß gegen diese Vorschriften kein Schadensersatzanspruch folgt. Daneben kommt eine Kapitalmarktinformationshaftung insbesondere aus § 826 BGB in Betracht. Diese hohen Anforderungen an eine Schadensersatzpflicht würden durch die Anwendung der §§ 3 ff., 9 UWG a. F. unterlaufen, die beispielsweise Fälle nicht nur (grob) fehlerhafter, sondern auch bereits zur Irreführung geeigneter Kapitalmarktinformationen erfassten und zudem eine Ersatzpflicht bereits bei einfacher Fahrlässigkeit begründeten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_598">598</a></dt> <dd><p>Gegen eine Anwendung des UWG spricht auch, dass § 37b Abs. 5, § 37c Abs. 5 WpHG bestimmten, dass weitergehende Ansprüche, die nach Vorschriften des bürgerlichen Rechts aufgrund von Verträgen oder vorsätzlichen unerlaubten Handlungen erhoben werden können, unberührt bleiben. Schadensersatzansprüche nach dem UWG blieben also nicht unberührt und sind somit ausgeschlossen (Fuchs in: Fuchs, 2. Aufl., §§ 37b, 37c, Rn. 52; Sethe in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., §§ 37b, c, Rn. 139). Zwar betrifft diese Regelung nur fehlerhafte oder unterbliebene Ad-hoc-Informationen des Emittenten und nicht sonstige Kapitalmarktinformationen anderer Kapitalmarktteilnehmer. Allerdings wird gerade Ad-hoc-Informationen von Kapitalmarktteilnehmern ein besonderes Vertrauen entgegengebracht. Es stellte deshalb einen Wertungswiderspruch dar, sonstige Sekundärmarktinformationen durch (bloße) Pressemitteilungen geringeren Haftungsvoraussetzungen zu unterstellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_599">599</a></dt> <dd><p>(3) Dem steht das Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg vom 19. Juli 2006 (5 U 10/06, juris Rn. 20 ff.) nicht entgegen. Zwar hat das Oberlandesgericht angenommen, dass in einer unrichtigen oder missverständlichen Ad-hoc-Mitteilung nach § 15 WpHG eine Wettbewerbshandlung i.S.d. § 3 UWG a.F. gesehen werden könne. Der dortige Fall wies jedoch die Besonderheit auf, dass die Mitteilung zugleich deshalb als Werbung für das operative Geschäft anzusehen war, weil sie die Schlussfolgerung hervorrief, dass sich die Preisgestaltung des Unternehmens günstiger gestalten werde. Ein solcher Zusammenhang mit dem operativen Geschäft besteht bei den vorliegenden Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1 gerade nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_600">600</a></dt> <dd><p>bb) Die beanstandeten Verhaltensweisen der Musterbeklagten zu 1 waren zudem – eine Anwendbarkeit des Lauterkeitsrechtes unterstellt – zumindest überwiegend nicht unlauter i.S.d. §§ 3 ff. UWG a.F.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_601">601</a></dt> <dd><p>(1) Die Verhaltensweisen der Musterbeklagten zu 1 waren zumindest überwiegend nicht nach § 4 Nr. 11 UWG a.F. i.V.m. § 20a WpHG unlauter. Dabei kann offen bleiben, ob es sich bei letztgenannter Vorschrift um eine Marktverhaltensregelung in diesem Sinne handelt. Die Musterbeklagte zu 1 hat jedenfalls überwiegend (vgl. aber betreffend die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 näher Rn. 542 ff., 546 ff.) nicht gegen § 20a WpHG verstoßen. Insbesondere hat sie zumindest weitgehend keine unrichtigen oder irreführenden Angaben nach § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG gemacht. Auch die durchaus missverständlich formulierte Pressemitteilung vom 10. März 2008 war aufgrund der genannten Umstände nicht eindeutig unrichtig. Sie legte beim Informationsempfänger aufgrund dieser Umstände auch nicht eine falsche Vorstellung über den geschilderten Sachverhalt nahe und war damit nicht irreführend (näher: Rn. 124 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_602">602</a></dt> <dd><p>Ebenso wenig handelt es sich bei den beanstandeten Verhaltensweisen um irreführende Werbung i.S.d. § 5 UWG a.F. Selbst wenn einzelne der angesprochenen Marktteilnehmer insbesondere die Erklärung vom 10. März 2008 als abschließendes Dementi einer Beherrschungsabsicht verstanden haben sollten, handelte es sich dabei nicht um einen erheblichen Teil des angesprochenen Verkehrskreises, der einen solchen möglicherweise falschen Eindruck gewinnen konnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_603">603</a></dt> <dd><p>(2) Die beanstandeten Verhaltensweisen der Musterbeklagten zu 1 stellten auch keine unangemessene Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit anderer Marktteilnehmer i.S.d. § 4 Nr. 1 UWG a.F. und keine gezielte Behinderung von Mitbewerbern nach § 4 Nr. 10 UWG a.F. dar. Auch sonst waren sie nicht nach § 3 UWG a.F. unlauter.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_604">604</a></dt> <dd><p>2. Eine Haftung der Musterbeklagten zu 2 kommt ebenfalls bereits dem Grunde nach unter keinem Gesichtspunkt in Betracht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_605">605</a></dt> <dd><p>a) Die Musterbeklagte zu 2 haftet nicht nach § 37b WpHG dafür, die behauptete <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> der Vorstände der Musterbeklagten zu 1 nicht unverzüglich veröffentlicht zu haben. Dass sie den behaupteten Umstand der Unrichtigkeit der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 26. Oktober 2008 nicht veröffentlicht hatte, begründet schon deshalb keine Haftung, weil eine solche Unrichtigkeit nicht vorlag.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_606">606</a></dt> <dd><p>Die Schadensersatzpflicht nach § 37b WpHG setzt voraus, dass zumindest einzelne Mitglieder des Vorstands der Musterbeklagten zu 2 Kenntnis von dieser Beherrschungsabsicht hatten oder ihr die Kenntnis anderer Stellen zuzurechnen war. Die Darlegungs- und Beweislast für eine solche Kenntnis tragen die Musterklägerin bzw. die Beigeladenen. Eine Kenntnis des Vorstands ist nicht mit Substanz vorgetragen. Umstände, die zu einer Zurechnung führen könnten, liegen nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_607">607</a></dt> <dd><p>aa) Nach § 37b WpHG haftet ein Emittent dafür, eine ihn betreffende Insiderinformation nicht unverzüglich veröffentlicht zu haben. Diese Haftung setzt die Kenntnis des Emittenten von der Insiderinformation voraus. Abhängig von der Auslegung der §§ 15, 37b WpHG kann auch die auf grober Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis ausreichen, was im vorliegenden Fall aber ausscheidet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_608">608</a></dt> <dd><p>Offen bleiben kann insoweit, ob – wozu der Senat neigt – das Erfordernis dieser Kenntnis bereits Voraussetzung der Veröffentlichungspflicht nach § 15 WpHG selbst ist (so: Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl., § 15 Rn. 125, 328 ff.; Frowein in: Habersack/Mülbert/Schlitt, Hdb. der Kapitalmarktinformation, 2. Aufl., § 10 Rn. 24 [i. Erg. ebenso in der 3. Aufl., § 10 Rn. 17]; Buck-Heeb, AG 2015, 801; Leyendecker-Langner/Kleinhenz, AG 2015, 72, 76; Wilken/Hagemann, BB 2016, 67, 70; Sajnovits, WM 2016, 765 f.; Ihrig, ZHR 181 (2017), 381, 382 ff.; Koch AG 2019, 273, 276 ff.; i. Erg. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 4. März 2010 – 6 U 94/09, juris Rn. 82 f.; vgl. zum neuen Recht auch Assmann in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014, Rn. 50 m.w.N. auch zur Gegenauffassung; a.A.: LG Stuttgart, Vorlagebeschluss vom 28. Februar 2017 – 22 AR 1/17 Kap, juris Rn. 158 m.w.N.; Schneider in: Habersack/Mülbert/Schlitt, 3. Aufl., § 2 Rn. 54; Klöhn in: KK-WpHG, 2. Aufl., § 15 Rn. 58, 62; ders. Rechtsgutachten vom 31. August 2018 [Anlage MK 148], S. 20 ff.; Hellgardt, DB 2012, 673, 675; vgl. zum neuen Recht auch Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., § 97 WpHG Rn. 89).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_609">609</a></dt> <dd><p>Jedenfalls folgt die Notwendigkeit der Kenntnis – bzw. der grob fahrlässigen Unkenntnis – aus der Verschuldensabhängigkeit der Haftung nach § 37b WpHG (weitergehend: Thomale NZG 2018, 1007, 1009; ders. AG 2019, 189, 190 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_610">610</a></dt> <dd><p>bb) Dabei ist grundsätzlich der Vorstand als Vertreter des Emittenten gemäß § 76 Abs. 1 AktG für die Erfüllung der kapitalmarktrechtlichen Ad-hoc-Publizitätspflichten verantwortlich (OLG Braunschweig, Beschluss vom 18. November 2021 – 3 Kap 1/16, juris Rn. 67; Assmann in: Assmann/Schneider, § 15 Rn. 49) und hat sich dazu die erforderliche eigene Kenntnis von Insiderinformationen über interne Organisationsabläufe zu verschaffen (Pfüller, a.a.O., § 15 Rn. 125, 333; Buck-Heeb, AG 2015, 801, 806). Der Emittent hat es dementsprechend nach verbreiteter Auffassung zu vertreten, wenn seine interne Informationsorganisation nicht funktioniert, so dass es im Ergebnis zu einer Wissenszurechnung kommen kann (Pfüller, a.a.O., Rn. 125, 329 ff.; krit.: OLG Braunschweig, a.a.O., Rn. 67 ff., 76 ff. m.w.N.; näher zur Wissenszurechnung auch Rn. 629 ff.), sofern die Wissensträger nicht gegenüber Dritten zur Verschwiegenheit verpflichtet sind (z.B. BGH, Urteil vom 26. April 2016 – XI ZR 108/15, juris Rn. 30; vgl. näher Rn. 631 ff., 658, 662). Eine eigene Verpflichtung des Aufsichtsrats zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen besteht daher grundsätzlich nicht (vgl. auch Reichert/Brandes, MüKo-AktG, 5. Aufl., Art. 49 SE-VO, Rn. 16 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_611">611</a></dt> <dd><p>Soweit demgegenüber vertreten wird, die Ad-hoc-Publizitätspflicht träfe auch den Aufsichtsrat (M., Rechtsgutachten vom 23. September 2017, Anlage MK 77, S. 19 ff.), folgt der Senat dem nicht. Auch in Fällen, in denen eine Gesellschaft zur Offenbarung gesetzlich verpflichtet ist, hat allein der Vorstand über diese Offenbarung zu entscheiden (BGH, Urteil vom 26. April 2016 – XI ZR 108/15, juris Rn. 35). Ein Sonderfall, in dem Insiderwissen eine Entscheidung des Aufsichtsrats in einem Bereich betrifft, in dem dieser wie insbesondere bei der Personalkompetenz nach § 84 AktG ausschließlich vertretungs- und geschäftsführungsbefugt ist und für den weitergehende Zuständigkeiten im Bereich der Kapitalmarktkommunikation diskutiert werden (dazu: Assmann, a.a.O. [7. Aufl.], Rn. 95, Pfüller, a.a.O., Rn. 426 f., jew. m.w.N.), liegt nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_612">612</a></dt> <dd><p>cc) Die Darlegungs- und Beweislast für die Kenntnis des Vorstands – bzw. für die Kenntnis eines Mitarbeiters, die dem Emittenten zuzurechnen wäre – trägt nach allgemeinen Grundsätzen der Gläubiger. Zwar kann die durch § 37b Abs. 2 WpHG begründete Beweislastumkehr eingreifen, soweit es um die Feststellung von Umständen geht, die für die Prüfung der Frage erheblich sind, ob der Vorstand die organisatorischen Vorkehrungen getroffen hat, die zur rechtzeitigen Kenntniserlangung zur Erfüllung der Ad-hoc-Mitteilungspflicht erforderlich sind. Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Gläubiger zunächst hinreichende Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass eine Kenntnis solcher Umstände überhaupt an irgendeiner Stelle im Unternehmen vorhanden ist und sich der Vorstand mit organisatorischen Vorkehrungen Kenntnis hätte verschaffen können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_613">613</a></dt> <dd><p>§ 37b Abs. 2 WpHG wird zwar verbreitet dahin verstanden, dass sich der Emittent aufgrund der Beweislastumkehr auch dahingehend entlasten müsse, dass der Vorstand bzw. diejenigen Personen in seinem Unternehmen, deren Kenntnis ihm zuzurechnen wäre, keine Kenntnis von der Insidertatsache gehabt hätten (OLG Braunschweig, Beschluss vom 18. November 2021 – 3 Kap 1/16, juris Rn. 83, 90; Möllers/Leisch in: KK-WpHG, 2. Aufl., §§ 37b, c, Rn. 173 [beachte aber Rn. 150, wonach den Emittenten betreffend die Unverzüglichkeit nur eine sekundäre Darlegungslast treffe]; Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., § 97 WpHG, Rn. 112; Nietsch, ZIP 2018, 1421, 1427; a.A.: Thomale AG 2019, 189, 194). Dieser Auffassung folgt der Senat so aber nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_614">614</a></dt> <dd><p>§ 37b Abs. 2 WpHG ist von seinem Telos und den gesetzgeberischen Motiven her einschränkend dahingehend auszulegen, dass er erst dann greift, wenn in dem Unternehmen des Emittenten überhaupt an irgendeiner Stelle Kenntnis von der Insidertatsache vorhanden ist oder erlangt werden könnte, auf die der Emittent Zugriff hat. Dies ist – soweit von dem Emittenten bestritten – von dem Gläubiger mit hinreichenden Anhaltspunkten (vgl. dazu OLG Braunschweig, Beschluss vom 18. November 2021 – 3 Kap 1/16, juris Rn. 93 f.) darzulegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_615">615</a></dt> <dd><p>(1) Nach der Gesetzesbegründung sollte die Beweislast entsprechend den jeweils beherrschten Verantwortlichkeitsbereichen verteilt werden (Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 14/8017, S. 93). Dies rechtfertigt die Beweislastumkehr, soweit die zu beurteilenden Umstände im Tätigkeitsbereich des Anspruchsverpflichteten, also in seiner Sphäre liegen (Zimmer/Steinhaeuser in: Schwark/Zimmer, 5. Aufl., §§ 97, 98 WpHG, Rn. 75; ebenso K., Rechtsgutachten vom 31. August 2018 [Anlage MK 148], S. 74 f.). Entsprechend dieser Erwägung hat der Emittent beispielsweise seine interne Compliance-Organisation darzulegen, anhand derer ggf. die Zurechnung eines in seinem Geschäftsbereich vorhandenen Wissens zu beurteilen ist (Möllers/Leisch in: KK-WpHG, 2. Aufl., §§ 37b, c, Rn. 178 ff.), oder den Zeitpunkt, zu dem er eine bestimmte Information erlangt hat (Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., §§ 97, 98 WpHG, Rn. 112; Möllers/Leisch, a.a.O., Rn. 150), gegebenenfalls auch, inwieweit er von extern vorhandenen Umständen Kenntnis hätte erlangen können (Hellgardt, a.a.O.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_616">616</a></dt> <dd><p>Ist eine Insidertatsache demgegenüber im Unternehmen des Emittenten – bei Mitarbeitern, auf deren Wissen der Emittent Zugriff hat – nicht bekannt und bestand auch keine hinreichende Möglichkeit der Kenntniserlangung, ist sie nicht in den von diesem beherrschten und beherrschbaren Verantwortungsbereich gelangt. Es ist ihm in solchen Fällen auch nicht möglich, beispielweise durch eine sorgsame Dokumentation seine Beweisführung zu erleichtern (zu diesem Gesichtspunkt: Zimmer/Steinhaeuser, a.a.O.; Sethe, in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., §§ 37b, c WpHG, Rn. 104), so dass ihn im Falle einer Beweislastumkehr unbeherrschbare Haftungsrisiken träfen. Typischerweise ist dies betreffend die Pläne eines dritten Unternehmens der Fall, den Emittenten feindlich zu übernehmen; insoweit wird bereits die Veröffentlichungspflicht nach § 15 WpHG selbst von einem Teil der Literaturmeinungen verneint, die diese Veröffentlichungspflicht nicht an eine Kenntnis des Emittenten knüpfen (so: Hellgardt, a.a.O., Rn. 89; Assmann in Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 15 WpHG Rn. 71).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_617">617</a></dt> <dd><p>Im Ergebnis entsprechend betonen einige Stimmen, dass eine etwaige Darlegungslast des Emittenten für die negative Tatsache seiner Unkenntnis nicht überspannt werden dürfe. Soweit der Emittent eine Kenntnis im Rahmen des ihm möglichen Vortrags bestritten habe, müsse der Gläubiger aufgrund einer sekundären Darlegungslast hinreichende Anhaltspunkte für eine Kenntnis des Emittenten vortragen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 4. März 2010 – 6 U 94/09, juris Rn. 104; Urteil vom 7. April 2011 – 6 U 7/10, juris Rn. 162; i. Erg. ähnlich: Möllers/Leisch, a.a.O., Rn. 150).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_618">618</a></dt> <dd><p>Soweit das Oberlandesgericht Braunschweig die Auffassung vertreten mag, den Emittenten treffe auch für die (Un-)Kenntnis der Insiderinformation eine umfassendere Darlegungslast (a.a.O., Rn. 90), dürften gesteigerte Anforderungen in dem dortigen Fall damit zu rechtfertigen sein, dass die fragliche Insiderinformation – anders als vorliegend – aus der Sphäre des Emittenten stammte und lediglich die Kenntnis der Vorstandsmitglieder in Frage stand.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_619">619</a></dt> <dd><p>(2) Vorliegend braucht die Musterbeklagte zu 2 ihre Kenntnis nicht konkreter zu bestreiten. Eine Kenntnis derjenigen Mitarbeiter, deren Wissen ihr zuzurechnen ist oder auf deren Wissen sie auch nur Zugriff hatte, kann sie bei fehlender Kenntnis nur pauschal bestreiten. Gleiches gilt für streitige Gespräche zwischen Prof. Dr. P. und ihrem Vorstandsvorsitzenden. In ihrem Aufsichtsrat vorhandenes Wissen war ihr aus Rechtsgründen nicht zuzurechnen (näher: Rn. 629 ff.). Sie hatte und hat aufgrund der diese Aufsichtsratsmitglieder treffenden Verschwiegenheitspflichten (dazu näher Rn. 631 ff., 658, 662) auch unabhängig von der Frage der Wissenszurechnung keine Möglichkeit, auf dieses Wissen zuzugreifen. Eine Möglichkeit, Informationen über die Übernahmeabsicht bei der Musterbeklagten zu 1 selbst zu erlangen, bestand naheliegend nicht; nach dem Vortrag der Musterklägerin handelte es sich um das bestgehütete Geheimnis der Musterbeklagten zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_620">620</a></dt> <dd><p>dd) Eine eigene Kenntnis des Vorstands der Musterbeklagten zu 2 kann der Senat nicht feststellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_621">621</a></dt> <dd><p>(1) Soweit die Musterklägerin behauptet, der damalige Vorstandsvorsitzende Dr. W. habe von der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> aufgrund von eingeholten <em>„Analysen und Studien“</em> zu den Plänen der Musterbeklagten zu 1 sowie aus Gesprächen mit Prof. Dr. P. gewusst, ist dies ohne die erforderliche Substanz, worauf der Senat mit Beschluss vom 26. Oktober 2017 hingewiesen hat (vgl. zu Substantiierungsanforderungen auch OLG Braunschweig, Beschluss vom 18. November 2021 – 3 Kap 1/16, juris Rn. 93 f.). Dass Prof. Dr. P. den vormaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. B. P. bis zum Ablauf von dessen Tätigkeit am 31. Dezember 2006 über entsprechende Absichten der Musterbeklagten zu 1 informiert hätte, trägt die Musterklägerin selbst nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_622">622</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin hat den Inhalt der nach ihrer Darstellung von der Musterbeklagten zu 2 eingeholten <em>„Analysen und Studien“</em> nicht näher dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_623">623</a></dt> <dd><p>Sofern die behaupteten <em>„Analysen und Studien“</em> auf öffentlich bekannten Informationen über den Beteiligungsaufbau der Musterbeklagten zu 1 sowie den in einzelnen Presseveröffentlichungen gezogenen Schlussfolgerungen beruht haben sollten, könnten sie eine Kenntnis der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> als Insiderinformation ohnehin nicht begründen. Die Umstände, die auf eine solche Beherrschungsabsicht schließen lassen könnten, waren durch die vorangegangenen Kapitalmarkinformationen der Musterbeklagten zu 1 und die Presseberichterstattung einem breiten Anlegerpublikum bereits öffentlich bekannt. Analysen und Bewertungen aufgrund solcher öffentlich bekannter Umstände sind nach § 13 Abs. 2 WpHG keine Insiderinformationen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_624">624</a></dt> <dd><p>Im Übrigen spricht der Umstand, dass die Musterbeklagte zu 2 über die möglichen Ziele des Beteiligungsaufbaus Analysen und Studien eingeholt haben soll, gerade gegen eine Kenntnis. Hätte eine solche Kenntnis bei der Musterbeklagten zu 2 bestanden, hätte es derartiger Analysen und Studien nicht bedurft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_625">625</a></dt> <dd><p>(2) Auch der von der Musterbeklagten zu 2 bestrittene Vortrag der Musterklägerin (Schriftsatz vom 1. Mai 2017, Rn. 623), dem Vorstand der Musterbeklagten zu 2 sei die <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“ </em>durch vielfältige Gespräche mit Prof. Dr. P. bekannt gewesen, ist unzureichend (vgl. auch Hinweisbeschluss des Senats vom 26. Oktober 2017).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_626">626</a></dt> <dd><p>Die Musterklägerin trägt bereits widersprüchlich vor, da sie im Rahmen der Diskussion einer Wissenszurechnung ausdrücklich darauf abstellt, dass Prof. Dr. P. seine Kenntnisse gerade nicht an den Vorstand der Musterbeklagten zu 2 weitergeben habe (Schriftsatzes vom 1. Mai 2017, Rn. 648). Zwar darf eine Partei ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits ändern, insbesondere präzisieren, ergänzen oder berichtigen. Deshalb darf ein Kläger, sofern er seine Wahrheitspflicht nicht bewusst verletzt (§ 138 Abs. 1 ZPO), in tatsächlicher Hinsicht widersprechende Begründungen geben, wenn er das Verhältnis dieser Begründungen zueinander klarstellt, sie also nicht als ein einheitliches Vorbringen geltend macht (BGH, Beschluss vom 16. April 2015 – IX ZR 195/14, juris Rn. 16; BeckOK ZPO/von Selle, 45. Ed., § 138 Rn. 34). Eine solche Klarstellung seitens der Musterklägerin ist aber – auch auf den gerichtlichen Hinweis vom 26. Oktober 2017 hin – nicht erfolgt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_627">627</a></dt> <dd><p>Zwar darf einer Partei nicht verwehrt werden, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Punkte zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann. Sie kann deshalb genötigt sein, eine von ihr nur vermutete Tatsache zu behaupten und unter Beweis zu stellen. Unzulässig wird ein solches prozessuales Vorgehen erst dort, wo die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen <em>„aufs Geratewohl"</em> oder <em>„ins Blaue hinein"</em> aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können (BGH, Beschluss vom 16. April 2015, a.a.O., juris Rn. 13; BeckOK ZPO/von Selle, 45. Ed., § 138 Rn. 32). Anhaltspunkte dafür, dass Prof. Dr. P. den Vorstandsvorsitzenden Dr. W. über die Beherrschungsabsicht informiert habe, fehlen jedoch. Sie haben sich insbesondere nicht aus dem gegen Dr. W. und H. gerichteten Ermittlungs- und Strafverfahren, soweit die Musterverfahrensbeteiligten darauf Bezug genommen haben, ergeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Musterklägerin umfangreich Auszüge aus stenografischen Mitschriften der dortigen Hauptverhandlung vorgelegt hat, über deren Inhalt mithin umfassend informiert ist. Entsprechende Äußerungen der Beteiligten gegenüber der Presse hat die Musterklägerin gleichfalls nicht dargelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_628">628</a></dt> <dd><p>Schließlich hat die Musterklägerin selbst eine E-Mail des rechtlichen Beraters der Musterbeklagten zu 1 Dr. B. vom 12. Oktober 2008 zitiert (Schriftsatz vom 29. Oktober 2018, Bl. 6231 f.), der dort angeraten hatte, Prof. Dr. P. zunächst nicht mit der Möglichkeit zu konfrontieren, ihn als Aufsichtsratsvorsitzenden der Musterbeklagten zu 2 abzuwählen, <em>„um Störmanöver beim weiteren Beteiligungsaufbau (z.B. Schaffung von Insidertatsachen bei VW) auszuschließen.“</em> Dieser Vortrag der Musterklägerin spricht dafür, dass nach Auffassung von Dr. B. – und wohl auch nach Auffassung des Vorstands der Musterbeklagten zu 1, an dessen Mitglied H. die E-Mail gerichtet war – zum damaligen Zeitpunkt kein Insiderwissen bei der Musterbeklagten zu 2 vorhanden war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_629">629</a></dt> <dd><p>ee) Wissen des Aufsichtsrats der Musterbeklagten zu 2 bzw. einzelner Aufsichtsratsmitglieder von einer <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> der Musterbeklagten zu 1 oder von der – unterstellten – Unrichtigkeit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 ist dem Vorstand der Musterbeklagten zu 2 nicht zuzurechnen. Dabei kann offen bleiben, ob im Rahmen der Haftung nach §§ 37b, c WpHG überhaupt Wissen zugerechnet wird, das außerhalb des Kreises der Vorstandsmitglieder vorhanden ist (grundsätzlich ablehnend: OLG Braunschweig, Beschluss vom 18. November 2021 – 3 Kap 1/16, juris Rn. 67 ff., 76 ff. m.w.N.; Koch AG 2019, 273, 278 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_630">630</a></dt> <dd><p>(1) Selbst wenn der Gesellschafterausschuss und der Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 1 über eine <em>„konkrete Beherrschungsabsicht“</em> des Vorstands der Musterbeklagten zu 1 oder über eine – unterstellte – Unrichtigkeit der Mitteilung vom 26. Oktober 2008 informiert gewesen wären, wäre dieses Wissen der Doppelmandatsträger Prof. Dr. P. und Dr. Po. dem Vorstand der Musterbeklagten zu 2 nicht zuzurechnen. Grundsätzlich wird der Gesellschaft zwar aufgrund der Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation das innerhalb des Unternehmens vorhandene Wissen ihrer Organmitglieder und Mitarbeiter zugerechnet (vgl. näher: Sethe in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., §§ 37b, 37c Rn. 102 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_631">631</a></dt> <dd><p>(a) Einer solchen Zurechnung steht hier aber die Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder der Musterbeklagten zu 1 nach Art. 49 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der europäischen Gesellschaft (SE) [im Folgenden: SE-VO] i.V.m. § 116 Satz 1, § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG entgegen, die nach § 404 Abs. 1 AktG i.V.m. § 53 des Gesetzes zur Ausführung der SE-VO strafbewehrt ist. In solchen Fällen einer Verschwiegenheitspflicht scheidet nach ganz herrschender Auffassung (vgl. zur Verschwiegenheitspflicht nach § 116 Satz 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG: BGH, Urteil vom 26. April 2016 – XI ZR 108/15, juris Rn. 29 ff., 37; vgl. auch OLG Celle, Urteil vom 24. August 2011 – 9 U 41/11, II. 2. d) [Anlage MBPor 117] sowie allg. auch BGH, Urteil vom 26. April 2016 – XI ZR 114/15; speziell zur Wissensrechnung im Bereich der Ad-hoc-Publizität: Buck-Heeb, AG 2015, 801, 810 f.; Verse, AG 2015, 413, 417 f.; Sajnovits, WM 2016, 765, 771 f.; Ihrig, ZHR 181 (2017), 381, 399/409; Assmann, a.a.O. [7. Aufl.], Rn. 58; a.A. Schwintowski ZIP 2015, 617, 619/621 f.; dag. zutr. Koch, ZIP 2015, 1757, 1763), der sich der Senat anschließt, eine Wissenszurechnung aus. Ob das Wissen von Aufsichtsratsmitgliedern der Gesellschaft überhaupt zugerechnet werden kann, kann an dieser Stelle offenbleiben (vgl. dazu näher Rn. 661).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_632">632</a></dt> <dd><p>(aa) Bei der Musterbeklagten zu 1 handelt es sich um eine europäische Aktiengesellschaft (SE). Für eine SE gelten zunächst die Bestimmungen der SE-VO und im Weiteren gem. Art. 9 Abs. 1 c) ii) SE-VO auch die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die auf eine nach dem Recht des Sitzstaats der SE gegründete Aktiengesellschaft Anwendung finden würden, so dass für die Musterbeklagte zu 1 mit ihrem Sitz in S. das deutsche Aktiengesetz Anwendung findet. Danach waren die Aufsichtsratsmitglieder der Musterbeklagten zu 1, die nach Behauptung der Musterklägerin über eine Kenntnis der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> verfügten, zur Verschwiegenheit verpflichtet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_633">633</a></dt> <dd><p>(bb) Nach Art. 49 SE-VO unterliegen Mitglieder des Aufsichtsorgans einer SE einer Verschwiegenheitspflicht, die nicht nur vertrauliche Angaben und Geschäftsgeheimnisse, sondern alle Informationen umfasst, deren Verbreitung den Interessen der Gesellschaft schaden könnte, unabhängig davon, ob diese bereits bekannt sind. Über den Wortlaut der deutschen Übersetzung hinaus gilt diese Verschwiegenheitspflicht bereits während der Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder (Teichmann in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., Art. 49 SE-VO, Rn. 4 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 7. Aufl., § 19 Rn. 1391).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_634">634</a></dt> <dd><p>Die Einzelheiten der behaupteten <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> der Musterbeklagten zu 1 unterfielen dieser Verschwiegenheitspflicht, weil ihre Verbreitung den Interessen der Gesellschaft hätte schaden können, soweit die Musterbeklagte zu 1 sie nicht ohnehin durch die verschiedenen Pressemitteilungen etc. öffentlich bekannt gemacht hatte. Nach dem eigenen Vortrag der Musterklägerin sollte der Beteiligungsaufbau geheim erfolgen, um seinen Erfolg nicht zu gefährden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_635">635</a></dt> <dd><p>(cc) Nach § 93 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 116 AktG sind nur solche Informationen Gegenstand der Verschwiegenheitspflicht, die das Aufsichtsratsmitglied auf Grund seiner organschaftlichen Betätigung oder zumindest im Hinblick auf diese erlangt hat (Habersack in: MüKo-AktG, 5. Aufl., § 116 Rn. 52). Informationen, die ohne jeden Zusammenhang mit der Organstellung erlangt worden sind, unterliegen nicht der organschaftlichen Verschwiegenheitspflicht. Ihre Offenlegung oder Verwendung für eigene Zwecke kann allerdings gegen die allgemeine Treupflicht verstoßen (Habersack, a.a.O., Rn. 53). Nach dem Vortrag der Musterklägerin haben Prof. Dr. P. und Dr. Po. ihre Kenntnis bei den Sitzungen des Gesellschafterausschusses und des Aufsichtsrates der Musterbeklagten zu 1 erlangt. Dies betraf ihre Organstellung als Aufsichtsratsmitglieder der Musterbeklagten zu 1. Die Ansicht der Musterklägerin, das Wissen von Prof. Dr. P. beruhe nicht auf seiner Stellung als Aufsichtsratsmitglied der Musterbeklagten zu 1, weil er die Insiderinformation selbst erzeugt habe, indem er den Übernahmeplan mit geschmiedet habe, rechtfertigt ein abweichendes Ergebnis nicht. Soweit Prof. Dr. P. in dem Gesellschafterausschuss über das Ziel der Beherrschung mitentschieden hätte, bestünde ein enger Zusammenhang mit seiner Organstellung als Aufsichtsratsmitglied der Musterbeklagten zu 1. Die fraglichen Sitzungen des Gesellschafterausschusses dienten der Vorbereitung von Aufsichtsratssitzungen oder standen zumindest im Zusammenhang mit der Ausübung des Aufsichtsratsmandates. Die Musterklägerin beruft sich gerade darauf, dass Beschlüsse des Gesellschafterausschusses für die dem Ausschuss angehörenden Aufsichtsratsmitglieder bindend für die Ausübung ihres Stimmrechts gewesen seien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_636">636</a></dt> <dd><p>Im Übrigen schließt die Verschwiegenheitspflicht aus § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG eine Wissenszurechnung generell aus, so dass es unerheblich ist, ob das Aufsichtsratsmitglied das Wissen etwa privat erlangt hat (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2016, a.a.O., juris Rn. 37).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_637">637</a></dt> <dd><p>Schließlich differenziert auch Art. 49 SE-VO ohnehin nicht danach, ob das Organmitglied die Information durch seine Tätigkeit im Organ erlangt hat (Reichert/Brandes in: MüKo-AktG, 5. Aufl., Art. 49 SE-VO, Rn. 6).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_638">638</a></dt> <dd><p>(b) Es bestand keine Ausnahme von dieser Verschwiegenheitspflicht nach Art. 49 Halbs. 2 SE-VO. Hiernach ist eine Informationsweitergabe zulässig, wenn dies nach den Bestimmungen des für Aktiengesellschaften geltenden einzelstaatlichen Rechts vorgeschrieben oder zulässig ist oder im öffentlichen Interesse liegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_639">639</a></dt> <dd><p>(aa) Nach entsprechendem nationalen Recht war eine Informationsweitergabe nicht vorgeschrieben. Im Gegenteil stünde dieser die Verschwiegenheitspflicht des Aufsichtsratsmitglieds einer Aktiengesellschaft nach § 116 Satz 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG entgegen (vgl. näher BGH, Urteil vom 26. April 2016, a.a.O., Rn. 32 ff.). Soweit die entsprechenden Einzelheiten der behaupteten <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“ </em>nicht bereits öffentlich bekannt gemacht worden waren, handelte es sich um vertrauliche Angaben bzw. ein Geheimnis der Musterbeklagten zu 1 im Sinne dieser Vorschriften.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_640">640</a></dt> <dd><p>(aaa) Soweit in der Kommentierung und Literatur die Ansicht vertreten wird, dass die Verschwiegenheitspflicht dort ihre Grenze findet, wo eine gesetzliche Pflicht zur Offenlegung bestimmter Tatsachen – wie z.B. aus § 15 WpHG – besteht (vgl. Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl., § 93 Rn. 26; Teichmann, a.a.O., Art. 49 SE-VO, Rn. 9; Reichert/Brandes, a.a.O., Rn. 10.; Mülbert/Sajnovits, NJW 2016, 2540, 2541; Bank, NZG 2013, 801, 802; anders Habersack, a.a.O., § 116 Rn. 54, der eine Verschwiegenheitspflicht bejaht, es aber als Aufgabe des Aufsichtsratsmitglieds ansieht, auf eine Pflichterfüllung durch den Vorstand hinzuwirken), ist dies für die Frage der Wissenszurechnung bei der Musterbeklagten zu 2 unerheblich. Denn die Frage, ob wegen § 15 WpHG die Verschwiegenheitspflicht aufgehoben ist, hat Prof. Dr. P. und Dr. Po. als Aufsichtsratsmitglieder der Musterbeklagten zu 1 als Ausgangsgesellschaft betroffen. Selbst wenn die Gesellschaft – hier die Musterbeklagte zu 1 – unter Verstoß gegen § 15 WpHG eine bestimmte Information noch nicht dem Kapitalmarkt bekanntgemacht hätte, rechtfertigte dies für das einzelne Aufsichtsratsmitglied nicht die Preisgabe an Dritte. Das betreffende Aufsichtsratsmitglied wäre auch nach der in Bezug genommenen Auffassung gerade noch nicht von seiner Verschwiegenheitspflicht nach § 116 AktG entbunden, so dass in dieser Phase keine Wissenszurechnung in Betracht kommt (Mülbert/Sajnovits, NJW 2016, 2540, 2541 f.; vgl. auch Reichert/Brandes, a.a.O., Rn. 16 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_641">641</a></dt> <dd><p>Im Übrigen ist allein der Vorstand <em>„Herr der Gesellschaftsgeheimnisse"</em> und kann im Einzelfall nach sorgfältiger Abwägung der widerstreitenden Interessen für eine Offenbarung optieren und die betreffende vertrauliche Angabe oder das Geheimnis öffentlich machen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen die Gesellschaft zur Offenbarung vertraglich oder gesetzlich verpflichtet ist. Auch hier liegt es in der Entscheidungsgewalt des Vorstands, wann und wie er welche Informationen zur Erfüllung der Verpflichtung der Gesellschaft offenbart (BGH, Urteil vom 26. April 2016, a.a.O., juris Rn. 35). Eine Entscheidung zur Offenbarung hat der Vorstand der Musterbeklagten zu 1 auch nach dem Vorbringen der Musterklägerin nicht getroffen. Dies gilt – wie dargestellt – entsprechend im Recht der SE.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_642">642</a></dt> <dd><p>(bbb) Eine mögliche Pflichtenkollision eines Aufsichtsratsmitglieds aufgrund seiner Mitgliedschaft in den Aufsichtsräten verschiedener Gesellschaften rechtfertigte entgegen der Auffassung der Musterklägerin (vgl. dazu auch M., Rechtsgutachten vom 23. September 2017, Anlage MK 77, S. 28) eine Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht nicht. Zwar kann ein Aufsichtsratsmitglied ohne die durch die Doppelmandatsstellung begründete Verschwiegenheitspflicht aufgrund von Treuepflichten zur Offenbarung von Insiderwissen verpflichtet sein. Der im Ausgangspunkt zutreffend gesehene Wertungswiderspruch ist aber nicht durch ein Zurücktreten der Verschwiegenheitspflicht zu lösen. Vielmehr ist dieses Spannungsfeld durch den Gesetzgeber zu Gunsten der von der Schweigepflicht geschützten Gesellschaft entschieden worden (vgl. näher BGH, Urteil vom 26. April 2016, a.a.O., Rn. 33 m.w.N.). Dies gilt selbst bei gezieltem Eingehen von Interessenkonflikten, weil solche Konflikte bewusst im System angelegt sind (BGH, a.a.O., Rn. 32 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_643">643</a></dt> <dd><p>(bb) Eine Informationsweitergabe war auch nicht deshalb nach Art. 49 Halbs. 2 SE-VO zulässig, weil sie im öffentlichen Interesse gelegen hätte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_644">644</a></dt> <dd><p>Die Verschwiegenheitspflicht des Aufsichtsrats sichert dessen gesetzliche Überwachungs- und Beratungsfunktion ab, weil sie das notwendige Korrelat zu den umfassenden Informationsrechten des Aufsichtsrats bildet und der Vorstand den Aufsichtsrat frühzeitig über sensible Vorfälle, Daten und Vorhaben informieren kann, ohne dass er die Weitergabe und die damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteile für das Unternehmen befürchten muss (zum nationalen Recht: BGH, Urteil vom 26. April 2016, a.a.O., Rn. 32 m.w.N.). Diese auf das nationale Recht der Aktiengesellschaft bezogenen Grundsätze gelten gleichermaßen für die Europäische Gesellschaft. Das Aufsichtsorgan hat dort nach Art. 40 f. SE-VO vergleichbare Funktionen und Informationsrechte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_645">645</a></dt> <dd><p>Eine Informationsweitergabe kann in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein, wenn gesellschaftsinterne Mechanismen versagt haben und die Aufdeckung gravierender Missstände im öffentlichen Interesse geboten erscheint (Teichmann, a.a.O., Art. 49 SE-VO Rn. 11 f.; Reichert/Brandes, a.a.O., Art. 49 SE-VO Rn. 15). Dies rechtfertigte wiederum allenfalls eine Weitergabe von Insiderinformationen an die Öffentlichkeit, wie es auch § 15 WpHG vorsieht, nicht aber eine Verpflichtung des Aufsichtsratsmitglieds, ausschließlich die Zielgesellschaft zu informieren. Ohnehin liegt hier kein solcher Ausnahmefall vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_646">646</a></dt> <dd><p>(c) Die Verschwiegenheitspflicht wird auch nicht durch die europarechtlich fundierte Ad-hoc-Publizitätspflicht nach der Marktmissbrauchs-Richtlinie 2003/6/EG verdrängt. Zwar kommt dem kapitalmarktrechtlichen Insiderrecht erhebliche Bedeutung im Interesse der Marktintegrität und effizienter Finanzmärkte zu (vgl. EG 2, 24 RL 2003/6/EG). Entgegen der Auffassung der Musterklägerin (vgl. dazu M., Anlage MK 77, S. 33 ff.) verdrängt das Kapitalmarktrecht jedoch nicht gesellschaftsrechtliche zwingende Organkompetenzen. Die von der Musterklägerin in Bezug genommene Entscheidung des EuGH in Sachen Geltl/Daimler (Urteil vom 28. Juni 2012 – C-19/11, juris) behandelt nur die Frage, wann eine – beim zuständigen Organ vorhandene – Information hinreichend präzise war, um eine Publizitätspflicht zu begründen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_647">647</a></dt> <dd><p>Auch die weiter von der Musterklägerin angeführte Entscheidung des EuGH in Sachen Grøngaard/Bang (Urteil vom 22. November 2005 – C-384/02, juris) gibt für die vorliegende Frage nichts her. Sie bezieht sich allein auf die Auslegung von Art. 3 lit. a) RL 89/592/EG (entsprechend Art. 3 lit. a) RL 2003/6/EG) und damit auf die Frage, wann eine Information ohne Verstoß gegen das Insiderrecht weitergegeben werden darf. Sie enthält aber keine Aussage dazu, dass das Insiderrecht die ansonsten unzulässige Weitergabe einer Information forderte. Selbst wenn diese Entscheidung Aussagen zum nationalen Organisationsrecht enthielte (so wohl M., a.a.O. [Anlage MK 77], S. 32), führte dies nicht zur Zurückdrängung der Verschwiegenheitspflicht. Vielmehr wäre eine Weitergabe von Insiderinformationen nach dieser Entscheidung nur dann gerechtfertigt, wenn die Weitergabe für die Aufgabenerfüllung des Organs unerlässlich wäre (EuGH, a.a.O., Tz. 48). Dies ist jedoch nach den vorstehenden Erwägungen nicht der Fall; vielmehr war umgekehrt gerade die Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht für die Erfüllung der Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder unerlässlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_648">648</a></dt> <dd><p>Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV wegen der von der Musterklägerin aufgeworfenen Frage, ob die Verpflichtung zur Ad-hoc-Publizität eines Emittenten dann entfällt, wenn ein Mitglied des Aufsichtsrats des Emittenten über eine Insiderinformation verfügt, aufgrund eines Doppelmandats aber einer anderen Gesellschaft gegenüber nach Maßgabe nationalen Gesellschaftsrechts zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, kommt nicht in Betracht. Diese Vorlagefrage ist bereits nicht entscheidungserheblich. Eine Verpflichtung zur Ad-hoc-Mitteilung entsteht überhaupt erst dann, wenn das Aufsichtsratsmitglied mit Doppelmandat die Insiderinformationen an die zuständigen Organe der Zielgesellschaft weitergegeben hätte oder der Zielgesellschaft dessen Wissen zuzurechnen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_649">649</a></dt> <dd><p>Sofern – entsprechend der eingangs dargestellten Auffassung (Rn. 608) – die Kenntnis des Emittenten nicht als Voraussetzung der Publizitätspflicht selbst, sondern nur als Voraussetzung des Verschuldens nach § 37b Abs. 2 WpHG einzuordnen wäre, stünde einer Vorlage darüber hinaus entgegen, dass es der Unionsgesetzgeber den Mitgliedsstaaten überlassen hat, ob und inwieweit sie Schadensersatzansprüche zur Durchsetzung der Publizitätspflicht begründen (Thomale, AG 2019, 189, 190 m.w.N.). Aus diesem Grund scheiterte eine Ersatzpflicht jedenfalls mangels Verschulden, selbst wenn hinsichtlich der Publizitätspflicht eine Wissenszurechnung aus unionsrechtlichen Gründen anzunehmen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_650">650</a></dt> <dd><p>(d) Dass die Aufsichtsratsmitglieder möglicherweise einen Interessenkonflikt gegenüber der Musterbeklagten zu 2 hätten offenbaren und den Sitzungen des Aufsichtsrats fernbleiben müssen (vgl. dazu M., a.a.O. [Anlage MK 77], S. 26 f.), begründet nicht die Verpflichtung des Aufsichtsratsmitglieds zur Weitergabe von Insiderinformationen, sondern allenfalls zur Offenlegung gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. dem gesamten Aufsichtsrat, dass ein Interessenkonflikt besteht (vgl. auch Schütz in: Semler/von Schenck, Der Aufsichtsrat, 2015, Exkurs 1 zu § 100 AktG, Rn. 46 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_651">651</a></dt> <dd><p>(e) Die vorgenannten Grundsätze gälten auch bei Annahme eines faktischen Konzerns zwischen den beiden Musterbeklagten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_652">652</a></dt> <dd><p>Zwar besteht bei einem (faktischen) Konzern nach h.M. unter bestimmten Voraussetzungen keine Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem konzernleitenden Unternehmen (Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter, 4. Aufl., § 93 Rn. 26; Vetter in Schmidt/Lutter, 4. Aufl., § 311 Rn. 120a m.w.N.). Als konzernleitendes Unternehmen kommt hier aber – wenn überhaupt – nur die Musterbeklagte zu 1 und nicht die Musterbeklagte zu 2 in Betracht. Eine Informationspflicht des <em>„herrschenden“ </em>Unternehmens besteht nicht (Koch in: Koch, AktG, 16. Aufl., § 311 Rn. 36d f.; Werner, WM 2016, 1474, 1477 ff.). Etwas anders ergibt sich auch nicht aus § 311 AktG (Werner, WM 2016, 1474, 1477 f.; Verse, AG 2015, 413, 414 ff./418 f.; Koch ZIP 2015, 1757, 1763 ff.; Ihrig, ZHR 181 (2017), 381, 412; grundsätzlich ablehnend zur Wissenszurechnung im Konzern: Assmann in: Assmann/Schneider/Mülbert, 7. Aufl., Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rn. 59; Habersack in: Emmerich/Habersack Aktien-/GmbH-KonzernR, 10. Aufl., § 311 AktG, Rn. 87d; a.A. Schwintowski, ZIP 2015, 617, 618/622 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_653">653</a></dt> <dd><p>Von Informationsansprüchen und -rechten der Konzerngesellschaften untereinander ist die Frage zu unterscheiden, inwiefern auch einzelne Organwalter zu eigenständiger Information berechtigt sind. Insofern bleibt es aufgrund der Geschäftsführungskompetenz des Vorstands dabei, dass die Verschwiegenheitspflicht einzelner Organwalter auch in dieser Konstellation nicht suspendiert wird (MüKo-AktG/Altmeppen, § 311 Rn. 426 zur Weitergabe von Informationen an das herrschende Unternehmen). Die Verschwiegenheitspflicht von Doppelmandatsträgern im faktischen Konzern erstreckt sich grundsätzlich auch auf die in der anderen Aktiengesellschaft erlangten Informationen. Das gilt insbesondere für Mitglieder des Aufsichtsrats, da der Vorstand der <em>„Herr der Geschäftsgeheimnisse“</em> ist (Koch, a.a.O., § 311 Rn. 36 f).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_654">654</a></dt> <dd><p>(f) Eine Berechtigung zu Informationsweitergabe hätte auch dann nicht bestanden, wenn Prof. Dr. P. bei der Musterbeklagten zu 2 als faktischer Vorstand gehandelt hätte, und zwar auch nicht unter Berücksichtigung des Urteils des Oberlandesgerichts Hamm vom 22. Februar 2011 (19 U 133/10, juris). Das Oberlandesgericht Hamm nahm eine Wissenszurechnung an, weil ein unwissender Vertreter zwischengeschaltet worden sei (a.a.O., Rn. 21). Es hatte nicht darüber zu entscheiden, ob die Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern einer Wissenszurechnung entgegensteht. Im vorliegenden Fall war der Vorstand der Musterbeklagten zu 2 nicht bewusst als unwissende Person zwischengeschaltet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_655">655</a></dt> <dd><p>(g) Ebenso wenig kommt eine Zurechnung des Wissens des Aufsichtsrats bzw. seiner Mitglieder unter dem Aspekt der Repräsentantenhaftung gem. § 31 BGB in Betracht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_656">656</a></dt> <dd><p>Es kann dahingestellt bleiben, ob eine Haftung einer Aktiengesellschaft für das Handeln des Aufsichtsrats durch § 31 BGB begründet werden kann (verneinend Arnold in: MüKoBGB, 7. Aufl., § 31 Rn. 24 sowie Leuschner in: MüKoBGB, 9. Aufl., § 31 Rn. 19 für den Fall, dass der Aufsichtsrat als Innenorgan tätig wird; bejahend Schöpflin in: BeckOK BGB, 63. Ed., § 31 Rn. 9), obwohl der Aufsichtsrat nicht für die Erfüllung der Publizitätspflichten zuständig ist. Eine der Musterbeklagten zu 2 zuzurechnende, sie zum Schadensersatz verpflichtende Handlung oder ein entsprechendes Unterlassen der Aufsichtsratsmitglieder kann auch wegen der Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder nicht festgestellt werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_657">657</a></dt> <dd><p>(2) Eine Kenntnis der Doppelmandatsträger Dr. W. und H. – im Vorstand der Musterbeklagten zu 1 und im Aufsichtsrat der Musterbeklagten zu 2 – von einer <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> ist dem Vorstand der Musterbeklagten zu 2 ebenfalls nicht als eigenes Wissen zuzurechnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_658">658</a></dt> <dd><p>Die Verschwiegenheitspflicht nach Art. 49 SE-VO gilt gleichermaßen für Mitglieder des Vorstands als Organ der SE nach Art. 38 lit. b) SE-VO. Auch nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG haben Vorstandsmitglieder über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekannt geworden sind, Stillschweigen zu bewahren. Geschützt sind Geheimnisse und vertrauliche Angaben, sofern diese den Vorstandsmitgliedern durch ihre Vorstandstätigkeit bekannt geworden sind. Dabei ist nicht erforderlich, dass die Angelegenheit im Vorstand behandelt wurde, sondern es genügt, dass die Vorstandsmitgliedschaft für die Informationserteilung ursächlich war (Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter, 4. Aufl., § 93 AktG, Rn. 25). Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_659">659</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus kommt eine Zurechnung des Wissens des Aufsichtsrats nach Auffassung des Senats schon grundsätzlich nicht in Betracht (hierzu näher Rn. 661).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_660">660</a></dt> <dd><p>(3) Auch eine etwaige Kenntnis des damaligen Aufsichtsratsmitglieds der Musterbeklagten zu 2 und Ministerpräsidenten von Niedersachsen C. W. von einer <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> der Musterbeklagten zu 1 wäre der Musterbeklagten zu 2 nicht zuzurechnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_661">661</a></dt> <dd><p>(a) Schon grundsätzlich ist dem Emittenten das Wissen des Aufsichtsrats oder einzelner seiner Mitglieder nach ganz herrschender Meinung, der sich der Senat anschließt, nicht zuzurechnen, weil der Aufsichtsrat insbesondere dem Vorstand nicht das entsprechende Wissen zu liefern hat, aufgrund des aktienrechtlichen Grundprinzips der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats als Überwachungsorgan keine Eingriffs- und Sanktionsmöglichkeiten des Vorstands bestehen, um das wissende Aufsichtsratsmitglied zu einer entsprechenden Wissensweiterleitung zu bewegen, und ohnehin keine dem Prinzip der Wissenszurechnung zugrunde liegende arbeitsteilige Organisation vorliegt (ausführlich: Buck-Heeb, AG 2015, 801, 807 ff.; Assmann, a.a.O. [7. Aufl.], Rn. 57; Pfüller in: Fuchs, 2. Aufl. § 15 Rn. 333; Schilken in: Staudinger (2019) § 166 BGB Rn. 32 a.E.; Schubert in: MüKoBGB, 9. Aufl., § 166 Rn. 12; Habersack in: MüKoAktG, 5. Aufl., § 112 Rn. 27; Koch in: Koch, AktG, 16. Aufl., § 78 Rn. 33, § 112 Rn. 17 f.; ders., ZIP 2015, 1757, 1761 f.; Leyendecker-Langner/Kleinhenz, AG 2015, 72, 74; Gasteyer/Goldschmidt, AG 2016, 116, 123; grundsätzlich auch Rickert/Heinrichs, GWR 2017, 112; a.A. Schwintowski ZIP 2015, 617 ff.; Ihrig, ZHR 181 (2017), 381, 391). Soweit teilweise (Ihrig a.a.O.) angenommen wird, nach dem Schutzzweck der heute maßgeblichen Regelung des Art. 17 MAR sei die Ad-hoc-Publizitätspflicht als gemeinsame Pflichtaufgabe von Vorstand und Aufsichtsrat zu verstehen, so dass der Aufsichtsrat zur Erfüllung der angestrebten Offenlegung von Insiderinformationen beitragen müsse, überzeugt dies angesichts der aktienrechtlich begründeten Stellung und der Funktion des Aufsichtsrats nicht (dazu auch Assmann, a.a.O.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_662">662</a></dt> <dd><p>(b) Ohnehin unterlag C. W. als damaliger Ministerpräsident des Landes Niedersachsen nach § 6 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Landesregierung vom 3. April 1979 einer Verschwiegenheitspflicht, die entsprechend den vorgenannten zur aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht entwickelten Grundsätzen einer Wissenszurechnung entgegenstand. Hiernach sind die Mitglieder der Landesregierung verpflichtet, Verschwiegenheit über solche ihnen amtlich bekannt gewordene Angelegenheiten zu wahren, deren Geheimhaltung ihrer Natur nach erforderlich oder besonders vorgeschrieben ist. Eine etwaige Kenntnis hätte C. W. vorliegend als Vertreter des Landes Niedersachsen und damit in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident amtlich erlangt. Diese Angelegenheit hätte ihrer Natur nach der Geheimhaltung bedurft, weil sie unmittelbar im Zusammenhang mit der Ausübung und Veräußerung von Gesellschafterrechten an öffentlichen Beteiligungen im Zusammenhang stand und ein öffentliches Bekanntwerden die etwaigen Handlungsoptionen des Landes als Anteilseigner hätte einschränken können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_663">663</a></dt> <dd><p>(c) Schließlich ist bereits eine zur Begründung einer Publizitätspflicht hinreichend konkrete Kenntnis nicht schlüssig vorgetragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_664">664</a></dt> <dd><p>(aa) Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG ist eine Insiderinformation eine konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_665">665</a></dt> <dd><p>Eine auf einen bereits existierenden Umstand oder ein bereits eingetretenes Ereignis bezogene Information ist konkret, wenn sie spezifisch genug ist, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung des bereits existierenden Umstands oder des bereits eingetretenen Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten zuzulassen (Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG; BGH, Beschluss vom 23. April 2013 – II ZB 7/09, juris Rn. 19). Hingegen sind nur vage oder allgemeine Informationen, die keine Schlussfolgerung hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkung auf den Kurs der betreffenden Finanzinstrumente zulassen, nicht als Insiderinformationen anzusehen (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2015 – C-628/13, juris Rn. 31).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_666">666</a></dt> <dd><p>Eine konkrete Information ist insbesondere von einem bloßen Gerücht abzugrenzen. Letzteres kann eine zu vage Information darstellen, um eine Publizitätspflicht auszulösen (vgl. Begr. Regierungsentwurf, AnSVG, BT-Dr. 15/3174, S. 34; Assmann in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 13 WpHG Rn. 17). Soweit vertreten wird, dass Gerüchte, die einen Tatsachenkern enthalten, eine Insiderinformation darstellen können (Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 15. Juli 2005, III.2.1.1.2; VGH Kassel, Beschluss vom 16. März 1998 - 8 TZ 98/98, juris Rn. 4, 5; Pfüller, a.a.O., § 15 Rn. 143; Mennicke/Jakovou in: Fuchs, 2. Aufl., § 13 Rn. 50; Kumpan in: Hopt, HGB, 41. Aufl., MAR Art. 7 Rn. 1, 7), muss dieses geeignet sein, den Kurs der fraglichen Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen, so dass es darauf ankommt, ob der verständige Anleger auf Grundlage dieses Gerüchts handeln würde (Emittentenleitfaden der BaFin, a.a.O.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_667">667</a></dt> <dd><p>(bb) Die Musterklägerin behauptet unter Bezugnahme auf einen Artikel in der Wirtschaftswoche vom 30. Januar 2012 (Anlage MK 63), am 25. Februar 2008 hätten sich Vertreter der Musterbeklagten zu 1 und Dr. M. von Seiten der niedersächsischen Staatskanzlei in Berlin zu einer Besprechung getroffen. Nach dem Artikel habe Dr. M. gegenüber der Wirtschaftswoche in einem Telefonat am 7. Mai 2009 wörtlich gesagt, bei diesem Treffen am 25. Februar 2008 <em>„rutschte einem Porsche-Vertreter raus, dass sie den Beherrschungsvertrag wollen.“</em> Die Porsche-Seite habe <em>„sehr deutlich vom Beherrschungsvertrag als Ziel“</em> gesprochen. Von dem Inhalt des Treffens habe Dr. M. sodann C. W. kurz vor dem 10. März 2008 informiert. Dieser habe Mitte des Jahres 2009 bestätigt, Dr. M. sei im Februar 2008 klar geworden, dass <em>„wieder reihenweise Aktionäre beschissen werden.“</em> Er habe sich gewundert, weshalb Dr. M. Dr. W. nicht in den <em>„Knast“</em> bringe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_668">668</a></dt> <dd><p>Damit lässt sich eine Kenntnis des Ministerpräsidenten W. von einer Beherrschungsabsicht als konkrete Information nicht feststellen, worauf der Senat mit Beschluss vom 26. Oktober 2017 hingewiesen hat. Selbst wenn dem Leiter der Porsche-Strategieabteilung Dr. H. bei einem Treffen am 25. Februar 2008 in Berlin in Gegenwart des Referatsleiters aus der Niedersächsischen Staatskanzlei Dr. M. – in welchem Zusammenhang auch immer – <em>„herausrutschte“</em>, dass Porsche <em>„einen Beherrschungsvertrag wolle“</em>, wäre diese Information im Falle ihrer Weitergabe an den Ministerpräsidenten W. zu vage gewesen, um sie als Insiderinformation der Musterbeklagten zu 2 anzusehen und darauf eine Ad-hoc-Information zu stützen. Die in Bezug genommenen behaupteten Äußerungen des Ministerpräsidenten W. enthalten ebenfalls keinen hinreichend konkreten Tatsachenkern.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_669">669</a></dt> <dd><p>Nichts Anderes ergibt sich unter Berücksichtigung des nach dem Vortrag der Mus-terklägerin am 12. Februar 2008 von Dr. M. gefertigten Aktenvermerks. Darin habe er unter anderem ausgeführt, der Abschluss eines Beherrschungsvertrages sei mittelfristiges Ziel von Porsche. Dieser Aktenvermerk lässt die Quelle und die genaue Informationslage nicht erkennen. Er lässt letztlich offen, inwieweit es sich um eine konkrete Information oder – wie Dr. M. später angegeben hatte (Schreiben der Niedersächsischen Staatskanzlei vom 12. Mai 2009 [Anlage MB VW 1]) – um eine subjektive Einschätzung handelte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_670">670</a></dt> <dd><p>(cc) Es kann daher dahinstehen, ob es – entsprechend einer Ansicht (Pfüller, a.a.O., § 15 Rn. 146) – bereits an dem nach § 15 WpHG erforderlichen Emittentenbezug fehlte, da das Gerücht hier nicht von der Musterbeklagten zu 2 als Emittentin, sondern von einem Dritten, nämlich einem Mitarbeiter der Musterbeklagten zu 1, ausgegangen wäre. Nach anderer Ansicht ist dagegen die Kenntnis des Emittenten als Zielgesellschaft von einem bevorstehenden Wertpapiererwerbsangebot und erst recht von einem bevorstehenden Übernahmeangebot auf von ihm emittierte Aktien als Kenntnis einer ihn unmittelbar betreffenden Insiderinformation anzusehen (Assmann in: Assmann/Schneider, 6. Aufl., § 15 Rn. 63, 71).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_671">671</a></dt> <dd><p>ff) Die Unkenntnis des Vorstands der Musterbeklagten zu 2 beruhte auch jedenfalls nicht auf einer unzureichenden Organisation der Informationsweiterleitung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_672">672</a></dt> <dd><p>Eine etwaige Verletzung einer solchen Organisationspflicht, die eine Wissenszurechnung begründen könnte, hätte sich nur dann ausgewirkt, wenn im Unternehmen der Musterbeklagten zu 2 an anderer Stelle Kenntnis der behaupteten <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> vorhanden gewesen und nicht entsprechend an deren Vorstand weitergeleitet worden wäre. Ausgehend von dem umfassenden Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen zu der Geheimhaltung der Übernahmepläne durch die Musterbeklagte zu 1 liegen keine Anhaltspunkte dafür vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_673">673</a></dt> <dd><p>gg) Hinreichende Anhaltspunkte für eine sonst etwaige grob fahrlässige Unkenntnis der Musterbeklagten zu 2 sind nicht vorgetragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_674">674</a></dt> <dd><p>b) Schon entsprechend der vorstehenden Erwägungen kommt eine Haftung der Musterbeklagten zu 2 aus § 37c WpHG für eine unterbliebene Berichtigung der Ad-hoc-Mitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 3. März 2008 nicht in Betracht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_675">675</a></dt> <dd><p>c) Aus den vorgenannten Gründen scheiden auch Ansprüche nach anderen Anspruchsgrundlagen aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_676">676</a></dt> <dd><p>Insbesondere eine Haftung nach §§ 826, 830 i.V.m. § 31 BGB analog setzte voraus, dass ein verfassungsmäßig berufener Vertreter i.S.d. § 31 BGB den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 826 BGB verwirklicht hätte (BGH, Urteil vom 28. Juni 2016 – VI ZR 536/15, juris Rn. 23 ff.). Verfassungsmäßig berufener Vertreter bei der Musterbeklagten zu 2 ist der Vorstand, bei dem eine Kenntnis von der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> oder der Unrichtigkeit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 nicht ersichtlich ist. Zudem enthält der Schädigungsvorsatz neben dem Wissens- ein Wollenselement. Insoweit kommt eine Zurechnung des Wissens Dritter ohnehin nicht in Betracht (BGH a.a.O.). Aber auch abgesehen davon schiede eine Zurechnung des Wissens einzelner Aufsichtsratsmitglieder aus den vorgenannten Gründen aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_677">677</a></dt> <dd><p>Auch ein Anspruch aus § 33 Abs. 3 GWB a.F. i.V.m. § 830 BGB, § 31 BGB analog scheidet schon deshalb aus, weil der Musterbeklagten zu 2 bzw. deren verfassungsmäßig berufenen Vertretern kein Vorsatz und keine Fahrlässigkeit hinsichtlich eines möglichen Kartellrechtsverstoßes und kein Teilnehmervorsatz zur Last fällt. Die Voraussetzungen einer Teilnahme an einer unerlaubten Handlung i.S.d. § 830 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB richten sich nach den für das Strafrecht entwickelten Grundsätzen. Danach verlangt die Teilnahme neben der Kenntnis der Tatumstände wenigstens in groben Zügen den jeweiligen Willen der einzelnen Beteiligten, die Tat gemeinschaftlich mit anderen auszuführen oder sie als fremde Tat zu fördern; objektiv muss eine Beteiligung an der Ausführung der Tat hinzukommen, die in irgendeiner Form deren Begehung fördert und für diese relevant ist. Für den einzelnen Teilnehmer muss ein Verhalten festgestellt werden, das den rechtswidrigen Eingriff in ein fremdes Rechtsgut unterstützt hat und das von der Kenntnis der Tatumstände und dem auf die Rechtsgutsverletzung gerichteten Willen getragen war (BGH, Urteil vom 3. Dezember 2013 - XI ZR 295/12, juris Rn. 29; Urteil vom 15. Mai 2012 - VI ZR 166/11, juris Rn. 17; vgl. insb. zur Kapitalmarktinformationshaftung: Wagner in: MüKoBGB, 8. Aufl., § 830 Rn. 37 a.E.). Das lässt sich anhand des Vorbringens der Beteiligten nicht feststellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_678">678</a></dt> <dd><p>Schließlich scheidet auch eine Haftung der Musterbeklagten zu 2 aus § 9 Satz 1 UWG, ggf. i.V.m. § 830 BGB, § 31 BGB analog schon mangels Verschuldens aus.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_679">679</a></dt> <dd><p>3. Soweit die Musterklägerin und die Beigeladenen bestimmte Umstände nicht mit ausreichenden Anhaltspunkten dargelegt haben – unter anderem die Kenntnis des Vorstands der Musterbeklagten zu 2 von einer behaupteten <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> – besteht nach Auffassung des Senats kein hinreichender Grund, den Musterbeklagten gemäß § 142 Abs. 2 ZPO die Vorlage von Urkunden aufzugeben. Es handelt sich insoweit um eine Ermessensentscheidung, bei der ein möglicher Erkenntniswert, aber auch berechtigte Belange des Geheimschutzes zu berücksichtigen sind. Das Gericht darf die Urkundenvorlegung nicht zum bloßen Zweck der Informationsgewinnung anordnen, sondern nur bei Vorliegen eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Parteivortrags (BGH, Urteil vom 24. Mai 2014 – XI ZR 264/13, Rn. 29). Aus diesen Gründen kam insbesondere die von der Musterklägerin beantragte Anordnung der Vorlage von Analysen zu den Plänen der Musterbeklagten zu 1 nicht in Betracht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_680">680</a></dt> <dd><p>Der Senat hat aus diesem Grund auch von einer Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten nach § 273 Abs. 2 Nr. 2, §§ 432, 299 Abs. 1 ZPO i. V. m. §§ 474, 477 Abs. 4 StPO abgesehen. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Musterbeklagten zu 1 die Einsichtsgesuche einzelner Beigeladener in die Strafakten sowohl von der Staatsanwaltschaft Stuttgart, dem Landgericht Stuttgart als auch dem Oberlandesgericht Stuttgart abgelehnt worden sind. Eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Beigezogene bzw. beizuziehende Akten aus anderen gerichtlichen oder behördlichen Verfahren sind nicht Bestandteil der Prozessakten. Das Gericht darf den Parteien diese Unterlagen jedenfalls dann nicht zur Verfügung stellen, wenn die aktenführende Stelle dem – wie hier – widersprochen hat (Bacher in: BeckOK ZPO, 45. Ed., § 299 Rn. 11; Greger in: Zöller, 34. Aufl., § 273 Rn. 8a, § 299 Rn. 3).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_681">681</a></dt> <dd><p>Eine Vorlegungspflicht ergibt sich hier auch nicht aus §§ 422, 423 ZPO, deren Voraussetzungen nicht vorliegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_682">682</a></dt> <dd><p>4. Für die Feststellungsziele ergibt sich hiernach Folgendes:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_683">683</a></dt> <dd><p>a) Unzulässig sind die Feststellungsziele VI.1.a., b., d. und e.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_684">684</a></dt> <dd><p>Gleiches gilt für die weiteren Feststellungsziele in Komplex VI insoweit, als sie sich auf Äußerungen beziehen, deren als unrichtig beanstandete Aussagen in den vorgenannten Feststellungszielen und damit nicht hinreichend bestimmt bezeichnet sind. Im Folgenden werden diese teilweise unzulässigen Feststellungsziele nur insoweit erörtert, als sie zulässig sind, also insoweit, als sie sich auf das zulässige Feststellungsziel VI.1.c. beziehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_685">685</a></dt> <dd><p>b) Die begehrten Feststellungen zu folgenden Feststellungszielen sind nicht zu treffen, so dass diese Feststellungsziele als unbegründet zurückzuweisen sind, wobei dies die Feststellungsziele in Komplex VI nur insoweit betrifft, als diese nicht bereits unzulässig sind. Dies gilt auch für entsprechende hilfsweise Feststellungsziele.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_686">686</a></dt> <dd><p>aa) Die Feststellungsziele III.3., IV.1., VI.1.c. und VII.1 sind auf die Feststellung gerichtet, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 3. März 2008, die Pressemitteilung vom 10. März 2008, die Pressemitteilung vom 16. September 2008 und die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 aus den in den jeweiligen Feststellungszielen genannten Gründen fehlerhaft waren. Diese Feststellungen sind insoweit nicht zu treffen, dass diese Mitteilungen <em>grob</em> fehlerhaft oder irreführend wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_687">687</a></dt> <dd><p>Soweit diese Feststellungsziele darüber hinaus auch auf die Feststellung einer unter dieser Schwelle der <em>groben</em> Fehlerhaftigkeit oder Irreführung liegenden Fehlerhaftigkeit gerichtet sind, sind sie bereits gegenstandslos. Eine solche „einfache“ Fehlerhaftigkeit oder Irreführung – die aber zumindest überwiegend ebenfalls nicht vorliegt – wäre nicht geeignet, eine Verwerflichkeit der Kommunikationsakte zu begründen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_688">688</a></dt> <dd><p>Das Feststellungsziel VII.1. ist auch im Hinblick auf die festzustellende Zielsetzung zurückzuweisen, die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 hätte darauf abgezielt, einen weiteren Kursverfall zu verhindern und dadurch weitere Verluste zu vermeiden. Im Hinblick auf die weiter festzustellenden Zielsetzungen ist dieses Feststellungsziel wiederum gegenstandslos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_689">689</a></dt> <dd><p>bb) Ebenfalls nicht zu treffen sind die Feststellungen, dass die Musterbeklagten Kenntnis von einer vermeintlichen <em>groben</em> Unrichtigkeit dieser Äußerungen hatten bzw. ihre Unkenntnis von einer solchen groben <em>Unrichtigkeit </em>auf grober Fahrlässigkeit beruhte, und zwar betreffend die Musterbeklagte zu 1, weil solche Unrichtigkeiten nicht vorlagen, und betreffend die Musterbeklagte zu 2 bereits aus dem Grund, dass eine Wissenszurechnung nicht erfolgt und eine anderweitige Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis nicht festzustellen ist. Zurückzuweisen sind in diesem Umfang damit die Feststellungsziele III.4., IV.2., VI.2., soweit sich dieses Feststellungsziel auf die in der Pressemitteilung vom 16. September 2008 zitierten Äußerungen von Dr. W. bezieht, und VII.2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_690">690</a></dt> <dd><p>Betreffend die Musterbeklagte zu 2 sind diese Feststellungsziele auch im Hinblick auf eine <em>„einfache“</em> Unrichtigkeit unterhalb der Schwelle einer <em>groben</em> Unrichtigkeit zurückzuweisen. Betreffend die Musterbeklagte zu 1 sind sie insoweit gegenstandslos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_691">691</a></dt> <dd><p>cc) Nicht zu treffen sind weiter die Feststellungen, dass die in Rn. 686 bezeichneten Äußerungen – oder der hierdurch erzeugte Eindruck – zu berichtigen waren und dass die Unterlassung dieser Berichtigung auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruhte. Zurückzuweisen sind damit die Feststellungsziele III.5., III.5.a., III.5.c., IV.5., IV.8.a., IV.9., VI.5., VI.8.a., VI.9., VII.5., VII.8.a. und VII.9.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_692">692</a></dt> <dd><p>dd) Ebenso wenig sind die Feststellungen zu treffen, dass die Veranlassung dieser Äußerungen bzw. die Unterlassung der Berichtigung dieser Äußerungen sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB waren und die Musterbeklagte zu 1 insoweit vorsätzlich i.S.d. § 826 BGB gehandelt habe. Zurückzuweisen sind damit die Feststellungsziele III.6., III.7., III.8., III.9., IV.10., IV.11., IV.12., IV.13., VI.10., VI.11., VI.12., VI.13., VII.10., VII.11., VII.12. und VII.13.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_693">693</a></dt> <dd><p>ee) Gleichfalls sind die Feststellungen nicht zu treffen, dass der Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008 im Zeitraum vom 23. Juli 2008 bis zum 26. Oktober 2008 zu veröffentlichen gewesen wäre, diese Unterlassung auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruhte und sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gewesen wäre. Zurückzuweisen sind damit die Feststellungsziele V.7.a., V.8., V.10. und V.11.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_694">694</a></dt> <dd><p>ff) Ebenso sind die Feststellungen nicht zu treffen, dass der Umstand der <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> im Zeitraum vom 3. März 2008 bis zum 26. Oktober 2008 zu veröffentlichen gewesen wäre, die Unterlassung dieser Veröffentlichung auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruhte und sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB gewesen wäre. Zurückzuweisen sind damit die Feststellungsziele II.7.a., II.8., II.10. und II.11.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_695">695</a></dt> <dd><p>gg) Nicht festzustellen ist, dass die Stammaktie der Musterbeklagten zu 2 und darauf bezogene Optionen einen eigenständigen sachlich und räumlich relevanten Markt i.S.d. § 19 Abs. 2 GWB darstellten, die Musterbeklagte zu 1 eine marktbeherrschende Stellung gehabt und diese missbräuchlich i.S.d. § 19 Abs. 1 GWB ausgenutzt, gegen § 19 Abs. 1 GWB oder Art. 82 EG-Vertrag verstoßen habe und solche Verstöße vorsätzlich oder fahrlässig i.S.d. § 33 Abs. 3 Satz 1 GWB erfolgt seien. Zurückzuweisen sind damit die Feststellungsziele XI.1 - 3., XI.5., XI.6. und XI.7.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_696">696</a></dt> <dd><p>hh) Ebenso wenig sind die Feststellungen zu treffen, dass der Aufbau der Beteiligung der Musterbeklagten zu 1 an den Stammaktien der Musterbeklagten zu 2 oder die näher bezeichneten Äußerungen der Musterbeklagten zu 1 Wettbewerbshandlungen i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG darstellten, unlauter i.S.d. § 3 UWG i.V.m. § 4 Nr. 1, 10, 11 oder § 5 UWG waren und vorsätzlich oder fahrlässig i.S.d. § 9 Satz 1 UWG erfolgten. Zurückzuweisen sind daher die Feststellungsziele XII.2., XII.3., XII.4. und XII.6.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_697">697</a></dt> <dd><p>ii) Nicht zu treffen ist weiter die Feststellung, dass das Aufsichtsratsmitglied der Musterbeklagten zu 2, C. W., Kenntnis von der behaupteten <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> der Musterbeklagten zu 1 gehabt habe, so dass das Feststellungsziel II.2. insoweit zurückzuweisen ist. Nicht zu treffen ist auch die Feststellung, die Musterbeklagte zu 2 habe seit dem 3. März 2008 Kenntnis dieser <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> gehabt, so dass auch das Feststellungsziel II.4. zurückzuweisen ist. Gleiches gilt für eine Kenntnis des Aufsichtsratsbeschlusses vom 23. Juli 2008 und damit für das Feststellungsziel V.4.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_698">698</a></dt> <dd><p>Ebenfalls zurückzuweisen ist das Feststellungsziel II.3.a., dort genannte Aufsichtsratsmitglieder der Musterbeklagten zu 2 könnten sich nicht auf konfligierende Geheimhaltungspflichten berufen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_699">699</a></dt> <dd><p>Nicht festzustellen ist, dass der Musterbeklagten zu 2 eine Kenntnis der im Feststellungsziel II.2. genannten Aufsichtsratsmitglieder zuzurechnen sei oder sie sich so behandeln lassen müsse, als ob sie Kenntnis von einer <em>„konkreten Beherrschungsabsicht“</em> gehabt habe. Zurückzuweisen ist deshalb das Feststellungsziel II.3. Gleiches gilt betreffend die Zurechnung der Kenntnis der fraglichen Aufsichtsratsmitglieder von dem Aufsichtsratsbeschluss vom 23. Juli 2008, so dass auch das Feststellungsziel V.3. zurückzuweisen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_700">700</a></dt> <dd><p>Mangels Zurechnung des Wissens eines Aufsichtsratsmitglieds, das aufgrund eines Doppelmandats einer anderen Gesellschaft gegenüber nach Maßgabe nationalen Gesellschaftsrechts insoweit zu Verschwiegenheit verpflichtet ist, ist auch das Feststellungsziel I.1. zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_701">701</a></dt> <dd><p>jj) Nicht zu treffen sind weiter die Feststellungen, dass die Musterbeklagte zu 2 Mittäterin oder Beteiligte i.S.d. § 830 BGB an den jeweils bezeichneten Handlungen der Musterbeklagten zu 1 war. Zurückzuweisen sind deshalb auch die Feststellungsziele VIII.4.a., VIII.4.b., VIII.4.c. (soweit nicht bereits unzulässig), XI.8. und XII.7.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_702">702</a></dt> <dd><p>c) Im Übrigen sind die Feststellungsziele gegenstandslos. Dies betrifft die Feststellungsziele II.1. und II.2., soweit nicht die Kenntnis des Aufsichtsratsmitglieds C. W. infrage steht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_703">703</a></dt> <dd><p>Weiter betrifft dies die Feststellungsziele, bestimmte Äußerungen etc. stellten Insiderinformationen dar und beträfen die Musterbeklagten unmittelbar, mithin die Feststellungsziele II.5., II.6., III.1., III.2., IV.6., IV.7., V.5., V.6., VI.6., VI.7., VII.6. und VII.7.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_704">704</a></dt> <dd><p>Gegenstandslos sind weiter die Feststellungsziele II.7., III.5.b., IV.8. und VII.8., die auf die Feststellung gerichtet sind, die Musterbeklagten hätten es unterlassen, bestimmte Informationen zu veröffentlichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_705">705</a></dt> <dd><p>Gegenstandslos sind zudem alle auf die Feststellung einer bestimmten Aktivlegitimation oder der Rechtsfolgen gerichteten Feststellungsziele, weil eine Haftung schon dem Grunde nach ausscheidet, mithin die Feststellungsziele VIII.1., VIII.1.a., VIII.2., VIII.3., X.1. - X.5., XI.4., XIII.1. und XIII.2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_706">706</a></dt> <dd><p>Gegenstandslos sind schließlich die Feststellungsziele XII.1. und XII.5.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>III.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_707">707</a></dt> <dd><p>Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil über die im Musterverfahren angefallenen Kosten das Prozessgericht entscheidet (§ 16 Abs. 2 KapMuG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>D. <span style="text-decoration:underline">Zurückweisung weiterer Erweiterungsanträge</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_708">708</a></dt> <dd><p>Die Erweiterungsanträge der Musterklägerin und der Beigeladenen, über die der Senat bislang noch nicht entschieden hat, sind zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_709">709</a></dt> <dd><p>Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 KapMuG ist das Musterverfahren insbesondere nur dann um weitere Feststellungziele zu erweitern, wenn die Entscheidung der zugrundeliegenden Rechtsstreite von diesen weiteren Feststellungszielen abhängt und das Oberlandesgericht die Erweiterung für sachdienlich erachtet. Diese Sachdienlichkeit ist im Wege einer Gesamtabwägung zu prüfen. Dabei ist einerseits zu berücksichtigen, dass entsprechend dem Ziel des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, eine möglichst umfassende Klärung aller Tat- und Rechtsfragen herbeizuführen, grundsätzlich ein großzügiger Maßstab anzulegen ist. Andererseits ist auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass den Beteiligten des Musterverfahrens nicht per se dadurch effektiverer Rechtsschutz gewährt wird, dass eine möglichst große Zahl von Tat- und Rechtsfragen zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wird. Effektiver Rechtsschutz setzt vielmehr auch voraus, dass das Musterverfahren noch handhabbar bleibt und in möglichst angemessener Zeit abgeschlossen werden kann (OLG Braunschweig, Beschluss vom 23. September 2020 – 3 Kap 1/16, juris Rn. 41 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_710">710</a></dt> <dd><p>Hiernach ist eine Erweiterung des Musterverfahrens – soweit vorliegend von Bedeutung – insbesondere in zwei Fällen grundsätzlich nicht sachdienlich:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_711">711</a></dt> <dd><p>1. Die vorliegenden Erweiterungsanträge zielen überwiegend auf die Feststellung einzelner Tatsachen oder Rechtsfragen, die selbst keinen unmittelbaren Schluss auf das Bestehen oder den Inhalt von Ersatzansprüchen zulassen, sondern nur in der Zusammenschau mit weiteren Umständen den Schluss auf das Vorliegen von Tatbestandsmerkmalen zulassen. Diese Tatbestandsmerkmale sind vorliegend aber bereits Gegenstand allgemeiner formulierter Feststellungsziele; über sie ist deshalb in dem Musterentscheid ohnehin mit bindender Wirkung zu entscheiden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_712">712</a></dt> <dd><p>a) Eine Erweiterung des Musterverfahrens um rechtliche oder tatsächliche Vorfragen oder Teilaspekte eines Tatbestandsmerkmals, über das ohnehin mit bindender Wirkung entschieden wird, ist in der Regel nicht sachdienlich (OLG Braunschweig, a.a.O., Rn. 43 ff.). Eine Relevanz der Feststellung dieser Vorfragen und Teilaspekte für sich genommen ist nach der Begründung der Erweiterungsanträge und auch im Übrigen nicht zu erkennen. In der Sache ist auf die Umstände, auf die sich diese Erweiterungsanträge beziehen, ohnehin bei der Prüfung der übergeordneten Feststellungsziele einzugehen, soweit diesen Umständen in der Gesamtschau Bedeutung zukommen kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_713">713</a></dt> <dd><p>b) Die Erweiterung des Musterverfahrens um die – teilweise recht kleinteiligen – weiteren Feststellungziele ist insbesondere nicht deshalb erforderlich oder auch nur sachdienlich, weil die für die in den Ausgangsverfahren streitgegenständlichen Ersatzansprüche maßgeblichen Umstände durch die bereits zugelassenen „übergeordneten“ Feststellungsziele nicht hinreichend klar abgegrenzt und bestimmt wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_714">714</a></dt> <dd><p>aa) Soweit die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit einer Kapitalmarktinformation hinsichtlich mehrerer Aussagen festgestellt werden soll, entspricht es der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass es sich bei jeder angeblich fehlerhaften oder unzureichenden Aussage um ein eigenständiges Feststellungsziel i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG handelt; das Begehren im Musterverfahren kann nicht pauschal darauf gerichtet sein, nur generell zu klären, ob eine Kapitalmarktinformation fehlerhaft ist. Jede beanstandete Aussage oder Auslassung einer Kapitalmarktinformation bildet einen eigenständigen Streitgegenstand des Musterverfahrens (BGH, Beschluss vom 19. September 2017 – XI ZB 17/15, juris Rn. 33 f.). Das Feststellungziel muss bestimmt bezeichnen, welche kursbeeinflussende Tatsache bzw. Insiderinformation Gegenstand der rechtlichen Prüfung im Musterverfahren sein soll, woran das Oberlandesgericht seine rechtliche Prüfung zu orientieren hat (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 – II ZB 24/14, juris Rn. 33).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_715">715</a></dt> <dd><p>Nicht erforderlich ist demgegenüber, dass jeder einzelne subsumtionserhebliche Umstand in einem Feststellungsziel angegeben ist. Das Gericht hat vielmehr innerhalb des durch die Feststellungsziele vorgegebenen Prüfungsrahmens auch weitere sich aus dem Parteivortrag ergebende Umstände zu berücksichtigen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 23. September 2020, a.a.O., Rn. 21 a.E.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_716">716</a></dt> <dd><p>bb) Soweit – wie vorliegend weitgehend – Ansprüche wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB aufgrund einer vermeintlich falschen bzw. unvollständigen Kapitalmarktinformation infrage stehen, muss in den Feststellungszielen abgegrenzt sein, welche einzelne Aussage einer Kapitalmarktinformation fehlerhaft bzw. im Hinblick auf welche Aussagen diese Information unvollständig sein soll. Ausreichend ist dabei aber entsprechend der allgemeinen Dogmatik zum Streitgegenstand, dass hinreichend abgegrenzt wird, in welcher Hinsicht eine solche Aussage fehlerhaft bzw. unvollständig sein soll. Demnach darf ein Feststellungsziel nicht derart undeutlich gefasst sein, dass der Streitgegenstand und der Umfang der Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis des Gerichts (§ 308 Abs. 1 ZPO entsprechend) nicht erkennbar abgegrenzt sind, sich der Musterbeklagte deshalb nicht erschöpfend verteidigen kann und die Entscheidung darüber, was mit Bindungswirkung für die Ausgangsverfahren feststeht (§ 22 Abs. 1 KapMuG), letztlich den Prozessgerichten der ausgesetzten Verfahren überlassen bleibt (BGH, Beschluss vom 19. September 2017 – XI ZB 17/15, juris Rn. 64). Soweit diese Abgrenzbarkeit aber gegeben ist, ist es nicht erforderlich, darüber hinaus jeden einzelnen Umstand, der bei der Prüfung der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit zu berücksichtigen sein mag, kleinteilig in einem Feststellungsziel abzubilden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_717">717</a></dt> <dd><p>cc) Die im vorliegenden Verfahren bereits zugelassenen Feststellungsziele grenzen den Gegenstand des Musterverfahrens unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hinreichend bestimmt ab. Die den noch nicht beschiedenen Erweiterungsanträgen zugrunde liegenden Feststellungsziele zielen zu einem großen Teil auf die Feststellung einzelner Umstände, die bei der Prüfung im Rahmen der durch die bereits zugelassenen Feststellungsziele bestimmten Streitgegenstände ohnehin berücksichtigt sind. Einzelheiten sind insoweit – soweit erforderlich – nachfolgend dargestellt. Durch die Zulassung dieser weiteren Feststellungsziele könnte der Streitstoff deshalb nicht umfassender erledigt werden, als dies auch nach den bereits zugelassenen Feststellungszielen der Fall ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_718">718</a></dt> <dd><p>2. Darüber hinaus ist die beantragte Erweiterung des Musterverfahrens teilweise auch deshalb nicht sachdienlich, weil es nach den Ergebnissen des Musterverfahrens für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits auf die Beantwortung verschiedener weiterer Feststellungsziele nicht ankommt. Ebenso, wie bereits zugelassene Feststellungsziele in einem solchen Fall gegenstandslos sind (dazu etwa BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 – II ZB 24/14, juris Rn. 135 ff.), wäre erst recht eine Erweiterung um Feststellungsziele nicht sachdienlich, auf die es nach dem Ergebnis des Musterverfahrens nicht mehr ankommt (vgl. Kruis in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 15 KapMuG, Rn. 20).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_719">719</a></dt> <dd><p>Im Einzelnen ist die beantragte Erweiterung des Musterverfahrens deshalb aus folgenden Gründen abzulehnen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_720">720</a></dt> <dd><p>1. Die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge Nr. 1, 2 und 6 aus dem Schriftsatz der Musterklägerin und der E.-Beigeladenen vom 15. Oktober 2018</span> (Bl. 6005 d.A.) sowie die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge Nr. 1 bis 4 und 8 aus dem Schriftsatz der E.-Beigeladenen vom 16. Mai 2019</span> (Bl. 9060 f. d.A.) zielen darauf ab, dass die Musterbeklagte zu 1 Kenntnis von der Entwicklung und dem Einsatz illegaler Abschalteinrichtungen in Fahrzeugen der Musterbeklagten zu 2 gehabt und dies in Kauf genommen bzw. sogar darauf hingewirkt habe, um ihre Übernahmepläne nicht zu gefährden. Vergleichbar behandeln die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge Nr. 5 bis 7 aus dem Schriftsatz der E.-Beigeladenen vom 16. Mai 2019</span> (Bl. 9060 f. d.A.) eine auf derselben Motivation beruhende Verhinderung einer Kooperation der Musterbeklagten zu 2 mit der DaimlerChrysler AG durch die Musterbeklagte zu 1 und diesbezügliche Interessenkonflikte der Organmitglieder bzw. Vertreter der Großaktionäre der Musterbeklagten zu 1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_721">721</a></dt> <dd><p>Diese beantragten Erweiterungen richten sich unter Berücksichtigung der näheren Ausführungen der Musterklägerin und der Beigeladenen zu dieser sog. Diesel-Pro-blematik nicht auf die Feststellung, dass bestimmte Aussagen in Kapitalmarktinformationen unrichtig oder unvollständig wären, auch wenn der erste Halbsatz des Erweiterungsantrags Nr. 2 aus dem Schriftsatz vom 15. Oktober 2018 bei isolierter Betrachtung so verstanden werden könnte. Vielmehr sei diese Kenntnis bzw. Motivation der Musterbeklagten zu 1 bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit der nach den bereits zugelassenen Feststellungszielen streitgegenständlichen Aussagen zu berücksichtigen. Diese Umstände sind damit Teilaspekte der Gesamtschau, die bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit ohnehin vorgenommen worden ist. Diese Sittenwidrigkeit ist betreffend die einzelnen streitgegenständlichen Aussagen bereits Gegenstand von zugelassenen Feststellungszielen, beispielsweise den Feststellungszielen II.10., II.11., III.8., IV.10. und IV.12. Auch die in den Erweiterungsanträgen abgebildeten Umstände sind damit Bestandteil der ohnehin vorgenommenen Gesamtschau. Die abschließend durch den Senat vorgenommene Beurteilung der Sittenwidrigkeit hat schon aufgrund dieser zugelassenen Feststellungsziele Bindungswirkung für die Ausgangsverfahren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_722">722</a></dt> <dd><p>Dass die Feststellung der mit den Erweiterungsanträgen bezeichneten Teilaspekte der Sittenwidrigkeitsprüfung daneben oder darüber hinaus Relevanz für die Entscheidung der Ausgangsverfahren haben könnte, ist nicht ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_723">723</a></dt> <dd><p>Entsprechend sind auch die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge unter B.XVII. aus dem Schriftsatz der E.-Beigeladenen vom 4. Oktober 2021</span> (Bl. 11737 ff. d.A.) nicht sachdienlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_724">724</a></dt> <dd><p>2. Die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge Nr. 3, 4 und 7 aus dem Schriftsatz der Musterklägerin und der E.-Beigeladenen vom 15. Oktober 2018</span> (Bl. 6005 d.A.) zielen darauf ab, dass die Musterbeklagte zu 1 es seit dem 4. März 2008 trotz Kenntnis der Mitglieder ihres Vorstands und ihres Aufsichtsrats unterlassen habe, bestimmte Umstände betreffend ihre Optionsstrategien und Entscheidungen ihres Gesellschafterausschusses im Hinblick auf die Übernahme der Musterbeklagten zu 2 zu veröffentlichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_725">725</a></dt> <dd><p>Diese Umstände sind in der Sache bereits Gegenstand u.a. der zugelassenen Feststellungsziele III.3., III.5., III.5.a, III.5.b. und III.6. und vergleichbarer Feststellungziele betreffend Unrichtigkeiten und Unvollständigkeiten weiterer Aussagen. Auch wenn dort die als unterlassen beanstandete Veröffentlichung jeweils nur im Zusammenhang mit der Berichtigung bestimmter Aussagen zum Gegenstand des Musterverfahrens gemacht wurde, gehen die nunmehr gestellten Erweiterungsanträge nicht dergestalt darüber hinaus, dass hierdurch der Streitgegenstand verändert oder erweitert würde. Es stellt im Hinblick auf die Kognitionspflicht des Senats, die Verteidigungsmöglichkeit der Musterbeklagten und den Umfang der Bindungswirkung einer zu treffenden Entscheidung keinen wesentlichen Unterschied dar, ob die mit den Erweiterungsanträge bezeichneten Umstände per se zu veröffentlichen gewesen wären oder nur deshalb, weil frühere Aussagen insoweit unvollständig gewesen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_726">726</a></dt> <dd><p>Dass die explizite Feststellung der mit den Erweiterungsanträgen bezeichneten Kursrelevanz der entsprechenden Tatsachen und der entsprechenden Kenntnis der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrates der Musterbeklagten zu 1 daneben oder darüber hinaus Relevanz für die Entscheidung der Ausgangsverfahren haben könnte, ist nicht ersichtlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_727">727</a></dt> <dd><p>Darüber hinaus wäre die Erweiterung um diese Feststellungsziele auch deshalb nicht sachdienlich, weil sie nach dem Ergebnis des Musterverfahrens gegenstandslos wären. Eine Haftung der Musterbeklagten zu 1 aus § 37b bzw. § 37c WpHG für Transaktionen von Aktien der Musterbeklagten zu 2 bzw. hierauf bezogenen Derivaten scheidet aus. Aus § 826 BGB haftete sie selbst bei einer entsprechenden Kursrelevanz der fraglichen Tatsachen ebenfalls nicht. Auch für die Haftung der Musterbeklagten zu 2 kommt es auf die Kenntnis der in den Erweiterungsanträgen bezeichneten Personen nicht an, weil der Musterbeklagten zu 2 eine solche Kenntnis nicht zuzurechnen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_728">728</a></dt> <dd><p>3. Entsprechend der vorstehenden Erwägungen unter 1. und 2. ist auch der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag unter A. aus dem Schriftsatz der E.-Beigeladenen vom 4. Oktober 2021</span> (Bl. 11737 ff. d.A.) zurückzuweisen, der auf die Feststellung gerichtet ist, dass die in den vorgenannten Anträgen bezeichneten Umstände bei der Sittenwidrigkeitsprüfung zu berücksichtigen seien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_729">729</a></dt> <dd><p>4. Die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge aus dem Schriftsatz der T. Rechtsanwaltsgesellschaft mbH vom 31. März 2019</span> (Bl. 8489 f. d.A.) zielen auf die Feststellung ab, dass die Musterbeklagte zu 1 es am 24. Oktober 2008, spätestens aber im Zusammenhang mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 pflichtwidrig unterlassen habe, eine Gewinnwarnung im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_730">730</a></dt> <dd><p>Da Ersatzansprüche der Kläger der Ausgangsverfahren aus §§ 37b, c WpHG gegen die Musterbeklagte zu 1 aus den vorgenannten Erwägungen ausscheiden, kann die Entscheidung dieser Ausgangsverfahren von diesen weiteren Feststellungszielen nur insoweit abhängen, als diese infrage stehende Unterlassung bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit nach § 826 BGB zu berücksichtigen ist. Insoweit sind diese Gesichtspunkte bereits insbesondere aufgrund der zugelassenen Feststellungsziele VII.1.f), g), VII.5., VII.10. und VII.12. berücksichtigt worden. Hiernach ist streitgegenständlich unter anderem die Behauptung, die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 sei unrichtig, weil die Musterbeklagte zu 1 zu diesem Zeitpunkt die Übernahmeabsicht unter anderem aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr realistisch habe umsetzen können. Zudem seien in der Pressemitteilung falsche Motive genannt worden; tatsächliches Motiv sei es unter anderem gewesen – wie sich aus dem Vortrag der Musterklägerin in der Sache ergibt – eine bevorstehende Insolvenz der Musterbeklagten zu 1 zu verhindern. Zudem wäre die Musterbeklagte zu 1 verpflichtet gewesen, die Pressemitteilung im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung zu korrigieren, mithin die behaupteten Umstände zu veröffentlichen. Im Rahmen der durch diese Feststellungsziele abgegrenzten Streitgegenstände hat der Senat ohnehin die behauptete drohende Insolvenz der Musterbeklagten zu 1, die durch die Optionsstrategien bedingten Verluste und die vermeintlich pflichtwidrige Unterlassung einer Gewinnwarnung berücksichtigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_731">731</a></dt> <dd><p>Dass die Feststellung der mit den Erweiterungsanträgen bezeichneten Teilaspekte der Sittenwidrigkeitsprüfung daneben oder darüber hinaus Relevanz für die Entscheidung der Ausgangsverfahren haben könnte, ist nicht ersichtlich. Entsprechende Feststellungsziele wären nach der Rechtsauffassung des Senats daher ohnehin gegenstandslos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_732">732</a></dt> <dd><p>Entsprechend den vorstehenden Erwägungen wäre eine Erweiterung auch insoweit nicht sachdienlich, als der Erweiterungsantrag c) bb) die Unterlassung einer vollständigen Offenlegung insbesondere der Put-Optionspositionen und die hypothetischen Auswirkungen einer solchen Offenlegung auf die Kurse der Aktien der Musterbeklagten zu 2 zum Gegenstand hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_733">733</a></dt> <dd><p>5. Entsprechend den vorstehenden Erwägungen ist auch eine Erweiterung des Musterverfahrens um die mit <span style="text-decoration:underline">Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019 unter Nr. A.I.</span> (Bl. 8785 f. d.A.) formulierten Feststellungsziele nicht sachdienlich. Auch die dort abgebildeten Umstände sind bereits aufgrund der zugelassenen Feststellungsziele vom Senat berücksichtigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_734">734</a></dt> <dd><p>6. Der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag Nr. A.II.1. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019</span> (Bl. 8785 f. d.A.) bezieht sich auf die unterlassene Korrektur bestimmter Pressemitteilungen insbesondere betreffend die dort vermeintlich nicht hinreichend veröffentlichte Beherrschungsabsicht der Musterbeklagten zu 1 und anderer vermeintlicher Unrichtigkeiten bzw. auf die Unterlassung entsprechender Veröffentlichungen selbst. Da aus der Verletzung der dort in Bezug genommenen Vorschrift des § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG unmittelbar und auch in Verbindung mit § 823 Abs. 2 BGB nach der Rechtsauffassung des Senats keine Ersatzansprüche folgen, kommt den in diesem Erweiterungsantrag bezeichneten Umständen wiederum allenfalls im Zusammenhang mit der Prüfung der Sittenwidrigkeit nach § 826 BGB Bedeutung zu. Insoweit bedarf es keines weiteren Feststellungsziels; die entsprechenden Unterlassungen sind bereits Gegenstand zugelassener Feststellungsziele.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_735">735</a></dt> <dd><p>7. Die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge Nr. A.II.2. und II.3. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019</span> (Bl. 8785 f. d.A.) sowie die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge unter B.IV. aus dem Schriftsatz der E.-Beigeladenen vom 4. Oktober 2021</span> (Bl. 11742 ff. d.A.) zielen auf die Feststellungen ab, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Mitteilungspflicht nach § 15a Abs. 1 WpHG vorgelegen hätten und eine Verletzung dieser Pflichten vorsätzlich erfolgt sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_736">736</a></dt> <dd><p>Auch aus der etwaigen Verletzung solcher Mitteilungspflichten folgten Ersatzansprüche weder unmittelbar noch in Verbindung mit § 823 Abs. 2 BGB. Auch bei dieser Vorschrift handelt es sich nach überwiegender Auffassung, der der Senat folgt, nicht um ein Schutzgesetz, weil ihr keine individualschützende Wirkung zukommt. Einer etwaigen Verletzung dieser Mitteilungspflichten und damit den in diesen Erweiterungsanträgen bezeichneten Umständen kommt damit wiederum allenfalls im Zusammenhang mit der Prüfung der Sittenwidrigkeit nach § 826 BGB Bedeutung zu. Insoweit bedarf es keines weiteren Feststellungsziels; die entsprechenden Unterlassungen sind bereits Gegenstand zugelassener Feststellungsziele. Ein zentraler Angriff der Musterklägerin, der in verschiedenen Feststellungszielen zum Ausdruck kommt, ist gerade, dass die Musterbeklagte zu 1 nicht ausreichend bzw. unzutreffend über die Entwicklung und Umsetzung ihrer <em>„Zugriffsstrategie“</em>, und damit insbesondere über den Stand ihres Aktienbesitzes und der darauf bezogenen Optionen informiert habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_737">737</a></dt> <dd><p>Entsprechendes gilt insoweit, als sich der Erweiterungsantrag unter II.3. des Schriftsatzes vom 7. April 2019 auch auf Meldepflichten nach §§ 21, 22 WpHG bezieht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_738">738</a></dt> <dd><p>8. Der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag Nr. A.II.4. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019</span> (Bl. 8785 f. d.A.) ist ebenfalls zurückzuweisen. Insoweit kann offenbleiben, ob die Form einer Beteiligung der Musterbeklagten zu 2 an möglichen Delikten bezüglich der Pressemitteilung der Musterbeklagten zu 1 vom 26. Oktober 2008 bereits Gegenstand der zugelassenen Feststellungsziele ist, die auf die Feststellung der deliktischen Haftung bei der Musterbeklagten gerichtet sind und damit naheliegend auch die Beteiligungsform umfassen. Jedenfalls ist die Erweiterung um dieses Feststellungsziel deshalb nicht sachdienlich, weil es nach dem Ergebnis des Musterverfahrens gegenstandslos wäre. Keine der beiden Musterbeklagten haftet wegen der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_739">739</a></dt> <dd><p>9. Die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge Nr. A.II.5., II.6. und II.10. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019</span> (Bl. 8785 f. d.A.) sind auf die Feststellung grober Fahrlässigkeit gerichtet und zielen damit ersichtlich auf eine Haftung aus §§ 37b, c WpHG. Insoweit ist die begehrte Feststellung grober Fahrlässigkeit bereits Gegenstand der zugelassenen Feststellungsziele IV.9. und V.8. Es handelt sich damit bereits nicht um <em>„weitere“</em> Feststellungsziele i.S.d. § 15 Abs. 1 KapMuG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_740">740</a></dt> <dd><p>10. Der mit dem <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag Nr. A.II.7. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019</span> (Bl. 8785 f. d.A.) angestrebte Klammerzusatz stellt eine überflüssige und damit nicht sachdienliche Erläuterung des in dem zugelassenen Feststellungsziel verwandten Begriffs <em>„fehlerhaft“</em> dar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_741">741</a></dt> <dd><p>11. Die mit den <span style="text-decoration:underline">Anträgen Nr. A.II.8. und II.9. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019</span> (Bl. 8785 f. d.A.) angestrebte Neufassung führte zu keiner inhaltlichen Änderung oder auch nur substantiellen Klarstellung des zugelassenen Feststellungsziels VII.1. Auch dieser Antrag ist daher zurückzuweisen. Auch soweit der nach dem Antrag Nr. II.9. einzufügende Zusatz <em>„insbesondere“</em> klarstellen soll, dass auch weitere Motive im Rahmen der Prüfung einer Sittenwidrigkeit nach § 826 BGB zu berücksichtigen seien, wäre eine Erweiterung nicht sachdienlich, weil dieser Prüfung ohnehin eine Gesamtschau aller vorgetragenen Umstände zugrunde gelegt ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_742">742</a></dt> <dd><p>12. Die mit dem <span style="text-decoration:underline">Antrag Nr. A.II.11. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 7. April 2019</span> (Bl. 8785 f. d.A.) angestrebte Erweiterung wäre nicht sachdienlich. Das mit diesem Antrag formulierte Feststellungsziel, das Bedeutung für die Feststellung eines Schadens hätte, wäre gegenstandslos, weil die Musterbeklagten schon dem Grunde nach nicht haften.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_743">743</a></dt> <dd><p>13. Der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag zu Nr. III.1.a) aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. September 2021</span> (Bl. 11574 ff. d.A.) ist nicht entscheidungserheblich und sachdienlich. Ein entsprechendes Feststellungsziel wäre gegenstandslos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_744">744</a></dt> <dd><p>Die Frage, ob der jeweilige Beteiligungsumfang eine Insiderinformation darstellte, ist in erster Linie für eine Haftung aus §§ 37b, c WpHG von Bedeutung. Eine solche scheidet betreffend die Musterbeklagte zu 1 aber schon grundsätzlich aus. Einer Haftung der Musterbeklagten zu 2 auf dieser Grundlage steht schon entgegen, dass diese keine Kenntnis von diesen entsprechenden Umständen hatte und ihr insoweit auch keine grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_745">745</a></dt> <dd><p>Soweit ein Verstoß gegen § 15 WpHG im Rahmen der Beurteilung der Sittenwidrigkeit i.S.d. § 826 BGB zu prüfen ist, ist diese Prüfung wiederum unabhängig davon vorzunehmen, ob die Voraussetzungen der Veröffentlichungspflicht nach § 15 WpHG in einem Feststellungsziel abgebildet sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_746">746</a></dt> <dd><p>Aufgrund entsprechender Erwägungen sind auch die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge zu Nr. VII.1.1.a), VII.1.2.a) und VII.1.3.a) aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. September 2021</span> (Bl. 11574 ff. d.A.) mangels Sachdienlichkeit zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_747">747</a></dt> <dd><p>14. Der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag zu Nr. VII.1.a) aa) aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. September 2021</span> (Bl. 11574 ff. d.A.) zielt ausweislich seiner Begründung auf das Verschweigen von Put-Optionen auf Vorzugsaktien der Musterbeklagten zu 2. Das Verschweigen von Put-Optionen ist aber unabhängig der jeweiligen Referenzaktie bereits Gegenstand des zugelassenen Feststellungsziels VII.1.a). Der Erweiterungsanträge ist damit nicht auf ein <em>„weiteres“</em> Feststellungsziel i.S.d. § 15 Abs. 1 KapMuG gerichtet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_748">748</a></dt> <dd><p>15. Der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag zu Nr. VII.1.a) bb) aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. September 2021</span> (Bl. 11574 ff. d.A.) ist auf die Feststellung gerichtet, es sei fälschlich behauptet worden, der Absicherungskurs der Optionen liege unterhalb des (künftigen) Aktienkurses. Dieser Gesichtspunkt ist Teil der Argumentation der Musterklägerin, die Musterbeklagte zu 1 habe eine wirtschaftlich nicht realistisch umsetzbare Zielsetzung kommuniziert. Diese Auffassung ist Gegenstand des zugelassenen Feststellungsziels VII.1.f). Der auf die Feststellung eines Teil-Aspekts dieser Prüfung gerichtete Erweiterungsantrag ist deshalb nicht sachdienlich. Die möglichen Kursentwicklungen hat der Senat ohnehin schon aufgrund der zugelassenen Feststellungsziele bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit berücksichtigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_749">749</a></dt> <dd><p>Aufgrund entsprechender Erwägungen sind auch die <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge zu Nr. VII.1.1., VII.1.2., VII.1.3. und VII.1.4. bis VII.1.7. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. September 2021</span> (Bl. 11574 ff. d.A.) mangels Sachdienlichkeit zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_750">750</a></dt> <dd><p>16. Der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsantrag zu Nr. VII.1.e) aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. September 2021</span> (Bl. 11574 ff. d.A.) ist unabhängig davon, dass der Begriff der <em>„dauerhaften“</em> Marktenge nicht hinreichend bestimmt ist, schon mangels Sachdienlichkeit zurückzuweisen. Bereits im Rahmen der Beurteilung des zugelassenen Feststellungsziels VII.1.e) ist die dem zugrundeliegende Argumentation der Musterklägerin berücksichtigt, es sei eine dauerhafte Marktenge suggeriert worden, ohne dass dieser Teilaspekt ausdrücklich in einem Feststellungsziel abgebildet werden müsste.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_751">751</a></dt> <dd><p>17. Auch die Umstände, die Gegenstand der <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge zu Nr. VII.1.8. und VII.1.9. aus dem Schriftsatz der Musterklägerin vom 1. September 2021</span> (Bl. 11574 ff. d.A.) sind, sind bereits von den zugelassenen Feststellungszielen VII.1.g) und VII.2. umfasst. Auch insoweit wäre die Erweiterung des Musterverfahrens nicht sachdienlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_752">752</a></dt> <dd><p>18. Schließlich sind auch die übrigen <span style="text-decoration:underline">Erweiterungsanträge unter B. aus dem Schriftsatz der E.-Beigeladenen vom 4. Oktober 2021</span> (Bl. 11737 ff. d.A.) zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_753">753</a></dt> <dd><p>a) Diese Erweiterungsanträge haben eine Vielzahl von Umständen zum Gegenstand, die bei der Beurteilung zu berücksichtigen seien, ob die Veröffentlichung der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 sittenwidrig war. Sie greifen in der Sache aber nur den Sachverhalt auf, der ohnehin Gegenstand der durch den Senat vorgenommenen Prüfung ist und auf dessen Grundlage der Senat mit Bindungswirkung über diese Sittenwidrigkeit entscheidet. Ein Interesse an der ausdrücklichen Feststellung jedes einzelnen im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung zu berücksichtigenden Umstands besteht – wie gezeigt – nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_754">754</a></dt> <dd><p>b) Soweit einzelne Feststellungsziele zum Gegenstand haben, dass bestimmte Umstände zugleich Insiderinformationen i.S.d. §§ 13, 15 WpHG gewesen seien, rechtfertigt dies wiederum keine andere Beurteilung. Diese Gesichtspunkte sind bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit berücksichtigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_755">755</a></dt> <dd><p>Dass darüber hinaus wegen der möglichen Verletzung dieser Veröffentlichungspflichten – soweit sie nicht bereits Gegenstand zugelassener Feststellungsziele sind – Ansprüche in den Ausgangsverfahren geltend gemacht sind, ist bereits nicht dargetan. Auch die Begründung der Erweiterungsanträge lässt nicht erkennen, dass insoweit Ansprüche etwa aus §§ 37b, c WpHG geltend gemacht würden. Im Gegenteil führen die E.-Beigeladenen unter Rn. 4 des bezeichneten Schriftsatzes aus, dass es das Ziel der Erweiterungsanträge sei, deutlich zu machen, dass die in Bezug genommenen Umstände im Rahmen einer Gesamtschau bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit der vorgenannten Pressemitteilung zu berücksichtigen seien, wozu es aber entsprechender Feststellungsziele nicht bedarf. Im Übrigen wären entsprechende Feststellungsziele aus den vorgenannten Gründen auch gegenstandslos.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_756">756</a></dt> <dd><p>Gleiches gilt für Erweiterungsanträge, die wie die Erweiterungsanträge unter X.4. und XI.3.-7. einzelne Rechtsfragen zum Inhalt der Veröffentlichungspflicht zum Gegenstand haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_757">757</a></dt> <dd><p>c) Einzelne Erweiterungsanträge – insbesondere die Anträge zum Komplex VI. (Bl. 11745 f.) – nehmen auf vermeintlich falsche und irreführende Kapitalmarktkommunikation Bezug, die zeitlich vor den Kommunikationsakten erfolgte, auf die die Ersatzansprüche der Ausgangskläger gestützt sind, mithin auf Kommunikationsakte vor dem 3. März 2008. Durch diese Anträge würde der Streitgegenstand des Musterverfahrens nicht erweitert; unmittelbar auf diese Kommunikationsakte werden keine Ansprüche gestützt. Auch wenn die diesen Anträgen zugrundeliegenden Umstände im Rahmen der Gesamtschau bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit der streitgegenständlichen Kapitalmarktkommunikation zu berücksichtigt worden sind, ist eine Erweiterung des Musterverfahrens – wie ausgeführt – nicht sachdienlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_758">758</a></dt> <dd><p>d) Erst recht ist eine Erweiterung insoweit nicht sachdienlich, als die Feststellung begehrt wird, dass bestimmte Umstände bei der Sittenwidrigkeitsprüfung zu berücksichtigen seien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>III.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_759">759</a></dt> <dd><p>Diese Zurückweisung der Erweiterungsanträge ist unanfechtbar (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 – II ZB 24/14, juris Rn. 137 ff.).</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Sonstiger Langtext</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>A. <span style="text-decoration:underline">Gliederung</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><table class="Rsp"> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">B.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Sachbericht</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 1 </p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Aufbau der Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 5 </p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Optionsstrategien</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 8 </p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Satzung der Musterbeklagten zu 2 und VW-Gesetz</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 22</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Beschlüsse und Kommunikation der Musterbeklagten zu 1</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">im Zeitraum vom 3. März bis Mitte Oktober 2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 26</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Anschließende Entwicklung und Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 39</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Streitiger Vortrag der Musterklägerin und der Beigeladenen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 46</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Feststellungsziele</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 57</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Streitiger Vortrag der Musterbeklagten zu 1</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 58</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">C.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rechtliche Erwägungen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">I.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Statthaftigkeit des Vorlagebeschlusses</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 62</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">II.     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Begründetheit der Feststellungsziele</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 78</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">1.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Haftung der Musterbeklagten zu 1</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 82</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">a)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">§§ 37b, c WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 83</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">b)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 15, 15a, 20a WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 85</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">c)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 400 Abs. 1 AktG</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 88</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">d)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 89</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">e)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">§ 826 BGB – <span style="text-decoration:underline">Mitteilungen vor dem 26.10.2008</span></p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 90</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">aa)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Grundsätze</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 93</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">bb)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Konkrete Prüfung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 98</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine grobe Unrichtigkeit</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 100</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Ad-hoc- und Pressemitteilung 3.3.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 104</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(b)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Pressemitteilung 10.3.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 124</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(c)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Manager Magazin 23.7.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 146</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(d)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">FAZ 28.7.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 150</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(e)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Pressemitteilung 16.9.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 155</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(f)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Spiegel-online 18.9.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 159</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(g)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Finanzen.net 2.10.2008; FAZ 6.10.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 163</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(h)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Financial Times 21.10.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 167</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Übergreifende Gesichtspunkte zur Bewertung der Kommunikationsakte</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 169</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kommunikationsstrategie</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 171</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(b)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Bereits zuvor bekannte Umstände und deren Bewertung durch Marktteilnehmer</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 178</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(c)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Konkrete Umsetzung der Absicht abhängig von weiteren Umständen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 203</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">f)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">§ 826 BGB – <span style="text-decoration:underline">Unterlassen vor dem 26.10.2008</span></p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 236</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">aa)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Mitteilungspflichten nach §§ 21 ff. WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 240</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">bb)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Verwerflichkeit wegen Verletzung von Publizitätspflichten</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">nach § 15 WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 251</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Schutzzweck der Norm</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 252</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Restriktivere Haftung außerhalb des Verhältnisses des Anlegers zum Emittenten</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 262</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(3)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kein sittliches Gebot</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 263</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a) – (c)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Qualifizierung einer Unterlassung als verwerflich</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 264</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(d)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Publikationspflicht jedenfalls nicht offensichtlich</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 277</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(aa)   </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Hinreichend konkrete Informationen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 282</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(bb)   </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine offensichtliche Kursrelevanz</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 291</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(aaa) - (ccc)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Grundsätze</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 294</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(ddd) </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Subsumtion; insbesondere Berücksichtigung sonst verfügbarer Informationen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 301</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(α)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Berücksichtigung der Mitteilung vom 3.3.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 304</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(β)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Vorhandene Informationen für Anteilsaufstockung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 305</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(γ)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Vorhandene Informationen für Optionsstrategie</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 312</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(δ)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Beherrschungsabsicht teilweise ausdrücklich angenommen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 317</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(ε)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Tatsächlicher Kursverlauf</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 319</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(ζ)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Zum Emittentenleitfaden</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 326</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(cc) – (ee)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Weitere Gesichtspunkte</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 327</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">cc)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Ingerenz</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 330</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">dd)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine aus § 242 BGB folgende Handlungspflicht</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 333</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">ee)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Directors‘ Dealings, § 15a WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 339</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">g)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Übergreifende Gesamtschau zum Zeitraum vor dem 26.10.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 355</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">aa)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kommunikationsstrategie</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 356</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">bb)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Beeinflussung des Aktienkurses</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 358</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">cc)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Information der Musterbeklagten zu 2</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 361</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">dd)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Förderung eigener Ziele der Musterbeklagten zu 1</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 362</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">ee)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Bewusste Täuschung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 369</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">ff)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Zusammenhang mit <em>„Diesel-Abgasskandal“</em></p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 370</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">gg)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Schädigung der Musterbeklagten zu 2</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 379</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">hh)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left"><em>„Einbindung“</em> von Leerverkäufern</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 380</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">ii)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Subjektive Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 382</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">h)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">§ 826 BGB – <span style="text-decoration:underline">Mitteilung vom 26.10.2008</span></p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 386</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">aa)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine (grobe) Unrichtigkeit oder Irreführung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 387</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Mitgeteilte Anteile und Optionen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 390</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Beherrschungsabsicht und deren Umsetzung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 393</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Aussagegehalt</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 394</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(b)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Beherrschungsabsicht nicht aufgegeben</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 397</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(c)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Unrichtigkeit mangels Liquidität</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 407</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(aa)   </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Vorhandene Liquidität</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 408</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(bb)   </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine drohende Insolvenz</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 411</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(aaa) </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Freie Liquidität</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 414</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(bbb) </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Drohende Verluste der VW-Stammaktie</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 420</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(α)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Bisheriger Kursverlauf</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 426</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(β)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Lage an den Kapitalmärkten</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 432</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(γ)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Leerverkäufe</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 433</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(δ)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Verhalten der Hedgingpartner</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 436</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(ε)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Überbewertung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 437</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(ζ)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Risikoabschätzung nach Value-at-Risk</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 439</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(η)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Simulierte Ausfallwahrscheinlichkeit</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 442</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(θ)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Entwicklung bei zutreffender Information</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 443</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(ccc) </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Risiko bei unveränderten Kursen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 447</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(ddd) </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Risiken aufgrund Vorzugsaktien</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 448</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(d)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Unsicherheiten nicht offen zu legen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 450</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(3)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Marktenge nicht möglichst nachhaltig suggeriert</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 453</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(4)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Eigeninteressen nicht verschwiegen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 463</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a), (b)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Grundsätze</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 465</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(c)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Angaben zu Einzelheiten der Optionen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 469</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(d)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Angaben zu Optionen auf Vorzugsaktien</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 488</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(5)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Bezeichnung als Kurssicherungsgeschäfte</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 489</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(6)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Suggestion zum Aktienkurs</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 493</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(7)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine unrichtigen Motive genannt</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 494</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(8)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Erforderlichkeit weiterer Organbeschlüsse</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 510</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(9)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Bezug auf <em>„dramatische Verwerfungen“</em></p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 511</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(10)   </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Suggestion einer neuen Beschlusslage</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 512</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">bb)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Gesamtschau betreffend Mitteilung vom 26.10.2008</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 514</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine unzulässigen Zwecke verfolgt</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 515</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Wahl einer formlosen Pressemitteilung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 528</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(3)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Unterlassene Gewinnwarnung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 530</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(4)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Marktmanipulation, § 20a WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 540</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(5)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Zurückhaltende vorangegangene Kommunikation</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 562</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(6)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Sich bereits zuvor verdichtende Signale</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 563</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(7)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Schadenshöhe</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 564</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(8)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Personen der Geschädigten unerheblich</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 565</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">i)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kartellrechtliche Ansprüche</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 566</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">aa)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Marktbeherrschung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 567</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Marktabgrenzung – allg. Grundsätze</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 568</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Relevanter Markt bei Unternehmensbeteiligungen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 571</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(3)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kein relevanter Teilmarkt</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 573</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Verengung aufgrund temporärer Mangellage</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 575</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(b)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Verengung durch fehlerhafte Informationen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 581</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">bb)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kein Missbrauch</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 583</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kein Preishöhenmissbrauch</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 584</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kein sonstiger Missbrauch</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 591</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">j)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Wettbewerbsrechtliche Ansprüche</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 592</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">aa)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kapitalmarktinformationen keine Wettbewerbshandlungen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 593</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">bb)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Unlauterkeit</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 600</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">2.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Haftung der Musterbeklagten zu 2</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 604</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">a)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Haftung aus § 37b WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 605</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">aa)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Subjektiver Haftungstatbestand, insb. Kenntnis</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 607</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">bb)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kenntnisträger: Vorstand</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 610</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">cc)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Beweislastumkehr für Kenntnis des Vorstands</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 612</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Auslegung § 37b Abs. 2 WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 615</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Pauschales Bestreiten ausreichend</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 619</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">dd)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kenntnis des Vorstands nicht festzustellen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 620</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Nicht durch <em>„Analysen und Studien“</em> erlangt</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 621</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Nicht von Prof. Dr. P. erlangt</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 625</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">ee)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Zurechnung möglicher Kenntnisse von Mitgliedern des Aufsichtsrats</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 629</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(1)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kenntnis Prof. Dr. P. und Dr. Po.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 630</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Verschwiegenheitspflicht nach Art. 49 SE-VO</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 631</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(b)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Ausnahme nach Art. 49 Halbs. 2 SE-VO</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 638</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(c)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Verschwiegenheitspflicht nicht verdrängt</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 646</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(d)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Möglicher Interessenkonflikt unerheblich</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 650</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(e)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Möglicher faktischer Konzern unerheblich</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 651</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(f)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Mögliche Stellung Prof. Dr. P.s als faktischer Vorstand unerheblich</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 654</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(g)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Zurechnung wg. Repräsentantenhaftung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 655</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(2)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Kenntnis Dr. W. und H.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 657</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(3)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Mögliche Kenntnis C. W.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 660</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(a)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Aufsichtsratswissen grunds. nicht zuzurechnen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 661</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(b)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Verschwiegenheitspflicht Ministerpräsident</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 662</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">(c)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Zudem: Keine hinreichend konkrete Kenntnis</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 663</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">ff)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Zurechnung aufgrund der Verletzung von Organisationspflichten</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 671</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">gg)     </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine grob fahrlässige Unkenntnis</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 673</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">b)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Haftung aus § 37c WpHG a.F.</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 674</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">c)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Keine Haftung auf anderer Grundlage</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 675</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">3.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Vorlage von Urkunden nicht anzuordnen</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 679</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">4.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Behandlung der Feststellungsziele</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 682</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">a)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Unzulässige Feststellungsziele</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 683</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">b)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Unbegründete Feststellungsziele</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 685</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">c)    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Gegenstandslose Feststellungsziele</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 702</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">D.    </p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Zurückweisung weiterer Erweiterungsanträge</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:left">Rn. 708</p></td> </tr> </table></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE271502022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,861
ovgnrw-2022-09-30-19-b-71222
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 B 712/22
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:33"
"2022-10-17T11:10:54"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0930.19B712.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung teilweise geändert.</p> <p>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt, soweit das Verwaltungsgericht ihm stattgegeben hat.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen in vollem Umfang.</p> <p>Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Streitgegenstand der Beschwerde des Antragsgegners ist der stattgebende Teil des angefochtenen Beschlusses. Mit diesem Teil hat das Verwaltungsgericht dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache ‑ sofern eine solche nicht anhängig gemacht wird, längstens bis zum 31. August 2022 ‑ untersagt, nachgeordneten Behörden gegenüber „zu äußern“, dass die von der Antragstellerin ausgestellten Sprachzertifikate in staatsangehörigkeitsrechtlichen Verfahren nicht anerkennungsfähig seien und ausschließlich (gemeint: Sprachzertifikate von) Mitgliedsinstitutionen der Association of Language Testers in Europe (ALTE) anerkennungsfähig seien. Damit hat das Verwaltungsgericht den Anträgen zu 1., Spiegelstriche 1 und 3, aus der Antragsschrift vom 28. Januar 2022 stattgegeben. Hingegen hat es den Antrag auf Untersagung von „Äußerungen“ über ein Fehlen einer hinreichenden Qualitätsüberprüfung und Qualitätskontrolle bei den von der Antragstellerin ausgestellten Sprachzertifikaten (Antrag zu 1, Spiegelstrich 2) sinngemäß abgelehnt mit der Bemerkung, eine solche „Äußerung“ sei dem Antragsgegner weder öffentlich noch intern zuzuordnen (S. 6, letzter Absatz des Beschlusses). Ebenfalls sinngemäß abgelehnt hat es den Antrag auf Untersagung eines öffentlichen Verbreitens der in allen drei Spiegelstrichen genannten „Äußerungen“ (Antrag zu 1, Einleitungssatz) sowie den Antrag auf Widerruf dieser „Äußerungen“ gegenüber anderen Behörden (Antrag zu 2.). Hinsichtlich aller dieser abgelehnten Anträge ist der angefochtene Beschluss rechtskräftig.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde des Antragsgegners mit diesem Inhalt ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat seine einstweilige Anordnung damit begründet, dass die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht habe. Mit dem öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch könne sie sich gegen staatliche Maßnahmen wenden, die sie in ihrer grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit verletzten. Der Runderlass „Nachweis der Kenntnisse der deutschen Sprache im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens/Sprachzertifikate von privaten Sprachschulen“ vom 23. April 2019 ‑ Az. 512-40.02.01-5.3 ‑ und die daraus folgende Verwaltungspraxis des Antragsgegners verletzten die Antragstellerin in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG, ohne dass für diesen Eingriff eine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage bestehe. Eine gesetzliche Ermächtigung folge insbesondere nicht aus dem Staatsangehörigkeitsgesetz selbst. Dort sei gesetzlich nicht im Ansatz erwähnt, wie Sprachkenntnisse nachzuweisen seien. Sie würden schlicht auf dem Niveau ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache gefordert, die mithin die Anforderungen einer Sprachprüfung der Stufe B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen zu erfüllen hätten. Einschränkungen aufgrund bestimmter, vorzulegender Sprachzertifikate oder Nachweismodalitäten von Abschlusstests seien gerade nicht vorgesehen. Eine Eingriffsermächtigung folge auch nicht aus der dem Antragsgegner zugewiesenen Zuständigkeit als oberste Landesbehörde (§ 3 LOG NRW). Grundsätzlich könne Informationshandeln von der bloßen staatlichen Aufgabenwahrnehmung gedeckt sein, auch wenn es mit einer mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung verbunden sei. Die in dem Runderlass vom 23. April 2019 zum Ausdruck kommende Verwaltungstätigkeit des Antragsgegners gehe indes über eine bloße Informationstätigkeit hinaus. Vielmehr finde eine rechtlich (be-)wertende Tätigkeit darüber statt, aufgrund welcher Umstände bestimmte gesetzliche Anforderungen als erfüllt angesehen werden könnten.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Würdigung zieht der Antragsgegner mit seinem fristgerecht vorgebrachten Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zunächst beschränkt ist, durchgreifend in Zweifel (dazu I.). Die nachfolgende Prüfung führt zu dem Ergebnis, dass der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO unbegründet ist (dazu II.).</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">I. Der Antragsgegner wendet mit Recht ein, dass sich das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKFFI) als zuständige oberste Landesbehörde im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts mit dem genannten Runderlass und der sonstigen beanstandeten Kommunikation mit den nachgeordneten Behörden gerade in seinem Kompetenzbereich betätige. Es sei Aufgabe der Staatangehörigkeitsbehörden, das Vorliegen der Einbürgerungsvoraussetzungen zu überprüfen, auch der ausreichenden Sprachkenntnisse nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG. Dies beinhalte auch die Prüfung, welcher Beweiswert einem vorgelegten Sprachzertifikat beizumessen sei. Damit zeigt er in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Sätze 4 und 6 VwGO genügenden Weise auf, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, es fehle an einer gesetzlichen Grundlage für die beanstandete Weisungspraxis des MKFFI, nicht tragfähig ist (siehe unten II.1).</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet. Die Antragstellerin hat die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dabei kann dahinstehen, ob die Weisungstätigkeit des MKFFI angesichts der Spielräume, die den nachgeordneten Behörden bei der Bewertung der Sprachzertifikate verbleiben, bereits für sich genommen als Eingriff in subjektive öffentliche Rechte der Antragstellerin eingestuft werden kann. Ein gegen die streitgegenständliche Weisungstätigkeit des MKFFI gerichteter öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch scheidet nach Aktenlage jedenfalls deshalb aus, weil die an den Runderlass vom 23. April 2019 anknüpfende allgemeine Weisung zur Bewertung der Beweiskraft der von der Antragstellerin ausgestellten Sprachzertifikate rechtmäßig ist. Sie findet ihre gesetzliche Grundlage in § 9 Abs. 2 Buchst. a OBG NRW i. V. m. den Befugnissen aus § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG und § 24 Abs. 1 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW (dazu 1.). Die Weisungspraxis des MKFFI entspricht nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand den gesetzlichen Vorgaben und ist im Hinblick auf eine mögliche Beeinträchtigung der Berufsfreiheit der Antragstellerin auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt (dazu 2.).</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts beruht die von der Antragstellerin beanstandete Verwaltungstätigkeit des Antragsgegners sowohl materiell-rechtlich als auch verwaltungsverfahrensrechtlich auf hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlagen. Materiell-rechtlich ergibt sich die gesetzliche Grundlage für die Prüfung ausreichender Sprachkenntnisse eines Einbürgerungsbewerbers aus § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG (dazu a). Verwaltungsverfahrensrechtlich ergibt sich die gesetzliche Grundlage für Sachverhaltsermittlungen betreffend diese materielle Einbürgerungsvoraussetzung aus § 24 Abs. 1 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW (dazu b). Das MKFFI kann dabei nach § 9 Abs. 2 Buchst. a OBG NRW als oberste Aufsichtsbehörde allgemeine Weisungen zur Bewertung der Sprachzertifikate eines bestimmten Prüfungsanbieters erteilen (dazu c).</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">a) Materiell-rechtliche Rechtsgrundlage für die Prüfung ausreichender Sprachkenntnisse eines Einbürgerungsbewerbers ist § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG ist ein Ausländer auf Antrag einzubürgern, wenn er ‑ neben den weiteren Voraussetzungen des Satzes 1 ‑ über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt. Diese Voraussetzungen liegen nach § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG vor, wenn der Ausländer die Anforderungen einer Sprachprüfung der Stufe B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen erfüllt. Der gleiche Maßstab gilt nach § 9 Abs. 1 StAG für die Ehegatteneinbürgerung und ist gemäß Nr. 8.1.2.1.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Staatsangehörigkeitsgesetz vom 1. Juni 2015 (VAH-StAG) in der Regel auch bei der Prüfung der Sprachkenntnisse im Rahmen der Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG anzulegen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Erfüllung dieser Anforderungen kann in der Regel durch die Ablegung einer Sprachprüfung und die Vorlage des hierüber ausgestellten Zertifikats nachgewiesen werden. Doch kann die Beweiskraft eines Sprachzertifikats aus verschiedenen Gründen eingeschränkt sein, zum Beispiel wenn eine Sprachschule in der Vergangenheit manipulierte Sprachzertifikate ausgestellt hat oder Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass nach Zertifikatsausstellung ein entscheidungserheblicher Sprachverlust eingetreten sein könnte. Umgekehrt können die erforderlichen Sprachkenntnisse auch auf andere Weise als durch ein Sprachzertifikat nachgewiesen werden. Einbürgerungsvoraussetzung ist das Vorhandensein ausreichender Sprachkenntnisse, nicht die Vorlage eines Sprachzertifikats. Das Sprachzertifikat dient lediglich dem Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse im Sinn des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. November 2013 - 19 E 1061/13 -, juris, Rn. 3, und vom 8. Oktober 2013 - 19 E 919/13 -, juris, Rn. 2; ausführlich Marx, in: Berlit, Gemeinschaftskommentar zum Staatsangehörigkeitsgesetz, Stand: 38. Aktualisierungslieferung September 2021, § 10 StAG Rn. 315 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">§ 10 Abs. 4 StAG enthält keine Vorgaben dazu, wie eine Sprachprüfung ausgestaltet sein muss, um als „Sprachprüfung der Stufe B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ angesehen werden zu können. § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG ist durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes (4. StAGÄndG) vom 12. August 2021 (BGBl. I S. 3538) mit Wirkung vom 20. August 2021 geändert worden. In § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG in der bis zum 19. August 2021 geltenden Fassung wurde noch auf die „Anforderungen der Sprachprüfung zum Zertifikat Deutsch (B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen) in mündlicher und schriftlicher Form“ Bezug genommen. Dies erlaubte den Rückschluss, dass der Gesetzgeber auf die Bewertungsmaßstäbe abstellen wollte, die nach der u. a. vom Goethe-Institut und der telc gGmbH erarbeiteten Konzeption des Zertifikats Deutsch B1 für dessen Erwerb angelegt wurden.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ausführlich OVG NRW, Urteil vom 10. Dezember 2020 - 19 A 2379/18 -, juris, Rn. 39 ff.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dieser Auslegung wollte der Gesetzgeber mit der Änderung des § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG ausweislich der Gesetzesbegründung ausdrücklich entgegentreten.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Drs. 249/21, S. 16 f.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Gesetzgeber hat dabei aber nicht geregelt, welche Anforderungen nunmehr an eine Sprachprüfung im Sinn des § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG zu stellen sind. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich jedenfalls, dass ausreichend sein soll, wenn in dem in der Integrationskurstestverordnung (IntTestV) geregelten Deutsch-Test für Zuwanderer nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Integrationskursverordnung (IntV) die Kompetenzstufe B 1 erreicht wird. Nach der Gesetzesbegründung soll die neue Formulierung inhaltlich den Regelungen im Aufenthaltsrecht entsprechen und sicherstellen, dass eine einheitliche Anwendung erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Drs. 249/21, S. 17.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dies spricht dafür, dass mit der Gesetzesänderung nicht auf jegliche Qualitätsstandards verzichtet, sondern lediglich klargestellt werden sollte, dass die in § 10 Abs. 1 IntTestV geregelte Abweichung von den Bewertungsmaßstäben der Sprachprüfung zum Zertifikat Deutsch,</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 10. Dezember 2020, a. a. O., Rn. 56 ff.,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">auch für den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse im Sinn des § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG gilt.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">b) Der Umstand, dass im Gesetz nicht festgelegt ist, in welcher Form die geforderten Sprachkenntnisse nachzuweisen sind, rechtfertigt mit anderen Worten nicht den Schluss, dass jedes vorgelegte Dokument als Nachweis zu akzeptieren ist. Die Einbürgerungsbehörde hat vielmehr Art und Umfang ihrer Sachverhaltsermittlungen gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen und kann den Einbürgerungsbewerber bei Bedarf nach § 37 Abs. 1 Satz 2 StAG i. V. m. § 82 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zur Vorlage aussagekräftiger Nachweise auffordern.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. allgemein zum Verfahrensermessen bei der Amtsermittlung: Schneider, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: 2. Aktualisierungslieferung April 2022, VwVfG § 24 Rn. 130 f.; Kallerhoff/Fellenberg, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 24 Rn. 26 ff. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich ist demnach, ob das vorgelegte Sprachzertifikat einen überzeugenden Beleg dafür liefert, dass die Sprachkenntnisse des Einbürgerungsbewerbers der Stufe B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen, so dass auf eine weitere Sachverhaltsaufklärung verzichtet werden kann.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Integrationskurstestverordnung enthält detaillierte Vorgaben zur Ausgestaltung der Sprachprüfung, zum Beispiel zu Prüfungsumfang und -dauer (§ 3 IntTestV), zur Überprüfung der Identität (§ 6 IntTestV) und zur Aufsicht (§ 7 IntTestV). Die Sprachprüfung kann nur bei den nach § 20a Abs. 1 IntV vom BAMF zugelassenen Prüfungsstellen durchgeführt werden. Dabei prüft das BAMF, ob die Kursträger zuverlässig und leistungsfähig sind und die Prüfungssicherheit gewährleisten, § 20a Abs. 1 Satz 2 IntV. Dem Gesetzeswortlaut des § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG lässt sich aber nicht entnehmen, dass auch die für die Einbürgerung erforderlichen Sprachkenntnisse nunmehr nur noch durch eine bei einer nach § 20a Abs. 1 IntV vom BAMF zugelassenen Prüfungsstelle abgelegten Sprachprüfung nachgewiesen werden können. Wenn ein Sprachzertifikat von einem anderen Prüfungsanbieter vorgelegt wird, dürfen die Einbürgerungsbehörden dies daher nicht pauschal zurückweisen, sondern müssen in jedem Einzelfall prüfen, ob das vorgelegte Sprachzertifikat einen überzeugenden Beleg dafür liefert, dass die Sprachkenntnisse des Einbürgerungsbewerbers der Stufe B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen, oder eine weitere Sachverhaltsaufklärung erforderlich ist.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">c) Das MKFFI kann dabei nach § 9 Abs. 2 Buchstabe a OBG NRW als oberste Aufsichtsbehörde allgemeine Weisungen zur Bewertung der Sprachzertifikate eines bestimmten Prüfungsanbieters erteilen. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts benötigt das MKFFI für den genannten Runderlass vom 23. April 2019 und vergleichbare Äußerungen gegenüber nachgeordneten Behörden keine darüber hinausgehende, besondere „Ermächtigungsgrundlage“ für „staatliches Informationshandeln“.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Weisungsbefugnis der Fachaufsichtsbehörden ist ein Grundprinzip der Verwaltungsorganisation und ergibt sich hier aus § 9 Abs. 2 Buchstabe a OBG NRW. Einbürgerungsbehörden sind nach § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Zuständigkeit in Staatsangehörigkeitsangelegenheiten vom 3. Juni 2008 (GV. NRW. S. 468) die Ordnungsbehörden der kreisfreien Städte, die örtlichen Ordnungsbehörden der Großen kreisangehörigen Städte und im Übrigen die Kreisordnungsbehörden. Das MKFFI ist die nach § 7 Abs. 3 OBG NRW zuständige oberste Aufsichtsbehörde. Nach § 9 Abs. 2 Buchstabe a OBG NRW dürfen die Aufsichtsbehörden zur zweckmäßigen Erfüllung der ordnungsbehördlichen Aufgaben allgemeine Weisungen erteilen, um die gleichmäßige Durchführung der Aufgaben zu sichern. Darunter fallen sowohl der genannte Runderlass vom 23. April 2019 als auch etwaige Hinweise auf den Inhalt des Runderlasses bei Nachfragen im Einzelfall. Dass sich die Aufsichtsbehörden jederzeit über die Angelegenheiten der Ordnungsbehörden unterrichten können, ist ebenfalls ein zwingender Bestandteil der Fachaufsicht und ausdrücklich in § 8 OBG NRW geregelt.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2. Die Weisungspraxis des MKFFI zur Bewertung der Sprachzertifikate der Antragstellerin ist nach Aktenlage rechtmäßig. Das MKFFI hat in rechtlich nicht zu beanstandender Weise darauf abgestellt, dass die Qualität einer Sprachprüfung grundsätzlich nicht hinreichend sichergestellt ist, wenn das Prüfungsangebot nicht durch die ALTE oder in vergleichbarer Form geprüft wurde und nur eine Online-Sprachprüfung über das Internet abgelegt wird (dazu a). Nach den vorliegenden Erkenntnissen gewährleistet die von der Antragstellerin vorgelegte Zertifizierung ihres Prüfungsangebots keine hinreichende Qualitätskontrolle (dazu b). Unabhängig davon hat die Antragstellerin auch nicht glaubhaft gemacht, dass sie die gesetzlich geforderten Sprachkenntnisse mit den von ihr angebotenen Sprachprüfungen ebenso verlässlich feststellt wie die Sprachschulen, deren Prüfungsqualität von der ALTE bestätigt wurde und deren Sprachprüfungen zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil als Präsenzprüfung durchgeführt werden (dazu c).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">a) Nach den Vorgaben des MKFFI kann der Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse im Sinn des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG auch durch Sprachzertifikate von privaten Sprachschulen erbracht werden, wenn die Qualität der Sprachprüfungen hinreichend sichergestellt ist. Das MKFFI hat weiter festgestellt, dass die Qualität der Sprachprüfungen der Antragstellerin derzeit nicht hinreichend sichergestellt ist, weil das Prüfungsangebot nicht durch die ALTE oder in vergleichbarer Form geprüft wurde und nur eine Online-Sprachprüfung über das Internet abgelegt wird. Das MKFFI hat keine Vorgaben zum weiteren Vorgehen gemacht, wenn nur ein von der Antragstellerin ausgestelltes Sprachzertifikat vorgelegt wird. Es bleibt danach den Einbürgerungsbehörden überlassen, in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Maßnahmen ergriffen werden, um festzustellen, ob der Einbürgerungsbewerber über die gesetzlich geforderten Sprachkenntnisse verfügt.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht ist bei seiner Prüfung von einer Verwaltungspraxis des MKFFI ausgegangen, die nach den vorliegenden Erkenntnissen den Inhalt der Weisungstätigkeit des MKFFI nicht vollständig zutreffend erfasst. Maßgeblich ist insoweit nicht allein die Formulierung des Runderlasses 23. April 2019, sondern auch die tatsächliche Handhabung in der Praxis, wie sie sich nach den diesbezüglichen Erläuterungen des MKFFI im gerichtlichen Verfahren und in dem an die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin gerichteten Schreiben vom 28. Januar 2022 darstellt.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Danach gibt das MKFFI den nachgeordneten Behörden - wie das Verwaltungsgericht im Ausgang zutreffend angenommen hat - vor, die von der Antragstellerin ausgestellten Sprachzertifikate in Einbürgerungsverfahren nicht als Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse im Sinn des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG anzuerkennen. Das MKFFI weist die nachgeordneten Behörden jedoch nicht an, ausschließlich Sprachzertifikate von Mitgliedsinstitutionen der ALTE anzuerkennen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Eine derartige Aussage findet sich weder in dem Runderlass vom 23. April 2019 noch in dem genannten Schreiben vom 28. Januar 2022. Das MKFFI hat in dem Schreiben vom 28. Januar 2022 und im gerichtlichen Verfahren ausdrücklich erklärt, dass die Sprachzertifikate der Antragstellerin wegen der nicht durchführbaren Qualitätskontrolle sowie wegen nicht ausreichend abgesicherter Online-Prüfungen nicht anerkannt werden könnten. Die unzureichende Qualitätskontrolle hat es hingegen nicht pauschal mit der fehlenden ALTE-Akkreditierung begründet, sondern im Einzelnen dargelegt, warum die Zertifizierung durch die DeuZert GmbH nicht gleichwertig sei. Diese einzelfallbezogene Würdigung entspricht den konkreten Aussagen in dem Runderlass vom 23. April 2019, dass für die Anerkennung von Sprachzertifikaten vorausgesetzt werde, dass der Sprachtest einer Qualitätsüberprüfung und Qualitätskontrolle unterliege, damit eine einheitliche und objektive Messung der Sprachkompetenz gewährleistet werde, und dass außerhalb von standardisierten Prüfungsformaten ausgestellte Sprachzertifikate nicht geeignet seien, die für die Einbürgerung vorausgesetzten Sprachkenntnisse nachzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Nach den Vorgaben des MKFFI sollen die von Mitgliedsinstitutionen der ALTE vergebenen Sprachzertifikate grundsätzlich als Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse im Sinn des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG anerkannt werden. Nach den Erläuterungen des MKFFI im Schreiben vom 28. Januar 2022 und im gerichtlichen Verfahren bedeutet das aber umgekehrt nicht, dass die Sprachzertifikate der Antragstellerin nicht ebenfalls als ausreichender Nachweis anerkannt werden können, wenn die Qualität ihrer Sprachprüfungen in anderer Form sichergestellt ist und die Prüfungen nicht als Online-Prüfungen durchgeführt werden. In dem Schreiben vom 28. Januar 2022 hat das MKFFI auch noch einmal ausdrücklich klargestellt und erläutert, dass immer maßgeblich sei, dass die einbürgerungsinteressierte Person zum Zeitpunkt der Einbürgerung tatsächlich über die erforderlichen Sprachkenntnisse verfüge, und von einem Sprachtest abgesehen werden könne, wenn der Einbürgerungsbewerber nach der in einem persönlichen Gespräch gewonnenen Überzeugung der Einbürgerungsbehörde offensichtlich über die geforderten Sprachkenntnisse verfüge. Dies steht im Einklang mit Nr. 10.1.1.6 VAH-StAG und macht ebenfalls deutlich, dass es nicht der Weisungspraxis des MKFFI entspricht, dass der Nachweis der geforderten Sprachkenntnisse nur mit einem von einer Mitgliedsinstitution der ALTE ausgestellten Sprachzertifikat erbracht werden kann.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Für die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung des Antragsgegners, gegenüber nachgeordneten Behörden nicht zu äußern, dass ausschließlich (Sprachzertifikate von) Mitgliedsinstitutionen der ALTE anerkennungsfähig seien, fehlt es danach schon deshalb an einer rechtlichen Grundlage, weil das MKFFI nach den vorliegenden Erkenntnissen keine Weisungen dieses Inhalts an nachgeordnete Behörden ausspricht.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Dagegen ist es nach dem materiell-rechtlichen Maßstab des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG und den verfahrensrechtlichen Vorgaben der §§ 24, 26 VwVfG NRW rechtlich nicht zu beanstanden, nur dann von einer weiteren Sachverhaltsermittlung in Bezug auf die Sprachkenntnisse eines Einbürgerungsbewerbers abzusehen, wenn ein Sprachzertifikat eines Prüfungsanbieters vorgelegt wird, dessen Prüfungsqualität in besonderer Weise sichergestellt ist. Diese Differenzierung ist weder willkürlich noch greift sie in unverhältnismäßiger Weise in subjektive öffentliche Rechte der Einbürgerungsbewerber oder der Sprachprüfungsanbieter ein. Insbesondere muss kein Sprachprüfungsanbieter Mitglied der ALTE werden, um Sprachzertifikate ausstellen zu können, die im Einbürgerungsverfahren als ausreichender Nachweis für die von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG geforderten Sprachkenntnisse anerkannt werden, sondern steht es ihm frei, die Qualität seiner Sprachprüfungen in anderer, aber vergleichbarer Form überprüfen zu lassen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Auch der generelle Ausschluss von Online-Sprachprüfungen ist sachgerecht, um sicherzustellen, dass die bescheinigten Sprachkenntnisse mit den tatsächlichen Sprachkenntnissen des Einbürgerungsbewerbers übereinstimmen. Der Antragsgegner hat im Einzelnen dargelegt, dass er reinen Online-Prüfungen einen geringeren Beweiswert beimesse, weil sowohl die Prüfung der Sprachkompetenzen als auch die Feststellung der Identität der Prüfungsteilnehmenden schwieriger sei als bei Präsenzprüfungen. Auch diese Erwägungen sind nicht zu beanstanden. Maßgeblich ist wiederum, ob das vorgelegte Sprachzertifikat einen derart überzeugenden Nachweis für die gesetzlich geforderten Sprachkenntnisse des Einbürgerungsbewerbers darstellt, dass auf eine weitere Sachverhaltsprüfung verzichtet werden kann. Dies rechtfertigt es, besondere Anforderungen an das Prüfungsverfahren zu stellen. Eine Pflicht, das Ergebnis einer reinen Online-Sprachprüfung als ausreichenden Nachweis anzusehen, lässt sich aus § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG nicht ableiten. Im Gegenteil setzt auch der in der Gesetzesbegründung zum 4. StAGÄndG ausdrücklich genannte Deutsch-Test für Zuwanderer nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IntV eine Präsenzprüfung voraus. Der Verordnungsgeber hat für den Deutsch-Test für Zuwanderer in § 6 und § 7 IntTestV besondere Regelungen zur Überprüfung der Identität und zur Aufsicht getroffen, die bei einer Online-Prüfung nicht erfüllt werden können. Auch wenn der Gesetzgeber in § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG nicht geregelt hat, welche Anforderungen nunmehr an die erforderliche Sprachprüfung zu stellen sind, können sich die Einbürgerungsbehörden bei der nach §§ 24, 26 VwVfG NRW vorzunehmenden Sachverhaltsermittlung daran orientieren.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin liegt darin kein mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbarer Eingriff in ihr Grundrecht der Berufsfreiheit. Dabei kann an dieser Stelle dahinstehen, ob die eingeschränkte Verwendbarkeit der von ihr ausgestellten Sprachzertifikate in Einbürgerungsverfahren den Schutzbereich ihrer Berufsfreiheit berührt. Die Antragstellerin kann weiterhin Online-Sprachprüfungen anbieten; die eingeschränkte Verwendbarkeit ihrer Sprachzertifikate verringert letztlich nur ihre Erwerbsmöglichkeiten. Regelungen, die die Wettbewerbssituation der Unternehmen lediglich im Wege faktisch-mittelbarer Auswirkungen beeinflussen, berühren den Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht. Die Grundrechtsbindung aus Art. 12 Abs. 1 GG besteht jedoch dann, wenn Normen, die zwar selbst die Berufstätigkeit nicht unmittelbar berühren, aber Rahmenbedingungen der Berufsausübung verändern, in ihrer Zielsetzung und ihren mittelbar-faktischen Wirkungen einem Eingriff als funktionales Äquivalent gleichkommen, die mittelbaren Folgen also kein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten gesetzlichen Regelung sind.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. März 2018 - 1 BvF 1/13 -, BVerfGE 148, 40, juris, Rn. 27 f. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man hier ein derartiges funktionales Äquivalent annimmt, berührt dies nur die Art und Weise der Berufsausübung der Antragstellerin und ist jedenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Um den Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit rechtfertigen zu können, genügt es, wenn die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele auf vernünftigen Erwägungen beruhen und der Eingriff geeignet, erforderlich und angemessen ist, um den vom Gesetzgeber erstrebten Zweck zu erreichen.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 2016 - 1 BvL 6/13 -, BVerfGE 141, 82, juris, Rn. 52 f. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Einbürgerungsvoraussetzung der ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache im Sinn von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 StAG dient dem verfassungsrechtlich legitimen Ziel, die Grundlage für eine vertiefte gesellschaftliche Integration der Einbürgerungsbewerber sicherzustellen.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. Marx, a. a. O., § 10 StAG Rn. 309 f. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dies erfordert eine belastbare Feststellung der tatsächlich vorhandenen Sprachkenntnisse. Eine reine Online-Prüfung ist dazu nicht in gleicher Weise geeignet wie eine Präsenzprüfung, weil sowohl die Interaktion mit dem Prüfling als auch die Prüfungsaufsicht erschwert sind. Aus diesem Grund sind nicht nur die ausdrücklichen Regelungen der Integrationskurstestverordnung gerechtfertigt, sondern auch entsprechende Anforderungen an den Nachweis der nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 Satz 1 StAG geforderten Sprachkenntnisse. Die Sprachschulen werden durch die eingeschränkte Verwendbarkeit der von ihr ausgestellten Sprachzertifikate im Einbürgerungsverfahren demgegenüber nicht unzumutbar belastet, weil ihre Sprachzertifikate weiterhin für andere Zwecke verwendet werden können und sie ihr Prüfungsverfahren anpassen können, wenn ihre Sprachzertifikate als vollständiger Nachweis der für die Einbürgerung erforderlichen Sprachkenntnisse anerkannt werden sollen.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">b) Die konkrete Bewertung des MKFFI, dass den von der Antragstellerin ausgestellten Sprachzertifikaten nur ein eingeschränkter Beweiswert beizumessen sei, weil die Qualität der Sprachprüfungen nicht hinreichend sichergestellt sei und die Sprachprüfungen als reine Online-Prüfungen durchgeführt würden, entspricht diesen allgemeinen Maßstäben.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Diese Bewertung der Sprachzertifikate der Antragstellerin ist nach den vom MKFFI für die Ermittlung der Sprachkenntnisse eines Einbürgerungsbewerbers allgemein zugrunde gelegten Maßstäben schon deshalb gerechtfertigt, weil die Antragstellerin nur reine Online-Sprachprüfungen durchführt.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Aber auch die fehlende Qualitätskontrolle ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen ein sachlicher Grund, den von der Antragstellerin ausgestellten Sprachzertifikaten einen geringeren Beweiswert beizumessen.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat im Einzelnen vorgetragen, aus welchen Gründen er die Qualität einer Sprachprüfung als gewährleistet ansieht, wenn der Prüfungsanbieter Mitglied der ALTE sei und eine Akkreditierung durch die ALTE vorliege. So werde die Verlässlichkeit und Aussagekraft der auf die Niveaustufen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen bezogenen Sprachzertifikate in einem aufwendigen, mehrjährigen und mehrere Ebenen umfassenden Akkreditierungsverfahren überprüft und einem Expertengremium zur Abstimmung vorgelegt. Mindestens eine standardisierte Prüfung eines Bewerbers werde von einem ALTE-Mitglied auditiert, deren Prüfungssprache nicht die Landessprache des prüfenden ALTE-Mitgliedes sei. Im Rahmen dieser Auditierung werde ein umfangreicher Auditbericht in englischer Sprache verfasst und dem ALTE-Kuratorium vorgelegt, das dann entscheide, ob die ALTE-Vollmitgliedschaft den Qualitätsanforderungen der ALTE für Sprachprüfungen genüge bzw. ob die Vollmitgliedschaft verlängert werden könne oder nicht. Die Antragstellerin hat dem lediglich pauschal entgegengehalten, dass die ALTE-Mitgliedschaft keinen verlässlichen Nachweis für die Qualität einzelner Sprachzertifikate biete, aber die Einzelangaben des Antragsgegners nicht substantiiert in Frage gestellt.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Eine vergleichbare Qualitätsprüfung hat bei der Antragstellerin auch nach ihren eigenen Angaben nicht stattgefunden. Die Antragstellerin verweist insoweit allein auf die von der DeuZert GmbH ausgestellte Zertifizierung nach der ISO-Norm 29992. Die ISO-Norm 29992 ist aber weder in besonderer Weise auf die Qualitätsprüfung von Sprachprüfungen ausgerichtet noch ist vorgesehen, dass ein Expertengremium über die Zertifizierung zu entscheiden hat und ein Prüfbericht eines anderen Sprachprüfungsanbieters einzuholen ist. Das Zertifizierungsverfahren durch die DeuZert GmbH und die Qualifikation und Anzahl der daran beteiligten Prüfer hat die Antragstellerin nicht erläutert. In dem von der DeuZert GmbH selbst angefertigten „Äquivalenzgutachten“ vom 12. Januar 2022 wird in keiner Weise erklärt, auf welche Art und Weise geprüft wurde, ob die Prüfungsaufgaben und die Bewertung der Prüfungsergebnisse mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen übereinstimmen, auf den § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG ausdrücklich Bezug nimmt. Auf Seite 7 dieses Gutachtens heißt es insoweit lediglich pauschal, die Anforderungen der ALTE-Akkreditierung ließen sich bei der Zertifizierung nach der ISO 29992 „durch ein angemessenes methodisches Vorgehen äquivalent widerspiegeln“.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">c) Unabhängig davon kann vorliegend sogar dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen gegebenenfalls im Einzelfall von diesen allgemeinen Vorgaben zur Bewertung der Beweiskraft von Sprachzertifikaten abzuweichen sein kann und ob die Weisungspraxis des MKFFI dafür Raum lässt. Denn die Antragstellerin hat auch im Übrigen nicht glaubhaft gemacht, dass sie die gesetzlich geforderten Sprachkenntnisse mit den von ihr angebotenen Sprachprüfungen ebenso verlässlich feststellt wie die Sprachschulen, deren Prüfungsqualität von der ALTE bestätigt wurde und deren Sprachprüfungen zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil als Präsenzprüfung durchgeführt werden.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hat im gesamten Verfahren lediglich auf die Zertifizierung durch die DeuZert GmbH verwiesen, aber keine näheren Angaben zu Entwicklung und Inhalt der Prüfungsaufgaben, zu Auswahl und Qualifikation der Prüfer, zum Ablauf des Prüfungsverfahrens oder zur Bewertung der Prüfungsergebnisse gemacht, die den Einbürgerungsbehörden unter Umständen erlauben könnten, die Qualität der angebotenen Sprachprüfungen eigenständig zu überprüfen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Nähere Angaben hat die Antragstellerin lediglich dazu gemacht, auf welche Art und Weise sie die Identität der Prüflinge überprüft und die Prüflinge bei der Prüfung beaufsichtigt. Sie hat vorgetragen, vor der Prüfung sei ein amtliches Ausweisdokument sowie ein „Selfie“ zur Terminbuchung hochzuladen. Die Prüfung beginne erst, wenn der Prüfer sich zweifelsfrei der Identität der Person vergewissert habe; sie könne jederzeit aufgefordert werden, einen Lichtbildausweis vorzuzeigen, so dass Namen, persönliche Angaben und Merkmale durch Fernidentifikation durchgeführt werden könnten. Das Smartphone werde als zweite Kamera zu Überwachungszwecken genutzt, um zusätzlich neben der Frontansicht Hände und Monitor des Prüfungsteilnehmers von hinten zu beobachten.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Damit ist eine gegenüber einer Präsenzprüfung gleichwertige Identitätsfeststellung und Aufsichtsführung weder dargelegt noch glaubhaft gemacht. Bei einer nur mittels Kameraaufnahmen durchgeführten Sichtkontrolle des Lichtbildausweises kann die Übereinstimmung des Lichtbilds mit dem Prüfling nicht in gleicher Weise sicher festgestellt werden wie bei einer unmittelbaren Inaugenscheinnahme. Ebenso kann die Verwendung unerlaubter Hilfsmittel durch eine vom Prüfling selbst aufgestellte Smartphone-Kamera, die nicht in der Lage ist, den gesamten Raum zu erfassen, nicht in gleicher Weise ausgeschlossen werden wie durch eine im Prüfungsraum anwesende Aufsichtsperson.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks"><sup> </sup></p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG und folgt der Streitwertfestsetzung in der ersten Instanz, die das wirtschaftliche Interesse der gewerblich tätigen Antragstellerin in Anlehnung an Nr. 15.4 des Streitwertkatalogs 2013 (NWVBl. 2014, Heft 1, Sonderbeilage, S. 7) insgesamt mit 15.000,00 Euro bewertet und für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes den halben Betrag angesetzt hat. Der geringere Streitwert im Beschwerdeverfahren entspricht dem reduzierten Streitgegenstand. Dabei misst der Senat dem gegen die Weisungen an nachgeordnete Behörden gerichteten Antrag das gleiche Gewicht bei wie den Anträgen, die sich auf die öffentliche Verbreitung von Äußerungen und auf den Widerruf der gegenüber nachgeordneten Behörden getätigten Äußerungen beziehen. Dem gegen Äußerungen des Antragsgegners zur Qualitätsüberprüfung der von der Antragstellerin ausgestellten Sprachzertifikate gerichteten Antrag kommt daneben kein eigenes Gewicht dazu, weil die vom Verwaltungsgericht zu Unrecht beanstandete Weisung des MKFFI wie gezeigt maßgeblich auf der Bewertung beruht, dass die Qualität der Sprachprüfungen der Antragstellerin nicht sichergestellt ist.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,851
ovgnrw-2022-09-30-10-a-239621
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10 A 2396/21
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:48"
"2022-10-17T11:10:53"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0930.10A2396.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 72.500 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der zulässige Antrag ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Aus den innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegten Gründen ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art, die er mit seinem Antrag angreifen will, bezeichnen und mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellen. Daran fehlt es hier.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat der Klage der Kläger mit dem Antrag, den an den Beigeladenen gerichteten Bescheid der Beklagten vom 15. Juni 2020 über die Ausübung eines Vorkaufsrechts nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB für das Grundstück Gemarkung I., Flur 7, Flurstück 62 (H.-straße 44) (im Folgenden: Kaufgrundstück) aufzuheben, stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die am 25. September 2019 vom Rat beschlossene und am 7. Oktober 2019 bekannt gemachte Satzung der Beklagten über das besondere Vorkaufsrecht an Grundstücken im Bereich C.-straße/H1.-straße (im Folgenden: Satzung), in deren Geltungsbereich das Kaufgrundstück liege, sei unwirksam. Es sei nicht erkennbar, dass die Beklagte für die Grundstücke im Geltungsbereich der Satzung in dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses wie von § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB vorausgesetzt städtebauliche Maßnahmen in Betracht gezogen habe. Welche städtebaulichen Maßnahmen seitens der Beklagten in den Blick genommen würden, könne weder dem Satzungstext noch der Beschlussvorlage vom 2. September 2019 für die Sitzung des Ausschusses für Planen, Bauen, Umwelt und Denkmalpflege am 11. September 2019 (Drucksache 173/2019) (im Folgenden: Beschlussvorlage) zur Vorbereitung des Satzungsbeschlusses entnommen werden. Da die Beklagte die in Aussicht genommene städtebauliche Entwicklung nicht hinreichend und widerspruchsfrei konkretisiert habe, lasse sich nicht feststellen, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts dem Wohl der Allgemeinheit diene. Der Ausübung des Vorkaufsrechts stehe auch der Ausschlusstatbestand des § 26 Nr. 4 BauGB entgegen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB zu Unrecht verneint haben könnte.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg rügt die Beklagte, das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen an die Planungsvorstellungen der Gemeinde, die gegeben sein müssen, um durch eine Satzung nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB ein Vorkaufsrecht für bestimmte Flächen festlegen zu können, überspannt. Anders, als die Beklagte meint, hat es das Verwaltungsgericht nicht etwa für erforderlich gehalten, dass bereits zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses städtebauliche Maßnahmen „unabwendbar eingeplant“ seien, sondern hat im Einklang mit den in der Rechtsprechung hierzu entwickelten Maßstäben zugrunde gelegt, dass dann, wenn es noch keine förmlich konkretisierte Planung für die fraglichen Flächen gebe, zwar die Einzelheiten der in Betracht gezogenen städtebaulichen Maßnahme noch nicht feststehen müssten, aber ein Minimum an Konkretisierung der Maßnahme bezogen auf ein bestimmtes Gebiet unverzichtbar sei.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 19. Dezember 2018 – 4 BN 42.18 –, juris, Rn. 5 f., vom 8. September 2009 – 4 BN 38.09 –, juris, Rn. 4, und vom 14. April 1994 – 4 B 70.94 –, juris, Rn. 5 ; OVG NRW, Urteile vom 7. November 2005 – 10 A 96/03.NE –, Seite 11 f. des Urteilsabdrucks, und vom 28. Juli 1997 – 10a D 31/97.NE –, juris, insbesondere Rn. 3 und 11 ff.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beklagte meint, aus den in § 1 der Satzung enthaltenen Formulierungen ließe sich eine entsprechende Konkretisierung der in Betracht gezogenen städtebaulichen Maßnahme herleiten, hat das Verwaltungsgericht bereits zutreffend ausgeführt, dass es dort nur pauschal heiße, dass sich „kurz- bis mittelfristig ggf. städtebauliche Perspektiven“ für die Grundstücke im Geltungsbereich der Satzung ergäben. Im Übrigen sei mit den Worten, es sei „vorstellbar“, auf den Grundstücken im Geltungsbereich der Satzung „auch“ neue Wohnformen zu errichten, lediglich eine Option für eine Verwirklichung derartiger Wohnformen aufgezeigt und es bleibe unklar, welche anderen Nutzungsmöglichkeiten neben dieser Option für die Grundstücke in Betracht gezogen würden. Anders als die Beklagte meint, lässt sich, legt man § 1 der Satzung zugrunde, nicht sagen, dass zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses „unmissverständlich fest[stand]“, dass auf den Grundstücken im Geltungsbereich der Satzung (wenigstens hauptsächlich) Wohngebäude mit Wohnungen für Senioren ermöglicht werden sollten. Die Ermöglichung solcher Wohngebäude wurde in der Gemeinde im Zusammenhang mit dem Projekt „Gemeinsam in I. – Rezepte für neue Wohnalternativen“ ohnehin nur allgemein und soweit ersichtlich ohne Bezug auf konkrete Grundstücke diskutiert. Überzeugende Gründe dafür, warum die in § 1 der Satzung verwendeten Formulierungen „vorstellbar“ und „auch“ in dem konkreten Kontext bedeuten sollten, dass der Rat nach seinen Planungsvorstellungen für andere Nutzungen keinen Raum habe lassen wollen, vermag die Beklagte nicht zu benennen. Eine Wohnnutzung, die im Übrigen auch Wohnungen für Senioren einschließt, ist auf dem Kaufgrundstück bereits nach den Festsetzungen des geltenden Bebauungsplans Nr. „H1.-straße/I1.“ zulässig, sodass ein Sicherungsbedürfnis im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB insoweit nicht ersichtlich ist.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dass sich eine andere Bewertung unter Berücksichtigung des Inhalts der Beschlussvorlage ergeben könnte, zeigt die Beklagte ebenfalls nicht auf. Auch dort heißt es zunächst sehr allgemein, dass es sich bei den drei in den Blick genommenen Grundstücken um ein „markantes Areal an der B X.“ handele und hier „Raum für eine zielvolle städtebauliche Entwicklung sei“. Die von der Verwaltung erarbeiteten und der Beschlussvorlage beigefügten Vorschläge für eine Bebauung des Areals betreffen zwar konkret die Schaffung von barrierefreien Wohnungen mit Gemeinschaftsräumen. Aber auch insoweit heißt es lediglich, es sei „vorstellbar“, dass auf den in Rede stehenden Grundstücken „auch entsprechende Wohnformen (Projekt Wohnalternativen) errichtet werden“. Dass der Rat sich die Vorschläge der Verwaltung derart zu Eigen gemacht haben könnte, dass von entsprechend konkretisierten Planungsvorstellungen für die Grundstücke im Geltungsbereich der Satzung ausgegangen werden könnte, vermag der Rat nicht festzustellen. Auf diesbezügliche Formulierungen in dem angefochtenen Bescheid, der überdies auch nur vage von der „Initiierung des Projektes‚ Gemeinsam in I. – Rezepte für neue Wohnalternativen‘“ und von dem „Ziel, eine städtebaulich zukunftsweisende Bebauung zu installieren“ spricht, kommt es insoweit nicht an.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dass in einem Bebauungsplan auf der Grundlage von § 9 Abs. 1 Nr. 8 BauGB einzelne Flächen festgesetzt werden können, auf denen ganz oder teilweise nur Wohngebäude errichtet werden dürfen, die für Personengruppen mit besonderem Wohnbedarf – etwa für Menschen mit altersbedingten Einschränkungen – bestimmt sind,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 17. Dezember 1992 – 4 N 2.91 –, juris, Rn. 25 ff.,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">und derartige Festsetzungen mit Blick auf § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB städtebaulich erforderlich sein können, hat, anders als die Beklagte möglicherweise meint, auch das Verwaltungsgericht nicht in Frage gestellt. Dementsprechend kann eine im Hinblick auf eine solche Festsetzung in Betracht gezogene städtebauliche Maßnahme etwa in Form der Aufstellung oder Änderung eines Bebauungsplans grundsätzlich im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB sicherungsfähig sein. Die Gemeinde muss aber eine solche städtebauliche Maßnahme im Zeitpunkt des Beschlusses über die Satzung für bestimmte Grundstücke ernsthaft und auch mit einem gewissen Grad an Verbindlichkeit ins Auge fassen, will sie ein Vorkaufsrecht für diese Grundstücke festlegen. Dass der Rat, als er die Satzung beschlossen hat, diese Vorstellung tatsächlich hatte, lässt sich hier – wie vorstehend ausgeführt – auch auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht erkennen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ob das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts außerdem nach § 26 Nr. 4 BauGB ausgeschlossen ist, bedarf nach dem Vorstehenden keiner Entscheidung. Denn das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, selbstständig tragend darauf gestützt, dass die Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB nicht vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Aus der Begründung des Zulassungsantrags ergibt sich auch nicht, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat. Eine solche grundsätzliche Bedeutung wäre dann anzunehmen, wenn die Rechtssache eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon zeigt die Beklagte eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache mit der von ihr aufgeworfenen Frage,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">„ob der Ausschlussgrund des § 26 Nr. 4 Alt. 1 BauGB – bebauungsplankonforme Nutzung – für Vorkaufsrechte nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB im Geltungsbereich eines Bebauungsplans Anwendung findet oder bei einem Vorkaufsrecht nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB ausschließlich § 26 Nr. 4 Alt. 2 BauGB gilt, so dass nur auf die Nutzung entsprechend den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Maßnahme und nicht den Bebauungsplan abzustellen ist“,</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">nicht auf. Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass sich diese Frage in einem Berufungsverfahren entscheidungserheblich stellen würde, denn das Verwaltungsgericht hat, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, seine Entscheidung, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, selbstständig tragend damit begründet, dass schon die Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB nicht vorlägen, ohne dass die Beklagte dies mit Erfolg mit einem Zulassungsgrund angreift.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Sätze 1 und 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
346,850
ovgnrw-2022-09-30-4-a-4322
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
4 A 43/22
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:47"
"2022-10-17T11:10:53"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0930.4A43.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Münster vom 4.12.2021 wird zugelassen.</p> <p>Die Verteilung der Kosten des Antragsverfahrens bleibt der Entscheidung über die Berufung vorbehalten.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Auf den Antrag des Klägers ist die Berufung zuzulassen, weil aus den vom Kläger dargelegten Gründen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung bestehen (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, der Rücknahmebescheid vom 19.4.2021 beziehe sich auf den Zuwendungsbescheid vom 12.11.2020 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 3.12.2020 in Gänze und sei ermessensfehlerfrei ergangen, wird vom Kläger unter Bezugnahme auf die Klagebegründung noch schlüssig in Frage gestellt.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Rücknahmebescheid dürfte schon deshalb rechtswidrig sein, weil die Bezirksregierung ihrer Ermessensentscheidung einen fehlerhaften Sachverhalt zugrunde gelegt und damit von ihrem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, § 114 Satz 1 VwGO. Der Rücknahmebescheid bezieht sich im Entscheidungssatz und in der Begründung ausdrücklich und sinngemäß ausschließlich auf den „Zuwendungsbescheid vom 12.11.2020 in Höhe von 2.640,00 Euro“. Von dem Änderungsbescheid vom 3.12.2020 ist in dem ganzen Rücknahmebescheid nicht ansatzweise die Rede. Die Formulierung, der Zuwendungsbescheid werde „in Gänze“ zurückgenommen, sagt zunächst nur aus, dass keine Teilrücknahme erfolgen sollte. Sie ändert aber nicht das Bezugsobjekt dahingehend, dass der Zuwendungsbescheid „in Gestalt des Änderungsbescheids“ zurückgenommen worden ist. Für eine Auslegung in diesem Sinne dürfte der Rücknahmebescheid auch unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizonts keinen Raum lassen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Indem sich der Rücknahmebescheid nur auf den Zuwendungsbescheid vom 12.11.2020 bezieht, lässt er seine für die Ermessensausübung relevante Änderung durch den Änderungsbescheid vom 3.12.2020 in tatsächlicher Hinsicht unberücksichtigt und dürfte damit auf einem unzutreffenden Sachverhalt beruhen. Der allein zurückgenommene Zuwendungsbescheid vom 12.11.2020 dürfte sich gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG NRW in seiner ursprünglichen Gestalt erledigt haben, so dass er als solcher nicht mehr zurückgenommen werden können dürfte.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Behörde kann durch einen Änderungsbescheid den ursprünglichen Verwaltungsakt zurücknehmen und seine Regelung durch eine neue ersetzen. In diesem Fall verliert der ursprüngliche Verwaltungsakt seine Wirksamkeit (§ 43 Abs. 2 VwVfG).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.6.2007 – 3 C 11.06 –, BVerwGE 129, 66 = juris, Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Änderungsbescheide können den Ausgangsverwaltungsakten aber auch „anwachsen“, insbesondere wenn ihre Regelungsbestandteile nach materiellem Recht unteilbar sind. Dies hat zur Folge, dass der ursprüngliche Bescheid und der Änderungsbescheid inhaltlich eine einheitliche Entscheidung bilden, auch wenn sie formal in verschiedenen Dokumenten enthalten sind. Hierdurch erledigt sich der Bescheid in seiner Ursprungsfassung und das Rechtsschutzinteresse für ein gegen ihn gerichtetes Klagebegehren entfällt. Der ursprüngliche Bescheid kann isoliert z. B. nicht mehr Gegenstand einer zulässigen Klage sein; eine solche muss sich vielmehr auf die gesamte geänderte Regelung beziehen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 11.11.2020 – 8 C 22.19 –, BVerwGE 170, 311 = juris, Rn. 25, vom 25.6.2014 – 9 A 1.13 –, BVerwGE 150, 92 = juris, Rn. 14, und vom 18.3.2009 – 9 A 31.07 –, juris, Rn. 23.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Entsprechendes gilt, wenn ein derartiger geänderter Verwaltungsakt zurückgenommen werden soll. Indem der Änderungsbescheid den Zuwendungsbescheid in Bezug auf die Höhe der Förderung modifiziert hat, konnte sich auch eine Rücknahmeentscheidung jedenfalls bezogen auf die in Gänze erfolgte Förderung zulässigerweise nur noch auf den geänderten Bewilligungsbescheid beziehen. Eine Rücknahme ausschließlich bezogen auf den ursprünglichen Bewilligungsbescheid war nicht mehr – jedenfalls nicht rechtsfehlerfrei – möglich. Allenfalls hätte, was hier nicht beabsichtigt war und auch nicht erfolgt ist, der geänderte Zuwendungsbescheid nur teilweise in Höhe der ursprünglichen Fördersumme zurückgenommen werden können.</p>
346,849
ovgnrw-2022-09-30-10-b-98022
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
10 B 980/22
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:47"
"2022-10-17T11:10:53"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0930.10B980.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen, als Gesamtschuldner.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die den Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Nutzungsänderungsgenehmigung für das Grundstück in T., Gemarkung H., Flur 44, Flurstück 107 (O.-straße 71) (im Folgenden: Vorhabengrundstück) vom 22. Oktober 2021, anzuordnen, mit der Begründung abgelehnt, die nach den §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung falle zu Lasten der Antragsteller aus, weil die Baugenehmigung, mit der die Nutzung der Wohnungen in dem auf dem Grundstück stehenden Gebäude als Monteurwohnungen genehmigt worden ist (im Folgenden: Baugenehmigung), nicht gegen Vorschriften des öffentlichen Baurechts verstoße, die dem Schutz der Antragsteller zu dienen bestimmt seien. Die Baugenehmigung sei nicht in nachbarrechtsrelevanter Weise unbestimmt. Es sei nicht ersichtlich, dass die Wohnungen den nachbarschützenden brandschutzrechtlichen Vorschriften für Sonderbauten nicht genügten. Auf einen Anspruch auf Wahrung der Gebietsart könnten sich die Antragsteller nicht mit Erfolg berufen. Die Eigenart der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks entspreche jedenfalls nicht der eines allgemeinen Wohngebiets. Es könne offen bleiben, ob die nähere Umgebung als Mischgebiet oder als so genannte Gemengelage zu qualifizieren sei. Denn in einem Mischgebiet sei das Vorhaben auch bei einer Einordnung als Beherbergungsbetrieb oder als sonstiger nicht wesentlich störender Gewerbebetrieb nach § 6 Abs. 1 BauNVO allgemein zulässig. In einer Gemengelage komme ein Anspruch auf Abwehr gebietsfremder Nutzungen über § 34 Abs. 2 BauGB von vornherein nicht in Betracht. Aber selbst wenn die nähere Umgebung als allgemeines Wohngebiet zu qualifizieren wäre, stünde den Antragstellern ein Abwehranspruch gegen das Vorhaben wegen einer Verletzung ihres Anspruch auf Wahrung der Gebietsart nicht zu. Angesichts der geringen Anzahl der in dem Gebäude genehmigten Betten wäre das Vorhaben auch als Beherbergungsbetrieb in einem solchen faktischen Baugebiet ausnahmsweise nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zulässig. Das Vorhaben sei auch nicht zu Lasten der Antragsteller rücksichtslos. Eine rücksichtslose Lärmbelastung benachbarter Grundstücke sei aufgrund der genehmigten Nutzung insbesondere mit Blick auf die geringe Anzahl der erlaubten Betten bei typisierender Betrachtung nicht zu erwarten. Möglichen Störungen, die auf ein Fehlverhalten einzelner Nutzer der Monteurwohnungen zurückzuführen seien, müssten die Nachbarn – wie auch sonst – mit Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts oder des zivilen Nachbarrechts begegnen. Dass die Antragsteller von einer etwaigen vorhabenbedingten Verschärfung der Stellplatzsituation in rücksichtsloser Weise betroffen sein könnten, lasse sich nicht feststellen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine andere Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Antragsteller zeigen nicht auf, dass die Baugenehmigung entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts zu ihren Lasten unbestimmt ist. Sie setzen sich mit den diesbezüglichen Ausführungen in dem angegriffenen Beschluss, wonach sich aus der Baugenehmigung insbesondere eindeutig ergebe, dass eine Belegung der Monteurwohnungen nur mit insgesamt maximal vierzehn Betten zulässig sei, nicht auseinander. Welchen nachbarschützenden Brandschutzvorschriften das Vorhaben angeblich nicht genüge, tragen sie mit ihrer Beschwerde nicht ansatzweise konkret vor. Ihre pauschale Rüge, die Antragsgegnerin habe „erforderliche Aufsichtserfordernisse, Brandschutzerwägungen und Lärmeinschränkungen völlig außer Acht gelassen“, genügt von vornherein nicht den Darlegungsanforderungen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dass der Anspruch der Antragsteller auf Wahrung der Gebietsart entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts durch das Vorhaben verletzt sein könnte, ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen ebenso wenig.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Sie legen nicht dar, dass die Eigenart der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks als die eines allgemeinen Wohngebiets zu qualifizieren sein könnte. Das Verwaltungsgericht hat seine gegenteilige Einschätzung damit begründet, dass es in der näheren Umgebung Nutzungen gebe, die in einem allgemeinen Wohngebiet weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig seien, namentlich ein Bürogebäude auf dem Grundstück B.-straße 13, eine Kfz-Werkstatt auf dem Grundstück M.-straße 1 (Ecke O1.-straße/M1.-straße) und ein Unternehmen für Krankentransport und Notfallrettung auf dem Grundstück B.-straße 15 (Ecke O1.-straße/B1.-straße). Zur Zulässigkeit des Bürogebäudes in einem allgemeinen Wohngebiet verhält sich die Beschwerde nicht. Mit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass eine Kfz-Werkstatt typischerweise als störender Gewerbebetrieb angesehen werde und Anhaltspunkte dafür fehlten, dass die hier in Rede stehende Werkstatt im Hinblick auf die durch ihren Betrieb verursachten Immissionen atypisch sei, setzen sich die Antragsteller nicht auseinander. Sie behaupten lediglich, dass solche Anhaltspunkte für einen atypischen Betrieb vorlägen. Warum es sich bei dem Unternehmen für Krankentransport und Notfallrettung entgegen der Bewertung des Verwaltungsgerichts um eine in einem allgemeinen Wohngebiet zulässige Anlage für gesundheitliche Zwecke handeln könnte, begründen die Antragsteller ebenfalls nicht.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Auch die Angriffe der Antragsteller gegen die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts, wonach das Vorhaben angesichts der geringen Zahl der genehmigten Betten bei typisierender Betrachtung als Beherbergungsbetrieb auch in einem allgemeinen Wohngebiet gebietsverträglich und damit ausnahmsweise zulässig wäre, haben keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat insoweit zutreffend ausgeführt, dass ein möglicher Anspruch auf Wahrung der Gebietsart hier nur verletzt sein könnte, wenn das Vorhaben seiner Art nach in dem Baugebiet auch nicht ausnahmsweise zulässig wäre. Ob eine planungsrechtliche Ausnahme tatsächlich erteilt worden ist, ist insoweit ebenso unerheblich wie mögliche Rechtsfehler bei ihrer Erteilung.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. zuletzt BVerwG, Urteil vom 29. März 2022 – 4 C 6.20 –, juris, Rn. 20; vorgehend OVG NRW, Urteil vom 23. September 2019 – 10 A 1114/17 –, juris, Rn. 43 f.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller sich auf das Wohnraumstärkungsgesetz berufen, ist nicht ersichtlich, inwieweit eine etwaige Verletzung der von ihnen angesprochenen Vorschriften dieses Gesetzes, deren Einhaltung die Gemeinden im Rahmen der Wohnungsaufsicht zu gewährleisten haben, zum Erfolg ihrer Klage gegen die angegriffene Baugenehmigung führen soll.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Eine Verletzung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots durch die Baugenehmigung zeigen die Antragsteller auch mit der Beschwerde nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat darauf abgestellt, dass das Rücksichtnahmegebot nur solche Einwirkungen erfasst, die bei der bestimmungsgemäßen Nutzung einer baulichen Anlage typischerweise auftreten. Sie müssten bodenrechtlich relevant sein, um als städtebauliche Gesichtspunkte bei der Prüfung möglicher Verletzungen von Nachbarrechten Beachtung zu finden. Dass das von den Antragstellern beschriebene und als besonders störend wahrgenommene lärmverursachende Verhalten der in den Monteurwohnungen zeitweise lebenden Personen insoweit eine städtebauliche Relevanz haben könnte, ergibt sich auch aus dem Beschwerdevorbringen, das der Sache nach nur auf individuelles Fehlverhalten jener Personen abstellt, nicht. Dass die Baugenehmigung im Übrigen „Ruhezeiten“ zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr vorgibt, räumen die Antragsteller selbst ein.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach nicht erkennbar sei, dass die Antragsteller, deren Grundstück nicht wie das Vorhabengrundstück an der O1.-straße, sondern an der M1.-straße liege, die in diesem Teil als Sackgasse ausgebaut sei, etwa durch vorhabenbedingten Parksuchverkehr unzumutbar beeinträchtigt werden könnten, setzen sich die Antragsteller nicht ansatzweise auseinander.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3, 159 Satz 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,848
ovgnrw-2022-09-30-4-a-89720
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4 A 897/20
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:46"
"2022-10-17T11:10:52"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0930.4A897.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Das Verfahren wird eingestellt.</p> <p>Das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18.2.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf ist wirkungslos.</p> <p>Die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens nach Verbindung der Verfahren 3 K 9814/18 und 3 K 6/19 (VG Düsseldorf) am 18.2.2020 trägt die Klägerin zu 1/3 und die Beklagte zu 2/3. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens vor der Verbindung im Verfahren 3 K 6/19 trägt die Beklagte; im Verfahren 3 K 9814/18 tragen die Hauptbeteiligten die vor der Verfahrensverbindung angefallenen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.</p> <p>Der Streitwert wird unter Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für die Zeit nach der Verbindung der Verfahren 3 K 9814/18 und 3 K 6/19 (VG Düsseldorf) am 18.2.2020 für beide Instanzen auf 22.500,00 Euro festgesetzt. Für die Zeit vor der Verbindung wird der Streitwert für das erstinstanzliche Verfahren 3 K 9814/18 auf 15.000,00 Euro und für das Verfahren 3 K 6/19 auf 7.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I. Nachdem die Hauptbeteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung der §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 87a Abs. 1 und 3, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Das angefochtene Urteil ist für wirkungslos zu erklären (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO in entsprechender Anwendung).</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Billigem Ermessen im Sinne dieser Vorschrift entspricht es, die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens nach Verbindung der Verfahren 3 K 9814/18 und 3 K 6/19 (VG Düsseldorf) am 18.2.2020 der Klägerin zu 1/3 und der Beklagten zu 2/3 sowie die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens vor der Verbindung im Verfahren 3 K 6/19 der Beklagten und im Verfahren 3 K 9814/18 den Hauptbeteiligten je zur Hälfte aufzuerlegen. In der Regel entspricht es billigem Ermessen im Sinne von § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, entsprechend § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Kosten verhältnismäßig zu teilen, wenn ein Beteiligter teils obsiegt hätte und teils unterlägen wäre. Bei der Prüfung der Erfolgsaussichten einer Klage, die sich – wie hier – im Verfahren auf Zulassung der Berufung befand, ist darauf abzustellen, ob die Berufung zuzulassen gewesen wäre und ob und in welchem Umfang die Berufung im Falle ihrer Zulassung Erfolg gehabt hätte.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.7.2021 – 4 A 1189/19 –, juris, Rn. 7 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands wäre ohne Eintritt der Erledigung die Berufung voraussichtlich zuzulassen gewesen (hierzu unter 1.) und hätte die Berufung voraussichtlich teilweise Erfolg gehabt (hierzu unter 2.).</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. Die Berufung wäre wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen gewesen. Die Klägerin hat die Annahme des Verwaltungsgerichts, es handele sich bei den an die Beigeladene gerichteten Bescheiden der Beklagten vom 14.12.2018 und 1.8.2019 um eigenständige Verwaltungsakte, die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 14.12.2018 sei unbegründet, die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 1.8.2019 hingegen unzulässig, weil die Klägerin das nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Vorverfahren nicht durchgeführt habe, mit schlüssigen Gegenargumenten in Zweifel gezogen. Sie hat damit zugleich hinreichend die Annahme des Verwaltungsgerichts in Frage gestellt, die Klägerin habe weder einen Anspruch auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis noch einen Anspruch auf Neubescheidung ihrer Anträge, weil die von der Beklagten getroffene Auswahlentscheidung nicht zu beanstanden sei.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">2. Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand wäre das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18.2.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf voraussichtlich geändert worden. Die der Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis vom 14.12.2018 in ihrer Fassung vom 1.8.2019 wäre aufgehoben [hierzu unter a)] und die Beklagte wäre verpflichtet worden, den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden [hierzu unter b)].</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a) Nach der gemäß § 88 VwGO gebotenen Auslegung des Klageantrags war Gegenstand der Anfechtungsklage die der Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis vom 14.12.2018 in ihrer Fassung vom 1.8.2019 [hierzu unter aa)]. Die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage wäre ohne Eintritt der Erledigung voraussichtlich zulässig [hierzu unter bb)] und begründet [hierzu unter (cc)] gewesen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Verhältnis zwischen Änderungsbescheiden und ursprünglichen Bescheiden ist maßgebend, welchen Regelungsinhalt der Ursprungsbescheid und der ihn ändernde Bescheid haben.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 – 3 C 34.89 –, juris, Rn. 24.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Behörde kann durch einen Änderungsbescheid den ursprünglichen Verwaltungsakt zurücknehmen und seine Regelung durch eine neue ersetzen. In diesem Fall verliert der ursprüngliche Verwaltungsakt seine Wirksamkeit (§ 43 Abs. 2 VwVfG).</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.6.2007 – 3 C 11.06 –, BVerwGE 129, 66 = juris, Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Änderungsbescheide können den Ausgangsverwaltungsakten aber auch „anwachsen“, insbesondere wenn ihre Regelungsbestandteile nach materiellem Recht unteilbar sind. Dies hat zur Folge, dass der ursprüngliche Bescheid und der Änderungsbescheid inhaltlich eine einheitliche Entscheidung bilden, auch wenn sie formal in verschiedenen Dokumenten enthalten sind. Hierdurch erledigt sich der Bescheid in seiner Ursprungsfassung und das Rechtsschutzinteresse für ein gegen ihn gerichtetes Klagebegehren entfällt. Der ursprüngliche Bescheid kann isoliert nicht mehr Gegenstand einer Klage sein; eine solche muss sich vielmehr auf die gesamte geänderte Regelung beziehen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 11.11.2020 – 8 C 22.19 –, BVerwGE 170, 311 = juris, Rn. 25, vom 25.6.2014 – 9 A 1.13 –, BVerwGE 150, 92 = juris, Rn. 14, und vom 18.3.2009 – 9 A 31.07 –, juris, Rn. 23 f.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Hier hat die Beklagte noch vor rechtskräftigem Abschluss des Erlaubnisverfahrens die der Beigeladenen mit Bescheid vom 14.12.2018 erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis zum Betrieb der Spielhalle (Halle B) in der E.  Straße 00-01 in T.        mit Bescheid vom 1.8.2019 inhaltlich allein bezogen auf den räumlichen Umfang der Erlaubnis im Sinne von § 3 Abs. 2 SpielV geändert. Während sich die ursprüngliche Erlaubnis auf 148,20 m<sup>2</sup> im Erdgeschoss des Gebäudes bezog, wurde der Beigeladenen mit Änderungsbescheid vom 1.8.2019 der Betrieb auf einer Gesamtfläche von 145,85 m<sup>2</sup> gestattet, verteilt über das Erdgeschoss und das Kellergeschoss. Im Übrigen wiederholt der Änderungsbescheid die bereits mit Bescheid vom 14.12.2018 getroffenen Regelungen zur glücksspielrechtlichen Erlaubnis. Entsprechend hat die Beklagte für den Erlass des Änderungsbescheids nach Tarifstelle 17.8 der allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung NRW eine Änderungsgebühr erhoben (vgl. Nr. 3 des Änderungsbescheids).</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">bb) Die gegen die der Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis vom 14.12.2018 in ihrer Fassung vom 1.8.2019 gerichtete Anfechtungsklage war voraussichtlich zulässig. Die Klägerin hat gegen den ursprünglichen Erlaubnisbescheid der Beklagten fristgerecht Anfechtungsklage erhoben. Nachdem sich mit Erlass des Änderungsbescheids die glücksspielrechtliche Erlaubnis in ihrer Ursprungsfassung prozessual erledigt hatte und das Rechtsschutzinteresse für ein gegen diese gerichtetes Klagebegehren entfallen war, hat die Klägerin den Änderungsbescheid zulässigerweise in das Verfahren einbezogen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Zulässigkeit der Klage scheitert nicht daran, dass für das geänderte Klagebegehren kein Vorverfahren nach § 68 VwGO durchgeführt worden ist. Zwar gelten auch für den nachträglich in die Klage einbezogenen Änderungsbescheid sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 11.11.2020 – 8 C 22.19 –, BVerwGE 170, 311 = Rn. 17.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i. V. m. § 110 Abs. 1 Satz 1 JustG NRW bedarf es aber vor Erhebung der Anfechtungsklage einer Nachprüfung in einem Vorverfahren grundsätzlich nicht. § 110 Abs. 3 Satz 1 JustG NRW, wonach § 110 Abs. 1 Satz 1 JutsG NRW auf im Verwaltungsverfahren nicht beteiligte Dritte keine Anwendung findet, ist hier nicht einschlägig. Die Regelung soll sicherstellen, dass das Vorverfahren Dritten, die am Verfahren bislang nicht beteiligt waren, zum Schutze ihrer subjektiven öffentlichen Rechte weiterhin offensteht.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 14/4199, S. 9.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 13 Abs. 2 VwVfG NRW kann die Behörde von Amts wegen oder auf Antrag diejenigen, deren rechtliche Interessen durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden können, als Beteiligte hinzuziehen. Hat der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung für einen Dritten, so ist dieser auf Antrag als Beteiligter zu dem Verfahren hinzuzuziehen; soweit er der Behörde bekannt ist, hat diese ihn von der Einleitung des Verfahrens zu benachrichtigen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Danach war die Klägerin hier weiterhin Beteiligte des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen glücksspielrechtlichen Erlaubnisverfahrens zu Gunsten der Beigeladenen im Sinne von § 13 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 1 VwVfG NRW, weil sie von der Beklagten von Amts wegen als solche in dem Verfahren mit Hinzuziehungsbescheid vom 2.3.2018 hinzugezogen worden war. Eines erneuten förmlichen Hinzuziehungsbescheids vor Erlass des Änderungsbescheids im Rahmen dieses Verwaltungsverfahrens bedurfte es nicht.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">cc) Die Anfechtungsklage wäre nach derzeitigem Sach- und Rechtsstand voraussichtlich auch begründet gewesen. Die der Beigeladenen erteilte Erlaubnis vom 14.12.2018 in der Fassung vom 1.8.2019 war rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren subjektiven Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Erlaubniserteilung stand bereits entgegen, dass der gemäß § 16 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW a. F. zu der Grundschule C.----straße einzuhaltende Mindestabstand unterschritten wurde. Nach dieser Regelung sollten Spielhallen nicht in räumlicher Nähe zu öffentlichen Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betrieben werden, wobei regelmäßig ein Mindestabstand von 350 Metern Luftlinie zu Grunde gelegt werden sollte. Diesen Mindestabstand unterschreitet die Spielhalle der Beigeladenen nach Aktenlage zu der Grundschule C.----straße . Von der Einhaltung des Mindestabstands konnte im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über die Erlaubniserteilung,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Urteil vom 28.9.2020 – 4 A 2325/19 –, juris, Rn. 48,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">hier also am 1.8.2019, auch nicht nach § 18 Satz 2 GlüStV NRW a. F. abgesehen werden. Nach dieser Vorschrift galt die Abstandsregelung nach § 16 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW a. F. für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Ausführungsgesetzes zum Glücksspielstaatsvertrag bestehende Spielhallen nicht, für die eine Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden war. Den Verwaltungsvorgängen lässt sich entnehmen, dass bei Inkrafttreten des nordrhein-westfälischen Gesetzes zur Ausführung des Glücksspielstaatsvertrags am 1.12.2012 (§ 24 Abs. 1 AG GlüStV NRW a. F.) im Erdgeschoss des Standorts E.  Straße 00-01 eine mit Erlaubnis vom 9.9.2008 genehmigte Spielhalle mit einer Grundfläche von 148,20 m<sup>2</sup> bestand. Die Ursprungsfassung der hier angefochtenen glücksspielrechtlichen Erlaubnis vom 14.12.2018 bezog sich zunächst auch auf diese Räumlichkeiten. Die Beigeladene wollte hingegen nicht an diesen Räumlichkeiten festhalten und hat insofern eine Änderung der glücksspielrechtlichen Erlaubnis beantragt. Die Räumlichkeiten sollten danach eine von der Erlaubnis nach § 33i GewO wesentlich abweichende Raumaufteilung haben (zwei Spielräume, verteilt auf Erdgeschoss und Kellergeschoss mit insgesamt 145,85 m<sup>2</sup>). Die antragsgemäße Änderung der glücksspielrechtlichen Erlaubnis hatte zur Folge, dass sich diese in ihrer Fassung vom 1.8.2019 zweifelsfrei nicht mehr auf eine am 1.12.2012 bestehende und nach § 33i GewO erlaubte Spielhalle bezog. Mit den Änderungen im räumlichen Bestand wurde deshalb der frühere Vertrauensschutz aufgegeben. Die Einwände der Beklagten, die Änderungen im räumlichen Bestand seien lediglich Folge des Verbundverbots, hätten sich auf das Ziehen einer Trockenbauwand zur Abgrenzung zu den bisher mitgenutzten Räumlichkeiten beschränkt und letztlich sogar zu einer räumlichen Verkleinerung der Spielhalle geführt, greifen nicht durch. Das Abstandserfordernis zu Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nach § 16 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW a. F. galt gemäß § 18 Satz 3 AG GlüStV NRW a. F. nur für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bestehende Spielhallen nicht. Sobald durch Änderungen im räumlichen Bestand die Genehmigungsfrage ‒ hier schon durch die Frage der Einhaltung des Abstands zu öffentlichen Schulen ‒ neu aufgeworfen wurde, handelte es sich bei den geänderten Spielhallen nicht mehr um „zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bestehende Spielhallen“.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16.3.2020 – 4 B 977/18 –, juris, Rn. 26, und vom 24.3.2022 – 4 B 1520/21 –, juris, Rn. 34 ff.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Es spricht auch nichts dafür, dass die Beklagte unter Berücksichtigung der örtlichen Lage der Spielhalle zu Gunsten der Beigeladenen hätte vom Mindestabstandserfordernis abweichen müssen (Ermessensreduzierung auf Null). Die für die Erlaubnis zuständige Behörde durfte zwar unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse im Umfeld des jeweiligen Standorts im Einzelfall von der Maßgabe zum Mindestabstand abweichen (§ 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW a. F.). Insoweit stand der zuständigen Behörde unter Berücksichtigung örtlicher Besonderheiten Ermessen offen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.3.2021 – 4 A 3178/19 –, juris, Rn. 79 ff., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon, ob hier eine Abweichung ermessensfehlerfrei hätte gewährt werden können, ist dies jedenfalls nicht zugunsten der Beigeladenen erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">b) Schon aufgrund der Rechtswidrigkeit der auf einer unzureichenden Ermächtigungsgrundlage beruhenden glücksspielrechtlichen Erlaubnis zu Gunsten der Beigeladenen hätte auch die Verpflichtungsklage der Klägerin voraussichtlich im Umfang des davon umfassten Neubescheidungsinteresses Erfolg gehabt. Die Klägerin hätte voraussichtlich einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Erlaubnisantrags unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gehabt, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Aufgrund der erfolgreichen Anfechtung der glücksspielrechtlichen Erlaubnis der Beigeladenen hätte diese der Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis des Betriebs einer Spielhalle am Standort E.  Straße 02 in T.        nicht entgegengestanden. Mangels Spruchreife hätte die Klägerin aber keinen Anspruch auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis gehabt.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis setzte nach der zum Zeitpunkt der Erledigung maßgeblichen Rechtslage grundsätzlich voraus, dass das Mindestabstandsgebot aus § 25 Abs. 1 GlüStV 2012 i. V. m. § 16 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 AG GlüStV NRW a. F. eingehalten wurde. Nach diesen Vorschriften sollte ein Mindestabstand von 350 Metern Luftlinie zu einer anderen Spielhalle nicht unterschritten werden. Die Behörde durfte aber unter bestimmten Voraussetzungen von dem Mindestabstandsgebot abweichen, § 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW a. F. Zudem konnte sie gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV 2012 zu Gunsten eines Betreibers eine Befreiung von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots für einen angemessen Zeitraum zulassen, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich war; hierbei waren der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33 i GewO sowie die Ziele des § 1 GlüStV 2012 zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Begehrten nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV 2012 mehrere Betreiber von Spielhallen, die zueinander das Mindestabstandsgebot nicht einhielten, die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, bedurfte es zur Auflösung der Konkurrenzsituation einer Auswahlentscheidung. Diese von der Behörde zu treffende Auswahlentscheidung war eine Ermessensentscheidung, die nach Maßgabe des § 114 VwGO der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle (nur) daraufhin unterlag, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 40 VwVfG NRW).</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteile vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, juris, Rn. 43, und vom 28.9.2020 – 4 A 2324/19 –, juris, Rn. 34 f.; Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, Rn. 23 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Ein Auswahlverfahren wäre hier weiterhin erforderlich gewesen, weil die Spielhalle der Klägerin den erforderlichen Abstand von 350 m Luftlinie nicht nur zu der Spielhalle der Beigeladenen, sondern auch zu der am Standort E.   Straße 000 in T.        betriebenen Spielhalle nicht einhielt, deren Betreiberin ihr Begehren auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis ebenfalls gerichtlich weiterverfolgt hat (4 A 1061/20). Konkurrieren mehrere Betreiber um den Erhalt einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, darf der Senat die von der Beklagten zu treffende Auswahlentscheidung nicht ersetzen. Insbesondere besteht kein Anhalt dafür, dass die Auswahl zwingend zu Gunsten der Betreiberin einer dieser Spielhallen hätte ausfallen müssen.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), sind ihre außergerichtlichen Kosten nicht erstattungsfähig.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">2. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der Senat zieht für die auf den Betrieb einer Spielhalle gerichteten Klagen in Orientierung an dem Vorschlag unter Nr. 54.1 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit [NVwZ-Beilage 2013, 58 (68)] den dort genannten Mindestbetrag für den Jahresgewinn von 15.000,00 Euro als Grundlage der Wertfestsetzung heran.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Streitwert für ein solches Begehren OVG NRW, Beschluss vom 8.6.2017 – 4 B 307/17 –,= juris, Rn. 96.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Hinzuzurechnen ist für die Zeit nach Verbindung des früheren Verfahrens 3 K 6/19 (VG Düsseldorf) mit dem Verfahren 3 K 9814/18 (VG Düsseldorf) zur gemeinsamen Entscheidung ein auf das Verfahren 3 K 6/19 entfallender Streitwert von 7.500,00 Euro für den auf die Aufhebung der der Beigeladenen als Konkurrentin erteilten Spielhallenerlaubnis gerichtete Klageantrag.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.9.2020 ‒ 4 A 2568/19 ‒, juris, Rn. 5 ff., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.</p>
346,847
ovgnrw-2022-09-30-4-e-55722
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4 E 557/22
"2022-09-30T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:45"
"2022-10-17T11:10:52"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0930.4E557.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 12.7.2022 wird zurückgewiesen.</p> <p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit dem sinngemäßen Antrag,</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung seiner Klage 13 K 1590/22 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 24.2.2022 anzuordnen,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und Abs. 4 ZPO erforderlichen Prozesskostenhilfeunterlagen nicht vorgelegt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Er kann auch nicht vollständige Prozesskostenhilfeunterlagen im Beschwerdeverfahren mit der Folge nachreichen, dass – bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO – seiner Beschwerde stattzugeben und ihm Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu gewähren wäre. Denn dieses Verfahren ist durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 20.4.2022 abgeschlossen. Eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt hier nicht in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen Prozesskostenhilfe für eine „beabsichtigte“ Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung. Zumindest im Regelfall muss die Förderung eines noch nicht abgeschlossenen Rechtsstreits in Rede stehen. Aufgabe der Prozesskostenhilfe ist es demgegenüber nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten bzw. dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz kommt demgemäß die Bewilligung von Prozesskostenhilfe grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Etwas anderes gilt ausnahmsweise für den Fall, dass vor Ergehen der den betreffenden Rechtszug abschließenden Entscheidung des Gerichts ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt, aber nicht bzw. nicht vorab beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5.9.2017 – 4 B 1012/17 –, juris, Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">An einem in diesem Sinne rechtzeitigen und vollständigen Prozesskostenhilfegesuch fehlt es hier.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Recht unter Bezugnahme auf die Gründe des Eilbeschlusses vom 20.4.2022 mit der Begründung abgelehnt, die beabsichtige Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO), weil die im Rahmen von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers ausfalle; im Rahmen der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids vom 24.2.2022.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts wird durch das Beschwerdevorbringen und den Akteninhalt nicht durchgreifend in Frage gestellt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der angegriffene Bescheid vom 24.2.2022, mit welchem der Antragsgegner den Antragsteller zur Erteilung einer Auskunft zum Mikrozensus für das Jahr 2021 bis zum 17.3.2022 verpflichtet und für den Fall der Nichterfüllung der Auskunftspflicht innerhalb der festgesetzten Frist ein Zwangsgeld in Höhe von 200,00 Euro angedroht hat, ist nicht – wie der Antragsteller allein geltend macht – wegen fehlender Unterschrift formell rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Welchen Formerfordernissen ein Verwaltungsakt zu genügen hat, ist in § 37 VwVfG NRW geregelt. Gemäß § 37 Abs. 3 Satz 1 VwVfG NRW muss ein schriftlicher oder elektronischer Verwaltungsakt die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten. Die Namenswiedergabe ist danach der Unterschrift ausdrücklich gleichgestellt.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.5.2014 – 1 A 2414/12 –, juris, Rn. 14 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zweifel an der Verfassungskonformität dieser Regelung bestehen nicht. Es drängt sich nichts für die pauschale Behauptung des Antragstellers auf, durch die Gleichstellung von Namenswiedergabe und Unterschrift werde der Bürger in verfassungswidriger Weise unangemessen benachteiligt.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die formelle Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids folgt auch nicht aus der von dem Antragsteller angeführten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und des Bundesverwaltungsgerichts.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFH, Beschluss vom 10.7.2002 – VII B 6/02 –, juris, Rn. 8 ff.; BVerwG, Beschluss vom 27.1.2003 – 1 B 92.02 –, juris, Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Diese betrifft nicht die bei Erlass von Verwaltungsakten zu beachtenden Formerfordernisse, sondern das Unterschriftenerfordernis bei prozessleitenden Schriftsätzen, das für alle Beteiligten gleichermaßen gilt. Sie ist für die hier streitgegenständliche Frage schon nicht einschlägig.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Den Formerfordernissen des § 37 Abs. 3 Satz 1 VwVfG NRW genügt der angegriffene Bescheid, weil er die erlassende Behörde (Information und Technik Nordrhein-Westfalen. Statistisches Landesamt) erkennen lässt und den Namen des für den Behördenleiter Beauftragten am Ende des Bescheids wiedergibt.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte dafür, dass die mit dem angegriffenen Bescheid festgesetzte Auskunftspflicht des Antragstellers im Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 1 MZG aus materiell-rechtlichen Gründen rechtswidrig sein könnte, hat der Antragsteller nicht ansatzweise dargelegt. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
346,945
ovgnrw-2022-09-29-19-a-29521
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 A 295/21
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:29"
"2022-10-17T11:11:08"
Urteil
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0929.19A295.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Das angefochtene Urteil wird geändert.</p> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.</p> <p>Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.</p> <p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die am 00. Mai 1991 geborene Klägerin bestand 2016 erstmalig nicht die Erste Staatsprüfung gemäß der für sie nach § 20 Abs. 4 LABG NRW noch anwendbaren Ordnung der Ersten Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen (Lehramtsprüfungsordnung – LPO 2003) vom 27. März 2003 (GV. NRW. S. 182), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. Juni 2006 (GV. NRW. S. 278), für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen, nachdem ihre mündliche Prüfung der Fachwissenschaft im Fach Englisch (Modul: AM 1) mit „mangelhaft“ (5,0) bewertet wurde. Im September 2017 unternahm sie eine erste Wiederholung der mündlichen Prüfung der Fachwissenschaft im Fach Englisch. Die Prüfung bestand sie wiederum nicht, die Note wurde mit nach erfolglosem Abschluss des Widerspruchsverfahrens bestandskräftigem Bescheid vom 4. Oktober 2017 mit „mangelhaft“ (5,0) bewertet.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Ende 2017 wurde sie zur zweiten Wiederholung der mündlichen Prüfung in der Fachwissenschaft im Fach Englisch zugelassen und hierüber seitens der Außenstelle Q.         des Landesprüfungsamts für Lehrämter an Schulen (im Folgenden: Landesprüfungsamt) entsprechend benachrichtigt. Im April 2018 meldete sich die Klägerin zur zweiten Wiederholungsprüfung der mündlichen Prüfung in der Fachwissenschaft im Fach Englisch an. Die mündliche Prüfung fand am 31. August 2018 statt. Prüferinnen waren Frau Prof. Dr. N.     und Frau Dr. M.       . An der mündlichen Prüfung nahm auch der kommissarische Leiter der Außenstelle Q.         des Landesprüfungsamts, Herr Dr. L.     , teil. Der Leiter der Außenstelle wohnte sowohl dem Prüfungs-, also auch dem anschließenden Notenberatungsgespräch der beiden Prüferinnen bei. In einem Vermerk vom gleichen Tag hielt er fest, die Durchführung der Prüfung sei aus seiner Sicht nicht zu beanstanden. Im Beurteilungsgespräch sei durch beide Prüferinnen eine detaillierte, sorgfältige und abwägende Gewichtung von fachlichen und sprachlichen Aspekten erfolgt; beide Prüferinnen seien übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass die Prüfung den Anforderungen nicht genüge und mit der Note „mangelhaft“ zu bewerten sei. Herr Dr. L.      hatte sich zu Beginn der Prüfung kurz vorgestellt und machte sich im Verlauf der Prüfung einige Notizen. Fragen oder Kommentare gab es von seiner Seite nicht. Nach dem Prüfungsgespräch verblieb er mit den Prüferinnen im Prüfungsraum. Bei der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses verblieb er ebenfalls im Raum.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der kommissarische Leiter Herr Dr. L.      war seitens der Bezirksregierung Detmold mit Verfügung vom 17. November 2017 in der Zeit von Januar bis September 2018 vom Oberstufenkolleg C.         an das Landesprüfungsamt ‑ Außenstelle Q.          ‑ abgeordnet worden. Dem ging eine zu seinen Gunsten durch eine ‑ u. a. mit Vertretern des für Schule zuständigen Ministeriums besetzte ‑ Auswahlkommission getroffene Auswahlentscheidung vom 11. September 2017 für die Stelle des Referenten im Arbeitsbereich 1 des Landesprüfungsamts für Lehrämter an Schulen ‑ Leitung der Außenstelle Q.          ‑ voraus. Hierhin wurde er sodann mit Wirkung vom 29. Oktober 2018 versetzt. In der Außenstelle Q.         des Landesprüfungsamts nahm er seit Januar 2018 die Außenstellenleitung und alle damit zusammenhängenden Amtsgeschäfte wahr. Durch Ernennungsurkunde des Ministeriums für Schule und Bildung vom 2. Oktober 2018 wurde Herr Dr. L.      am 30. Oktober 2018 zum Regierungsschuldirektor ‑ als Referent am Landesprüfungsamt für Lehrämter an Schulen ‑ ernannt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 10. September 2018 setzte das Landesprüfungsamt für die Prüfungsleistung der mündlichen Prüfung in der Fachwissenschaft im Fach Englisch abermals die Note „mangelhaft“ (5,0) fest. Es wurde festgestellt, dass die Klägerin die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen endgültig nicht bestanden habe.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Auf den Widerspruch der Klägerin gegen die Benotung der mündlichen Prüfung im Fach Englisch legte das Landesprüfungsamt die Verlängerungsbescheide der Berufungen zu Mitgliedern des Landesprüfungsamts für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen bezogen auf die beiden Prüfer Frau Dr. N.     und Frau Dr. M.       (jeweils Prüfungsfach Englisch) vor und verwies im Übrigen darauf, dass Herr Dr. L.      als Leiter der Außenstelle Q.         des Landesprüfungsamts auf der Grundlage von § 31 Abs. 2 und 4 Satz 1 LPO 2003 zur Teilnahme an der Staatsprüfung sowie zur Anwesenheit bei der Beratung über die Festsetzung der Note berechtigt gewesen sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2019 wies das Landesprüfungsamt den Widerspruch der Klägerin zurück. Gemäß § 22 Satz 2 der Geschäftsordnung für das Landesprüfungsamt für Lehrämter an Schulen (Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 21. Februar 2014, ABl. NRW. S. 124, im Folgenden: GO LPA) nähmen die mit der fachlichen Koordinierung betrauten Referentinnen und Referenten die Aufgaben einer Geschäftsstellenleitung gemäß § 30 Abs. 5 LPO 2003 wahr. Der in der Prüfung anwesende Herr Dr. L.      nehme als Referent die Geschäftsstellenleitung der Geschäftsstelle Q.         wahr.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 11. März 2019 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, Herr Dr. L.      habe als „unbefugter Dritter“ an ihrer Prüfung teilgenommen. Er habe nicht an der Beratung über die Festsetzung der Note am 31. August 2018 anwesend sein dürfen. Dieser Verfahrensfehler müsse zu einer Wiederholung der konkreten Prüfung führen. Herr Dr. L.      sei auch nicht von § 30 Abs. 5 LPO 2003 erfasst und damit kein Leitungsmitglied des Prüfungsamts; eine etwaige Stellung als bloßer Geschäftsstellenleiter erfülle die Voraussetzungen der Vorschrift nicht, so dass auch hieraus keine Befugnis zur Anwesenheit in der fraglichen Prüfung folgen könne.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">den Beklagten unter Aufhebung des Prüfungsbescheids vom 10. September 2018 und des Widerspruchsbescheids vom 12. Februar 2019 zu verpflichten, der Klägerin eine (nochmalige) Wiederholung der mündlichen Prüfung in der Fachwissenschaft im Fach Englisch zu ermöglichen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat beantragt,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat das Landesprüfungsamt sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft. Herr Dr. L.      sei selbstverständlich ab dem 1. Januar 2018 als Referent des Landesprüfungsamts für den Dienstort Q.         einberufen worden. Die Übergangsregelung in § 22 Satz 2 GO LPA beziehe sich zudem genau auf diesen Umstand, dass durch die 2014 erfolgte Umstrukturierung der Landesprüfungsämter keine Geschäftsführer, sondern Referenten als Geschäftsstellenleiter ausgewiesen würden. Die in § 31 Abs. 2 LPO 2003 vorgesehene Möglichkeit der Teilnahme von Leitungsmitgliedern des Prüfungsamts bei der Beratung entspreche dem dienstlichen Interesse des Landesprüfungsamts u. a. an der Qualitätssicherung und der Sicherung und Weiterentwicklung standortspezifischer und standortübergreifender prüfungsbezogener Qualitätsstandards. Ein solches dienstliches Interesse gebe es auch unter Geltung der Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen (Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung – OVP) vom 10. April 2011, nach dessen § 31 Abs. 4 Satz 2 Vertreterinnen oder Vertreter des Prüfungsamtes bei den Beratungen des Prüfungsausschusses zugegen sein dürften.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 2. Dezember 2020 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids des Landesprüfungsamts vom 10. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Februar 2019 verpflichtet, der Klägerin eine mündliche Prüfung in der Fachwissenschaft im Fach Englisch als zweite Wiederholung zu ermöglichen. Die mündliche Prüfung der Klägerin am 31. August 2018 sei verfahrensfehlerhaft durchgeführt worden, weil mit Herrn Dr. L.      ein hierzu nicht Berechtigter an der Notenberatung der beiden Prüferinnen über die mündliche Prüfung teilgenommen habe. § 31 Abs. 2 LPO 2003 gestatte die Anwesenheit auch von Leitungsmitgliedern des Prüfungsamts im Sinn des § 30 Abs. 5 LPO 2003 bei den Beratungen über die Festsetzung der Note für die mündlichen Prüfungsleistungen. Zu diesem Personenkreis gehöre der Betreffende als mit der fachlichen Koordinierung der Außenstelle Q.         des Landesprüfungsamts betrauter Referent. Die eine Anwesenheit entsprechender Vertreter des Landesprüfungsamts gestattende Regelung des § 31 Abs. 2 LPO 2003 sei jedoch mit höherrangigem Recht unvereinbar. Durch die Anwesenheit eines Leitungsmitglieds des Prüfungsamts bei der Beratung werde das aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Gebot der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Prüferinnen und Prüfer bei der Leistungsbewertung beeinträchtigt, ohne dass dies durch einen legitimen Zweck gerechtfertigt sei. Das Bewertungsverfahren müsse objektivitäts- und neutralitätssichernd ausgestaltet sein, so dass die Prüfer ihre Bewertung der Prüfungsleistung eigenständig und unabhängig vornehmen könnten. Diesen Anforderungen genüge eine Verfahrensgestaltung nicht, die Personen des Prüfungsamts die Teilnahme an der Notenberatung ermögliche. Jedenfalls bei mündlichen Prüfungen und den Beratungen des Gremiums hierüber bringe allein die Anwesenheit Dritter die Gefahr mit sich, dass diese ‑ wenn auch möglicherweise nur averbal ‑ auf das Gespräch Einfluss nehmen und eine solche Anwesenheit jedenfalls geeignet sei, die Unbefangenheit der stimmberechtigten Mitglieder des Gremiums zu beeinträchtigen. Ein legitimer Zweck werde mit § 31 Abs. 2 LPO 2003 demgegenüber nicht verfolgt. Gründe der Qualitätssicherung stritten nicht für eine Anwesenheit gerade beim Beratungsprozess. Wegen der weiteren Begründung des Urteils wird auf dessen Entscheidungsgründe Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Am 15. Januar 2021 hat der Beklagte die vom Verwaltungsgericht gegen das ‑ dem Landesprüfungsamt am 4. Januar 2021 zugestellte ‑ Urteil zugelassene Berufung eingelegt. Das Landesprüfungsamt verfolgt sein erstinstanzliches Begehren weiter.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Sie hält die Berufung mangels eines ausdrücklichen Berufungsantrags bereits für unzulässig. Zur Begründung in der Sache verweist sie auf das angefochtene Urteil und führt ergänzend und vertiefend aus: Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts stehe die Teilnahme von Herrn Dr. L.      bereits nicht in Einklang mit § 31 Abs. 2 LPO 2003. Er gehöre nicht zum nach dieser Vorschrift berechtigten Personenkreis. Ein Geschäftsstellenleiter sei nicht identisch mit einer Geschäftsführerstellung, Leitungsmitglied des Prüfungsamts gemäß § 30 Abs. 5 LPO 2003 sei er gerade nicht. Außerdem fehle es insoweit an der nach § 22 Satz 3 GO LPA erforderlichen Einberufung durch das Schulministerium. Soweit das Verwaltungsgericht zutreffend auf die Unvereinbarkeit von § 31 Abs. 2 LPO 2003 mit höherrangigem Recht erkannt habe, sei dem zuzustimmen. Gerade der auch dem Prüfling entzogene, besonders sensible Bereich der Notenberatung müsse allein den Prüferinnen und Prüfern vorbehalten bleiben, die völlig frei von äußeren Einflüssen ihr „Urteil“ fällen können müssten. Für sie mache es einen Unterschied, ob ein „Aufpasser“ mit im Raum sitze oder ob sie ohne jedweden äußeren Einfluss ihre Gedanken austauschen könnten.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter und ohne mündliche Verhandlung erklärt.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Landesprüfungsamts Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Berufung des Beklagten ist zulässig (I.) und begründet (II.).</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">I. Die Berufung ist trotz des Fehlens eines ausdrücklichen Berufungsantrags zulässig.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Nach § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO ist im Fall der Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht diese innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Berufungsbegründung muss nach § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Hier hat der Beklagte als Berufungskläger innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils des Verwaltungsgerichts keinen ausdrücklichen Berufungsantrag gestellt. Daraus ergibt sich indes nicht die Unzulässigkeit der Berufung. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO verlangt nicht, dass ein ausdrücklicher Antrag gestellt wird. Dem Antragserfordernis wird regelmäßig entsprochen, wenn in dem einzureichenden Schriftsatz hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt, dass, in welchem Umfang und weshalb der Berufungsführer an der Durchführung des zugelassenen Berufungsverfahrens festhalten will. Bei der Beurteilung ist im Grundsatz davon auszugehen, dass eine Berufung im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Entscheidung gerichtet ist, der Berufungsführer diese also insoweit angreift, als er durch sie beschwert ist. Es genügt, wenn das Ziel des Rechtsmittels aus der Tatsache seiner Einlegung allein oder in Verbindung mit den während der Rechtsmittelfrist abgegebenen Erklärungen erkennbar ist. Welche Mindestanforderungen in Anwendung der vorstehenden Grundsätze jeweils an die Berufungsbegründung zu stellen sind, hängt schließlich wesentlich von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Beschluss vom 21. September 2011 ‑ 3 B 56.11 ‑, juris, Rn. 6, 14; Urteil vom 9. März 2005 ‑ 6 C 8.04 ‑, NVwZ 2005, 821, juris, Rn. 16; BGH, Beschluss vom 20. Juni 2022 ‑ VIa ZB 3/22 ‑, juris, Rn. 9; OVG NRW, Urteil vom 27. Januar 2021 ‑ 6 A 4105/18 ‑, NWVBl. 2021, 377, juris, Rn. 35; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 28. März 2022 ‑ 1 S 1265/21 ‑, juris, Rn. 30, jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Bei der danach gebotenen Berücksichtigung der Ausführungen in dem Schriftsatz vom 13. Januar 2021, mit dem das Landesprüfungsamt die Berufung eingelegt und zugleich begründet hat, ergibt eine sachdienliche Auslegung (vgl. § 125 Abs. 1, § 88 VwGO),</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Februar 2000 ‑ 9 B 31.00 ‑, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 29, juris, Rn. 5; Urteil vom 7. Februar 1997 ‑ 9 C 11.96 ‑, DVBl 1997, 907, juris, Rn. 8,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">dass das Landesprüfungsamt implizit auch einen Sachantrag gestellt hat. Denn es hat durch seine Berufungsbegründung inhaltlich unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht, dass es mit seiner Berufung sein erstinstanzlich erfolglos gebliebenes Klageabweisungsbegehren weiterverfolgen wollte. Es hat sich eingehend mit den inhaltlichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur von diesem angenommenen Unwirksamkeit von § 31 Abs. 2 LPO 2003 auseinandergesetzt und deren Rechtsfehlerhaftigkeit gerügt.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">II. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die zulässige Verpflichtungsklage der Klägerin ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Prüfungsbescheid vom 10. September 2018 und der Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2019 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch gegenüber dem Landesprüfungsamt, ihr eine mündliche Prüfung in der Fachwissenschaft im Fach Englisch als zweite Wiederholung zu ermöglichen. Die Festsetzung der Note „mangelhaft“ (5,0) für die Prüfungsleistung der mündlichen Prüfung in der Fachwissenschaft im Fach Englisch (Modul: AM 1) und die Feststellung, dass die Klägerin die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen endgültig nicht bestanden habe, sind frei von Rechtsfehlern. Insbesondere liegen keine Verfahrensfehler vor. Weder ist § 31 Abs. 2 LPO 2003 wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam (dazu 1.), noch liegen Anhaltspunkte für eine unzulässige Beeinflussung der Prüferinnen vor (dazu 2.), noch bestehen Zweifel an der Eigenschaft von Herrn Dr. L.      als gemäß § 31 Abs. 2 LPO 2003 zur Anwesenheit bei der Notenberatung vom 31. August 2018 berechtigtem Leitungsmitglied des Prüfungsamts (dazu 3.).</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">1. § 31 Abs. 2 LPO 2003 verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung der Prüfer wird nicht durch eine Verfahrensgestaltung verletzt, die Personen des Prüfungsamts die Anwesenheit bei der Notenberatung gestattet.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">a) Das Grundrecht der Berufsfreiheit beansprucht Geltung auch für die Durchführung berufsbezogener Abschlussprüfungen und der insoweit gewährleistete Grundrechtsschutz ist auch durch die Gestaltung des Verfahrens zu bewirken. Wegen der Intensität, mit der solche Prüfungen in die Freiheit der Berufswahl eingreifen, und weil der nachträglichen gerichtlichen Kontrolle ‑ vor allem wegen der unabdingbaren Entscheidungsfreiräume der Prüfer in Bezug auf prüfungsspezifische Wertungen ‑ Grenzen gesetzt sind, bedarf es einer objektivitäts- und neutralitätssichernden Gestaltung des Bewertungsverfahrens, um den Maßstäben des Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 GG zu genügen. Dies bedeutet, dass u. a. die Gestaltung des Ablaufs derartiger Berufszulassungsprüfungen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn sein muss, um den Prüfungszweck, nämlich die Feststellung der beruflichen Qualifikation der Bewerber, zu erreichen. Demnach ist ein Verfahren, das für die Bewertung von Prüfungsleistungen vorgesehen ist, nur dann geeignet, wenn es eine hinreichend aussagekräftige Entscheidung über die Befähigung der Bewerber gewährleistet.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. Januar 1995 ‑ 1 BvR 1505/94 ‑, NVwZ 1995, 469, juris, Rn. 15; BVerwG, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 2 B 108.15 ‑, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 427, juris, Rn. 12, vom 9. Oktober 2012 - 6 B 39.12 ‑, NVwZ-RR 2013, 44, juris, Rn. 5, jeweils m. w. N., und Urteil vom 16. März 1994 - 6 C 1.93 ‑, BVerwGE 95, 237, juris, Rn. 25, 27; OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2020 ‑ 19 A 3522/19 ‑, NWVBl. 2021, 117, juris, Rn. 10 und 12 ff. (dort zur Auswahl und Bestellung von Prüfern); ferner im Grundsatz schon BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81 ‑, BVerfGE 84, 34, juris, Rn. 39.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Verfassungsrechtlich geboten ist danach sowohl eine sachkundige Leistungsbewertung als auch eine eigene, unmittelbare und vollständige Kenntnisnahme der Prüfungsleistung.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. Januar 1995, a. a. O., Rn. 17; BVerwG, Urteile vom 24. Februar 2003 - 6 C 22.02 ‑, DÖV 2003, 726, juris, Rn. 12, und vom 16. März 1994, a. a. O., Rn. 27; OVG NRW, Beschlüsse vom 9. November 2020, a. a. O., Rn. 12, 14 und 18, und vom 30. September 2011 - 19 A 1881/10 ‑, juris, Rn. 23.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Diese Gebote der sachkundigen Leistungsbewertung sowie der eigenen, unmittelbaren und vollständigen Kenntnisnahme der Prüfungsleistung werden ergänzt durch das Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung seitens der Prüfer.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2012, a. a. O., Rn. 7 f.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">b) Diesen in der verfassungsgerichtlichen, höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung hinlänglich geklärten Grundsätzen genügt § 31 Abs. 2 LPO 2003. Die in dieser Vorschrift ‑ wie entsprechend auch aktuell in § 31 Abs. 4 Satz 2 OVP allgemein für Vertreterinnen oder Vertreter des Prüfungsamts ‑ zugelassene Anwesenheit von Leitungsmitgliedern des Prüfungsamts bei den Beratungen der Prüferinnen und Prüfer ist vereinbar mit dem Grundsatz der Chancengleichheit und stellt ohne Hinzutreten weiterer Umstände keinen zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung führenden Verfahrensfehler dar.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Nach § 31 Abs. 2 LPO 2003 durften bei den Beratungen über die Festsetzung der Note für die mündlichen Prüfungsleistungen nur die Prüferinnen und Prüfer und Leitungsmitglieder des Prüfungsamts (§ 30 Abs. 5 LPO 2003) anwesend sein (1. Halbsatz); sie waren verpflichtet, über die Vorgänge bei der Beratung Verschwiegenheit zu wahren (2. Halbsatz). Die damit zugelassene Anwesenheit von Vertretern des Prüfungsamts nicht nur bei der mündlichen Prüfung selbst, sondern auch bei den Prüfungs- und Notenberatungen, berührt grundsätzlich den Grundsatz der Chancengleichheit.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Zur Anwesenheit weiterer Personen während der Prüfung selbst, d. h. der Phase der Leistungsermittlung, traf § 31 Abs. 4 LPO 2003 nur die Regelung, dass Vertreterinnen und Vertreter sowie Beauftragte des Prüfungsamts, der Schulaufsicht und der Kirchen (bei den jeweiligen Religionslehren) an Ersten Staatsprüfungen teilnehmen konnten (Satz 1); Personen, die ein berechtigtes Interesse hatten, konnten an Ersten Staatsprüfungen teilnehmen, sofern nicht der Prüfling widersprach (Satz 2). Weder nach § 31 Abs. 4 LPO 2003 noch unter Geltung des aktuellen § 31 Abs. 3 OVP ist damit die Anwesenheit Dritter bei der mündlichen Prüfung selbst ausgeschlossen. Die Entscheidung hierüber trifft das Prüfungsamt nach pflichtgemäßem Ermessen oder ‑ unter Geltung von § 31 Abs. 3 Satz 1 OVP ‑ das Prüfungsamt oder das vorsitzende Mitglied des Prüfungsausschusses. Dies entspricht allgemeinen Grundsätzen, wonach es im pflichtgemäßen Ermessen des zuständigen Entscheidungsgremiums steht, inwiefern weiteren Personen die Anwesenheit während der Prüfung gestattet wird, sofern die jeweilige Prüfungsordnung die Anwesenheit weiterer Personen während der Prüfung nicht ausdrücklich ausschließt.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. März 2021 ‑ 14 A 272/21 ‑, juris, Rn. 7, und vom 19. Dezember 2016 ‑ 6 A 1699/15 ‑, juris, Rn. 8; Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 452.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Für die an die Phase der Leistungsermittlung anschließende Beratung über das Ergebnis der Prüfung treffen § 31 Abs. 2 LPO 2003 wie auch § 31 Abs. 4 Satz 2 OVP eine ausdrückliche Bestimmung, die den Kreis der anwesenheitsberechtigten weiteren Personen einschränkt. Neben den Prüferinnen und Prüfern dürfen danach bei den Beratungen über die Festsetzung der Note für die mündlichen Prüfungsleistungen nur die Leitungsmitglieder des Prüfungsamts (bzw. Vertreterinnen oder Vertreter des Prüfungsamts nach § 31 Abs. 4 Satz 2 OVP) zugegen sein. Diese ausdrückliche verordnungsrechtliche Befugnis unterscheidet die hier einschlägige Prüfungsordnung von anderen Prüfungsordnungen, die neben der allgemeinen Zulässigkeit der Anwesenheit weiterer Personen bei Prüfungen gerade keine ausdrückliche Bestimmung für die Anwesenheit bei Beratung und Feststellung des Prüfungsergebnisses kennen.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Dezember 2016, a. a. O., Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Fehlt es an einer prüfungsordnungsrechtlichen Grundlage für die Anwesenheit weiterer Personen bei der Beratung über die mündliche Prüfungsleistung, ist eine solche nach allgemeinen prüfungsrechtlichen Grundsätzen unzulässig und die Annahme gerechtfertigt, dass diese Anwesenheit ein erheblicher Verfahrensfehler ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass hierdurch das Prüfungsergebnis beeinflusst worden ist.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFH, Urteil vom 18. September 2012 ‑ VII R 41/11 ‑, BFHE 239, 280, juris, Rn. 20; OVG NRW, Beschluss vom 19. Dezember 2016, a. a. O., Rn. 8; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10. April 2019 ‑ 9 S 1724/18 -, juris, Rn. 11; Fischer/Jeremias/Dieterich, a. a. O., Rn. 373, 452.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Denn es widerspricht im Grundsatz dem rechtsstaatlichen Gebot der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung seitens der Prüfer, außenstehende Dritte in einer Weise am Prüfungsverfahren zu beteiligen, dass ihnen ein bestimmender Einfluss auf das Prüfungsergebnis eingeräumt wird.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 27. September 2012 ‑ 9 S 2143/11 ‑, VBlBW 2013, 111, juris, Rn. 29, und vom 16. Januar 1990 ‑ 9 S 3071/88 ‑, GewArch 1990, 134, juris, Rn. 36.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Diesen Maßstäben genügte § 31 Abs. 2 LPO 2003.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die ausdrücklich durch § 31 Abs. 2 LPO 2003 ‑ wie auch durch § 31 Abs. 4 Satz 2 OVP ‑ gestattete Anwesenheit der genannten Dritten bei Prüfungsberatungen ist durch Sachgründe gerechtfertigt. Nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 LPO 2003 umfasste der Auftrag des Prüfungsamts die Vorbereitung, Durchführung und Qualitätssicherung der Ersten Staatsprüfungen im Zusammenwirken mit den Hochschulen. Nach der näheren Ausgestaltung durch die GO LPA ist das Landesprüfungsamt u. a. zuständig für die Qualitätssicherung und -entwicklung innerhalb und außerhalb von Staatsprüfungen (§ 1 Abs. 1 3. Spiegelstrich GO LPA). Diesem zunächst rein institutionellen Interesse diente § 31 Abs. 2 LPO 2003, indem es Leitungsmitgliedern des Prüfungsamts gestattet wurde, auch dem einer inhaltlichen Einflussnahme grundsätzlich entzogenen Bereich der Beratung über die Prüfungsleistung beizuwohnen und von den Vorgängen der Prüfungstätigkeit Kenntnis zu nehmen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts geht es dabei nicht darum, dass die in ihrer Prüfungstätigkeit nach § 31 Abs. 1 LPO 2003 im Rahmen der Rechtsvorschriften unabhängigen Prüfer „unter der Aufsicht oder nach Maßgabe der Vorstellungen des Prüfungsamts entscheiden“ (S. 7 des Urteils). Neben der Anwesenheit beim Prüfungsgespräch und der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses kann die Anwesenheit auch beim Vorgang der Beratung dem für die administrativ-organisatorische und institutionelle Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens verantwortlichen Prüfungsamt weitere Erkenntnisse hierfür, nicht zuletzt für sachdienliche Fortentwicklungen des Prüfungsverfahrens verschaffen. Sowohl die LPO 2003 als auch die aktuell geltende OVP verfolgen mit der ausdrücklichen Zulassung von Vertretern des Landesprüfungsamts neben diesem mehr institutionellen Zweck auch individuelle Schutzzwecke. Die Anwesenheit der genannten Personen kann dem Prüfling die Gewähr vermitteln, dass auch bei dem der Öffentlichkeit und seiner eigenen Kenntnis entzogenen Bereich der Beratung über seine Prüfungsleistung das einschlägige Recht ‑ und damit die Grenze der Unabhängigkeit der Prüferinnen und Prüfer (§ 31 Abs. 1 LPO 2003) ‑ eingehalten wird. Dies betrifft etwa die einer verwaltungsinternen wie gerichtlichen Kontrolle grundsätzlich nicht zugänglichen prüfungsspezifischen Bewertungsspielräume. Diese sind nach ständiger Senatsrechtsprechung nur überschritten, wenn die Prüfer einen Verfahrensfehler begehen, anzuwendendes Recht verkennen, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgehen, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzen oder sich von sachfremden Erwägungen leiten lassen oder sonst willkürlich handeln.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. allgemein zum prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum bei schul- und lehrerprüfungsrechtlichen Entscheidungen OVG NRW, Beschlüsse vom 15. September 2022 ‑ 19 B 976/22 ‑, juris, Rn. 3, vom 15. März 2022 ‑ 19 B 1649/21 ‑, juris, Rn. 7, vom 30. September 2021 ‑ 19 B 1508/21 ‑, juris, Rn. 4, und vom 29. April 2020 ‑ 19 A 110/19 ‑, juris, Rn. 32 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Nicht nur der Nachweis etwa von verfahrensbezogenen Fehlern im Prüfungs- wie Beratungsverlauf oder Anhaltspunkte für Willkür oder sachfremde Erwägungen kann durch die Anwesenheit eines Vertreters des Prüfungsamts leichter aufgeklärt werden, sondern bereits die bloße Anwesenheit kann im Sinn einer vorbeugenden Fehlerkontrolle qualitäts- und rechtssichernd wirken. Denn grundsätzlich bewerten Prüfer die Prüfungsleistungen und entscheiden über deren Ergebnis zwar eigenverantwortlich und unabhängig, aber nicht unkontrolliert.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. Fischer/Jeremias/Dieterich, a. a. O., Rn. 326 f., 786 ff.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Auf der anderen Seite vermag die Präsenz von Vertretern des Prüfungsamts den Prüfern gerade bei zwischenmenschlich herausfordernden Prüfungssituationen die Sicherheit zu vermitteln, etwaigen Vorwürfen etwa einer unsachlichen Beratung nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert zu sein.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber ist den Prüfern eine von äußeren Einflüssen ungestörte eigenständige und unabhängige Bewertung der Prüfungsleistung auch bei der nach § 31 Abs. 2 LPO 2003 zugelassenen Anwesenheit von Leitungsmitgliedern des Prüfungsamts möglich. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, eine den Prüfern unbewusste Beeinflussung lasse sich nie gänzlich ausschließen, trifft zwar in dieser Allgemeinheit zu, übersieht jedoch, dass sich derartige abstrakte Gefahren selbst bei einem pauschalen Ausschluss Dritter von der Beratung nicht vollständig eliminieren lassen. Die Möglichkeit, auf einen durch Vorverständnisse, äußere Gegebenheiten und sonstige sachliche wie unsachliche Umstände „beeinflussten“ Prüfer zu treffen, liegt in der Natur der Sache einer von Menschen durchgeführten Prüfungssituation. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ‑ auch wenn ein Prüfer die Leistungen des Prüflings persönlich unmittelbar zur Kenntnis zu nehmen und eine selbstständige, eigenverantwortliche, nur seinem Wissen und Gewissen verpflichtete Entscheidung zu fällen hat ‑ nicht jede Möglichkeit eines Einflusses auf die Entscheidung des Prüfers eine Gefahr für die ordnungsgemäße Erfüllung dieser Aufgabe darstellt, zu deren vorbeugender Abwehr der Normgeber Verfahrensregelungen erlassen muss. Vielmehr darf der Normgeber grundsätzlich von dem Bild des Prüfers ausgehen, der zu einer selbstständigen, eigenverantwortlichen Bewertung fähig und bereit ist.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 27. Dezember 2017 ‑ 19 B 1255/17 ‑, GewArch 2018, 163, juris, Rn. 2.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der Einhegung einer gleichwohl bestehenden Möglichkeit einer unzulässigen Beeinflussung dienen ein qualitätsvolles Prüfungsverfahren genauso wie die Wirksamkeit von internen und externen Kontrollinstrumenten. Die von § 31 Abs. 2 LPO 2003 ermöglichte Präsenz von Leitungsmitgliedern des Prüfungsamts setzt vor diesem Hintergrund kein spezifisch gefahrenerhöhendes Risiko einer (auch unbewussten) Beeinflussung der Prüfer.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Treffen Prüfungsordnungen ‑ wie hier ‑ ausdrückliche Bestimmungen zur Anwesenheit weiterer Personen bei der Beratung über Prüfungsleistungen, führt eine solche Präsenz nur dann zur Annahme eines dem Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Bewertung widersprechenden erheblichen Risikos einer Beeinflussung der Prüfer, wenn nach den Umständen des Einzelfalls Anhaltspunkte hierfür vorliegen. Derartige objektive Anhaltspunkte können dem Prüfling aus dem gesamten Prüfungsverfahren bekannt sein, auch wenn sich der Beratungsvorgang selbst seiner Kenntnisnahme entzieht. Sind derartige Anhaltspunkte geltend gemacht, ist das im üblichen Rahmen der Amtsermittlung aufzuklären (§ 24 Abs. 1 VwVfG NRW, § 86 Abs. 1 VwGO). Dass dies den Prüfling nicht rechtlos oder vor unzumutbare Herausforderungen stellt, zeigt ein Blick auf die hergebrachten Grundsätze, nach denen gemäß § 21 Abs. 1 VwVfG NRW die Besorgnis der Befangenheit von Prüfern berechtigt ist.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Beschlüsse vom 31. August 2021 ‑ 19 A 1452/20 ‑, juris, Rn. 11, vom 28. Juni 2021 ‑ 19 A 480/20 ‑, juris, Rn. 39, und vom 9. November 2020 ‑ 19 A 4189/19 ‑, juris, Rn. 9, Urteile vom 10. Dezember 2015 ‑ 19 A 254/13 ‑, DVBl. 2016, 926, juris, Rn. 121, und vom 25. September 2014 ‑ 14 A 1872/12 ‑, DVBl. 2015, 52, juris, Rn. 58.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">2. Es liegen keine objektiven Anhaltspunkte dafür vor, dass die Anwesenheit von Herrn Dr. L.      in der mündlichen Prüfung sowie der Beratung vom 31. August 2018 dem Gebot der eigenständigen und unabhängigen Bewertung seitens der beiden Prüferinnen widersprochen hätte. Nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten, an denen zu zweifeln der Senat keinen Anlass hat, hatte sich Herr Dr. L.      zu Beginn der Prüfung kurz vorgestellt und sich im Verlauf der Prüfung einige Notizen gemacht. Im Prüfungsgespräch stellte er weder Fragen noch gab er Kommentare ab. Nach dem Prüfungsgespräch verblieb er mit den Prüferinnen im Prüfungsraum. Bei der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses verblieb er ebenfalls im Raum. Es gibt auch sonst keinerlei Hinweise auf eine aktive Beteiligung oder Einmischung im Rahmen der eigentlichen Beratung. In der Niederschrift der Prüferinnen ist er nicht erwähnt.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte für eine Beeinflussung der Prüferinnen ergeben sich des Weiteren nicht aus dem durch Herrn Dr. L.      gefertigten Vermerk vom 31. August 2018, der ‑ da ersichtlich im Anschluss an die Beratung gefertigt ‑ nicht zu einer Einflussnahme auf den Prüfungs- oder Beratungsverlauf geführt haben kann. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts spricht im Übrigen, ohne dass dies der Vertiefung bedürfte, vieles dafür, dass der für die Akten des Prüfungsamts gefertigte interne Vermerk nicht gegen das Beratungsgeheimnis des § 31 Abs. 2 2. Halbsatz LPO 2003 verstößt, wonach die bei der Beratung Anwesenden verpflichtet waren, über die Vorgänge bei der Beratung Verschwiegenheit zu wahren. Der allein die Beratung betreffende Teil des Vermerks ist kurz und abstrakt gehalten und beschränkt sich auf eine kursorische Untermauerung der Einschätzung des Verfassers, dass die Durchführung der Prüfung aus seiner Sicht nicht zu beanstanden sei. Wertende Elemente enthält die Stellungnahme allein insoweit, als sie den Prüferinnen ‑ ohne inhaltliche Erläuterung ‑ eine „detaillierte, sorgfältige und abwägende Gewichtung von fachlichen und sprachlichen Aspekten“ attestiert, im Übrigen wird allein das Prüfungsergebnis referiert. Nach Sinn und Zweck der Pflicht zur Verschwiegenheit über Prüfungsvorgänge findet diese ihren Rechtsgrund vorwiegend in dem das Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatz der Chancengleichheit. Der Grundsatz der Chancengleichheit wird aber nicht durchgreifend beeinträchtigt, wenn lediglich allgemeine Kenntnisse und Erfahrungen, die ein Prüfer im Rahmen seiner Prüfertätigkeit gewonnen hat, weitergegeben werden.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 21. Januar 2013 ‑ 14 B 338/12 ‑, juris, Rn. 11.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes gilt für die Vorgänge der Beratung. Hier schweigt der Vermerk über die inhaltlichen, sich unmittelbar auf die Notenfindung beziehenden Aspekte. Der diskursive Austausch der Prüferinnen, auf den das Prüfungs- und Bewertungsverfahren in besonderer Weise angelegt und auch angewiesen ist, um dem Prüfungszweck und dem Anspruch des Prüflings auf leistungsgerechte Bewertung vollständig Rechnung zu tragen,</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2020, a. a. O., Rn. 31,</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">wird nicht näher inhaltlich wiedergegeben.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">3. Das Verwaltungsgericht hat schließlich ohne Rechtsfehler angenommen, dass Herr Dr. L.      bei der Notenberatung vom 31. August 2018 Leitungsmitglied des Prüfungsamts gemäß § 31 Abs. 2 i. V. m. § 30 Abs. 5 LPO 2003 war.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die nach § 31 Abs. 2 1. Halbsatz i. V. m. § 30 Abs. 5 Satz 1 LPO 2003 verordnungsrechtlich definierten Leitungsmitglieder des Prüfungsamts sind ‑ soweit hier relevant ‑ die Leiterin oder der Leiter des Prüfungsamts, die Stellvertreterin oder der Stellvertreter, und die Geschäftsführerinnen oder Geschäftsführer, die jeweils vom Ministerium berufen werden. Der damalige Leiter der Außenstelle Q.         war Leitungsmitglied des Prüfungsamts in diesem Sinn. Dies ergibt sich aus der Entwicklungsgeschichte und den hierzu ergangenen Bestimmungen für das Landesprüfungsamt. Im Zuge der Umstrukturierung des Prüfungswesens für Lehramtsprüfungen wurde mit Wirkung vom 15. Februar 2014 das Landesprüfungsamt für Lehrämter an Schulen (Landesprüfungsamt) durch Zusammenlegung des Landesprüfungsamts für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen und des Landesprüfungsamts für Zweite Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen errichtet. Sitz des neuen Landesprüfungsamts ist Dortmund, es verfügt über Außenstellen u. a. in Q.         . Dieser strukturellen Organisationsänderung trägt der Wortlaut des § 30 Abs. 5 LPO 2003 nicht hinreichend Rechnung. So gibt es etwa im Landesprüfungsamt keine Geschäftsführer. Auch in der früher geltenden Geschäftsordnung für das Landesprüfungsamt für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen vom 19. Juni 2006 (ABl. NRW. S. 255) sowie dem Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 19. Juni 2006 (ABl. NRW. S. 254) zur Errichtung eines Landesprüfungsamts für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen findet sich der Begriff nicht. Für den Hinweis des Verwaltungsgerichts auf S. 5 des angefochtenen Urteils gibt es damit ‑ soweit ersichtlich ‑ keine Grundlage. Mit „Geschäftsführern“ werden die früheren Geschäftsstellenleitungen des ehemaligen Landesprüfungsamts für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen bezeichnet. Leitungsmitglieder des Prüfungsamts im Sinn dieser Vorschrift sind über die Leiterin oder den Leiter des Prüfungsamts und deren oder dessen Stellvertreterin oder Stellvertreter hinaus auch die Leiterinnen und Leiter der Außenstellen des Prüfungsamts. Dies ergibt sich jedenfalls aus einer Zusammenschau von Nr. 5 des Runderlasses des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 24. Januar 2014 (ABl. NRW. S. 80) zur Errichtung eines Landesprüfungsamtes für Lehrämter an Schulen, wonach die Leiterinnen und Leiter der Außenstellen im Rahmen der Gesamtverantwortung der Leitung die Verantwortung für die Wahrnehmung der den Außenstellen übertragenen Aufgaben tragen, mit der näheren Entfaltung der Geschäftsordnung des Landesprüfungsamts. Die Außenstellen des Landesprüfungsamts sind für die Geltungsdauer der LPO 2003 die gemäß § 30 Abs. 2 und 5 LPO 2003 für Prüfungen nach dieser Prüfungsordnung zuständigen Organisationseinheiten (Geschäftsstellen) des Prüfungsamts (§ 22 Satz 1 GO LPA). Gemäß § 22 Satz 2 GO LPA nehmen die mit der fachlichen Koordinierung betrauten Referentinnen und Referenten die Aufgaben einer Geschäftsstellenleitung gemäß § 30 Abs. 5 LPO 2003 wahr.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Als mit der fachlichen Koordinierung betrauter Referent nahm Herr Dr. L.      seit Januar 2018 und auch noch zum Zeitpunkt der mündlichen Prüfung am 31. August 2018 die Außenstellenleitung und alle damit zusammenhängenden Amtsgeschäfte der Außenstelle Q.         des Landesprüfungsamts wahr. Unerheblich ist dabei, dass Herr Dr. L.      nicht ausdrücklich durch gesonderten Formalakt durch das für Schule zuständige Ministerium selbst berufen wurde. Er wurde (nur) seitens der Bezirksregierung Detmold mit Verfügung vom 17. November 2017 an das Landesprüfungsamt ‑ Außenstelle Q.          ‑ abgeordnet. Zur Überzeugung des Senats liegt gleichwohl eine dem Ministerium zuzurechnende Berufungsentscheidung im Sinn des § 22 Satz 3 GO LPA vor, wonach abweichend von § 9 Abs. 2 GO LPA ‑ und der dort vorgesehenen Übertragung der Außenstellenkoordinierung und entsprechenden Aufgabenwahrnehmung schon durch die Leitung des Landesprüfungsamts ‑ die mit der fachlichen Koordinierung einer Außenstelle zu betrauenden Referentinnen und Referenten für die Geltungsdauer dieser Prüfungsordnung durch das für Schule zuständige Ministerium berufen werden. Ausweislich der seitens des Beklagten vorgelegten Unterlagen besteht kein Zweifel daran, dass die zum Zeitpunkt der mündlichen Prüfung noch geltende Abordnung der Umsetzung der seitens der ‑ u. a. mit Vertretern des für Schule zuständigen Ministeriums besetzten ‑ Auswahlkommission getroffenen Auswahlentscheidung für die Stelle des Referenten im Arbeitsbereich 1 des Landesprüfungsamts für Lehrämter an Schulen ‑ Leitung der Außenstelle Q.          ‑ diente und damit dem zuständigen Ministerium zurechenbar ist. Die Geschäftsordnung enthält keine weiteren formalen Anforderungen hinsichtlich der Qualität der „Berufung“ durch das Ministerium. § 22 Satz 3 GO LPA bringt gegenüber § 9 Abs. 2 GO LPA lediglich zum Ausdruck, dass die Übertragung der Außenstellenleitung nicht allein durch die Leitung des Landesprüfungsamts erfolgen soll, sondern ‑ wenigstens ‑ unter Beteiligung des Ministeriums. Dass eine solche Beteiligung stattgefunden hat, steht hier, wie ausgeführt, außer Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon wäre auch ein eventuell formal unzureichender Berufungsakt in Umsetzung der Geschäftsordnungsbestimmung in § 22 Satz 3 GO LPA für die nach außen hin wirksame ‑ und rein faktisch auch unstreitige ‑ Stellung von Herrn Dr. L.      als Leiter der Außenstelle nicht erheblich.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Der Senat lässt die Revision nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
346,944
olgk-2022-09-29-15-u-4322
{ "id": 822, "name": "Oberlandesgericht Köln", "slug": "olgk", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
15 U 43/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:28"
"2022-10-17T11:11:08"
Urteil
ECLI:DE:OLGK:2022:0929.15U43.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Berufung des Verfügungsklägers wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 7.2.2022 (9 O 202/21) teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:</p> <p>Der Verfügungsbeklagten wird es im Wege der einstweiligen Verfügung bei Meidung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 250.000 Euro, ersatzweise Ordnungshaft oder Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, zu vollstrecken an den Mitgliedern des A, untersagt, den nachstehend eingeblendeten Kommentar des Verfügungsklägers von der Plattform Internetadresse 1 zu löschen und/oder den Verfügungskläger wegen dieses Kommentars zeitlich befristet durch Versetzen des Profils in den sog. „read-only-modus“ zu sperren, wie dies am 20.8.2021 geschehen ist,</p> <p><img height="136" width="407" src="15_U_43_22_Urteil_20220929_0.png" alt="H:\Dokumente\Bilder 6. Zivilsenat\15U043-22-1.png" /></p> <p>Die Anschlussberufung der Beklagten wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Rechtsstreits in erster und zweiter Instanz trägt die Beklagte.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Verfügungskläger nimmt die Verfügungsbeklagte Im Zusammenhang mit der Löschung eines von ihm verfassten Kommentars sowie einer seinen Account betreffenden 30-tägigen „Sperre“ (sog. read-only-modus) auf der Plattform „facebook“ auf Unterlassung in Anspruch. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils (Bl. 469 ff. d.A.) Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat zunächst mit Beschluss vom 27.8.2021 eine einstweilige Verfügung erlassen (Bl. 68 ff. d.A.), mit welcher der Verfügungsbeklagten bei Meidung von Ordnungsmitteln untersagt wurde, den streitgegenständlichen Kommentar des Verfügungsklägers zu löschen und/oder diesen wegen dieses Kommentars zeitlich befristet zu sperren, „<em>wie dies am 21.8.2021 geschehen ist</em>“. Auf Widerspruch der Verfügungsbeklagten vom 17.11.2021 (Bl. 134 d.A.) hat es mit dem angefochtenen Urteil die einstweilige Verfügung unter Abweisung des Antrags teilweise, nämlich bezüglich der Untersagung einer Löschung des Kommentars, aufgehoben sowie im Übrigen nach § 319 ZPO korrigiert. Weiter hat es festgestellt, dass sich der Rechtsstreit bezüglich der Untersagung der befristeten „Sperre“ wegen des Kommentars für den Zeitraum ab dem 20.9.2021 teilweise erledigt habe. Im Übrigen hat es die einstweilige Verfügung unter Korrektur des Datums des Kommentars bestätigt, wobei wegen der Einzelheiten der Begründung auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen wird (Bl. 469 ff. d.A.).</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil hat der Verfügungskläger Berufung eingelegt und verfolgt seine erstinstanzlichen Anträge, wie in der mündlichen Verhandlung vom 10.1.2022 (Bl. 395 f. d.A.) gestellt, im Umfang der Zurückweisung weiter, dies zuletzt unter Konkretisierung der Anträge. Die Verfügungsbeklagte hat Anschlussberufung eingelegt, mit welcher sie die vollständige Zurückweisung des Antrags erstrebt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Verfügungskläger macht geltend, in erster Linie sei der Widerspruch der Verfügungsbeklagten schon als unzulässig zu verwerfen, weil deren Prozessbevollmächtigte als vollmachtslose Vertreter handeln würden. Seine Rüge der fehlenden Vollmacht sei keine Schikane, sondern ein bewährtes Mittel, die Beklagte von ihrem destruktiven prozessualen Vorgehen abzubringen. Die bloße Glaubhaftmachung einer Vollmacht sei in § 80 ZPO auf Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz nicht vorgesehen. In der Sache macht er geltend, der Unterlassungsanspruch gegen die Löschung des Kommentars scheitere nicht daran, dass die Verfügungsbeklagte diesen nach Zustellung der einstweiligen Verfügung plötzlich wieder eingestellt und dazu erklärt habe, dass er „<em>nach eigener Prüfung</em>“ nicht gegen die Gemeinschaftsstandards verstoße. Die Beachtung eines gerichtlichen Verbotes führe allein nicht zum Wegfall des Verfügungsgrundes. Der Verfügungskläger ist der Ansicht, die Verfügungsbeklagte habe darüber hinaus eine Erstbegehungsgefahr dadurch begründet, dass sie sich ausweislich ihres Vortrags im Verfahren auch weiter vorbehalte, rechtmäßige Inhalte vorübergehend zu löschen. Auch hinsichtlich der abgelaufenen 30-tägigen „Sperre“ in Form der Versetzung seines Nutzerkontos in den sog. read-only-modus bestehe weiterhin ein Unterlassungsanspruch.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Verfügungskläger beantragt zuletzt,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">das Urteil des Landgerichts Bonn vom 7.2.2022 (9 O 202/21) teilweise abzuändern und die einstweilige Verfügung des Landgerichts Bonn vom 27.8.2021 mit der Maßgabe neu zu erlassen, dass das Datum „20.8.2021“ statt des Datum „21.8.2021“ in den Antrag aufgenommen wird,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">hilfsweise, die einstweilige Verfügung des Landgerichts Bonn vom 27.8.2021 mit der Maßgabe neu zu erlassen, dass der auf die „Sperre“ bezogene Teil des Verbots ab dem 20.9.2021 erledigt ist.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">sowie</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Anschlussberufung der Verfügungsbeklagten zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsbeklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Berufung des Verfügungsklägers zurückzuweisen</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">sowie im Wege der Anschlussberufung</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts Bonn vom 7.2.2022 (9 O 202/21) die einstweilige Verfügung des Landgerichts Bonn vom 27.8.2021 in der Gestalt des Urteils vom 7.2.2022 aufzuheben und den auf ihren Erlass gerichteten Antrag des Verfügungsklägers insgesamt zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Sie macht geltend, die Rüge der fehlenden Vollmacht sei wegen offenkundigem Rechtsmissbrauch des Verfügungsklägers nicht zu beachten; in anderen Verfahren habe der Prozessbevollmächtigte des Verfügungsklägers einen solchen Einwand auch nicht erhoben. Jedenfalls seien die neuen Vertretungsverhältnisse und die neu erteilte Prozessvollmacht zu berücksichtigen, wie sie im Einzelnen im Schriftsatz vom 24.08.2022 nebst Anlagen (Bl. 249 ff. des Senatshefts) und im Termin vom 25.08.2022 (Protokoll nebst Anlagen Bl. 265 ff. d.A.) ausgeführt worden seien. Hinsichtlich der Löschung des Kommentars bestehe kein Unterlassungsanspruch, weil der Beitrag wiederhergestellt sei und damit keine Vertragsverletzung (mehr) vorliege. Die zuvor erfolgte Löschung des Kommentars sei auch nicht rechtswidrig gewesen, weil der Verfügungsbeklagten ohnehin auch in Ansehung der neuen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes die Befugnis zustehe, auch solche Beiträge vorübergehend zu löschen, bei denen ein Verstoß gegen die Gemeinschaftsstandards „<em>aus objektiver Perspektive jedenfalls ernsthaft in Betracht</em>“ komme. Auch hinsichtlich der vorübergehenden Nutzungsbeschränkung des Verfügungsklägers durch die Versetzung in den sog. read-only-modus bestehe kein Unterlassungsanspruch, weil diese (unterstellte) Vertragsverletzung nicht mehr andauere bzw. nicht mehr verhindert werden könne. Darüber hinaus fehle es an einer Wiederholungsgefahr, weil es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass sie – die Verfügungsbeklagte – auf Basis des streitgegenständlichen Kommentars erneut eine „Sperre“ aussprechen werde; vielmehr sei sie zu der Erkenntnis gelangt, dass der Beitrag nicht gegen die Gemeinschaftsstandards verstoße. Schließlich habe das Landgericht fehlerhaft nicht berücksichtigt, dass es sich bei dem geltend gemachten Unterlassungsanspruch im Ergebnis um eine Leistungsverfügung handele, die anerkanntermaßen nur unter engen – hier nicht gegebenen – Voraussetzungen in Betracht komme.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Berufung des Verfügungsklägers ist begründet, da seine erstinstanzlichen Unterlassungsanträge vollumfänglich begründet waren und sich daran auch durch die zwischenzeitliche Wiedereinstellung des Kommentars bzw. den Ablauf der 30-tägigen „Sperrfrist“ nichts geändert hat. Auf die Hilfsanträge und die Frage nach deren prozessualer Zulässigkeit kommt es dann nicht mehr an. Entsprechend ist die Anschlussberufung der Beklagten im Gegenzug unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong>              Soweit die einstweilige Verfügung des Landgerichts vom 27.8.2021 mit dem angefochtenen Urteil teilweise aufgehoben worden ist, hat der Verfügungskläger auf entsprechenden Hinweis des Senats im Verhandlungstermin zutreffend seine Anträge klargestellt und im Umfang der Aufhebung einen (teilweisen) Neuerlass beantragt (vgl. dazu Senat, Urt. v. 10.3.2022 – 15 U 244/21, GRUR-RS 2022, 6142; siehe ferner Senat, Beschl. v. 10.9.2002 - 16 U 80/02, BeckRS 2003, 153; Senat, Urt. v. 10.3.2022 – 15 U 244/21, GRUR 2022, 1247; Musielak/Voit/<em>Huber</em>, ZPO, 18. Aufl. 2021, § 925 Rn. 10 m.w.N.).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong>               Weiter hat die Verfügungsbeklagte nach entsprechender Fristsetzung durch den Senat (§ 80 S. 2 ZPO) durch Vorlage einer Originalvollmacht der Mitglieder des A (Anlage AG 15) sowie einer Prozessvollmacht von Frau C(Anlage AG 17) den bisher (möglicherweise) bestehenden Mangel ihrer Vollmacht geheilt, womit auch die bisherige Prozessvertretung wirksam ist (vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 31.5.2005 – 3 U 1313/04, NJW-RR 2006, 377; BeckOK ZPO (<em>Piekenbrock</em>), 45. Ed., § 80 Rn. 14 m.w.N.). Eine solche Vorlage war erforderlich, weil weder die Vollmachtsrüge des Verfügungsklägers rechtsmissbräuchlich noch die bis zu diesem Zeitpunkt von der Verfügungsbeklagten vorgelegten Unterlagen ausreichend waren:</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die von Seiten des Verfügungsklägers erhobene Vollmachtsrüge war schon deshalb nicht rechtsmissbräuchlich, weil das Gesetz die Vorlage der Vollmacht im Original auf Verlangen des Gegners in § 88 Abs. 1 ZPO ausdrücklich vorsieht. Die zunächst vorgelegte Vollmacht vom 12.11.2021 genügte diesen Anforderungen nicht, weil bei einer Kette von nacheinander geschalteten Vollmachten der Nachweis bis zur Partei selbst geführt werden muss (Zöller (<em>Althammer</em>), 34. Auflage, § 80 ZPO Rn. 7 m.w.N.). Soweit die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten mit Schriftsatz vom 14.1.2022 (Bl. 407 ff.) eine Kopie der notariell beglaubigten Vollmacht der Verfügungsbeklagten (diese damals noch vertreten durch Herrn D) vom 16.12.2020 per beA übermittelt haben, welche wiederum Frau E zur Bevollmächtigung von Anwälten berechtigte (Anlage AG 11) und das Vorliegen der entsprechenden Originalvollmacht anwaltlich versichert haben (Bl. 408 d.A.), war dies prozessual nicht ausreichend. Die vom Landgericht in diesem Zusammenhang zitierte Kommentarstelle im BeckOK-ZPO enthält zwar tatsächlich die Aussage, dass § 130a ZPO auf die Vorlage der Vollmacht Anwendung finden kann („<em>In elektronischer Form kann der Nachweis nach Maßgabe von § 130a geführt werden, soweit die Justizverwaltungen des Bundes und der Länder das Einreichen elektronischer Dokumente zugelassen haben</em>“). Jedoch sind damit offenkundig nur solche Vollmachten gemeint, die als elektronische Dokumente eingestuft werden, also entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sind, was nach § 126a BGB dem Schriftformerfordernis des § 80 Abs. 1 ZPO genügen würde oder aber von der verantwortenden Person signiert und von dieser auf einem sicheren Übermittlungsweg (§ 130a Abs. 3 S. 1, 2. Alt. ZPO) eingereicht worden sind. Beides war hier nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Auch eine Glaubhaftmachung in Form der anwaltlichen Versicherung ist in § 80 Abs. 1 ZPO, der auch im einstweiligen Verfügungsverfahren gilt (Senat, Urt. v. 10.3.2022 – 15 U 244/21, GRUR-RS 2022, 6142; siehe ferner OLG Saarbrücken, Urt. v. 30.4.2008 – 1 U 461/07, NJOZ 2008, 3084; LG Bochum, Urt. v. 4.10.2017 – 13 O 136/17, BeckRS 2017, 135526), nicht vorgesehen, womit der Nachweis nicht mittels einer anwaltlichen Versicherung als Glaubhaftmachungsmittel oder anderer Glaubhaftmachungsmittel geführt werden kann (vgl. zur Formstrenge: BGH, Beschl. v. 29.9.2021 – VII ZB 25/20, MMR 2022, 290). Ausreichend ist zwar die Übergabe der Ausfertigung einer öffentlich beurkundeten Vollmacht (§ 47 BeurkG), nicht jedoch – wie hier – eine beglaubigte Abschrift des Urkundenoriginals, weil sie keinen Nachweis darüber erbringt, dass die Vollmacht über den Zeitpunkt der Beglaubigung hinaus noch fortbesteht (vgl. MüKoZPO (<em>Toussaint</em>), 6. Auflage, § 80 ZPO Rn. 17).</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong>               Nach nunmehriger ordnungsgemäßer Vorlage einer Vollmacht durch die Verfügungsbeklagte hat die Berufung des Verfügungsklägers aber in der Sache Erfolg, womit die Anschlussberufung unbegründet ist.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><strong>a.</strong>               Der Verfügungskläger hat sowohl einen Unterlassungsanspruch hinsichtlich der Löschung seines Kommentars als auch einen solchen hinsichtlich der vorübergehenden Sperre auf Basis dieses Kommentars aus § 280 Abs. 1 BGB, so dass ein Verfügungsanspruch zu bejahen ist.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"><strong>aa.</strong>               Unabhängig von den im Verfahren zwischen den Parteien kontrovers erörterten Frage der Wirksamkeit der Nutzungsbedingungen der Verfügungsbeklagten war die Löschung des streitgegenständlichen Beitrags am 20.8.2021 schon deshalb eine Verletzung der Vertragspflichten durch die Verfügungsbeklagte, weil dieser noch nicht einmal gegen die Vorgaben der unterhalb der Strafbarkeitsebene eingreifenden Nutzungsbedingungen bzw. Gemeinschaftsstandards verstößt. Es handelt sich im hier vorliegenden Gesamtkontext bei der Äußerung des Verfügungsklägers gerade nicht um sog. Hassrede, was auch die Verfügungsbeklagte inhaltlich nicht mehr in Abrede stellt.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Soweit die Verfügungsbeklagte geltend macht, sie dürfe auch solche Inhalte vorübergehend entfernen, bei denen ein Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen „<em>ernsthaft in Betracht</em>“ komme, bleibt ihr dies in der Sache unbenommen. Sie trägt dann aber – wie vorliegend – das Risiko, in einem gerichtlichen Verfahren zu unterliegen, wenn die betreffende Äußerung als rechtmäßig bzw. den Nutzungsbedingungen entsprechend bewertet wird, denn ein solches „temporäres Eingriffsrecht“ folgt auch gerade nicht aus der von der Verfügungsbeklagten zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Eine mit einer vorläufigen Löschung verbundene Prüfungsfrist für rechtmäßige Äußerungen, die dazu führt, dass es bei gerichtlicher Gegenwehr des Betroffenen nicht zu Konsequenzen für die Verfügungsbeklagte in Form von Unterlassungstiteln oder Kostentragung kommt, hat der Bundesgerichtshof in seinen Entscheidungen vom 27.1.2022 (III ZR 12/21) und 29.7.2021 (III ZR 179/20, III ZR 192/20) gerade nicht bejaht. Auch aus der auf Bl. 68 des Senatshefts von der Verfügungsbeklagten zitierten Passage folgt nichts Anderes: Der Bundesgerichtshof hat damit nicht postuliert, dass auch rechtmäßige Inhalte zum Zwecke einer Prüfung durch die Verfügungsbeklagte vorübergehend gelöscht werden dürfen. Vielmehr geht es in der betreffenden Passage darum, dass die Löschung eines rechtswidrigen Beitrags nicht allein deshalb unzulässig ist, weil der Nutzer nicht vorher angehört wurde.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsbeklagte kann dem Unterlassungsanspruch des Verfügungsklägers hinsichtlich der Löschung des Kommentars schließlich auch nicht entgegenhalten, dieser sei auf eine Veröffentlichung des Beitrags für jeden beliebigen Kontext gerichtet und damit zu weitgehend (Bl. 160 d.A.) und/oder gar unbestimmt. Denn der Antrag des Verfügungsklägers bezieht sich auf die Äußerung in genau dem Kontext, in welchem sie der Verfügungskläger ursprünglich veröffentlicht hatte. Dies wird schon durch die in der Antragsschrift enthaltene Formulierung „<em>wie dies am 20.8.2021 geschehen ist</em>“ deutlich. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Senats (zum Kontextbezug etwa Beschl. v. 9.6.2022 – 15 W 30/22, n.v.).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>bb.</strong>              Aus dieser Verletzung von Vertragspflichten durch die Verfügungsbeklagte ergibt sich ein Unterlassungsanspruch des Verfügungsklägers aus § 280 Abs. 1 BGB (vgl. BGH, Urt. v. 29.7.2021 – III ZR 179/20, NJW 2021, 3179; Grüneberg (<em>Grüneberg</em>), BGB, 81. Aufl. 2022, § 280 Rn. 33).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dabei ist die Wiedereinstellung des Kommentars durch die Verfügungsbeklagte im Oktober 2021 entgegen den Ausführungen des Landgerichts keine Erfüllung des klägerischen Anspruchs i.S.v. § 362 BGB. Denn der Antrag ist nicht auf die Wiedereinstellung des Kommentars, sondern auf die künftige Unterlassung einer nochmaligen Löschung gerichtet, was zwei unterschiedliche Fragen sind (dazu Senat, Beschl. v. 14.5.2021 sowie v. 2.7.2021 – 15 U 39/21, n.v.). Soweit sich die Verfügungsbeklagte weiter unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 29.7.2021 (III ZR 179/20, juris Rn. 102) darauf beruft, aus der Verletzung einer Vertragspflicht folge jedenfalls dann kein Unterlassungsanspruch, wenn die Vertragsverletzung aktuell nicht mehr andauere, vermag der Senat dem in dieser Allgemeinheit nicht beizutreten. Zum einen hat der Bundesgerichtshof die Voraussetzung einer andauernden Verletzung in der zitierten Entscheidung nicht absolut, sondern nur für den dort konkreten Einzelfall („…<em>jedenfalls in der vorliegenden besonderen Konstellation</em>…“) formuliert und die dazu in der zitierten Kommentarfundstelle angesprochene Streitfrage offen gelassen. Zum anderen ist es dem Betroffenen – wie auch im Deliktsrecht – nach der Linie des Senats in solchen Fällen gerade nicht zumutbar, in einem bestehenden Vertragsverhältnis quasi sehenden Auges die künftige Beeinträchtigung des Vertragszwecks in Kauf zu nehmen, ohne entsprechenden Rechtsschutz wahrnehmen zu können und später dann nur Regressforderungen geltend zu  machen (zuletzt Senat, Beschl. v. 15.8.2022 – 15 U 92/22, n.v.), die bei einer – wie vorliegend – kostenlosen Teilnahme an einem sozialen Netzwerk jedoch auch noch weitgehend leerlaufen würden. Insofern geht es vorliegend auch nicht um eine generelle vorbeugende Unterlassungsklage, die ein künftiges Verhalten der Beklagten „abstrakt“ regulieren soll (vgl. dazu OLG Köln, Beschl. v. 9.6.2022 – 15 W 30/22, n.v.). Vielmehr geht es lediglich um den begrenzten Anwendungsbereich einer konkreten Äußerung in einem konkreten Kontext, deren erneute Löschung durch die Verfügungsbeklagte für die Zukunft verhindert werden soll.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks"><strong>cc.</strong>              Die Wiederholungsgefahr als Voraussetzung auch für einen vertraglichen Unterlassungsanspruch (vgl. BGH, Urt. v. 27.1.2022 – III ZR 12/21, juris Rn. 61 m.w.N.; BGH, Urt. v. 29.7.2021 – III ZR 179/20, juris Rn. 103; BGH, Urt. v. 29.7.2021 – III ZR 192/20, juris Rn. 115) ist durch die von der Verfügungsbeklagten vorgenommene damalige Löschung bzw. die anschließende 30-tägige „Sperre“ des Verfügungsklägers indiziert und durch die nachfolgenden Geschehnisse nicht entfallen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsbeklagte hat zur Ausräumung der Wiederholungsgefahr keine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben. Sie hat zwar den Kommentar nach der Zustellung der einstweiligen Verfügung an sie in F wieder eingestellt und in ihren Schriftsätzen im Verfahren betont, dass sie inzwischen der Ansicht sei, der Kommentar verstoße doch nicht gegen ihre Nutzungsbedingungen bzw. Gemeinschaftsstandards. Dies kann einer strafbewehrten Unterlassungserklärung jedoch nicht gleichgestellt werden. Denn zum einen ist diese Erklärung nicht unmittelbar nach der vom Verfügungskläger außergerichtlich zweimal – im Rahmen des internen Beschwerdeverfahrens sowie im Rahmen der Abmahnung – angeforderten Überprüfung, sondern erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens erfolgt. Zum anderen war der Verfügungsbeklagten zu diesem Zeitpunkt bereits die Unterlassungsverfügung des Landgerichts vom 27.8.2021 zugestellt worden. Darüber hinaus hat die Verfügungsbeklagte zwar unmittelbar nach der Beschwerde des Verfügungsklägers am 20.8.2021 (17:08 Uhr) um 17:11 Uhr angekündigt, den Kommentar noch einmal zu prüfen. Diese Prüfung hat allerdings nur eine gute halbe Stunde gedauert, bis um 17:48 Uhr die Entscheidung getroffen wurde, dass der Beitrag tatsächlich gegen die Gemeinschaftsstandards verstoße (vgl. Bl. 172 d.A.). In der Folgezeit ist dann trotz Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens sowie Zustellung der landgerichtlichen Entscheidung vom 27.8.2021 keine weitere Reaktion der Verfügungsbeklagten gegenüber dem Verfügungskläger erfolgt. Erst drei Monate später im Rahmen ihres Widerspruchs hat die Verfügungsbeklagte erstmals die Ansicht vertreten, dass im konkreten Fall doch kein Verstoß gegen die Gemeinschaftsstandards gegeben sei, dabei in ihren Schriftsätzen aber weiterhin betont, sie sei auch künftig berechtigt, Beiträge vorübergehend zu entfernen, wenn ein Verstoß „<em>ernsthaft in Betracht</em>“ komme. Dass die Maßnahmen gegen den Verfügungskläger, was der Annahme einer Wiederholungsgefahr möglicherweise entgegenstehen könnte, durch eine einmalige „Sondersituation“ veranlasst worden waren (vgl. dazu BGH, Urt. v. 27.4.2021 – VI ZR 166/19 und insbesondere OLG Dresden, Beschl. v. 5.10.2021 – 4 U 1407/21, MMR 2022, 139 zur Korrektur einer durch den Algorithmus erfolgten Sperre), hat die Verfügungsbeklagte damit weder glaubhaft gemacht noch ist dies aus den Akten ersichtlich. Allein der gewisse Zeitablauf bis zur Entscheidung des Senats, in der der Beitrag offenbar unbeanstandet geblieben ist, trägt keine andere Sichtweise, zumal er nicht so lange ist wie der in der von der Verfügungsbeklagten vorgelegten landgerichtlichen Entscheidung mit ca. drei Jahren.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><strong>dd.</strong>               Dem Verfügungskläger steht daneben auch ein vertraglicher Unterlassungsanspruch hinsichtlich der 30-tägigen „Sperre“ zu, da auch diese Maßnahme der Verfügungsbeklagten eine Vertragsverletzung darstellte. Ein Verstoß des Verfügungsklägers gegen die Gemeinschaftsstandards, der Grundlage für eine solche Maßnahme hätte sein können, liegt schon nicht vor, so dass es auf die Wirksamkeit der Nutzungsbedingungen der Verfügungsbeklagten nicht ankommt. Die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr ist auch hier nicht entfallen. Zwar ist der Zeitraum der „Sperre“ von 30 Tagen inzwischen abgelaufen, jedoch wendet sich der Verfügungskläger mit seinem Antrag nicht gegen eine Aufhebung dieser konkreten „Sperre“ (mit der Folge einer möglicherweise eingetretenen faktischen Erledigung), sondern vielmehr im Wege des Unterlassungsanspruchs gegen eine etwaige künftige „Sperre“, die aufgrund des nunmehr wieder veröffentlichten streitgegenständlichen Kommentars nochmals ausgesprochen werden könnte. Die diesbezügliche Wiederholungsgefahr, die durch die einmal ausgesprochene vertragswidrige „Sperre“ indiziert ist, hat die Verfügungsbeklagte mangels Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auch hier nicht ausgeräumt.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>b.</strong>               Ein Verfügungsgrund für die Ansprüche des Verfügungsklägers ist ebenfalls gegeben. Regelmäßig besteht dieser in der objektiv begründeten Besorgnis, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung des Rechts des Gläubigers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Bei Unterlassungsansprüchen ergibt sich die „<em>Dringlichkeit</em>“ zwar nicht schon aus der materiell-rechtlichen Erstbegehungs- oder Wiederholungsgefahr, jedoch wird im Presse- und Äußerungsrechts ein Verfügungsgrund regelmäßig bejaht, wenn keine Selbstwiderlegung der Dringlichkeit von Seiten des Betroffenen gegeben ist. Auch wenn es sich bei der vorliegenden Konstellation – der Teilhabe an einem sozialen Netzwerk – nicht um das klassische Presse- und Äußerungsrecht handelt, für das die oben genannten Grundsätze entwickelt wurden, sind diese nach Ansicht des Senat hier vorsichtig übertragbar, da die Plattform der Verfügungsbeklagten in erster Linie dem Meinungsaustausch dient.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Eine Leistungsverfügung, die grundsätzlich nur bei – hier nicht vorliegender – Not- oder Zwangslage in Betracht kommt, in welcher der Gläubiger darlegen und glaubhaft machen kann, auf die Erfüllung dringend angewiesen zu sein, liegt hier schon deshalb nicht vor, weil es nicht darum geht, dem Verfügungskläger im gerichtlichen Verfahren eine zusätzliche Leistungsposition zu verschaffen, sondern lediglich die Verfügungsbeklagte es (vorläufig) zu unterlassen hat, ihn an der Ausübung seiner bereits durch den Nutzungsvertrag eingeräumten Rechte durch erneute „Sperrung“ und erneute Löschung auf Basis des streitgegenständlichen Kommentars zu hindern.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Senat verkennt dabei nicht, dass andere Oberlandesgerichte und auch die von der Verfügungsbeklagten zitierten Stimmen in der Literatur bisweilen etwas strengere Anforderungen an den Erlass einstweiliger Verfügungen in vergleichbaren Fällen zu stellen scheinen. Mit Blick auf die besondere Interessenlage in sog. sozialen Netzwerken, bei denen der Betroffene mit seinen individuellen Kontakten und Vernetzungen regelmäßig keine (zumutbare) Möglichkeit hat, kurzfristig auf andere Anbieter auszuweichen, und mit Blick auf den Umstand, dass Auslandszustellungen an die Verfügungsbeklagte die Gewährung von Eil-Rechtsschutz noch innerhalb des aktuell laufenden Nutzungsentzugs oft fast unmöglich machen (zur fehlenden Anwendbarkeit des § 5 NetzDG zuletzt Senat, Beschl. v. 14.2.2022 – 15 W 3/22, zur Veröffentlichung bestimmt, anhängig beim BGH unter I ZB 10/22), ist aus Sicht des Senats jedenfalls die Titulierung (nur) von Unterlassungsansprüchen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durchaus gerechtfertigt.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks"><strong>4.</strong>              Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Wegen § 542 Abs. 2 ZPO bedarf es hier keiner Entscheidung über eine im Eilrechtsschutz unmögliche Revisionszulassung.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><strong>Berufungsstreitwert:               3.000 Euro</strong> (1.500 Euro für Unterlassung der erneuten Löschung, 1.500 Euro für Unterlassung einer erneuten Sperre )</p>
346,933
olgsh-2022-09-29-11-u-15821
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11 U 158/21
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-15T10:00:25"
"2022-10-17T11:11:06"
Urteil
ECLI:DE:OLGSH:2022:0929.11U158.21.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck vom 05.11.2021 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweiligen Vollstreckungsbetrages leistet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Der Wert des Berufungsverfahrens wird auf bis 6.000,00 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche wegen einer Mitteilung des beklagten Kreises an Betreuungsgerichte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Klägerin arbeitet als Berufsbetreuerin. Sie wurde regelmäßig von Betreuungsgerichten als gesetzliche Betreuerin bestellt. Im Februar 2020 kam es zu einem persönlichen Gespräch der Klägerin mit Mitarbeitern des Beklagten, das im Streit endete. Am 20.02.2020 schrieb der Beklagte an die Betreuungsgerichte mehrerer Amtsgerichte, dass ihm Tatsachen bekannt seien, die Anlass zu begründeten Zweifeln an der Eignung der Klägerin als Betreuerin gäben. Aufgrund der Vielzahl der zu beanstandenden Betreuungsverfahren werde die Klägerin aus Sicht der Betreuungsstelle des Beklagten generell als ungeeignet zum Führen von Betreuungen eingeschätzt und nicht mehr als Betreuerin vorgeschlagen. In dem Schreiben sind 9 Betreuungsverfahren aufgeführt, bei denen es zu Beanstandungen an der Führung der Betreuung gekommen sein sollte. Die Klägerin erhielt eine Ausfertigung des Schreibens zur Kenntnisnahme.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Gegen die Entlassung als Betreuerin in zwei der beanstandeten Betreuungsverfahren wehrte sich die Klägerin erfolgreich mit der Beschwerde. Das Landgericht Lübeck hob die Entlassungsbeschlüsse auf (Az. 7 T 49/21 und 7 T 533/19), eine Rechtsbeschwerde des Beklagten hatte keinen Erfolg (BGH, Beschluss vom 15.09.2021, XII ZB 317/21).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die Klägerin ist der Auffassung, die Mitteilung des Kreises sei rechtswidrig, und behauptet, sie werde von den Betreuungsgerichten nun nicht mehr als Betreuerin bestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Sie hat zunächst vor dem Verwaltungsgericht Klage auf Unterlassung und Widerruf sowie auf Feststellung der Schadensersatzpflicht erhoben, Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Aktenzeichen 6 A 222/20. Hinsichtlich des Antrags auf Feststellung einer Ersatzpflicht für eventuelle Schäden hat das Verwaltungsgericht den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das zuständige Landgericht Lübeck verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Das Landgericht hat antragsgemäß festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den finanziellen Schaden, der auf das Schreiben vom 20.02.2020 zurückzuführen ist, zu erstatten. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Beklagte amtspflichtwidrig gehandelt habe, indem er rechtswidrig in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Klägerin eingegriffen habe. Die Rechtswidrigkeit des Eingriffs ergebe sich schon aus dem eigenen Vorbringen des Beklagten. Die Betreuungsstelle habe sich eine Art Aufsicht über die Klägerin angemaßt. Diese Aufsicht sei grundsätzlich Aufgabe der Betreuungsgerichte selbst. Selbst wenn es sich nicht um unwahre Tatsachenbehauptungen gehandelt habe, habe es sich doch um unabgeschlossene Vorgänge gehandelt, die einer rechtlichen Bewertung jedenfalls so lange nicht hätten unterworfen sein dürfen, wie die Klägerin nicht Gelegenheit gehabt habe, dazu Stellung zu nehmen und weitere Unterlagen beizubringen. Dies zeige sich deutlich aus den Kammerbeschlüssen des Landgerichts Lübeck, mit denen auf die Beschwerde der Klägerin die Entlassungen aufgehoben worden seien. Der Klägerin sei nicht ausreichend Gelegenheit gegeben worden, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Dazu habe ein rein mündliches Gespräch nicht ausgereicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Der beklagte Kreis wendet sich gegen das Urteil mit der Berufung. Er ist der Auffassung, dass mit § 7 BtBG eine spezielle Rechtsgrundlage für Mitteilungen der Behörden an die Betreuungsgerichte normiert sei. Danach habe die Behörde ein Mitteilungsrecht. Er werde ein Ermessensspielraum eröffnet. Gewollt sei, dass die Betreuungsbehörde eine starke, eigenverantwortliche Tätigkeit als gleichberechtigter Akteur in der Betreuungslandschaft ausübe. Deshalb bestehe bei möglichen Pflichtverletzungen des Betreuers ein Mitteilungsrecht. Der am 01.01.2023 in Kraft tretende § 9 Abs. 2 BtOG zeige, welchen hohen Stellenwert der Gesetzgeber der Betreuungsbehörde bei der Mitteilung von etwaigen Pflichtverletzungen für ein funktionierendes Betreuungssystem beimesse.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Der Beklagte habe auch nicht gegen die Rechtsgrundlage gehandelt. Mit dem Schreiben seien Umstände im Sinne von § 7 BtBG mitgeteilt worden und zwar ausnahmslos wahre Tatsachen. Bei sämtlichen in dem Schreiben aufgeführten möglichen Pflichtverletzungen habe es sich um Verfügungen gehandelt, die über Vermögensbestandteile der Betreuten getroffen worden seien und im Falle ihrer Pflichtwidrigkeit einen nicht unerheblichen Vermögensschaden zur Folge hätten. Aus der Vielzahl möglicher Pflichtverletzungen habe auf eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für bereits eingetretene und zukünftige Vermögensschäden geschlossen werden dürfen. Die angestrebte gerichtliche Überprüfung sei geeignet gewesen, diese Gefahr abzuwenden, beispielsweise durch eine Entlassung der Klägerin als Betreuerin. Diese Rolle sei der Betreuungsbehörde gesetzlich zum Schutz der Betroffenen zugewiesen. Sie könne im Einzelfall gerade nicht selbst die Vorwürfe überprüfen, könne aber das Gericht um eine Überprüfung ersuchen. In diesem Rahmen sei der Beklagte befugt gewesen, eine eigene rechtliche Beurteilung vorzunehmen und bestimmte Maßnahmen anzuregen. Dass das in dem Schreiben beanstandete Verhalten in zwei Fällen zur Entlassung der Klägerin durch das Betreuungsgericht geführt habe, belege, selbst wenn sich dies in der Rechtsmittelinstanz als Rechtsverletzung erwiesen habe, dass die rechtliche Bewertung nicht unvertretbar gewesen sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Eine Pflicht zur Anhörung der Klägerin durch die Betreuungsbehörde habe nicht bestanden. Diese Pflicht ergebe sich gerade nicht aus § 7 Abs. 1 BtBG und auch nicht aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht. Eine Mitteilung nach dieser Norm sei kein Verwaltungsakt. Die Gewährung rechtlichen Gehörs werde durch das betreuungsgerichtliche Verfahren sichergestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Der Schutz des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb erfasse keine bloßen Erwerbsaussichten. Berufsbetreuer hätten keinen Anspruch darauf, von der Betreuungsbehörde vorgeschlagen oder vom Betreuungsgericht bestellt zu werden. Durch die Ausübung der alleinigen Entscheidungskompetenz des Betreuungsgerichts sei der Ursachenzusammenhang zwischen dem Schreiben und den behaupteten Rechtsgutverletzungen unterbrochen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Der Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">unter Abänderung des Urteils des Landgerichts die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die Klägerin beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">die Berufung zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Die Klägerin verteidigt das Urteil. Sie behauptet, Mitarbeiterinnen des Beklagten seien bestrebt, ihre wirtschaftliche Situation zu zerstören. Es sei zwar das Recht des Beklagten, auf objektiv bestehende Eignungsmängel hinzuweisen. Derartige Umstände hätten aber objektiv nicht vorgelegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Aufgrund der inzwischen getroffenen rechtskräftigen gerichtlichen Feststellungen seien die Vorwürfe des Beklagten falsch. Es stehe rechtskräftig fest, dass eine erhebliche Gefahr für das Wohl der Betroffenen nicht bestanden habe. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 7 BtBG hätten deshalb nicht vorgelegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Pflicht des Beklagten zu einer ordnungsgemäßen Aufklärung des Sachverhalts setze eine Anhörung der Betroffenen zwingend voraus. Eine solche Aufklärung des Sachverhalts sei aber nicht erfolgt. Wegen der Vielzahl von Einzelvorwürfen, die lange zurücklägen und Detailfragen beträfen, habe der Klägerin eine Stellungnahmefrist eingeräumt werden müssen. Die Anhörung sei zwingend schriftlich zu dokumentieren gewesen. Da es an der Dokumentation fehle, treffe die Behörde die Beweislast, dass der Rechtsverstoß nicht für den Schaden ursächlich geworden sei. Bei pflichtgemäßem Handeln hätte die Behörde erkannt, dass die der Klägerin vorgeworfenen Pflichtverletzungen nur leicht gewesen seien und nichts mit ihrer Ungeeignetheit als Betreuerin zu tun gehabt hätten. Der Beklagte habe das Gegenteil deshalb auch nicht den Gerichten gegenüber erklären dürfen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Maßgebend für den Beklagten seien allein personenbezogene Gründe und die Absicht einer Schädigung der Klägerin gewesen. Da sie - die Klägerin - ausschließlich als Betreuerin tätig sei, sei die Grundlage ihrer beruflichen Tätigkeit betroffen. Es liege ein unmittelbarer Eingriff vor. Da der Klägerin bis zu dem Schreiben der Beklagten seitens der Betreuungsgerichte in großem Umfang seit vielen Jahren Betreuungen zugewiesen worden seien und jetzt nicht mehr, liege der Ursachenzusammenhang zwischen dem Schreiben und dem Schaden auf der Hand. Kein Betreuungsrichter werde ein Risiko eingehen und die Klägerin zur Betreuerin bestellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Der Senat hat die Akten Verwaltungsgericht Schleswig 6 A 222/20 beigezogen. Dort ist noch keine Entscheidung ergangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die Berufung des Beklagten hat Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG wegen des Schreibens vom 20.02.202. Der Beklagte hat keine gegenüber der Klägerin bestehenden Amtspflichten verletzt, die zu einem Schaden der Klägerin geführt haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Die Übersendung des Schreibens war nicht amtspflichtwidrig. Der Beklagte durfte das Schreiben übermitteln, ohne gegen die Klägerin schützende Datenschutzregelungen zu verstoßen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Nach Art. 5 Abs. 1 b DSGVO müssen personenbezogene Daten für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden. Weiterverarbeitung bedeutet dabei nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO auch die Übermittlung von Daten. Bei den Daten hinsichtlich der von der Klägerin geführten Betreuungen handelt es sich um personenbezogene Daten auch der Klägerin. Denn dies sind Informationen, die sich auf sie als identifizierte Person beziehen. Es gibt indessen festgelegte Zwecke, die die Übermittlung der Daten erlauben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Grundlage der Übermittlung ist § 7 Abs. 1 BtBG. Nach dieser Vorschrift kann die Behörde dem Betreuungsgericht Umstände mitteilen, die eine Maßnahme in Betreuungssachen erforderlich machen, soweit dies unter Beachtung berechtigter Interessen des Betroffenen nach den Erkenntnissen der Behörde erforderlich ist, um eine erhebliche Gefahr für das Wohl des Betroffenen abzuwenden. Unter Maßnahmen sollen dabei vor allem Maßnahmen zur Verhinderung von schwerwiegenden Nachteilen für den Betroffenen zu verstehen sein. Dabei kommen Maßnahmen gegen den bestellten Betreuer bei Pflichtverletzung in Betracht. Die Befugnis zur Mitteilung an das Gericht deckt auch Mitteilungen der Behörde ab, wenn sie erhebliche Zweifel an der Eignung eines Betreuers hat, diese Zweifel aus einem oder mehreren Einzelfällen begründet, wenn im Übrigen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 BtBG erfüllt sind (vgl. Kania in Jurguleit, Betreuungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 7 BtBG , Rn. 7).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 BtBG lagen vor, die Rechtsfolge (Mitteilung) war ebenfalls von der Vorschrift gedeckt. Auf der Tatbestandsebene hat die Behörde zu prüfen, ob die Maßnahme nach ihren Erkenntnissen erforderlich ist, um eine Gefahr für das Wohl der Betroffenen abzuwenden. § 7 Abs.1 BtBG eröffnet der Behörde dann Ermessen, sie kann Umstände mitteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Dem Beklagten waren Tatsachen aus Betreuungsverfahren bekannt, die Zweifel an der Eignung der Klägerin als Betreuerin und erhebliche Gefahren für das Wohl von Betreuten begründen konnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Nach Auffassung der Klägerin und auch nach Auffassung des Landgerichts in den jeweiligen Beschwerdeverfahren rechtfertigten die im Schreiben vom 20.02.2020 genannten Umstände zwar nicht die Entlassung der Klägerin als Betreuerin, eine erhebliche Gefahr für das Wohl von Betroffenen, lag nach ihrer Ansicht nicht vor. Diese Prognose zugunsten der Klägerin hat der BGH in dem Rechtsbeschwerdeverfahren XII ZB 317/21 auch nicht als rechtsfehlerhaft beanstandet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>An der Vertretbarkeit der Prognoseentscheidung des Beklagten ändern die Beschlüsse in den die Klägerin betreffenden Beschwerdeverfahren indessen nichts. Diese entlasten die Klägerin nicht, sie bewerten sie nur abweichend. Verfehlungen der Klägerin werden darin lediglich als nicht besonders schwer angesehen, weil es im Ergebnis dadurch zu keinem Schaden für Betroffene gekommen sei, sie zuvor stets Berichte, wenn auch teilweise nach mehrfacher Erinnerung, ordnungsgemäß eingereicht habe und keiner der Vorwürfe zu strafrechtlichen Ermittlungen geführt habe. Auch lasse die Anzahl der dargestellten Unregelmäßigkeiten in insgesamt 9 Betreuungsverfahren angesichts der von der Klägerin bislang geführten mehr als 150 Betreuungen als solche keinen Schluss auf die mangelnde Eignung zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Gleichwohl war die Auslegung des § 7 BtBG durch den Beklagten, nämlich dass die Umstände eine Mitteilung rechtfertigten, vertretbar. Die Klägerin bestreitet selbst nicht, dass im Schreiben vom 20.02.2020 genannten Vorkommnisse aus 9 Betreuungsverfahren wahr gewesen sind. Sie beruft sich im wesentlichen darauf, dass diese Umstände anders zu werten seien, nicht in ihre Zuständigkeit fielen oder dass andere entlastende Umstände hinzugetreten seien, die eine andere Bewertung rechtfertigen. Das ändert allerdings nichts daran, dass die zugrundeliegenden Tatsachen selbst nicht falsch sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Der Beklagte durfte diese Umstände vertretbar als so schwerwiegend werten, dass sie Anlass zu der Annahme geben konnten, die Klägerin sei zur Führung der Betreuungen ungeeignet. Aus dem Schreiben vom 20.02.2020 ergibt sich, dass in einer größeren Zahl von Betreuungen Abrechnung nicht erstellt worden sind, Buchungen nicht belegt und Forderungen nicht beglichen wurden. Aus Sicht der Behörde konnte sich daraus die Gefahr ergeben, dass die Betreuten Vermögensschäden erleiden würden. Da die Klägerin - wie sie selbst betont - in einer Vielzahl von Betreuungsverfahren als Betreuerin bestellt war und voraussichtlich weiter bestellt würde, bestand eine erhebliche Gefahr für das Wohl vieler Betroffener.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Es war dem Beklagten auch nicht verwehrt, Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Verfahren zu verwerten und den Betreuungsgerichten mitzuteilen. Denn bei der Eignungsprognose sind auch Umstände zu berücksichtigen, die sich nicht aus dem konkreten Betreuungsverfahren ergeben, sondern auch aus Vorgängen im Zusammenhang mit anderen Betreuungen (vgl. BGH, XII ZB 317/21 Beschluss vom 15.09.2021, Rn. 15). Grundlage der Prognoseentscheidung hat eine Abwägung und Wertung möglichst umfangreicher Erkenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart zu sein (vgl. Reh, FamRZ 2022, 53-56).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.3.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Ermessensfehler des Beklagten bei der Entscheidung, ob die Daten übermittelt werden, sind nicht ersichtlich. Der Beklagte hat die gesetzlichen Zielvorstellungen (erheblichen Schaden von Betroffenen abzuwenden) beachtet und die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Gesichtspunkte in die Erwägungen einbezogen. Dass sich der Beklagte ermessensfehlerhaft wegen einer persönlichen Feindschaft eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen, vermutet die Klägerin zwar. Gründe hierfür nennt sie aber nicht und bietet hierfür auch keinen Beweis an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>In die Abwägung einstellen durfte der Beklagte, dass das Unterlassen von Mitteilungen zu erheblichen Vermögensschäden bei Betreuten und gegebenenfalls Schadensersatzansprüchen gegenüber den Betreuungsbehörden und dem Land führen konnte. Das Interesse, Betreute vor Vermögensschäden zu schützen, überwiegt auch das berechtigte Interesse der Klägerin, ihrem Beruf als Betreuerin nachzugehen. Dies gilt auch deshalb, weil eine abschließende Bewertung und Klärung der Vorwürfe den gerichtlichen Betreuungsverfahren vorbehalten war, die Klägerin unmittelbar durch die Mitteilung keine Betreuungen verlor. Vor diesem Hintergrund war die Mitteilung verhältnismäßig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Die Klägerin kann ihren Schadensersatzanspruch auch nicht mit Erfolg darauf stützen, dass der Beklagte sie amtspflichtwidrig vor dem Versand des Schreibens vom 20.02.2020 nicht angehört hat. Dabei kann unterstellt werden, dass die Anhörung zu den einzelnen Vorwürfen unterblieben ist. Das Unterlassen ist jedenfalls nicht ursächlich für den Schaden geworden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Für eine Anhörungspflicht spricht einiges. Nach § 87 LVwG SH sind vor Erlass belastender Verwaltungsakte Beteiligte anzuhören. Der Beklagte hat zwar nicht durch Verwaltungsakt gehandelt. Die Rechtspflicht zur Anhörung gilt indessen auch für andere Einzelmaßnahmen mit unmittelbarer Außenwirkung. Insoweit ist § 28 VwVfG (gleichlautend: § 87 LVwG SH) als Ausdruck rechtsstaatlichen Verfahrens und zugleich eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes jedenfalls dann entsprechend anwendbar, wenn eine dem Verwaltungsakt entsprechende Entscheidungssituation besteht, die beabsichtigte Maßnahme wie ein Verwaltungsakt unmittelbar in Grundrechtspositionen eines Rechtssubjekts einzugreifen droht und vergleichbare Wirkungen hätte, sofern spezielle Rechtsvorschriften fehlen. Liegen diese Voraussetzungen einer entsprechenden Anwendung des § 28 VwVfG nicht vor, kann ein Anspruch auf Verfahrensteilhabe auch unmittelbar aus Verfassungsrecht bestehen, etwa bei staatlichem Informationshandeln (Stelkens/Bonk/Sachs/Kallerhoff/Mayen, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 28 Rn. 25).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Gegen das Erfordernis der Anhörung ließe sich zwar argumentieren, dass der erst am 01.01.2023 in Kraft tretende § 9 Abs. 2 BtOG ausdrücklich keine Anhörung, wohl aber eine gleichzeitige Unterrichtung des Betreuers von einer Information der Behörde an das Gericht anordnet. Dies spricht dafür, dass jedenfalls nach neuem Recht eine vorherige Anhörung nicht geboten ist, da es sonst nahe gelegen hätte, diese mit der - neu kodifizierten - Informationspflicht in die Vorschrift aufzunehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Da das Schreiben des Beklagten unmittelbare Außenwirkung hatte und für die Klägerin auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben konnte, spricht indessen alles dafür, dass jedenfalls nach dem Rechtsstand 2020 eine Anhörung geboten war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>Es steht aber nicht fest, dass das Unterlassen der Anhörung den klägerischen Schaden verursacht hat. Hat die Behörde eine Ermessensentscheidung zu treffen, ist die Kausalität einer Amtspflichtverletzung für einen Schaden nur dann gegeben, wenn feststeht, dass die Behörde bei fehlerfreier Ausübung des Ermessens zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre (vgl. Itzel/Schwall Praxishandbuch des Amts-, Staatshaftungs- und Entschädigungsrechts, 3. Auflage Rn. 163; BGH, III ZR 37/81 und III ZR 198/84). Es liegt nahe, dass der Beklagte auch bei detaillierter Anhörung der Klägerin die Umstände als so schwerwiegend bewertet hätte, dass er darüber die Gerichte informieren durfte. Aus den oben genannten Gründen war die Rechtsauffassung des Beklagten, dass die Voraussetzungen des § 7 BtBG vorlagen, zumindest vertretbar.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Dass auch nach einer weiter gehenden Anhörung eine inhaltsgleiche Entscheidung ergangen wäre, ergibt sich zudem daraus, dass der Beklagte im Beschwerdeverfahren 7 T 49/21 und Rechtsbeschwerdeverfahren XII ZB 317/21 den Standpunkt vertreten hat, die Klägerin sei ungeeignet im Sinne des § 1897 Abs. 1 BGB. Im Verlauf dieser Verfahren ist die Klägerin umfassend angehört worden, der Beklagte ist gleichwohl bei seinem vertretbaren Rechtsstandpunkt geblieben. Es gibt deshalb keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte im Verwaltungsverfahren von diesem Rechtsstandpunkt abgewichen wäre.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Für die von der Klägerin angeführte Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität ist unter diesen Umständen kein Raum.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>3.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Anders als das Landgericht gemeint hat, kann der Amtshaftungsanspruch auch nicht darauf gestützt werden, dass die Mitteilung das Recht der Klägerin am Gewerbebetrieb verletze. Wie oben ausgeführt, war die Mitteilung nicht widerrechtlich, sondern durch eine gesetzliche Grundlage, nämlich § 7 BtBG gedeckt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>4.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Vollstreckbarkeitsentscheidung beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Hinsichtlich des Wertes hat sich der Senat an der von den Parteien nicht beanstandeten erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung orientiert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>5.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>Die nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsätze beider Parteien boten keinen Anlass, wieder in die mündliche Verhandlung einzutreten. Die Frage der Ursächlichkeit eines möglichen Fehlers bei der Anhörung für den der Klägerin entstandenen Schaden ist zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Die hierauf von der Klägerin vorgebrachten Argumente ändern aus den unter Nr. 2 genannten Gründen nichts daran, dass der Senat die Ursächlichkeit nicht feststellen kann.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,916
vg-dusseldorf-2022-09-29-24-l-181822
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24 L 1818/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:29"
"2022-10-17T11:11:04"
Beschluss
ECLI:DE:VGD:2022:0929.24L1818.22.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Die aufschiebende Wirkung der Klage 24 K 6000/22 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 00. Juli 2022 (Ziffer 1. und 2.) wird angeordnet.</strong></p> <p><strong>Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.</strong></p> <p><strong>Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">A. Die Einzelrichterin ist zuständig, nachdem ihr die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen hat, § 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">B. Der am 00. August 2022 sinngemäß gestellte und mit Schriftsatz vom 00. September 2022 konkretisierte Antrag,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>die aufschiebende Wirkung der Klage 24 K 6000/22 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 00. Juli 2022 (Ziffer 1. und 2.) anzuordnen,</strong></p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">hat Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am selben Tag erhobenen Klage (24 K 6000/22) gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO statthaft. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes entfällt. Dies ist hier der Fall, da die Klage der Antragstellerin hinsichtlich Ziffer 1 des Bescheides vom 00. Juli 2022 gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 20a Abs. 5 Satz 4 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Ziffer 2 des Bescheides entfällt die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 Gesetz über die Justiz im Land Nordrhein-Westfalen (Justizgesetz Nordrhein-Westfalen – JustG NRW).</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist auch begründet. Das Gericht macht von der ihm durch § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eingeräumten Befugnis, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt anzuordnen, Gebrauch, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das private Interesse des Betroffenen, von Vollziehungsmaßnahmen (vorerst) verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Durchsetzung der getroffenen Maßnahme überwiegt. Bei der Interessenabwägung spielt neben der gesetzgeberischen Grundentscheidung die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des zu vollziehenden Verwaltungsakts eine wesentliche Rolle. Ergibt diese – im Rahmen des Eilrechtsschutzes allein mögliche und gebotene summarische – Prüfung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, da an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts grundsätzlich kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich der Verwaltungsakt hingegen als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt nach der gesetzgeberischen Wertung das behördliche Vollzugsinteresse. Erscheinen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen, ist die Entscheidung auf der Grundlage einer umfassenden Folgenabwägung vorzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe fällt die Interessenabwägung vorliegend zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 00. Juli 2022 ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">I. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage hinsichtlich des angeordneten Tätigkeitsverbots ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Denn es handelt sich um einen Dauerverwaltungsakt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 2022 – 29 L 1703/22 – juris, Rn. 8; VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 20. Juli 2022 – 5 L 585/22.NW –, juris, Rn. 20; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, 6. Aufl. 2022, IfSG § 20a Rn. 118.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage des in Ziffer 1 des Bescheides angeordneten Tätigkeitsverbotes ist § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG. Nach dieser Vorschrift kann das Gesundheitsamt unter anderem einer Person, die trotz einer Anforderung nach § 20a Abs. 5 Satz 1 IfSG keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung oder eines dort genannten Unternehmens dienenden Räume betritt oder in einer solchen Einrichtung oder einem solchen Unternehmen tätig wird. § 20a Abs. 5 Satz 1 IfSG sieht wiederum vor, dass die in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Personen dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung oder das jeweilige Unternehmen befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG vorzulegen haben. Gemäß § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG müssen Personen, die in den in § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 IfSG im Einzelnen genannten Einrichtungen oder Unternehmen des Pflege- und Gesundheitssektors tätig sind, ab dem 15. März 2022 über einen Impf- und Genesenennachweis im Sinne des § 22a Abs. 1 oder Abs. 2 IfSG verfügen, es sei denn sie können aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden (vgl. § 20a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 4 IfSG).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Einzelrichterin hat keine erheblichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsgrundlage. Eine Verfassungswidrigkeit der dargestellten Vorschriften, insbesondere des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG, ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht festzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich im April mit der Verfassungsmäßigkeit der in Rede stehenden Regelungen befasst und diese bejaht.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Vorschrift des § 20a IfSG ist auch bis zum Zeitpunkt dieser gerichtlichen Entscheidung nicht durch die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens offenkundig in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. jüngst OVG NRW, Beschluss vom 19. September 2022 – 13 B 859/22 –, juris, Rn. 5 ff.; ausführlich bereits VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 2022 – 29 L 1703/22 – juris, Rn. 25 ff.; VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 20. Juli 2022 – 5 L 585/22.NW –, juris Rn. 23 ff.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Datenlage nach wie vor lückenhaft ist und jedenfalls die Impfstoffe, welche bislang zur Verfügung standen, eine Infektion mit dem Virus – insbesondere in den Omikron-Varianten – sowie auch dessen Weitergabe nicht ausschließen. Nach den Ausführungen des Robert Koch-Instituts, der nationalen Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG), auf seiner Internetseite stellt sich die Erkenntnislage – zusammengefasst – so dar, dass die Transmission, das heißt die Virusübertragung, unter Omikron bei Geimpften weiterhin reduziert zu sein scheint, wobei das Ausmaß der Reduktion nicht vollständig geklärt sei. Haushaltsstudien aus Norwegen und Dänemark zeigten, dass eine Impfung auch unter vorherrschender Zirkulation der Omikron-Variante die Übertragbarkeit um ca. 6 bis 21 % nach Grundimmunisierung und nach Auffrischimpfung um weitere 5 bis 20 % reduziere.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. RKI, Wie wirksam sind die Covid-19-Impfstoffe?, Stand: 18. August 2022, abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html, zuletzt abgerufen am 22. September 2022; vgl. auch BzgA, Informationen  zur Corona-Schutzimpfung, abrufbar unter https://www.infektionsschutz.de/download/5798-1657894061-BZgA_Merkblatt_Pflege.pdf/, zuletzt abgerufen am 22. September 2022; RKI, Epidemiologisches Bulletin, STIKO: 20. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung, S. 5 und 39, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2022/Ausgaben/21_22.pdf?__blob=publicationFile.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Bestehen danach weiterhin Anhaltspunkte für eine nicht nur unwesentliche Reduzierung des Transmissionsrisikos, werden die bisherigen Annahmen des Gesetzgebers zu einer relevanten Schutzwirkung der Impfung gegenüber vulnerablen Personen nicht durchgreifend erschüttert.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. September 2022 – 13 B 859/22 –, juris, Rn. 22.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich in zwei Beschlüssen vom 7. Juli 2022 (Az. 1 WB 2.22 und 1 WB 5.22), die Beschwerden von zwei Luftwaffenoffizieren gegen die Verpflichtung, die Covid-19-Impfung zu dulden, betrafen, nach einer von ihm durchgeführten umfangreichen Sachverständigenanhörung der Bewertung des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen, dass die Impfung gegenüber der nunmehr vorherrschenden Omikron-Variante nach wie vor eine noch relevante Schutzwirkung im Sinne einer Verringerung der Infektion und Transmission habe.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Das von der Antragsgegnerin angeordnete Verbot „für die T.            tätig zu werden“ lässt sich indessen aus mehreren – selbstständig tragenden – Gründen nicht auf § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG stützen. Die angeordnete Rechtsfolge überschreitet die im Rahmen der in der Ermächtigungsgrundlage vorgesehenen Möglichkeiten (1.). Die Antragsgegnerin überschreitet zudem das ihr zustehende Ermessen, wenn sie ein Tätigkeitsverbot für die T.            als Einrichtung gemäß § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG aufrecht erhält, aber die Tatbestandsvoraussetzungen in Bezug auf diese Einrichtung nicht mehr für gegeben hält (2.).</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">1. Das angeordnete Verbot geht in seinen Rechtsfolgen über die von der Ermächtigungsgrundlage vorgesehenen Möglichkeiten hinaus. Diese beinhaltet als mögliche Folgen, zu untersagen, dass die betroffene Person die dem Betrieb einer in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung oder eines dort genannten Unternehmens dienenden Räume betritt oder „in“ einer solchen Einrichtung oder einem solchen Unternehmen tätig wird. Diese Beschränkung eines Tätigkeitsverbots auf die in Rede stehende Einrichtung wird dem Schutzzweck, die in der Einrichtung aufhältigen vulnerablen Personen zu schützen,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris, Rn 154,</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">vollständig gerecht. Den von einem Betretens- oder Tätigkeitsverbot betroffenen Personen wird indessen die Möglichkeit belassen, in anderen Räumlichkeiten, insbesondere im Homeoffice tätig zu werden, wo keine Gefahr der Transmission des Virus an vulnerable Personen im Falle einer Infektion besteht. Sie sind dann nicht „in“ der Einrichtung im Sinne des § 20a IfSG tätig.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris, Rn 214 im Zusammenhang mit § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG, OVG NRW, Beschluss vom 19. September 2022 – 13 B 859/22 –, juris, Rn. 75.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wird allerdings angeordnet, „für“ ein bestimmtes Unternehmen oder eine bestimmte Einrichtung tätig zu werden, so umfasst ein solches Verbot jegliche Tätigkeiten im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses bei dem Unternehmen und damit insbesondere auch Tätigkeiten außerhalb der betroffenen Einrichtung, etwa im Homeoffice.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">2. Das Tätigkeitsverbot für die T.            ist zudem ermessensfehlerhaft ergangen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG legt der § 20a IfSG zugrundeliegende Regelungszweck, vulnerable Personen zu schützen, sowohl die Anforderung des Nachweises als auch – bei dessen nicht rechtzeitiger Vorlage – den Erlass einer Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG in der Regel nahe. Vorbehaltlich besonders gelagerter Einzelfälle dürfe daher für das Gesundheitsamt letztlich kein relevanter Spielraum bestehen.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris, Rn. 85; in diesem Sinne auch Kießling, Infektionsschutzgesetz, 3. Aufl. 2022, IfSG § 20a Rn. 83.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">In den Blick zu nehmen ist aber auch, dass der Gesetzgeber für bereits zum 15. März 2022 in einer von § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Einrichtung tätige Personen – wie die Antragstellerin – kein sich unmittelbar kraft Gesetzes ergebendes Betretungs- oder Tätigkeitsverbot geregelt, sondern dessen Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG gerade von einer ermessensgeleiteten Einzelfallentscheidung des Gesundheitsamts abhängig gemacht hat. Die zuständige Behörde muss das ihr eingeräumte Ermessen (rechtmäßig) ausüben und darf dessen Grenzen nicht über- oder unterschreiten. Darüber hinaus muss sich das Gesundheitsamt des Eingriffs seiner Maßnahmen in die Grundrechte der betroffenen Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 GG bewusst sein.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris Rn. 147, 215.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Ermessenserwägungen können auch während des Verfahrens nachgeschoben werden (vgl. § 114 Satz 2 VwGO). Handelt es sich – wie hier – um einen Dauerverwaltungsakt, kann selbst der Austausch wesentlicher Ermessenserwägungen zulässig sein, soweit die Begründung des Verbots (nur) für die Zukunft geändert wird. Könnte die Behörde den gegenständlichen Verwaltungsakt mit neuer Begründung neu erlassen, kann sie ihn auch mit geänderter Begründung für die Zukunft aufrechterhalten. Da für die rechtliche Beurteilung von Dauerverwaltungsakten grundsätzlich die jeweils aktuelle Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, muss das Prozessverhalten des Betroffenen sich auf zukunftsbezogene Veränderungen einstellen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 8 C 46.12 –, juris, Rn. 33; BayVGH, Beschluss vom 25. August 2016 – 9 ZB 13.1993 –, juris, Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die behördliche Entscheidung wird den dargestellten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht gerecht. Insoweit ist zwar nicht schon als solches zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin, die ursprünglich den Bescheid im Wesentlichen mit der Begründung erließ, die Antragstellerin komme als medizinisch-technische Assistentin in der Klinik mit vulnerablen Patienten in Kontakt, von diesem Sachverhalt nicht mehr ausgeht und ihre Erwägungen ausgetauscht hat.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin hat jedoch auch unter Berücksichtigung der nachgeschobenen Erwägungen die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten. Denn nach ihrer Auffassung fällt die Antragstellerin nicht mehr unter den Tatbestand des § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a IfSG (Tätigkeit in einem Krankenhaus). Ist das der Fall, darf sie keine darauf bezogene Rechtsfolge anordnen bzw. aufrecht erhalten. Dies gilt auch, soweit sie annimmt, die Antragstellerin übe eine Tätigkeit gemäß § 20a Abs. 1 Nr. 1h IfSG (Tätigkeit in Arztpraxen, Zahnarztpraxen) aus. Denn die Erfüllung des Tatbestands der Nr. 1h würde sie lediglich dazu ermächtigen, für jene Einrichtung (also die betroffene Arztpraxis oder Zahnarztpraxis) ein Verbot gemäß § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG anzuordnen, nicht für jegliche andere Einrichtung, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen diesbezüglich nicht erfüllt sind.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob die Tätigkeit der Antragstellerin als eine solche gemäß § 20a Abs. 1 Nr. 1a IfSG (Tätigkeit in einem Krankenhaus) einzuordnen ist. Insoweit wird indessen auf folgendes hingewiesen:</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Vorschrift des § 20a IfSG bezieht sich nicht lediglich auf ärztliches und pflegerisches Personal, sondern auch auf sonstige Betreuungskräfte sowie andere dort tätige Personen, wie zum Beispiel Hausmeister oder Transport-, Küchen- oder Reinigungspersonal.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 20/188, S. 38; OVG NRW, Beschluss vom 19. September 2022 – 13 B 859/22 –, juris, Rn. 98.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Erstreckung des Anwendungsbereichs auch auf solche Personen ist nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gerechtfertigt, da eine Transmission indirekt durch in der Luft befindliche akkumulierte infektiöse Partikel (Infektionen über Aerosole) erfolgen kann, ohne dass ein direkter Kontakt mit einer infizierten Person besteht. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf zeitlich aufeinanderfolgende Aufenthalte in einem Raum, sondern auch im Hinblick auf gemeinsam nutzbare Ein- und Ausgänge oder Flurbereiche und nicht zuletzt für den Fall des zufälligen direkten Kontakts innerhalb eines Gebäudes. Ungeachtet dessen besteht auch das Risiko von Übertragungsketten, wenn etwa Personen ohne Immunschutz, die keinen direkten Kontakt mit Vulnerablen haben, mit anderen in der Einrichtung tätigen Personen einen solchen Kontakt haben, diese infizieren und diese ihrerseits das Virus an Vulnerable weitergeben.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris, Rn. 179 ff.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Nach den aktuellen Erkenntnissen der Antragsgegnerin gibt es in Bezug auf die Patienten der Klinik keine zeitlich aufeinanderfolgenden Aufenthalte in einem Raum, gemeinsam genutzte Ein- und Ausgänge oder Flurbereiche oder zufälligen direkten Kontakt innerhalb des Gebäudes. Unklar und derzeit nicht ausgeschlossen erscheint nach dem Stand der Sach- und Rechtslage indessen das Risiko von Übertragungsketten, wenn die Antragstellerin Kontakt mit betreuendem Personal hat (insbesondere, wenn dieses die betriebsärztlichen Räumlichkeiten aufsucht).</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kontakt zu betreuendem Personal nach Ermittlung des Sachverhalts angenommen und entsprechend der Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts für die Bejahung des Tatbestands als ausreichend erachtet wird, wäre im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen, wie groß der Nutzen eines Tätigkeitsverbots im Hinblick auf den verfolgten Zweck, vulnerable Personen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu schützen, in Relation zu dem in Rede stehenden Eingriff ist, wenn kein direkter Kontakt zu Vulnerablen stattfindet, das betreuende Personal weit überwiegend selbst geimpft ist und die Verpflichtung zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes besteht. Zudem wäre unter Gleichheitsaspekten zu bedenken, dass ein Teil der ungeimpften Belegschaft mit direktem Kontakt zu den vulnerablen Patienten nicht mit einem Tätigkeitsverbot belegt wurde – insoweit wird indessen darauf hingewiesen, dass die Funktionsfähigkeit der Klinik grundsätzlich ein geeignetes Differenzierungskriterium darstellt. Im Übrigen wäre zu berücksichtigen, inwieweit ein Verbot, welches sich allein darauf bezieht, bestimmte Räumlichkeiten zu betreten, ein milderes Mittel im Verhältnis zu einem umfassenden Tätigkeitsverbot darstellt und den Zweck des Schutzes der vulnerablen Gruppen in gleicher Weise gewährleistet. Insoweit wäre auch zu bedenken, dass der Antragstellerin bei einer reinen örtlichen Beschränkung Optionen bleiben, mit ihrem Arbeitgeber eine Lösung für die Fortführung der Tätigkeit zu verhandeln, selbst wenn diese bislang anders (insbesondere nicht im Homeoffice) ausgeübt wurde.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen kann dahinstehen, ob die Räumlichkeiten des betriebsärztlichen Dienstes als Arztpraxis i.S.d. § 20a Abs. 1 Nr. 1h IfSG einzuordnen sind. Denn insoweit hat die Antragsgegnerin kein Betretens- oder Tätigkeitsverbot erlassen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">II. Da mit Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids kein vollziehbarer Grundverwaltungsakt mehr vorliegt, war auch die aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung anzuordnen.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Einzelrichterin legt mangels anderweitiger Anhaltspunkte den Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG zugrunde. Von einer Reduzierung des Streitwertes auf die Hälfte des in der Hauptsache maßgeblichen Streitwertes entsprechend Ziffer 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (2013) wird abgesehen, da die angegriffene Ordnungsverfügung nur bis zum 31. Dezember 2022 gilt und der Antrag des Antragstellers damit inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache abzielt.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">(1)       Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(2)       Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
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4 S 1896/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:49"
"2022-10-17T11:11:03"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 15. Juni 2022 - 15 K 1502/20 - wird abgelehnt.</p><p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p><p>Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 11.053,14 EUR festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger wendet sich gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses seine gegen die Kürzung der Versorgungsbezüge gemäß § 13 LBeamtVG im Zeitraum 01.10.2016 bis 31.03.2017 wegen Wegfalls des Pensionistenprivilegs gerichtete Klage abgewiesen hat. Aus den von ihm dargelegten und nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO grundsätzlich allein maßgeblichen Gründen ergibt sich nicht, dass die Berufung zugelassen werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>I. Die Berufung kann nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Eine Zulassung wegen ernstlicher Richtigkeitszweifel setzt voraus, dass ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (BVerfG, Beschlüsse vom 16.07.2013 - 1 BvR 3057/11 -, BVerfGE 134, 106, und vom 08.12.2009 - 2 BvR 758/07 -, BVerfGE 125, 104). Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erfordert dabei eine substantiierte Auseinandersetzung mit der erstinstanzlichen Entscheidung, durch die der Streitstoff entsprechend durchdrungen oder aufbereitet wird. Dies kann regelmäßig nur dadurch erfolgen, dass sich die Antragsbegründung konkret mit der angegriffenen Entscheidung inhaltlich auseinandersetzt und aufzeigt, was im Einzelnen und warum dies als fehlerhaft erachtet wird. Eine Bezugnahme auf früheren Vortrag genügt grundsätzlich nicht (vgl. nur VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 09.11.2004 - 11 S 2771/03 -, Juris Rn. 2; Senatsbeschluss vom 19.05.1998 - 4 S 660/98 -, Juris Rn. 2). Wird ein Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und auch vorliegt (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 09.03.2010 - 3 S 1537/08 -, Juris Rn. 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Nach diesen Maßstäben scheidet die Berufungszulassung aus. Denn der Kläger hat keine ernstlichen Richtigkeitszweifel substantiiert. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die Kürzung seiner Versorgungsbezüge durch Bescheid des Landesamtes für Besoldung und Versorgung vom 03.12.2018 und dessen Widerspruchsbescheid vom 13.02.2020 im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO rechtmäßig erfolgt ist und ihn nicht in eigenen Rechten verletzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Zwar kam dem Kläger zunächst das seinerzeit in § 57 Abs. 1 Satz 2 BeamtVG a.F. verankerte Pensionistenprivileg zugute. Dessen Abschaffung nach Übergang der entsprechenden Gesetzgebungskompetenz auf die Länder im Zuge der Föderalismusreform in Baden-Württemberg durch den am 01.01.2011 in Kraft getretenen § 13 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG erfasst jedoch auch die Fallkonstellation des Klägers. Denn er kann sich nach der von ihm selbst veranlassten Totalrevision des noch gemäß den Grundsätzen des „Quasi-Splittings“ errechneten Versorgungsausgleichs 2008 im Wege des 2009 eingeführten einzelrechtsbezogenen „Hin- und Her-Ausgleichs“ durch rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts B. vom 13.06.2017 nicht mehr auf die Übergangsregelung des § 105 Abs. 2 Satz 1 LBeamtVG berufen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Gemäß Halbsatz 2 dieser Übergangsregelung bleibt das Pensionistenprivileg ausdrücklich nur in den Fällen erhalten, in denen der Anspruch auf Ruhegehalt vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des LBeamtVG entstanden ist und „die Entscheidung des Familiengerichts über den Versorgungsausgleich zu diesem Zeitpunkt bereits wirksam war“. Lediglich in diesen (Alt-)Fällen wird das Ruhegehalt, das der verpflichtete Ehegatte im Zeitpunkt der Wirksamkeit der Entscheidung des Familiengerichts über den Versorgungsausgleich erhält, nach § 13 LBeamtVG erst dann gekürzt, wenn aus der Versicherung des berechtigten Ehegatten eine Rente zu gewähren oder eine Zahlung nach § 5 des Bundesversorgungsteilungsgesetzes oder entsprechendem Landesrecht zu leisten ist; im vorliegenden Fall wäre dies mithin erst ab dem Rentenbezug der geschiedenen Ehefrau des Klägers im Jahr 2017 gewesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Der heute gültige und vom Kläger mit Antrag vom September 2016 herbeigeführte, totalrevidierte Versorgungsausgleich bzw. „die“ heute maßgebliche (nicht „eine außer Kraft getretene“) entsprechende „Entscheidung des Familiengerichts“ vom 13.06.2017 erlangte jedoch gemäß der gesetzlichen Regelung des § 226 Abs. 4 FamFG ausdrücklich Wirkung ab dem 01.10.2016. „Die“ seine Pensionsbezüge nunmehr bestimmende „Entscheidung des Familiengerichts“ war mithin nicht schon zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des LBeamtVG vom 09.11.2010 wirksam. Da der Ehefrau des Klägers „durch Entscheidung des Familiengerichts“ ab 01.10.2016 Anwartschaften bzw. Anrechte übertragen bzw. begründet wurden, müssen die Versorgungsbezüge des Klägers „nach Wirksamkeit dieser Entscheidung“ gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG gekürzt werden. Nach den hinreichend klaren einfachgesetzlichen Regelungen kann das Pensionistenprivileg hier also nicht mehr eingreifen. Seit Außerkrafttreten des Versorgungsausgleichs 2008 und seiner am 01.10.2016 wirksam gewordenen vollständigen Neuregelung liegt kein „Altfall“ mehr vor, der durch das übergangsweise fortgeltende Pensionistenprivileg Bestandsschutz beanspruchen kann, wie das Verwaltungsgericht überzeugend dargelegt hat. Ausnahmeregelungen sind grundsätzlich eng auszulegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Entgegen der Auffassung des Klägers im Zulassungsantrag zwingen auch verfassungsrechtliche Vorgaben nicht dazu, § 105 Abs. 2 Satz 1 LBeamtVG im Sinne einer lebenslangen Bestandsgarantie dahingehend weit auszulegen, dass diese Ausnahmeregelung auch eingreift, wenn der Anspruch auf Ruhegehalt vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des LBeamtVG entstanden ist und (statt „die“ heute die Versorgung der geschiedenen Ehegatten regelnde, vielmehr) „irgendeine, selbst eine außer Kraft getretene und nunmehr unwirksame“ Entscheidung des Familiengerichts über den Versorgungsausgleich zu diesem Zeitpunkt „bereits irgendwann einmal“ wirksam gewesen war. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass die Abschaffung des Pensionistenprivilegs nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG verstößt, weil die Regelungen über den Versorgungsausgleich „dabei in mit dem Grundgesetz grundsätzlich vereinbarer Weise Inhalt und Schranken des verfassungsrechtlichen Eigentums an Renten und Versorgungsanwartschaften“ bestimmen (BVerfG, Beschluss vom 11.12.2014 - 1 BvR 1485/12 -, Juris Rn. 15, mit Verweis auf BVerfGE 53, 257 <301 f.>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Der Vortrag des Klägers, der sofortige Vollzug seines heute aktuellen Versorgungsausgleichs nach Wirksamkeit ab 01.10.2016 verletze in seinem Fall dennoch Art. 33 Abs. 5 GG, überzeugt nicht. Gemäß Art. 33 Abs. 5 GG ist das Recht des öffentlichen Dienstes (lediglich) unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Das Bundesverfassungsgericht hat auch insoweit bereits entschieden, dass davon nur Grundsätze für die Regelung des Rechts des öffentlichen Dienstes umfasst sind, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung dieses Rechts zu berücksichtigen hat. Die Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG „schützt deshalb nicht fest umschriebene Rechtslagen, im Besonderen den einmal erworbenen Anspruch des Beamten“ auf eine summenmäßig bestimmte Besoldung oder Versorgung. Sie gewährleistet nur den Kernbestand des Anspruchs auf standesgemäßen Unterhalt, der durch diese Bestimmung ebenso gesichert ist wie das Eigentum durch Art. 14 Abs. 1 GG. Insoweit übernimmt Art. 33 Abs. 5 GG für die vermögensrechtlichen Ansprüche der Beamten die gleiche Funktion, die außerhalb von Beamtenverhältnissen Art. 14 Abs. 1 GG zukommt. „Ebenso wenig unterscheidet sich die gesetzliche Ausgestaltung, derer die Garantie bedarf, von der Inhaltsbestimmung und Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Jedenfalls bei Regelungen, die durch verfassungsmäßige Verbürgungen gerechtfertigt sind, kann daher Art. 33 Abs. 5 GG nicht weiterreichen als Art. 14 Abs. 1 GG“ (so ausdrücklich BVerfGE 53, 257 unter V.2.). Auch dass das Prinzip des sofortigen Vollzugs des Versorgungsausgleichs nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG verstößt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. wiederum BVerfG, Beschluss vom 11.12.2014 - 1 BvR 1485/12 -, Juris Rn. 15).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Verstößt die Abschaffung des Pensionistenprivilegs, das ohnehin nur „verfassungsrechtlich zwar vertretbar, aber nicht geboten“, d.h. verfassungsrechtlich nicht einmal verbürgt war (vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.11.1995 - 2 BvR 1762/92 -, Juris Rn. 20), nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG, weil damit eine zulässige Regelung von Inhalt und Schranken des Eigentums an Renten und Versorgungsanwartschaften gegeben ist, kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Falle des Klägers also auch über Art. 33 Abs. 5 GG keine Verfassungswidrigkeit des sofortigen und endgültigen Vollzugs des Versorgungsausgleichs konstruiert werden. Der durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützte Kernbestand des Anspruchs auf standesgemäßen Unterhalt ist vielmehr durch die fortbestehenden Versorgungsbezüge des Klägers verfassungskonform garantiert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Auch die sonstigen Einwände des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils. Sein zudem auf Vertrauensschutz gestütztes Argument, das Familiengericht B. hätte auf seinen Antrag vom 26.09.2016 gemäß § 51 Abs. 2 VersAusglG i.V.m. § 225 FamFG eigentlich gar keine Neuregelung des Versorgungsausgleichs durch Beschluss vom 13.06.2017 treffen dürfen, denn diese sei unter Einbeziehung des wegfallenden Pensionistenprivilegs bei einer Gesamtbetrachtung für ihn nachteilig und deshalb unzulässig gewesen, trägt nicht. Der Senat kann zum einen nicht erkennen, dass dem Familiengericht, das laut Beschluss vom 13.06.2017 (S. 3) die Grenze des § 225 Abs. 1 FamFG als erreicht ansah, eine Neuregelung des Versorgungsausgleichs 2008 dennoch rechtlich untersagt gewesen sein soll. Denn die Versorgungsbezüge des Klägers haben sich durch die Totalrevision aufgrund der zusätzlich zuerkannten Erziehungszeiten auf Dauer erhöht; insgesamt wurden ihm nun 6,1535 Entgeltpunkte vom DRV-Konto seiner geschiedenen Frau übertragen. Auch im Wege der Gesamtbetrachtung dürfte der nur vorübergehende Wegfall des Pensionistenprivilegs, dessen Zugehörigkeit Prüfprogramm des Familiengerichts unterstellt, aufgrund des kurzen Zeitraums vom 01.10.2016 bis 31.03.2017 die Totalrevision nicht zwingend als für den Kläger nachteilig erscheinen lassen. Zum anderen und vor allem ist der Beschluss des Familiengerichts B. vom 13.06.2017 nun einmal - noch dazu auf Antrag des Klägers - ergangen und in Rechtskraft erwachsen. Der Beklagte kann bei Anwendung der §§ 13 und 105 LBeamtVG i.V.m. § 226 Abs. 4 FamFG deshalb heute nicht so tun, als gäbe es diese wirksame Entscheidung des Familiengerichts nicht, die sich aufgrund des 2009 erfolgten Systemwechsels als komplette Neuberechnung des Versorgungsausgleichs darstellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Den angeführten Umständen und aufgeworfenen Fragen, ob der Beklagte im familiengerichtlichen Verfahren auf das Pensionistenprivileg hingewiesen hat oder nicht, der Kläger sich selbst hätte informieren oder Rechtsrat einholen können oder nicht, die frühere Ehefrau der Totalrevision entgegen getreten ist oder nicht, die Beanspruchung von Mütterrentenanteilen durch den Kläger „verwerflich“ war oder nicht, kommt deshalb keine entscheidungserhebliche Rolle zu. Auch eine „enteignende Ungleichbehandlung von Versorgungsempfängern mit Kindern“ vermag der Senat nicht zu erkennen. Denn auch bei Pensionären ohne Kinder kann es vor Rentenbeginn des geschiedenen Ehepartners zu Änderungen im Ruhestandsrecht kommen, die zu einer Totalrevision des Versorgungsausgleichs Anlass geben und damit den Wegfall des Pensionistenprivilegs auslösen. Und auch die behauptete Verletzung einer Hinweispflicht des Beklagten bzw. dessen Vorverhalten kann den rechtskräftigen Beschluss des Familiengerichts B. vom 13.06.2017 nicht unwirksam machen. Im vorliegenden Rechtsstreit wird nicht über Schadensersatz gestritten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Der Senat vermag schließlich keinen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz zu erkennen. Da die § 13 Abs. 1 und § 105 Abs. 2 LBeamtVG i.V.m. § 226 Abs. 4 FamFG allesamt ausdrücklich auf die Wirksamkeit der Entscheidung des Familiengerichts über den Versorgungsausgleich abstellen, ist hinreichend eindeutig, dass hier keine inzwischen unwirksam gewordene Gerichtsentscheidung gemeint ist. Damit aber bestehen auch insoweit keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils des Verwaltungsgerichts.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>II. Des Weiteren sind keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gegeben. Deren Annahme setzt voraus, dass der Rechtssache nicht lediglich allgemeine oder durchschnittliche Schwierigkeiten zukommen. Dieser Zulassungsgrund liegt deshalb nur dann vor, wenn sich der konkret zu entscheidende Fall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht von dem Spektrum der in verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu entscheidenden Streitfälle deutlich abhebt und sich gerade die diesbezüglichen Fragen im Berufungsverfahren stellen werden. Den Darlegungserfordernissen ist hierbei nur genügt, wenn in fallbezogener Auseinandersetzung mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts dargetan wird, inwieweit sich die benannten Schwierigkeiten in Vergleich mit Verfahren durchschnittlicher Schwierigkeit als „besondere“ darstellen und für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich sein werden (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.09.2016 - 3 S 864/16 -, Juris Rn. 29). Da dieser Zulassungsgrund ebenso wie der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Richtigkeit der Entscheidung im Einzelfall gewährleisten soll, muss zugleich deutlich gemacht werden, dass wegen der in Anspruch genommenen besonderen Schwierigkeiten der Ausgang des Berufungsverfahrens jedenfalls ergebnisoffen ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.03.2019 - 10 S 2788/17 -, Juris Rn. 18).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Daran fehlt es hier. Der Kläger hält zwar insbesondere im Hinblick auf die von ihm aufgeworfene verfassungsrechtliche Diskussion den Berufungszulassungsgrund der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten für gegeben. Wie aufgezeigt, hat das Bundesverfassungsgericht diesbezüglich aber bereits alles Wesentliche entschieden. Und die Anwendung der §§ 13 und 105 LBeamtVG i.V.m. § 226 Abs. 4 FamFG auf den Einzelfall des Klägers, konkret die Auslegung der Übergangsvorschrift, hebt sich im Spektrum der in verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu entscheidenden Streitfälle nicht ab. Zudem konnte der Kläger nicht darlegen, dass der Ausgang eines Berufungsverfahrens zumindest ergebnisoffen wäre. Das kann der Senat auch nicht sonst wie erkennen, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>III. Nach alledem scheidet eine Zulassung der Berufung aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2, § 47 Abs. 1 und 3, § 42 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 GKG und folgt derjenigen des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
346,878
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{ "id": 1071, "name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht", "slug": "vg-schleswig-holsteinisches", "city": 647, "state": 17, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
12 B 34/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-11T10:00:29"
"2022-10-17T11:10:57"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0930.12B34.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorl&#228;ufig bis zum Ablauf von 14 Tagen nach Bekanntgabe einer neuen Auswahlentscheidung untersagt, die ausgeschriebene Stelle der Sachgebietsleitung f&#252;r das Sachgebiet &#8230; Schulentwicklung und interne Evaluation mit dem Beigeladenen zu besetzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Der Antragsgegner tr&#228;gt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der au&#223;ergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst tr&#228;gt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:72pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 20.343,60 &#8364; festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gr&#252;nde<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antrag der Antragstellerin,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach &#167; 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorl&#228;ufig bis zum Ablauf von zwei Wochen nach Bekanntgabe einer erneuten Auswahlentscheidung zu untersagen, die im August 2021 ausgeschriebene Stelle der Besoldungsgruppe A 15 / Entgeltgruppe 15 TV-L &#8222;Sachgebietsleitung (m/w/d) f&#252;r das Sachgebiet XX Schulentwicklung und interne Evaluation&#8220; am Institut f&#252;r Qualit&#228;tsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein mit einer/m Mitbewerber/in zu besetzen, bevor nicht &#252;ber ihre Bewerbung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu entschieden ist,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>ist zul&#228;ssig und begr&#252;ndet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Nach der Bestimmung des &#167; 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Ver&#228;nderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden k&#246;nnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorl&#228;ufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverh&#228;ltnis zul&#228;ssig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverh&#228;ltnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gr&#252;nden, n&#246;tig erscheint (Satz 2). Gem&#228;&#223; den &#167;&#167; 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO hat die Antragstellerin sowohl die Eilbed&#252;rftigkeit der gew&#228;hrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch ihre materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Der Antragstellerin steht ein Anordnungsgrund zur Seite; denn der Antragsgegner beabsichtigt, die streitgegenst&#228;ndliche Stelle mit dem Beigeladenen zu besetzen. Mit seiner Ernennung w&#252;rde sich der Bewerbungsverfahrensanspruch der Antragstellerin faktisch erledigen. Die Ernennung k&#246;nnte mit Blick auf den Grundsatz der &#196;mterstabilit&#228;t (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 09.07.2007 &#8211; 2 BvR 206/07 &#8211;, juris Rn 13; OVG Schleswig, Beschluss vom 02.09.2016 &#8211; 2 MB 21/16 &#8211;, juris Rn. 9) nicht mehr r&#252;ckg&#228;ngig gemacht werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsanspruch ist in beamtenrechtlichen Konkurrentenverfahren glaubhaft gemacht, wenn der unterlegene Bewerber darlegt, dass die Auswahlentscheidung fehlerhaft war und seine Aussichten, bei erneuter Auswahlentscheidung ausgew&#228;hlt zu werden, zumindest offen sind, seine Auswahl mithin m&#246;glich erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.09.2002 &#8211; BvR 857/02 &#8211;, juris Rn. 83; BVerwG, Beschluss vom 20.01.2004 &#8211; 2 VR 3.03 &#8211;, juris Rn.8; OVG Schleswig, Beschluss vom 21.09.2022 &#8211; 2 MB 8/22 &#8211;, juris Rn. 56).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Auswahlentscheidung des Antragsgegners war fehlerhaft. Es ist nicht auszuschlie&#223;en, dass bei einer erneuten Entscheidung die Auswahl zugunsten der Antragstellerin erfolgt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) gew&#228;hrt ein grundrechtsgleiches Recht auf gleichen Zugang zu jedem &#246;ffentlichen Amt nach Eignung, Bef&#228;higung und fachlicher Leistung. Dementsprechend hat jeder Bewerber Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung &#252;ber sein Bef&#246;rderungsbegehren (sog. Bewerbungsverfahrensanspruch). Dem Grundsatz der Bestenauslese entspricht es dabei, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerber in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zur&#252;ckzugreifen und als vorrangiges Auswahlkriterium auf die aktuellen dienstlichen Beurteilungen abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.02.2003 &#8211; 2 C 16.02 &#8211;, juris Rn. 12; BVerfG, Beschluss vom 04.10.2012 &#8211; 2 BvR 1120/12 &#8211;, juris Rn. 12). Ma&#223;geblich ist in erster Linie das abschlie&#223;ende Gesamturteil, welches anhand einer W&#252;rdigung, Gewichtung und Abw&#228;gung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte gebildet wurde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2015 &#8211; 2 BvR 1958/13 &#8211;, juris Rn. 58, Kammerbeschl&#252;sse vom 14.10.2012 &#8211; 2 BvR 1120/12 &#8211;, juris Rn. 12 und vom 09.08.2016 &#8211; 2 BvR 1287/16 &#8211;, juris Rn. 79).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>In bestimmten F&#228;llen l&#228;sst es Art. 33 Abs. 2 GG zu, dass der Dienstherr die Kandidaten im Anschluss an den Vergleich der Gesamturteile anhand der f&#252;r das Bef&#246;rderungsamt wesentlichen Einzelaussagen der dienstlichen Beurteilungen weiter vergleicht. Dies kommt insbesondere bei einem wesentlich gleichen Gesamtergebnis in Betracht. Gerade dann kommt den Einzelaussagen nach dem Sinn und Zweck der dienstlichen Beurteilungen, &#252;ber Leistung und Eignung der Beamten ein differenziertes Bild zu geben, besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2015 &#8211; 2 BvR 1958/13 &#8211;, juris Rn. 32, Kammerbeschluss vom 09.08.2016 &#8211; 2 BvR 1287/16 &#8211;, juris Rn. 76).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Erst wenn die Bewerber aufgrund ihrer dienstlichen Beurteilungen als im Wesentlichen gleich geeignet einzustufen sind, ist ein R&#252;ckgriff auf das leistungsbezogene Erkenntnismittel eines sogenannten strukturierten Auswahlgespr&#228;chs zul&#228;ssig (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.04.2010 &#8211; 1 WB 39.09 &#8211;, juris, Rn. 39; OVG Schleswig, Beschluss vom 27.02.2019 &#8211; 2 MB 22/18 &#8211;, juris Rn. 21).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Der Bewerbungsverfahrensanspruch der Antragstellerin ist verletzt, da die der Auswahlentscheidung zugrundeliegende dienstliche Beurteilung der Antragstellerin rechtswidrig ist. Dienstliche Beurteilungen sind von den Verwaltungsgerichten nur eingeschr&#228;nkt &#252;berpr&#252;fbar. Denn die Entscheidung des Dienstherrn dar&#252;ber, ob und in welchem Grad ein Beamter die f&#252;r sein Amt und f&#252;r seine Laufbahn erforderliche Bef&#228;higung und fachlichen Leistungen aufweist, ist ein dem Dienstherrn von der Rechtsordnung vorbehaltener Akt wertender Erkenntnis. Die verwaltungsgerichtliche Rechtm&#228;&#223;igkeitskontrolle hat sich deshalb darauf zu beschr&#228;nken, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeing&#252;ltige Wertma&#223;st&#228;be nicht beachtet, sachfremde Erw&#228;gungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften versto&#223;en hat. Hat der Dienstherr Richtlinien f&#252;r die Abgabe dienstlicher Beurteilungen erlassen (wie hier: Richtlinie &#252;ber die Beurteilung der Besch&#228;ftigten des Landes Schleswig-Holstein &#8211; BURL &#8211; Amtsbl. SH, 2009, S. 482), dann sind die Beurteilenden an diese Richtlinien hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrens und der einzuhaltenden Ma&#223;st&#228;be nach dem Gleichheitsgrundsatz gebunden; das Gericht kann insoweit nur pr&#252;fen, ob die Richtlinien eingehalten sind und ob sie mit den gesetzlichen Regelungen in Einklang stehen (BVerwG, Urteil vom 30.01.2003 &#8211; 2 A 1.02 &#8211;, juris Rn. 11; OVG L&#252;neburg, Beschluss vom 29.07.2015 &#8211; 5 ME 107/15 &#8211;, juris Rn. 8; OVG Schleswig, Urteil vom 06.09.2000 &#8211; 3 L 221/98 &#8211;, juris Rn. 54). Die verwaltungsgerichtliche Nachpr&#252;fung kann dagegen nicht dazu f&#252;hren, dass das Gericht die fachliche und pers&#246;nliche Beurteilung des Beamten durch seinen Dienstvorgesetzten in vollem Umfang nachvollzieht oder diese gar durch eine eigene Beurteilung ersetzt (BVerwG, Urteil vom 26.07.1980 &#8211; 2 C 8.78 &#8211;, juris Rn. 18; OVG L&#252;neburg, Beschluss vom 12.04.2016 &#8211; 5 ME 14/16 &#8211;, juris Rn. 20).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Die dienstliche Beurteilung der Antragstellerin begegnet vor diesem Hintergrund rechtlichen Bedenken. Da die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Beurteilung nicht als Lehrkraft im Schuldienst t&#228;tig war, sind die Richtlinien &#252;ber die Beurteilung der Besch&#228;ftigten des Landes Schleswig-Holstein (BURL) gem&#228;&#223; Nr. 2 BURL auf sie anzuwenden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die dienstliche Beurteilung der Antragstellerin wurde nicht vom zust&#228;ndigen Beurteiler gefertigt. Gem&#228;&#223; Nr. 5.2 Satz 1 BURL ist die Erstbeurteilerin oder der Erstbeurteiler in der Regel die oder der unmittelbare Vorgesetzte. Gem&#228;&#223; Satz 4 der BURL ist Erstbeurteilerin oder Erstbeurteiler die oder der fr&#252;here Vorgesetzte, wenn die oder der Besch&#228;ftigte der oder dem unmittelbaren Vorgesetzten am Beurteilungsstichtag weniger als sechs Monate unterstellt ist. Die Antragstellerin war in der Zeit vom 01.09.20.. bis zum 31.07.20.. unstreitig &#252;berwiegend im Schuldienst t&#228;tig und dort dem Schulleiter des Gymnasiums &#8230; unterstellt (vgl. &#167; 9 Abs. 6 Satz 1 LVO-Bildung). In der Zeit vom 01.09.20.. bis zum 31.07.20.. war sie zus&#228;tzlich im Rahmen verschiedener Teilabordnungen beim IQSH t&#228;tig. Ab dem 01.08.20.. befand sich die Antragstellerin nicht mehr im Schuldienst und war stattdessen vollst&#228;ndig zum IQSH abgeordnet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Ma&#223;geblicher Zeitpunkt ist gem&#228;&#223; Nr. 5.2 Satz 4 BURL der Beurteilungsstichtag. Unabh&#228;ngig davon, ob bei Anlassbeurteilungen als Stichtag auf den Zeitpunkt der Beauftragung mit der Erstbeurteilung abzustellen ist (so: OVG M&#252;nster, Beschluss vom 11.11.2015 &#8211; 6 A 423/15 &#8211;, juris Rn. 4) oder der Zeitpunkt der Erstellung der Beurteilung zugrunde gelegt werden muss, war der Leiter der Abteilung vier des IQSH jedenfalls noch keine sechs Monate der Dienstvorgesetzte der Antragstellerin. Denn auch wenn die Antragstellerin bereits &#252;ber einen l&#228;ngeren Zeitraum als sechs Monate zum IQSH teilabgeordnet gewesen ist, war f&#252;r den Zeitraum vom 01.09.20.. bis zum 31.07.20.. der Schulleiter des Gymnasiums &#8230; der zust&#228;ndige Erstbeurteiler (&#167; 9 Abs. 6 Satz 1 LVO-Bildung) und damit unmittelbarer Vorgesetzter im Sinne der Nr. 5.2 Satz 4 BURL. Der Sinn und Zweck der Vorschrift ist erkennbar darauf gerichtet, dass der unmittelbare Vorgesetzte erst dann als Erstbeurteiler t&#228;tig werden soll, wenn er die Leistung, Bef&#228;higung und Eignung des zu Beurteilenden in hinreichendem Ma&#223; selbst einsch&#228;tzen kann. Davon ist grunds&#228;tzlich dann nicht auszugehen, wenn der zu Beurteilende seinen Dienst &#252;berwiegend bei einer anderen Dienststelle verrichtet (a.A. wohl OVG Schleswig, Beschluss vom 21.10.2019 &#8211; 2 MB 3/19 &#8211;, juris Rn. 61, wonach bei einer Teilabordnung die jeweiligen Dienstvorgesetzten jeweils eine eigene Beurteilung zu erstellen haben). Nach der Einsch&#228;tzung der Kammer ist deshalb der Schulleiter des Gymnasiums &#8230; zust&#228;ndiger Erstbeurteiler der Antragstellerin. Die Antragstellerin war bis zum 31.07.20.. &#252;berwiegend im Schuldienst t&#228;tig. Der Schulleiter kann die Leistung, Bef&#228;higung und Eignung der Antragstellerin am besten beurteilen, denn ihm war die Antragstellerin mit ihrem h&#246;chsten Arbeitskraftanteil fast &#252;ber den gesamten Beurteilungszeitraum unterstellt. Bei der Anforderung der Beurteilung mit EMail vom 03.09.2021 und auch bei Erstellung der Beurteilung am 30.11.20XX (Unterschrift der Zweitbeurteilerin) war der Schulleiter gem&#228;&#223; Nr. 5.2 Satz 4 BURL deshalb weiterhin als unmittelbarer Vorgesetzter der Antragstellerin zu behandeln. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners kann jedenfalls nicht auf den Zeitpunkt der Erstellung der &#252;berarbeiteten Beurteilung im M&#228;rz 2022 abgestellt werden. Dies w&#252;rde dem neuen Vorgesetzten i.S.d. Nr. 5.2 BURL die M&#246;glichkeit einr&#228;umen, den Beurteilungsstichtag nach freiem Befinden nach hinten zu verschieben und damit die Erstbeurteilereigenschaft selbst zu begr&#252;nden. Zwar lernt der neue Vorgesetzte den zu Beurteilenden durch Zeitablauf besser kennen und kann nach dem Zweck der Richtlinie seine Leistung, Bef&#228;higung und Eignung nach sechs Monaten selbst in hinreichender Weise beurteilen; ma&#223;geblich ist jedoch der konkrete Beurteilungszeitraum. Da dieser sowohl in der Ursprungsfassung der Beurteilung vom 30.11.20.. als auch in der &#252;berarbeiteten Fassung vom 28.03.20.. am 31.08.20.. endet, konnte der Leiter der Abteilung &#8230; des IQSH als Beurteiler keine hinreichenden Erkenntnisse &#252;ber die Bef&#228;higung der Antragstellerin gewinnen und mithin zul&#228;ssigerweise keine eigene Wertung f&#252;r diesen Zeitraum vornehmen. F&#252;r die im Beurteilungszeitraum untergeordnete T&#228;tigkeit der Antragstellerin beim IQSH sind vielmehr Beurteilungsbeitr&#228;ge nach Nr. 5.2 Satz 2 Halbsatz 2 BURL der Vorgesetzten in den Abteilungen drei und vier einzuholen, da die Antragstellerin dort jeweils l&#228;nger als zw&#246;lf Monate eingesetzt war. Dabei ist der Beurteilungsvordruck zu verwenden (Anlage 1 BURL).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Auch der Beurteilungszeitraum ist fehlerhaft. Nach Nr. 4.1.1 Satz 1 BURL ist der Beurteilungszeitraum der Zeitraum zwischen der letzten Beurteilung und der zu erstellenden Beurteilung. Dieser allgemeine Grundsatz gilt auch f&#252;r Anlassbeurteilungen (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 21.09.2022 &#8211; 2 MB 8/22 &#8211;, juris Rn. 9). Zuletzt wurde die Antragstellerin am 20.04.2018 f&#252;r den Zeitraum vom M&#228;rz 2015 bis zum M&#228;rz 2018 beurteilt. In der urspr&#252;nglichen Fassung der streitgegenst&#228;ndlichen Beurteilung wurde der Beurteilungszeitraum auf drei Jahre festgesetzt und betraf den Zeitraum vom 01.09.2018 bis zum 31.08.2021. In der &#252;berarbeiteten Beurteilung, die der Auswahlentscheidung zugrunde lag und damit ma&#223;geblich f&#252;r diese war, wurde der Beurteilungszeitraum auf zwei Jahre abgek&#252;rzt und betraf nur noch den Zeitraum vom 01.09.2019 bis zum 31.08.2021. Der Antragsgegner begr&#252;ndet die Reduzierung des Beurteilungszeitraums zwar damit, dass die Antragstellerin erst seit dem 01.08.2019 mit unterschiedlichen Stellenanteilen an das IQSH teilabgeordnet worden sei. Warum er den Beurteilungsbeginn indes nicht auf den 01.08.2019 festgelegt hat, ist nicht nachvollziehbar. Davon abgesehen war die Antragstellerin nach Aktenlage bereits im Jahr 2018 zum IQSH teilabgeordnet. Gr&#252;nde, aus denen die Anlassbeurteilung der Antragstellerin nicht an den Zeitraum ihrer letzten Anlassbeurteilung ankn&#252;pft, sind nicht erkennbar. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass Beurteilungen von Bewerbern auch bei unterschiedlichen Beurteilungszeitr&#228;umen grunds&#228;tzlich vergleichbar sind, solange sie eine hinreichende L&#228;nge aufweisen (OVG Schleswig, Beschluss vom 21.09.2022 &#8211; 2 MB 8/22 &#8211;, juris Rn. 12).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Ohne dass es darauf f&#252;r die hiesige Entscheidung ankommt, begegnet auch das durchgef&#252;hrte strukturierte Auswahlgespr&#228;ch rechtlichen Bedenken. Auch wenn dem Dienstherrn ein aus seinem Organisationsrecht abgeleitetes weites Ermessen im Hinblick auf die Zusammensetzung der Auswahlkommission einger&#228;umt ist, in das auch organisatorische, personalwirtschaftliche und personalpolitische Entscheidungen einflie&#223;en d&#252;rfen, &#252;berschreitet er dieses Ermessen jedoch, wenn der Auswahlkommission solche Vertreter angeh&#246;ren, bei denen die Gefahr von Interessen- bzw. Pflichtenkollisionen besteht. Eine derartige Gefahr ist insbesondere anzunehmen, wenn &#252;ber dieselbe Angelegenheit von derselben Person in verschiedenen Gremien entschieden wird, die nach ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung unterschiedliche oder gar gegens&#228;tzliche Ziele verfolgen. F&#252;r den objektiven Betrachter ist dann nicht erkennbar, wessen Interessen diese Person tats&#228;chlich vertritt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.08.1993 &#8211; 6 C 14.92 &#8211;, juris Rn. 21; OVG Schleswig, Beschluss vom 06.01.1999 &#8211; 3 M 63/98 &#8211;, n.v.; OVG M&#252;nster, Beschluss vom 27.06.1994 &#8211; 12 B 1084/94 &#8211;, juris; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 04.06.2018 &#8211; 12 L 3601/17 &#8211;, juris Rn.17ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Auch wenn es aus dem Auswahlvermerk vom 08.04.2022 nicht eindeutig hervorgeht, ergibt sich aus dem Protokoll &#252;ber das Auswahlgespr&#228;ch zur Besetzung der ausgeschriebenen Stelle am 17.03.2022 im IQSH, dass sich das Auswahlgremium aus verschiedenen Personen zusammensetzt. Darunter ist auch ein Vertreter des &#246;rtlichen Personalrats aufgelistet. Dieser nimmt als Angeh&#246;riger der Verwaltung die Interessenvertretung der Besch&#228;ftigten und nicht des Dienstherrn wahr. Sollte der Personalratsvertreter zusammen mit dem Auswahlgremium abgestimmt haben, wof&#252;r zumindest die Bezeichnung als Mitglied des Auswahlgremiums spricht, w&#252;rde dies einen formellen Mangel des Auswahlverfahrens darstellen (vgl. hierzu ausf&#252;hrlich: Beschluss der Kammer vom 14.06.2021 &#8211; 12 B 22/21 &#8211;, juris Rn. 24 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Auswahl der Antragstellerin in einem neuen Auswahlverfahren erscheint m&#246;glich. Ein Anspruch auf erneute Entscheidung &#252;ber die Bewerbung eines im Auswahlverfahren unterlegenen Bewerbers ist bei Vorliegen einer fehlerbehafteten, das subjektive Recht des Bewerbers aus Art. 33 Abs. 2 GG verletzenden Auswahlentscheidung nur dann nicht gegeben, wenn die gebotene wertende Betrachtung aller Umst&#228;nde des Einzelfalls klar erkennbar ergibt, dass der Rechtsschutzsuchende auch im Fall einer nach den Ma&#223;st&#228;ben der Bestenauslese fehlerfrei vorgenommenen Auswahlentscheidung im Verh&#228;ltnis zu den Mitbewerbern chancenlos sein wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.09.2002 &#8211;&#8239;2&#8239;BvR&#8239;857/02 &#8211;, juris&#8239;Rn.&#8239;13-14; BVerwG, Beschl&#252;sse vom 20.06.2013 &#8211;&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.13 &#8211;, juris&#8239;Rn.&#8239;11&#8239;ff., vom 19.12.2014 &#8211;&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.14 &#8211;, juris&#8239;Rn.18 und vom 23.01.2020 &#8211;&#8239;2&#8239;VR&#8239;2.19 &#8211;, juris&#8239;Rn.&#8239;22). Daf&#252;r ist jedoch nichts ersichtlich. Schon im bereits durchgef&#252;hrten Auswahlverfahren sch&#228;tzte der Antragsgegner die Antragstellerin und den Beigeladenen als im Wesentlichen gleich geeignet ein und lud sie darum zu einem strukturierten Auswahlgespr&#228;ch ein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus &#167; 154 Abs. 1, &#167; 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht dem billigem Ermessen, dass der Beigeladene seine au&#223;ergerichtlichen Kosten selbst tr&#228;gt, da er keinen Antrag gestellt hat und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, vgl. &#167; 154 Abs. 3 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf &#167; 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. &#167; 52 Abs. 6 Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 GKG. Der Streitwert betr&#228;gt danach ein Viertel der Summe der f&#252;r ein Kalenderjahr zu zahlenden Bez&#252;ge des angestrebten Amtes, hier: A 15, mit Ausnahme nicht ruhegehaltsf&#228;higer Zulagen.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,863
ovgnrw-2022-09-29-6-a-153620
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6 A 1536/20
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:35"
"2022-10-17T11:10:55"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0929.6A1536.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 40.417,08 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Der Kläger stützt ihn auf die Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO. Keiner dieser Zulassungsgründe ist gegeben.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Das Antragsvorbringen weckt zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.10.2020 - 2 BvR 2426/17 -, NVwZ 2021, 325 = juris Rn. 34 m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 - 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542 = juris Rn. 9.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Dabei ist innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in substantiierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn das Gericht schon auf Grund des Antragsvorbringens in die Lage versetzt wird zu beurteilen, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung nicht dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der Bescheid vom 25.4.2018, mit dem das beklagte Land gemäß §§ 26 Abs. 1, 27 Abs. 1 BeamtStG i. V. m. 33 Abs. 1 Satz 3 LBG NRW die begrenzte Dienstfähigkeit des Klägers festgestellt hat, sei rechtmäßig. Der Kläger habe seit dem 0.7.2011 und damit mehr als drei Monate innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten keinen Dienst mehr getan. Es habe im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids auch keine Aussicht darauf bestanden, dass die Dienstfähigkeit des Klägers innerhalb von sechs Monaten wieder voll hergestellt sein werde. Dies ergebe sich aus dem amtsärztlichen Gutachten des Gesundheitsamtes D.        vom 00.3.2017. Nach den amtsärztlichen Feststellungen sei der Kläger nicht mehr im vollen Umfang, jedoch noch während mindestens der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit fähig, die Dienstpflicht im allgemeinen Verwaltungsdienst zu erfüllen. Von den Amtsärzten seien folgende für die Beurteilung der Dienstfähigkeit relevanten Diagnosen gestellt worden: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, rez. depressive und somatoforme Störung, Migräne, Hypakusis bei Tinnituserleben, chronisch-degeneratives Wirbelsäulenleiden, stattgehabter Bandscheibenvorfall L5/S1, endogenes Asthma bronchiale (medikamentös gut kontrolliert), Reizdarmsyndrom und Sigmadivertikulose, Adipositas 3. Grades. Die Gutachter hätten ihr Ergebnis, dass mit der Wiederherstellung der uneingeschränkten Dienstfähigkeit innerhalb der nächsten sechs Monate nicht zu rechnen sei, in Kenntnis der anamnestischen Vorgeschichte des Klägers plausibel und unter Berücksichtigung der erhobenen Befunde erläutert und dem beklagten Land damit eine tragfähige Grundlage für seine Entscheidung ermöglicht. Vor dem Hintergrund der im Gutachten dargestellten chronifizierten Leiden sei es nachvollziehbar, dass die Amtsärzte zu dem Ergebnis gelangt seien, der Kläger könne innerhalb der nächsten sechs Monate keinen vollen Dienst mehr leisten. Ein vom Kläger aufgezeigter „Widerspruch“ in dem amtsärztlichen Gutachten sei nicht erkennbar. Denn es widerspreche sich nicht, wenn die Amtsärzte zum einen feststellten, dass eine weitergehende Stabilisierung mit ggf. auch zeitlich ausgedehnterer Einsetzbarkeit in entsprechend angepasstem Anforderungsprofil durch derzeit laufende, aber noch nicht hinreichend ausgeschöpfte, medizinische oder sonstige therapeutische Behandlungsmaßnahmen zu erwarten sei (S. 7 des Gutachtens) und zum anderen ausführten, es gebe keinerlei Rationale für die klägerseitige Einschätzung, dass er derzeit zwar nicht dienstfähig, aber im Urteil seiner behandelnden Ärzte in sechs bis acht Wochen (gemeint: Monaten) voll dienstfähig sei und die Frage aufwerfen, „Welches Wunder soll in den nächsten 6-8 Monaten eintreten, das in den letzten Jahren nicht schon hätte erreicht werden können?“ (S. 9 des Gutachtens). Ungeachtet der Wortwahl, die unpassend, jedoch nicht vorverurteilend im Sinne einer Befangenheit sei, sprächen die Amtsärzte nur von der Möglichkeit einer Stabilisierung und gerade nicht von einer Wiedererlangung der vollen Dienstfähigkeit. Die zitierten Ausführungen belegten auch nicht einen Verstoß gegen das Gebot der Sachlichkeit, da trotz der zugespitzten, plakativen Wortwahl die sachlich fundierte medizinische Basis nicht verlassen werde. Der Kläger sei den fachärztlichen Feststellungen ferner nicht durch Vorlage eigener, aussagekräftiger privatärztlicher Stellungnahmen substantiiert entgegengetreten. Soweit er die fehlende medizinische Fachkunde des Arztes im Gesundheitsamt C1.          auf psychiatrischem Fachgebiet rüge, zeige er mit dieser pauschal und unsubstantiiert gebliebenen Behauptung ebenfalls keinen Mangel des amtsärztlichen Gutachtens auf. Denn zum einen führe die bloße Tatsache, dass es sich bei dem untersuchenden Arzt um einen Allgemeinmediziner und Kieferchirurgen handele, nicht ohne weiteres zu einer Mangelhaftigkeit des Gutachtens; zum anderen verfüge der das Gutachten ebenfalls mittragende Kreismedizinaldirektor Dr. U.      nach unbestrittener Aussage des beklagten Landes über die Facharztqualifikation im Bereich Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Die erforderliche Fachkunde sei damit - unabhängig davon, wer die physische Untersuchung des Klägers tatsächlich vorgenommen habe - gegeben.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das gegen diese näher erläuterten Feststellungen gerichtete Zulassungsvorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">1. Der Einwand des Klägers, das angegriffene Urteil enthalte keine Begründung zu der Feststellung, dass er zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids dienstunfähig i. S. d. § 26 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG i. V. m. § 33 Abs. 1 Satz 3 LBG NRW gewesen sei, trifft nicht zu.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf entsprechende bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">vgl. Urteil vom 30.8.2012 - 2 C 82.10 -, NVwZ-RR 2012, 928 = juris Rn. 11,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">dargestellt, dass die Feststellung der begrenzten Dienstfähigkeit gemäß § 27 Abs. 1 BeamtStG in der (hier noch maßgeblichen) Fassung vom 17.6.2008(BeamtStG a. F., BGBl. I. S 1010) die Feststellung der Dienstunfähigkeit voraussetze, da nach § 27 Abs. 1 BeamtStG a. F. von der Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit abgesehen werden soll, wenn die Beamtin oder der Beamte</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">unter Beibehaltung des übertragenen Amtes die Dienstpflichten noch während mindestens der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit erfüllen kann (begrenzte Dienstfähigkeit). Nach der Legaldefinition des § 26 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG a. F. ist ein Beamter auf Lebenszeit dienstunfähig, wenn er wegen seines körperlichen Zustands oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig ist. Nach § 26 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG a. F. kann als dienstunfähig auch angesehen werden, wer infolge Erkrankung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan hat, wenn keine Aussicht besteht, dass innerhalb einer Frist von sechs Monaten (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 3 LBG NRW) die Dienstfähigkeit wieder voll hergestellt ist.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Vorgaben hat das Verwaltungsgericht zunächst festgestellt, dass der Kläger seit Juli 2011 und damit u. a. in den vergangenen sechs Monaten ununterbrochen dienstunfähig gewesen ist und anschließend ausführlich begründet (vgl. Urteilabdruck S. 10 ff.), warum angesichts der bestehenden, sich aus dem amtsärztlichen Gutachten ergebenden gesundheitlichen Einschränkungen prognostisch auch innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nicht mit der Wiedererlangung der vollen, sondern nur einer begrenzten Dienstfähigkeit in Höhe von 50 % zu rechnen sei. Insbesondere gegen diese Einschätzung wendet sich der Kläger im Übrigen mit seinem weiteren Zulassungsvorbringen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">2. Ohne Erfolg rügt der Kläger, für die Feststellung der begrenzten Dienstfähigkeit könne nicht auf das amtsärztliche Gutachten vom 22.3.2017 zurückgegriffen werden, weil dieses falsch sei.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">a) Fehl geht zunächst der Einwand des Klägers, das amtsärztliche Gutachten sei offensichtlich falsch, weil der Amtsarzt C1.          als Allgemeinmediziner und Kieferchirurg nicht über die erforderliche fachärztliche Sachkunde auf neurologischem Fachgebiet verfüge. Das trifft aus mehreren Gründen nicht zu. Zum einen folgt - wie das Verwaltungsgericht bereits zutreffend ausgeführt hat - aus der genannten Qualifikation des Amtsarztes C1.          nicht zwangsläufig dessen Ungeeignetheit zur Untersuchung und Erstellung des Gutachtens zur Frage der Dienstfähigkeit. Dies gilt im Streitfall insbesondere vor dem Hintergrund der zahlreich vorliegenden, auch nach eigenem Vorbringen des Klägers bereits von entsprechenden Fachärzten erstellten Gutachten und Stellungnahmen, die der untersuchende Amtsarzt seinen Feststellungen zugrunde legen konnte und zugrunde gelegt hat. Zum anderen hat der die entsprechende Fachkunde aufweisende Dr. U.      das Gutachten mitunterzeichnet und mithin die entsprechenden Aussagen aus fachärztlicher Sicht mitgetragen. Die Annahme des Klägers, Dr. U.      habe das Gutachten nicht gelesen und ungeprüft unterschrieben, ist rein spekulativ und entbehrt einer Grundlage. Vor diesem Hintergrund ist das Verwaltungsgericht auch zutreffend davon ausgegangen, dass nicht nur ein, sondern zwei Amtsärzte das Gutachten vom 00.3.2017 inhaltlich verantworten.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Es ist auch weder dargelegt noch ersichtlich, dass die Erkenntnisgrundlage des Dr. U.      defizitär gewesen wäre und einer entsprechenden Mitzeichnung entgegengestanden hätte. Entsprechendes folgt nicht aus dem Umstand, dass er den Kläger nicht selbst untersucht hat. Denn auch nach dem Vorbringen des Klägers hat bereits 2014 eine entsprechende Untersuchung durch Dr. U.      stattgefunden, sodass ihm der Kläger und dessen chronischen Leiden bekannt waren. Neben den im Gutachten aufgeführten Beurteilungsgrundlagen und den Untersuchungsergebnissen des Amtsarztes C.          konnte Dr. U.      mithin auch auf seine eigenen aus dieser Untersuchung gewonnenen Eindrücke bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit des Klägers zurückgreifen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">b) Die Rüge des Klägers, auf das Gutachten vom 00.3.2017 habe nicht zurückgegriffen werden können, weil der Amtsarzt C.          , der die Untersuchung durchgeführt und das Gutachten verfasst habe, voreingenommen sei, greift ebenfalls nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon, dass das Gutachten - entgegen der Meinung des Klägers - nicht allein von dem Amtsarzt C.          verantwortet worden ist, ergibt sich aus der vom Kläger beanstandeten Aussage - „Welches Wunder soll in den nächsten 6 – 8 Monaten eintreten, das in den letzten Jahren nicht schon hätte erreicht werden können?“ - keine Voreingenommenheit des Herrn C.          .</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Allein aus dieser Formulierung folgen keine Zweifel an der Unparteilichkeit und Neutralität des Amtsarztes C.          . Es handelt sich um eine möglicherweise unangemessene und plakative Auseinandersetzung mit der vom Kläger geäußerten Einschätzung, er werde in sechs bis acht Monaten wieder dienstfähig sein. Die abweichende Prognose fußt jedoch auf einer medizinisch und damit sachlich fundierten Basis, welche entgegen dem klägerischen Vorbringen auch ohne weiteres nachvollziehbar begründet ist. Denn ausweislich der im Gutachten angeführten Beurteilungsgrundlagen bestanden bei dem Kläger bereits seit mehreren Jahren erhebliche gesundheitliche Einschränkungen und eine nur begrenzte Behandlungsmotivation, die dazu geführt hatten, dass er zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung bereits über den erheblichen Zeitraum von mehr als sechs Jahren keinen Dienst mehr verrichtet hatte. Nach den dem Gutachten zugrundeliegenden Attesten, Gutachten und Arztbriefen bestand bei dem Kläger seit 2006 eine - wiederkehrend auch privatärztlich bescheinigte - depressive Symptomatik und physische Beschwerden unter anderem aufgrund - fortschreitender - Adipositas (mittlerweile 3. Grades) sowie seit 2011 Schmerzen in der rechten Hand. Diese Beschwerden hielten ausweislich des Untersuchungsergebnisses und der Schilderungen des Klägers in wechselnder, die Dienstfähigkeit jedoch seit Juli 2011 ununterbrochen ausschließender Intensität trotz ärztlicher Behandlung und mehrerer ambulanter und stationärer Aufenthalte in verschiedenen Kliniken an. Angesichts dieser Erkenntnisse ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass die Amtsärzte die Einschätzung der den Kläger seit mehreren Jahren behandelnden Ärzte zur Wiedererlangung der vollen Dienstfähigkeit - wenn auch überspitzt formuliert - nicht teilen. Sie begründen diese Bewertung zudem auch sachlich weiter damit, dass ein neuer oder anders gearteter Therapieansatz nicht zu erkennen sei, der eine positive - in der Vergangenheit nicht gelungene - Veränderung des Gesundheitszustandes des Klägers erwarten lassen könnte, insbesondere da - so die Amtsärzte weiter - es sich um chronische Erkrankungen bei einer gefestigten narzisstischen Persönlichkeit handele, die im Verlauf der Jahre durchaus gleich behandelt/betreut worden seien. Angesichts des Vorstehenden belegt die beanstandete Wortwahl nicht die Voreingenommenheit des Herrn C.          und kann auch keine Rede davon sein, dass sich dem Gutachten nicht entnehmen lasse, auf welche chronischen Erkrankungen (rezidivierende depressive und somatoforme Störung, chronische Schmerzstörung) sich die Amtsärzte im Rahmen dieser Ausführungen beziehen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Dem Gutachten lassen sich auch im Übrigen keine Anhaltspunkte für eine fehlende Unvoreingenommenheit des Amtsarztes C.          entnehmen. Sonstige konkrete tatsächliche Umstände, die darauf hindeuten könnten, dass sich der Gutachter dem Kläger gegenüber nicht neutral verhalten oder seine medizinischen Feststellungen und Bewertungen nicht unabhängig und ohne Ansehen der Person getroffen hat, sind nicht erkennbar. Der Kläger hat insbesondere auch kein entsprechende Rückschlüsse zulassendes Verhalten im Rahmen der Untersuchung geschildert.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">c) Entgegen der Auffassung des Klägers stellt sich die amtsärztliche Beurteilung auch nicht als widersprüchlich und damit unbrauchbar dar. Insoweit wiederholt er lediglich sein erstinstanzliches Vorbringen, dass es widersprüchlich sei, wenn der Amtsarzt auf der einen Seite feststelle „Durch derzeit laufende, aber noch nicht hinreichend ausgeschöpfte medizinische oder sonstige therapeutische Behandlungsmaßnahmen (Warteliste Dr. L.    ) wäre eine weitergehende Stabilisierung mit ggf. auch zeitlich ausgedehnterer Einsetzbarkeit in entsprechend angepasstem Anforderungsprofil zu erwarten, […]“ und auf der anderen Seite ausführe „Welches Wunder soll in den nächsten 6 – 8 Monaten eintreten, das in den letzten Jahren nicht schon hätte erreicht werden können? Hier konnte keinerlei grundlegend neuer oder anders gearteter Therapieansatz aufgedeckt werden, der eine derartige Erwartung stützen könnte.“</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Kläger verkennt, dass - worauf bereits das Verwaltungsgericht zutreffend abgestellt hat - ein Widerspruch nicht besteht, da sich die insoweit angestellten Prognosen zu unterschiedlichen Fragestellungen verhalten. Die aufgezeigten Möglichkeiten einer etwaigen Stabilisierung des klägerischen Zustandes bei Ausschöpfung der laufenden Behandlungsmaßnahmen beziehen sich ausweislich der unmittelbar zuvor in dem Gutachten festgestellten begrenzten Dienstfähigkeit von 50 % ausschließlich darauf, ob eine Stabilisierung oder gar eine Steigerung der begrenzten Dienstfähigkeit zukünftig zu erwarten ist. Insoweit äußern sich die Amtsärzte unter Bezugnahme auf die Vorgeschichte und Vorbegutachtung des Klägers überdies nur sehr zurückhaltend, indem sie (was der Zulassungsantrag unterschlägt) anfügen, dagegen bestünden „aus Vorgeschichte und Vorgutachten begründete Zweifel an hinreichender Motivation und Mitwirkung“ des Klägers. Damit steht die weitere vom Kläger hervorgehobene Aussage im Einklang, die sich zur Wiederherstellung der vollen Dienstfähigkeit verhält. Insoweit setzen sich die Amtsärzte ausdrücklich mit der Einschätzung der den Kläger behandelnden Ärzte auseinander, die eine Wiederherstellung der vollen Dienstfähigkeit in sechs bis acht Monaten in Aussicht stellen. Für eine solche positive Prognose fehlen nach der Einschätzung der Amtsärzte jedoch aus den bereits dargestellten Gründen jegliche Anhaltspunkte. Dies stellt indes keinen Widerspruch zu der geäußerten Skepsis dar, ob es dem Kläger gelingen werde, eine Teildienstfähigkeit von über 50 % zu erreichen, sondern korrespondiert gerade mit dieser. Die Amtsärzte machen im Rahmen beider Aussagen überdies deutlich, dass weitere medizinische Behandlungen der Beschwerden des Klägers möglich seien, diese jedoch die Annahme einer dadurch bedingten Steigerung bzw. gar Wiedererlangung der vollen Dienstfähigkeit des Klägers nicht rechtfertigten, da - wie sich in der Vergangenheit gezeigt habe - von einer verhaltens- und persönlichkeitsbedingt unzureichenden Behandlungsmotivation seitens des Klägers auszugehen sei. Dies ist ohne weiteres nachvollziehbar.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">d) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung begründet auch nicht das Vorbringen des Klägers, das amtsärztliche Gutachten sei unter Berücksichtigung der gestellten Diagnosen und den daraus abgeleiteten Auswirkungen auf seine Dienstfähigkeit nicht nachvollziehbar.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">(1) Er beanstandet, das nach dem amtsärztlichen Gutachten festgestellte chronische Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren liege nicht vor, weil der Amtsarzt selbst das Vorliegen eines Morbus Sudeck bzw. eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms Typ I (CRPS I) verneint habe. Insoweit trifft die Annahme des Klägers bereits nicht zu, dass das diagnostizierte chronische Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren das Bestehen eines CRPS I voraussetze, das aber von den Amtsärzten ausgeschlossen worden sei. Das Gegenteil ist der Fall. Die Amtsärzte haben in dem Gutachten nachvollziehbar dargelegt, dass sie das Vorliegen eines CRPS I verneinen, weil eine andere Diagnose für die vom Kläger dargestellten Symptome andauernder Schmerzen im rechten Arm/der rechten Hand in Form des chronischen Schmerzsyndroms mit somatischen und psychischen Faktoren vorliege. Es handelt sich mithin um eine eigenständige Diagnose, die gerade zum Ausschluss des CRPS I führt. Denn das sog. 4. Budapest-Kriterium, dessen Vorliegen für die Diagnose eines CRPS I unter anderem erforderlich ist, setzt voraus, dass keine andere Diagnose die beklagten Schmerzen (besser) erklärt. Dies ist nach den Feststellungen der Amtsärzte indes der Fall, da sowohl die von dem Kläger geschilderten Leiden in Form von generell den Körper betreffenden Schmerzen als auch die polizei- und privatärztlich vorbeschriebene depressive sowie somatoforme Störung die Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren begründeten. Für diese Diagnose spreche auch, dass die Schmerzen und Depressionen sich gegenseitig bedingten und verstärkten. Das Schmerzerleben in der rechten Hand/am rechten Arm könne hiervon nicht getrennt werden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Nachvollziehbarkeit der amtsärztlichen Diagnose steht auch nicht entgegen, dass die Amtsärzte festgestellt haben, es bestehe eine weitgehend freie Beweglichkeit und es gebe keine objektiven Anhalte einer dauernden Gebrauchsminderung des rechten Arms oder der rechten Hand. Denn eine entsprechende körperliche Bewegungseinschränkung setzt die gestellte Diagnose - anders als dies etwa bei CRPS I regelmäßig der Fall ist - nicht voraus. Eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren zeichnet nach F45.41 der 10. Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) vielmehr ein seit mindestens sechs Monaten bestehender Schmerz in einer oder mehreren anatomischen Regionen aus, der seinen Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung hat. Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn. Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Der Schmerz wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht. Danach ist lediglich die Ursache des Schmerzes physiologischer Natur, erklärt hingegen nicht dessen Anhalten nach Abheilung der Ausgangserkrankung, hier etwa der Operation am Karpaltunnel, und geht entsprechend auch nicht notwendigerweise mit Bewegungseinschränkungen einher.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das Fehlen von Bewegungseinschränkungen stellt auch die Feststellung der eingeschränkten Dienstfähigkeit des Klägers nicht in Frage. Denn aus der gutachterlichen Stellungnahme ergibt sich, dass die vom Kläger empfundenen Schmerzen zu einer reduzierten psychischen Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit führen, die seine Dienstfähigkeit einschränken. Auswirkungen auf die körperliche Leistungsfähigkeit stellen die Amtsärzte dagegen gerade nicht fest. Die Schlussfolgerung der Amtsärzte, unter anderem diese Erkrankung stehe der Annahme entgegen, der Kläger werde im Prognosezeitraum seine volle Dienstfähigkeit wiedererlangen, ist auch vor dem bereits dargestellten Hintergrund nachvollziehbar, dass das Krankheitsbild einer chronischen Schmerzstörung schon seit mehreren Jahren besteht, in denen der Kläger krankheitsbedingt keinen Dienst verrichtet hat, und er ausweislich der gutachterlichen Feststellungen keine neuen Therapieansatz dargelegt hat, der eine positive Veränderung nahelegen würde.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">(2) Das Verwaltungsgericht hat auch die in dem Gutachten festgestellte depressive Erkrankung zutreffend der Bewertung einer nur begrenzt bestehenden Dienstfähigkeit des Klägers zugrunde gelegt.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger ist zwar zuzustimmen, dass die Ausführungen in dem Gutachten zu seiner depressiven Symptomatik knapp gehalten sind. Ein Widerspruch zwischen diesen, der gestellten Diagnose und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen liegt hingegen nicht vor. Zudem vermitteln die gutachterlichen Ausführungen insbesondere in der Gesamtschau mit den ebenfalls als Erkenntnismitteln zur Verfügung stehenden - gerade auch - privatärztlichen Bescheinigungen sowie dem Vorbringen des Klägers eine hinreichende Informationsgrundlage für die Entscheidung über die Dienstfähigkeit. Insoweit ist es nämlich, auch wenn die Entscheidung über die begrenzte Dienstfähigkeit auf der Grundlage einer amtsärztlichen Untersuchung nach Maßgabe der §§ 33 Abs. 1, 34 Abs. 1 LBG NRW erfolgt, Aufgabe der Behörde und ggfs. des Gerichts, die begrenzte Dienstfähigkeit festzustellen. Die Einschaltung eines Arztes bedeutet nicht, dass diesem die Entscheidungsverantwortung für die Beurteilung der Dienstfähigkeit übertragen wird. Aufgabe des Arztes ist es (lediglich), den Gesundheitszustand des Beamten festzustellen und medizinisch zu bewerten. Der Amtsarzt wird nur als sachverständiger Helfer tätig, um den zuständigen Stellen diejenige Fachkenntnis zu vermitteln, die für deren Entscheidung erforderlich ist.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2017 - 2 A 5.16 -,</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">juris Rn. 25.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Eine solche hinreichende Informationsgrundlage bietet das amtsärztliche Gutachten für die Entscheidung, welche Auswirkungen die psychische Erkrankung auf die Dienstfähigkeit des Klägers hat. Die Amtsärzte schildern zunächst, dass dem Kläger die gerichtlichen Auseinandersetzungen Depressionen bereiteten. Sodann stellen sie fest, dass er von keiner für eine depressive Erkrankung typischen Beschwerdesymptomatik - von einer Grübelneigung abgesehen - berichte. Auch der psychopathologische Querschnittsbefund in allen Untersuchungs-Items sei regelrecht geblieben. Allerdings bestehe ein ausgeprägtes subjektives Kränkungserleben im beruflichen Bereich vor dem Hintergrund einer deutlich narzisstischen Persönlichkeitsstruktur. Diagnostiziert wurde eine rezidivierende depressive und somatofome Störung.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Diese Diagnose und die daraus folgenden Verwendungseinschränkungen sind insbesondere unter Berücksichtigung der Krankengeschichte des Klägers nachvollziehbar. Nach F33 ICD-10 handelt es sich bei einer rezidivierenden depressiven Störung um eine solche, die durch wiederholte depressive Episoden charakterisiert ist. Eine somatoforme Störung nach F45 ICD-10 liegt vor bei wiederholter Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Aus dem amtsärztlichen Gutachten geht danach in Übereinstimmung mit der gestellten Diagnose hervor, dass der Kläger seit Jahren an depressiven Episoden leidet, es insbesondere zu Phasen depressiven Krankheitserlebens kommt und jedenfalls nicht sämtliche körperlichen Beschwerden physiologisch begründbar sind. Diese Feststellungen entsprechen sowohl den privatärztlichen Bescheinigungen des Klägers als auch den Feststellungen in vorangegangenen amtsärztlichen Gutachten. Bereits im Jahr 2006 hat der den Kläger über ein Jahrzehnt behandelnde Arzt für Neurologie und Psychiatrie I.       eine somatoforme Störung sowie eine depressive Episode diagnostiziert. Die Diagnose einer depressiven Erkrankung bestand im Jahr 2007 ausweislich privatärztlicher Atteste von Herrn I.       und des Arztbriefs der Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie O.      fort, die darüber hinaus die von den Amtsärzten angesprochene persönlichkeitsstrukturelle und „realkonfliktorische“ Problematik festgestellt hat, die die Behandelbarkeit der psychischen Erkrankung erschwere und eine fachpsychiatrische Behandlung in einer Tagesklinik erforderlich mache. Auch in dem amtsärztlichen Gutachten vom 17.8.2012 hat der Amtsarzt Dr.     F.     festgestellt, der Kläger leide an rezidivierenden depressiven Episoden unterschiedlicher Schwergerade, bereits seit dem Jahr 2001 befinde er sich in neurologisch/psychiatrischer Behandlung wegen depressiven Störungen. In dem amtsärztlichen Gutachten vom 28.11.2014 wird ebenfalls eine - wenn auch weitgehend remittierte - depressive Entwicklung diagnostiziert. Die Diagnose wird bis zur Festsetzung der begrenzten Dienstfähigkeit auch weiterhin privatärztlich etwa am 22.6. und 21.9.2017 durch Dr. N.  , Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, gestellt. Danach wird deutlich, dass der Kläger bereits seit Jahren wiederkehrend an depressiven Episoden unterschiedlicher Intensität und angesichts seiner Bemühungen um eine entsprechende Behandlung bei Dr. L.    - auch nach eigenem Empfinden - weiterhin leidet. Insbesondere in dieser Gesamtschau und der dargestellten Charakteristik einer rezidivierenden depressiven Störung ist nicht zu beanstanden, dass die Amtsärzte das (weitere) Vorliegen dieser psychischen Erkrankung angenommen haben, auch wenn der Kläger in der amtsärztlichen Untersuchung im Januar 2017 selbst akut von keiner typischen Beschwerdesymptomatik berichtet hat.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">(3) Soweit der Kläger das Vorliegen der weiteren bei ihm diagnostizierten Erkrankungen (Migräne, Hypakusis bei Tinnituserleben, endogenes Asthma bronchiale, letzteres medikamentös gut kontrolliert) bzw. deren Auswirkungen auf seine Dienstfähigkeit bestreitet, kommt es darauf, wie er selbst zutreffend feststellt, nicht an. Denn die begrenzte Dienstfähigkeit folgt ausweislich der amtsärztlichen Feststellungen, auf die sich das beklagte Land und das Verwaltungsgericht insoweit gestützt haben, bereits aus den zuvor genannten chronischen Erkrankungen, die die psychische Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit des Klägers entsprechend einschränken.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">II. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Sache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor. Derartige Schwierigkeiten weist eine Rechtssache auf, wenn sie voraussichtlich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht größere, das heißt überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht. Dies ist nach den vorstehenden Ausführungen zu verneinen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht aus den vom Verwaltungsgericht dargelegten Gründen auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 10.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
346,862
ovgnrw-2022-09-29-6-b-66722
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6 B 667/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:34"
"2022-10-17T11:10:55"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0929.6B667.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag im Wesentlichen mit folgender Begründung abgelehnt: Der gestellte Antrag,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">"Feststellung der aufschiebenden Wirkung der heutigen Klage entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO oder vorläufiger Aufschub der Rechtswirkungen der (bis zum 28.02.2022 befristeten) Zuordnung des Fachbereichs III zu dem Dezernat des Bürgermeisters gemäß dessen Entscheidung vom 12.11.2021 zu Ziffer 6.) nach § 123 Abs. 1 VwGO,</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">hilfsweise vorläufige Untersagung der Aufrechterhaltung der Zuordnung des Fachbereichs III zu dem Dezernat des Bürgermeisters über den 28.02.2022,</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">hilfsweise den 30.04.2022,</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">hilfsweise einen vom Gericht zu bestimmenden Zeitpunkt hinaus",</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">bedürfe im Interesse des Antragstellers an möglichst umfassendem und sachangemessenem Rechtsschutz der Auslegung. Streitgegenständlich sei die am 12.11.2021 getroffene Entscheidung des Bürgermeisters der Antragsgegnerin, den bis zu diesem Zeitpunkt dem Dezernat des Antragstellers zugeordneten Fachbereich III der Verwaltung der Antragsgegnerin zunächst bis zum 28.2.2022 dem Dezernat I des Bürgermeisters zuzuordnen. Darüber hinaus sei im Interesse des Antragstellers auch die weitere Entscheidung des Bürgermeisters vom 28.2.2022 in das Rechtsschutzgesuch einzubeziehen, die Zuordnung über den ursprünglichen Befristungszeitraum hinausgehend weiterhin so lange zu belassen, bis sich eine neue Fachbereichsleitung im Fachbereich III etabliert habe. Gegen die Entscheidung des Bürgermeisters, den Geschäftskreis des Beigeordneten neu zuzuschneiden, dürfte Rechtsschutz über § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu suchen sein. Denn die streitentscheidende Organisationsentscheidung des Bürgermeisters stelle eine innerdienstliche Verfügung dar, der der Verwaltungsaktcharakter fehlen dürfte. Es könne offenbleiben, ob der einstweilige Rechtsschutzantrag mit dem danach wohl sachdienlichen Antrag,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">der Antragsgegnerseite im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren 12 K 3365/21 einen Geschäftsverteilungsplan aufzustellen, in welchem der Fachbereich III der Verwaltung der Antragsgegnerin dem Dezernat II und Geschäftskreis des Antragstellers zugeordnet ist,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">gegen den Bürgermeister der Antragsgegnerin als handelndes Gemeindeorgan oder gegen die Antragsgegnerin als Rechtsträger zu richten sei, denn der Antrag sei jedenfalls unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller habe schon keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Insoweit gälten wegen der zumindest partiellen Vorwegnahme der Hauptsache erhöhte Anforderungen. Schlechthin unzumutbare Nachteile für den Antragsteller, die sich auch beim späteren Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht mehr ausgleichen lassen, seien nicht glaubhaft gemacht. Soweit der Antragsteller auf eine "Rufschädigung" verweise, sei dem zu begegnen, dass die Herausnahme des Fachbereichs III aus seinem Dezernat lediglich vorübergehend sei. Ein endgültiger Rechtsverlust sei damit für ihn nicht zu befürchten.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Es bestünden zumindest gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller auch keinen Anordnungsanspruch auf vorübergehende erneute Zuweisung des Fachbereichs III zu seinem Geschäftskreis glaubhaft gemacht habe. Ob die durch Organisationsverfügungen vom 12.11.2021 und 28.2.2022 erfolgte organisationsrechtliche Festlegung seines Geschäftsbereichs den Anspruch des Antragstellers auf eine seinem Amt und seiner Funktion als Beigeordneter angemessene Beschäftigung verletze, könne auf der Grundlage des der Kammer vorliegenden Aktenvorgangs nicht abschließend geklärt werden. Die insofern streitentscheidende Frage, ob auch das dienstliche Verhalten des Antragstellers zu den im Jahr 2021 offenkundig gewordenen Konflikten im Fachbereich III der Antragsgegnerin so beigetragen habe, dass es gerechtfertigt erscheine, ihn vorübergehend von seiner Funktion als für den Fachbereich zuständigen Dezernenten zu entbinden, bedürfe weitergehender Sachverhaltsermittlungen, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssten.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Eine Verletzung des Anspruchs des Antragstellers auf amtsangemessene Beschäftigung ergebe sich zunächst nicht daraus, dass ein bestimmter sachlicher Aufgabenbereich - wie der dem Antragsteller seit dem 1.1.2005 übertragen gewesene Geschäftsbereich mit zwei Fachbereichen (Fachbereiche II und III) und drei Sonderbudgets - Bestandteil der persönlichen Rechtsstellung des Antragstellers, nämlich seines Amtes im statusrechtlichen Sinne geworden und insofern erhöht gegen einen Entzug geschützt wäre. Die Festlegung des Geschäftsbereichs/-kreises der einzelnen Beigeordneten betreffe allein den dienstlichen Aufgabenbereich, d. h. das Amt im konkret-funktionellen Sinne. Sachlich begründbare Änderungen seines Aufgabenbereichs müsse ein Beamter - prinzipiell bis hin zur Willkürgrenze - hinnehmen, sofern ihm im Ergebnis noch ein amtsangemessener Aufgabenbereich verbleibe. Bei der (Neu-) Verteilung der Aufgaben auf die vorhandenen Beigeordnetenstellen müsse lediglich gesichert sein, dass dem Beigeordneten ein Geschäftskreis mit Verwaltungsaufgaben zugeordnet werde, die nach Art und Umfang und der Zahl der zu ihrer Bearbeitung eingesetzten Bediensteten eine eigenständige Leitungsfunktion trügen, und zudem auch im Gesamtgefüge der jeweiligen Verwaltung ein solches Gewicht hätten, dass sie die Bildung einer „Einzelverwaltung" mit einer kommunalverfassungsrechtlich herausgehobenen Führungsposition angemessen erscheinen ließen. Jede Änderung des Geschäftsbereichs sei (nur) aus sachlichen Erwägungen zulässig. Bei der gerichtlichen Überprüfung der Festlegung bzw. Änderung des Geschäftsbereichs seien die Gerichte auf eine Kontrolle der "Vertretbarkeit" der Organisationsentscheidung gemessen an den genannten Maßstäben beschränkt. Raum für eine gerichtliche Beanstandung der konkreten Aufgabenverteilung bestehe im Wesentlichen in Fällen einer eklatanten Unausgewogenheit des Dezernatszuschnitts. Davon sei auszugehen bei greifbarer Unterschreitung eines Mindeststandards amtsangemessener Aufgaben, einer sonstigen greifbaren Fehlgewichtung des Zuschnitts der einzelnen Beigeordnetendezernate sowie einer nicht an Sachgründen orientierten und deswegen ermessensmissbräuchlichen Änderung der bestehenden Zuordnung.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die dem Antragsteller in seinem Leitungsbereich aktuell zugewiesenen Aufgabenbereiche - Fachbereich II "Finanzielle Aufgaben" mit den Bereichen Finanzen, Steuern, Gemeindekasse, Liegenschaften, Gemeindewerke (kaufmännische und technische Leitung), Wirtschaftlichkeitsberechnung und Controlling sowie zusätzlich hierzu die Sonderbudgets Bad, Märkte und Friedhöfe - hätten insgesamt ein Gewicht, das der Stellung eines kommunalen Beigeordneten in der Verwaltung einer nordrhein-westfälischen Gemeinde mit etwa 7.500 Einwohnern, (noch) hinreichend entspreche. Auch eine eklatante Unausgewogenheit des aktuellen Zuschnitts des von dem Antragsteller geleiteten Dezernats sei bei summarischer Prüfung nicht festzustellen. Der im Dezernat des Antragstellers verbliebene Fachbereich II "Finanzielle Aufgaben" begründe die Entscheidungszuständigkeit des Antragstellers für ein klassisches fiskalisches Ressort, in dem neben der Verantwortung für die Finanzen der Antragsgegnerin auch die Zuständigkeit für die technische Leitung ihrer Gemeindewerke integriert sei. Die dem Antragsteller insofern zukommenden Gestaltungsmöglichkeiten seien in diesem Dezernat mutmaßlich sogar mannigfaltiger als diejenigen, die der im Dezernat I angesiedelte Fachbereich I "Allgemeine Aufgaben" (Organisation, Gemeindeverfassung, Personal, Fremdenverkehr, Bürgerberatung, TUIV, Druckerei, Wahlen) dem Bürgermeister eröffne. Darüber hinaus zähle zum Dezernat des Antragstellers die Zuständigkeit für die Sonderbudgets Bad, Märkte und Friedhöfe, was ihm eine gegenüber der Stellung der Leiterin des Fachbereichs II herausgehobene Funktion verleihe. Zudem habe der Bürgermeister ihn ermächtigt, gemäß § 72 Abs. 3 Satz 1 GO NRW in seinem Geschäftskreis die dem Bürgermeister zukommende Kompetenz für dienst- und arbeitsrechtliche Entscheidungen auszuüben. Auch die vom Antragsteller nach wie vor ausgeübte Funktion des Kämmerers verdeutliche seine herausgehobene Position.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ob auch ein sachlicher Grund für die vorübergehende Ausgliederung des Fachbereichs III aus dem Dezernat des Antragstellers vorgelegen habe (und noch vorliege), könne nicht abschließend beurteilt werden. Es gebe jedenfalls Anhaltspunkte dafür, dass die im Herbst 2021 aufgetretenen oder eskalierten Unstimmigkeiten zwischen im Fachbereich III "Aufgaben für Ordnung und Soziales" beschäftigten Bediensteten der Antragsgegnerin und der Fachbereichsleiterin Anlass für die zeitlich befristete Herausnahme dieses Fachbereichs aus dem Dezernat des Antragstellers gegeben haben könnten. Hierzu hat das Verwaltungsgericht insbesondere auf die E-Mails der Fachbereichsleiterin vom 5.11.2021 an den Bürgermeister und des Bürgermeisters an den Antragsteller vom 12.11.2021 verwiesen. Damit sei ein Spannungsverhältnis zwischen der Fachbereichsleiterin und den Beschäftigten des Fachbereichs III beschrieben, das geeignet sei, die sachangemessene Bearbeitung der im Fachbereich anfallenden Aufgaben in Frage zu stellen, und in das vermutlich auch der Antragsteller einbezogen gewesen sei. Allein der Umstand, dass Mitarbeitende des Fachbereichs III augenscheinlich Angst davor gehabt hätten, die im Fachbereich aufgetretenen Probleme mit dem Antragsteller zu besprechen, könne eine vorübergehende Neuzuordnung des Fachbereichs III zum Dezernat des Bürgermeisters rechtfertigen, um zu einer Verbesserung des Arbeitsklimas auf Mitarbeiterebene beizutragen. Denn Beeinträchtigungen des täglichen Dienstbetriebs stellten regelmäßig unabhängig von der Frage, bei wem ein eventuelles Verschulden an den Spannungen liege bzw. überwiege, einen sachlichen Grund für die Umsetzung des an den Störungen des Dienstbetriebs nicht unbeteiligten Beamten dar.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kammer gehe davon aus, dass die Spannungsverhältnisse im Fachbereich tatsächlich aufgetreten seien. Dies belegten die Darlegungen in dem nach Durchführung eines Konfliktlösungsverfahrens erstellten Erfahrungsbericht des Herrn E.      C.    vom 00.1.2022. Eine tendenziöse Abfassung des Berichts sei nicht zu erkennen. Allerdings finde die abschließende Bewertung des Mediators, die Befassung des Bürgermeisters mit der Problematik unter Umgehung des Antragstellers als eigentlich zuständigem vorgesetzten Dezernenten sei auf fehlendes Vertrauen seiner Objektivität in dem aufgetretenen Konflikt zurückzuführen, allein in den sonstigen Ausführungen des Berichts keine hinreichend tragfähige Grundlage für die vorläufige Herausnahme des betreffenden Fachbereichs aus dem Geschäftskreis des Antragstellers. Die Aussagen in dem Bericht den Antragsteller betreffend beschränkten sich auf die Wiedergabe der diesbezüglichen Bekundungen der Beschäftigten. Der Mediator verhalte sich insbesondere nicht zu dem Eindruck, den er selbst aus dem am 0.1.2022 mit dem Antragsteller geführten Gespräch im Hinblick auf dessen "Rolle" in der aufgetretenen Konfliktsituation gewonnen habe. Zum Inhalt dieses Gespräches habe sich allerdings auch der Antragsteller nicht hinreichend geäußert. Eine Prüfung der Tragfähigkeit der von dem Mediator in dem Bericht niedergelegten Würdigung sei der Kammer auf der Grundlage des ihr zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials damit nicht möglich. Die in den Verwaltungsvorgängen (ansonsten) zum Thema "Konflikt im Fachbereich III" vorzufindenden Aufzeichnungen ermöglichten eine derartige Prüfung ebenfalls nicht. So bleibe unklar, wann und in welcher Form Beschwerden aus dem Fachbereich an den Bürgermeister herangetragen worden seien. Gleiches gelte für den Inhalt des wohl am 5.11.2021 geführten Gesprächs, in dem der Antragsteller geäußert haben solle, die Absicht des Bürgermeisters, die Fachbereichsleiterin III vorerst von ihren Aufgaben zu entbinden, nicht mitzutragen. Der Antragsteller habe hierzu im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ebenfalls nichts vorgetragen. Auch die Stellungnahme des Personalrats der Antragsgegnerin vom 26.1.2022, der zufolge aus dem Kreis der Mitarbeitenden gewünscht worden sei, die Zuordnung des Fachbereichs III zum Dezernat des Bürgermeisters über den 28.2.2022 hinaus zu verlängern, helfe nicht weiter. Dass sich die Situation im Fachbereich III zwischenzeitlich derart verbessert habe, dass eine Rückführung in das Dezernat des Antragstellers in Betracht käme, ohne dass es zu einer erneuten Störung des Arbeitsklimas käme, sei nicht dargetan.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls lasse es aber eine allgemeine Interessen- und Folgenabwägung nicht geboten erscheinen, die beantragte vorläufige Regelung zu erlassen. Denn das für die Antragsgegnerin streitende Interesse an einem ausgewogenen Arbeitsklima im Fachbereich III habe ein höheres Gewicht als das Interesse des Antragstellers an der vorläufigen Beibehaltung eines bestimmten dienstlichen Aufgabenbereichs.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">1. Der Antragsteller macht zunächst sinngemäß geltend, der vom Verwaltungsgericht im Wege der Auslegung ermittelte und als sachdienlich zugrunde gelegte Antrag erfasse sein Begehren nicht zutreffend. Insoweit ist allerdings schon nicht den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt, inwieweit das der Fall sein und welche Konsequenzen für die Entscheidung des Streitfalls daraus folgen sollen. Soweit der Antragsteller darauf verweist, ihm gehe es nicht um eine neue Entscheidung, sondern um die Aufhebung der "alten" Maßnahme in Form der Entscheidungen vom 12.11.2001 zu Ziffer 6. und vom 28.2.2022, hat das Verwaltungsgericht dies der Sache nach seiner Prüfung zugrunde gelegt. Dies belegt dessen eingehende Untersuchung einer ermessensmissbräuchlichen Änderung des Dezernatszuschnitts ebenso wie etwa die soeben wiedergegebene Feststellung, es sei nicht angezeigt, "die beantragte vorläufige Regelung zu erlassen, d. h. die vorgenommene Dezernatsneuverteilung vorläufig rückgängig zu machen". Insoweit geht auch der Beschwerdevortrag ins Leere, dem Antragsteller gehe es um eine konkret benannte Maßnahme aus der Vergangenheit und nicht um eine in der Zukunft erst noch zu treffende Maßnahme.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Zur mit der Beschwerde nur angerissenen Frage des statthaften Antrags sind nähere Ausführungen schon mangels näherer Darlegungen der Beschwerde entbehrlich (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Im Übrigen geht auch der Senat davon aus, dass mangels Verwaltungsaktqualität der angegriffenen Maßnahme nicht ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, sondern ein solcher nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft ist. Die Änderung des Geschäftskreises des Antragstellers stellt - ebenso wie Änderungen des Aufgabenbereichs von Beamten auch im Übrigen, die deren individuelle Rechtsstellung nicht notwendigerweise berühren - eine lediglich innerorganisatorische Maßnahme dar.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.7.1990 - 12 B 390/90 -, Eildienst Städtetag NW 1991, 399; Külpmann in Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Auflage 2017 Rn. 1379 m. w. N.; Müller, DÖD 2005, 55 (60); auch etwa BVerwG, Urteile vom 12.2.1981 - 2 C 42.78 -, DÖD1982, 21 = juris Rn. 19 und vom 1.6.1995 - 2 C 20.94 -, BVerwGE 98, 334 = juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2. Ob - wie die Beschwerde weiter geltend macht - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ein Anordnungsgrund gegeben ist, kann dahinstehen, weil die Beschwerde jedenfalls nicht die Annahme erschüttert, die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs seien nicht glaubhaft gemacht (vgl. nachfolgend 3.).</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">3. Der Antragsteller hat auch mit der Beschwerde die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a. Zunächst zieht die Beschwerde die Regelungsbefugnis des Bürgermeisters nicht erfolgreich in Zweifel. Dem Bürgermeister der Antragsgegnerin stand hinsichtlich der Neuordnung des Fachbereichs III des Geschäftskreises des Antragstellers eine solche Befugnis zu, da der Rat sein Recht aus § 73 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GO NRW, den Geschäftskreis des Beigeordneten festzulegen, nicht wahrgenommen hatte. Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 4 GO NRW gilt dann die Regelung des § 62 Abs. 1 Satz 3 und 4 GO NRW, nach denen der Bürgermeister die Geschäfte der Verwaltung leitet und verteilt (Satz 3), wobei er bestimmte Aufgaben sich selbst vorbehalten und die Bearbeitung einzelner Angelegenheit selbst übernehmen kann (Satz 4).</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der dagegen gerichtete Beschwerdevortrag, für das Fehlen einer Festlegung durch den Rat gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GO NRW bestünden "keine Anhaltspunkte"; das Verwaltungsgericht habe sich insoweit lediglich auf Spekulationen gestützt, greift nicht durch. Es wäre insoweit an dem Antragsteller gewesen aufzuzeigen, dass der Rat entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts eine entsprechende Festlegung vorgenommen hat. Dafür ist aber weder etwas dargelegt noch sonst ersichtlich. Im Gegenteil hat der Antragsteller sowohl in seinem Widerspruch vom 19.11.2021 als auch in der Antragsschrift vom 20.12.2021 selbst ausgeführt, sein Geschäftskreis sei von dem Bürgermeister festgelegt worden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Auch der Hinweis der Beschwerde auf die Zuständigkeit des Rates gemäß § 41 Abs. 1 GO NRW geht fehl. Danach ist der Rat der Gemeinde für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zuständig, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. Mit der Bestimmung des § 73 Abs. 1 GO NRW ist hinsichtlich der Festlegung der Geschäftskreise der Beigeordneten indes eine spezielle Regelung getroffen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Zu Unrecht verweist die Beschwerde ferner darauf, aus § 17 der Hauptsatzung der Antragsgegnerin sei abzuleiten, dass Entscheidungen, die einen Beigeordneten beträfen, nicht allein vom Bürgermeister getroffen werden könnten. In Abs. 1 der Vorschrift sei geregelt, dass Entscheidungen für Bedienstete in Führungspositionen, die das beamtenrechtliche Grundverhältnis oder das Arbeitsverhältnis zur Gemeinde veränderten, der Haupt- und Finanzausschuss im Einvernehmen mit dem Bürgermeister treffe. Diese Regelung gelte auch für Beigeordnete; sie gehe der Regelung in § 73 Abs. 3 Satz 1 GO NRW vor. Dem ist schon deshalb nicht zu folgen, weil weder dargelegt noch sonst ersichtlich ist, dass das beamtenrechtliche Grundverhältnis des Antragstellers betroffen ist, wofür § 17 Abs. 1 Satz 2 der Hauptsatzung die Fälle der Ernennungen, Entlassungen und Zurruhesetzungen benennt. Ein Arbeitsverhältnis ist (offensichtlich) nicht gegeben. Darüber hinaus sind Bedienstete in Führungspositionen im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 1 der Hauptsatzung gemäß Satz 3 dieser Bestimmung Bedienstete, die dem Bürgermeister oder einem anderen Wahlbeamten (Beigeordneten oder diesem in der Führungsfunktion vergleichbaren Bediensteten) unmittelbar unterstehen. Der Beigeordnete selbst gehört nicht zu diesem Personenkreis.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig greift der Beschwerdevortrag durch, die angegriffene Maßnahme sei als "Personalangelegenheit" zu charakterisieren, für die in der "Zuständigkeitsbegrenzung für die Ausschüsse des Rates der Gemeinde F.           2020 bis 2025" eine Zuständigkeit des Haupt- und Finanzausschusses vorgesehen sei, weil sie mit dem Ausscheiden einer Fachbereichsleiterin und der Tätigkeit eines neuen Fachbereichsleiters im Zusammenhang stehe. Die Zuständigkeitsbegrenzung (gemeint ist in der Sache wohl eine Zuständigkeitsabgrenzung) setzt voraus, dass der Rat bzw. seine Ausschüsse zuständig wäre(n), was ausgehend vom Vorstehenden indes nicht der Fall ist. Abgesehen davon legt die Beschwerde nicht dar, dass der hier allein streitgegenständliche Dezernats(neu-)zuschnitt eines Beigeordneten eine Personalangelegenheit im Sinne der Zuständigkeitsbegrenzung ist.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">b. Die Beschwerde beanstandet ferner ohne Erfolg die Feststellung des Verwaltungsgerichts, der verbleibende Aufgabenbereich des Antragstellers als der Besoldungsgruppe A 14 zugeordneter Beigeordneter habe ein noch amtsangemessenes Gewicht.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht ist insoweit zu Recht von den Grundsätzen des vormals zuständigen 1. bzw. 12. Senats des beschließenden Gerichts ausgegangen, die auch der Antragsteller nicht in Frage stellt. Danach ist aus der Kompetenznorm des § 73 Abs. 1 GO NRW zu schließen, dass hinsichtlich der Festlegung der Geschäftskreise der Beigeordneten ein Ermessensspielraum besteht, und enthält sich die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung im Übrigen einer Aussage dazu, welche Mindestanforderungen an den Aufgabenkreis von Beigeordneten zu stellen sind. Bei der (Neu-) Verteilung der Aufgaben auf die vorhandenen Beigeordnetenstellen - die jederzeit möglich ist - muss grundsätzlich</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">- von möglichen, hier ersichtlich nicht gegebenen Ausnahmefällen abgesehen, vgl. dazu Stober, RiA 1990, 157 (165) -</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">lediglich gesichert sein, dass dem Beigeordneten ein Geschäftskreis zugeordnet wird, in dem Verwaltungsaufgaben zusammengefasst sind, die nach Art und Umfang und der Zahl der zu ihrer Bearbeitung eingesetzten Bediensteten eine eigenständige Leitungsfunktion tragen, und zudem auch im Gesamtgefüge der jeweiligen Verwaltung ein solches Gewicht haben, dass sie die Bildung einer "Einzelverwaltung" mit einer kommunalverfassungsrechtlich herausgehobenen Führungsposition als angemessen erscheinen lassen. Die Gerichte sind auf die Kontrolle der Vertretbarkeit dieser Organisationsentscheidung gemessen an den angeführten ermessensleitenden Maßstäben beschränkt. Den Gemeinden und den für sie handelnden Organen ist bei der Verteilung der Beigeordnetenaufgaben ein nicht zu gering bemessener Spielraum zuzuerkennen. Dieser ist allein in Fällen greifbarer Unterschreitung der Zuweisung für einen Beigeordneten geeigneter Aufgabenfelder (im Sinne eines Mindeststandards von amtsangemessenen Aufgaben) bzw. einer sonstigen greifbaren Fehlgewichtung des Zuschnitts der einzelnen Beigeordnetendezernate überschritten. Raum für eine gerichtliche Beanstandung der konkreten Aufgabenverteilung besteht demgemäß im Wesentlichen in Fällen einer eklatanten Unausgewogenheit des Dezernatszuschnitts.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.2.2011 - 1 A 938/09 -, juris Rn. 32 ff., insb. Rn. 40 und 45 m. w. N.; Beschluss vom 20.7.1990 - 12 B 390/90 -, a. a. O., 399 (400).</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Das Vorliegen solcher Gegebenheiten - einer greifbaren Unterschreitung eines Mindeststandards amtsangemessener Aufgaben bzw. der eklatanten Unausgewogenheit des Dezernatszuschnitts - zeigt das Beschwerdevorbringen nicht auf. Der Antragsteller begründet seine Auffassung, für eine Leitungsfunktion, wie sie für einen Beigeordneten der Besoldungsgruppe A 14 amtsangemessen sei, müssten mindestens zwei Organisationseinheiten vorhanden sein, nicht weiter; mit diesem Postulat fordert er - beim Vorliegen von nur vier Fachbereichen wie im Streitfall - über die vorgenannten Maßgaben hinaus der Sache nach eine annähernde Gleichgewichtung der Geschäftsbereiche von Bürgermeister und Beigeordnetem, ohne dies rechtlich zu fundieren. Dass das Dezernat des Bürgermeisters - vorübergehend - mehr Fach- bzw. deutlich mehr Aufgabenbereiche und damit auch Verwaltungs- bzw. Außenstellen umfasst als dasjenige des Antragstellers, genügt für die erforderliche eklatante Unausgewogenheit nicht.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dem Antragsteller ist weiterhin der bedeutende Bereich "Finanzielle Aufgaben" mit den Einzelbereichen Finanzen, Steuern, Gemeindekasse, Liegenschaften, Gemeindewerke (kaufmännische und technische Leitung), Wirtschaftlichkeitsberechnung und Controlling und damit ein klassisches fiskalisches Ressort zugeordnet. Ferner nimmt er weiterhin das Schlüsselamt des Kämmerers wahr (vgl. §§ 80, 70 Abs. 1 Satz 1, 83 Abs. 1 Satz 3, 95 Abs. 5, 96 Abs. 1 Satz 4 GO NRW), das vom Verwaltungsgericht zu Recht als herausgehoben erachtet worden ist. Die Funktion des Kämmerers ist dem Dezernat eines Beigeordneten zuzurechnen, wenn er - wie hier - zum Kämmerer bestellt ist. Damit ist der Antragsteller gerade nicht gleichsam auf die Leitung eines Fachbereichs beschränkt, sondern durchaus mit übergreifenden Aufgaben betraut. Auf die Eingruppierung des Amtes eines Kämmerers, wenn dieses nicht von einem Beigeordneten wahrgenommen wird, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Aus dem vom Antragsteller zitierten Beschluss des ersten Senats des beschließenden Gerichts vom 19.12.2003 - 1 B 1750/03 -, NWVBl 2004, 348 = juris, ergibt sich im Übrigen nichts anderes; angesichts der Ausführungen unter Rn. 10 trifft das Gegenteil zu. Dass der Antragsteller, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, zudem durch die Übertragung der Kompetenz für dienst- bzw. arbeitsrechtliche Entscheidungen nach § 73 Abs. 3 Satz 1 GO NRW in seiner Leitungsfunktion gestärkt werde, räumt der Antragsteller ein; soweit er geltend macht, dies sei jedoch "für seine kommunalverfassungsrechtlich herausgehobene Führungskraft ohne Bedeutung", belässt er es bei der entsprechenden - und so nicht nachvollziehbaren - Rechtsbehauptung. Darüber hinaus setzt sich die Beschwerde auch in keiner Weise mit der Besonderheit des Streitfalls auseinander, wonach die Änderung des Dezernatszuschnitts von Vornherein zur Beruhigung und Befriedung der Konflikte im Fachbereich III erfolgt ist und damit nur als vorübergehend angelegt war und ist. Ob  - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, der Antragsteller aber in Abrede stellt - die Sonderbudgets Bad, Märkte und Friedhöfe und die technische Leitung des Wasserwerks in seinem Dezernat einen Aufgabenbereich von eigenständigem Gewicht darstellen, mag angesichts dessen auf sich beruhen.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">c. Entgegen der Auffassung der Beschwerde ist ferner nicht zu erkennen, dass die vorübergehende Ausgliederung des Fachbereichs III aus dem Dezernat des Antragstellers sachgrundfrei (und damit ermessensmissbräuchlich bzw. willkürlich) erfolgt ist.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Zu diesem Aspekt OVG NRW, Urteil vom 21.2.2011 - 1 A 938/09 -, a. a. O. Rn. 45.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Nach summarischer Prüfung ist vielmehr anzunehmen, dass hinreichende Gründe für diese Maßnahme bestanden. Nach dem Vorbringen der Antragsgegnerin ist sie erfolgt, um im Fachbereich III bestehende Konflikte zu beruhigen und zu befrieden. Es bestehen nach Aktenlage und unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens keine Zweifel daran, dass diese Darstellung zutrifft, also weder daran, dass die Konfliktsituation gegeben war, noch daran, dass die vorübergehende Zuordnung des Fachbereichs III zum Dezernat des Bürgermeisters mit dem Ziel der Behebung der Konfliktlage erfolgt ist, der eine Zuordnung des Fachbereichs zum Dezernat des Bürgermeisters dienlich schien. Beides wird insbesondere bestätigt durch die E-Mails vom 12.11.2021 des Bürgermeisters an eine Reihe von Beschäftigten sowie an den Antragsteller. In letzterer führt der Bürgermeister aus, er sei zu der Einschätzung gelangt, dass eine Aufarbeitung der Konflikte im Fachbereich III eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen werde. Ebenso sei er der Auffassung, dass sie die Rückmeldungen von Frau C1.    - der damaligen Fachbereichsleiterin - ernst nehmen und ihrer Fürsorgepflicht gerecht werden müssten. Er halte es daher für den richtigen Weg, die Fachbereichsleiterin bis Ende Februar 2022 von Führungsaufgaben im Bereich zu entlasten und damit auch den Konflikt mit den Mitarbeitern zu beruhigen. Diese Maßnahme trage der Personalrat mit. Ergänzend solle ein Konfliktlösungsverfahren durchgeführt werden. Der Antragsteller habe in einem am Freitag zuvor geführten Gespräch verdeutlicht, diese Lösung nicht mitzutragen; andererseits hätten Mitarbeiter geäußert, dass sie Sorge hätten, die im Fachbereich aufgetretenen Probleme mit dem Antragsteller zu besprechen. Ohne zu bewerten, ob die Sorge berechtigt sei, habe er, der Bürgermeister, aufgrund dieser Aspekte entschieden, für den Zeitraum der Konfliktlösung den Fachbereich III seinem Dezernat zuzuordnen. Die Konfliktaufarbeitung ist in der Folge auch angegangen worden. Der Abschlussbericht des unter anderem als Schiedsmann tätigen Herrn C.    vom 31.1.2022, der mit dem Ziel der "Aufarbeitung der entstandenen Situation im Fachbereich III" als von außen kommender Vermittler in das Geschehen eingebunden worden ist, belegt ebenfalls und nachdrücklich einerseits, dass und welche Probleme im Fachbereich bestanden, und andererseits, dass die vorübergehende Zuordnung des Fachbereichs III zum Dezernat des Bürgermeisters - deren Aufrechterhaltung bis zur Etablierung einer neuen Fachbereichsleitung Herr C.    empfiehlt - als geeignetes Mittel angesehen werden konnte, die Konfliktsituation zu beruhigen und zu beheben.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Insoweit fügt sich, dass der Antragsteller im Verfahren nicht - insbesondere auch nicht mit der Beschwerde - die in den E-Mails des Bürgermeisters vom 12.11.2021 genannten Umstände substantiiert bestritten hat. Er hat weder das Bestehen eines Spannungsverhältnisses im Fachbereich III in Abrede gestellt, noch bestritten, dass die angegriffene Maßnahme von der Intention getragen war, den Konflikt zu beruhigen und zu beheben. Bereits in seinem Widerspruch vom 19.11.2021 hat der Antragsteller in erster Linie auf die - nach seiner Auffassung gegebene - Verletzung seiner Stellung als Beigeordneter verwiesen; dem Vorhandensein eines Spannungsverhältnisses zwischen der Fachbereichsleiterin und den Beschäftigten im Fachbereich III ist er nicht entgegengetreten. Soweit er die Darstellung der Antragsgegnerin bestritten hat - so ansatzweise etwa hinsichtlich des Inhalts des Gesprächs, das er am 24.1.2022 mit Herrn C.    geführt hat -, hat er es an näheren Angaben fehlen lassen, die ihm aber ohne Weiteres möglich gewesen wären.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Dass die Umverteilung der Aufgaben mit dieser Zielrichtung der Konfliktbehebung erfolgt ist, war auch nicht ermessensfehlerhaft. Bestehen - wie hier - Anhaltspunkte für das Bestehen einer Konfliktsituation von gewissem Gewicht in einem dienstlichen Bereich, ist es Aufgabe des Dienstherrn, dem entgegenzuwirken; dies entspricht einerseits dem öffentlichen Interesse an einer reibungslosen sachangemessenen Bearbeitung und Erledigung der in dem Bereich anfallenden Aufgaben und andererseits seiner Fürsorgepflicht gegenüber den Beschäftigten. In solchen Fällen dürfen Maßnahmen mit dem Ziel der Entschärfung und Beilegung des Spannungsverhältnisses, namentlich die Weg-Umsetzung einzelner Beamter, auch dann ergriffen werden, wenn die Beteiligungsbeiträge der einzelnen Beschäftigten - wie es häufig der Fall sein wird - nicht vollständig aufgeklärt oder auch noch weitgehend unklar sind.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Änderung der richterlichen Geschäftsverteilung und Zuweisung an anderen Spruchkörper BVerfG, Beschluss vom 25.8.2016 - 2 BvR 877/16 -, NVwZ 2017, 51 = juris Rn. 19, 22; zu Fällen der Umsetzung BVerwG, Beschluss vom 26.11.2004 - 2 B 72.04 -, Buchholz 235 § 9 BDO Nr. 41= juris Rn. 13, 15; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 3.4.2019 - OVG 4 B 15.18 -, juris Rn. 29, 35 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 21.3.2019 - 6 B 1459/18 -, juris Rn. 14 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Anders mag es liegen, wenn ausnahmsweise ohne Weiteres erkennbar ist, dass einen Beteiligten keinerlei Verantwortungsanteil in dem Konflikt trifft und auch sonst nicht anzunehmen ist, dass sein Verbleib bzw. das unveränderte Belassen seines Arbeitsbereichs die Konfliktbeilegung behindern oder dieser gar entgegenstehen wird. Von einer solchen Sachlage ist im Streitfall schon deshalb nicht auszugehen, weil der Antragsteller dies (auch) mit der Beschwerde nicht einmal selbst behauptet. Die Auffassung der Beschwerde, die Unklarheit über den Verantwortungsbeitrag des Antragstellers gehe zu Lasten der Antragsgegnerin, trifft demnach nicht zu.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Der Senat merkt allerdings an, dass die Tragfähigkeit der Erwägungen für die - von Vornherein als vorübergehend angelegte - Änderung des Dezernatszuschnitts voraussichtlich nicht mehr bis zum Ende des Jahres andauern dürfte, wie es von der Antragsgegnerin aber bislang angedacht ist. Die Situation hat sich zwischenzeitlich wesentlich verändert. Die ehemalige Fachbereichsleiterin, die - soweit erkennbar - im Zentrum der aufgetretenen Konflikte stand, hat das Beschäftigungsverhältnis zur Antragsgegnerin bereits zum Ende Januar 2022 beendet. Im Juni 2022 hat ein neuer Fachbereichsleiter die Aufgabe übernommen. Soweit die Antragsgegnerin - insofern ausgehend von der entsprechenden Empfehlung im C.    -Bericht - darauf verwiesen hat, dieser müsse sich nunmehr erst "in seiner Führungsverantwortung etablieren", ist davon auszugehen, dass der hierfür anzusetzende Zeitraum - vorbehaltlich neuer, dem Senat nicht bekannter Entwicklungen und Erkenntnisse - jedenfalls in wenigen Wochen abgelaufen sein dürfte.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">4. Das Verwaltungsgericht hat schließlich zu Recht angenommen, dass - auch und selbst wenn entgegen dem Vorstehenden das Bestehen eines Anordnungsanspruchs offen wäre - eine allgemeine Interessen- und Folgenabwägung es nicht angezeigt erscheinen ließe, die beantragte vorläufige Regelung zu erlassen, also die vorgenommene Dezernatsneuverteilung vorläufig rückgängig zu machen. Denn das für die Antragsgegnerin streitende Interesse an einer funktionsfähigen, nicht durch Arbeitsplatzkonflikte beeinträchtigten Verwaltungsführung hat grundsätzlich ein höheres Gewicht als das Interesse des Antragstellers am vorläufigen Behaltendürfen eines bestimmten - sei es auch eines in gewisser Weise herausgehobenen und in der Öffentlichkeit ggf. ein besonderes "Ansehen" vermittelnden - dienstlichen Aufgabenbereichs. Dies gilt auch dann, wenn ihm dieser Aufgabenbereich zuvor viele Jahre übertragen war. In Ermangelung konkreter Anhaltspunkte für eine Verletzung des Rechts auf amtsangemessene Beschäftigung ergeben sich auch unter diesem Gesichtspunkt keine Besonderheiten, die dem Interesse des Antragstellers ein gesteigertes Gewicht verleihen würden.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,852
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10 A 3097/21
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-07T10:01:49"
"2022-10-17T11:10:53"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0929.10A3097.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Aus den innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegten Gründen ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art, die er mit seinem Antrag angreifen will, bezeichnen und mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellen und damit zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses begründen. Daran fehlt es hier.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Erteilung der von ihm begehrten denkmalrechtlichen Erlaubnis für die Anlegung einer von der T.-straße aus befahrbaren Einfahrt und eines Pkw-Stellplatzes auf seinem Grundstück T.-straße 78 in N. (im Folgenden: Vorhaben beziehungsweise Vorhabengrundstück) habe, weil dem Vorhaben Gründe des Denkmalschutzes entgegenstünden und es kein überwiegendes öffentliches Interesse gebe, das die Anlegung der Einfahrt und des Stellplatzes verlange. Die für die Verwirklichung des Vorhabens erforderliche teilweise Beseitigung der Natursteinmauer, die das Vorhabengrundstück, das im Geltungsbereich der Satzung für den Denkmalbereich III Siedlung I. (Denkmalbereichssatzung) liegt, zur Straße hin abschließt, greife in die Substanz eines wichtigen Elements des mit der Denkmalbereichssatzung geschützten Erscheinungsbildes der Siedlung ein. Gerade weil die dort ursprünglich errichteten Natursteinmauern nur noch in Teilen der Siedlung vorhanden seien, komme den verbliebenen Mauern besonderes Gewicht für das Erscheinungsbild der Siedlung zu. Die wirtschaftliche Nutzbarkeit des Vorhabengrundstücks werde durch die Versagung der Erlaubnis nicht unzumutbar eingeschränkt. Der von dem eigenen Interesse an Umwelterhaltung, Klimaschutz und der Herstellung gesunder Lebensverhältnisse getragene Wunsch des Klägers, ein Elektroautomobil anzuschaffen, dessen Batterie er auf dem geplanten Stellplatz über das hauseigene Stromnetz aufladen wolle, habe kein solches Gewicht, dass er sich gegen die dem Vorhaben entgegenstehenden denkmalrechtlichen Belange durchsetzen würde. Dem Kläger sei zuzumuten, die Batterie des Elektroautomobils, das er sich anschaffen wolle, an einer öffentlich zugänglichen Ladestation aufzuladen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Diesen im Einzelnen eingehend begründeten Feststellungen und Wertungen des Verwaltungsgerichts setzt der Kläger nichts Durchgreifendes entgegen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dies gilt zunächst, soweit er meint, der für die Verwirklichung des Vorhabens notwendige Eingriff in die Substanz der Natursteinmauer sei nicht so erheblich wie von dem Verwaltungsgericht angenommen, weil tatsächlich nur eine "Modellierung" dieser Mauer geplant sei. Nach der Anlegung der Einfahrt und des Stellplatzes müsse das seitlich davon gelegene Gelände in der Tiefe des verbleibenden Vorgartens abgefangen werden. Dafür sollten die Steine der Mauer, die auf der Breite der Einfahrt beseitigt werden müssten, wiederverwendet werden, sodass die Substanz der Mauer erhalten bliebe. Die bisherige Mauer erhielte, soweit sie sich auf seinem Grundstück befinde, nur einen teilweise anderen Verlauf, indem sie parallel zu der Treppenanlage, die von dem öffentlichen Fußweg zu seiner Hauseingangstür führe, in einem Winkel von 90° entlang der Einfahrt auf das Grundstück geführt werde. Dadurch würde der Frontbereich seines Hauses ein einheitliches und in sich abgerundetes Bild ergeben, was noch verstärkt würde, wenn auch die Nachbarn Stellplätze neben ihren Häusern gleicher Bauart anlegen und das Gelände jeweils seitlich mit den ursprünglichen Mauersteinen abfangen würden.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Diese Argumentation ist unzutreffend. Das geschützte Erscheinungsbild des hier in Rede stehenden Abschnitts der Südseite der T.-straße wird nach den einschlägigen Vorschriften der Denkmalbereichssatzung und nach den tatsächlichen, durch aussagekräftige Fotos belegten Feststellungen des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts im Rahmen einer Ortsbesichtigung ganz maßgeblich durch eine durchgehende Natursteinmauer bestimmt, die das Gelände im Bereich der deutlich über dem Straßenniveau liegenden Vorgärten der dortigen Häuser senkrecht abfängt und nur unterbrochen wird durch die Treppenanlagen, die zu den jeweiligen Hauseingängen führen. Dieses bauzeitliche Bild würde durch Abgrabungen neben den Häusern oder Rampen, die auf das Niveau der Vorgärten führen und die Anlegung von Einfahrten und Stellplätzen auf den Grundstücken ermöglichen sollen, maßgeblich verändert. Das historische Erscheinungsbild der Siedlung wäre insoweit auch in diesem Abschnitt der T.-straße wie an anderen Stellen dauerhaft verloren. Dass bei einer Umgestaltung des ursprünglichen Mauerverlaufs auch Steine verwendet werden sollen, die in der historischen Mauer verbaut waren, ändert an der wesentlichen Veränderung des Erscheinungsbildes des besagten Straßenabschnitts, der mit der Verwirklichung des Vorhabens verbunden wäre, nichts.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg trägt der Kläger sinngemäß vor, dass die Beklagte und das Verwaltungsgericht bei der Abwägung der für und gegen die Erteilung der beantragten denkmalrechtlichen Erlaubnis sprechenden Gründe außer Acht gelassen habe, dass er mit dem Vorhaben über seine persönlichen Interessen hinaus auch allgemeine Interessen des Klimaschutzes verfolge, der nur erfolgreich sein könne, wenn sich möglichst viele Menschen gerade in der Entwicklungsphase der E-Mobilität zuwendeten. Dass bei der besagten Abwägung die Belange des Klimaschutzes angemessen zu berücksichtigen sind, ergibt sich aus § 9 Abs. 3 Satz 2 DSchG NRW. Der Senat vermag aber nicht zu erkennen, dass es bei angemessener Berücksichtigung dieser Belange im konkreten Fall der Hintanstellung der mit der Erhaltung der Natursteinmauer in ihrer ursprünglichen Form verbundenen denkmalrechtlichen Belange bedürfte. In Ansehung des erheblichen Gewichtes, das der unveränderten Natursteinmauer für das Erscheinungsbild des hier maßgeblichen Teils der Siedlung I. zukommt, ist es dem Kläger durchaus zuzumuten, dass er sich für das Aufladen der Batterie eines Elektroautomobils, das er sich anschaffen will, einer öffentlich zugänglichen Ladestation bedient, statt, letztlich aus Gründen der Bequemlichkeit, mit der Anlegung einer Einfahrt und eines Stellplatzes, auf dem er die Batterie eines Elektroautomobils über sein hauseigenes Stromnetz aufladen könnte, das besagte Erscheinungsbild wesentlich zu beeinträchtigen und – wie er es selbst sieht – ein Vorbild für eine größere Zahl gleichartiger Vorhaben innerhalb der Siedlung zu schaffen, die von der ehemals durchgehenden Natursteinmauer bestenfalls ein Torso übrig lassen würden.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Kläger räumt ein, dass sich das von ihm beschworene Ziel des Klimaschutzes auch erreichen ließe, wenn er die Batterie des Elektroautomobils, das er sich anschaffen wolle, an einer öffentlich zugänglichen Ladestation aufladen würde, meint aber, dass man ihm, wenn er auf die Nutzung solcher Ladestationen verwiesen werde, etwas aufbürde, das praktisch und menschlich nicht nachzuvollziehen sei. Die Beklagte habe nicht untersucht, in welcher Entfernung von seinem Haus es eine öffentlich zugängliche Ladestation gebe, die er rund um die Uhr nutzen könne. Könnte er die Batterie des Elektroautomobils, das er sich anschaffen wolle, auf seinem eigenen Grundstück aufladen, würde er sich unnötiges Herumfahren und die Inanspruchnahme öffentlicher Ressourcen ersparen, zumal die öffentlichen Ladestationen denjenigen Eigentümern von Elektroautomobilen vorbehalten bleiben müssten, die dringend darauf angewiesen seien, weil sie nicht über eine Lademöglichkeit auf einem privaten Grundstück verfügten. Mit diesen Argumenten dringt der Kläger nicht durch. Die von dem Senat geteilte Auffassung des Verwaltungsgerichts, im konkreten Fall sei es dem Kläger in Ansehung der anderenfalls erheblich beeinträchtigten denkmalrechtlichen Belange zumutbar, die Batterie des Elektroautomobils, das er sich anschaffen wolle, an einer öffentlich zugänglichen Ladestation aufzuladen, impliziert bereits eine gewisse Beschwerlichkeit, die der Kläger wie viele andere in Kauf nehmen muss, wenn er sich für die Anschaffung eines Elektroautomobils entscheidet. Es ist Teil dieser Entscheidung zu überlegen, wann und wo er die Batterie eines solchen Fahrzeugs künftig aufladen kann und will. Ihm dies abzunehmen oder zu erleichtern, ist regelmäßig ebenso wenig Gegenstand einer Entscheidung über die Erteilung einer denkmalrechtlichen Erlaubnis wie eine mögliche Konkurrenz potenzieller Nutzer bei der Inanspruchnahme öffentlich zugänglicher Ladestationen. Überdies ist es eine öffentliche Aufgabe, ein ausreichendes Netz solcher Ladestationen aufzubauen, die nicht durch die Zurückstellung wichtiger denkmalrechtlicher Belange im Einzelfall ersetzt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die spekulativen Erwägungen, die der Kläger zum vermeintlichen Vorteil des Vorhabens für den ruhenden Verkehr und die Verkehrssicherheit anstellt, belegen ebenfalls kein überwiegendes öffentliches Interesse im Sinne des § 9 Abs. 3 Satz 1 DSchG NRW, dass die Verwirklichung des Vorhabens verlangt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Eine Ungleichbehandlung zu seinen Lasten etwa im Vergleich zu den von ihm angesprochenen Grundstücken auf der N1.-Straße hat das Verwaltungsgericht verneint. Darauf, dass an anderen Stellen innerhalb der Siedlung I. Natursteinmauern entfernt, das Gelände auf den Grundstücken verändert und dort Einfahrten und Stellplätze angelegt worden seien, könne sich der Kläger nicht berufen, weil die dortige Ausgangslage eine andere und das Erscheinungsbild der Natursteinmauern schon vor der Unterschutzstellung der Siedlung erheblich gestört gewesen sei. Mit dieser Argumentation setzt sich der Kläger schon nicht auseinander.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Er legt auch nicht dar, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substanziiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat nicht einmal sinngemäß eine sich in einem möglichen Berufungsverfahren stellende, entscheidungserhebliche und klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, sondern trägt allgemeine Ansichten, Wertungen, Überlegungen und Ausblicke auf künftige Entwicklungen vor, die er selbst damit einleitet, dass er die grundsätzliche Bedeutung des Streitgegenstandes "plakativ unter dem Stichwort 'Denkmalschutz versus Klimaschutz' darstellen möchte".</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, wie die Tatbestandsmerkmale des § 9 Abs. 3 Satz 1 DSchG NRW (§ 9 Abs. 2 DSchG NRW a.F.) auszulegen sind. Dass bei der Entscheidung über die Erlaubnisfähigkeit einer nach § 9 Abs. 1 und 2 DSchG NRW erlaubnispflichtigen Handlung auch die Belange etwa des Klimas und des Einsatzes erneuerbarer Energien angemessen zu berücksichtigen sind, bestimmt, wie oben bereits erwähnt, § 9 Abs. 3 Satz 2 DSchG NRW, sodass insoweit kein Bedarf für eine grundsätzliche Klärung in einem möglichen Berufungsverfahren besteht.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Sätze 1 und 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
346,836
ovgni-2022-09-29-1-me-7122
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 ME 71/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-06T10:01:16"
"2022-10-17T11:10:50"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 15. Juni 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 12.500 EUR festgesetzt; die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts wird dementsprechend geändert.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin wendet sich gegen eine der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Bürohauses auf dem nördlich angrenzenden Nachbargrundstück.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks A-Straße im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Nördlich grenzt das Grundstück F. G. der Beigeladenen an. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 1583 „F. -Nord“, der für das Grundstück der Beigeladenen ein Mischgebiet, eine Grundflächenzahl von 0,4 und eine Geschossflächenzahl von 0,8 sowie eine geschlossene, im Höchstmaß zweigeschossige Bebauung mit einer zwingend einzuhaltenden Höhe von 9 m über der Bürgersteiganschlusshöhe festsetzt und mittels Baugrenzen straßenseitige und rückwärtige Freiflächen sicherstellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Unter dem 14. Februar 2019 erteilte die Antragsgegnerin der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Bürogebäudes mit Tiefgarage. Eingeschlossen waren Befreiungen von den Festsetzungen zur Grund- und Geschossflächenzahl. Im Oktober 2020 begannen Erdarbeiten in Gestalt eines Abtrags des Oberbodens und dessen Verladung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin erhob am 23. November 2021 einen bislang unbeschiedenen Widerspruch und beantragte vorläufigen Rechtsschutz. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht Hannover mit dem angegriffenen Beschluss vom 15. Juni 2022 abgelehnt. Er sei unzulässig, weil die Baugenehmigung der Antragstellerin gegenüber bestandskräftig geworden sei. Mit Beginn der Erdarbeiten habe sich der Antragstellerin in der Gesamtschau mit den übrigen Gegebenheiten des Einzelfalls das Vorliegen einer Baugenehmigung und die Möglichkeit einer daraus folgenden Rechtsbeeinträchtigung aufdrängen müssen, sodass sie sich binnen Jahresfrist bei der Antragsgegnerin über das Vorliegen und den Inhalt einer Baugenehmigung hätte erkundigen müssen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Dagegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde, der Antragsgegnerin und Beigeladene entgegentreten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass für einen Nachbarn, dem eine ihn beschwerende Baugenehmigung nicht amtlich bekanntgegeben worden ist, weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO eine Widerspruchsfrist läuft. Hat er jedoch gleichwohl sichere Kenntnis von der Baugenehmigung erlangt oder hätte er sie erlangen müssen, so kann ihm nach Treu und Glauben die Berufung darauf versagt sein, dass sie ihm nicht amtlich mitgeteilt wurde. Dann läuft für ihn die Widerspruchsfrist nach den vorgenannten Vorschriften so, als sei ihm die Baugenehmigung in dem Zeitpunkt amtlich bekannt gegeben, in dem er von ihr sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können. Der Zeitpunkt, zu dem der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis nehmen konnte, tritt ein, wenn sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste - beispielsweise aufgrund eines sichtbaren Beginns der Bauausführung - und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber - etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde - Gewissheit zu verschaffen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 14.4.2021 - 1 ME 140/20 -, NVwZ-RR 2021, 1049 = juris Rn. 16 m.w.N.). Das zieht auch die Antragstellerin im Grundsatz nicht in Zweifel.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Ohne Erfolg wendet die Antragstellerin ein, das Verwaltungsgericht habe bei Anwendung der obigen Grundsätze nicht ausreichend berücksichtigt, dass es für den Beginn der Jahresfrist nicht bloß auf die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen einer Baugenehmigung ankomme, sondern zusätzlich zu fordern sei, dass der Nachbar hierdurch ausgelöste Risiken und Beeinträchtigungen erkennt oder erkennen muss. Ob und inwieweit dies zutrifft und nicht - wie Antragsgegnerin und Beigeladene mit einiger Berechtigung einwenden - die in der Rechtsprechung betonte Erkundigungspflicht nach dem genauen Inhalt der Baugenehmigung eingreift, kann offenbleiben. Denn auch diese Voraussetzung ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - erfüllt. Die Antragstellerin beruft sich im Wesentlichen auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufgrund unzumutbarer Einsichtnahmemöglichkeiten, Verschattung sowie erdrückender Wirkung. Damit wendet sie sich gegen Beeinträchtigungen, die unmittelbar daraus resultieren, dass die Beigeladene ein Bauvorhaben errichtet, welches die Festsetzungen des Bebauungsplans ausnutzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Ziel der planerischen Festsetzungen für das Mischgebiet am F. war es, das nördlich gelegene Gewerbegebiet von dem südlichen Wohngebiet mittels eines straßenparallelen Gebäuderiegels abzugrenzen und - insbesondere mit Blick auf den Immissionsschutz - eine störungsfreie Nachbarschaft zwischen Wohnen und Gewerbe sicherzustellen (vgl. Planbegründung S. 4 unten/S. 5 oben). Dieser Zielsetzung entsprechen die Festsetzungen der geschlossenen Bauweise und der zwingenden Gebäudehöhe von 9 m. Zu rechnen war deshalb unter Berücksichtigung des Zuschnitts des Baugrundstücks insbesondere damit, dass das als rund 9 m hoher Riegel ausgeführte Gebäude mit seinen wesentlichen Aufenthaltsräumen nach Süden orientiert sein und die überbaubaren Grundstücksflächen ausschöpfen würde. Auch eine gewerbliche/freiberufliche Nutzung war angesichts der Festsetzung als Mischbiet und des nördlich angrenzenden Gewerbegebiets zu erwarten. Vor diesem Hintergrund lag es in dem Moment, in dem die Antragstellerin von der Erteilung einer Baugenehmigung Kenntnis haben konnte und musste, mehr als nahe, dass ein Gebäude an der Stelle und mit den Ausmaßen des hier in Streit stehenden errichtet werden würde. Die Auffassung der Antragstellerin, sie habe bei Beginn der Erdarbeiten die konkret drohenden Beeinträchtigungen nicht erkennen können, trifft deshalb ungeachtet der fraglichen rechtlichen Relevanz schon im Tatsächlichen nicht zu; im Gegenteil musste die Antragstellerin genau damit rechnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>3.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin meint weiter, das Verwaltungsgericht habe ihren Anspruch auf effektive Rechtsschutzgewähr (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) verletzt; die Annahme, die Baugenehmigung hätte nur innerhalb einer bereits abgelaufenen Jahresfrist angefochten werden können, erschwere den Rechtsschutz in unzumutbarer Weise. Tatsächlich habe zwischen ihr und der Beigeladenen kein nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis bestanden, das eine Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben rechtfertigen könne; die Beigeladene sei vielmehr erstmals im Gerichtsverfahren als Eigentümerin erkennbar gewesen. Einen Vertrauenstatbestand habe sie, die Antragstellerin, niemandem gegenüber geschaffen. Auch das trifft nicht zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Soweit sie in Abrede stellt, dass zwischen ihr und der Eigentümerin des benachbarten Grundstücks F. G. ein nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis besteht, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Gemeinschaftsverhältnis nach vom Senat geteilter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein daraus folgt, dass zwei Grundstücke aneinandergrenzen. In der bis heute maßgeblichen Entscheidung, deren Bedeutung die Beigeladene zu Recht hervorgehoben hat, heißt es (Urt. v. 25.1.1974 - IV C 2.72 -, BVerwGE 44, 294 = juris Rn. 24):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„In dem weiten Kreise der Rechtsverhältnisse, die durch Verwaltungsakte mit Doppelwirkung bestimmt werden und zu Klagen Drittbetroffener führen können, dem Kreise, dem auch die baurechtliche ‘Nachbarklage’ zuzuordnen ist, nehmen eine besondere Stellung die Rechtsverhältnisse zwischen den Inhabern einander unmittelbar benachbarter Grundstücke ein, wie hier zwischen der beigeladenen Bauherrin und dem Kläger als ihrem Grenznachbarn. Diese Rechtsverhältnisse sind in aller Regel durch ein besonderes ‘nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis’ gekennzeichnet, das nach Treu und Glauben von den grenznachbarlich Verbundenen besondere Rücksichten gegeneinander fordert. Dieses nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, als Anwendungsfall der Grundsätze von Treu und Glauben auf den besonderen Tatbestand des nachbarlichen Zusammenlebens vom Reichsgericht und vom Bundesgerichtshof für zivilrechtliche Nachbarstreitigkeiten herausgearbeitet (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. Juli 1958 - V ZR 202/57 - in NJW 1958, 1580 <1581> mit weiteren Hinweisen), ist auch im öffentlichen Bau- und Bodenrecht von Bedeutung. Wie z.B. das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Urteil vom 4. März 1970 - VII A 401/68 - (BRS 23 Nr. 168 S. 250/251) zutreffend ausgeführt hat, verpflichtet das ‘nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis’ den Nachbarn, ‘durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst niedrig zu halten’; der Nachbar muß dieser ‘Verpflichtung dadurch nachkommen, daß er nach Erkennen der Beeinträchtigung durch Baumaßnahmen ungesäumt seine nachbarlichen Einwendungen geltend macht, wenn ihm nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegengehalten werden soll, weil er ohne ausreichenden Grund mit seinen Einwendungen länger als notwendig zugewartet hat’.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Vor diesem Hintergrund besteht ein nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis zwischen den jeweiligen Eigentümern; eben dieses ist - wie die Antragsgegnerin zu Recht vorgetragen hat - auch Grundlage des Nachbarantrags der Antragstellerin. Nach einem Eigentümerwechsel tritt der Rechtsnachfolger in den Rechte- und Pflichtenkreis ein, der sich aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis ergibt. Mit Blick auf die Baugenehmigung ist vor diesem Hintergrund maßgeblich, dass diese gemäß § 70 Abs. 6 NBauO für und gegen die Rechtsnachfolger der Bauherrin oder des Bauherrn und der Nachbarn gilt. Die Baugenehmigung wirkt mit anderen Worten grundstücksbezogen (vgl. näher Senatsurt. v. 7.7.2022 - 1 LB 36/21 -, juris Rn. 48 und 51), und zwar für den Bauherrn und den Nachbarn gleichermaßen. Ist demzufolge das Widerspruchsrecht gegenüber dem ursprünglichen Bauherrn verwirkt, lebt es auch gegenüber dessen Rechtsnachfolger nicht wieder auf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Einen Vertrauenstatbestand gegenüber dem Bauherrn und nach den vorstehenden Ausführungen auch gegenüber der Beigeladenen als seiner Rechtsnachfolgerin hat die Antragstellerin allein dadurch gesetzt, dass sie binnen Jahresfrist keinen Widerspruch eingelegt hat. Soweit sie unter Verweis auf die fehlende fortlaufende Bauüberwachung meint, gegenüber der Antragsgegnerin keinen Vertrauenstatbestand geschaffen zu haben, kommt es hierauf nicht an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>4.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat orientiert sich im Ausgangspunkt ebenso wie das Verwaltungsgericht an Nr. 17 b), 7a) der seit dem 1. Juni 2021 geltenden Streitwertannahmen (NdsVBl. 2021, 247). Allerdings sieht der Senat keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Schwere der geltend gemachten Beeinträchtigungen gegenüber dem Durchschnitt signifikant geringer ausfällt. Mithin ist ein Hauptsachestreitwert von 25.000 EUR anzusetzen (Nr. 7 am Ende i.V.m. Nr. 1 a) der Streitwertannahmen), der im Eilverfahren zu halbieren ist. Die Änderung der verwaltungsgerichtlichen Festsetzung folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007250&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,816
vg-aachen-2022-09-29-6-l-52122
{ "id": 840, "name": "Verwaltungsgericht Aachen", "slug": "vg-aachen", "city": 380, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
6 L 521/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-05T10:02:03"
"2022-10-17T11:10:47"
Beschluss
ECLI:DE:VGAC:2022:0929.6L521.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller vorläufig zu einer Wiederholung der Klausuren in den Modulen GS2 und GS4 zum nächstmöglichen Prüfungstermin zuzulassen.</p> <p>Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>2. Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig zu einer Wiederholung der Klausuren in den Modulen GS2 und GS4 zum nächstmöglichen Prüfungstermin zuzulassen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Auf Antrag kann das Gericht nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis treffen, wenn der Antragsteller darlegt, dass ihm ein Anspruch auf ein bestimmtes Handeln zusteht (Anordnungsanspruch), dieser Anspruch gefährdet ist und durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss (Anordnungsgrund). Der Antragsteller hat Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen vor. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch (I.) als auch einen Anordnungsgrund (II.) glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">I. Es spricht Überwiegendes dafür, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Zulassung zu einer Wiederholungsklausur in den Modulen GS2 (Eingriffsrecht/Staatsrecht) und GS4 (Strafrecht) zusteht.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der in der Hauptsache (unter dem Az. 0 K 000/00) angegriffene Prüfungsbescheid der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV NRW) vom 22. Januar 2022, mit dem der Antragsgegner den Rücktritt des Antragstellers von den Prüfungen am 14. Dezember 2021 im Modul GS2 und am 16. Dezember 2021 im Modul GS4 nicht genehmigt, die Prüfungen jeweils mit der Note „nicht ausreichend“ bewertet und die Fortsetzung des Studiums ausgeschlossen hat, erweist sich nach der gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Anerkennung seines Rücktritts, weil er ihn unverzüglich erklärt und die Gründe für seinen Rücktritt unverzüglich geltend gemacht hat.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Nach § 12 Abs. 2 Satz 1 VAPPol II Bachelor sowie § 13 Abs. 2 Satz 3 Teil A der Studienordnung der Bachelorstudiengänge an der HSPV NRW (StudO BA) in der jeweils maßgeblichen Fassung ist eine Studienleistung und damit die Bachelorprüfung endgültig nicht bestanden, wenn Studierende auch in einer Wiederholung nicht eine Bewertung von mindestens „ausreichend“ (4,0) oder „bestanden“ erreichen. Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 Teil A StudO BA wird eine Studienleistung mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewertet, wenn die Kandidatin oder der Kandidat ohne triftige Gründe von der Prüfung zurücktritt. Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 Teil A StudO BA müssen die für einen Prüfungsrücktritt geltend gemachten Gründe dem Prüfungsamt unverzüglich schriftlich angezeigt und glaubhaft gemacht werden.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der das gesamte Prüfungsrecht beherrschende, verfassungsrechtlich gewährleistete Grundsatz der Chancengleichheit gebietet es, an die Unverzüglichkeit der Geltendmachung einen strengen Maßstab anzulegen. Diese Mitwirkungsobliegenheit, die ihren Rechtsgrund in dem auch im Prüfungsrechtsverhältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben hat, findet ihre Begrenzung im Rahmen des Zumutbaren. Eine Rücktrittserklärung ist hiernach nicht mehr unverzüglich, wenn sie nicht zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgt, zu dem sie vom Prüfling in zumutbarer Weise hätte erwartet werden können. Spätestens dann, wenn sich der Prüfling der (krankheitsbedingten) Verminderung seiner Leistungsfähigkeit bewusst geworden ist, muss er den Rücktritt erklären. Die genaue krankheitsbedingte Ursache muss ihm nicht bekannt sein. Maßgeblich sind dabei die Umstände des Einzelfalls.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl.              BVerwG, etwa Urteil vom 24. Februar 2003 - 6 C 22.02 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 403 = juris, Rn. 22, und Beschluss vom 3. Januar 1994 - 6 B 5.93 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 327 = juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Juli 2022 - 6 B 458/22 -, juris, Rn. 19, vom 8. Januar 2020 - 14 B 1680/19 -, juris, Rn. 5 f. und vom 18. August 2017 - 6 B 918/17 -, juris, Rn. 8, jeweils m. w. N.; Fischer/Jeremias/Dietrich, Prüfungsrecht, 8. Auflage 2022, Rn. 282 ff.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend hat Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner unverzüglich seine Rücktrittsgründe schriftlich angezeigt und glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Es kann dahin stehen, ob die E-Mail vom 13. Dezember 2021, mit der der Antragsteller zum einen erklärt hat, dass er krankheitsbedingt nicht an der Klausur HS 1.1 am selben Tag habe teilnehmen können sowie zum anderen auf eine bis zum 16. Dezember 2021 datierende Prüfungsunfähigkeitsbescheinigung hingewiesen hat, analog §§ 133, 157 BGB die Erklärung des Rücktritts auch von den Klausuren am 14. und 16. Dezember 2021 beinhaltet. Denn jedenfalls ist das Nichterscheinen zu den beiden Prüfungen als Rücktritt bzw. Rücktrittserklärung zu werten.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zwar bedarf die Genehmigung eines Rücktritts grundsätzlich der ausdrücklichen und eindeutigen Erklärung des Prüflings, dass er von der Prüfung zurücktritt.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Fischer/Jeremias/Dietrich, Prüfungsrecht, 8. Auflage 2022, Rn. 267.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Gleichwohl bleibt es der Prüfungsbehörde unbenommen, durch entsprechende Regelungen in der Prüfungsordnung abweichend von diesem Grundsatz bereits das bloße Fernbleiben von einer Prüfung als Prüfungsrücktritt zu werten.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">So verhält es sich hier. Die einschlägige Prüfungsordnung bestimmt in § 19 Abs. 1 Satz 2 Teil A StudO BA, dass insbesondere das Nichterscheinen oder die verfristete Abgabe einer schriftlichen Studienleistung „als Rücktritt gilt“. Die Kammer versteht die Regelung dahingehend, dass es im Falle des Nichterscheinens zu einer Prüfung keiner gesonderten Rücktrittserklärung des Prüflings bedarf, sondern der Rücktritt von der Prüfung fingiert wird. Hierfür streitet der Wortlaut der Vorschrift, der mit der Wendung „als Rücktritt gilt“ die für gesetzliche Fiktionen typische Formulierung aufweist. Auch die Systematik der Vorschrift gebietet entgegen der Auffassung des Antragsgegners keine abweichende Auslegung. Seinem Einwand, bei Annahme einer Rücktrittsfiktion wäre die in § 19 Abs. 2 Satz 1 Teil A StudO BA enthaltene Regelung, wonach die für den Rücktritt geltend gemachte Gründe dem Prüfungsamt unverzüglich schriftlich angezeigt und glaubhaft gemacht werden müssen, sinnentleert, da für sie kein Anwendungsfall mehr verbliebe, ist nicht zu folgen. Er übersieht, dass sich § 19 Abs. 2 Satz 1 Teil A StudO BA ausweislich seines eindeutigen Wortlauts allein auf die Anzeige und Glaubhaftmachung der Gründe für den Rücktritt, nicht aber auf die Erklärung des Rücktritts selbst bezieht. Infolgedessen verbleibt für die Vorschrift durchaus ein Anwendungsbereich, da den Prüfling auch im Falle eines fingierten Rücktritts eine entsprechende Obliegenheit zur unverzüglichen Anzeige respektive Glaubhaftmachung seiner Rücktrittsgründe trifft. Letztere sind gerade nicht von der in § 19 Abs. 1 Satz 2 Teil A StudO BA normierten Fiktionswirkung umfasst. Soweit der Antragsgegner sein abweichendes Verständnis auf Nr. 2 der Hinweise des Prüfungsausschusses zum Rücktritt stützt,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">              gemeint wohl: https://www.hspv.nrw.de/dateien_studium/studium-und‑lehre/BA/hinweise_und_vordrucke/ruecktritt_pruefungsleistungen/20_06_24_Ruecktritt_von_Pruefungsleistungen.pdf,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">geht sein Vorbringen ebenfalls fehl. Denn die dortigen Ausführungen betreffen ebenso lediglich die unverzügliche Anzeige der für den Rücktritt geltend gemachten Gründe, nicht aber die Rücktrittserklärung als solche.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Inwieweit es bei der Annahme einer Rücktrittsfiktion – wie der Antragsgegner ausführt – zu „Abgrenzungsproblemen im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt der Rücktrittserklärung“ kommen könnte, durch die „die Chancengleichheit aller Prüflinge nicht mehr gewährleistet“ sei, ist nicht ersichtlich. Vielmehr wird dem Grundsatz der Chancengleichheit dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass der zurücktretende Prüfling auch im Falle eines fingierten Rücktritts – wie dargelegt – seine Rücktrittsgründe unverzüglich schriftlich anzeigen und glaubhaft machen muss. Unterlässt der Prüfling beispielsweise im Vorfeld einer Prüfung die Anzeige und Glaubhaftmachung seiner Prüfungsunfähigkeit, obwohl ihm dies möglich und zumutbar gewesen wäre, wird infolge seines Fernbleibens zwar sein Rücktritt von der Prüfung fingiert. Ungeachtet der fingierten Rücktrittserklärung steht einer Genehmigung seines Rücktritts nichtsdestominder die unterbliebene unverzügliche Anzeige und Glaubhaftmachung seiner Rücktrittsgründe entgegen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Schließlich scheint der Antragsgegner der in § 19 Abs. 1 Satz 2 Teil A StudO BA enthaltenen Regelung auch selbst eine Fiktionswirkung beizumessen. So wird auf Seite 3 des in der Hauptsache angefochtenen Bescheids explizit ausgeführt, dass die Nichtteilnahme an den in Rede stehenden Prüfungen nach § 19 Abs. 1 Satz 2 Teil A StudO BA „als Rücktritt von der Prüfung zu werten“ sei. Dementsprechend begründet er die Versagung der Rücktrittsgenehmigung in dem Bescheid auch nicht mit dem Fehlen einer Rücktrittserklärung, sondern stützt diese darauf, dass der Antragsteller „die für den Rücktritt geltend gemachten Gründe nicht unverzüglich gegenüber dem Prüfungsamt schriftlich angezeigt“ habe (S. 3 des Bescheids).</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsgegner auf verwaltungstechnische Schwierigkeiten hinweist, die sich bei Annahme einer Fiktionswirkung in den Fällen einstellen würden, in denen der Prüfling – wie vorliegend – ein Attest für einen mehrere Prüfungen umfassenden Zeitraum einreicht, ohne explizit zu erklären, von welchen Prüfungen er zurücktreten möchte, rechtfertigt dies keine abweichende Auslegung des § 19 Abs. 1 Satz 2 Teil A StudO BA. Der Antragsgegner bleibt insoweit auf die Möglichkeit zu verweisen, etwaigen Schwierigkeiten durch geeignete organisatorische Maßnahmen oder ggf. eine Änderung der Prüfungsordnung zu begegnen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Es ist weiter davon auszugehen, dass der Antragsteller im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 1 StudO-BA Teil A aus triftigem Grund von der Prüfung zurückgetreten ist. Dass sein mit Attest vom 13. Dezember 2021 diagnostizierter grippaler Infekt eine die Prüfungsunfähigkeit begründende Erkrankung darstellt, hat der Antragsgegner nicht in Abrede gestellt.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Rücktrittsgründe in Gestalt der Erkrankung hat der Antragsteller auch unverzüglich schriftlich angezeigt und glaubhaft gemacht. Denn bereits am 13. Dezember 2021 und somit noch vor Beginn der schriftlichen Prüfungen hat er dem Prüfungsamt das auf den Zeitraum vom 13. bis 16. Dezember 2021 datierende Attest übersandt.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Ob der Antragsteller mit der Übersendung seiner Prüfungsunfähigkeitsbescheinigung per E-Mail die in § 19 Abs. 2 Satz 1 Teil A StudO BA angeordnete Schriftform gewahrt hat, bedarf keiner Entscheidung. Denn der Antragsgegner hat in der Vergangenheit schon mindestens zwei per E-Mail erklärte Rücktritte des Antragstellers genehmigt und ist mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG somit verpflichtet, auch zukünftig die Übermittlung per E-Mail anzuerkennen. Im Übrigen hat der Antragsgegner die Nichteinhaltung der Schriftform auch selbst nicht geltend gemacht. Vielmehr hält er die Rücktrittserklärung per E-Mail ausweislich der auf der Homepage der HSPV NRW abrufbaren „Hinweise zum Rücktritt von Prüfungsleistungen“,</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">vgl.              https://www.hspv.nrw.de/dateien_studium/studium-und‑lehre/BA/hinweise_und_vordrucke/ruecktritt_pruefungsleistungen/20_06_24_Ruecktritt_von_Pruefungsleistungen.pdf,</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">offenbar generell für zulässig.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 6 B 458/22 -, juris, Rn. 26 ff.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">II. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, die (Rechtskraft der) Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Denn ohne den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung entstünden dem Antragsteller wesentliche Nachteile im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO. So würde die Versagung des Rechtsschutzes zu einer erheblichen Ausbildungsverzögerung des Antragstellers führen und ihn zugleich dazu zwingen, sein Prüfungswissen und seine Prüfungsfähigkeiten auf unbestimmte Zeit aufrecht zu erhalten. Dem steht nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch nicht entgegen, dass die streitgegenständliche Prüfungsleistung im Rahmen der Laufbahnausbildung im Beamtenverhältnis auf Widerruf zu absolvieren ist und die Regelung des § 22 Abs. 4 BeamtStG i.V.m. § 8 Abs. 3 Satz 1 VAPPol II Bachelor vorsieht, dass das Beamtenverhältnis auf Widerruf – unabhängig von der Rechtmäßigkeit und dem Bestand der Prüfungsentscheidung – kraft Gesetzes mit dem endgültigen Nichtbestehen der Bachelorprüfung endet. Eine pauschale Versagung einstweiligen Rechtsschutzes hinsichtlich der vorläufigen Fortsetzung der Ausbildung sowie der Wiederholung einer Prüfung unter Berufung auf die genannte Regelung würde dem Anspruch auf effektivem Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl.              BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2020 - 2 BvR 469/20 -, juris, Rn. 28; OVG NRW, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 6 B 456/22 -, juris, Rn. 41 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28. Februar 2022 - 26 L 2647/21 -, juris, Rn. 34 ff.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dem Einwand des Antragsgegners, es konterkariere die Intention der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, mit Blick auf die stets gegebene Ausbildungsverzögerung pauschal in prüfungsrechtlichen Eilverfahren einen Anordnungsgrund anzunehmen, ist nicht zu folgen. Vielmehr kann der vorbenannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur entnommen werden, dass die Nachteile – regelmäßig – von hinreichendem Gewicht sind, um den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 6 B 456/22 -, juris, Rn. 43.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dass die vorbenannten Nachteile vorliegend ausnahmsweise nicht so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigen könnten, hat der Antragsgegner nicht dargelegt. Entsprechende Anhaltspunkte sind auch sonst nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 GKG. Der Streitwert für das Begehen, den Antragsteller vorläufig zu einer Wiederholung von Klausuren in zwei Prüfungsmodulen zuzulassen, ist für jede Prüfung auf 5.000,- € festzusetzen. Dieser Wert ist im Hinblick auf die nur vorläufige Regelung zu halbieren.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 6 E 288/22 -, juris, Rn. 5 ff und 26 ff.</p>
346,809
vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-29-11-b-10222
{ "id": 1071, "name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht", "slug": "vg-schleswig-holsteinisches", "city": 647, "state": 17, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
11 B 102/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-05T10:00:34"
"2022-10-17T11:10:46"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0929.11B102.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der gestellte Antrag des Antragstellers wird nach § 88 VwGO dahingehend ausgelegt, dass der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO vorläufig zu untersagen ist, den Antragsteller abzuschieben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der so verstandene Antrag ist zulässig, aber unbegründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Dem Antragsteller steht kein sicherungsfähiger Anspruch nach § 60c Abs. 1 AufenthG zur Seite. Er erfüllt zwar die Voraussetzungen des § 60c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Der Antragsteller war zum Zeitpunkt der Antragstellung im Besitz einer Duldung nach § 60a AufenthG und hat eine in § 60c Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannte Ausbildung aufgenommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Allerdings liegen Versagungsgründe nach § 60c Abs. 2 Nr. 5 AufenthG vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Nach § 60c Abs. 2 Nr. 5 AufenthG darf eine Ausbildungsduldung nicht erteilt werden, wenn im Fall von § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zum Zeitpunkt der Antragstellung konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung, die in einem hinreichenden sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zur Aufenthaltsbeendigung stehen, bevorstehen. Diese konkreten Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung stehen bevor, wenn die Buchung von Transportmitteln für die Abschiebung eingeleitet wurde (§ 60c Abs. 2 Nr. 5 lit. c) AufenthG) oder vergleichbar konkrete Vorbereitungsmaßnahmen zur Abschiebung des Ausländers eingeleitet wurden, es sei denn, es ist von vornherein absehbar, dass diese nicht zum Erfolg führen (§ 60c Abs. 2 Nr. 5 lit d) AufenthG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Die Voraussetzung nach § 60c Abs. 2 Nr. 5 lit. c) AufenthG ist erfüllt. Die Antragsgegnerin hat vor Stellung des Antrags auf Erteilung einer Ausbildungsduldung am 07. September 2022 das Transportmittel zur Abschiebung gebucht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Die Buchung von Transportmitteln für die Abschiebung ist insbesondere dann eingeleitet, wenn für einen konkret benannten Ausländer ein Flug gebucht wurde, er in eine Liste für eine bevorstehende Sammelabschiebung aufgenommen wurde oder wenn auf Grund des Organisationsaufbaus die Ausländerbehörde über einen gesonderten Rückführungsbereich verfügt, der ausschließlich die praktische Durchführung von Rückführungen betreibt und die Ausländerakte innerhalb der Ausländerbehörde zu diesem Zweck an diese Organisationseinheit oder eine zentrale Behörde übergeben wurde. Am 02. September 2022 hat die Antragsgegnerin über das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge Schleswig-Holstein einen Flug zur Abschiebung des Antragstellers gebucht und damit die Buchung von Transportmitteln für die Abschiebung nicht nur vor Antragstellung eingeleitet, sondern auch beendet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Durch die Anordnung einer Auflage wegen vorübergehender Aussetzung der Abschiebung/Rückführung der Antragsgegnerin vom 22. August 2022 hat die Antragsgegnerin zudem vergleichbar konkrete Vorbereitungsmaßnahmen im Sinne des § 60c Abs. 2 Nr. 5 lit. d) AufenthG unternommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Ausweislich der Gesetzesbegründung sind weitere konkrete Vorbereitungsmaßnahmen beispielsweise ein Antrag auf Anordnung der Sicherungshaft (§ 62 Absatz 3 AufenthG) oder des Ausreisegewahrsams (§ 62b AufenthG) sowie die Ankündigung des Widerrufs einer Duldung nach § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG (BT-Drs. 19/8286, S. 16).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Die Anordnung der Auflage ist einer Ankündigung des Widerrufs einer Duldung vergleichbar, insbesondere da der Widerruf nicht erforderlich war, da die Duldung mit Bekanntgabe des Abschiebungstermins erlischt. Es war auch nicht ersichtlich, dass diese Maßnahme von vornherein nicht zum Erfolg führen wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Ein anderer Anordnungsanspruch wurde nicht geltend bzw. glaubhaft gemacht. Allein aus der Aufnahme eines Ausbildungsverhältnisses ergibt sich kein selbstständiger Anspruch. Dieser richtet sich bei geduldeten Ausländern nach § 60c AufenthG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Vor diesem Hintergrund vermag die ggf. unterlassene Anhörung vor Erlass des ablehnenden Bescheides der Antragsgegnerin vom 29. September 2022 zu keinem anderen Ergebnis zu führen (vgl. auch § 11 LVwG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Über den Antrag des Antragstellers, der Antragsgegnerin mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen bis zur Entscheidung über den Eilantrag nicht durchgeführt werden dürfen, ist aufgrund dieses Beschlusses nicht mehr zu entscheiden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,783
ovgni-2022-09-29-2-nb-2122
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
2 NB 21/22
"2022-09-29T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:12"
"2022-10-17T11:10:43"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 8. Kammer - vom 27. Januar 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5000,00 EUR festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong> I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller begehrt zum Wintersemester 2021/22 die außerkapazitäre Zulassung zum Studium der Humanmedizin im 5. Fachsemester bei der Antragsgegnerin.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der 1992 in A-Stadt geborene Antragsteller, der deutscher Staatsangehöriger ist, erwarb im Juni 2010 die allgemeine Hochschulreife mit der Durchschnittsnote 2,8. Vom Wintersemester 2016/17 bis zum Sommersemester 2019 studierte er an der Universität E. (F.) Allgemeine Humanmedizin. Das Auslandsstudium wurde im September 2019 nach § 12 der Approbationsordnung für Ärzte (AÄpprO) als Erster Abschnitt der Ärztlichen Prüfung anerkannt. Zum Sommersemester 2020 erhielt der Antragsteller an der G. H. die Zulassung zum Medizinstudium im 5. Fachsemester. Nach der von ihm eingereichten Übersicht über den Studienverlauf war das Wintersemester 2021/22 für den Antragsteller das 3. klinische Semester; bis zu dessen Beginn hatte er zwei der insgesamt 33 in dem auf drei Jahre angelegten Zweiten Studienabschnitt zu erbringenden Leistungsnachweise erworben (vgl. …S. 8).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Seit Juni 2021 ist der Antragsteller Vater einer Tochter. Mit ihr und der Kindesmutter bewohnt er in seinem Geburtsort eine im Eigentum seiner Mutter, die im selben Haus lebt, stehende Wohnung. Die Lebensgefährtin des Antragstellers steht in A-Stadt, wo auch ihre Eltern wohnen, seit mehreren Jahren in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis. Nach der Geburt ihrer Tochter nahm sie Elternzeit bis zum Ablauf des 1. Lebensjahres des Kindes.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Zum Wintersemester 2021/22 bewarb sich der Antragsteller bei der Antragsgegnerin, die das Studium der Humanmedizin seit dem Studienjahr 2005/06 auf der Grundlage von § 41 AÄpprO als Modellstudiengang „…“ (I.) anbietet (siehe zu den Einzelheiten Senatsbeschl. v. 17.12.2021 - 2 NB 3/21 -, juris Rn. 2), um einen Studienplatz im 5. Fachsemester. In dem gleichzeitig gestellten Härtefallantrag führte der Antragsteller an, dass es für ihn wegen der großen Distanz zwischen seinem Wohnort und seinem Studienort schwierig sei, für seine Familie zu sorgen. Die relativ geringe Entfernung von seiner Wohnung zum Campus D-Stadt (ca. 1,5 h) würde es ihm ermöglichen, das Vollzeitstudium erfolgreich an der Antragsgegnerin zu beenden. Ein Umzug nach J. sei seiner Familie und ihm aufgrund der Arbeitsstelle seiner Lebensgefährtin in A-Stadt, auch aus wirtschaftlichen Gründen, nicht möglich. Der Modellstudiengang an der Antragsgegnerin sei für ihn zudem vorteilhaft, da er an den Blockpraktika unproblematisch teilnehmen könnte. An der H. gebe es hingegen immer einen bis zwei Praktikumstage das ganze Semester über und es sei ihm unmöglich, zweimal die Woche dorthin zu pendeln.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Mit Bescheid vom 20. Oktober 2021 lehnte die Antragsgegnerin den Zulassungsantrag ab. Die gesamte Studienplatzkapazität des Modellstudiengangs I. sei in der Verordnung über Zulassungszahlen für Studienplätze zum Wintersemester 2021/2022 und zum Sommersemester 2022 (ZZ-VO 2021/2022) vom 8. Juli 2021 normativ auf 320 für das 1. und 3. Fachsemester und auf 300 für alle darüber liegenden Fachsemester bestimmt worden. Sämtliche festgesetzten Studienplätze seien im Zuge des Rückmelde- und Zulassungsverfahrens zum Wintersemester 2021/22 belegt worden. Daher hätten für höhere Fachsemester keine Studienplätze mehr vergeben werden können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller hatte unter dem 13. Oktober 2021 zusätzlich bei der Antragsgegnerin einen Anspruch auf Zulassung zum Wintersemester 2021/2022 in das 5. Fachsemester des Modellstudiengangs I. außerhalb der festgesetzten Zulassungszahl geltend gemacht. Am 8. Dezember 2021 - eine Bescheidung seines Antrags auf außerkapazitäre Zulassung war bis dahin nicht erfolgt - hat er ein Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eingeleitet. Zur Begründung hat er die der ZZ-VO 2021/2022 zugrundeliegende Kapazitätsberechnung im Einzelnen angegriffen. Der Antragsteller hat darüber hinaus die Ansicht vertreten, dass er nicht auf seinen Studienplatz an der H. verwiesen werden könne. Zur Wahrnehmung seines Grundrechts auf ein Familienleben mit seiner Tochter und der Kindesmutter sei er darauf angewiesen, an einer Hochschule zu studieren, die von A-Stadt aus täglich für eine Hin- und Rückfahrt erreichbar sei. An der Universität A-Stadt sei eine Bewerbung für einen Studienplatz im dortigen Modellstudiengang nur zum Sommersemester möglich, wobei völlig ungewiss sei, ob dort dann Studienplätze vergeben würden. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG sehe ausdrücklich das Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte vor. In der dazu eingereichten eidesstattlichen Versicherung hat der Antragsteller erklärt, dass seine Lebensgefährtin ihr Arbeitsverhältnis in A-Stadt nicht aufgeben wolle. Sie sei deshalb und wegen der dortigen familiären Bindungen, die für die Betreuung ihrer Tochter wichtig seien, mit einem Umzug nach J. nicht einverstanden. Seine Lebensgefährtin erwarte, dass er sich als Vater intensiv um das Kind kümmere, und sei über seine durch das Studium in J. bedingten langen Abwesenheiten zunehmend genervt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die Antragsgegnerin ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entgegengetreten. Sie hat die Auffassung vertreten, dass dem Antragsteller schon kein Anordnungsgrund zur Seite stehe, da er an der H. einen Studienplatz im zweiten Studienabschnitt habe. Zwar könne unter ganz engen Voraussetzungen des Härtefalls auch einmal ein Anordnungsgrund trotz anderweitiger Zulassung bestehen. Eine solche Ausnahme sei im Fall des Antragstellers jedoch nicht anzuerkennen. Während der Elternzeit seiner Lebensgefährtin seien sowohl ein gemeinsamer Umzug der Familie nach J. als auch eine Wochenendbeziehung zumutbar. Die die räumliche Trennung bewirkende Entscheidung der Lebensgefährtin, in A-Stadt wegen der dortigen familiären Bindungen wohnhaft zu bleiben, möge persönlich nachvollziehbar sein. Es handele sich aber nicht um einen den Antragsteller gewissermaßen schicksalhaft treffenden persönlichen Grund, der es auch im Lichte der bestehenden Konkurrenten-Situation gerechtfertigt erscheinen lasse, ihn vor anderen vorzuziehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 27. Januar 2022 mit der Begründung abgelehnt, dass bereits kein Anordnungsgrund vorliege. Der Antragsteller berufe sich nicht mit Erfolg auf ein Rechtsschutzbedürfnis. Sein Anspruch auf Zulassung zu einem Studium seiner Wahl sei durch sein zum Sommersemester 2020 an der H. im Zweiten Studienabschnitt aufgenommenes Medizinstudium erfüllt. Der auf privaten Gründen fußende Wunsch nach einem Wechsel des Studienortes sei nicht im Wege der außerkapazitären Zulassung zu verwirklichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Gleichlautenden Eilrechtsschutzanträgen von Studienbewerbern ohne anderweitige Zulassung zum Studium der Humanmedizin hat das Verwaltungsgericht am selben Tage teilweise stattgegeben. Auf der Grundlage seiner Feststellung, dass die Studienplatzkapazität im Wintersemester 2021/22 im 5. Fachsemester des Modellstudiengangs I. sieben Plätze mehr als durch die ZZ-VO 2021/2022 festgesetzt betrage, hat es die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, unter den insgesamt 15 Antragstellern sieben Studienplätze zu verlosen. Diese Beschlüsse sind rechtskräftig geworden. Nach Auskunft der Antragsgegnerin sind nur sechs Studienplätze besetzt worden; die anderen Studienbewerber hätten ihren Antrag zurückgenommen oder den angebotenen Studienplatz abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Zur Begründung seiner Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegengetreten ist, rügt der Antragsteller maßgeblich einen Verstoß gegen den durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz der Familie sowie sein Recht und seine Pflicht zur Beteiligung an der Pflege und Erziehung seiner Tochter aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Die zulässige Beschwerde, auf deren fristgerecht vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu Recht schon wegen Fehlens eines Anordnungsgrundes abgelehnt, so dass über das Bestehen eines Anordnungsanspruchs nicht mehr entschieden werden muss. Hiernach kann dem Antragsteller nicht zugutekommen, dass einer der sieben von dem Verwaltungsgericht zum Wintersemester 2021/22 im 5. Fachsemester des Modellstudiengangs I. der Antragsgegnerin über die durch die ZZ-VO 2021/2022 bestimmten 300 Studienplätze hinaus festgestellten Studienplätze nicht besetzt worden ist. Auch braucht den Darlegungen des Antragstellers zur Begründung seiner Auffassung, dass die tatsächliche Aufnahmekapazität noch weitaus höher, nämlich bei mindestens 370 Studienplätzen liege, nicht mehr nachgegangen werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Die von dem Antragsteller erstrebte Regelungsanordnung erscheint auch unter Berücksichtigung seines Beschwerdevorbringens nicht i.S. von § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig. Dies ergibt sich im Einzelnen wie folgt:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Aus dem in Art. 12 Abs. 1 GG allen Deutschen gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein verfassungsmäßig gewährleistetes - auf gesetzlicher Grundlage regel- und einschränkbares - Recht des die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllenden ("hochschulreifen") Staatsbürgers auf Zulassung zum Hochschulstudium seiner Wahl. Dieses Recht steht allerdings - dies lässt der Antragsteller bei seiner Berufung auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG außer Acht - unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann (vgl. BVerfG, Urt. v. 8.2.1977 - 1 BvF 1/76 u.a. -, juris Rn. 67). Durch die Knappheit der Studienplätze unumgänglich werdende Beschränkungen der Ausübung des Grundrechts auf freie Wahl der Ausbildungsstätte können sich zulässigerweise auch daraus ergeben, dass der Studienplatzmangel zur schnellstmöglichen Vergabe von Studienplätzen zwingt. Das Gebot erschöpfender Studienplatzvergabe verwehrt daher grundsätzlich die Fortführung eines Rechtsstreits um einen Studienplatz außerhalb der festgesetzten Zulassungszahl, wenn der betreffende Studienplatzbewerber an einer anderen Hochschule endgültig zugelassen wird (so bereits BVerwG, Urt. v. 13.12.1984 - 7 C 16/84 u.a. -, juris Leitsatz 1 und Rn. 6).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Auf dieser Grundlage geht die obergerichtliche Rechtsprechung hinsichtlich eines von einem Studienortwechsler angestrengten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens übereinstimmend vom Fehlen eines Anordnungsgrundes aus (vgl. Zimmerling/Brehm, Hochschulkapazitätsrecht, Bd. 1, Köln 2011, Rn. 170 mit FN 436; siehe aus jüngerer Zeit auch OVG Berl.-Bdg., Beschl. v. 25.2.2020 - OVG 5 NC 39.19 -, juris Rn. 8). Auch der Senat hat bereits entschieden, dass eine die Vorwegnahme der Hauptsache im Eilverfahren ausnahmsweise rechtfertigende Dringlichkeit dann nicht mehr gegeben ist, wenn ein Studienbewerber bereits an einer anderen Hochschule endgültig oder auch nur vorläufig zu dem angestrebten Studium zugelassen worden ist (vgl. Senatsbeschl. v. 10.1.2011 - 2 NB 458/10 -, n.v., aber bei Zimmerling/Brehm, Hochschulkapazitätsrecht, Bd. 1, Köln 2011, Rn. 170 in FN 436 zitiert, BA S. 3). Diese Bewertung stellt der Antragsteller als Grundsatz auch nicht in Frage. Mit seinem bereits bei Stellung des Eilantrags erfolgten Vortrag, er könne nicht auf seinen Studienplatz an der H. verwiesen werden, erstrebt er für sich die Anerkennung eines Sonderfalls.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Zuzugeben ist dem Antragsteller insoweit, dass das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich angeführt hat, dass es Ausnahmesituationen geben möge, in denen ein überwiegendes Interesse des Studienbewerbers an dem im Streit befindlichen Studienplatz anzuerkennen sei, welches das Interesse an der umgehenden „Freigabe“ eines Studienplatzes überwiege (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.12.1984 - 7 C 16/84 u.a. -, juris Rn. 6). Ebenso hat der Senat in seiner oben angegebenen Entscheidung bereits erwogen, dass Abweichendes gelten könne, wenn ohne den beabsichtigten Wechsel des Studienortes die Fortsetzung der begonnenen Ausbildung ernstlich gefährdet sei oder - was hier einschlägig sein könnte - andere zwingende Umstände, insbesondere existentieller Art, einen Ortswechsel rechtfertigen können (vgl. Senatsbeschl. v. 10.1.2011 - 2 NB 458/10 -, n.v., BA S. 3). Auch die Antragsgegnerin verschließt sich der Anerkennung einer Ausnahme vom Grundsatz des Fehlens eines Anordnungsgrundes bei schon bestehender anderweitiger Zulassung nicht. Dabei dürfte sich die von ihr formulierte Anforderung „unter ganz engen Voraussetzungen des Härtefalls“ inhaltlich nicht von dem Ansatz des Senats, dass der Studienortwechsel durch zwingende Umstände gerechtfertigt sein muss, unterscheiden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>In etwa auf derselben Linie liegt auch der in der Antragserwiderung der Antragsgegnerin in Bezug genommene und von dem Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung aufgegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover, nach dem für die ausnahmsweise Bejahung eines Anordnungsgrundes Fallgestaltungen denkbar sind, bei denen die - auch nur vorübergehende - Fortsetzung des Studiums an einem anderen Ort und das Warten auf einen nach Maßgabe der jeweiligen Vergabe-Verordnung geregelten Studienplatzwechsel aus persönlichen oder finanziellen Gründen für den Studierenden eine besondere Härte bedeuten würde (VG Hannover, Beschl. v. 12.5.2004 - 6 C 1864/04 -, juris Leitsatz 2 und Rn. 12; ebenso VG Göttingen, Beschl. v. 26.5.2004 - 8 C 714/04 -, juris Rn. 12). Soweit sich der Antragsteller unter Verweis auf diese Rechtsprechung an der von der Antragsgegnerin benutzten Wendung eines „gewissermaßen <em>schicksalhaft</em> treffenden persönlichen Grundes“ stößt, ist anzumerken, dass damit offenkundig nur eine Abgrenzung gegenüber einer durch eigenes Handeln verursachten Härtesituation ausgesprochen werden sollte. Auch der vom Senat gewählte Begriff der <em>zwingenden</em> Umstände setzt jedoch eine Alternativlosigkeit voraus. Demgegenüber betrifft die von dem Antragsteller in der Beschwerdebegründung zu einem nach Ausbildungsabbruch oder Fachrichtungswechsel für die Weitergewährung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) erforderlichen wichtigen oder unabweisbaren Grund i.S. von § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bzw. 2 BAföG angeführte Rechtsprechung einen gänzlich anderen Rechtsbereich. Aus der vom Bundesverwaltungsgericht in dem Fall eines mit einem Fachrichtungswechsel verbundenen Studienortwechsels getroffenen Aussage, das Ansinnen an den (damaligen) Kläger, er müsse eine Trennung von seiner Ehefrau aus förderungsrechtlichen Gesichtspunkten respektieren, sei mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar (BVerwG, Urt. v. 23.9.1999 - 5 C 19.98 -, juris Rn. 14), kann der - im Übrigen mit der Mutter seines Kindes nicht verheiratete - Antragsteller daher für sich nichts herleiten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Allerdings kommt ohne Weiteres in Betracht, dass sich die einen Wechsel des Studienortes rechtfertigenden zwingenden Umstände aus besonderen familiären Verhältnissen ergeben können. Die grundrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG, auf die sich der Antragsteller zur Begründung seiner Beschwerde maßgeblich stützt, finden insoweit Raum. Entgegen seiner Ansicht wirkt sich die Geburt seiner Tochter im Juni 2021 aber nicht in der Weise aus, dass der von ihm zum Wintersemester 2021/22 angestrebte Studienortwechsel (existentiell) zwingend erscheint.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Zu Recht hat die Antragsgegnerin darauf hingewiesen, dass die Lebensgefährtin des Antragstellers zu Beginn des Wintersemesters 2021/22 und bis in den Juni 2022 hinein wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit örtlich nicht gebunden war. Die familiäre Gemeinschaft hätte sich daher durchaus am Studienort des Antragstellers oder jedenfalls in dessen Nähe herstellen lassen können. Der Antragsteller hat zwar gute Gründe für die Entscheidung gegen einen Umzug der Familie nach J. dargetan (günstige Miete für die im Eigentum seiner Mutter stehende K. Wohnung, zusätzliche Möglichkeiten der Betreuung des Kindes durch seine Mutter, die Eltern seiner Lebensgefährtin sowie seine Uroma, finanzielle Belastung durch Umzug und Anmietung einer wahrscheinlich teureren Wohnung am Studienort). Dass, wie er und seine Lebensgefährtin in einem von ihnen am 23. Dezember 2021 verfassten, in dem Beschwerdebegründungsschriftsatz wiedergegebenen Schreiben meinen, ein Umzug in der Elternzeit nach J. und „einige Monate später wieder zurück“ mit einem Kleinkind - bzw. Säugling - nicht zumutbar gewesen sei, erschließt sich indes nicht. Nicht angenommen werden kann und nicht hinreichend glaubhaft gemacht ist, dass die finanzielle Belastung für die Familie nicht zu tragen gewesen wäre. Angesichts des sich aus dem erstinstanzlich vorgelegten Arbeitsvertrag ergebenden bisherigen Bruttoverdienstes der Lebensgefährtin des Antragstellers kann das ihr zustehende Elterngeld nicht geringfügig sein; hinzu kommt der Kindergeldanspruch. Zudem hätten sich für den Antragsteller die für die Reisen zwischen A-Stadt und J. anfallenden Fahrtkosten zumindest erheblich reduziert. Denn angesichts dessen, dass der Antragsteller schon seit dem Sommersemester 2020 in J. studiert, die Jahre zuvor sogar in F. studiert hat und seine Lebensgefährtin bereits seit mehreren Jahren in A-Stadt Vollzeit berufstätig ist, liegt auf der Hand, dass beide jedenfalls außerhalb der Semesterferien schon vor der Geburt ihres Kindes eine Wochenendbeziehung geführt haben. Vor diesem Hintergrund überrascht der - allerdings auch nicht weiter substantiierte - Vortrag aus dem Beschwerdeverfahren, eine Wochenendbeziehung A-Stadt-J. sei aufgrund der hohen Fahrtkosten nicht zu verwirklichen, da die finanziellen Mittel dafür nicht ausreichten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht, wenn man die von der Lebensgefährtin des Antragstellers nach Ablauf der einjährigen Elternzeit beabsichtigte Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit mit in den Blick nimmt. Zwar ist ab diesem Zeitpunkt eine Herstellung der Familieneinheit am Studienort des Antragstellers nicht mehr möglich. Angesichts der Entfernung zwischen A-Stadt und J. könnte der Antragsteller in der Vorlesungszeit unter der Woche nicht mehr mit seiner Familie zusammenwohnen. Dass eine solche zeitweise Trennung mit dem durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz der Familie sowie mit dem Recht und der Pflicht des Antragstellers zur Beteiligung an der Pflege und Erziehung seiner Tochter aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar wäre, lässt sich entgegen seiner Auffassung aber nicht feststellen. Gerade angesichts der in A-Stadt neben seiner Lebensgefährtin zur Verfügung stehenden weiteren Betreuungspersonen kann nicht angenommen werden, dass die Versorgung des Kindes nach dessen Kitabesuch außerhalb der Semesterferien innerhalb der Woche nicht ohne den Antragsteller sichergestellt werden könnte. Soweit sich der Antragsteller durch die zeitweise räumliche Trennung in seiner Beziehung zu seiner Tochter beeinträchtigt sieht, hat die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung zutreffend angemerkt, dass ihn auch die Verfolgung des Medizinstudiums in D-Stadt bei der selbst angegebenen und nach Einschätzung des Senats äußerst optimistisch veranschlagten täglichen Fahrtzeit von drei Stunden zu umfänglicher Abwesenheit aus A-Stadt verpflichten würde. Als durchgreifend lässt sich auch nicht das Argument des Antragstellers ansehen, dass seine Lebensgefährtin erwarte, dass er sich als Vater intensiv um das Kind kümmere. Denn seiner Lebensgefährtin konnte nicht verborgen geblieben sein, dass für den Antragsteller eine Verlagerung des Studienortes in den norddeutschen Raum angesichts der knappen Kapazitäten in dem begehrten Studium der Humanmedizin nicht einfach sein würde. Schließlich spricht gegen die Annahme, dass der Studienortwechsel hier durch zwingende Umstände gerechtfertigt ist, dass die mit einem Verbleib des Antragstellers an der H. einhergehende zeitweilige familiäre Trennung absehbar zeitlich begrenzt ist. Denn der Antragsteller ist in seinem Medizinstudium bereits weit fortgeschritten. Das Wintersemester 2021/22 war für ihn das 3. klinische Semester, so dass er den insgesamt auf drei Jahre angelegten Zweiten Studienabschnitt gerechnet von dem Zeitpunkt des Auslaufens der Elternzeit seiner Lebensgefährtin in etwa eineinviertel Jahr abgelegt haben könnte. Das daran anschließende Praktische Jahr, nach dem der Dritte (und letzte) Abschnitt der Ärztlichen Prüfung erfolgt, kann zudem gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 AÄpprO auch in (familienfreundlicherer) Teilzeit absolviert werden. Zwar mag die Einhaltung dieses Zeitplans angesichts dessen, dass der Antragsteller bis zum Beginn des Wintersemesters 2021/22 lediglich zwei der insgesamt 33 in dem Zweiten Studienabschnitt zu erbringenden Leistungsnachweise erworben hat, nicht sicher sein. Eine etwaig eingetretene Studienverzögerung müsste sich der Antragsteller aber mangels gegenteiliger Anhaltspunkte selbst zurechnen lassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG (vgl. Ziff. 18.1 i.V.m. 1.5 Satz 2 Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007214&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,923
vghbw-2022-09-28-9-s-139422
{ "id": 161, "name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg", "slug": "vghbw", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
9 S 1394/22
"2022-09-28T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:40"
"2022-10-17T11:11:05"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 10. Juni 2022 - 10 K 1659/22 - geändert.</p><p>Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage im Verfahren 10 K 1185/21 gegen die drei Beitragsbescheide des Antragsgegners vom 16.02.2021 und dessen Widerspruchsbescheid vom 26.03.2021 (Mitgliedsnummer …) anzuordnen, wird abgelehnt.</p><p>Im Übrigen wird die Beschwerde mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Nr. 2 des Tenors des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 10. Juni 2022 wie folgt neu gefasst wird:</p><p>Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers im Verfahren 10 K 1660/22 hinsichtlich der Bescheide des Antragsgegners über die Festsetzung von Säumniszuschlägen vom 25.01.2022, 28.02.2022, 28.03.2022 und 25.04.2022 sowie hinsichtlich dessen Widerspruchsbescheids vom 28.04.2022, soweit er die vorgenannten Bescheide betrifft, aufschiebende Wirkung hat.</p><p>Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Antragsteller zu 8/9 und der Antragsgegner zu 1/9.</p><p>Der Streitwert wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung im Beschluss des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf jeweils 2.643,20 EUR festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Beschwerde des Antragsgegners richtet sich bei sachdienlicher Auslegung gegen den im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 10 K 1659/22 ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 10.06.2022, mit dem dieses dem Antrag des Antragstellers gemäß § 80 Abs. 5 VwGO stattgegeben hat. Soweit die Beschwerdeschrift dem angefochtenen Beschluss das Datum „09.06.2022“ zugeschrieben hat, handelt es sich um eine offensichtliche Unrichtigkeit, die nach dem plausiblen Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners auf einem Kanzleiversehen beruht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die statthafte und auch im Übrigen zulässige (vgl. § 147 Abs. 1, § 146 Abs. 1 und 4 VwGO) Beschwerde des Antragsgegners ist zum überwiegenden Teil begründet (1.). Lediglich hinsichtlich der geforderten Säumniszuschläge ist die Beschwerde unbegründet. Insoweit ist Nr. 2 des Tenors des angefochtenen Beschlusses allerdings klarstellend dahingehend zu fassen, dass der Klage des Antragstellers im Verfahren 10 K 1660/22 aufschiebende Wirkung zukommt (2.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>1. Auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens hat das Verwaltungsgericht dem Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die drei Beitragsbescheide des Antragsgegners vom 16.02.2021 für Dezember 2019 sowie für die Jahre 2020 und 2021 sowie den Widerspruchsbescheid vom 26.03.2021 anzuordnen, zu Unrecht stattgegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Der Maßstab für die gerichtliche Entscheidung ergibt sich hier, weil es um die Anforderung von öffentlichen Abgaben nach § 80 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO geht, aus einer entsprechenden Anwendung von § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO (vgl. VGH Bad.-Württ, Beschluss vom 04.02.2015 - 2 S 2542/14 -, juris; Senatsbeschluss vom 25.02.2013 - 9 S 2346/12 -). Nach dieser Vorschrift soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen (dazu unter a) oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (dazu unter b). Beide Voraussetzungen liegen hier bezüglich der Bescheide vom 16.02.2021 nach Aktenlage nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>a) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit im Sinne von § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO sind nur dann anzunehmen, wenn ein Erfolg von Rechtsbehelf oder Klage wahrscheinlicher als deren Misserfolg ist, wobei ein lediglich als offen erscheinender Verfahrensausgang die Anordnung nicht trägt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 04.02.2015, a.a.O.; Schoch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 80 VwGO Rn. 283). Die in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO gesetzlich generell bestimmte sofortige Vollziehbarkeit würde ihren Zweck nicht erreichen, wenn die aufschiebende Wirkung schon bei offenem Verfahrensausgang angeordnet werden müsste, denn nach der gesetzlichen Wertung soll das Vollziehungsrisiko beim Bürger und nicht bei der Verwaltung liegen (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 04.02.2015, a.a.O).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Ausgehend hiervon können die Erfolgsaussichten der gegenständlichen Klage des Antragstellers nach derzeitigem Sachstand lediglich als offen bezeichnet werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>aa) Der Antragsgegner hatte aufgrund der vom Antragsteller zu Beginn seiner Mitgliedschaft in einem Formular getätigten Angaben dessen monatlichen Beitrag zunächst mit zwei Bescheiden vom 07.02.2020 für den Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.12.2019 und für den Zeitraum ab dem 01.01.2020 jeweils auf den <strong>Mindestbeitrag</strong> festgesetzt. Durch Vorlage des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 2019 am 15.01.2021 wurde dem Antragsgegner bekannt, dass der Antragsteller auch Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit hat und Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet. Daraufhin erließ der Antragsgegner am 16.02.2021 drei Bescheide, mit denen er die Beiträge gemäß § 13 Abs. 1 VwS für den Zeitraum 01.12.2019 bis 31.12.2019, für den Zeitraum 01.01.2020 bis 31.12.2020 und für den Zeitraum ab dem 01.01.2021 jeweils neu in Höhe des „<strong>3/10 Regelpflichtbeitrags</strong>“ festsetzte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Rücknahme eines als rechtswidrig erkannten Beitragsbescheids des Antragsgegners richte sich nach § 45, § 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. b) KAG, § 130 AO und erfordere eine Ermessensentscheidung. Hier liege bei jedem der drei angegriffenen Bescheide vom 16.02.2021 und bei dem Widerspruchsbescheid vom 26.03.2021 ein Ermessensausfall vor. Die Bescheide enthielten überhaupt keine ausdrückliche Entscheidung zur Rücknahme der beiden Bescheide vom 07.02.2020 und auch keinerlei Anhaltspunkte für eine Ermessensausübung. Die [eine Rechtspflicht zur Änderung von Steuerbescheiden regelnde] Bestimmung des § 173 AO gelte nach § 45, § 3 Abs. 1 Nr. 4 lit. c) KAG nur für kommunale Steuern. Eine sonstige öffentliche Abgabe im Sinne von § 45 KAG, wie sie bei dem in Streit stehenden Mitgliedsbeitrag vorliege, sei keine kommunale Steuer im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 4 lit. c) KAG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Dieser Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Die Annahme des Verwaltungsgerichts dürfte darauf beruhen, dass es den in § 3 Abs. 1 Nr. 4 lit. c) KAG enthaltenen Zusatz „mit der Maßgabe, dass die Vorschrift nur für kommunale Steuern gilt“ auf sämtliche Bestimmungen der Paragraphenkette („§§ 173, 173a, 174“) und nicht allein auf § 174 AO bezogen hat. Dies dürfte indes weder mit dem Wortlaut („die Vorschrift“) noch mit der gesetzlichen Systematik vereinbar sein und widerspricht im Übrigen der Rechtsprechung des Senats. Danach ist der Beitrag zum Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg eine „sonstige öffentliche Abgabe“ im Sinne von § 45 KAG. Auf ihn sind daher die in § 3 KAG genannten Bestimmungen der Abgabenordnung sinngemäß anzuwenden, soweit nicht eine besondere gesetzliche Regelung besteht. Die Abgabenordnung unterscheidet zwischen Steuerbescheiden und sonstigen Verwaltungsakten. Steuerbescheide sind Verwaltungsakte, durch die verbindlich festgesetzt wird, wie hoch die nach Art, Zeitraum und Zeitpunkt näher bestimmte Steuer ist. Während die übrigen Verwaltungsakte grundsätzlich frei abänderbar oder aufhebbar sind, sofern nicht die Einschränkungen der §§ 130 Abs. 2 und 3, 131 Abs. 2 AO eingreifen, gelten für Steuerbescheide in Gestalt der §§ 172 ff. AO besondere Regelungen. Steuerbescheide unterliegen danach einer besonderen Bestandskraft. Die genannten Vorschriften sind gemäß § 45, § 3 Abs. 1 Ziff. 4c KAG auf die Beitragsbescheide des Versorgungswerks mit bestimmten Maßgaben sinngemäß anzuwenden (zum Ganzen Senatsurteil vom 27.07.2012 - 9 S 569/11 -, juris, m.w.N.; vgl. auch VG Freiburg, Urteile vom 24.02.2016 - 7 K 3013/14 -, und vom 10.09.2013 - 1 K 1114/13 -; VG Sigmaringen, Urteil vom 27.01.2016 - 1 K 2114/15 -).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Mithin ist das Verwaltungsgericht unter Ausblendung der einschlägigen Rechtsprechung zu Unrecht davon ausgegangen, dass § 173 AO im vorliegenden Fall keine Anwendung findet und die gegenständlichen Bescheide wegen fehlender Anhaltspunkte für eine Ermessensausübung voraussichtlich rechtswidrig sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Danach begegnet die - sinngemäße - Anwendbarkeit des § 173 AO keinen rechtlichen Bedenken. Insoweit führen auch die unter dem Gesichtspunkt rechtstaatlichen Vertrauensschutzes erhobenen, pauschalen verfassungsrechtlichen Einwände gegen die Anwendbarkeit der Bestimmung zu keiner anderen Beurteilung. Dabei lässt der Antragsteller insbesondere unberücksichtigt, dass dem Gesetzgeber bei der Normierung von Vertrauensschutz gewährleistenden Regelungen in Hinsicht auf den Zielkonflikt zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit ein erheblicher Spielraum zukommt (vgl. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Stand: Januar 2022, Art. 20 Rn. 95 m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Vor diesem Hintergrund spricht zunächst einiges für die Rechtmäßigkeit der Bescheide vom 16.02.2021. Nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Demgemäß ist grundsätzlich davon auszugehen, dass bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen auch dem Antragsgegner kein Ermessen eingeräumt ist, sondern dieser grundsätzlich eine Aufhebung bzw. Änderung von rechtswidrigen Beitragsbescheiden vorzunehmen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Danach geht der Antragsgegner aller Voraussicht nach zutreffend davon aus, dass er aufgrund des nachträglichen Bekanntwerden des Umstands, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit rentenversicherungspflichtig war, verpflichtet war, die bestandskräftigen Beitragsbescheide vom 07.02.2020 aufzuheben. Da nach § 13 Abs. 1 VwS Mitglieder, die zugleich Pflichtversicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung sind, einen Beitrag in Höhe von 3/10 des Regelpflichtbeitrags leisten, dürften sich die in der Vergangenheit vorgenommenen Beitragsfestsetzungen auf den Mindestbeitrag nach § 11 Abs. 3 VwS (1/13 des Regelpflichtbeitrags) als rechtswidrig zu niedrige und demgemäß die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Satz 1 AO erfüllende Festsetzungen darstellen. Deshalb spricht einiges dafür, dass der Antragsgegner die Beitragsfestsetzungen in den bestandskräftigen Bescheiden vom 07.02.2020 durch die Bescheide vom 16.02.2021 konkludent aufgehoben hat. Denn er hat mit Rückwirkung nunmehr eine satzungsgemäße Neufestsetzung der Beiträge vorgenommen. Dies ist auf der Grundlage der § 45, § 3 Abs. 1 Ziff. 4c KAG i.V.m. § 173 Abs. 1 Satz 1 AO jedenfalls grundsätzlich nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>bb) Auch im Hinblick auf die weiteren Einwendungen des Antragstellers gegen die Rechtmäßigkeit der Bescheide vermag der Senat nach derzeitigem Sachstand jedenfalls eine überwiegende Erfolgsaussicht der von ihm erhobenen Klage nicht festzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>(1) Die behauptete Nichtigkeit der angegriffenen Bescheide wird schon nicht schlüssig dargelegt. Die Angriffe des Antragstellers beziehen sich insoweit (lediglich) auf die Bezeichnung der Bescheide, die die - zumindest missverständliche - Überschrift „Beiträge für die Angestelltentätigkeit“ tragen. Der Antragsteller macht geltend, da er keine beitragspflichtige Angestelltentätigkeit ausübe, fehle dem Antragsgegner offensichtlich die Kompetenz für die Festsetzung der Beiträge für die Angestelltentätigkeit. Diese Argumentation verfängt nicht. Ungeachtet der Überschrift der Bescheide dürften ausweislich ihres sonstigen Inhalts in der Sache keine Zweifel daran bestehen, dass mit ihnen an die Mitgliedschaft des Antragstellers beim Antragsgegner angeknüpft und auf der Grundlage der für ihn als Mitglied geltenden satzungsrechtlichen Regelung des § 13 Abs. 1 VwS wegen der bestehenden gesetzlichen Rentenversicherungspflicht ein entsprechender Beitrag erhoben wird. Im Übrigen ist Gegenstand der Anfechtungsklage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dass der Widerspruchsbescheid des Antragsgegners vom 26.03.2021 die beanstandete Bezeichnung aufweist, ist nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>(2) Der Antragsteller macht weiter geltend, maßgeblicher Ausschlussgrund für eine Änderung der Festsetzung zu seinen Lasten auf der Grundlage des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei die Verletzung der amtlichen Ermittlungspflicht trotz ordnungsgemäßer Mitwirkung des Steuerschuldners. Das nehme die Rechtsprechung dann an, wenn der Behörde die ihr tatsächlich erst später bekannt gewordenen Tatsachen bei ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wären. Der Antragsgegner habe indes die ihm gemäß §§ 45, 3 Absatz 1 Nr. 3 a) KAG, § 88 AO obliegende Amtsaufklärungspflicht verletzt. Da seine Satzung nur ganz wenige Konstellationen für die Beitragsbemessung vorsehe, sei er gemäß § 88 AO verpflichtet gewesen, die wenigen Konstellationen in dem von ihm verwendeten Formular zu erfragen. Gleichwohl habe er in dem verwendeten Formular vergessen, nach einer Versicherungspflicht in der Rentenversicherung zu fragen, welche nach § 13 Abs. 1 VwS zu einem 3,9 fachen Mindestbeitrag führe. Die Aufnahme dieser Option in das Formular wäre ohne großen Aufwand möglich und geboten gewesen. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners im Widerspruchsbescheid sei Teil C des Formulars, der die Antragstellung als „angestellter Rechtsanwalt“ betreffe, nicht einschlägig. Er sei sozialversicherungspflichtiger Angestellter der BGV AG und habe für diese Tätigkeit keine Zulassung als Rechtsanwalt. Damit erfülle er die Tatbestandsmerkmale der in § 46 BRAO legal definierten Begriffe des „angestellten Rechtsanwalts“ bzw. des „Syndikusrechtsanwalts“ nicht. Deshalb habe er zu Recht und ohne Verletzung seiner Mitwirkungspflicht den offensichtlich nicht einschlägigen Teil C nicht angekreuzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu § 173 AO ist anerkannt, dass die Finanzbehörde nach den Grundsätzen von Treu und Glauben daran gehindert sein kann, die Änderung eines Bescheids zulasten des Steuerpflichtigen darauf zu stützen, dass ihr steuerrechtlich erhebliche Tatsachen erst nachträglich bekannt geworden sind. Das wird dann angenommen, wenn der Finanzbehörde die ihr tatsächlich erst später bekannt gewordenen Tatsachen bei ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wären. Welche Anforderungen an die Ermittlungen der Finanzbehörde zu stellen sind, ergibt sich aus § 88 AO, lässt sich also nicht ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles allgemein festlegen. Die Feststellungslast für derartige Pflichtverletzungen trägt der Steuerpflichtige (zum Ganzen vgl. nur Rüsken, in: Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 173 Rn. 80 m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Ob und inwieweit diese Grundsätze auch für die Vorgehensweise des Antragsgegners bei der Beitragserhebung gelten, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner abschließenden Entscheidung. Dies gilt auch für die Fragen, ob der Antragsteller seiner Mitwirkungspflicht (vgl. § 39 Abs. 1 VwS) in vollem Umfang nachgekommen ist und er der nachträglichen Änderung seiner Beitragsbescheide durch den Antragsgegner tatsächlich den Grundsatz von Treu und Glauben entgegenhalten kann. Denn insoweit handelt es sich - gerade auch mit Blick auf die Notwendigkeit einer Konkretisierung der Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Antragsgegners - um tatsächlich und rechtlich schwierige Fragen, deren Beantwortung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>(3) Auch der Vortrag zur geltend gemachten Verfassungs- bzw. Unionsrechtswidrigkeit des § 13 Abs. 1 VwS führt zu keiner anderen Beurteilung. Die Regelung des § 13 Abs. 1 VwS war in der Vergangenheit mehrfach Gegenstand der Rechtsprechung des Senats wie der Verwaltungsgerichte. Durchgreifende Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Bestimmung mit höherrangigem Recht sind bislang nicht erhoben worden (vgl. Senatsurteil vom 28.01.2003 - 9 S 871/02 - juris; VG Freiburg, Urteile vom 25.09.2008 - 4 K 701/08 -, und vom 03.07.2003 - 4 K 1472/01 -, beide juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 25.03.2011 - 1 K 206/10 -). Hiermit setzt sich der Antragsteller nicht auseinander. Im Hinblick auf die Unionsrechtswidrigkeit dürfte es im Übrigen schon an hinreichenden Anhaltspunkten für einen grenzüberschreitenden Bezug des vorliegenden Sachverhalts fehlen. Entgegen dem Vortrag des Antragstellers dürfte der „besondere Beitrag“ in § 13 Abs. 1 VwS auch eine ausreichende gesetzliche Grundlage in der Bestimmung des § 17 Abs. 1 Nr. 4 RAVG finden (vgl. auch VG Freiburg, Urteil vom 03.07.2003, a.a.O., juris). Soweit er der Sache nach geltend macht, mit § 13 Abs. 1 VwS lasse die Satzung im Widerspruch zu § 8 Abs. 1 RAVG Beiträge zu, die gerade nicht einkommensbezogen seien, nimmt er nicht hinreichend in den Blick, dass § 8 Abs. 1 RAVG explizit nur für den in § 11 Abs. 1 VwS näher geregelten Regelpflichtbeitrag gilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>dd) Schließlich dürften auch die gegen den Widerspruchsbescheid erhobenen Einwände nicht durchgreifen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Soweit der Antragsteller geltend macht, der Widerspruchsbescheid sei rechtswidrig, da er allein vom Vorstandsvorsitzenden und deshalb vom falschen Organ erlassen worden sei, vermag der Senat dies nicht nachzuvollziehen. Ausweislich der vorliegenden Akten hat der Vorstand des Antragsgegners in seiner Sitzung vom 25.03.2021 den Beschluss gefasst, den Widerspruch gegen die Beitragsbescheide vom 16.02.2021 zurückzuweisen (Behördenakte S. 43). Dass § 42 Abs. 2 VwS nicht beachtet worden wäre, ist demnach nicht dargetan und nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Mit dem Vortrag zur Rechtswidrigkeit des Widerspruchsbescheides in Bezug auf die erhobene Widerspruchsgebühr wird die Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides hinsichtlich der Beitragsbescheide vom 16.02.2021 nicht in Frage gestellt. Unabhängig davon dürfte bei der Einschätzung der Erfolgs-aussichten der Klage im Hinblick auf die entgegen § 71 VwGO unterbliebene Anhörung zur erstmaligen Beschwer in Gestalt der Festsetzung einer Widerspruchsgebühr zu berücksichtigen sein, dass die fehlende Anhörung bis zum Abschluss des Klageverfahrens nachgeholt und der Fehler damit geheilt werden kann (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 LVwVfG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>b) Eine unbillige und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte im Sinne von § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO besteht dann, wenn durch die Vollziehung wirtschaftliche Nachteile drohen, die durch eine etwaige spätere Rückzahlung der eingezogenen Beträge nicht ausgeglichen werden oder nur schwer gutzumachen sind, oder wenn die Vollziehung zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz führen würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11.10.2010 - 2 BvR 1710/10 -, juris Rn. 20; Senatsbeschlüsse vom 14.07.2014 - 9 S 954/14 -, vom 25.02.2013 - 9 S 2346/12 - und vom 29.06.1992 - 9 S 1346/92 -, juris Rn. 13). Die wirtschaftliche Existenz ist gefährdet, wenn ohne die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der notwendige Lebensunterhalt nicht mehr bestritten werden kann, das heißt vorübergehend oder dauernd keine ausreichenden Mittel mehr für Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung, Ausbildung und sonstige Bedürfnisse des täglichen Lebens verbleiben. Die Grundsätze des Familienunterhaltsrechts sind zu berücksichtigen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 25.02.2013, a.a.O., und vom 29.06.1992, a.a.O., Rn. 13).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>An diesem Maßstab gemessen kommt eine Aussetzung der Vollziehung wegen einer unbilligen Härte im Sinne von § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht in Betracht. An hinreichend substantiierten und umfassenden Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen hat es der Antragsteller fehlen lassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>2. Soweit das Verwaltungsgericht dem Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich der geforderten Säumniszuschläge stattgegeben hat, ist die Beschwerde im Ergebnis unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Das Verwaltungsgericht hat die Annahme der Begründetheit des vorläufigen Rechtsschutzbegehrens hinsichtlich der Säumniszuschläge darauf gestützt, dass durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage des Antragstellers gegen die drei Beitragsbescheide vom 16.02.2021 jedenfalls rückwirkend zum Zeitpunkt des Erlasses der Verwaltungsakte deren sofortige Vollziehbarkeit entfallen ist und damit auch die rechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Säumniszuschläge bezüglich der in diesen Bescheiden festgesetzten Beiträgen fehlen. Diese Begründung erweist sich aus den unter 1. dargelegten Gründen nicht als tragfähig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Das Begehren des Antragstellers hat insoweit jedoch aus einem anderen Grund Erfolg. Seinen erstinstanzlichen Antrag, „die bereits begonnene Vollziehung, insbesondere die Erhebung von Säumniszuschlägen aufzuheben“, legt der Senat dabei - anders als das Verwaltungsgericht - dahingehend aus, dass die Feststellung begehrt wird, dass der gegen die Bescheide hinsichtlich der Säumniszuschläge und den entsprechenden Widerspruchsbescheid erhobenen Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung zukommt. Sachdienlich wendet sich der Antragsteller gegen die unter Missachtung der bestehenden aufschiebenden Wirkung seiner Klage erfolgende behördliche Vollziehung der Bescheide über die Säumniszuschläge. Denn der Antragsgegner hat die Bescheide jeweils mit dem Hinweis versehen „Rechtsbehelfe ändern nichts an der sofortigen Vollziehung von Beitragsbescheiden, vgl. § 80 (2) VwGO“ und sich der Sache nach damit eines Vollziehungsrechts berühmt. In dieser Situation der sog. faktischen Vollziehung kommt vorläufiger Rechtsschutz in analoger Anwendung des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in Betracht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30.08.2012 - 7 VR 6/12 -, juris; Schoch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 80 VwGO Rn. 352; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018., § 80 Rn. 164; vgl. auch Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 115). Statthafter Antrag ist insoweit der Antrag auf Feststellung, dass der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, da regelmäßig bereits die feststellende Entscheidung des Gerichts wirksamen vorläufigen Rechtsschutz vermittelt (vgl. Schoch, a.a.O., § 80 VwGO Rn. 356).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass die Statthaftigkeit des vom Verwaltungsgericht angenommenen, auf die unmittelbare Aufhebung der Bescheide über Festsetzung von Säumniszuschlägen sowie des entsprechenden Widerspruchsbescheids gerichteten „Annexantrags nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO“ Zweifeln ausgesetzt ist. Dies dürfte schon deshalb gelten, weil der unmittelbar auf § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO gestützte Antrag auf Aufhebung der Vollziehung nur bei rechtmäßigen Vollziehungsmaßnahmen in Betracht kommt (vgl. Schoch, a.a.O., § 80 VwGO Rn. 356, 342; Hoppe, in: Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 115). Im Übrigen bemerkt der Senat, dass die erstinstanzliche Annahme eines unmittelbar auf die „Aufhebung der Bescheide“ (und nicht auf die Aufhebung der <span style="text-decoration:underline">Vollziehung</span> der Bescheide) über die Festsetzung von Säumniszuschlägen“ gerichteten Antrags ebenso wie die - offenbar vom Willen zu einer Entscheidung in der Hauptsache getragene - entsprechende Tenorierung in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes prozessrechtlichen Bedenken begegnet (vgl. § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO auf der einen und § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO auf der anderen Seite).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Entgegen der Auffassung des Antragsgegners kommt der gegen die Bescheide hinsichtlich der Säumniszuschläge und den entsprechenden Widerspruchsbescheid erhobenen Anfechtungsklage dem gesetzlichen Regelfall entsprechend aufschiebende Wirkung im Sinne des § 80 Abs. 1 VwGO zu. Bei Säumniszuschlägen handelt es sich nicht um Abgaben oder Kosten im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, die der Deckung des Finanzbedarfs von Trägern öffentlicher Verwaltung dienen, sondern vorwiegend um ein Druckmittel (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 04.02.2015 - 2 S 2436/14 -, juris; BayVGH, Beschluss vom 21.12.1998 - 4 ZS 98.2811 -, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 13.10.2011 - 8 ME 173/11 -, juris; Sächs. OVG, Beschluss vom 06.10.2015 - 3 B 177/15 -, juri; OVG LSA, Beschluss vom 05.07.2006 - 4 M 272/06 -, juris; Thür. OVG, Beschluss vom 23.11.2007 - 4 EO 536/07 -, KStZ 2008, 218 f.; Schoch, a.a.O., § 80 Rn. 137b; Hoppe, a.a.O., § 80 Rn. 30; a.A. OVG NRW, Beschluss vom 18.09.2020 - 14 B 985/20 -, juris; OVG Bln.-Bbg., Beschlüsse vom 14.03.2011 - OVG 9 S 50.10 -, juris; Hess. VGH, Beschluss vom 01.02.2012 - 5 B 77/12 -, juris; Puttler, a.a.O., § 80 Rn. 59). Auch ein Fall des § 12 Satz 1 LVwVG dürfte nicht gegeben sein. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden. Dazu gehören aber nur diejenigen Maßnahmen, die im engeren Sinn zur zwangsweisen Durchsetzung eines Verwaltungsakts getroffen werden. Die Erhebung von Säumniszuschlägen als Druckmittel eigener Art ist jedoch weder ein selbständiges Zwangsmittel, noch dient sie unmittelbar der Vollstreckung der Hauptforderung (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 04.02.2015, a.a.O.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Danach ist - in Abweichung von Nr. 2 des Tenors der angefochtenen Entscheidung - auf den Antrag des Antragstellers die Feststellung auszusprechen, dass seiner gegen die Bescheide hinsichtlich der Säumniszuschläge und den entsprechenden Widerspruchsbescheid erhobenen Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung zukommt. Die diesbezügliche Zurückweisung der Beschwerde des Antragsgegners ist deshalb zur Klarstellung mit der im Tenor wiedergegebenen Maßgabe zu verbinden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 3 Satz 1, § 39 GKG und Nr. 1.5 Satz 1 und 2 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs. Der Senat hat dabei als wirtschaftliches Interesse des Antragstellers für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Beitragsbescheide die Differenz zwischen den in den Zeiträumen 01.12.2019 bis 31.12.2019, 01.01.2020 bis 31.12.2020 und 01.01.2021 bis 31.12.2021 zunächst festgesetzten Mindestbeiträgen und den in den streitgegenständlichen Bescheiden festgesetzten 3/10-Regelpflichtbeiträgen angesetzt. Der sich insoweit insgesamt ergebende Streitwert der Hauptsache in Höhe von 7.248,80 EUR ist im vorliegenden Eilverfahren zu vierteln (= 1.812,20 EUR), weil ein Fall des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegt (vgl. Nr. 1.5 Satz 1 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs). Für den Antrag betreffend die Erhebung der Säumniszuschläge, auf die § 43 Abs. 1 GKG weder unmittelbar noch entsprechende Anwendung findet (vgl. nur LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.01.2009 - L 10 R 5795-08 W/B -, juris), hat der Senat insgesamt 831,00 EUR zugrunde gelegt und von einer Reduzierung dieses Betrags im Eilverfahren abgesehen (vgl. Nr. 1.5 Satz 2 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für das erstinstanzliche Verfahren ist danach gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG von Amts wegen entsprechend zu ändern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr></table>
346,898
olgmuen-2022-09-28-18-u-103222
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18 U 1032/22
"2022-09-28T00:00:00"
"2022-10-12T10:01:40"
"2022-10-17T11:11:01"
Vfg
<h2>Tenor</h2> <div> <p>1. Termin zur Güteverhandlung und für den Fall des Nichterscheinens einer Partei oder Erfolglosigkeit der Güteverhandlung unmittelbar anschließender Haupttermin wird bestimmt auf</p> <table border="0" rules="none" class="cals framenone"> <colgroup> <col/> <col/> <col/> </colgroup> <tbody> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p>Wochentag und Datum</p> <p/> </td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p>Uhrzeit</p> <p/> </td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> <p>Zimmer/Etage/Gebäude</p> </td></tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1"> <p/> </td><td colspan="1" rowspan="1"> <p/> </td><td colspan="1" rowspan="1"> <p/> </td></tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1"> <p/> </td><td colspan="1" rowspan="1"> <p/> </td><td colspan="1" rowspan="1"> <p/> </td></tr> </tbody> </table> <p>Belehrungen gemäß §§ 78, 215 ZPO</p> <p>Vor den Oberlandesgerichten herrscht Anwaltszwang. Daher kann nur ein Rechtsanwalt oder im Einvernehmen mit einem Rechtsanwalt ein der deutschen Sprache mächtiger Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, der nach den Teilen 1 und 5 des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG) berechtigt ist, vorübergehend die Tätigkeit eines Rechtsanwalts auszuüben, zum Prozessbevollmächtigten bestellt werden. Handlungen, die die Partei selbst vornimmt, sind prozessrechtlich unwirksam. Wird für die Partei kein Rechtsanwalt oder kein vorstehend näher bezeichneter ausländischer Rechtsanwalt tätig, kann gegen sie ein Versäumnisurteil ergehen. Die Parteien werden daher ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Nichterscheinen im Termin zu einem Verlust des Prozesses führen kann. Gegen die nicht erschienene Partei kann auf Antrag des Gegners ein Versäumnisurteil erlassen oder eine Entscheidung nach Aktenlage getroffen werden (§§ 330 bis 331a, 251a ZPO); in diesem Fall hat die säumige Partei auch die Gerichtskosten und die notwendigen Kosten der Gegenseite zu tragen (§ 91 ZPO). Aus dem Versäumnisurteil oder dem Urteil nach Lage der Akten kann der Gegner der säumigen Partei gegen diese die Zwangsvollstreckung betreiben (§ 708 Nr. 2 ZPO).</p> <p>2. Gemäß §§ 525, 273 ZPO wird angeordnet: </p> <p>2.1. Das persönliche Erscheinen folgender Partei:</p> <p>Klägerin und Berufungsklägerin</p> <p>3. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens erfolgt zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 141 Abs. 1 ZPO) und für einen Güteversuch (§ 278 Abs. 1 ZPO). Hinweis gemäß § 139 ZPO:</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p><rd nr="1"/>Der Senat sieht sich nur deshalb an einer Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO gehindert, weil das OLG Schleswig mit Urteil vom 02.07.2021 - 17 U 15/21- dem dortigen Kläger einen Anspruch auf Löschung der Information über seine Restschuldbefreiung aus Art. 17 Abs. 1 Buchst. d DSGVO zugebilligt hat und seine in diesem Urteil entwickelte Rechtsprechung, wonach die Interessen der Beklagten eine Verarbeitung entsprechender Daten zumindest über den in § 3 Abs. 1, 2 InsoBekV genannten Zeitraum hinaus regelmäßig nicht zu rechtfertigen vermögen, mit Urteil vom 03.06.2022- 17 U 5/22 bestätigt hat.</p> <p><rd nr="2"/>Der Senat teilt die Auffassung des OLG Schleswig nicht, sondern schließt sich der ganz überwiegenden Auffassung der übrigen Oberlandesgerichte an, die in vergleichbaren Fällen kürzlich einen Löschungsanspruch der jeweiligen Klageparteien - sei es gestützt auf Art. 17 Abs. 1 Buchst. d DSGVO oder Art. 17 Abs. 1 Buchst. a DSGVO - verneint haben (vgl. OLG Oldenburg, Urteil vom 23.11.2021 - 13 U 63/21; OLG Köln, Urteil vom 27.01.2022 - 15 U 153/21; KG, Urteil vom 15.02.2022 - 17 U 51/21; OLG Stuttgart, Urteil vom 10.08.2022 - 9 U 24/22). Dabei hält der Senat insbesondere die Ausführungen des OLG Stuttgart für überzeugend und im Wesentlichen nicht ergänzungsbedürftig.</p> <p><rd nr="3"/>Insbesondere ergibt die Abwägung der berechtigten Interessen der Parteien im Rahmen des Art. 6 I Buchst. f DSGVO nicht, dass eine Speicherung der Daten nach Ablauf von sechs Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung über die Restschuldbefreiung entsprechend der Löschfrist in § 3 Abs. 1, 2 InsoBekV rechtswidrig wäre. Die oben angeführten OLG-Urteile und Thüsing/Flink/Rombey in ihrer Urteilsanmerkung zu OLG Schleswig, NZI 2021, 951 legen überzeugend dar, dass sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine Verkürzung der Speicherfristen für Auskunfteien hinsichtlich Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren entschieden und stattdessen eine bis 2024 dauernde Evaluation angekündigt hat (BT-Drs. 19/22773, S. 2, 4).</p> <p><rd nr="4"/>Im Hinblick auf die in Art. 151 Abs. 2, 147 Abs. 2 i.V.m. Art. 180 Abs. 2 Buchst. a und Buchst. e VO 575/2013 EU im europäischen Recht zum Ausdruck kommende Wertung erscheint die von der Beklagten auf der Grundlage ihres sog. Code of Conduct praktizierte Löschfrist von drei Jahren nicht unangemessen lang. Diese Wertung wird im nationalen Recht durch einen Blick auf die in § 882e Abs. 1 ZPO geregelte dreijährige Löschfrist für Einträge aus dem Schuldnerverzeichnis, der eine vergleichbare Interessenlage zugrunde liegt, verstärkt. Das österreichische BVwG hat sogar eine Löschfrist von mindestens fünf Jahren als mit den Vorgaben der DSGVO konform eingestuft (vgl. Österreichisches BVwG Erkenntnis vom 21.04.2021- W214 2228161-1/13E).</p> <p><rd nr="5"/>Die Voraussetzungen eines Anspruchs aus Art. 17 Abs. 1 Buchst. c i.V.m. Art. 21 Abs. 1 DSGVO hat die Klägerin nicht dargetan. Hierauf hat das Landgericht bereits zutreffend hingewiesen.</p> <p><rd nr="6"/>Da die von der Beklagten praktizierte dreijährige Speicherungsfrist für die Daten der Klägerin zum 01.04.2023 ausläuft, ist absehbar, dass die Klägerin in der Hauptsache ihr Begehren - selbst bei einer beabsichtigten Zulassung der Revision durch den Senat - nicht mehr rechtzeitig erreichen wird können.</p> <p><rd nr="7"/>Laut Auskunft des BGH sind dort mehrere Verfahren zu der einschlägigen Thematik anhängig. Mit einer ersten Verhandlung ist dort voraussichtlich im ersten Halbjahr des kommenden Jahres zu rechnen. Selbst wenn eines dieser Verfahren zugunsten der jeweiligen Klagepartei entschieden werden sollte, käme das für das Anliegen der Klägerin zu spät, da ihre Daten bis dahin bereits gelöscht sein werden.</p> <p><rd nr="8"/>Vor diesem Hintergrund wird der Klägerin die Zurücknahme ihrer Berufung - möglichst bis zum 18.10.2022 - nahegelegt.</p> </div>
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7 K 612/22
"2022-09-28T00:00:00"
"2022-10-05T10:02:03"
"2022-10-17T11:10:48"
Urteil
ECLI:DE:VGAC:2022:0928.7K612.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Festsetzungsanordnung des Direktors der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen als Landesbeauftragten – Pflanzenschutzdienst – vom 04. August 2021 wird in Bezug auf Ziffer 2 aufgehoben, soweit der Klägerin das sonstige Verbringen in Gestalt der Rückgabe an die Vorlieferantin B.    GmbH Handels GmbH, V.      N.    2,          J.               untersagt worden ist.</p> <p>Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Das beklagte Land kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist ein Agrarhandelsunternehmen, das u.a. Pflanzenschutzmittel vertreibt. Dazu gehörte auch das Pflanzenschutzmittel „Synergy Generics Metamitron“ des britischen Unternehmens Synergy Generics Limited. Sie gehört der Gruppe „AgChemAccess Limited an. Firmen dieser Gruppe handelten nach den Feststellungen des beklagten Landes Produktfälschungen unter dem Deckmantel des Parallelhandels. Das in Rede stehende Pflanzenschutzmittel enthält den Wirkstoff Metamitron in einer Konzentration von 700g/l und ist ein Rübenherbizid, das in Deutschland, insbesondere im Rheinland, eingesetzt wird. Das Mittel wurde für die Zeit vom 12. März 2018 bis zum 31. August 2023 von dem dafür in Deutschland zuständigen Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) unter der Zulassungsnummer 00A235-00 zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hatte das Mittel von der B.    Handels GmbH bezogen, und zwar mit der vertraglichen Zulassung, dass das Mittel in Deutschland zugelassen sei.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Von Februar bis April 2021 fand unter Federführung von EUROPOL die Operation „Silver Axe VI“ statt, bei der die Einfuhr illegaler Pflanzenschutzmittel verstärkt kontrolliert werden sollte. Neben den EU-Staaten nahmen auch mehrere Drittstaaten wie z.B. Australien, die Schweiz und die Ukraine teil. Auf Fachebene beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland mit den Pflanzenschutzdiensten der Länder Bremen, Hamburg und Niedersachsen. Ferner waren das BVL, das Zollkriminalamt und das Bundeskriminalamt beteiligt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das BVL erhielt in diesem Zeitraum mehrfach Hinweise des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) auf verdächtige Importe. Mehrere Hinweise betrafen Importe aus dem Vereinigten Königreich, bei denen der Versender die britische Firma „Farmsaver Limited“ war. Die Mittel wurden im T1-Versandverfahren über kleinere Zollämter fernab von großen Häfen oder anderen Einfuhrstellen in Verkehr gebracht.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen einer Kontrolle am 03. Mai 2021 durch den Pflanzenschutzdienst des Direktors der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen als Landesbeauftragten (nachfolgend: Pflanzenschutzdienst) wurde festgestellt, dass die Klägerin das Pflanzenschutzmittel Synergy Generics Metamitron für den Verkauf vorrätig hielt. Der Vertrieb der Mittel in Deutschland wurde mündlich untersagt, und die Mittel wurden festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die auf dem Gebinde angegebene Chargennummer 1522 08 sowie das Herstelldatum stimmten mit einer im Frühjahr gezogenen und analysierten Verdachtsprobe überein, die im Zusammenhang mit der Operation „Silver Axe VI“ gezogen worden war.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit <span style="text-decoration:underline">Bescheid vom 22. Juni 2021</span> untersagte der Pflanzenschutzdienst der Klägerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung (Ziffer 3 der Anordnung) das Inverkehrbringen und das sonstige Verbringen des Pflanzenschutzmittels Synergy Generics Metamitron (Zulassungsnummer: 00A235-00) der Firma Synergy Generics Limited ohne seine vorherige schriftliche Zustimmung (Ziffer 1). Zugleich ordnete er an, dass das sonstige Verbringen innerhalb des Betriebes nur nach ausdrücklicher Zustimmung des Pflanzenschutzdienstes gestattet sei (Ziffer 2). Zur Begründung der auf § 60 Abs. 2 Nr. 2 PflSchG gestützten Anordnung führte er aus, anlässlich mehrerer Kontrollen im Frühjahr 2021 seien Verdachtsproben mehrerer Chargen des Pflanzenschutzmittels „Synergy Generics Metamitron“ des Herstellers Synergy Generics Limited aus Großbritannien im deutschen Handel gezogen und durch das Labor des BVL chemisch analysiert worden. Die Ergebnisse hätten gezeigt, dass alle Präparate aufgrund einer fehlerhaften Konzentration eines Beistoffes als nicht verkehrsfähig einzustufen seien und nicht mehr in den Verkehr gebracht werden dürften. Am 03. Mai 2021 sei am Standort der Klägerin in Würselen festgestellt worden, dass sie das unter 1.) aufgeführte Präparat für den Verkauf gelagert habe. Die auf dem Gebinde angegebene Chargennummer 1522 08 sowie das Herstellungsdatum stimmten mit einer im Frühjahr gezogenen und analysierten Verdachtsprobe überein. Auch diese Charge sei aufgrund der Abweichung eines Beistoffes von der Zulassung nicht verkehrsfähig.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit <span style="text-decoration:underline">Bescheid vom 04. August 2021</span> hob der Pflanzenschutzdienst die Anordnung vom 22. Juni 2021 auf und untersagte der Klägerin auf der Grundlage des § 60 Abs. 2 Nr. 2 PflSchG i.V.m. Art. 138 VO (EU) Nr. 2017/625 das Inverkehrbringen und das sonstige Verbringen des Pflanzenschutzmittels Synergy Generics Metamitron (Zulassungsnummer: 00A235-00) der Firma Synergy Generics Limited – Festsetzung – (Ziffer 1). Zugleich ordnete er an, dass das sonstige Verbringen innerhalb des Betriebes nur nach ausdrücklicher Zustimmung des Pflanzenschutzdienstes gestattet sei (Ziffer 2). Unter Ziffer 4 der Anordnung ordnete der Landesbeauftragte die sofortige Vollziehbarkeit der Regelungen unter Ziffer 2 und 3 an. Zur Begründung führte er erneut aus, dass die Klägerin das Pflanzenschutzmittel „Synergy Generics Metamitron“ für den Verkauf vorrätig gehalten habe. Ergänzend hat er dargelegt, dass die Festsetzung auch ermessensgerecht sei. Ein nicht der Zulassung entsprechendes Pflanzenschutzmittel dürfe nicht in den Handel gebracht werden. Deswegen sei das bei der Klägerin im Handel vorgefundene Gebinde dieses Mittels durch Festsetzung in der Kontrolle aus dem Verkehr gezogen worden. Da der Importeur und das dahinterstehende Firmenkonsortium durch nicht rechtskonformes Verhalten aufgefallen sei, sei bis zu einer abschließenden Bescheidung über den Verbleib der Gebinde auch das sonstige Verbringen zu untersagen, um ein erneutes Inverkehrbringen – auch durch den Importeur – sicher auszuschließen. Mildere, gleich geeignete Mittel seien nicht ersichtlich. Zum Schutz vor schädlichen Auswirkungen des Mittels für Umwelt, Anwender und Verbraucher sowie zur Verhinderung eines fortgesetzten rechtswidrigen Handels in einem hoch regulierten Handelsbereich sei die Festsetzung auch angemessen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Gegen den Bescheid vom 22. Juni 2021 hatte die Klägerin bereits am 22. Juli 2021 unter dem Aktenzeichen 7 K 1664/21 Klage erhoben und diese mit Schriftsatz vom 18. August 2021 auf den Bescheid vom 04. August 2021 erstreckt. Mit Beschluss vom 14. März 2022 hat die Kammer das Verfahren getrennt und in Bezug auf die Anordnung vom 04. August 2021 unter dem Aktenzeichen 7 K 612/22 fortgeführt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin erklärt, sie habe nicht die Absicht, das Mittel in Deutschland weiter in den Verkehr zu bringen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Weiter macht sie geltend:</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die sachliche Zuständigkeit des Pflanzenschutzdienstes sei nicht gegeben. Art. 4 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 schreibe vor, dass die Mitgliedstaaten diejenigen Behörden benennen, die für die Umsetzung der Verordnung zuständig seien. Daran fehle es. Insbesondere werde in § 59 Abs. 1 PflSchG die Verordnung nicht einbezogen. Die letzte Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes zum 13. Februar 2012 sei vor der Gültigkeit der Verordnung (EU) Nr. 2017/625 erfolgt. Durch Art. 161 VO (EU) Nr. 2017/625 sei die bisherige Kontrolltätigkeit der Mitgliedstaaten nach Art. 68 VO (EG) Nr. 1107/2009 an dieser Stelle ersatzlos gestrichen worden und nur noch eine Berichtspflicht geregelt.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Es gebe eine Divergenz in der Probencodierung. Der Pflanzenschutzdienst habe auch bei anderen Agrarhändlern in Nordrhein-Westfalen Proben des Pflanzenschutzmittels gezogen. Daher sei es zur Vermeidung von Verwechslungen notwendig, dass sich in der Dokumentation nachvollziehen lasse, dass das bei ihr vorgefundene Produkt exakt auch dasjenige sei, das später beim BVL untersucht worden sei. Das Protokoll des Pflanzenschutzdienstes vom 03. Mai 2021 zur Pflanzenschutz-Verkehrskontrolle trage die laufende Nummer 1-Col-055-21. Demgegenüber finde sich im BVL-Prüfbericht vom 31. Mai 2021 die Probencodierung des Auftraggebers NW-1-Col-051-21-01. Beide Codierungen seien nicht identisch.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">In dem Prüfbericht des BVL werde ausgeführt, der ermittelte Gehalt liege mit 13,0 g/l außerhalb der für den deklarierten Gehalt zulässigen Toleranz. Es könne anhand dieser Aussage nicht nachvollzogen werden, um welchen Stoff es sich handele. Zum einen spreche der Prüfbericht von einem Dispergiermittel, zum anderen von einem Frostschutzmittel, das in dem Dispergiermittel enthalten sein soll. Dem Bericht könne schließlich nicht entnommen werden, wie hoch der deklarierte Gehalt des in Betracht gezogenen Stoffs und wie hoch die zulässige Toleranz sei. Selbst wenn man auf der Grundlage des BVL-Prüfberichts davon ausginge, dass die Abweichung der tatsächlichen Formulierung von der zugelassenen Spezifikation außerhalb zulässiger Toleranz liege und deshalb die Formulierung in Deutschland nicht verkehrsfähig sei, bleibe dennoch festzuhalten, dass die Abweichung weder zu einer geringeren Wirkung noch zu höheren Risiken für den Gesundheits- und Umweltschutz führe und daher eher dem formalen Bereich zuzuordnen sei.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Pflanzenschutzdienst habe keine ausreichenden Maßnahmen getroffen, um Ursprung und Umfang des Verstoßes zu ermitteln (vgl. Art. 138 Abs. 1 lit. a) VO (EU) Nr. 2017/625). In Bezug auf den Umfang hätte er berücksichtigen müssen, dass eine konkrete Wirkungseinbuße oder höhere Risiken bei Vertrieb oder Anwendung des Pflanzenschutzmittels nicht festgestellt worden seien, sondern das Mittel nur einen Beistoff mit einem Frostschutzmittel enthalte, der seinerseits einen höheren Grad an Frostschutzmittel aufweise. Der Anteil an Frostschutzmittel betreffe nur die Lagerstabilität des Mittels bei einer nicht frostfreien Lagerung. Zu wenig Frostschutzmittel könne gewiss Schaden am Produkt bei Frosttemperaturen verursachen, aber nicht zu viel Frostschutzmittel.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit der zu weitgehenden Festsetzungsanordnung werde sie, die Klägerin, in ihrem Recht aus § 903 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 3 Nr. 9 und Art. 28 Abs. 1 und 2 lit. d) VO (EG) Nr. 1107/2009 verletzt, das Produkt entweder selbst oder unter Mithilfe der B.    Handels GmbH unter Zollaufsicht in einen Drittstaat zu exportieren. Damit werde sie gleichzeitig daran gehindert, durch Rückgabe an den Vorlieferanten im Wege der Rückabwicklung des Kaufvertrages die rechtliche Basis für die ihr zustehende Rückzahlung des Kaufpreises zu schaffen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Da die Klägerin durch den Pflanzenschutzdienst am Vertrieb gehindert worden sei, mache sie gegenüber ihrer Lieferantin als Schadensersatzanspruch eine Zahlung in Höhe des Kaufpreises geltend. Erst recht stünde ihr ein solcher Anspruch zu, wenn sich herausstellen sollte, dass die festgesetzte Partei des Pflanzenschutzmittels wegen fehlender Konformität mit der Zulassung in Deutschland nicht verkehrsfähig sein sollte. Es sei nicht auszuschließen, dass die B.    GmbH im Gegenzug den Anspruch erhebe, die festgesetzten Pflanzenschutzmittel im Rahmen der Rückabwicklung des Kaufvertrages zurückgewährt zu bekommen (§ 346 BGB). Gleiches gelte für das Schadensersatzrecht. Die Rückgabe an den früheren Verkäufer falle nicht unter den zulassungspflichtigen Tatbestand des Inverkehrbringens (Art. 3 Nr. 9 Satz 1 Halbs. 2 VO (EG) Nr. 1107/2009). Die B.    Handels GmbH habe sich ausdrücklich gegenüber der Klägerin verpflichtet, die streitgegenständliche Partie des in Rede stehenden Pflanzenschutzmittels nach entsprechender Freigabe zurückzunehmen, ihr den Kaufpreis zu erstatten und das Mittel in einen Drittstaat unter Zollaufsicht zu exportieren.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Ein Rückgabeanspruch ergebe sich auch aus § 27 PflSchG. Die Norm sei über ihren Wortlaut hinaus anwendbar, wenn einzelne Chargen des Produkts nicht der ansonsten zugelassenen Spezifikation entsprechen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die B.    GmbH sei zum zulassungsfreien Export berechtigt. Weil der Drittstaat kein EU-Mitgliedstaat sei und daher nicht der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 unterliege, müsse das Exportprodukt auch nicht eine pflanzenschutzrechtliche Zulassung nach der Verordnung besitzen. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages habe in seiner Ausarbeitung vom 03. März 2020 zu dem Thema „Export nichtzugelassener Pflanzenschutzmittel“ (WD 5-3000-015/20) dargelegt, dass die in der EU geltende Zulassungspflicht des Art. 28 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1107/2009 nicht greife, wenn das Pflanzenschutzmittel in einen Drittstaat exportiert werden solle. Durch Einhaltung gültiger Inspektionsanforderungen solle lediglich nach Art. 28 Abs. 2 lit. d VO (EU) Nr. 1107/2009 sichergestellt werden, dass das Pflanzenschutzmittel aus seinem Hoheitsgebiet in ein Drittland ausgeführt werde. Darüber hinaus weise das Gutachten auf die Relevanz der Verordnung (EU) 649/2021 in Bezug auf den Export von Pflanzenschutzmittel hin. Sie regele ein Exportverbot nur für Chemikalien, deren Verwendung in der Union zum Schutz der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt verboten sei. Es handele sich um die persistenten organischen Stoffe, zu denen das Produkt „Synergy Generics Metamitron“ mit seinem Wirkstoff Metamitron nicht gehöre.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Drittstaatenausfuhr richte sich nach der Verordnung (EU) N. 649/2012 und nicht nach der Verordnung (EU) Nr. 2017/625. Die seitens der EU-Kommission vorgesehenen Ergänzungen der Anhänge I und II der Verordnung (EU) Nr. 649/2012 erfassten in erheblichem Umfang Chemikalien, die als Pflanzenschutzmittelwirkstoff keine Genehmigung mehr in der Europäischen Union besäßen. Die Voraussetzungen für ein Verbot der Drittstaatenausfuhr gemäß der Verordnung (EU) Nr. 649/2012 seien nicht erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Es sei nicht ersichtlich, dass der Pflanzenschutzdienst sein Ermessen überhaupt ausgeübt habe. Die angefochtene Festsetzung sei nun älter als ein Jahr. Daher scheine es mit der bloßen Ankündigung der Entsorgung sein Bewenden zu haben. So aber wäre sie, die Klägerin, auf Dauer verpflichtet, Lagerhaltung eines nicht verkehrsfähigen Pflanzenschutzmittels zu betreiben.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Es werde bestritten, dass die Klägerin das Mittel von einem Importeur oder einem dahinterstehenden Firmenkonsortium bezogen habe, das „durch nicht rechtskonformes Verhalten auffällig geworden“ wäre. Das in Rede stehende Pflanzenschutzmittel sei kein Importprodukt. Es handele sich um ein in Deutschland i.S.d. Art. 28 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1107/2009 zugelassenes Mittel. Die B.    Handels GmbH habe – was das beklagte Land nicht bestreitet – das Mittel nicht importiert, sei eigenständig und auch kein Konzernunternehmen irgendeines Firmenkonsortiums. Dass die Inhaberin der Zulassung, die Synergy Generics Limited, ein im Vereinigten Königreich ansässiges Unternehmen sei, liefere ebenfalls keinen Grund zu der Annahme, mit dem Mittel und seiner deutschen Zulassung sei etwas nicht in Ordnung. Es gehöre zu dem in der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 niedergelegten Ziel der Harmonisierung, dass <span style="text-decoration:underline">ein</span> Antragsteller entweder im System des Zonalen Verfahrens nach Art. 33 für die ganze Zone – hier zehn Mitgliedstaaten – oder im System der gegenseitigen Anerkennung nach Art. 40 VO (EG) Nr. 1107/2009 in mehreren Mitgliedstaaten für ein und dasselbe Pflanzenschutzmittel eine nationale Zulassung beantragen könne. Es gebe auch keinen konkreten Anlass für die Annahme, bei Freigabe der Mittel würden diese wieder illegal nach Deutschland zurückkehren. Der Klägerin seien weder die Vorlieferantin der B.    Handels GmbH noch die Zulassungsinhaberin Synergy Generics Limited bekannt. Sie müsse kein zugelassenes Produkt in Täuschungsabsicht nachahmen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass unbeabsichtigt ein Produktfehler in der Charge unterlaufen sei. Diesen Unterschied habe der Pflanzenschutzdienst nicht in seine Ermessenerwägungen einbezogen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Rückgabe an den Lieferanten einschließlich Drittstaatexport stehe Art. 138 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 nicht entgegen. Die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 seien als lex specialis gegenüber der allgemeineren Norm der Verordnung (EU) Nr. 2017/625 vorrangig, weil sie die spezielle Materie des Pflanzenschutzrechts dezidiert regele, während die Verordnung (EU) Nr. 2017/625 für alle Rechtsmaterien wie Tierwohl, Lebensmittel etc. allgemeine Regelungen treffe. Wenn hiernach die Rückgabe an den Vorlieferanten und/oder der Export in den Drittstaat ohne pflanzenschutzrechtliche Zulassung oder Genehmigung auf Basis der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 zulässig bleibe, könne solches nicht nach Art. 138 VO (EU) Nr. 2017/625 verboten werden.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Für die Ausfuhr aus der Europäischen Union sei es unerheblich, ob das zu exportierende Pflanzenschutzmittel über eine pflanzenschutzrechtliche Zulassung im bestimmungsgemäßen Einfuhrstaat verfüge. Nach der generell für Chemikalien geltenden Verordnung (EU) Nr. 649/2012 (sog. PIC-Verordnung) sei nur maßgeblich, ob es sich bei dem Pflanzenschutzmittel um eine gefährliche Chemikalie handele. Dann müsse der beabsichtigte Export nach Art. 8 Abs. 1 VO (EU) Nr. 649/2012 bei der zuständigen Stelle angemeldet werden. Der Wirkstoff Metamitron werde nicht als gefährliche Chemikalie eingestuft.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Hilfsantrag werde mit dem Ziel gestellt, der Klägerin den Drittstaatenexport in ihrem Auftrag und nicht unter Beteiligung der B.    Handels GmbH durchgeführt werden solle.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">die Festsetzungsanordnung des Pflanzenschutzdienstes vom 04. August 2021 dahingehend teilweise aufzuheben, dass sie berechtigt ist, die festgesetzte Menge des Pflanzenschutzmittels „Synergy Generics Metamitron“ von 303 Stück Gebinden á 5 l an ihre Vorlieferantin B.    GmbH Handels GmbH, V.      N.    2, 55218 J.                  , unter behördlicher Aufsicht mit der Maßgabe zurückzugeben, dass die GmbH ihrerseits das vorgenannte Pflanzenschutzmittel unter Einhaltung zollrechtlicher Bestimmungen in einen Staat ausführt, der nicht Mitglied der Europäischen Union (Drittstaat) ist,</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">hilfsweise,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">die vorgenannte Festsetzungsanordnung dahingehend teilweise aufzuheben, dass sie berechtigt ist, die festgesetzte Menge des Pflanzenschutzmittels „Synergy Generics Metamitron“ von 303 Stück Gebinden á 5 l in einen Staat unter Zollaufsicht zu exportieren, der nicht Mitglied der Europäischen Union (Drittstaat) ist.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beantragt schriftsätzlich,</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt es aus:</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Pflanzenschutzdienst sei für die Anordnungen sachlich und örtlich zuständig gewesen. Er sei zuständige Stelle i.S.d. Art. 2 Abs. 1 VO (EU) Nr. 625/2017. Diese Verordnung habe die Verordnung (EU) Nr. 1107/2009 geändert und die amtlichen Kontrollen nunmehr gesondert geregelt. Gemäß Art. 24 Abs. 1 würden zu amtlichen Kontrollen auch Kontrollen von Wirkstoffen und Safenern, Synergisten, Beistoffen und Zusatzstoffen i.S.d. Art. 2 Abs. 2 und 3 VO (EU) Nr. 1107/2009 gehören. Eine Zuständigkeitsänderung sei durch die Einführung der Verordnung (EU) Nr. 625/2017 gerade nicht beabsichtigt gewesen. Die Zuständigkeit bezüglich der Umsetzung des Gesetzes zum Schutz der Kulturpflanzen (PflSchG) sei in dessen § 59 geregelt. Gemäß § 59 Abs. 2 Nr. 8 PflSchG habe die Behörde als Pflanzenschutzdienst insbesondere auch die Überwachung des Inverkehrbringens, des innergemeinschaftlichen Verbringens und des Verbringens im Inland sowie der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, Pflanzenstärkungsmitteln und Zusatzstoffen. Nach § 1 der Verordnung zur Durchführung des Pflanzenschutzgesetzes NRW sei der Landesbeauftragte zuständige Behörde gemäß § 59 PflSchG. Die Zuständigkeit ergebe sich auch aus dem Integrierten mehrjährigen Kontrollplan der Bundesrepublik Deutschland für den Zeitraum 01. Januar 2017 bis 31. Dezember 2021. Schließlich verweist das beklagte Land auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 28. Juli 2021 - 13 L 1018/21, in dem ausgeführt worden ist, die Zuständigkeit folge bereits aus Art. 68 VO (EG) Nr. 1107/2009, Art. 3 Nr. 3 lit. b) VO (EU) Nr. 625/2017.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Aufgrund des Nachweises, dass es bei dem bei der Klägerin vorgefundenen nicht um das ursprünglich zugelassene Produkt handele, sei es nicht verkehrsfähig. Das Laborergebnis des BVL vom 31. Mai 2021 zeige, dass die chemische Zusammensetzung aufgrund der Abweichung des Beistoffes Propylenglykol von der zugelassenen Zusammensetzung abweiche und deswegen als nicht verkehrsfähig eingestuft werde. Es bestehe kein Zweifel, dass das vom BVL untersuchte Pflanzenschutzmittel tatsächlich ein geeigneter Beweis für die fehlende Verkehrsfähigkeit sei. Dem Prüfbericht des BVL lasse sich auf Seite 1 die Zulassungsnummer und die Chargennummer – hier: 1522 08 – entnehmen. Die bei der Kontrolle gefertigten Photos würden belegen, dass genau das Pflanzenschutzmittel mit dieser Zulassungsnummer und dieser Chargennummer durch das BVL getestet worden sei. Es sei nicht notwendig, jedes einzelne Gebinde zu untersuchen, da durch die Zuordnung anhand des Produktionsdatums und der Chargennummer darauf geschlossen werden könne, dass alle Güter mit dieser Chargennummer dieselben Eigenschaften aufweisen und in einem zusammenhängenden Prozess gemeinsam verarbeitet würden. Genau die von der Klägerin zum Verkauf angebotene Charge sei durch das BVL untersucht worden. Die Probe sei nicht aus dem Gebinde der Klägerin gezogen worden. Aufgrund der eindeutigen Zuordnung zu der Charge sei das aber unerheblich. Anderenfalls müsste jedes Gebinde gesondert untersucht werden.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zur Auswahl der Klägerin als Adressatin des Bescheides sei mangels spezieller Bestimmung im EU-Recht auf nationales Recht zurückzugreifen. Art. 138 VO (EU)  Nr. 625/2017 treffe keine ausdrückliche Regelung darüber, wer Adressat einer geeigneten Maßnahme sein müsse. Hier sei lediglich vom „Unternehmer“ die Rede.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung sei auch verhältnismäßig. Um wirksam zu verhindern, dass die nicht verkehrsfähige Ware in Deutschland oder der EU erneut in den Verkehr gebracht werde, dürfe das Pflanzenschutzmittel nicht an den Hersteller zurückgeführt werden. Der Hersteller Synergy Generics Limited und seine mit ihm teils unter derselben Adresse und denselben Ansprechpartnern verbundenen Handelsfirmen seien im Zuge aktueller Ermittlungen in erheblichem Umfang mit dem Handel illegaler, nicht zulassungskonformer Pflanzenschutzmittel aufgefallen, so dass eine Rückführung mit der Gefahr erneuter Importversuche evtl. über einen Mitbetreiber dieses Mittels verbunden wäre. Eine Entsorgung durch den Hersteller sei vor diesem Hintergrund nicht durchsetzbar. Eine Überlassung an den Hersteller sei auch nicht aus sonstigen Erwägungen zwingend geboten.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Der Geschäftsführer der B.    Handels GmbH, Herr D.         L.    , sei ab Herbst 2012 Mitarbeiter der AgChemAccess gewesen. Hierzu legte das beklagte Land eine E-Mail des Herrn L.    an den Pflanzenschutzdienst Niedersachsen vom 29. April 2013 vor.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Eine wie auch immer zwischen der Klägerin und ihrem Lieferanten bestehende zivilrechtliche Verpflichtung könne auf die behördliche Anordnung keinen Einfluss haben. Sie ziele darauf ab, festgestellte Verstöße zu beseitigen, nicht aber, zu ihrer Beseitigung weitere unzulässige Exporte zu gestatten bzw. zu fördern. So regele insbesondere Art. 138 Abs. 2 lit. d) VO (EU) Nr. 2017/625 ausdrücklich, dass die zuständige Behörde alle geeignet erscheinenden Maßnahmen ergreifen dürfe, um die Einhaltung der Vorschriften gemäß Art. 1 Abs. 2 VO (EU) Nr. 2017/625 zu gewährleisten. Dazu gehöre nach Buchstabe d) ausdrücklich auch das Verbieten der Rückkehr von Waren in den entsendenden Mitgliedstaat. Die genannten Maßnahmen seien zudem nicht abschließend, und eine Rückgabe an ein Nicht-Mitgliedstaat – außerhalb jedes Einflussbereichs – sei als geeignete Maßnahme erst recht nicht in Betracht zu ziehen. Zudem ergebe sich aus Art. 137 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 die Pflicht der zuständigen Behörden, denjenigen Maßnahmen Vorrang einzuräumen, die ergriffen werden müssten, um die Risiken für die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen, für den Tierschutz oder auch für die Umwelt auszuschalten oder einzudämmen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Verweis der Klägerin auf einen Anspruch auf Rückgabe der Mittel an die B.    GmbH könne allenfalls im Rahmen der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden. Grundsätzlich dürfte es immer verhältnismäßig sein, wenn ein nicht verkehrsfähiges Mittel festgesetzt werde, um zu verhindern, dass es weiter in den Verkehr gebracht werde. Dies diene dem Schutz der Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanze. Es entspreche zudem nicht dem Sinn und Zweck des europäischen Pflanzenschutzrechts, ein Problem dadurch zu beheben, dass ein Produkt aus dem Geltungsbereich einer EU-Verordnung geschafft werde. Dementsprechend  sähen die gesetzlichen Regelungen eine Rückgabe nur vor, wenn die Zulassung abgelaufen sei. Nicht erfasst sei der Fall, dass ein Produkt nicht verkehrsfähig sei.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin lege aber schon nicht dar, auf welcher rechtlichen Grundlage ein Rückgabeanspruch bestehe. Er ergebe sich jedenfalls nicht aus § 27 PflSchG, da es sich nicht um den Fall der Beendigung einer Zulassung handele, sondern um ein nicht verkehrsfähiges Pflanzenschutzmittel. Auch § 27 Abs. 2 PflSchG sei nicht einschlägig, da nicht der Widerruf einer Zulassung im Raum stehe.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ergebe sich aus Art. 138 VO (EU) Nr. 2017/625, dass die zuständigen Behörden geeignete Maßnahmen ergreifen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer den Verstoß beendet. Lasse man die ungehinderte Rückgabe nicht verkehrsfähiger Pflanzenschutzmittel zu, hätten die betreffenden Unternehmen keinen Anreiz, auf den Handel mit nicht verkehrsfähigen Pflanzenschutzmitteln zu verzichten, da im schlimmsten Fall eine Rückabwicklung und Rückgabe der Mittel zu befürchten sei. Dies widerspreche dem klaren Ziel der Verordnung, zukünftige Verstöße dieser Art zu verhindern. Die festgesetzten Pflanzenschutzmittel stünden zudem in Zusammenhang mit der Europol-Operation „Silver Axe VI“.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen der Klägerin bezüglich Art. 28 Abs. 2 lit. d) VO (EG) Nr. 1107/2009 könnten nicht überzeugen. Die Norm begründe keinen Anspruch auf einen Drittstaatenexport. Sie führe abschließend lediglich jene Fälle auf, in denen keine Zulassung nach Abs. 1 erforderlich sei. Insoweit bleibe auch völlig unklar, inwieweit Art. 28 die Befugnisse der zuständigen Stelle nach § 60 PflSchG sowie Artt. 137, 138 VO (EU) Nr. 2017/625 beschränken solle.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Pflanzenschutzdienstes Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></strong></p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid ist im angefochtenen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vorab ist der Streitgegenstand wie folgt zu konkretisieren: Die Klägerin wendet sich <em>nicht</em> gegen das Verbot des Inverkehrbringens des Pflanzenschutzmittels Synergy Generics Metamitron. Insoweit hat sie auch klargestellt, dass sie nicht die Absicht habe, das Mittel in den Verkehr zu bringen. Inverkehrbringen ist nach Art. 3 Nr. 9 Satz 1 VO (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln das Bereithalten zum Zwecke des Verkaufs innerhalb der Gemeinschaft, einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, unabhängig davon, ob entgeltlich oder unentgeltlich, sowie Verkauf, Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst, jedoch nicht die Rückgabe an den früheren Verkäufer. Wenn es der Klägerin antragsgemäß explizit darum geht, dass ihr letzteres ermöglicht wird, erhellt hieraus, dass sie nicht die Aufhebung des Verbots des Inverkehrbringens anstrebt – insoweit sieht die Kammer den Bescheid in der Folge als bestandskräftig an –, sondern ihr Ziel vielmehr die Aufhebung des Verbots des sonstigen Verbringens ist, und dies auch nur in Gestalt der Rückgabe an den Verkäufer, so dass der in Rede stehende Bescheid auch im Übrigen als bestandskräftig einzustufen ist.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Dem Zusatz, die Rückgabe solle mit der Maßgabe erfolgen, dass die B.    Handels GmbH ihrerseits das vorgenannte Pflanzenschutzmittel unter Einhaltung zollrechtlicher Bestimmungen in einen Staat ausführt, der nicht Mitglied der Europäischen Union (Drittstaat) ist, kommt keine eigenständige Bedeutung zu. Bereits aus der Formulierung des Antrags geht hervor, dass nicht die begehrte Aufhebung selbst durch die in Rede stehende Maßgabe modifiziert wird. So wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Drittstaatenausfuhr lediglich zivilrechtlich zwischen der Klägerin und der B.    Handels GmbH vereinbart worden ist. Es obliegt aber (öffentlich-rechtlich) nicht dem – ohnehin nur für Nordrhein-Westfalen zuständigen – Pflanzenschutzdienst, über die Drittstaatenausfuhr durch die B.    Handels GmbH zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">1.) Rechtsgrundlage für das in Nr. 2 des Bescheides verfügte Verbot des sonstigen Verbringens ist Art. 138 VO (EU) Nr. 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel. Nach Art. 138 Abs. 1 Satz 1 lit. b VO (EU) Nr. 2017/625 ergreift die zuständige Behörde, wenn ein Verstoß festgestellt wird, geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer den Verstoß beendet und dass er erneute Verstöße dieser Art verhindert. Als unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltendes EU-Recht hat Art. 138 VO (EU) Nr. 2017/625 in seinem Anwendungsbereich Vorrang vor nationalem Recht (vgl. Artikel 288 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -).</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl.              BayVGH, Beschluss vom 12. August 2021 – 20 CS 21.688 –, juris Rn. 8; VGH BW, Beschluss vom 17. September 2020 – 9 S 2343/20 –, juris Rn. 8; VG Berlin, Beschluss vom 21. Februar 2022 – 14 L 611/21 –, juris Rn. 20; VG Hannover, Urteil vom 15. Januar 2020 – 15 A 819/18 –, juris Rn. 20;</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Dass die angegriffene Untersagungsverfügung hier auf § 60 Abs. 2 Nr. 2 PflSchG gestützt ist, führt nicht zu ihrer Rechtswidrigkeit. Denn jedenfalls ist in dem angefochtenen Bescheid auch Art. 138 VO (EU) Nr. 2017/625 als Rechtsgrundlage angegeben.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">2.) Es spricht einiges dafür, dass der Pflanzenschutzdienst für die Anordnung der Maßnahme zuständig war. Die Klägerin kann dem nicht von vornherein Art. 4 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 entgegenhalten. Danach benennen die Mitgliedstaaten für jeden durch die Vorschriften gemäß Art. 1 Abs. 2 VO (EU) Nr. 2017/625 geregelten Bereiche eine oder mehrere zuständige Behörden, denen sie die Verantwortung für die Organisation oder die Durchführung amtlicher Kontrollen oder anderer amtlicher Kontrollen übertragen. Eine solche Benennung ist hier erfolgt, und zwar durch den Integrierten mehrjährigen Kontrollplan der Bundesrepublik Deutschland – Geltungsperiode: 01. Januar 2017 bis 31. Dezember 2021, der der Europäischen Kommission übermittelt worden ist. In dem Plan heißt es u.a.:</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks"><em>„Die amtlichen Pflanzenschutzdienste der Länder sind für die Durchführung des Pflanzenschutzgesetzes und der darauf gestützten Verordnungen verantwortlich.“</em></p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Benennung des Pflanzenschutzdienstes dürfte sich als zutreffend erweisen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist Art. 138 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625. Darin werden „die zuständigen Behörden“ ermächtigt, Maßnahmen zu ergreifen. Auf „die zuständigen Behörden“ wird auch in der allgemeinen Vorschrift des Art. 137 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 abgestellt. Gemäß Art. 3 Nr. 3 b) VO (EU) Nr. 2017/625 bezeichnet dieser Ausdruck die zentralen Behörden eines Mitgliedstaats, die für die Durchführung amtlicher Kontrollen und anderer amtlicher Tätigkeiten nach dieser Verordnung und den Vorschriften gemäß Art. 1 Abs. 2 verantwortlich sind (lit. a) und alle anderen Behörden, denen diese Verantwortung übertragen wurde (lit. b). „Amtliche Kontrollen“ sind nach Art. 2 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 Tätigkeiten, die von den zuständigen Behörde durchgeführt werden, um zu überprüfen, ob die Unternehmer die Verordnung und die Vorschriften gemäß Art. 1 Abs. 2 einhalten (lit. a) und die Tiere oder Waren die Anforderungen in den Vorschriften gemäß Art. 1 erfüllen, auch im Hinblick auf die Ausstellung einer amtlichen Bescheinigung oder einer amtlichen Attestierung (lit. b). Für den innerdeutschen Bereich bestimmt § 59 Abs. 1 PflSchG, dass in den Ländern u.a. die Durchführung dieses Gesetzes einschließlich der Überwachung der Einhaltung seiner Vorschriften und der Kontrollen nach Art. 68 VO (EG) Nr. 1107/2009 den nach Landesrecht zuständigen Behörden. Als Pflanzenschutzdienst sind sie insbesondere mit der Überwachung des Inverkehrbringens, des innergemeinschaftlichen Verbringens sowie des Verbringens im Inland (§ 59 Abs. 2 Nr. 8 PflSchG) betraut. Landesrechtlich bestimmt die Verordnung zur Durchführung des Pflanzenschutzgesetzes vom 04. Oktober 1988 (GV. NW. S. 420, zuletzt geändert durch Art. 17 des Gesetzes vom 15. November 2016 (GV. NW. S. 934), dass der Direktor der Landwirtschaftskammer als Landesbeauftragter – hier als Pflanzenschutzdienst – zuständige Behörde gemäß § 59 PflSchG ist.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin ist zuzugestehen, dass in die letztgenannte Norm die Verordnung (EU) Nr. 2017/625 nicht einbezogen ist. Auch durch den jüngst erlassenen Art. 2 des Gesetzes zur Pflanzengesundheit vom 05. Juli 2021 (BGBl. I S. 2354) ist § 59 Abs. 1 PflSchG nicht neugefasst worden. Die Schlussfolgerung, damit sei die Zuständigkeit des Pflanzenschutzdienstes nicht (mehr) gegeben, erweist sich indes als zweifelhaft. Zum einen ist die Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 nicht außer Kraft getreten, und in ihrem Art. 68 Abs. 1 ist weiterhin von amtlichen Kontrollen die Rede. Dabei bezieht das Gericht die Änderung der Vorschrift durch Art. 161 Nr. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 ein. Zwar ist der ursprüngliche Satz 1 (<em>„Die Mitgliedstaaten führen amtliche Kontrollen durch, um die Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung durchzusetzen“</em>) weggefallen. Einen Umkehrschluss des Inhalts, dass die Mitgliedstaaten nunmehr keine amtlichen Kontrollen durchführen, um die Einhaltung der Verordnung sicherzustellen, hält die Kammer indes für zu weitgehend. Denn in seiner aktuellen Fassung (<em>„Die Mitgliedstaaten unterbreiten der Kommission bis zum 31. August jedes Jahres für das vorangegangene Jahr einen Bericht über den Umfang und die Ergebnisse der amtlichen Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung dieser Verordnung.“</em>) impliziert die Norm die Durchführung amtlicher Kontrollen. Soweit die Klägerin geltend macht, § 59 Abs. 2 Nr. 8 PflSchG greife nicht Platz, weil keine der darin geregelten Überwachungstätigkeiten Gegenstand desjenigen Teils der Anordnung sei, der angefochten sei, folgt ihr die Kammer nicht. Zum einen ist ausdrücklich das Verbringen im Inland aufgeführt, das hier tatbestandlich einschlägig ist. Zum anderen verdeutlicht das einleitend verwendete Adverb „insbesondere“, dass die Aufzählung der dem Pflanzenschutzdienst obliegenden Aufgaben nicht abschließend ist.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">3.) Es liegt ein Verstoß i.S.d. Art. 138 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 vor. Dieser ergibt sich nicht bereits aus der teilweisen Bestandskraft der Anordnung, soweit nämlich der Klägerin schon das Inverkehrbringen des Pflanzenschutzmittels Synergy Generics Metamitron untersagt worden ist. Denn der Untersagung kommt keine Feststellungswirkung in dem Sinne zu, dass das Gericht (oder die Behörde) an die rechtliche Beurteilung oder die Sachverhaltsfeststellungen zur Begründung gebunden wäre. Denn hierfür fehlt es an der erforderlichen besonderen gesetzlichen Begründung.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl.              zur Feststellungswirkung eines VA allgemein Goldhammer, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht Band VwVfG, § 43 Rn. 81 (Stand: August 2021); Kopp/Ramsauer, VwVfG, 22. Auflage 2021, § 43 Rn. 26; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 43 Rn. 160.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Allerdings liegt der (drohende) Verstoß in der mangelnden Verkehrsfähigkeit der in Rede stehenden Partie des Pflanzenschutzmittel Synergya Generics Metamitron.  Gemäß Art. 28 VO (EG) Nr. 1107/2009 dürfen Pflanzenschutzmittel nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie in der Bundesrepublik Deutschland durch das BVL zugelassen sind. Für das Pflanzenschutzmittel Synergy Generics Metamitron besteht eine solche Zulassung. Allerdings steht fest, dass es sich bei der Partie, die bei der Klägerin vorgefunden worden ist, nicht um das ursprünglich zugelassene Produkt handelt. Vielmehr hat die Laboruntersuchung durch das BVL ergeben, dass die chemische Zusammensetzung in Bezug auf den Beistoff Propylenglykol von der zugelassenen Zusammensetzung abweicht und damit nicht verkehrsfähig ist. Dies ergibt sich aus dem Prüfbericht Plan-, Verdachts- und Sonstige Kontrollproben des BVL vom 31. Mai 2021. Die Probe wurde ausweislich der Ergebnisbewertung auf den Gehalt an einem Frostschutzmittel, das Bestandteil eines Dispergiermittels ist, untersucht. Der ermittelte Gehalt liegt mit 13,0 g/L außerhalb der für den deklarierten Gehalt zulässigen Toleranz von 7,74 g/L. Mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 hat das beklagte Land mitgeteilt, dass es sich bei dem Beistoff um Propylenglykol handelt. Vor diesem Hintergrund kann die Klägerin nicht mehr damit durchdringen, dem Prüfbericht des BVL könne nicht entnommen werden, wie hoch der deklarierte Gehalt des in Betracht gezogenen Stoffes und wie hoch der Wert der zulässigen Toleranz sei.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die Kammer folgt auch nicht dem Einwand, es handele sich um einen eher formalen Verstoß, weil die Abweichung weder zu einer geringeren Wirkung noch zu höheren Risiken für Gesundheits- und Umweltschutz führe. Beim Antrag auf Zulassung eines Pflanzenschutzmittels sind alle Bestandteile (Wirkstoffe, Safener, Synergisten und Beistoffe), die bewusst zugegeben werden, unabhängig von der Menge anzugeben (vgl. Teil A, Abschnitt 1.4.1. des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 284/2013 der Kommission vom 01. März 2013 zur Festlegung der Datenanforderungen für Pflanzenschutzmittel gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln). Beistoffe (Formulierungshilfsstoffe) verleihen dem Produkt die für die Anwendung nötigen Eigenschaften. Sie sorgen nach der Beschreibung des BVL auf seiner Internetseite etwa dafür, dass Pflanzenschutzmittel leicht zu handhaben, gut auszubringen und lagerstabil sind. Sie können die Sicherheit für Anwender beim Ansetzen der Spritzflüssigkeit erhöhen und ermöglichen eine gute Verteilung der Wirkstoffe in der Spritzflüssigkeit und über die Pflanzen.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/04_Pflanzenschutzmittel/01_Aufgaben/08_Produktchemie/01_BeistoffeFormulierungschemie/psm_BeistoffeFormulierungschemie_node.html.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Zu diesen Beistoffen gehört auch das hier in Rede stehende Propylenglykol.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. die Liste des BVL: Beistoffe in zugelassenen Pflanzenschutzmitteln, abrufbar unter</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">              https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/04_Pflanzenschutzmittel/zul_info_liste_beistoffe.pdf?__blob=publicationFile&v=5.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Alle Beistoffe, die in der Formulierung eines Pflanzenschutzmittels enthalten sind, müssen bei einem Antrag auf Zulassung nach den Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 284/2013 durch den Antragsteller oder Hersteller charakterisiert werden. Die einzelnen Beistoffsubstanzen sind quantitativ (i.d.R. Gehalt ≥0,1%) und qualitativ (chemische Bezeichnung nach IUPAC und CA Index, Struktur sowie CAS- und EC-Nummer) anzugeben. Im Zulassungsverfahren werden u.a. die Beistoffe geprüft und im Zulassungsbescheid festgelegt. Ist nach alledem davon auszugehen, dass die Grenzwerte u.a. für die Beistoffe von einer Fachbehörde aufgrund einer sachverständigen Prüfung festgelegt werden, kann die Relevanz einer Grenzwertüberschreitung nicht mit der bloßen Behauptung in Abrede gestellt werden, es handele sich lediglich um einen bloß formalen Verstoß.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die von der Klägerin geltend gemachte Divergenz in der Probencodierung ist nicht relevant. Zwar trägt das Protokoll des Pflanzenschutzdienstes über die Pflanzenschutzmittel-Verkehrskontrolle die laufende Nummer 1-Col-055-21. Demgegenüber ist in dem genannten Prüfbericht des BVL die Probencodierung des Auftraggebers angegeben mit: NW-1-Col-051-21-01. Diese Abweichung hat das beklagte Land plausibel damit erklärt, dass die untersuchte Probe bei einem anderen Händler gezogen worden ist. Die Untersuchung betrifft aber dieselbe Charge. So sind in dem Prüfbericht die Chargennummer 1522 08 und das Produktionsdatum Mai 2020 angegeben. Diese Angaben sind auch auf dem Foto eines Originalgebindes aus dem Betrieb der Klägerin deutlich zu erkennen. Hieraus folgt, dass die untersuchte Probe und die bei der Klägerin vorgefundenen Produkte derselben Charge zuzuordnen sind, d.h. der Endproduktmenge, die unter gleichen Umständen entstanden ist.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">4.) Allerdings erweist sich die Untersagung des sonstigen Verbringens, soweit dieses die Rückgabe an den Verkäufer umfasst, als ermessensfehlerhaft. Art. 138 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 sieht bei Feststellung eines Verstoßes vor, dass die zuständigen Behörden geeignete Maßnahmen treffen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer den Verstoß beendet und dass er erneute Verstöße dieser Art verhindert. Bei der Entscheidung über die zu ergreifenden Maßnahmen berücksichtigen die zuständigen Behörden die Art des Verstoßes und das bisherige Verhalten des betreffenden Unternehmers in Bezug auf die Einhaltung der Vorschriften. Dies bedeutet, dass dem Antragsgegner bei der Feststellung von Verstößen grundsätzlich kein Entschließungsermessen hinsichtlich der Frage des „Ob“ des Einschreitens zusteht. Er ist gehalten zu handeln.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl.              VG Regensburg, Beschluss vom 21. Januar 2022 – RN 5 S 21.2172 –, juris Rn. 40; VG Stade, Beschluss vom 11. August 2021 – 6 B 800/21 –, juris Rn. 39; abweichend dagegen VG Berlin, Beschluss vom 21. Oktober 2021 – 14 L 453/21 –, juris Rn. 34: Entschließungsermessen, aber im gefahrenabwehrrechtlichen Bereich „in der Regel“ intendiert, so dass sich in der Praxis kein Unterschied ergeben dürfte.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Lediglich bei der Frage des „Wie“ des Einschreitens steht ihm ein Ermessen zu, wobei er insoweit die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit zu beachten und insbesondere die Erforderlichkeit der zu treffenden Maßnahmen in den Blick zu nehmen hat.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Nds.OVG, Beschluss vom 09. Februar 2021 – 13 ME 580/20 –, juris Rn. 34 f.; VG Regensburg, Beschluss vom 21. Januar 2022 – RN 5 S 21.2172 –, juris Rn. 40; VG Berlin, Beschluss vom 21. Oktober 2021 – 14 L 453/21 –, juris Rn. 34.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Der Prüfungsumfang des Gerichts ist bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen gemäß § 114 VwGO, dahingehend begrenzt, dass es zu prüfen hat, ob die Entscheidung ohne Ermessensfehler getroffen worden ist. Es gelten die allgemeinen Ermessensgrenzen, so dass sich Ermessensfehler aus dem Ermessensnichtgebrauch (Ermessensausfall, Ermessensunterschreitung), dem Ermessensfehlgebrauch (Ermessensmissbrauch) und der Ermessensüberschreitung ergeben können.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 27. Auflage 2021, § 114 Rn. 7 ff.; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 114 Rn. 56 ff. (Stand: Juli 2021); Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 114 Rn. 114a ff., jeweils m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran liegt ein Ermessensfehler vor.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Der Pflanzenschutzdienst hat zwar erkannt, dass ihm bei der Entscheidung über die Festsetzung Ermessen zukommt, so dass ein Ermessensausfall nicht gegeben ist. So heißt es auf Seite 2 der Anordnung, dass die Festsetzung auch ermessensgerecht gewesen sei. Dies wird im Folgenden in dem Bescheid weiter ausgeführt.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Indes ist ein Ermessensfehlgebrauch gegeben. Die Erwägungen in der streitgegenständlichen Festsetzungsanordnung vom 04. August 2021 sind in Bezug auf das Verbot des sonstigen Verbringens klar unzureichend. Der Pflanzenschutzdienst hat das Verbot damit begründet, dass der Importeur sowie das dahinterstehende Firmenkonsortium durch „nicht rechtskonformes Verhalten“ auffällig geworden seien. Daher sei auch das sonstige Verbringen zu untersagen, um ein erneutes Inverkehrbringen – auch durch den Importeur – sicher auszuschließen. Zum Schutz vor schädlichen Auswirkungen des Mittels für Umwelt, Anwender und Verbraucher sowie zur Verhinderung eines fortgesetzten rechtswidrigen Handels des festgesetzten Mittels in einem hoch regulierten Handelsbereich sei die Festsetzung auch erforderlich und angemessen. Es ist aber nicht dargetan, in welcher Weise der Importeur und das dahinterstehende Firmenkonsortium durch nicht rechtskonformes Verhalten auffällig geworden sind. Es ist noch nicht einmal klar, ob damit ein strafrechtlich relevantes Verhalten gemeint ist oder aber ein Verhalten, das noch unterhalb dieser Schwelle einzuordnen ist. Zudem ist der Verkäufer nicht der Importeur des Produkts, und es ist in der Festsetzungsanordnung auch nicht dargelegt, dass er dem Firmenkonsortium des Herstellers angehört. In der Folge bleibt der Bezug zu vermeintlich „auffällig“ agierenden Akteuren im Dunkeln.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Der Ermessensfehler wird – die Anwendbarkeit des § 114 Satz 2 VwGO unterstellt – auch nicht durch die Erwägungen des beklagten Landes im Klageverfahren ausgeglichen.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Soweit es in dem Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 darauf abstellt, es sei grundsätzlich immer verhältnismäßig und damit ermessensgerecht, wenn ein nicht verkehrsfähiges Pflanzenschutzmittel festgesetzt werde, um zu verhindern, dass es in den Verkehr gebracht werde, betrifft diese Erwägung allein das Inverkehrbringen, um das es hier aber, wie oben herausgearbeitet, gerade nicht geht. Es steht wegen der bloßen Teilanfechtung der Festsetzungsanordnung bestandskräftig fest, dass das Mittel nicht in den Verkehr gebracht werden darf.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">In Bezug auf das allein relevante sonstige Verbringen, soweit es um die Rückgabe des Pflanzenschutzmittels an den Verkäufer geht, erweist sich ferner das Argument als nicht weiterführend, der Hersteller Synergy Generics Limited und seine mit ihm teils unter derselben Adresse und denselben Ansprechpartnern verbundenen Handelsfirmen seien im Zuge aktueller Ermittlungen in erheblichem Umfang mit dem Handel illegaler, nicht zulassungskonformer Pflanzenschutzmittel aufgefallen, so dass eine Rückführung mit der Gefahr erneuter Importversuche möglicherweise über einen Mitvertreiber dieses Mittels verbunden wäre. Denn zum einen bleiben die Angaben zu den strafrechtlichen Ermittlungen vage; insbesondere ist nicht klar, ob die Ermittlungsverfahren auch zu einem konkreten Ergebnis etwa in Gestalt von Verurteilungen geführt haben. Zum anderen ist nicht konkret dargetan, dass es sich bei dem Verkäufer, der B.    Handels GmbH, um eine mit dem Hersteller verbundene Handelsfirma handelt, so dass die Gefahr eines illegalen Re-Imports durch den Hersteller oder einen Mitvertreiber nicht substantiiert dargelegt ist. Der gesamte hierauf abzielende Vortrag erweist sich als spekulativ. Der Hinweis des beklagten Landes in dem Schriftsatz vom 22. August 2022, der Geschäftsführer der B.    Handels GmbH, Herr D.         L.    , sei ab Herbst 2012 Mitarbeiter des B1.            -Konzerns und dessen deutscher Ansprechpartner gewesen, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Wenn lediglich eine E-Mail vorgelegt wird, die noch dazu vor nahezu zehn Jahren geschrieben worden ist (Datum: 29. April 2013), ist das schon an sich kein sonderlich überzeugender Beleg, weil nicht dargetan ist, dass der personale Bezug auch aktuell noch besteht. Zudem würde er nichts daran ändern, dass – wie ausgeführt – ein nicht rechtskonformes Verhalten nur unzulänglich dargetan ist. Dies aber wäre umso mehr angezeigt, als das in Rede stehende Mittel in Deutschland zugelassen ist, so dass nicht ersichtlich ist, warum Veranlassung bestehen sollte, das Produkt zu fälschen.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Erschwerend – was den Ermessensfehlgebrauch anbelangt – kommt hinzu, dass in Bezug auf die bloße Rückgabe an den Verkäufer das Bestehen eines Anspruchs der Klägerin unbeachtet geblieben ist. Sie hat zwar keinen <em>öffentlich-rechtlichen</em> Anspruch: Die Rückgabe von Pflanzenschutzmitteln ist in § 27 PflSchG geregelt. Die Norm ist hier aber tatbestandlich nicht einschlägig. § 27 Abs. 1 Satz 1 PflSchG setzt die Beendigung der Zulassung eines Pflanzenschutzmittels voraus, woran es hier fehlt. Der Ansicht der Klägerin, die Norm greife auch dann Platz, wenn einzelne Chargen des Produktes nicht der ansonsten zugelassenen Spezifikation entsprächen, vermag sich die Kammer nicht anzuschließen. Denn diese Auslegung ist mit dem Wortlaut der Norm nicht in Einklang zu bringen. Einem erweiterten Verständnis steht der Rechtsgrundsatz „singularia non sunt extendenda“ – Ausnahmevorschriften dürfen nicht weit ausgelegt werden – entgegen. Gemäß Art. 28 Abs. 1 VO (EG) 1107/2009 darf ein Pflanzenschutzmittel nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden, wenn es in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der Verordnung zugelassen wurde. In Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 1107/2009 sind Ausnahmen von diesem Grundsatz enumerativ geregelt. Der demnach europarechtlich maßgeblichen Bedeutung der Zulassung als Voraussetzung für das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels ist auch bei § 27 Abs. 1 PflSchG Rechnung zu tragen, indem die Konstellation eines nicht verkehrsfähigen Pflanzenschutzmittels nicht mit der eines nicht mehr zugelassenen Pflanzenschutzmittels auf eine Stufe gestellt wird. Auch § 27 Abs. 2 Satz 1 PflSchG greift nicht Platz, da das BVL nicht die Rücknahme oder den Widerruf der Zulassung verfügt und auch nicht festgestellt hat, dass die Voraussetzungen einer Aufhebung vorgelegen hätten. Allerdings ist die Klägerin <em>zivilrechtlich</em> zur Rückgabe der Partie des Pflanzenschutzmittels berechtigt. Dies folgt ungeachtet einer etwaigen kaufvertragsrechtlichen Mangelhaftigkeit des Kaufgegenstands bereits daraus, dass sich die B.    Handels GmbH mit Schreiben vom 17. August 2021 gegenüber der Klägerin verpflichtet hat, das Pflanzenschutzmittel zurückzunehmen und ihr den Kaufpreis zu erstatten.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Das (umfassende) Verbot des sonstigen Verbringens kann auch nicht damit ermessensfehlerfrei begründet werden, dass die Vernichtung des Pflanzenschutzmittels erforderlich sei, um dem Schutz der Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanze Rechnung zu tragen.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Zum einen stellt sich die Festsetzungsanordnung insoweit als nicht erforderlich und damit als unverhältnismäßig dar.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Verhältnismäßigkeit als bei der Ermessensausübung zu beachtendes Kriterium statt vieler Geis, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 40 VwVfG Rn. 102 (Stand: April 2022); Schönen-broicher, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Auflage 2019, § 40 Rn. 210, jeweils m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Denn ist nicht nachvollziehbar begründet, dass mit einer Rückgabe an den Verkäufer eine Gefährdung von Mensch, Tier oder Pflanze verbunden wäre. Sie ergibt sich insbesondere nicht ohne weiteres aus der beabsichtigten Ausfuhr des Pflanzenschutzmittels in einen Drittstaat. Vielmehr ist zwischen der Rückgabe an den Verkäufer – das ist die Konstellation des hier allein zu betrachtenden Hauptantrags – und dem Verbringen des Mittels in einen Drittstaat zu differenzieren. Die Argumentation des beklagten Landes setzt erkennbar bei letzterem an, verbietet aber ohne Differenzierung schon die Rückgabe an den Verkäufer, die erkennbar (noch) nicht zu einer Gefährdung von Mensch, Tier oder Pflanze führen kann. Die Erforderlichkeit kann auch nicht damit begründet werden, Unternehmen hätten keinen Anreiz, auf den Handel mit nicht verkehrsfähigen Pflanzenschutzmitteln zu verzichten, wenn man deren ungehinderte Rückgabe zulässt, weil im schlimmsten Falle eine Rückabwicklung und Rückgabe der Mittel zu befürchten sei. Denn dabei wird der in aller Regel stark ausgeprägte Anreiz übersehen, Geld zu verdienen. Bei einer Rückabwicklung wird dieses Ziel gerade nicht erreicht, weil bei Rückgabe des Kaufgegenstands auch der Kaufpreis zurückzuzahlen ist.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Zum anderen ist die Gefährdung von Mensch, Tier oder Pflanze – notabene: in einem Drittstaat – schon kein zulässiges Kriterium im Rahmen des Ermessens: Wenn nach dem hier maßgeblichen europarechtlichen Rechtsregime – den Verordnungen (EU) Nr. 1107/2009 und Nr. 625/2017 – die Ausfuhr eines nicht verkehrsfähigen Pflanzenschutzmittels in einen Drittstaat nicht unzulässig wäre, könnte der Pflanzenschutzdienst nicht eine abweichende Regelung treffen, die lediglich damit begründet ist, dass es darum gehe, Gefahren für Menschen, Tiere oder Pflanzen in einem Drittstaat abzuwehren. Der Verweis auf den Zweck der Gefahrenabwehr wäre vielmehr unzureichend, weil er mit dem Befund nicht zu vereinbaren wäre, dass der EU-Verordnungsgeber gerade nicht die Notwendigkeit gesehen hat, uneingeschränkt die Ausfuhr von Pflanzenschutzmitteln (oder anderen Chemikalien) zu ebendiesem Zwecke zu unterbinden. Die oben formulierte Prämisse ist aus der Sicht der Kammer erfüllt: In <em>pflanzenschutzrechtlicher</em> Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass Art. 28 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1107/2009 grundsätzlich die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels als Voraussetzung für das Inverkehrbringen postuliert. Ausnahmen hierzu sind in Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 1107/2009 aufgeführt. Insbesondere bedarf es nach Art. 28 Abs. 2 lit. d) VO (EG) Nr. 1107/2009 für das Verbringen eines Pflanzenschutzmittels in einen Drittstaat keiner Zulassung. Es bedarf freilich auch hier keiner Entscheidung, ob der von der Klägerin befürwortete Gleichsetzung von „nicht zugelassen“ und „nicht verkehrsfähig“ zuzustimmen ist. Denn jedenfalls ist zu konstatieren, dass die Verordnung explizite Vorgaben für Pflanzenschutzmittel, die von den zuständigen Behörden als nicht verkehrsfähig eingestuft worden sind, nicht enthält. <em>Chemikalienrechtlich</em> ist von Belang, dass die insoweit einschlägige Verordnung (EU) Nr. 649/2012 die Ausfuhr verbotener Chemikalien verbietet (vgl. Art. 15 Abs. 2 i.V.m. Anhang V) und die Ausfuhr gefährlicher Chemikalien reglementiert (vgl. Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Anhang I). Der Wirkstoff Metamitron ist aber weder in der Anhang I noch in Anhang V aufgeführt und mithin weder als gefährlich noch als verboten eingestuft. So bedürfte es weitergehender Erwägungen über die Abwehr von Gefahren für Menschen, Tiere und Pflanzen in einem Drittstaat hinaus, die hier aber nicht angestellt worden sind.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
346,813
vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-28-11-b-8422
{ "id": 1071, "name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht", "slug": "vg-schleswig-holsteinisches", "city": 647, "state": 17, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
11 B 84/22
"2022-09-28T00:00:00"
"2022-10-05T10:00:38"
"2022-10-17T11:10:47"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0928.11B84.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstands wird auf 5.000,00 € festgesetzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der sinngemäß gestellte Antrag der Antragstellerin,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die aufschiebende Wirkung ihrer Klage zum Aktenzeichen 11 A 202/22 anzuordnen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>ist als neuerlicher Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bereits unzulässig, da ihm die Rechtskraft der Entscheidung der Kammer vom 17.05.2022 (Az. 11 B 3/22) entgegensteht (vgl. etwa OVG Bautzen, Beschl. v. 17.09.2020 – 6 B 290/20 –, juris Rn. 1; VG München, Beschl. v. 29.11.2001 – M 1 S 01.70162 –, juris Rn. 15; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 126).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Umstand, dass die Antragstellerin nunmehr Klage erhoben hat (Az. 11 A 202/22), führt vor dem Hintergrund des rechtskräftigen Beschlusses der Kammer vom 17.05.2022 nicht dazu, dass für die gerichtliche Prüfung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage erneut ein Antragsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO eröffnet wäre. Gegenstand des ersten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO war die Frage der Vollziehbarkeit des Bescheides vom 09.12.2021 bis zu seiner Unanfechtbarkeit – beziehungsweise bei Abweisung der Klage im ersten Rechtszug bis zum Ablauf von drei Monaten nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist (vgl. näher zum Gegenstand des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO: OVG B-Stadt, Beschl. v. 23.09.2016 – 1 Bs 100/16 –, juris Rn. 17). Mit der rechtskräftigen Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ist über diesen Streitgegenstand abschließend entschieden worden. Damit steht zwischen den Beteiligten bindend fest, dass es bei der Vollziehbarkeit des vorgenannten Bescheides bleibt und den dagegen eingelegten Rechtsmitteln der Antragstellerin keine aufschiebende Wirkung zukommt. Der Erlass des Widerspruchsbescheides am 08.06.2022 nach der gerichtlichen Entscheidung am 17.05.2022 und die Erhebung einer Klage ändern daran nichts (vgl. OVG B-Stadt, Beschl. v. 23.09.2016 – 1 Bs 100/16 –, juris Rn. 16). Da der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO keinen Erfolg hatte, bleibt es während des gesamten „Schwebezustands“ bei der Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes, so dass eine Korrektur nur nach Maßgabe des § 80 Abs. 7 VwGO möglich ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29.03.2012 – OVG 10 S 17.11 –, juris Rn. 5 m.V.a. OVG Magdeburg, Beschl. v. 12.07.1995 – 2 M 18/95 –, juris Rn. 31; Beschl. v. 02.05.2011 – 2 M 34/11 –, juris Rn. 7; OVG B-Stadt, Beschl. v. 23.09.2016 – 1 Bs 100/16 –, juris Rn. 19).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Selbst wenn man den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO als hilfsweise gestellten Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO wegen veränderter oder ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände ansieht, bleibt dieser Abänderungsantrag mangels Begründetheit ohne Erfolg. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO dient nicht in der Art eines Rechtsmittelverfahrens der Überprüfung, ob die vorangegangene Entscheidung – hier also der Beschluss der Kammer vom 17.05.2022 – formell und materiell richtig ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.08.2008 – 2 VR 1.08 –, juris Rn. 5). Es dient allein der Möglichkeit, einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab für die Entscheidung über einen zulässigen Abänderungsantrag ist, ob nach der jetzigen Sach- oder Rechtslage die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.03.2011 – 8 VR 2.11 –, juris Rn. 8). Prozessrechtliche Voraussetzung für die Ausübung der dem Gericht der Hauptsache eröffneten Abänderungsbefugnis ist somit eine Änderung der maßgeblichen Umstände, auf welche die frühere Entscheidung gestützt war. Liegt eine derartige Änderung nicht vor, ist dem Gericht eine Entscheidung in der Sache grundsätzlich verwehrt, weil sie auf eine unzulässige Rechtsmittelentscheidung hinausliefe (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 24.07.2019 – 2 BvR 686/19 –, juris Rn. 36).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Antragstellerin keine beachtliche nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage dargelegt, die eine Abänderung der gerichtlichen Eilentscheidung vom 17.05.2022 rechtfertigen würde. Sie hat zudem nicht dargetan, ohne Verschulden gehindert gewesen zu sein, bereits im ursprünglichen Verfahren bestehende Umstände rechtzeitig geltend zu machen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Soweit sich die Antragstellerin zur Begründung ihres Antrages auf die Vorgeschehnisse vor und unmittelbar nach ihrer Einreise stützt und ergänzend heranzieht, dass der Ehemann der Antragstellerin ihre Einreise entgegen dessen Bekundungen im Verwaltungsverfahren gewünscht habe, sich ihr gegenüber insgesamt sehr wechselvoll, teilweise aber auch liebevoll gezeigt habe, mit der Folge, dass vor ihrem Auszug eine eheliche Lebensgemeinschaft i. S. d. § 31 Abs. 1 AufenthG geführt worden sei, so lässt sich hieraus keine berücksichtigungsfähige Veränderung der Sach- und Rechtslage herleiten. Sämtliche Vorgeschehnisse ereigneten sich, wie sich dem Antragsvorbringen entnehmen lässt, vor der Beschlussfassung der Kammer am 17.05.2022 und stellen folglich keine nachträgliche Änderung der Sachlage dar. Der in diesem Zusammenhang erfolgte Verweis darauf, dass der angefochtenen Verfügung des Antragsgegners und dem Beschluss der Kammer vom 17.05.2022 ein nur teilweise zutreffendes Bild zugrunde gelegen habe, vermag dem Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO damit ebenfalls nicht zum Erfolg zu verhelfen, zumal nicht dargelegt wird, weshalb diese Umstände nicht bereits im Ausgangsverfahren geltend gemacht werden konnten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>In dem Vorbringen der Antragstellerin zu den durch ihren Ehemann erlittenen schwerwiegenden Demütigungen und entwürdigenden Beeinträchtigungen ihrer schutzwürdigen Belange liegt ebenfalls keine nachträglich geänderte Sachlage, da die Antragstellerin hierzu selbst angibt, sie habe dies bereits ausführlich im Verwaltungsverfahren mit Schriftsatz vom 14.04.2021, mithin deutlich vor der gerichtlichen Entscheidung am 17.05.2022, gegenüber dem Antragsgegner dargelegt. Gleiches gilt, soweit die Antragstellerin darauf verweist, dass sie von ihrem im Iran lebenden Bruder schwerwiegende und ernstzunehmende Drohungen für den Fall ihrer Rückkehr erhalten habe. Diesbezüglich bleibt schon völlig unklar, wann diese Drohungen erfolgt sein sollen und weshalb dieses Vorbringen nicht bereits vor Erlass des Beschlusses am 17.05.2022 erfolgen konnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Soweit die Antragstellerin darüber hinaus die Rechtslage in Bezug auf § 31 AufenthG anders wertet, als die Kammer in dem Beschluss vom 17.05.2022 und hierzu unter anderem vorträgt, dass es jedenfalls für den Bereich der schutzwürdigen Belange i. S. v. § 31 Abs. 2 AufenthG einer verfassungskonformen Auslegung dahingehend bedürfe, dass im Wege der Analogie ein von der Fortdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft unabhängiges Aufenthaltsrecht auch dann zu gewähren sei, wenn die Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug noch nicht erteilt worden sei, so handelt es sich ebenfalls um kein im Rahmen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO berücksichtigungsfähiges Vorbringen. Hierbei handelt es sich um die Geltendmachung von Einwänden gegenüber der materiellen Richtigkeit des Beschlusses vom 17.05.2022, die allein im insoweit vorgesehenen Beschwerdeverfahren (vgl. § 146 Abs. 1 und Abs. 4 VwGO) anzubringen gewesen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Nach alledem ist der Antrag mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz nicht gegeben (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO). Die Kammer nimmt insoweit auf die vorstehenden Ausführungen Bezug.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,798
olgmuen-2022-09-28-7-u-323820
{ "id": 277, "name": "Oberlandesgericht München", "slug": "olgmuen", "city": null, "state": 4, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
7 U 3238/20
"2022-09-28T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:48"
"2022-10-17T11:10:46"
Endurteil
<h2>Tenor</h2> <div> <p>1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 28.4.2020 (Az.: 3 O 7627/18) im Kostenpunkt aufgehoben und im übrigen abgeändert gemäß den folgenden Ziffern.</p> <p>2. Es wird festgestellt, dass sich der Antrag zu I., d.h. der Antrag, die Zwangsvollstreckung aus der vollstreckbaren Urkunde der Notarin U. W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, für unzulässig zu erklären, und der Antrag zu IV, d.h. der Antrag, die Beklagte zu verurteilen, die vollstreckbare Ausfertigung der Urkunde der Notarin U.W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, an die Klägerin herauszugeben, in der Hauptsache erledigt haben.</p> <p>3. Es wird festgestellt, dass die Urkunde der Notarin U. W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, keine Verpflichtungen der Klägerin und keine Ansprüche gegen die Klägerin begründet.</p> <p>4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 690.102,91 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 4% vom 19.6.2018 bis 21.8.2018 sowie in Höhe von 5 Prozentpunken über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.8.2018 zu bezahlen.</p> <p>5. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen und die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.</p> <p>6. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 70% und die Beklagte 30% zu tragen.</p> <p>7. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p> <p>8. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p>A.</p> <p><rd nr="1"/>Mit ihrer Klage macht die Klägerin die Unwirksamkeit einer Notarurkunde sowie die Rückzahlung von zur Abwendung der Zwangsvollstreckung aus der Urkunde bzw. der in der Urkunde bestellten Grundschuld bezahlten Beträgen geltend.</p> <p><rd nr="2"/>Die klagende GmbH & Co. KG ist eine Projektgesellschaft zur Realisierung von Immobilienprojekten; sie war Eigentümerin des Grundstücks - L.-straße 228 in M. Die Klägerin wurde gegründet mit Gesellschaftsvertrag vom 2.3.2016 (Anlage K 1). Dem vorangegangen war eine (als „Ergänzung zum Gesellschaftsvertrag“ überschriebene) Gesellschaftervereinbarung vom 15.2.2016 (Anlage K 6). Auf den Inhalt der Anlagen K 1 und K 6 wird Bezug genommen.</p> <p><rd nr="3"/>Die ursprünglichen Gesellschafter der Klägerin zerfielen in zwei Gruppen, die wirtschaftlich betrachtet einerseits der Familie Sch. und andererseits Herrn M. D. zuzuordnen waren. Persönlich haftende (einzelvertretungsbefugte und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreite) Gesellschafter der Klägerin waren die RCS R. C. S. GmbH („Sch.-Gruppe“; einzelvertretungsbefugte und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreite Geschäftsführerin war Frau Rechtsanwältin K.) und die S. H. I. GmbH („D.-K.-Gruppe“; einzelvertretungsbefugter und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiter Geschäftsführer war Herr D.-K.). Kommanditisten waren RCS R. C. S. Objektgesellschaft mbH & Co. KG („Sch.-Gruppe“) sowie Herr D.-K.</p> <p><rd nr="4"/>Mit Schreiben vom 17.2.2017 kündigten die S. H. I. GmbH und Herr D.-K. ihre Beteiligungen an der Klägerin ordentlich zum 31.12.2017. § 9 Abs. 1 des Gesellschaftsvertrags sieht eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit vor. Rechtsfolge einer wirksamen ordentlichen Kündigung ist nach dem Gesellschaftsvertrag die Fortsetzung der Gesellschaft ohne die Kündigenden und der Anspruch der Kündigenden auf ein Abfindungsguthaben (für dessen nähere Ausgestaltung auf § 12 des Gesellschaftsvertrages Bezug genommen wird). - Die S.H. I. GmbH und Herr D.-K. haben ihnen zustehende Ansprüche auf ein Abfindungsguthaben mit Vereinbarung vom 18.5.2018 (Anlage B 2) an die Beklagte abgetreten.</p> <p><rd nr="5"/>Am 28.11.2017 fasste eine Gesellschafterversammlung der Klägerin einen Beschluss des Inhalts, dass die S. H. I. GmbH und Herr D.-K. aus der Gesellschaft ausgeschlossen würden. Die Möglichkeit des Ausschlusses von Gesellschaftern sah § 10 des Gesellschaftsvertrags der Klägerin vor.</p> <p><rd nr="6"/>Beide vorstehend genannten Sachverhalte waren Gegenstand eines Rechtsstreits zwischen den ursprünglichen Gesellschaftern der Klägerin beim Landgericht München I (Az.: 10 HK O 19617/17) und OLG München (Az.: 23 U 1212/19). Beide Gerichte haben die ordentliche Kündigung der Gesellschafter S. H. I. GmbH bzw. D.-K. für wirksam und den Beschluss über die Ausschließung dieser Gesellschafter für unwirksam gehalten.</p> <p><rd nr="7"/>Im Februar 2021 wurde das Ausscheiden der RCS R. C. S. GmbH (über deren Vermögen in der Folgezeit das Insolvenzverfahren eröffnet wurde) aus der Klägerin und das Eintreten der LA Asset Management L. GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin in die Klägerin in das Handelsregister eingetragen (vgl. Anlagen KB 2, 3).</p> <p><rd nr="8"/>Die beklagte GmbH & Co. KG ist die Vermögensverwaltungsgesellschaft des Herrn D.-K. Persönlich haftende Gesellschafterin ist die D.-K. Verwaltungs GmbH, deren einzelvertretungsbefugter und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiter Geschäftsführer Herr D.-K. ist; letzterer ist auch Kommanditist der Beklagten. Die Beklagte war zu keiner Zeit Gesellschafterin der Klägerin.</p> <p><rd nr="9"/>Die Beklagte leistete in der Zeit vom 4.3.2016 bis 13.12.2016 insgesamt 1.619.000,- € an die Klägerin in insgesamt 11 Teilzahlungen; 8 der Überweisungsträger tragen als Verwendungszweck die Aufschrift „Darlehen“. Die Klägerin ist der Meinung, diese Zahlungen seien im Hinblick auf eine Pflicht zur Sicherstellung zur Finanzierung der Klägerin erfolgt, die Herr D.-K. in der Gesellschaftervereinbarung vom 16.2.2016 übernommen habe. Die Beklagte steht demgegenüber auf dem Standpunkt, es habe sich um ein Darlehen gehandelt, das sie der Klägerin gewährt habe.</p> <p><rd nr="10"/>Am 28.9.2017 bestellte Herr D. K., dabei handelnd namens der S. H. I. GmbH, diese handelnd namens der Klägerin, zur Urkunde der Notarin W. (UR-Nr. …93/2017; Anlage K 12) eine Grundschuld über 1.800.000,- € nebst Zinsen in Höhe von 6% ab 28.9.2017 an dem Grundstück der Klägerin L.straße 228 in M. zugunsten der Beklagten. Zur selben Urkunde verpflichtete sich die Klägerin gegenüber der Beklagten unabhängig von der Grundschuld zur Zahlung des Grundschuldbetrages nebst Zinsen. Ferner enthält die Urkunde eine Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung hinsichtlich der Grundschuld und der vorstehend bezeichneten Verpflichtung. Hinsichtlich des Inhalts der Notarurkunde im einzelnen wird auf Anlage K 12 Bezug genommen.</p> <p><rd nr="11"/>Am 7.3.2018 beantragte die Beklagte die Zwangsvollstreckung in das klägerische Grundstück L.straße 228 in M. Der Versteigerungsvermerk wurde am 13.4.2018 eingetragen. Am 27.7.2018 wurde der Beschlagnahmebeschluss wieder aufgehoben.</p> <p><rd nr="12"/>Zwischenzeitlich, nämlich am 27.4.2018 hatte die Klägerin das Grundstück zum Preis von 5,35 Mio. € zur Urkunde des Notars Dr. K. (UR-Nr. …16/22; Anlage K 24) an einen Dritten veräußert. Gemäß § 3 des Kaufvertrages war die Fälligkeit des vereinbarten Kaufpreises abhängig von der Löschung der gegenständlichen Grundschuld und der Rücknahme des diesbezüglichen Zwangsversteigerungsantrags. Mit Schreiben vom 2.5.2018 forderte der Notar Dr. K. die Beklagte zur Abgabe entsprechender Erklärungen auf.</p> <p><rd nr="13"/>In der Folgezeit kam es diesbezüglich zu einem Schriftwechsel der nunmehrigen Parteivertreter (vgl. Anlagen K 26 ff., auf deren Inhalt Bezug genommen wird). Die Beklagtenseite machte dabei die Löschungsbewilligung bzw. die Rücknahme des Zwangsversteigerungsantrags von der Zahlung von 2.432.413,98 € abhängig, worauf die Klägerin letztendlich einging.</p> <p><rd nr="14"/>Am 18.6.2018 floss seitens des Grundstückskäufers ein Betrag von 2.432.413,98 € aus dem Kaufpreis an die Beklagte. Die Klägerin ist der Meinung, dass ihr hinsichtlich dieses Betrages Bereicherungsansprüche sowie deliktische und vertragliche Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zustünden. Die Beklagte meint demgegenüber, der Zahlbetrag habe ihr gegenüber der Klägerin zugestanden (1.619.000,- € Darlehensrückzahlung, 254.972,78 € Darlehenszinsen, 500.000,- € Abfindung für das Ausscheiden aus der Klägerin, 69.685,22 € Notar-, Gerichts- und Rechtsanwaltskosten im Zusammenhang mit der Grundschuld und deren Vollstreckung).</p> <p><rd nr="15"/>Die Klage ging am 5.6.2018 beim Landgericht ein. Sie enthielt die im klägerischen Berufungsantrag unter 1. wiedergegebenen Anträge I, III und IV sowie als Antrag II einen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus der Notarurkunde vom 28.9.2017. Im Hinblick auf letztgenannten Antrag wurde die Klageschrift der Beklagtenseite formlos zugeleitet (vgl. Bl. 45 der Akten); eine förmliche Zustellung der Klage wurde aber weder jetzt noch in der Folgezeit verfügt, noch ist eine solche erfolgt. Mit Schriftsatz vom 19.7.2018 erweiterte die Klägerin die Klage um den unten wiedergegebenen Zahlungsantrag. Im Termin vom 21.8.2018 hat die Klägerin die ursprünglichen Anträge I, III und IV sowie den Zahlungsantrag gestellt; die Beklagte hat Klagabweisung beantragt. Mit Schriftsatz vom 23.8.2018 hat die Beklagtenseite die ihr erteilte vollstreckbare Ausfertigung der Notarurkunde vom 28.9.2017 herausgegeben. Mit Schriftsatz vom 11.9.2018 hat die Klagepartei die ursprünglichen Klaganträge I, III und IV für erledigt erklärt. Die Beklagte hat sich der Erledigungserklärung nicht angeschlossen.</p> <p><rd nr="16"/>Die Klägerin hat zuletzt beantragt,</p> <p>festzustellen, dass sich die Anträge,</p> <p>die Zwangsvollstreckung aus der vollstreckbaren Urkunde der Notarin U. W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, wird für unzulässig erklärt, es wird festgestellt, dass die Urkunde der Notarin W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, keine Verpflichtungen der Klägerin und keine Ansprüche gegen die Klägerin begründet,</p> <p>die Beklagte wird verurteilt, die vollstreckbare Ausfertigung der Urkunde der Notarin U. W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, an die Klägerin herauszugeben,</p> <p>in der Hauptsache erledigt haben.</p> <p><rd nr="17"/>Weiter hat die Klägerin hilfsweise die Feststellung beantragt, dass die Urkunde der Notarin U. W., M. vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, keine Verpflichtungen der Klägerin und keine Ansprüche gegen die Klägerin begründet.</p> <p><rd nr="18"/>Darüber hinaus hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin € 2.443.657,80 nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit 19.06.2018 zu bezahlen.</p> <p><rd nr="19"/>Die Beklagte hat beantragt,</p> <p>die Klage abzuweisen.</p> <p><rd nr="20"/>Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils wird Bezug genommen. Mit ihrer zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Anträge weiter.</p> <p><rd nr="21"/>Die Klägerin beantragt,</p> <p>Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 28. April 2020, Az. 3 O 7627/18 abgeändert.</p> <p>1. Es wird festgestellt, dass sich</p> <p>a) der Antrag zu I, d.h. der Antrag, die Zwangsvollstreckung aus der vollstreckbaren Urkunde der Notarin U. W., München vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, für unzulässig zu erklären,</p> <p>b) der Antrag zu III., d.h. der Antrag festzustellen, dass die Urkunde der Notarin U. W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, keine Verpflichtungen der Klägerin und keine Ansprüche gegen die Klägerin begründet,</p> <p>c) der Antrag zu IV., d.h. der Antrag, die Beklagte zu verurteilen, die vollstreckbare Ausfertigung der Urkunde der Notarin U. W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, an die Klägerin herauszugeben,</p> <p>in der Hauptsache erledigt haben.</p> <p>Hilfsweise für den Fall, dass das Gericht insofern die Erledigtfeststellungsklage abweist, wird in Bezug auf den Antrag zu 1 b) beantragt festzustellen, dass die Urkunde der Notarin U. W., M., vom 28.09.2017, UrNr. …93/2017, keine Verpflichtungen der Klägerin und keine Ansprüche gegen die Klägerin begründet.</p> <p>2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.443.657,80 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 19.06.2018 zu bezahlen.</p> <p><rd nr="22"/>Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung.</p> <p>B.</p> <p><rd nr="23"/>Die Berufung ist nur zum Teil begründet. Zwar sind entgegen der Auffassung des Landgerichts sowohl die Grundschuld zugunsten der Beklagten als auch das abstrakte Schuldanerkenntnis der Beklagten wegen Kollusion unwirksam (unten III.) und führt dies zur (weitgehenden) Begründetheit der klägerischen Feststellungsanträge (unten IV.). Durchsetzbare Bereicherungsansprüche auf Rückzahlung der unter Ausnutzung der Grundschuld erlangten Beträge gegen die Beklagte bestehen aber nur in Höhe von 690.102,91 € nebst anteiligen Zinsen (unten V. - VIII.; X). Andere Anspruchsgrundlagen führen nicht zu weitergehenden Ansprüchen (unten IX.). Daher war die weitergehende Berufung zurückzuweisen.</p> <p>I.</p> <p><rd nr="24"/>Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist sie rechtshängig geworden. Zwar fehlte es ursprünglich an einer Zustellung der Klage und konnte dieser Zustellungsmangel nicht nach § 189 ZPO geheilt werden, weil das Landgericht die förmliche Zustellung nie verfügt hat, es also am Zustellungswillen fehlte (vgl. Zöller / Greger, ZPO, 34. Aufl., § 253 Rz. 26 m.w.Nachw.).</p> <p><rd nr="25"/>Vorliegend wurde dieser Zustellungsmangel aber mit Wirkung ex nunc dadurch nach § 295 ZPO geheilt, dass die Klägerin im Termin vor dem Landgericht vom 21.8.2018 ihre Anträge stellte und die Beklagte Klagabweisung beantragte, ohne die mangelnde Zustellung zu rügen (vgl. BGH, Beschluss vom 21.12.1983 - IVb ZR 29/82, Rz. 9; Urteil vom 9.1.2008 - VIII ZR 12/07, Rz. 12; Zöller / Greger a.a.O. Rz. 26a). Damit wurde die Klage am 21.8.2018 rechtshängig.</p> <p><rd nr="26"/>Die Vollmachtsrüge der Beklagten geht ins Leere. Angesichts der trotz des Wechsels der Komplementärin fortbestehenden Identität der Beklagten (vgl. dazu sogleich II) wirkt die von der früheren Komplementärin der Klägerin erteilte Prozessvollmacht fort; eine Vollmacht der neuen Komplementärin ist nicht erforderlich.</p> <p>II.</p> <p><rd nr="27"/>Die Klägerin ist für die geltend gemachten Ansprüche aktivlegitimiert. Das Ausscheiden der ursprünglichen Komplementärin (RCS R. C. S. GmbH) und das Eintreten der LA A. Management L. GmbH als Komplementärin im Februar 2021 (vgl. Anlagen KB 2, 3) und damit lange vor Insolvenz der RCS R. C. S. GmbH hat an der Identität der Klägerin (und damit auch an in der Person der Klägerin entstandenen Ansprüchen) nichts geändert.</p> <p><rd nr="28"/>In der Personengesellschaft ist ein rechtsgeschäftlicher Gesellschafterwechsel möglich, sofern dies im Gesellschaftsvertrag zugelassen ist oder alle Gesellschafter zustimmen (vgl. Hopt / Roth, HGB, 41. Aufl., § 105 Rz. 70 m.w.Nachw.). Der Gesellschaftsvertrag der Klägerin (Anl. K 1) ermöglicht die Aufnahme neuer und das Ausscheiden bisheriger Gesellschafter, wie sich aus den Regelungen der §§ 6 Abs. 5 lit. c und 9, 12 ergibt. Eine Zustimmung des Herrn D.-K. war schon deshalb entbehrlich, weil er aufgrund seiner eigenen Kündigung längst aus der Gesellschaft ausgeschieden war (vgl. näher unten VII.2.).</p> <p><rd nr="29"/>Nicht nachvollziehbar ist angesichts der oben dargestellten zeitlichen Abfolge die Behauptung, der Gesellschafterwechsel sei nur erfolgt, um den Insolvenzverwalter der ursprünglichen Komplementärin von der Führung des vorliegenden Verfahrens auszuschließen.</p> <p>III.</p> <p><rd nr="30"/>Die Grundschuld zulasten des klägerischen Grundstücks und das klägerische Schuldanerkenntnis gemäß der Notarurkunde vom 29.9.2017 sind wegen Missbrauchs der Vertretungsmacht durch den auf beiden Seiten der Rechtsgeschäfte handelnden Herrn D.-K. nicht wirksam zustande gekommen.</p> <p><rd nr="31"/>1. Von der Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts wegen Missbrauchs der Vertretungsmacht ist auszugehen, wenn ein Vertreter in kollusivem Zusammenwirken mit dem Vertragsgegner ein Rechtsgeschäft zum Nachteil des Vertretenen vornimmt. Beim Insichgeschäft ist ein solcher Fall anzunehmen, wenn ein nach § 181 BGB Befreiter mit sich selbst oder einem von ihm vertretenen Dritten ein Geschäft zum Nachteil des Vertretenen abschließt (BGH, Urteil vom 13.9.2011 - VI ZR 229/09, Rz. 9; Urteil vom 28.1.2014 - II ZR 371/12, Rz. 10; Urteil vom 28.10.2017 - I ZR 6/16, Rz. 22); das kollusive Zusammenwirken als Voraussetzung des Verwerflichkeitstatbestandes wird in letzterem Fall dadurch ersetzt, dass der auf beiden Seiten des Vertrages agierende Vertreter zwangsläufig die im Innenverhältnis bestehende Beschränkung seiner Vertretungsmacht kennt oder kennen muss (BGH vom 28.10.2017 a.a.O. Rz. 24).</p> <p><rd nr="32"/>Rechtsfolge des nach den vorstehenden Ausführungen zu treffenden Unwerturteils wäre an sich die Nichtigkeit des Vertretergeschäftes wegen Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB). Interessengerechter erscheint aber die Annahme einer schwebenden Unwirksamkeit des Vertretergeschäfts in analoger Anwendung des § 177 BGB (in diese Richtung BGH, Urteil vom 6.5.1999 - VII ZR 132/97, Rz. 22; OLG Stuttgart, Urteil vom 2.6.1999 - 9 U 246/98, Rz. 37; Grüneberg / Ellenberger, BGB, 81. Aufl., § 164 Rz. 14b); denn dann hat es der kollusiv Hintergangene in der Hand, das Geschäft zu genehmigen, wenn er es im Nachhinein billigt, ohne dass ein Neuabschluss erforderlich wäre.</p> <p><rd nr="33"/>2. Nach diesen Grundsätzen war die mit Urkunde vom 29.9.2017 bestellte Grundschuld (bzw. die ihr zugrunde liegende dingliche Einigung) zunächst schwebend unwirksam und ist durch Verweigerung der Genehmigung seitens der Klägerin endgültig unwirksam geworden.</p> <p><rd nr="34"/>a) Eine Grundschuld entsteht durch Einigung und Eintragung ins Grundbuch (§ 873 BGB), wobei die Einigung grundsätzlich formfrei möglich ist (vgl. Grüneberg / Harder, a.a.O., § 873 Rz. 9); das Erfordernis der notariellen Beurkundung (nur) der Bewilligung des Grundstückseigentümers ergibt sich lediglich aus den Erfordernissen des Grundbuchverfahrens. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache zu sehen, dass die Notarurkunde gemäß Anlage K 12 nach ihrem Wortlaut nur eine Willenserklärung der Klägerin, vertreten durch ihre Komplementärin S. H. I. GmbH, diese vertreten durch Herrn D.-K. enthält. Für eine dingliche Einigung als Entstehungsvoraussetzung der Grundschuld war aber auch eine Willenserklärung der Beklagten erforderlich. Da Herr D.-K. allerdings die Grundschuld wollte, ist davon auszugehen, dass er konkludent auch namens der Beklagten als Geschäftsführer von deren Komplementärin eine entsprechende Willenserklärung abgegeben hat, womit eine (formfrei mögliche) dingliche Einigung als Entstehungsvoraussetzung der Grundschuld vom äußeren Tatbestand her vorliegt. Da die Grundschuld auch ins Grundbuch eingetragen wurde, ist sie entstanden, sofern die Einigung wirksam war.</p> <p><rd nr="35"/>Dies wiederum hängt davon ab, dass Herr D.-K. beide Parteien bei der Einigung wirksam vertreten hat, was nicht der Fall ist, wenn Herr D.-K. seine Vertretungsmacht zu Lasten der Klägerin nach den obigen Grundsätzen missbraucht hat. Hiervon ist auszugehen, so dass die Grundschuld mangels wirksamer Einigung nicht entstanden ist.</p> <p><rd nr="36"/>b) Herr D.-K. hat als Geschäftsführer der S. H. I. GmbH (Komplementärin der Klägerin) bei der Bestellung der Grundschuld deren im Innenverhältnis der Klägerin bestehende Beschränkung der Vertretungsmacht aus § 5 Abs. 2 S. 1, 2 lit. a) des Gesellschaftsvertrags der Klägerin (Anlage K 1) missachtet. Hiernach hätte den Kommanditisten (also insbesondere der RCS R. C. Services Objektgesellschaft mbH & Co. KG) ein Widerspruchsrecht zugestanden.</p> <p><rd nr="37"/>Der Senat folgt bei der Auslegung dieser Vertragsbestimmung den Überlegungen des 23. Senats im Hause, wie sie sich aus dem den Parteien bekannten Beschluss vom 21.2.2020 (Az.: 23 U 1212/19) ergeben. Hiernach entspricht § 5 Abs. 2 des Gesellschaftsvertrages im Ergebnis der Formulierung in § 164 S. 1 Hs. 2 HGB und ist daher auch entsprechend zu verstehen. Damit war vor Durchführung einer über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehenden Maßnahme die Zustimmung aller Gesellschafter einzuholen. Den Kommanditisten wäre also die geplante Geschäftsführungsmaßnahme offen zu legen und ihre Stellungnahme abzuwarten gewesen (vgl. MünchKomm / Grunewald, HGB, 4. Aufl., § 164 Rz.11; Baumbach / Hopt / Roth, HGB, 38. Aufl., § 164 Rz. 2). Damit wäre im Ergebnis ein Beschluss sämtlicher, auch der nicht geschäftsführungsberechtigten Gesellschafter einschließlich der Kommanditisten erforderlich gewesen (vgl. Roth, a.a.O. Rz. 2). Ein solcher lag unstreitig vor Bestellung der Grundschuld nicht vor.</p> <p><rd nr="38"/>Soweit sich die Beklagte dem gegenüber darauf beruft, die Befugnis des Herrn D.-K. zur Bestellung der Grundschuld habe sich unter dem Gesichtspunkt der Notgeschäftsführung entsprechend § 744 Abs. 2 BGB daraus ergeben, weil die Klägerin ohne Bestellung der Grundschuld Insolvenz hätte anmelden müssen, dringt sie damit aus mehreren Gründen nicht durch.</p> <p><rd nr="39"/>Die Beklagte konnte nicht plausibel machen, wie die Begründung einer zusätzlichen Verbindlichkeit (Grundschuld, Schuldanerkenntnis) einen bestehenden Insolvenzgrund (Überschuldung, Zahlungsunfähigkeit) beseitigen könnte; denn damit würden bestehende Insolvenzgründe nur noch vertieft. Soweit die Beklagte darauf hinaus will, eine Insolvenz sei durch die Grundschuld deshalb vermieden worden, weil Herr D.-K. (als Gesellschaftsgläubiger oder als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH?) von der Stellung eines Insolvenzantrags abgesehen habe, weil er mit der Grundschuld eine zusätzliche Sicherung erhalten habe, belegt dies nicht eine Notlage der Gesellschaft, sondern das treuwidrige Handeln des Herrn D.-K., der sich bzw. der wirtschaftlich ihm gehörenden Beklagten eine zusätzliche Sicherung verschafft hat, die ihm nicht zustand.</p> <p><rd nr="40"/>Soweit die Beklagte dem gegenüber darauf verweist, dass die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Herrn D.-K. wegen Untreue eingestellt hat, möchte der Senat dies nicht kommentieren; an einer treuwidrigen, eigennützigen Handlung des Herrn D.-K. entgegen der Satzung der Klägerin bestehen jedenfalls keine Zweifel.</p> <p><rd nr="41"/>Doch selbst wenn man von einer unmittelbar drohenden Insolvenz der Klägerin ausgehen wollte, bleibt die zutreffende Argumentation des 23. Senats im Hause (a.a.O.): Bei nur vier Gesellschaftern wäre jedenfalls genügend Zeit gewesen, einen Gesellschafterbeschluss über die Bestellung der Grundschuld herbeizuführen. War ein solcher nicht zu erlangen, musste die Bestellung eben unterbleiben.</p> <p><rd nr="42"/>c) Die somit unter Überschreitung der Vertretungsmacht der Komplementärin im Zusammenwirken mit der ebenfalls von Herrn D.-K. vertretenen Beklagten war für die Klägerin nachteilig. Dies gilt selbst dann, wenn der Beklagten ein Anspruch in Höhe der Grundschuldsumme nebst Zinsen gegen die Klägerin zustand (was hier noch offen bleiben kann). Denn die dingliche Belastung eines Grundstücks ist, gerade wenn sie mit der Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung verbunden ist, für den Grundstückseigentümer per se nachteilig, weil der sofortige Rechtsverlust ohne vorgeschaltetes Erkenntnisverfahren droht.</p> <p><rd nr="43"/>Ein Rechtsnachteil für die Klägerin durch die Grundschuld kann aus den obigen Gründen nicht mit der Erwägung verneint werden, dass ohne die Grundschuld die sofortige Insolvenz gedroht hätte.</p> <p><rd nr="44"/>d) Damit war die dingliche Einigung über die Bestellung der Grundschuld wegen Kollusion zunächst schwebend unwirksam, so dass eine Grundschuld zunächst nicht entstehen konnte. Ein Wirksamwerden der Einigung durch Genehmigung seitens der Klägerin ist nicht anzunehmen.</p> <p><rd nr="45"/>Die Genehmigung (§ 184 BGB) ist ein einseitiges Rechtsgeschäft (empfangsbedürftige Willenserklärung), die gegenüber dem „einen“ oder dem „anderen Teil“ erfolgen kann (§ 182 Abs. 1 BGB). Beim Vertretergeschäft (hier: dingliche Einigung über Grundschuldbestellung) sind dies der Vertreter (hier: Herr D.-K. bzw. die Komplementärin S. H. I. GmbH) und der Vertragspartner (hier: die Beklagte). Damit scheiden Erklärungen der Klägerin gegenüber dem Notar Dr. K. bzw. dem Grundstückskäufer als Genehmigungserklärungen aus. Dies gilt insbesondere für das Schreiben der Klägerin an den Notar vom 24.5.2018 (Anlage K 32), mit welchem dieser ermächtigt wurde, die Zahlung eines Teils des Kaufpreises gemäß Anlage K 24 in Höhe der Klageforderung an die Beklagte zu veranlassen.</p> <p><rd nr="46"/>Eine Genehmigung seitens der Klägerin gegenüber der Beklagten könnte sich daher nur aus dem Schriftwechsel der nunmehrigen Parteivertreter namens der Parteien ab dem 2.5.2018 gemäß Anlagen K 26 ff. ergeben. Dies ist im Ergebnis nicht der Fall. Ob eine Erklärung als Genehmigung eines Rechtsgeschäfts zu werten ist, ist durch Auslegung zu ermitteln, also danach, ob ihr der Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte den Willen des Erklärenden entnehmen durfte, damit ein früheres Rechtsgeschäft zu billigen und dessen Wirksamkeit herbeizuführen (Lehre vom objektiven Empfängerhorizont). Einen solchen Willen durfte die Beklagte weder den Erklärungen der Klägerin in dem Schriftwechsel gemäß Anlagen K 26 ff. noch auch der Tatsache der Zahlung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung als solcher entnehmen. Denn insbesondere im Schreiben des Klägervertreters vom 11.5.2018 an den Beklagtenvertreter (Anlage K 29) wird hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Klagepartei ihre Rechtsauffassung hinsichtlich der kollusiv erlangten Grundschuld aufrechterhalte, ihr aber keine andere Wahl bliebe, als die geforderte Zahlung vorzunehmen (zu ergänzen: um den Verkauf des Grundstücks nicht scheitern zu lassen und die Zwangsvollstreckung in das Grundstück zu beenden). Nimmt man hinzu, dass die Grundschuld tatsächlich kollusiv erlangt war (vgl. oben), durfte die Beklagte redlicherweise die Tatsache, dass sich die Klägerin auf ihre Bedingungen einließ, nicht als nachträgliche Billigung der Grundschuldbestellung verstehen; wie die Beklagte die Erklärung tatsächlich verstanden hat, ist nach der Lehre vom objektiven Empfängerhorizont irrelevant.</p> <p><rd nr="47"/>In mehrfacher Hinsicht fehl geht die Argumentation der Beklagten, dass schließlich (durch Erklärungen gegenüber dem Notar Dr. K-) ein „Treuhandvertrag“ zustande gekommen sei, der die Genehmigung enthalte. Erstens sieht der Senat schon keine diesbezüglich übereinstimmenden wechselseitigen Willenserklärungen der Parteien; vielmehr haben beide Parteien insoweit nur Erklärungen gegenüber dem Notar abgegeben. Und selbst wenn man wechselseitige Willenserklärungen der Parteien konstruieren wollte, wäre diejenige der Klägerin nach den vorstehenden Ausführungen jedenfalls nicht dahin auszulegen, dass sie die Grundschuldbestellung rückwirkend billigte. Der Anfechtung eines eventuellen „Treuhandvertrages“ bedurfte es somit nicht.</p> <p><rd nr="48"/>e) Durch die Erhebung der vorliegenden Klage (insbesondere des Antrags auf Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus der Grundschuld) hat die Klägerin gegenüber der Beklagten als geeigneter Adressatin (§ 182 Abs. 1 BGB) deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Grundschuld nicht will. Hierin liegt eine Verweigerung der Genehmigung, so dass die dingliche Einigung über die Bestellung (rückwirkend) endgültig unwirksam wurde. Damit fehlt es an einer Entstehungsvoraussetzung für die Grundschuld und ist diese nicht entstanden.</p> <p><rd nr="49"/>Fehl gehen die Überlegungen der Beklagtenseite zu einer Genehmigung seitens der Klägerin dadurch, dass sie sich in einem gegenläufigen Verfahren vor dem Landgericht Landshut nunmehr auf eine Wirksamkeit der Vorgänge um die Grundschuld berufe. Denn durch die dargestellte Verweigerung der Genehmigung war der Schwebezustand beendet, so dass eine nunmehrige Genehmigung ins Leere ginge.</p> <p><rd nr="50"/>3. Nach den selben Grundsätzen ist das in der Notarurkunde vom 28.9.2017 unter Ziffer III zwischen den Parteien vereinbarte abstrakte Schuldanerkenntnis über die Grundschuldsumme nebst Zinsen unwirksam.</p> <p><rd nr="51"/>a) Die genannte Ziffer der Vertragsurkunde ist als abstraktes Schuldanerkenntnis, also als Vertrag zwischen den Parteien zu werten. Herr D.-K. handelte dabei nach den obigen Grundsätzen als Vertreter beider Parteien.</p> <p><rd nr="52"/>b) Er hat dabei die ihm als Geschäftsführer der von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiten alleinvertretungsberechtigten Komplementärin der Klägerin für die Klägerin zustehende Vertretungsmacht missbraucht, da er eine im Innenverhältnis der Klägerin bestehende Beschränkung der Vertretungsmacht nicht beachtet hat. Denn nach § 5 Abs. 2 S. 1, 2 lit. b) des Gesellschaftsvertrages hätte den Kommanditisten hinsichtlich des abstrakten Schuldanerkenntnisses (Eingehung einer Verbindlichkeit von mehr als 50.000,- €) ein Widerspruchsrecht zugestanden, so dass diese (also konkret die R. C. S. Objektgesellschaft mbH & Co. KG) nach den obigen Grundsätzen zu beteiligen gewesen wäre.</p> <p><rd nr="53"/>c) Das Schuldanerkenntnis war nachteilig für die Vertretene, also die Klägerin. Das gilt selbst dann, wenn der Beklagten gegen die Klägerin ein Anspruch in Höhe des anerkannten Betrages zustand. Denn ein abstraktes Schuldanerkenntnis ist für den Anerkennenden schon deshalb mit Rechtsnachteilen verbunden, weil es ihm mögliche Einwendungen gegen die anerkannte Forderung abschneidet.</p> <p><rd nr="54"/>d) Von einer Genehmigung des zunächst schwebend unwirksamen Anerkenntnisses kann nach den obigen Grundsätzen nicht ausgegangen werden. Damit wurde das Schuldanerkenntnis spätestens mit der in der Klageerhebung liegenden Verweigerung der Genehmigung unwirksam.</p> <p>IV.</p> <p><rd nr="55"/>Hiernach erweist sich das klägerische Begehren auf Feststellung der Erledigung hinsichtlich der ursprünglichen Klaganträge I und IV als begründet. Hinsichtlich des ursprünglichen Klagantrags III konnte die Erledigung nicht festgestellt werden; insoweit hat aber der Hilfsantrag Erfolg.</p> <p><rd nr="56"/>1. Der ursprüngliche Klagantrag I (Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus der Notarurkunde) war bei Eintritt der Rechtshängigkeit (21.8.2018; vgl. oben I.) zulässig und begründet. Er ist nach Eintritt der Rechtshängigkeit, nämlich am 23.8.2018 unzulässig geworden. Damit war auf Antrag der Klägerin insoweit die Erledigung festzustellen.</p> <p><rd nr="57"/>Der ursprüngliche Antrag I stellt eine sog. Titelgegenklage als Rechtsbehelf sui generis dar, weil nicht (wie im Normalfall des § 767 ZPO) Einwendungen gegen einen Vollstreckungstitel, sondern die Unwirksamkeit des Titels (Notarurkunde) selbst geltend gemacht wird (vgl. Thomas / Putzo / Seiler, ZPO, 43. Aufl., § 767 Rz. 8a). Diese war ursprünglich zulässig, weil ein zur Vollstreckung geeigneter Titel (Notarurkunde) vorlag und eine konkrete Vollstreckungsmaßnahme (nämlich die Zwangsversteigerung des Grundstücks) bevorstand (Thomas / Putzo / Seiler, a.a.O. Rz. 14 m.w.Nachw.). Die Klage war insoweit auch begründet, weil die Grundschuld unwirksam war (vgl. oben III.).</p> <p><rd nr="58"/>Das Rechtsschutzbedürfnis im dargestellten Sinn entfällt erst dann, wenn die Zwangsvollstreckung beendet ist, was nicht angenommen werden kann, solange der Vollstreckungsgläubiger noch eine vollstreckbare Ausfertigung in Händen hat (vgl. Thomas / Putzo / Seiler, a.a.O. Rz. 16). Damit entfiel das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin erst mit Herausgabe des quittierten Titels mit Schriftsatz vom 23.8.2018. Da dies erst nach Rechtshängigkeit (21.8.2018) erfolgte, war die Erledigung festzustellen.</p> <p><rd nr="59"/>2. Der ursprüngliche Klagantrag III (keine Verpflichtungen / Ansprüche aus der Urkunde) war jedoch nicht erledigt, so dass das Landgericht den Antrag auf Feststellung der Erledigung insoweit zu Recht abgewiesen hat.</p> <p><rd nr="60"/>Das Feststellungsinteresse der Klägerin ist weder durch die erfolgte Zahlung noch durch die Herausgabe des quittierten Titels entfallen. Hinsichtlich der erfolgten Zahlung muss sich die Klägerin nicht auf eine Leistungsklage auf Rückzahlung (die sie erhoben hat) verweisen lassen, da mit Rechtskraft eines Rückzahlungstitels jedenfalls der Rechtsschein einer wirksamen Notarurkunde nicht beseitigt wäre und damit abstrakt gesehen eine erneute Zwangsvollstreckung daraus betrieben werden könnte. Aus dem selben Grund beseitigt die Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung das Interesse an der Feststellung nicht.</p> <p><rd nr="61"/>Nachdem die Feststellungsklage aus den oben unter II. dargestellten Gründen auch begründet war und blieb, fehlt es an einem erledigenden Ereignis.</p> <p><rd nr="62"/>3. Mit der Ablehnung des vorstehend erörterten Feststellungsbegehrens war über den für diesen Fall gestellten klägerischen Hilfsantrag zu entscheiden. Dieser erweist sich aus den soeben dargestellten Gründen als begründet.</p> <p><rd nr="63"/>4. Der ursprüngliche Klagantrag IV (Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung) war ursprünglich zulässig und (entsprechend § 371 BGB; vgl. Thomas / Putzo / Seiler, a.a.O. Rz. 6 m.w.Nachw.) auch begründet, da die Ausfertigung aufgrund eines nichtigen Titels erteilt wurde. Durch Erfüllung dieses Anspruchs am 23.8.2018 ist Erledigung nach Rechtshängigkeit (21.8.2018) eingetreten, was auf Antrag der Klägerin festzustellen war.</p> <p>V.</p> <p><rd nr="64"/>Soweit die Beklagte die streitgegenständliche Zahlung auf einen behaupteten Anspruch auf Rückzahlung eines Darlehens bezieht (1.619.000,- €), steht der Klägerin kein bereicherungsrechtlicher Rückzahlungsanspruch zu.</p> <p><rd nr="65"/>Zwar hat die Beklagte den fraglichen Betrag (durch Zahlung seitens des Grundstückskäufers) erlangt. Dies erfolgte nach dem normativen Leistungsbegriff, wonach die Person des Leistenden in wertender Betrachtung nach dem Empfängerhorizont zu ermitteln ist (vgl. dazu Grüneberg / Sprau, BGB, 81. Aufl., § 812 Rz. 14, 57a, m.w.Nachw.) auch durch Leistung der Klägerin. Denn aus Sicht der Beklagten erfolgte die Zahlung seitens des Grundstückserwerbers auf Ansprüche der Beklagten gegen die Klägerin und zu Lasten des Anspruchs der Klägerin gegen den Grundstückserwerber, wie sich insbesondere aus dem vorangegangenen Schriftwechsel zwischen Parteien und Notar Dr. K. ergibt (vgl. Anlagen K 25 ff.).</p> <p><rd nr="66"/>Die Leistung erfolgte aber mit Rechtsgrund.</p> <p><rd nr="67"/>1. Grundschuld und abstraktes Schuldanerkenntnis aus der Notarurkunde vom 29.9.2017 scheiden als Rechtsgründe aus, weil diese unwirksam sind (vgl. oben).</p> <p>2. Der Beklagten stand auch kein Darlehensrückzahlungsanspruch gegen die Klägerin zu. Denn ein Darlehensvertrag über die Summe der von der Klägerin empfangenen Zahlungen von insgesamt 1.619.000,- € ist zwischen den Parteien nicht zustande gekommen.</p> <p><rd nr="68"/>Ein ausdrücklicher (schriftlicher) Darlehensvertrag zwischen den Parteien bestand unstreitig nicht; insbesondere ist der als Anlage K 10 vorgelegte Entwurf eines Darlehensvertrages nicht zustande gekommen. Insoweit steht der Beklagten auch nicht § 362 HGB zur Seite. Hiernach wäre das Schweigen der Klägerin auf das Angebot eines Darlehensvertrages seitens der Beklagten nur dann als Annahme zu bewerten, wenn der Betrieb der Klägerin auf die Besorgung von Geschäften für einen anderen gerichtet wäre und das Angebot eines Darlehens auf die Besorgung eines solchen Geschäftes gerichtet wäre. An beiden Voraussetzungen fehlt es. Der Geschäftsbetrieb der Klägerin ist nicht auf Geschäftsbesorgung, sondern auf die Entwicklung eigener Grundstücke gerichtet; auch ist die Aufnahme eines Darlehens keine Geschäftsbesorgung für einen anderen.</p> <p><rd nr="69"/>Schließlich kann auch nicht von einem konkludent zustande gekommenen Darlehensvertrag zwischen den Parteien ausgegangen werden. Zwar mag man in der Überweisung der einzelnen Geldbeträge, bei denen die Mehrzahl der Überweisungsträger nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts den Verwendungszweck „Darlehen“ trug, ein konkludentes Angebot auf Abschluss eines Darlehensvertrages sehen; nicht ersichtlich ist aber, wie die Klägerin dieses Angebot angenommen haben soll. Die schlichte Verwendung der überwiesenen Beträge reicht hierfür nicht aus, weil sich hieraus aus der maßgeblichen Sicht der Beklagten (Empfängerhorizont) ein solcher nicht ergibt, wie schon daraus erhellt, dass Herr D.-K. (insoweit als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH der Beklagten) nach den Zahlungen auf Abschluss eines Darlehensvertrages drängte, also selbst davon ausging, dass ein solcher noch nicht zustande gekommen war.</p> <p><rd nr="70"/>3. Damit hat die Klägerin aber die Beträge von insgesamt 1.619.000,- € ohne Rechtsgrund erlangt, so dass der Beklagten ihrerseits ein Bereicherungsanspruch in dieser Höhe gegen die Klägerin zustand; dieser stellt einen Rechtsgrund für die (Rück-)Erlangung des Betrages durch die oben dargestellte Zahlung des Grundstückserwerbers dar.</p> <p><rd nr="71"/>Zu Unrecht bezweifelt die Klägerin, dass die einzelnen Überweisungen der Beklagten Leistungen der Beklagten waren und ohne Rechtsgrund erfolgten; vielmehr handle es sich um Leistungen des Herrn D.-K. auf seine Finanzierungspflicht gemäß Ziff. I 1 der Gesellschaftervereinbarung gemäß Anlage K 6. Denn die Person des Leistenden ist wie dargestellt unter wertender Betrachtung nach dem objektiven Empfängerhorizont zu ermitteln. Maßgeblich ist also nicht, wie die Klägerin die Zahlungen verstanden hat, sondern wie sie sie nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen durfte. Insoweit wäre allein die Tatsache, dass die Zahlungen vom Konto der Beklagten, die eine von Herrn D.-K. verschiedene Rechtspersönlichkeit ist, erfolgte, nicht geeignet, um bei wertender Betrachtung eine Zahlung von Herrn D.-K. auf die Finanzierungspflicht auszuschließen, weil die Beklagte unstreitig die Vermögensverwaltungsgesellschaft von Herrn D.-K. ist. Nimmt man aber hinzu, dass die Überweisungsträger fast durchgängig den Verwendungszweck „Darlehen“ trugen, verbietet sich aus Sicht der Klägerin die Annahme, es habe sich um eine Leistung des Herrn D.-K. auf seine Finanzierungspflicht gehandelt. Vielmehr ergibt die wertende Betrachtung, dass es sich bei den Zahlungen um eine Leistung der Beklagten auf ein (bereits vereinbartes oder noch zu begründendes) Darlehen handelt.</p> <p><rd nr="72"/>Auf der Basis der vorstehenden Überlegungen scheidet auch die Annahme aus, dass als Rechtsgrund für die Zahlungen der Beklagten die übernommene Finanzierungsverpflichtung des Herrn D.-K. in Betracht kommt.</p> <p><rd nr="73"/>Fragen der gesellschaftsrechtlichen Durchsetzungssperre stellen sich somit insoweit nicht; insbesondere steht diese einem Rechtsgrund der Beklagten für das Behaltendürfen des erlangten Betrages nicht entgegen. Denn die Durchsetzungssperre kommt nur bei Ansprüchen aus dem Gesellschaftsverhältnis in Betracht (BGH, Urteil vom 12.11.2007 - II ZR 183/08, Rz. 14). Die Beklagte war aber nie Gesellschafterin und leitet ihre Rechtsposition hinsichtlich des Bereicherungsbetrages auch nicht aus einer abgetretenen Rechtsposition des Gesellschafters Döring-Köhler, sondern aus eigenem Recht ab.</p> <p>VI.</p> <p><rd nr="74"/>Soweit die Beklagte die streitgegenständliche Zahlung auf Darlehenszinsen für das unter V erörterte Darlehen bezieht (254.972,58 €), steht der Klägerin ein bereicherungsrechtlicher Rückforderungsanspruch in Höhe von 120.417,69 € zu.</p> <p><rd nr="75"/>1. Der Beklagten standen im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zahlung Zinsen auf die vorstehend erörterten 1.619.000,- € in Höhe von 134.554,89 € zu. In Höhe dieses Betrages bestand also ein Rechtsgrund für die streitgegenständliche Zahlung.</p> <p><rd nr="76"/>a) Der Zinsanspruch folgt allerdings nicht aus der Grundschuld bzw. dem abstrakten Schuldanerkenntnis, da diese unwirksam sind. Er ergibt sich auch nicht aus einem Darlehensvertrag zwischen den Parteien, da ein solcher nicht zustande kam. Die Klägerin schuldete jedoch nach dem Rechtsgedanken des § 818 Abs. 1 BGB Zinsen in Höhe des gesetzlichen Zinssatzes in Höhe von 4% im Rahmen des unter V erörterten Bereicherungsanspruchs, weil sie dergestalt Nutzungen aus dem ihr (ohne Rechtsgrund überlassenen) Geldbetrag von 1.619.000,- € gezogen hat, dass sie sich die anderweitige Aufnahme von Fremdkapital ersparte (vgl. Grüneberg / Sprau, a.a.O., § 818 Rz. 11 m.w.Nachw.). Eine höhere Verzinsung unter dem Gesichtspunkt des § 354 Abs. 2 HGB kam nicht in Betracht, weil ein Bereicherungsanspruch (als gesetzliches Schuldverhältnis) kein Handelsgeschäft ist.</p> <p><rd nr="77"/>b) Zu verzinsen waren von der Klägerin hiernach die einzelnen empfangenen Geldbeträge vom Zahlungstag bis zur Erfüllung des Bereicherungsanspruchs am 18.6.2018. Das ergibt folgende Berechnung.</p> <p>Zahlung vom 4.3.2016: 30.000,- €; Zinsen von 5.3.2016 - 18.6.2018: 2.745,78 €.</p> <p>Zahlung vom 1.4.2016: 50.000,- €; Zinsen vom 2.4.2016 - 18.6.2018: 4.423,30 €.</p> <p>Zahlung vom 7.4.2016: 300.000,- €; Zinsen vom 8.4.2016 - 18.6.2018: 26.375,84 €.</p> <p>Zahlung vom 18.4.2016: 589.000,- €; Zinsen vom 19.4.2016 - 19.6.2018: 51.012,10 €.</p> <p>Zahlung vom 25.4.2016: 200.000,- €; Zinsen vom 26.4.2016 - 18.6.2018: 17.168,59 €.</p> <p>Zahlung vom 20.5.2016: 100.000,- €; Zinsen vom 21.5.2016 - 18.6.2018: 8.322,00 €.</p> <p>Zahlung vom 18.7.2016: 150.000,- €; Zinsen vom 19.7.2016 - 18.6.2018: 11.499,39 €.</p> <p>Zahlung vom 12.10.2016: 50.000,- €; Zinsen vom 13.10.2016 - 18.6.2018: 3.368,65 €.</p> <p>Zahlung vom 28.10.2016: 100.000,- €; Zinsen vom 29.10.2016 - 18.6.2018: 6.562,44 €.</p> <p>Zahlung vom 2.12.2016: 40.000,- €; Zinsen vom 3.12.2016 - 18.6.2018: 2.471,92 €.</p> <p>Zahlung vom 13.12.2016: 10.000,- €; Zinsen vom 14.12.2016 - 18.6.2018: 604,88 €.</p> <p><rd nr="78"/>Die Summe der vorstehenden Zinsbeträge ergibt den Betrag von 134.554,89 €; in dieser Höhe bestand also ein Rechtsgrund für die Leistung der Klägerin an die Beklagte. Die gesellschaftsrechtliche Durchsetzungssperre steht dem Behaltendürfen insoweit nach den obigen Erwägungen nicht entgegen.</p> <p><rd nr="79"/>2. Hinsichtlich des Differenzbetrages zu dem an Zinsen von der Beklagten für sich reklamierten Betrag von 254.972,58 €, nämlich 120.417,69 € bestand also kein Rechtsgrund für die Zahlung, die die Beklagte nach den obigen Ausführungen durch Leistung der Klägerin erlangt hat. Insofern hat die Klägerin also einen Bereicherungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der Leistungskondiktion.</p> <p><rd nr="80"/>Dem Anspruch steht die gesellschaftsrechtliche Durchsetzungssperre (spiegelbildlich zu den obigen Erwägungen) nicht entgegen, da die Beklagte nie Gesellschafterin war und somit der Bereicherungsanspruch gegen sie nicht aus dem Gesellschaftsverhältnis folgt.</p> <p>VII.</p> <p><rd nr="81"/>Soweit die Beklagte die streitgegenständliche Zahlung auf einen von M. D.-K. abgetretenen Anspruch auf das Auseinandersetzungsguthaben nach dem Ausscheiden aus der Klägerin bezieht (500.000,- €), steht der Klägerin im Ergebnis ein durchsetzbarer bereicherungsrechtlicher Rückzahlungsanspruch zu.</p> <p><rd nr="82"/>1. Die Beklagte hat den fraglichen Betrag nach den obigen Grundsätzen durch Leistung der Klägerin erlangt.</p> <p><rd nr="83"/>2. Als Rechtsgrund für das Behaltendürfen kommt der von Herrn D.-K. an die Beklagte abgetretene Anspruch auf ein Abfindungsguthaben im Ergebnis nicht in Betracht.</p> <p><rd nr="84"/>a) Zwar stand Herrn D.-K. ein solcher Anspruch (unbekannter Höhe) gegen die Klägerin zu und bestehen auch keine Bedenken gegen dessen Abtretung an die Beklagte.</p> <p><rd nr="85"/>Herr D.-K. ist durch ordentliche Eigenkündigung gemäß § 9 des Gesellschaftsvertrages der Klägerin zum 31.12.2017 als Kommanditist aus der Klägerin ausgeschieden. Dies steht zwischen den ursprünglichen Gesellschaftern der Klägerin rechtskräftig fest aufgrund des Urteils des Landgerichts München I vom 30.1.2019 (10 HK O 19617/17; bestätigt durch Beschluss des OLG München vom 8.5.2020 - 23 U 1212/19) und wird im vorliegenden Verfahren von den Parteien nicht ernsthaft bezweifelt. Damit stand Herrn D.-K. ein Anspruch gemäß § 12 des Gesellschaftsvertrages auf das Abfindungsguthaben zu.</p> <p><rd nr="86"/>Die Höhe dieses Abfindungsguthabens stand - abgesehen davon, dass der Anspruch mangels Abschichtungsbilanz und im Hinblick auf die Ratenzahlungsvereinbarung (vgl. § 12 Abs. 1 S. 2 des Gesellschaftsvertrags) nicht sogleich fällig war - weder im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zahlung noch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat fest. Jedenfalls kann eine wirksame Einigung zwischen der Klägerin und Herrn D.-K. über ein Abfindungsguthaben von 500.000,- € nicht daraus gefolgert werden, dass sich die Klägerin auf die Zahlung dieses Betrages aus dem Kaufpreis für das Grundstück einließ. Denn dieses Verhalten der Klägerin konnte Herr D.-K. nur dadurch erreichen, dass er aus der von ihm kollusiv erschlichenen Grundschuld die Zwangsvollstreckung betrieb, also vorsätzlich einen sittenwidrig erschlichenen Titel ausnutzte, weshalb sich der Makel der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) in der von Beklagtenseite behaupteten Einigung über das Abfindungsguthaben fortsetzen würde.</p> <p><rd nr="87"/>Da somit weder eine wirksame Einigung über das Abfindungsguthaben noch eine Abschichtungsbilanz vorliegen, war und ist die Höhe des Anspruchs offen.</p> <p><rd nr="88"/>b) Der isolierten Geltendmachung dieses dem Grunde nach bestehenden Anspruchs (unbekannter Höhe) auf das Abfindungsguthaben hätte jedoch im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zahlung (18.6.2018) die gesellschaftsrechtliche Durchsetzungssperre entgegen gestanden.</p> <p><rd nr="89"/>aa) Dies gilt jedenfalls für den Fall, dass der Zedent D.-K. seinen Abfindungsanspruch selbst geltend gemacht hätte.</p> <p><rd nr="90"/>Zweifellos handelt es sich um einen aus dem Gesellschaftsverhältnis der Klägerin folgenden Anspruch. Der Anspruchsinhaber D.-K. war aus der Klägerin zum 31.12.2017 ausgeschieden. Damit hätte er den Abfindungsanspruch im Jahr 2018 nicht mehr selbständig, sondern nur noch als Rechnungsposten im Rahmen der zu erstellenden Abschichtungsbilanz geltend machen können (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 24.10.1994 - II ZR 231/92, Rz. 5).</p> <p><rd nr="91"/>Hiervon greift zwar dann eine Ausnahme, wenn schon vor Beendigung der Auseinandersetzung feststeht, dass der Gesellschafter jedenfalls einen bestimmten Betrag verlangen kann (BGH, Urteil vom 12.11.1990 - II ZR 232/89, Rz. 4). Diese Ausnahme kommt jedoch vorliegend nicht zum Tragen. Denn die Höhe des Auseinandersetzungsguthabens stand weder bei Zahlung noch später fest (vgl. oben). Unter diesen Umständen wäre die isolierte Geltendmachung des Anspruchs allenfalls aufgrund einer vorläufigen Auseinandersetzungsrechnung möglich gewesen (BGH vom 12.11.1990 a.a.O.). Eine solche lag und liegt aber nicht vor; die schlichte Behauptung, der Anspruch werde schon 500.000,- € betragen haben, genügt hierfür nicht.</p> <p><rd nr="92"/>bb) Nichts anderes kann für den Fall gelten, dass die Beklagte den Anspruch aus abgetretenem Recht des Herrn D.-K. geltend macht. Denn bei einer anderen Sichtweise könnte die Durchsetzungssperre durch im Belieben der einzelnen Gesellschafter stehende schlichte Abtretung jederzeit umgangen werden, was dem Zweck des Instituts (Konzentration der Abwicklung; Vermeidung unnötigen Hin- und Herzahlens) widersprechen würde.</p> <p><rd nr="93"/>c) Der vorstehende Befund schließt es nach Auffassung des Senats unter den Umständen des Falles aus, den Abfindungsanspruch (unbekannter Höhe) als Rechtsgrund für das Behaltendürfen des von der Beklagten erlangten Betrages anzusehen.</p> <p><rd nr="94"/>Sinn und Zweck der Durchsetzungssperre ist das Vermeiden der Hin- und Herzahlung während des Abwicklungsverfahrens (BGH, Urteil vom 24.10.1994 - II ZR 291/92, Rz. 5). Allerdings ist dies nicht Selbstzweck, sondern folgt aus dem Anliegen, ein geordnetes Ausscheiden des betroffenen Gesellschafters mit einer Auseinandersetzungsbilanz sicherzustellen (OLG Hamm, Urteil vom 16.1.2003 - 27 U 208/01, Rz. 41). Diesem Anliegen wird jedenfalls dann nicht Genüge getan, wenn der betroffene Gesellschafter das von ihm behauptete Abfindungsguthaben durch unlauteres Handeln vorzeitig realisiert (OLG Hamm, a.a.O.). Dies hat Herr D.-K. vorliegend getan, indem er die von ihm kollusiv erschlichene Grundschuld als Druckmittel zur Realisierung des von ihm behaupteten Abfindungsguthabens benutzte, obwohl weder eine Abschichtungsbilanz noch eine vorläufige Auseinandersetzungsrechnung vorlagen, noch das Abfindungsguthaben anderweitig feststand. Dieser Befund verbietet es nach Auffassung des Senats, den (der Höhe nach noch zu ermittelten) Abfindungsanspruch als Rechtsgrund für das Behaltendürfen des so erlangten Betrages zu behandeln.</p> <p><rd nr="95"/>Dem kann im Ergebnis nicht die Regelung des § 813 Abs. 2 BGB, aus welcher sich ergibt, dass noch nicht fällige Ansprüche einen bereicherungsrechtlichen Rechtsgrund darstellen können, entgegengehalten werden. Diese Regelung bezweckt ebenso wie die gesellschaftsrechtliche Durchsetzungssperre die Vermeidung eines überflüssigen Hin- und Herzahlens, hat also letztlich die selbe Schutzrichtung. Deshalb kann sie im Falle eines Bereicherungsanspruchs wegen eines bemakelten Rechtserwerbs keinen Rechtsgrund vermitteln, wenn die Durchsetzungssperre einem solchen entgegensteht.</p> <p><rd nr="96"/>3. Dem somit bestehenden Bereicherungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte steht die gesellschaftsrechtliche Durchsetzungssperre nicht entgegen.</p> <p><rd nr="97"/>Dies folgt letztlich aus den soeben dargestellten Erwägungen. Es wäre widersprüchlich, der Klägerin zunächst wegen der gesellschaftsrechtlichen Durchsetzungssperre einen Bereicherungsanspruch zu gewähren, um diesen sodann eben wegen der Durchsetzungssperre im Ergebnis wieder zu versagen. Sinn und Zweck der Durchsetzungssperre ist letztlich die Sicherstellung einer geordneten gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung. Mit diesem Zweck würde es sich nicht vertragen, wenn man Bereicherungsansprüche der Gesellschaft, die daraus resultieren, dass sich ein Gesellschafter unter Umgehung dieser Auseinandersetzung den vermeintlichen Abfindungsbetrag in kollusiver Weise vorab verschafft hat, an der Durchsetzungssperre scheitern lassen würde (so auch OLG Hamm, a.a.O.).</p> <p><rd nr="98"/>Dass der Notar Dr. K. der Beklagten bzw. dem Beklagtenvertreter bzw. dem ausgeschiedenen Kommanditisten D.-K. gegenüber erklärt haben soll, dass der vorliegende Sachverhalt von der Durchsetzungssperre erfasst werde, kann als wahr unterstellt werden. Nach den vorstehenden Ausführungen ist diese Rechtsauffassung, wenn sie so geäußert worden sein sollte, unzutreffend. Der als Zeuge benannte Notar war zu seiner Rechtsauffassung nicht zu vernehmen; die Beweisaufnahme über Rechtsfragen sieht die ZPO nicht vor.</p> <p>VIII.</p> <p><rd nr="99"/>Soweit die Beklagte die streitgegenständliche Zahlung auf die im Zusammenhang mit der gegenständlichen Grundschuld entstandenen Kosten bezieht (69.685,22 €), besteht ein bereicherungsrechtlicher Rückzahlungsanspruch. Dieser Betrag ergibt zusammen mit den oben unter VI. und VII. erörterten Beträgen den in der Hauptsache zuerkannten Betrag von 690.102,91 €.</p> <p><rd nr="100"/>Den Betrag für die Kostenerstattung hat die Beklagte nach den obigen Grundsätzen durch Leistung der Klägerin erlangt. Ein Rechtsgrund dafür, dass der Beklagten die Kosten für die durch den Geschäftsführer ihrer Komplementär-GmbH kollusiv erschlichenen Grundschuld zustehen, ist nicht ersichtlich.</p> <p><rd nr="101"/>Dem Bereicherungsanspruch steht die gesellschaftsrechtliche Durchsetzungssperre nicht entgegen, da die Beklagte nie Gesellschafterin war und somit der Bereicherungsanspruch gegen sie nicht aus dem Gesellschaftsverhältnis folgt.</p> <p>IX.</p> <p><rd nr="102"/>Andere Anspruchsgrundlagen führen nicht zu einem weitergehenden Anspruch der Klägerin.</p> <p><rd nr="103"/>Zwar hat die Klägerin die streitgegenständlichen Beträge dadurch erlangt, dass ihr Organ (Geschäftsführer der Komplementär-GmbH) M. D.-K. ihr sie unter Ausnutzung eines von ihm selbst in unlauterer, sittenwidriger Weise geschaffenen Vollstreckungstitels (nämlich Einleitung der Zwangsvollstreckung aus der Grundschuld und Ausnutzung der dadurch geschaffenen Zwangslage) verschafft hat, so dass insoweit auch Schadensersatzansprüche aus §§ 826, 31 BGB bestehen. Diese reichen allerdings nicht weiter als der oben erörterte Bereicherungsanspruch, da der Klägerin in dem Umfang kein Schaden entstanden ist, in welchem die beanstandeten Zahlungen mit Rechtsgrund erfolgten, weil insoweit dem Vermögensabfluss die Befreiung von einer Verbindlichkeit in gleicher Höhe gegenübersteht.</p> <p><rd nr="104"/>Aus demselben Grund kann dahinstehen, ob der Klägerin - wie sie meint - auch Schadensersatzansprüche aus § 280 BGB wegen Verletzung der Sicherungsvereinbarung zustehen.</p> <p>X.</p> <p><rd nr="105"/>Die Zinsentscheidung folgt aus §§ 286, 288, 291, 849 BGB.</p> <p><rd nr="106"/>Da die Klageforderung, soweit sie zuerkannt wurde, auch aus § 826 BGB begründet ist, stehen der Klägerin Deliktszinsen (§ 849 BGB) zu. Denn entzogene Sache im Sinne der Vorschrift sind auch deliktisch erlangte Geldbeträge (vgl. Grüneberg / Sprau, BGB, 81. Aufl., § 849 Rz. 2 m.w.Nachw.). Insoweit kommt ab dem Zeitpunkt der Erlangung der fraglichen Beträge durch die Beklagte der gesetzliche Zinssatz (§ 246 BGB) zur Anwendung.</p> <p><rd nr="107"/>Eine höhere Verzinsung unter dem Gesichtspunkt des Verzuges kommt erst ab Rechtshängigkeit (§ 291 BGB) in Betracht, da ein früherer Verzugseintritt bei der Beklagten nicht ersichtlich ist. Allerdings beträgt der Zinssatz nur 5 Prozentpunkte über dem jeweiligen Basiszinssatz, weil ein Bereicherungs- bzw. Deliktsanspruch keine Entgeltforderung im Sinne von § 288 Abs. 2 BGB darstellt.</p> <p>XI.</p> <p><rd nr="108"/>Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung aufgrund der Ausführungen der Beklagtenseite im Schriftsatz vom 6.7.2022 sowie in den weiteren nicht nachgelassenen Schriftsätzen vom 22.6.2022, 27.7.2022 und 8.8.2022 kam nicht in Betracht.</p> <p><rd nr="109"/>Der klägerische Schriftsatz vom 17.6.2022 wurde von Anwalt zu Anwalt zugestellt (vgl. Bl. 482 der Akten). Mangels anderer Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass dies auch erfolgte. Selbstverständlich hätte die Beklagtenseite Schriftsatzfrist auf diesen Schriftsatz erhalten, wenn dies beantragt worden wäre. Ein Antrag auf Schriftsatzfrist wurde aber nicht gestellt. Dies liegt im Risikobereich des Beklagtenvertreters; wenn er in Urlaub fährt, ohne sicherzustellen, dass ihm relevante Schriftsätze zur Kenntnis gelangen, betrifft das seinen Organisationsbereich; unter diesem Gesichtspunkt bestand auch keine Pflicht des Gerichts, die Beklagtenseite auf die Existenz des klägerischen Schriftsatzes hinzuweisen; vielmehr musste davon ausgegangen werden, dass die Beklagtenseite bei ordnungsgemäßer Kanzleiorganisation den Schriftsatz erhalten hat, wenn die Gegenseite angibt, ihn von Anwalt zu Anwalt zuzustellen.</p> <p><rd nr="110"/>Abgesehen davon enthalten die nicht nachgelassenen Schriftsätze der Beklagtenseite keinen relevanten neuen Sachvortrag. Die rechtliche Argumentation der Beklagtenseite in den Schriftsätzen wurde bei den vorstehenden Ausführungen berücksichtigt.</p> <p>C.</p> <p><rd nr="111"/>Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92, 97 ZPO. Bei der Kostenquotelung waren dabei nicht nur das Ergebnis des Zahlungsantrags, sondern auch die übrigen Anträge zu berücksichtigen.</p> <p><rd nr="112"/>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <p><rd nr="113"/>Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Zu würdigen waren vielmehr die Umstände des Einzelfalles</p> </div>
346,795
vg-freiburg-2022-09-28-a-13-k-245822
{ "id": 157, "name": "Verwaltungsgericht Freiburg", "slug": "vg-freiburg", "city": 109, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
A 13 K 2458/22
"2022-09-28T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:36"
"2022-10-17T11:10:45"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt X wird abgelehnt.</p><p>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt X war abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung nicht die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche Erfolgsaussicht bietet. Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Ausführungen, die die Verneinung hinreichender Erfolgsaussichten auch unter Beachtung des - verfassungsrechtlich gebotenen - großzügigen Maßstabs (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26.09.2020 - 2 BvR 1942/18 -, juris Rn. 11 ff. und vom 29.11.2019 - 1 BvR 2666/18 -, juris Rn. 11 f.) tragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>II. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bleibt ohne Erfolg. Er ist bereits unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>1. Der Antragsteller hat die einwöchige Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG versäumt. Der angegriffene Bescheid wurde ihm ausweislich des in der elektronischen Akte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge enthaltenen Scans der Postzustellungsurkunde am 29.07.2022 zugestellt. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ging indes erst am 02.09.2022 beim Verwaltungsgericht Freiburg ein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>2. Dem Antragsteller kann auch keine Wiedereinsetzung in die versäumte Antragsfrist gewährt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Ist jemand ohne sein Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm nach § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dabei muss der Antrag binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden (§ 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO), die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO) und die versäumte Rechtshandlung ist binnen der Antragsfrist nachzuholen (§ 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>a) Im Streitfall beruht die Versäumung der Antragsfrist bereits nach dem eigenen Vorbringen des Antragstellers auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten. Dieses muss sich der Antragsteller nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers hat zur Versäumung der Antragsfrist wörtlich ausgeführt:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>Der Unterzeichner hat am 02.08.2022, nach Annahme des Mandates die Klage diktiert und zur Verschriftlichung die Absendung nach Unterschrift an seine Sekretärin, Y, weitergeleitet. In der Unterschriftenmappe ist dann die Klage zur Unterschrift am 03.08.2022 vorgelegt worden und unterzeichnet worden.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>Zu den betriebsinternen Abläufen gehört es, dass nach Unterzeichnung der Klagen diese von der Sekretärin selbstständig eingescannt und dann über das beA an die zuständigen Gerichte versandt werden.<br/>[…]</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Wird ein Schriftsatz gemäß § 55a Abs. 1 VwGO als elektronisches Dokument bei Gericht eingereicht, muss er nach § 55a Abs. 3 Satz 1 VwGO mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von ihr (mindestens einfach) signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg (§ 55a Abs. 4 VwGO) eingereicht werden. Ein nicht qualifiziert elektronisch signiertes Dokument wird nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (im Folgenden: beA) i. S. d. § 55a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 VwGO eingereicht, wenn die den Schriftsatz verantwortende Person das Dokument selbst versendet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.10.2021 - 8 C 4.21 -, juris Rn. 4; BGH, Beschluss vom 30.03.2022 - XII ZB 311/21 -, juris Rn. 11 [zu § 130a Abs. 3 ZPO]; BSG, Beschluss vom 16.02.2022 - B 5 R 198/21 B -, juris Rn. 7 [zu § 65a Abs. 3 Satz 1 SGG]; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.04.2022 - 19 B 2003/21 -, juris Rn. 14; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 04.06.2021 - 3 Bs 130/21 -, juris Rn. 15).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Ausgehend hiervon war bereits die Weisung an die Sekretärin, die Antragsschrift eigenständig per beA an das Gericht zu versenden, grob sorgfaltswidrig, da diese nicht qualifiziert elektronisch signiert wurde und somit von vornherein durch die Sekretärin des Prozessbevollmächtigten nicht wirksam über das beA bei Gericht eingereicht werden konnte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>b) Unabhängig davon kann dem Antragsteller auch deshalb keine Wiedereinsetzung in die versäumte Antragsfrist gewährt werden, weil nicht glaubhaft gemacht worden ist, dass ungeachtet der - wie ausgeführt - grob sorgfaltswidrigen Weisung an die Sekretärin, die Antragsschrift eigenständig per beA zu versenden, kein Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vorliegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Zur Glaubhaftmachung einer unverschuldeten Fristversäumnis gehört eine aus sich heraus verständliche geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, aus der sich ergibt, auf welchen konkreten Umständen das Fristversäumnis beruht und auf welche Weise und durch wessen Verschulden es zur Versäumung der Frist gekommen ist. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn nach den seitens der Partei glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit offenbleibt, dass die Fristversäumung von der Partei beziehungsweise ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet war (vgl. BGH, Beschluss vom 28.07.2022 - III ZB 65/21 -, juris Rn. 12; BFH, Beschluss vom 17.07.2014 - XI B 8/14 -, juris Rn. 17; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.12.2017 - 1 S 1484/17 -, juris Rn. 29; Bayerischer VGH, Beschluss vom 20.04.2022 - 23 ZB 19.2287 -, juris Rn. 6; Thüringer OVG, Beschluss vom 06.03.2019 - 2 EO 768/18 -, juris Rn. 11).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Ausgehend hiervon bleibt nach der Schilderung des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zumindest offen, ob die Versäumung der Antragsfrist auch jenseits der grob sorgfaltswidrigen Weisung an die Sekretärin zur eigenständigen Versendung der Antragsschrift über das beA auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers beruht. Bei der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze im Weg des elektronischen Rechtsverkehrs ist unerlässlich, dass der Versendevorgang überprüft wird. Dies hat bei der Nutzung von beA/EGVP durch Prüfung des Erhalts und des Inhalts der vom EGVP an das beA versandten Eingangsbestätigung zu erfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 11.05.2021 - VIII ZB 9/20 -, juris Rn. 21; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.07.2022 - 6 A 798/22.A -, juris Rn. 11; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 01.09.2021 - 4 Sa 63/20 -, juris Rn. 43). Dass der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers seine Sekretärin dergestalt angewiesen hätte, lässt sich dem Wiedereinsetzungsantrag nicht entnehmen. Unabhängig hiervon gehört zu einer wirksamen Ausgangskontrolle (auch) die Anordnung des Rechtsanwalts, dass die Erledigung von fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages durch eine dazu beauftragte Bürokraft anhand des Fristenkalenders nochmals selbständig überprüft wird, um einerseits durch Abgleich mit dem Fristenkalender zu überprüfen, ob sich aus den Eintragungen im Fristenkalender noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben, und um andererseits festzustellen, ob möglicherweise in einer unter Verstoß gegen die zu treffenden organisatorischen Vorkehrungen fehlerhaft als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung gleichwohl noch aussteht. Dabei ist - etwa anhand der in der Ausgangspost befindlichen Schriftstücke, der Akten oder eines zu dieser Kontrolle geführten Postausgangsbuchs - auch zu prüfen, ob die im Fristenkalender als erledigt gekennzeichneten Schriftsätze tatsächlich abgesandt worden sind oder zuverlässig zur Absendung kommen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15.06.2022 - IV ZB 30/21 -, juris Rn. 8 und vom 26.05.2021 - VIII ZB 55/19 -, juris Rn. 12; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 25.07.2022 - 3 L 66/21 -, juris Rn. 24). Dass eine derart wirksame Ausgangskontrolle durch kanzleiorganisatorische Maßnahmen sichergestellt worden wäre, kann den Angaben des Prozessbevollmächtigen des Antragstellers ebenfalls nicht entnommen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</td></tr></table></td></tr></table>
346,917
ovgnrw-2022-09-27-4-a-175922
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
4 A 1759/22
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:30"
"2022-10-17T11:11:04"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0927.4A1759.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für einen beabsichtigten Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 20.7.2022 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg wird abgelehnt.</p> <h1> </h1><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Senat versteht den von der Klägerin persönlich gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 20.7.2022 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg nach Anhörung in ihrem Kosteninteresse als ohne anwaltliche Vertretung möglichen Prozesskostenhilfeantrag für einen durch einen Prozessbevollmächtigten noch einzulegenden Antrag auf Zulassung der Berufung.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen nicht vor. Der Antrag ist schon deshalb abzulehnen, weil die Klägerin die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und Abs. 4 ZPO erforderlichen Prozesskostenhilfeunterlagen (ausgefülltes Formular für die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen) bis heute nicht eingereicht hat.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Deshalb bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung auch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Ein durch einen Prozessbevollmächtigten noch zu stellender Antrag auf Zulassung der Berufung wäre jedenfalls verfristet. Die einmonatige Rechtsmittelfrist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO ist, nachdem das angegriffene Urteil der Klägerin am 27.7.2022 zugestellt worden war, bereits verstrichen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO könnte der Klägerin nicht gewährt werden. Ist einer Partei wegen ihrer Mittellosigkeit die fristgerechte Einlegung eines Rechtsmittels durch einen Rechtsanwalt nicht zuzumuten, darf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann gewährt werden, wenn die Partei bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist ein vollständiges Prozesskostenhilfegesuch mit allen dazugehörigen Unterlagen eingereicht hat. Nur dann hat die Partei alles getan, was von ihr zur Wahrung der Frist erwartet werden kann, und ist es gerechtfertigt, das Fristversäumnis als unverschuldet anzusehen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 21.1.1999 – 1 B 3.99, 1 PKH 1.99 –, juris, Rn. 3, und vom 28.1.2004 – 6 PKH 15.03 –, juris, Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
346,912
vghbw-2022-09-27-9-s-308821
{ "id": 161, "name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg", "slug": "vghbw", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
9 S 3088/21
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:50"
"2022-10-17T11:11:03"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 16. August 2021 - 11 K 5231/20 - wird abgelehnt.</p><p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p><p>Der Streitwert des Zulassungsverfahrens wird auf 7.500,- EUR festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen den im Tenor genannten Gerichtsbescheid ist zulässig (unter I.), aber nicht begründet. Aus den von ihr genannten und daher nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO allein maßgeblichen Gründen ist die Berufung nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) oder wegen eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen (unter II.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Klägerin hat sich im Ausgangsverfahren vor dem Verwaltungsgericht gegen das endgültige Nichtbestehen der Ersten juristischen Staatsprüfung gewandt und die Neubewertung der schriftlichen Aufsichtsarbeiten Nr. 2 und 3 in der Frühjahrskampagne 2020 begehrt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16.08.2021 abgewiesen. Die angegriffenen Bescheide des Justizministeriums Baden-Württemberg - Landesjustizprüfungsamt - vom 08.06.2020 und vom 16.11.2020 seien rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie habe keinen Anspruch auf Neubewertung der angegriffenen Klausuren.</td></tr></table> <table style="margin-left:12pt"><tr><td>I.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung ist zulässig. Insbesondere geht der Senat davon aus, dass die Zustellung des angegriffenen Gerichtsbescheids am 24.08.2021 erfolgte und die Klägerin deshalb die Monatsfrist für den Antrag auf Zulassung der Berufung gemäß § 124a Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO durch ihren am 24.09.2021 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Antrag gewahrt hat (vgl. § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 und 2 ZPO i. V. m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Die Zustellung des Gerichtsbescheids erfolgte nach § 56 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 175 Abs. 1, 173 Abs. 2 ZPO an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis. Die Zustellung nach § 175 Abs. 1 und 2 ZPO wird durch das mit Datum und Unterschrift des Adressaten versehene Empfangsbekenntnis nachgewiesen, § 175 Abs. 3 ZPO.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Ausweislich der Akten und nach den Angaben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist der Gerichtsbescheid vom 16.08.2021 am 18.08.2021 in seiner Kanzlei eingegangen. Handschriftlich ist neben dem Eingangsstempel der Kanzlei, der das Datum des 18.08.2021 ausweist, vermerkt: „24.08.21 (nach Urlaubsrückkehr)“. Der Prozessbevollmächtigte führt hierzu aus, er sei am 18.08.2021 noch urlaubsabwesend gewesen. Den Gerichtsbescheid habe er selbst erst nach der Rückkehr am 24.08.2021 zur Kenntnis genommen und daher auch erst an diesem Tag eine entsprechende Erklärung gegenüber dem Verwaltungsgericht abgegeben.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Nach diesen Angaben, an denen zu zweifeln für den Senat kein vernünftiger Grund besteht, ist der Gerichtsbescheid dem Prozessbevollmächtigten am 24.08.2021 zugestellt worden. Denn es entspricht ständiger höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24.05.1984 - 3 C 48.83 -, juris Rn. 21; SächsOVG, Beschluss vom 19.08.2020 - 2 A 900/17.A -, juris Rn. 10; OVG Schl.-Holst., Beschluss vom 23.01.2020 - 4 LA 211/18 -, juris Rn. 4; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 01.12.2003 - A 12 S 1240/03 -), dass es für die Wirksamkeit bzw. das Datum der Zustellung an einen Rechtsanwalt nicht auf den Eingang in dessen Kanzlei, sondern darauf ankommt, dass dieser von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstücks Kenntnis erlangt, das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen, und dies auch durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses beurkundet. Zustellungsdatum ist also der Tag, an dem der Rechtsanwalt als Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegengenommen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 19.04.2012 - IX ZB 303/11 -, NJW 2012, 2117).</td></tr></table> <table style="margin-left:12pt"><tr><td>II.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Der Antrag hat indes in der Sache keinen Erfolg.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sind gegeben, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 03.03.2004 - 1 BvR  461/03 -, BVerfGE 110, 77, 83; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 -, NVwZ 2011, 546; VerfGH Bad.-Württ., Urteile vom 15.02.2016 - 1 VB 57/14, 1 VB 58/14 -, juris; Senatsbeschluss vom 20.05.2010 - 9 S 2530/09 -, VBlBW 2010, 480; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 25.02.1997 - 4 S 496/97 -, VBlBW 1997, 263), wobei alle tragenden Begründungsteile angegriffen werden müssen, wenn die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf mehrere jeweils selbständig tragende Erwägungen gestützt ist (Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Februar 2022, § 124a Rn. 96; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 19.08.1997 - 7 B 261.97 -, Buchholz 310 § 133 <nF> VwGO Nr. 26, und Beschluss vom 11.09.2002 - 9 B 61.02 -, juris). Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erfordert dabei eine substantiierte Auseinandersetzung mit der erstinstanzlichen Entscheidung, durch die der Streitstoff entsprechend durchdrungen oder aufbereitet wird. Dies kann regelmäßig nur dadurch erfolgen, dass konkret auf die angegriffene Entscheidung bezogen aufgezeigt wird, was im Einzelnen und warum dies als fehlerhaft erachtet wird. „Darlegen” bedeutet schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich ein allgemeiner Hinweis; „darlegen” bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern”, „erklären” oder „näher auf etwas eingehen”. Eine Bezugnahme auf früheren Vortrag genügt nicht (vgl. nur VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 19.05.1998 - 4 S 660/98 -, juris; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 124a Rn. 49 m. w. N.). An diesem Maßstab gemessen zeigt die Antragsschrift ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht auf.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>a) Die Klägerin macht hinsichtlich der Aufsichtsarbeit Nr. 2 geltend, die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Vorschriften über den Erbschaftsanspruch (§§ 2018, 2019 BGB) zum Gegenstand der Prüfung gemacht werden durften, begegne ernsthaften Richtigkeitszweifeln.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>aa) Sie führt aus, § 8 Abs. 5 der Verordnung des Justizministeriums über die Ausbildung und Prüfung der Juristen vom 08.10.2002 i.d.F. vom 22.04.2013, gültig bis 29.04.2019 (JAPrO a.F.), rechtfertige es nicht, die nicht in § 8 Abs. 2, fünfter Spiegelstrich JAPrO a.F. aufgeführten Bereiche des Erbrechts, wie etwa die Vorschriften über den Erbschaftsanspruch, zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Es handele sich dabei offenkundig nicht um ein anderes „Rechtsgebiet“ i.S.d. § 8 Abs. 5 JAPrO a.F. Einer anderweitigen Auslegung stünden - wie bereits im erstinstanzlichen Verfahren ausgeführt - Wortlaut und Systematik des § 8 Abs. 5 JAPrO a.F. entgegen. Mit diesen Argumenten habe sich das Verwaltungsgericht überhaupt nicht auseinandergesetzt. Für die teleologischen und systematischen Erwägungen des Verwaltungsgerichts bleibe schon kein Raum, wenn dieser Auslegung bereits der Wortlaut der Norm entgegenstehe. Das Verwaltungsgericht lasse zwar erkennen, dass es ihr erstinstanzliches Vorbringen zur Kenntnis genommen habe. Es habe ihre Argumentation jedoch nicht bei der Entscheidungsfindung ernsthaft als richtig erwogen, weil die zentralen Argumente in den Entscheidungsgründen nicht beschieden worden seien. Der vom Verwaltungsgericht herangezogene Sinn und Zweck des § 8 Abs. 5 JAPrO a.F., den Prüfungsstoff einzugrenzen und zu konzentrieren, werde durch die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Auslegung gerade nicht erreicht. Die detaillierte Aufzählung in § 8 Abs. 2 JAPrO a.F. verbunden mit der differenzierten Festlegung, ob die aufgeführten Rechtsgebiete bzw. Teilbereiche nur „im Überblick“ oder darüber hinaus beherrscht werden müssen, könne ihre Begrenzungsfunktion nur erfüllen, wenn sie als abschließend verstanden werde. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Auslegung werde im Übrigen auch nicht dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz gerecht. Schließlich sei auch der vom Verwaltungsgericht vorgenommene Schluss fehlerhaft, man habe die Kenntnis der §§ 2018, 2019 BGB umso mehr erwarten können, als die Kenntnis der in § 8 Abs. 2 Nr. 1 fünfter Spiegelstrich JAPrO a.F. aufgeführten Bereiche des Erbrechts nicht nur auf Überblickswissen beschränkt sei, sodass sich aus einem Umkehrschluss aus § 8 Abs. 4 JAPrO BW a.F. die Zulässigkeit der erwarteten Prüfung der §§ 2018, 2019 BGB ergebe. § 8 Abs. 4 JAPrO a.F. kenne neben dem Einzel- und Überblickswissen keine weitere Kategorie des Kenntnisgrades. Durch den Umkehrschluss des Verwaltungsgerichts werde eine weitere „Verständniskategorie“ geschaffen, die in § 8 Abs. 4 JAPrO a. F. aber nicht vorgesehen sei. Mit diesem Vortrag zeigt die Klägerin ernstliche Richtigkeitszweifel nicht auf.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>bb) Nach § 8 Abs. 5 JAPrO a.F., der nach § 68 Abs. 1 Satz 2 JAPrO i.d.F. vom 02.05.2019, gültig ab 30.04.2019, noch für die Prüfungskampagne Frühjahr 2020 galt, dürfen andere als die in § 8 Abs. 2 JAPrO a.F. genannten Rechtsgebiete im Zusammenhang mit den Pflichtfächern zum Gegenstand der Prüfung gemacht werden, soweit lediglich Verständnis und Arbeitsmethode festgestellt werden sollen und Einzelwissen nicht vorausgesetzt wird. Entgegen der Auffassung der Klägerin stehen der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung weder der Wortlaut der Norm noch deren Sinn und Zweck oder ihre Systematik entgegen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>(1) Ausgangspunkt und äußerste Grenze der Auslegung einer normativen Bestimmung ist der Wortlaut der Norm (vgl. BVerfG, Urteil vom 23.10.1991 - 1 BvR 850/88 -, BVerfGE 85, 69); die Grenze wird jedoch nicht durch eine bestimmte von mehreren möglichen Wortlautinterpretationen markiert, sondern durch den möglichen Wortsinn (so BVerwG, Beschluss vom 06.09.1999 - 11 B 40.99 -).). Die Klägerin verkennt indes den Bedeutungsumfang des in § 8 Abs. 5 JAPrO a.F. verwendeten Begriffs „Rechtsgebiet“. Der Senat hat bereits zu einer Vorgängernorm des § 8 Abs. 5 JAPrO a.F., der Regelung des § 5 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung der Landesregierung über die Ausbildung und Prüfung der Juristen i.d.F. der Neubekanntmachung vom 29.04.1975 (JAPO 1975), gültig bis 14.07.1976 (GBL. S. 383), über den Bedeutungsumfang des Wortes „Rechtsgebiet“ entschieden. § 5 Abs. 1 Satz 2 JAPO 1975 lautete:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="13"/>„Andere Rechtsgebiete dürfen im Zusammenhang mit den Prüfungsfächern zum Gegenstand der Prüfung gemacht werden, soweit lediglich Verständnis und Arbeitsmethode festgestellt werden sollen und Einzelwissen nicht vorausgesetzt wird.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Nach der Rechtsprechung des Senats sind „andere Rechtsgebiete“ i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 2 JAPO 1975 alle Rechtsgebiete (u.a.) außerhalb der - in § 5 Abs. 2 JAPO 1975 - aufgezählten Pflichtfächer (Senatsbeschluss vom 21.01.1980 - IX 1615/79 -, juris Rn. 15). Der Senat sieht keinen Anlass, von dieser Auslegung für § 8 Abs. 2 und 5 JAPrO a.F. abzurücken.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Der Begriff des „Rechtsgebiets“ ist nicht legaldefiniert. Der Verordnungsgeber verwendet den Begriff des „Gebiets“ etwa in § 3 Abs. 1 Satz 1 JAPrO a.F. im Zusammenhang mit den Inhalten des Studiums und benennt als solche die „wichtigsten [Gebiete] des Zivilrechts, des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts“. Ferner wird der Begriff der „weiteren Rechtsgebiete“ in § 28 Abs. 1 JAPrO a.F. im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Schwerpunktausbildung verwendet. Aus diesem Befund lässt sich nichts für die von der Klägerin vertretene Auslegung herleiten. Für die vom Verwaltungsgericht unterstellte und vom Senat zu § 5 Abs. 1 Satz 2 JAPO 1975 vorgenommene Auslegung des Begriffs „Rechtsgebiet“ streitet indes, dass § 8 Abs. 4 i.V.m. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 11 JAPrO a.F. selbst im Zusammenhang mit den in den jeweiligen Spiegelstrichen aufgeführten Bereichen der Pflichtfächer von „Rechtsgebieten“ spricht. Danach wird die Kenntnis der Systematik und der wichtigsten Rechtsfiguren ohne Einzelwissen verlangt, soweit „Rechtsgebiete ‚im Überblick‘ Gegenstand des Prüfungsstoffes sind“. § 8 Abs. 2 Nr. 9 zweiter Spiegelstrich JAPrO a.F. benennt etwa unter dem Allgemeinen Verwaltungsrecht und dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht als Gegenstand des Prüfungsstoffes „im Überblick: Verwaltungsvollstreckungsrecht, Staatshaftungsrecht“. Ist der Begriff „Rechtsgebiet“ in § 8 Abs. 4 JAPrO a.F. demnach dahingehend zu verstehen, dass er (auch) einzelne Bereiche der in den Spiegelstrichen zu den arabischen Ziffern aufgeführten Pflichtfächer umfasst, ist nicht ersichtlich, weshalb für § 8 Abs. 5 JAPrO a.F. Abweichendes gelten sollte.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Unabhängig von der Auslegung des Begriffs „Rechtsgebiete“ ist § 8 Abs. 5 JAPrO a.F. auch nicht das von der Klägerin unterstellte Verbot zu entnehmen, jene Vorschriften dürften nicht abgeprüft werden, die zwar zu einem der in § 8 Abs. 2 JAPrO a.F. genannten Rechtsgebiete gehörten, dort aber nicht ausdrücklich genannt seien. § 8 Abs. 5 JAPrO a.F. verbietet dem Landesjustizprüfungsamt nicht, andere als die unter den Pflichtfächern aufgeführten Bereiche bzw. Regelungen zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Die Vorschrift erschöpft sich vielmehr darin, für andere als die in § 8 Abs. 2 JAPrO a.F. genannten Rechtsgebiete den zulässigen Erwartungshorizont zu bestimmen (vgl. hierzu sogleich).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>(2) Steht die Grenze des möglichen Wortsinnes des Begriffs „Rechtsgebiete“ der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung nicht entgegen, legt die Klägerin auch im Übrigen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht dar. Jenseits des angeführten Wortlautarguments zeigt die Klägerin nicht auf, weshalb der vom Verwaltungsgericht unter Berufung auf das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 19.05.2020 - OVG 6 S 17/20 -, juris Rn. 12) vorgenommene Erst-Recht-Schluss ernstlichen Zweifeln begegnen sollte. Auch der Senat hat bereits in seinem Beschluss vom 21.01.1980 von einem „ungereimten Ergebnis“ gesprochen, wenn gerade pflichtstoffnahe Gebiete in der schriftlichen Prüfung nicht verlangt werden dürfen (a.a.O., Rn. 15). Es ist nicht erkennbar, dass dieser Auslegung der Sinn und Zweck des § 8 Abs. 2 JAPrO a.F. entgegenstünde, den Prüfungsstoff zu begrenzen. Denn die Begrenzung ist darin zu sehen, dass jenseits der in § 8 Abs. 2 JAPrO a.F. aufgeführten Pflichtfächer und außerhalb des Anwendungsbereichs des § 8 Abs. 4 JAPrO a.F. („im Überblick“) anhand sonstiger zum Prüfungsgegenstand gemachter Rechtsgebiete bzw. Regelungen allein das Verständnis und die Arbeitsmethode festgestellt werden sollen und Einzelwissen nicht vorausgesetzt werden darf (vgl. auch OVG Bln.-Bbg., Beschluss vom 19.05.2020, a.a.O., Rn. 12; ferner VG Schwerin, Urteil vom 03.07.2012 - 3 A 492/07 -, juris Rn. 72 f.). Der Senat hat dies dahingehend konkretisiert, dass es dem durchschnittlich befähigten Prüfungsteilnehmer möglich sein muss, ohne gezielte Examensvorbereitung aufgrund der anerkannten Methoden der Rechtsfindung infolge von Transferleistungen der Kenntnis benannter Prüfungsgebiete den durchschnittlichen Prüfungsanforderungen gerecht zu werden (vgl. Senatsurteil vom Urteil vom 08.03.1989 - 9 S 3264/88 -, NVwZ-RR 1989, 482). Dass der Beklagte diese Anforderungen hinsichtlich der Vorschriften über den Erbschaftsanspruch nicht beachtet hätte, legt die Klägerin nicht hinreichend dar. Auch die im vorliegenden Kontext bedeutsame und für den Senat gut nachvollziehbare Annahme des Verwaltungsgerichts, die Erbschaftsansprüche aus §§ 2018, 2019 BGB seien nach Sinn und Zweck eng mit den - in den Pflichtfachbereich fallenden - Themen der „Erbfolge“ und der „Stellung der Erben“ verbunden, ist in der Antragsschrift nicht in Frage gestellt worden.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Vor diesem Hintergrund bleibt auch die Rüge einer Verletzung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes ohne Erfolg. Einer Norm fehlt nicht deshalb die gebotene Bestimmtheit oder Klarheit, weil sie der Auslegung bedarf. Es genügt, wenn der Norminhalt durch die anerkannten Auslegungsmethoden zweifelsfrei ermittelt werden kann (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22.03.2022 - 4 BN 54.21 -, sowie vom 14.12.1995 - 4 N 2.95 -, jeweils juris). Das ist - wie aufgezeigt - der Fall.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>b) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit zeigt die Klägerin auch nicht in Bezug auf die Beurteilung des Verwaltungsgerichts auf, eine Prüfungsstoffüberschreitung liege bei der Bewertung der Aufsichtsarbeit Nr. 3 nicht vor.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die Klägerin ist der Auffassung, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine Prüfungsstoffüberschreitung verneint, soweit § 102 BetrVG zum Gegenstand der Prüfung gemacht und eine Erörterung und Einzelwissen erwartet worden sei. § 102 BetrVG könne entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht dem individuellen Arbeitsrecht im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 4 erster Spiegelstrich JAPrO BW a.F. zugeordnet werden. Es handele sich um kollektives Arbeitsrecht. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass diese Vorschrift immer im Zusammenhang mit Kündigung von Arbeitsverhältnissen und damit einer Thematik relevant werde, die zum individuellen Arbeitsrecht gehöre. Auch in Vorlesungen werde § 102 BetrVG als Teil des kollektiven Arbeitsrechts behandelt. Dies ergebe sich auch aus den exemplarisch vorgelegten Vorlesungsskripten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die von der Klägerin erhobenen Einwendungen greifen nicht durch. Ob eine Regelung dem Individualarbeitsrecht nach § 8 Abs. 2 Nr. 4 erster Spiegelstrich JAPrO a.F. oder dem kollektiven Arbeitsrecht nach § 8 Abs. 2 Nr. 4 zweiter Spiegelstrich JAPrO a.F. zuzuordnen ist, bestimmt sich nicht maßgeblich nach dem formalen Kriterium, in welchem Gesetz die Norm zu finden ist. Anderenfalls wären die Beteiligungsrechte des Betriebsrats in besonderen Kündigungskonstellationen nach §§ 17, 20 KSchG (ausschließlich) Teil des Individualarbeitsrechts, nicht jedoch die Pflicht des Arbeitgebers, den Betriebsrat allgemein vor jeder Kündigung nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG zu beteiligen. Ein sachlicher Grund für eine solche Differenzierung ist weder dargetan noch sonst ersichtlich. Maßgeblich sind vielmehr der Anwendungsbereich und die Rechtsfolge der Norm. § 8 Abs. 2 Nr. 4 erster Spiegelstrich JAPrO a.F. benennt als Pflichtfach aus dem Arbeitsrecht das Individualarbeitsrecht einschließlich der „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“. Hierzu zählt offensichtlich auch die Beendigung durch Kündigung seitens des Arbeitgebers. Wie erwähnt, bestimmt § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, dass der Betriebsrat „vor jeder Kündigung zu hören“ ist. § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG ordnet als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Beteiligungspflicht an: „Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam“. Nach ihrem Anwendungsbereich und ihrer Rechtsfolge ist die Bestimmung daher maßgeblich für die Wirksamkeit der „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ und damit Teil des in § 8 Abs. 2 Nr. 4 erster Spiegelstrich JAPrO a.F. als Pflichtfach benannten Individualarbeitsrechts.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die von der Klägerin zum Beleg ihrer Rechtsauffassung beigefügten Lehrmaterialien sind erkennbar nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Begründung des Verwaltungsgerichts darzulegen. Denn mit der Behauptung, § 102 BetrVG werde in der Lehre als Teil des kollektiven Arbeitsrechts behandelt, wird schon nicht hinreichend dargetan, dass diese Norm nicht - auch - Teil des Individualarbeitsrechts sein kann. Die Klägerin hat nicht aufgezeigt, § 102 BetrVG werde ausschließlich im kollektiven Arbeitsrecht und gerade nicht im Individualarbeitsrecht gelehrt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>c) Ferner macht die Klägerin hinsichtlich der Aufsichtsarbeit Nr. 3 geltend, dass der Erstprüfer sich mit einigen der von ihr im Widerspruchsverfahren erhobenen Einwände nicht oder nicht hinreichend auseinandergesetzt habe.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>aa) Es sei klarzustellen, dass sie mit der gerügten fehlenden Angabe des Schwierigkeitsgrades der Aufgabe eine Übergewichtung tatsächlich vorliegender Mängel durch den Erstprüfer geltend gemacht und ein Überdenken der Bewertung verlangt habe. Das Verwaltungsgericht habe indes verkannt, dass die Frage, ob die Bewertung einer Prüfungsleistung ausreichend begründet worden sei, von der Frage, ob die Prüferin oder der Prüfer zu den Einwänden des Prüflings hinreichend Stellung genommen hebe, klar getrennt werden müsse. Sie habe nicht lediglich Bewertungsfehler, sondern auch die fehlende Stellungnahme zu einem von ihr im Widerspruchsverfahren erhobenen Einwand gerügt und damit eine nicht ordnungsgemäße Durchführung des Überdenkensverfahrens geltend gemacht. Eine Pflicht des Prüfers zur Stellungnahme im Überdenkensverfahren bestehe nicht nur bei möglichen Bewertungsfehlern, sondern auch und vor allem bei Rügen, die sich gegen die prüfungsspezifischen Wertungen richteten. Dies habe das Verwaltungsgericht ganz offenbar verkannt und überhaupt nicht geprüft.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>bb) Auch mit diesem Vorbringen legt die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung nicht dar. Der Senat kann dahingestellt lassen, ob das Verwaltungsgericht die von der Klägerin gerügte fehlende Stellungnahme zu ihren Einwänden ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des - gerichtlich überprüfbaren - Bewertungsfehlers gewürdigt hat (UA S. 14, 2. Absatz). Denn es ist jedenfalls nicht dargetan, dass und weshalb die Stellungnahme des Erstprüfers im Überdenkensverfahrens im Hinblick auf die Einwände der Klägerin unzureichend gewesen wäre.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>(1) Das Überdenkensverfahren gibt den Prüfern innerhalb des ihnen zustehenden prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraums die Möglichkeit, ihre frühere Bewertung in fachlicher Hinsicht und in Bezug auf die prüfungsspezifischen Wertungen anhand der substantiiert erhobenen Einwände zu überdenken. Das Überdenkensverfahren stellt den mit Blick auf den effektiven Schutz der Berufsfreiheit erforderlichen Ausgleich dafür dar, dass den Prüfern bei prüfungsspezifischen Wertungen ein gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbarer Spielraum eingeräumt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.04.2019 - 6 C 19.18 -, BVerwGE 165, 202, Rn. 25 und Beschluss vom 09.10.2012 - 6 B 39.12 -, juris Rn. 6). Die Prüfer müssen im Überdenkensverfahren zu den Einwänden Stellung nehmen. Der Umfang und die Begründungstiefe, die eine im Überdenkensverfahren abgegebene Stellungnahme aufweisen muss, hängen von der Substanz der im konkreten Fall vorgebrachten Einwände des Prüflings ab (BVerwG, Urteil vom 10.04.2019, a.a.O., Rn. 26 und Beschluss vom 21.09.2016 - 6 B 14.16 -, juris Rn. 11). Ein Überdenkensverfahren ist danach nicht allein deshalb fehlerhaft, weil der Prüfer in seiner Stellungnahme nicht auf alle geltend gemachten Einwände ausdrücklich eingegangen ist (vgl. Senatsurteil vom 26.11.2019 - 9 S 1126/19 -, juris; Senatsbeschluss vom 27.04.2020 - 9 S 1505/19 -; Hambg. OVG, Urteil vom 27.07.2017 - 3 Bf 128/15 -, juris Rn. 78; Fischer/Jeremias/Dietrich, Prüfungsrecht, 8. Auflage 2022, Rn. 793). Die Pflicht zum Überdenken setzt vielmehr voraus, dass den Prüfern wirkungsvolle Hinweise gegeben werden, d.h. der Prüfling seine Einwände konkret und nachvollziehbar begründet (vgl. Senatsurteil vom 04.10.2017 - 9 S 1965/16 -, juris Rn. 63); pauschale Kritik an der Bewertung etwa als „schlicht zu streng“ genügt diesen Anforderungen jedenfalls nicht (Fischer/Jeremias/Dietrich, a.a.O., Rn. 789).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>(2) Die Klägerin legt nicht dar, dass ihre im Widerspruchsverfahren erhobenen Einwände die oben aufgezeigten Anforderungen an eine substantiierte Rüge erfüllen und daher vom Erstprüfer hätten ausdrücklich verbeschieden werden müssen. Insbesondere ihr Einwand, die Kritik des Erstprüfers an der Prüfung der Wirksamkeit der Prokura im Zusammenhang mit der Eintragung im Handelsregister sowie an der Verwendung des Begriffs „Kündigungsfrist“ statt „Kündigungserklärungsfrist“ bei der Prüfung des § 626 Abs. 2 BGB sei „kleinlich“ bzw. „oberlehrerhaft“, ist - auch vor dem Hintergrund der nicht erschütterten fachlichen Richtigkeit der Kritik des Erstprüfers - nicht hinreichend substantiiert.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>d) Die Klägerin rügt hinsichtlich der Aufsichtsarbeit Nr. 3 weiter, das Verwaltungsgericht habe es versäumt, zu prüfen, ob der Erstprüfer vorliegende Mängel ihrer Prüfungsleistung - wie von ihr geltend gemacht - zum Teil übergewichtet habe, obwohl ein entsprechender Kontrollmaßstab zur Verfügung gestanden habe. Es habe indes allein geprüft, ob die Kritik des Prüfers fachlich zutreffend sei. Auch damit legt die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung ebenfalls nicht dar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Gegenstände des prüfungsspezifischen Bewertungsspielraums, in den die Gerichte grundsätzlich nicht eindringen dürfen, sind etwa die Punktevergabe und Notengebung, soweit diese nicht mathematisch determiniert sind, die Einordnung des Schwierigkeitsgrades einer Aufgabenstellung, bei Stellung verschiedener Aufgaben deren Gewichtung untereinander, die Würdigung der Qualität der Darstellung, die Gewichtung der Stärken und Schwächen in der Bearbeitung sowie die Gewichtung der Bedeutung eines Mangels (vgl. BVerwG, Urteile vom 12.11.1997 - 6 C 11.96 -, BVerwGE 105, 328, 333f., und vom 14.07.1999 - 6 C 20.98 -, BVerwGE 109, 211, 216; Beschluss vom 13.05.2004 - 6 B 25.04 -, juris Rn. 11; Senatsurteile vom 21.03.2012 - 9 S 764/11 -, vom 06.07.2015, juris Rn. 30 und vom 26.11.2019 - 9 S 1126/19 -, juris Rn. 16). Die vom Erstprüfer festgestellten fachlichen Mängel, von denen auch das Verwaltungsgericht der Sache nach ausgeht, zieht die Klägerin nicht in Zweifel. Hiervon ausgehend legt sie weder schlüssig noch substantiiert dar, inwieweit die von ihr - lediglich pauschal - gerügte „Übergewichtung“ der Mängel die Grenzen des dargestellten prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum des Erstprüfers überschritten haben sollte.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>e) Hinsichtlich der Bewertung der Aufsichtsarbeit Nr. 3 durch den Zweitprüfer rügt die Klägerin ferner, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Zweitprüfer sein Bewertungssystem nicht unzulässig geändert habe.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>aa) Ursprünglich habe der Zweitprüfer ihr in Bezug auf die §§ 1357, 1365 BGB das Fehlen jeglicher Subsumtion vorgeworfen. In seiner Stellungnahme habe er seine Kritik dahingehend ausgetauscht, es liege ein „eklatant fehlendes Problembewusstsein“ vor. Diese Kritik sei der vormaligen Kritik nicht gleichwertig, weil die Mängel dogmatisch nicht nur anders eingeordnet, sondern offenbar auch anders gewichtet würden. Auch mit diesem Vorbringen zeigt die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht auf.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt und die auch das Verwaltungsgericht seinen Ausführungen zu Grunde gelegt hat, ist es den Prüfern grundsätzlich nicht verwehrt, nach Auseinandersetzung mit den Einwendungen eines Prüflings gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistung unter Vermeidung früherer Begründungsmängel anzugeben, dass und aus welchen Gründen sie ihre bei der ersten Bewertung einer Arbeit vergebene Note auch bei selbstkritischer Würdigung nach wie vor für zutreffend halten (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 14.07.1999 - 6 C 20.98 -, BVerwGE 109, 211; Beschluss vom 28.04.2000 - 6 B 6.00 -, juris Rn. 7; Senatsbeschluss vom 04.02.2013 - 9 S 346/13 -; Senatsurteil vom 06.07.2015 - 9 S 2062/14 -, juris Rn. 35). Dabei darf die Beibehaltung des Prüfungsergebnisses weder auf einer Änderung des Bewertungssystems noch auf dem Nachschieben beliebiger Gründe beruhen (BVerwG, Urteil vom 14.07.1999, a.a.O.). Indes kann in einer vertiefenden Darlegung von bereits im ursprünglichen Votum enthaltenen Kritikpunkten nicht die - unzulässige - Ersetzung eines erkannten Korrekturmangels durch eine neuartige negative Einzelbewertung erblickt werden (BVerwG, Beschluss vom 30.03.2000 - 6 B 8.00 -, juris; Senatsbeschluss vom 24.08.2020 - 9 S 2032/20 -). Ferner liegt eine Änderung des Bewertungssystems nicht schon ohne weiteres in der erstmaligen Berücksichtigung eines neu erkannten Fehlers oder einer anderweitigen an die Stelle der fehlerhaften Korrektur tretenden nachteiligen Einzelwertung (BVerwG, Urteil vom 14.07.1999, a.a.O.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Gemessen hieran zeigt die Klägerin keine unzulässige Änderung des Bewertungssystems auf. Der Zweitgutachter erläutert in seiner Stellungnahme vom 09.11.2020 zu den Einwendungen der Klägerin seine Kritik an der Bearbeitung der Aufgaben 2 und 3 wie folgt:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="34"/>„Die im Sachverhalt angelegte Problematisierung der Einzel- und Gesamttheorie bei § 1365 BGB erschöpft sich dann aber in einer Darstellung des Streitstandes ohne wirkliche argumentative Auseinandersetzung etwa mit Blick auf den Normzweck. Der Verf. hält dies irrtümlich für nicht erforderlich, weil die streitgegenständlichen Grundstücke nach § 1363 II BGB ohnedies nicht zum gemeinschaftlichen Vermögen gehören würden. Damit wird der Regelungsgehalt dieser Vorschrift verkannt. Denn nach § 1364 Hs. 2 BGB unterliegt der Ehegatte bei Verfügungen über die ihm gehörenden Vermögensgegenstände gerade den Beschränkungen des § 1365 BGB. Insoweit handelt es sich um einen schwerwiegenden Fehler und fallen nachfolgende Auslassungen dem Verf. als Folgefehler zur Last. In Bezug auf § 1357 III BGB bleibt der Verf. wiederum jegliche Auseinandersetzung mit der im Sachverhalt angelegten Problematik schuldig. Es wird nicht einmal erkannt, dass es hier um eine Haftung für Verbindlichkeiten aus einem Dauerschuldverhältnis geht. In der Tat handelt es sich damit weniger um einen Subsumtionsfehler, wie noch im Zweitgutachten gerügt wurde, als um ein eklatant fehlendes Problembewusstsein.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die Klägerin legt nicht hinreichend dar, weshalb die - jedenfalls graduell (weniger „Subsumtionsfehler“ als „eklatant fehlendes Problembewusstsein“) - veränderte dogmatische Einordnung der aufgeführten und von der Klägerin nicht in Zweifel gezogenen Bearbeitungsmängel die oben aufgezeigten Grenzen der Behebung früherer Begründungsmängel im Überdenkensverfahren überschreiten sollte. Eine neuartige negative Einzelbewertung ist angesichts des identischen Bezugspunkts der gerügten Mängel ebenso wenig ersichtlich wie ein Nachschieben beliebiger Gründe. Nach den Erwägungen des Verwaltungsgerichts war bereits im Zweitgutachten die Auseinandersetzung mit §§ 1357, 1365 BGB kritisiert worden (UA S. 16). Diese Annahme ist mit dem Antragsvorbringen nicht in Frage gestellt worden. Ungeachtet dessen lässt das Zweitgutachten bereits hinreichend erkennen, dass dort auch die „Tiefe“ der Auseinandersetzung in Bezug auf §§ 1357, 1365 BGB vermisst wird. Im Übrigen behauptet die Klägerin lediglich pauschal, die Mängel seien offenbar auch anders gewichtet worden. Greifbare Anhaltspunkte hierfür sind  jedoch weder näher dargelegt worden noch sonst für den Senat ersichtlich.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>f) Die Klägerin rügt in Bezug auf den Zweitkorrektor der Aufsichtsarbeit Nr. 3 schließlich, das Verwaltungsgericht habe sich nicht ausreichend mit ihrer Einwendung auseinandergesetzt, er habe nicht einwendungs- und prüffähig dargelegt, an welchen entscheidenden Stellen der Gutachtenstil nicht eingehalten werde.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>aa) Die Klägerin führt aus, der Zweitgutachter habe im Überdenkensverfahren einräumen müssen, dass die Kritik des Fehlens jeglicher Subsumtion und damit einer Nichteinhaltung des Gutachtenstils nicht berechtigt sei. Insoweit sei der aufrechterhaltene Vorwurf, ihr komme jedenfalls an den entscheidenden Stellen der Gutachtenstil abhanden, nicht nachvollziehbar. Soweit das Verwaltungsgericht selbst die Seite 5 der Bearbeitung der Aufsichtsarbeit Nr. 3 als Beleg für den fehlenden Gutachtenstil anführe, habe es unberechtigt eine eigene Bewertung der Prüfungsleistung vorgenommen. Denn dem Gericht sei es verwehrt, der subjektiven Meinung des Prüfers beizutreten und dessen leere Begründungshülsen mit eigenen Erwägungen zu rechtfertigen, die vom Prüfer so überhaupt nicht angestellt worden seien.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>bb) Auch mit diesem Vorbringen legt die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung nicht dar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Die Klägerin legt bereits einen materiellen Prüfungsfehler des Zweitkorrektors im Hinblick auf seine Kritik am unzureichenden Gutachtenstil nicht hinreichend dar. Als ein solcher käme nach dem Vorbringen der Klägerin allenfalls ein Begründungsmangel in Betracht. Der Zweitgutachter ist dem im Widerspruchsverfahren von der Klägerin pauschal erhobenen Einwand, sie halte den Gutachtenstil ein, in seiner Stellungnahme vom 09.11.2020 mit der Bewertung entgegengetreten, es sei festzustellen, dass ihr dieser jedenfalls an den entscheidenden Stellen abhandenkomme. Eine unzureichende Begründungstiefe der Stellungnahme im Überdenkensverfahren ist damit nicht dargetan. Denn der Umfang und die erforderliche Begründungstiefe einer solchen Stellungnahme hängen von der Substanz der im konkreten Fall vorgebrachten Einwände ab (BVerwG, Urteil vom 10.04.2019, a.a.O., Rn. 26 und Beschluss vom 21.09.2016, a.a.O., Rn. 11). Weshalb ihrer pauschalen Behauptung, sie halte den Gutachtenstil ein, vom Zweitkorrektor in seiner Stellungnahme nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten worden sei und deshalb ein Begründungsmangel vorliegen solle, zeigt die Klägerin nicht auf. Weshalb der Verweis auf die Darstellungen des Verwaltungsgerichts, wonach beispielsweise die Ausführungen  auf Seite 5 der Klausurbearbeitung weitgehend in einem urteilsähnlichen Stil verfasst seien, die Richtigkeit der Entscheidung in Zweifel ziehen sollte, ist ebenfalls weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Die für den Senat nachvollziehbaren Darstellungen sprechen jedenfalls gegen die Auffassung der Klägerin, bei der Prüferkritik handele es sich um „leere Begründungshülsen“.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>2. Im Hinblick auf die zum Prüfungsgegenstand der Aufsichtsarbeit Nr. 2 gemachten Vorschriften über den Erbschaftsanspruch legt die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung nicht hinreichend dar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>a) Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn es für ihre Entscheidung maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechts- oder Tatsachenfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24.01.2007 - 1 BvR 382/05 -, juris Rn. 25). Die nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO gebotene Darlegung dieser Voraussetzungen verlangt, dass unter Durchdringung des Streitstoffes eine klärungsbedürftige konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage aufgezeigt wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war und die auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und dass ein Hinweis auf den Grund gegeben wird, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.11.2011 - 5 B 29.11 -, juris, zum Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Diesen Anforderungen entspricht der Antrag nicht.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>b) Die Klägerin wirft die Frage auf,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="43"/>„ob nach § 8 Abs. 5 JAPrO BW a.F. auch Teilbereiche eines Rechtsgebietes (eingeschränkt) zulässigerweise zum Gegenstand der Prüfung gemacht werden dürfen, die in § 8 Abs. 2 JAPrO BW nicht aufgeführt sind.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Die Klägerin legt indes nicht dar, weshalb die Klärung der Rechtsfrage im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint. Vielmehr ist die Rechtsfrage in der Rechtsprechung des Senats bereits geklärt worden (Senatsbeschluss vom 21.01.1980, a.a.O., Rn. 15). Der Umstand, dass diese Entscheidung zu § 5 Abs. 1 Satz 2 JAPO 1975 ergangen ist, ändert hieran nichts, denn - wie bereits ausgeführt - ist kein Grund dafür dargetan oder sonst ersichtlich, weshalb diese Auslegung nicht auch für den im Wesentlichen wortlautidentischen § 8 Abs. 5 JAPrO a.F. gelten sollte. Im Übrigen lässt sich die Frage, wie unter II.1.a)bb)(1) und (2) dargestellt, eindeutig unter Heranziehung des Wortlauts sowie nach Sinn und Zweck der Vorschrift beantworten. Kann die aufgeworfene Frage indes mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden hinreichend sicher beantwortet werden, fehlt es an einem grundsätzlichen Klärungsbedarf (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Beschlüsse vom 04.01.2022 - 3 B 14.21 -, und vom 09.04.2014 - 2 B 107.13 -, jeweils juris).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>3. Schließlich ist die Berufung auch nicht wegen eines der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangels zuzulassen (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Dies gilt insbesondere, soweit die Klägerin geltend macht, das Verwaltungsgericht habe ihre Argumentation nicht ernsthaft in Erwägung gezogen und dadurch ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG i. V. m. § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Er soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Rechtsfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben. Die Gerichte brauchen sich jedoch nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Etwas anderes gilt, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 04.05.2015 - 2 BvR 2169/13, 2 BvR 2170/13 -, juris, vom 23.07.2003 - 2 BvR 624/01 -, NVwZ-RR 2004, 3, vom 16.07.2013 - 1 BvR 3057/11 -, BVerfGE 134, 106, und vom 19.12.2000 - 2 BvR 143/98 -, DVBl. 2001, 456). Denn Art. 103 Abs. 1 GG gewährt grundsätzlich weder einen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen oder gegen eine materiell fehlerhafte Rechtsanwendung durch das Gericht. Gegenstand der Rüge nach Art. 103 Abs. 1 GG kann deshalb nicht die Behauptung sein, dass ein Gericht aus dem Vortrag eines Beteiligten unzutreffende Schlüsse gezogen habe (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.01.1997 - 6 B 55.96 -, Buchholz 11 Art. 103 Abs. 1 GG Nr. 52).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>An diesem Maßstab gemessen wird ein Gehörsverstoß nicht aufgezeigt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere hat sich das Verwaltungsgericht mit dem zentralen Einwand der Klägerin - die Regelungen der §§ 2018, 2019 BGB seien zu Unrecht zum Gegenstand der Prüfung gemacht worden - ausführlich auseinandergesetzt. Der Sache nach richten sich die Angriffe der Klägerin gegen die inhaltliche Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung; hierauf kann eine Gehörsrüge indes nicht mit Erfolg gestützt werden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht verletzt, wenn das Gericht aus Gründen des materiellen Rechts oder des Prozessrechts zu einem anderen Ergebnis gelangt, als dies der Beteiligte für richtig hält; Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte nicht, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.12.1994 - 2 BvR 894/94 - NJW 1995, 2839; BVerwG, Beschlüsse vom 01.08.2011, a. a. O., und vom 13.01.2009 - 9 B 64.08, 9 B 34.08 -, NVwZ 2009, 329).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Unabhängig davon ist Voraussetzung einer begründeten Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs die vorherige Ausschöpfung sämtlicher verfahrensrechtlich eröffneter und nach Lage der Dinge tauglicher Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BVerwG, Urteil vom 03.07.1992 - 8 C 58.90 -, juris Rn. 9; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 15.03.2000 - A 6 S 48/00 -, juris Rn. 4). Das Verwaltungsgericht hat durch Gerichtsbescheid entschieden. Der Klägerin wäre es damit ohne weiteres möglich und auch zumutbar gewesen, sich durch einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vor dem Verwaltungsgericht rechtliches Gehör zu verschaffen. Hierdurch wäre der Gerichtsbescheid gegenstandslos geworden und hätte aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil entschieden werden müssen. In der Folge wäre es der Klägerin möglich gewesen, sich schriftsätzlich oder mündlich in der mündlichen Verhandlung Gehör zu verschaffen. Dem stehen weder die nach § 84 Abs. 2 Nr. 1 VwGO eröffnete Wahlmöglichkeit noch der Umstand entgegen, dass die Klägerin im Zulassungsverfahren noch weitere Rügen erhebt, zumal diese - wie ausgeführt - ebenfalls keinen Erfolg haben (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 15.03.2000, a.a.O., Rn. 5 m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren folgt aus § 47 Abs. 3 i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 sowie § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an die Empfehlung in Nr.36.1 des Streitwertkatalogs 2013.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Der Beschluss ist unanfechtbar (vgl. § 152 Abs. 1 VwGO sowie § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG hinsichtlich der Streitwertfestsetzung).</td></tr></table> </td></tr></table>
346,887
olgham-2022-09-27-5-rvs-6022
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5 RVs 60/22
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-10-12T10:01:21"
"2022-10-17T11:10:59"
Urteil
ECLI:DE:OLGHAM:2022:0927.5RVS60.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Das angefochtene Urteil wird mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.</p> <p>Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht Essen hat den Angeklagten am 28.08.2020 wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte Rechtsmittel und die Staatsanwaltschaft Berufung zu seinen Ungunsten eingelegt. Im Berufungshauptverhandlungstermin am 10.08.2021 hat die Staatsanwaltschaft die Berufung zurückgenommen. Mit Urteil vom gleichen Tag hat das Landgericht das angefochtene Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach den tatsächlichen Feststellungen des Urteils befand sich die Nebenklägerin seit dem 24.08.2015 wegen eines Frozen-Shoulder-Syndroms sowie diffuser Schmerzen im linken Oberschenkel in der Behandlung des Angeklagten, welcher als Orthopäde und Osteopath eine Privatpraxis betreibt. Die ganzheitlich ausgerichtete Behandlung fand bis zum 18.08.2016 an über 30 Terminen statt und umfasste in etwa zur Hälfte der Behandlungseinheiten auch ein Persönlichkeitscoaching der Nebenklägerin, in welchem auch emotionale (Ehe-)Probleme der Nebenklägerin thematisiert wurden. Nach Besserung der Beschwerden brachte die Nebenklägerin dem Angeklagten immer mehr Zuneigung entgegen und fühlte sich von diesem verstanden und aufgehoben. Es entstand zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin eine sexuelle Anziehung. Die Nebenklägerin kleidete sich zu den Behandlungsterminen in der Regel mit einem einteiligen Sommerkleid, so dass sie dieses für die Behandlung komplett ausziehen musste.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Einzelnen kam es zu folgenden Vorfällen:</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 06.07.2016 behandelte der Angeklagte die Nebenklägerin, die zu diesem Zweck nur mit Unterwäsche bekleidet mit dem Rücken auf einer Behandlungsliege lag, unter anderem am linken Bein. Als die Nebenklägerin durch die Behandlung Schmerzen empfand, fasste sie zunächst reflexartig mit ihrer Hand an das Gesäß des Angeklagten und beließ diese dann auch über die Zeitspanne hinaus dort, in welcher ein Schmerzreiz auf sie einwirkte. Sodann begann sie den Angeklagten zu streicheln und sah ihn hierbei an. Der Angeklagte fragte die Nebenklägerin hierauf, ob es in Ordnung sei, wenn auch er sie berühre. Die Nebenklägerin bejahte dies und der Angeklagte führte seine Finger unter den Slip der Nebenklägerin und streichelte deren Vagina, was diese zunächst geschehen ließ. Dann schloss sie ihre Beine und sagte sinngemäß, dass der Angeklagte ja verrückt sei und ob er das öfters mache.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Beim folgenden Behandlungstermin am 12.07.2016 streichelte der Angeklagte erneut die Vagina der Nebenklägerin und führte einen Finger ein, was diese wiederum geschehen ließ. Sodann führte er seinen erigierten Penis zweimal in den Mund der Nebenklägerin, küsste sie und saugte an beiden Brüsten.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">(3)</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Am 18.08.2016 fand in der Praxis des Angeklagten ein Gespräch über die Ausstellung einer Wiedereingliederungsbescheinigung statt. Zuvor hatte sich die Nebenklägerin bei einem vorangegangenem Gespräch auf einem Parkplatz beim Angeklagten darüber beschwert, dass er sie nicht küsse und sie keine Frau „nur für Zwischendurch“ sei.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Nach dem Gespräch über die Wiedereingliederungsbescheinigung bat der Angeklagte die Nebenklägerin zu sich zu kommen und beide küssten sich in Form eines Zungenkusses.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">(4)</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am 26.08.2016 sendete der Angeklagte der Nebenklägerin (sinngemäß) die Nachricht „Kommst Du noch auf einen heißen Cappuccino vorbei? Einmal mit der Zunge rein und dann abschlecken!“. Die Nebenklägerin erkannte den sexuellen Kontext der Nachricht und begab sich außerhalb eines Behandlungstermins zu der zu diesem Zeitpunkt geschlossenen Praxis. In einem Behandlungszimmer kam es sodann zu sexuellen Handlungen. Der Angeklagte führte seinen erigierten Penis in den Mund der Nebenklägerin und ejakulierte. Im Anschluss führte er einen Finger in die Vagina der Nebenklägerin ein, wobei diese ihm die Hand führte und einen Orgasmus vortäuschte.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die getroffenen Feststellungen hat das Landgericht vor allem auf die geständige Einlassung des Angeklagten gestützt. Der Aussage der Nebenklägerin, dass sie sich bei der ersten Behandlung lediglich wegen Schmerzen an das Bein des Angeklagten gekrallt habe und weder ihre eigenen Handlungen eine sexuelle Komponente besessen hätten noch das weitere Vorgehen mit ihr abgesprochen gewesen sei, hat das Landgericht keinen Glauben geschenkt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">In rechtlicher Hinsicht liege kein Missbrauch eines Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses nach § 174c StGB vor, da der Angeklagte nach der vorzunehmenden Gesamtwürdigung nicht seine Autoritäts- und Vertrauensstellung ausgenutzt habe. Die Annäherung an den Angeklagten sei von der Nebenklägerin ausgegangen. Diese sei nicht von seiner Autorität als behandelndem Orthopäden eingeschüchtert und eingenommen gewesen, sondern habe selbstbestimmt eine weitergehende Vertiefung der Beziehung gesucht.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen der Nebenklägerin sowie der Staatsanwaltschaft, die beide mit der Sachrüge begründet wurden. Die Generalstaatsanwaltschaft ist den Revisionen von Nebenklägerin und Staatsanwaltschaft beigetreten und hat - wie die Nebenklägerin - beantragt, das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Essen zurückzuverweisen. Der Angeklagte hat beantragt, die Revisionen als unbegründet zu verwerfen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht erhobenen Revisionen der Nebenklägerin und der Staatsanwaltschaft haben auf die Sachrüge hin Erfolg. Sie führen gem. §§ 349 Abs. 5, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zugehörigen Feststellungen sowie zur Zurückverweisung der Sache.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">1)</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Freispruch des Angeklagten hält der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die getroffenen Feststellungen sind lückenhaft und erlauben dem Senat nicht zu überprüfen, ob der Angeklagte sich wegen sexuellen Missbrauchs der Nebenklägerin unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (§ 174c Abs. 1 StGB) strafbar gemacht hat.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Bei dem von § 174c Abs. 1 StGB vorausgesetzten Missbrauch des Beratungsverhältnisses handelt es sich um ein einschränkendes Tatbestandsmerkmal, dem eine eigenständige Bedeutung zukommt (BGH, Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 StR 24/16 –, BGHSt 61, 208-218, Rn. 21). Dementsprechend ist nicht schon jeder sexuelle Kontakt im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses per se missbräuchlich (BGH, Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 StR 24/16 –, BGHSt 61, 208-218, Rn. 21). Erforderlich ist vielmehr, dass der Täter die Gelegenheit, die seine Vertrauensposition bietet, unter Verletzung der damit verbundenen Pflichten zu sexuellen Handlungen ausnutzt (Renzikowski, in: MünchKomm, 4. Aufl. 2021, § 174c StGB Rn. 27).</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">In den Blick zu nehmen ist diesbezüglich, dass § 174c StGB dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung in Situationen dient, in denen dieses Rechtsgut aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der durch Krankheit oder Behinderung belasteten Rechtsgutsträger und der Eigenart von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen typischer Weise besonders gefährdet ist (BGH, Beschluss vom 25. Januar 2017 – 1 StR 570/16 –, Rn. 4, juris). Die Strafbarkeit setzt daher weder voraus, dass die Initiative vom Täter ausgeht noch dass ein Handeln gegen den Willen des Opfers vorliegt (Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 174c Rn. 6a). Auch wenn die Patientin oder der Patient mit den sexuellen Handlungen im Rahmen des Behandlungsverhältnisses ausdrücklich einverstanden ist, versteht es sich in den meisten Fällen von selbst, dass ein Arzt, der sexuelle Handlungen an einer Patientin oder einem Patienten im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses vornimmt, dieses besondere Verhältnis missbraucht (BGH, Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 StR 24/16 –, BGHSt 61, 208-218, Rn. 22 m.w.N.).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">An einem Missbrauch fehlt es hingegen ausnahmsweise dann, wenn der Täter im konkreten Fall nicht eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt hat (BGH, Urteil vom 14. April 2011 – 4 StR 669/10 –, BGHSt 56, 226-234, Rn. 38). Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der den jeweiligen Einzelfall kennzeichnenden Umstände festzustellen (BGH, Urteil vom 14. April 2011 – 4 StR 669/10 –, BGHSt 56, 226-234, Rn. 39). Ein Einverständnis des Patienten/der Patientin allein reicht nicht, vielmehr müssen weitere Umstände hinzukommen, aufgrund derer davon auszugehen ist, dass eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses regelmäßig gegebene Vertrauensbeziehung entweder tatsächlich nicht bestand oder für die Hinnahme der sexuellen Handlung ohne Bedeutung war (BGH, Urteil vom 14. April 2011 – 4 StR 669/10 –, BGHSt 56, 226-234, Rn. 39 m.w.N.). Solche besonderen Umstände können etwa vorliegen bei einvernehmlichen sexuellen Handlungen des Ehepartners oder Lebensgefährten während eines Betreuungsverhältnisses oder bei einer von dem Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis unabhängigen "Liebesbeziehung" und in deren Folge nur gelegentlich der Behandlung oder nach deren Abschluss vorgenommenen sexuellen Handlung (BGH, Urteil vom 14. April 2011 – 4 StR 669/10 –, BGHSt 56, 226-234, Rn. 40). Maßstab ist somit, ob sich Arzt und Patient/Patientin „auf Augenhöhe“ begegnen (BGH NJW 2016, 2965 (2967)).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Zudem kommt es entscheidend für die Beurteilung, ob ein Missbrauch vorliegt, auf die konkrete Art und Intensität des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses an. Je intensiver die Kontakte zwischen Täter und Opfer im Rahmen dieses Verhältnisses sind, desto geringere Anforderungen sind an das Vorliegen eines Missbrauchs zu stellen. Je weniger der Täter hingegen im Rahmen dieses Verhältnisses mit dem Opfer befasst ist, desto höher sind die Anforderungen (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 4. Juni 2009 – 3 Ss 113/08, BeckRS 2009, 20082; BGH, Beschluss vom 29. September 1998 – 4 StR 324/98, NStZ 1999, 29 [zu § 174a StGB]).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von dem vorbezeichneten Maßstab fehlt es für die vorzunehmende Gesamtwürdigung sowohl an Urteilsfeststellungen zum Inhalt des Behandlungsverhältnisses als auch dazu, wie sich die Beziehung zwischen dem Angeklagten während des Behandlungsverhältnisses und insbesondere zwischen den einzelnen Vorfällen entwickelt hat.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">(1)</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">So lässt sich dem Urteil zwar zum einen entnehmen, dass der Angeklagte die Nebenklägerin im Zeitraum August 2015 bis Augst 2016 in über dreißig Terminen behandelt hat. Ungefähr die Hälfte der Behandlungszeit entfiel dabei auf therapeutische Gespräche. Die Angaben zu Art und Inhalt der therapeutischen Gespräche – emotionale Probleme innerhalb der Ehe, Lifestyle- und Ernährungscoaching – sind aber so vage gehalten, dass der Senat nicht zu beurteilen vermag, ob und gegebenenfalls in welcher Intensität, aufgrund welcher Diagnose und mit welchem Zweck auch eine psychologische Betreuung der Nebenklägerin stattfand.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">(2)</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Weiter enthält das angefochtene Urteil auch keine hinreichenden Feststellungen, die auf eine Beziehung auf „Augenhöhe“ zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin bzw. auf einen der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannten Ausnahmefälle schließen lassen, in denen kein Missbrauch angenommen wird (oder eine vergleichbare Konstellation). Es gibt zwar in den Feststellungen einige Anhaltspunkte hierfür. So haben sich der Angeklagte und die Nebenklägerin ab einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt geduzt, es ist eine sexuelle Anziehung zwischen beiden entstanden, die Nebenklägerin hat nicht nur die sexuellen Handlungen geschehen lassen oder bei diesen mitgewirkt, sondern sie hat zuerst die Initiative zu Zärtlichkeiten bzw. sexuellen Handlungen ergriffen (Tat 1) und sie hat auch ein Küssen eingefordert (Tat 3). Augenscheinlich ist es auch außerhalb der Behandlung und auch nicht im Zusammenhang mit Behandlungsterminen zur Kommunikation zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten (Tat 4: zwecks Verabredung eines Treffens zur Vornahme sexueller Handlungen) und zu Treffen gekommen (Tat 3: Parkplatz). Diese Feststellungen sind indes zu punktuell, um dem Revisionsgericht ein Gesamtbild von der Beziehung zwischen Angeklagtem und der Nebenklägerin zu vermitteln und das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Missbrauchs zu bewerten. So wäre insbesondere näher darzulegen, wie sich die (beiderseitige) „sexuelle Anziehung“ – auch schon vor der ersten Tat – zwischen den Beteiligten manifestiert hat (etwa durch Flirten, Austausch von Zärtlichkeiten unterhalb der Schwelle zu einer sexuellen Handlung, etc.). Weiter wäre darzulegen, in welchem Umfang und in welchem Rahmen es zu Zusammenkünften zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten gekommen ist und in welchem Umfang und mit welchem Inhalt eine Kommunikation (etwa per Textnachrichten etc.) zwischen ihnen außerhalb der Behandlung stattgefunden hat. Auch die Hintergründe, warum die Nebenklägerin trotz der ersten Tat weiterhin den Kontakt mit dem Angeklagten im Rahmen der Behandlung und auch außerhalb mit diesem pflegte, bedürfen der Aufklärung.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Ohne Kenntnis der vorbeschriebenen Umstände lässt sich nicht beurteilen, ob der Angeklagte die aus dem Behandlungsverhältnis resultierende Autoritäts- und Vertrauensstellung ausnutzte, oder ob der Entschluss der Nebenklägerin, mit ihm sexuell zu verkehren, „auf Augenhöhe“ erfolgte.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass die Feststellung im angefochtenen Urteil, die Nebenklägerin habe ab einem bestimmten Zeitpunkt ein „leichtes Sommerkleid“ zu den Behandlungsterminen getragen, was es notwendig gemacht habe, dass sie sich habe komplett ausziehen müssen, nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist. Bei einer Behandlungsbedürftigkeit an Schulter und Oberschenkel hätte auch eine andere Bekleidung (etwa Rock und Bluse) eine vollständige Entkleidung jedenfalls dann notwendig gemacht, wenn beide Körperteile in einem Behandlungstermin behandelt worden wären.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Ferner erweist sich auch die Beweiswürdigung, die zum Freispruch des Angeklagten geführt hat, als durchgreifend rechtsfehlerhaft.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vorliegend war im Zuge der Beweiswürdigung eine in sich geschlossene und verständliche Darstellung des wesentlichen Inhalts der belastenden Zeugenaussage der Nebenklägerin erforderlich, da deren Aussage in erheblicher Weise von der Einlassung des Angeklagten abwich. Hieran fehlt es indes. Aus den Urteilsausführungen ergibt sich zur Einlassung der Nebenklägerin, dass diese sich in einzelnen Punkte<span style="text-decoration:underline">n</span> (Mehrzahl) anders als der Angeklagten eingelassen habe. Im Folgenden werden – worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat – jedoch nicht mehrere Abweichungen, sondern lediglich ein einziger abweichender Umstand – die Initiative und Absprachen beim ersten Vorfall – geschildert. Den  weiteren Ausführungen, die sich auf den Vorfall am 26.08.2016 beziehen, lässt sich hingegen nicht entnehmen, ob und in welchem Umfang die Aussage der Nebenklägerin von der Einlassung des Angeklagten insofern abgewichen sein soll. Die tatsächlichen Feststellungen hierzu sollen vielmehr „auch auf den Angaben der Nebenklägerin“ beruhen, was eine vollständige oder zumindest teilweise Deckungsgleichheit beider Erklärungen denkbar erscheinen lässt. Angesichts dieser bruchstückhaften Darstellung der Aussage der Nebenklägerin vermag der Senat nicht zu überprüfen, ob das Landgericht dieser in den abweichenden Passagen zu Recht nicht gefolgt ist.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">c)</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Schließlich begegnet die Begründung des Freispruchs insofern rechtlichen Bedenken, als – worauf die Generalstaatsanwaltschaft ebenfalls zutreffend hingewiesen hat – der Anklagevorwurf nicht einleitend mitgeteilt wird. Nach ständiger Rechtsprechung – auch der des Senats – müssen bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen nach Mitteilung des Anklagevorwurfs im Urteil zunächst diejenigen Tatsachen festgestellt werden, die der Tatrichter für erwiesen hält. Erst auf dieser Grundlage ist in der Beweiswürdigung darzulegen, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können. Nur hierdurch wird das Revisionsgericht in die Lage versetzt, nachprüfen zu können, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht (BGH, Urteil vom 2. März 2022 – 5 StR 365/21 –, Rn. 11, juris m.w.N.; OLG Hamm, Urteil vom 1. Juni 2021 – III-5 RVs 33/21 –, Rn. 8, juris).</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">2)</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat in Bezug auf den dritten Vorfall am 18.08.2016 auf Folgendes hin:</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Ein (Zungen-)Kuss kann nicht stets und ohne Rücksicht auf die Begleitumstände als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit (§ 174c StGB i.V.m. § 184h Nr. 1 StGB) gewertet werden. (vgl. BGH, StV 1983, 415 f.; BGH, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11 –, BGHSt 56, 223-226, Rn. 7; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2009 – 1 Ss 70/09 –, Rn. 10, juris). Als maßgebliche Umstände für die vorzunehmende Bewertung sind insofern insbesondere Intensität und Dauer des Kusses sowie etwaige begleitende Handlungen, wie Berührungen des Körpers, das Verhältnis zwischen Täter und Opfer und die konkrete Tatsituation heranzuziehen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2009 – 1 Ss 70/09 –, Rn. 10, juris). Sollte das Landgericht nach der erneuten Beweisaufnahme hinsichtlich dieses Vorfalls die sonstigen Voraussetzungen des § 174c Abs. 1 StGB bejahen, werden zur Erheblichkeit der sexuellen Handlung ergänzende Feststellungen zu treffen sein.</p>
346,874
vg-karlsruhe-2022-09-27-a-19-k-256522
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A 19 K 2565/22
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:49"
"2022-10-17T11:10:56"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <blockquote><blockquote><p>1. Der Antrag wird abgelehnt.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></blockquote></blockquote> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td><table><tr><td>I.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Mit seinem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wendet sich der Antragsteller gegen die mit der Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig verbundene Anordnung der Abschiebung nach Bulgarien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der am XX.XX.1994 in ... (Syrien) geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste er im Oktober 2021 gemeinsam mit seinem im Jahr 2013 geborenen Neffen aus Syrien zunächst in die Türkei aus. Von dort reiste er auf dem Landweg nach Deutschland weiter und äußerte ein Asylgesuch, das dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am 29.01.2022 bekannt wurde. Eine Eurodac-Anfrage ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Bulgarien vom 11.01.2022, woraufhin der Antragsteller in einer Erstbefragung einen Fragebogen zur Zulässigkeit des Asylantrages ausfüllte. Dabei gab er an, er sei durch Bulgarien gereist und habe sich vom 11.01.2022 bis zum 18.01.2022 dort in ... aufgehalten. Am ersten Tag seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden. In der folgenden Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrages beim Bundesamt am 02.06.2022 gab er an, er habe in Bulgarien keinen Asylantrag stellen wollen. Er sei in Bulgarien für 31 Tage inhaftiert gewesen, und am Ende seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden. Nach seiner Freilassung habe er das Land verlassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>In der Akte des Bundesamts liegen der undatierte Abdruck einer E-Mail an „...“ mit dem Text „Dear colleagues, attached a take back request and the Eurodac result. Kind regards Dublin Unit 32 F“, ein Informationsschreiben über ein Übernahmeersuchen an das Regierungspräsidium Karlsruhe vom 09.03.2022 sowie eine E-Mail der Dublin Unit Bulgaria vom 09.03.2022 mit dem Text „This is an automatic reply to confirm receipt of your mail“ vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Bescheid vom 26.07.2022 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (2.) und ordnete seine Abschiebung nach Bulgarien (3.) sowie ein auf elf Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (4.) an. Über die Zustellung des Bescheides liegt in der Akte des Bundesamtes kein Nachweis vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Gegen den Bescheid vom 26.07.2022 hat der Antragsteller am 02.08.2022 Klage erhoben (A 19 K 2564/22) sowie den vorliegenden Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Zur Begründung lässt er vortragen: Als nicht anerkanntem Asylbewerber drohe ihm nach einer Überstellung nach Bulgarien mit großer Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh. Die in Bulgarien herrschenden Lebensbedingungen seien sowohl für Asylbewerber wie für anerkannte Flüchtlinge menschenrechtlich nicht akzeptabel. Außerdem habe die Antragsgegnerin die Modalitäten der Überstellung gar nicht dargelegt, was an sich die Unzulässigkeit der Überstellung zur Folge habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Der Antragsteller beantragt sachdienlich gefasst,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="7"/>die aufschiebende Wirkung seiner Klage – A 19 K 2564/22 – gegen die Abschiebungsandrohung in Ziff. 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.07.2022 anzuordnen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Antragsgegnerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>den Antrag abzulehnen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Zur Begründung bezieht sie sich auf den ablehnenden Bescheid.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Dem Gericht liegt die Akte des Bundesamtes in elektronischer Form vor. Auf diese sowie auf die Gerichtsakten beider Verfahren des Antragstellers wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.</td></tr></table><table><tr><td>II.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Der Antrag, über den gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Einzelrichter entscheidet, hat keinen Erfolg. Er ist in jedem Fall innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt worden und auch sonst zulässig, jedoch unbegründet.</td></tr></table><table><tr><td>1.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwischen dem sich aus der Regelung des § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt eine Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers in aller Regel nicht das öffentlichen Vollzugsinteresse. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortige Vollziehung. Soweit der Antragsteller geltend macht, dass mit der Vollziehung ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff verbunden wäre oder soweit die Vollziehung zu unabänderlichen Zuständen führen kann, muss die Untersuchung der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit auf der Grundlage einer vollständigen Rechtsprüfung unter Aufklärung des Sachverhalts ergehen. Nur wenn dies gesichert ist, kann das Eilverfahren zu Lasten des Betroffenen entschieden werden, da es hier die Funktion des Hauptsacheverfahrens einnimmt (Funke-Kaiser, in: Bader u.a., VwGO, 7. Aufl. 2018, § 80 Rn. 100).</td></tr></table><table><tr><td>2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Nach diesem Maßstab überwiegt das Interesse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse nicht, da sich die angegriffene Abschiebungsanordnung nach Bulgarien als voraussichtlich rechtmäßig erweist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Grundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift kann die Abschiebung eines Ausländers in den für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständigen Staat angeordnet werden, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Diese Voraussetzungen liegen vor.</td></tr></table><table><tr><td>a)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass Bulgarien gegenwärtig für die Durchführung des Asylverfahrens im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständig ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Der Eurodac-Treffer der Kategorie 1, zu dem der Ort eines bulgarischen Aufnahmezentrums angegeben wird (Vrazhdebna, vgl. Aida Country Report Bulgaria, Update 2021, vom 01.02.2022, S. 67), erlaubt den Schluss, dass der Antragsteller in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat. Dies wird durch den Vortrag des Antragstellers nicht erschüttert, da er keine konsistenten Angaben zu seinem Aufenthalt in Bulgarien gemacht hat. Bereits zur Dauer finden sich erhebliche Abweichungen (7 Tage laut Fragebogen, 31 Tage laut Anhörung), hinzu kommt die ausweichende Antwort („Ich habe dort etwas unterschrieben. Ich weiß nicht, was es war“) auf die Frage nach einem Asylantrag in der Anhörung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Mangels anderer Kriterien ergibt sich die Zuständigkeit Bulgariens aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Es ergeben sich bei der summarischen Prüfung im Eilverfahren keine Zweifel daran, dass die Antragsgegnerin innerhalb der Frist von zwei Monaten nach Art. 23 Abs. 2, 3 Dublin-III-VO ein Übernahmeersuchen an die bulgarischen Behörden gerichtet hat und somit nicht die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf sie übergegangen ist. Zwar ist das Schreiben mit dem Übernahmeersuchen selbst in der Akte des Bundesamts nicht dokumentiert, jedoch erlauben die zugehörigen Schriftstücke (E-Mail an die bulgarische Dublin-Einheit, automatische Antwort) den Schluss, dass ein Übernahmeersuchen gestellt wurde. Eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin folgt auch nicht aus der gemeinsamen Einreise des Antragstellers mit seinem Neffen nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO, da der Neffe nach dem Schreiben seines Bruders ... vom 19.03.2022 nunmehr bei diesem lebt und nicht auf die Betreuung durch den Antragsteller angewiesen ist.</td></tr></table><table><tr><td>b)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Gegen die Annahme der Zuständigkeit Bulgariens kann sich der Antragsteller nicht auf eine drohende Verletzung von Art. 4 GRCh berufen.</td></tr></table><table><tr><td>aa)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Ausgangspunkt der rechtlichen Prüfung ist die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem geltende und auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhende Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der EMRK steht (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 – C-163/17 <Jawo> – juris, Rn. 82).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Diese Vermutung ist indes nicht unwiderlegbar. Nach Art. 4 GRCh obliegt den Mitgliedstaaten, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Folgen systemischer Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GRCh, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. So ist diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit etwa dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, Urt. v. 19.03.2019 – C-163/17 <Jawo> – juris, Rn. 91 ff.).</td></tr></table><table><tr><td>bb)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Nach diesen Maßstäben ergeben sich weder aus dem Vorbringen des Antragstellers noch aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Bulgarien, aus denen dem Antragsteller die konkrete Gefahr einer extremen materiellen Not im oben genannten Sinne drohen würde.</td></tr></table><table><tr><td>(1)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>In Bulgarien ist die Durchführung eines Asylverfahrens nach rechtsstaatlichen Grundsätzen einschließlich der Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Bulgarien vom 13.06.2022, S. 2). Mögliche Mängel des Asylverfahrens hinsichtlich qualifizierter Dolmetscher, die in den Erkenntnismitteln erwähnt werden, beziehen sich nicht auf die für den Antragsteller relevante arabische Sprache (vgl. Aida, a. a. O., S. 28); die Anerkennungsquote für syrische Asylbewerber liegt bei 99 % (vgl. Aida, a. a. O., S. 59). Die Verfahrensgewährleistung gilt auch für sog. „Dublin-Rückkehrer“ in jedem Fall, wenn ihr Asylverfahren nicht zwischenzeitlich mit einer inhaltlichen Entscheidung abgeschlossen wurde. Dies gilt in der Praxis für Asylbewerber, solange nicht alle vor der Entscheidung liegenden Verfahrensschritte abgeschlossen wurden (vgl. Aida, a. a. O., S. 39; BFA, a. a. O., S. 5). Da der Antragsteller sich nur kurze Zeit in Bulgarien aufgehalten hat und von einer persönlichen Anhörung im Asylverfahren, auf deren Basis eine inhaltliche Entscheidung getroffen werden könnte, nichts erwähnt hat, ist vorliegend von einer Fortsetzung des Asylverfahrens auszugehen.</td></tr></table><table><tr><td>(2)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Hinsichtlich der materiellen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien ergeben sich keine Hinweise, dass insoweit die genannte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit der Mängel überschritten wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Eine ausreichende Grundversorgung mit Lebensmitteln und Sanitärartikeln ist in den bulgarischen Aufnahmezentren für Asylbewerber gewährleistet. Auch wenn die Qualität des Essens zum Teil kritisiert wird (vgl. Aida, a. a. O., S. 63), gibt es keine Hinweise auf eine damit verbundene gesundheitsrelevante Unterversorgung. In gleicher Weise gilt dies für die Qualität der Unterbringung, die – von dem Aufnahmezentrum Vrazhdebna, in dem der Antragsteller wohl registriert wurde, abgesehen – als ebenfalls nach internationalen Standards unzureichend angesehen wird (vgl. Aida, a. a. O., S. 67 f.). In den Aufnahmezentren wird über Probleme mit den sanitären Einrichtungen und Schlafplätzen (Befall mit Bettwanzen) berichtet (vgl. BFA, a. a. O., S. 11; Aida, a. a. O., S. 67). Indes sind drastische hygienische Mängel in Bezug auf Parasiten selbst bei der Bewertung von Haftbedingungen im Lichte von Art. 3 EMRK allein ein in den Blick zu nehmender Faktor, wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch auf die Überprüfung und Desinfektion durch die Mitarbeitenden in den Haftanstalten abstellt (EGMR, Urt. v. 23.07.2020 – 29760/15 <Lautaru und Seed ./. Griechenland> – Rn. 53). Mit Blick auf die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften für Asylantragsteller und die Bewertung der Bedingungen vor Art. 4 GRCh gilt es zu beachten, dass diese – anders als inhaftierte Personen – nicht den wesentlichen Teil des Tages gezwungen sind, in ihren Zimmern zu verweilen und sie selbst auch in weit größerem Umfang als Inhaftierte in der Lage sind, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, da sie in ihrer persönlichen Fortbewegungsfreiheit nicht eingeschränkt sind, so dass jedenfalls dann, wenn nicht in größerem Umfang über mit den Hygienebedingungen in Zusammenhang stehenden Erkrankungen berichtet wird, die geschilderten hygienischen Zustände nicht dazu führen, dass mit ihnen die tatsächliche Gefahr einer Verletzung der Asylantragsteller in ihren Grundrechten aus Art. 4 GRCh verbunden wäre. Solche Berichte über erhebliche Erkrankungen lassen sich den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln indes nicht entnehmen und sind auch vom Antragsteller nicht behauptet worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Es ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller der Zugang zu einem Aufnahmezentrum praktisch möglich sein wird. Die Kapazität der Zentren war Ende 2021 nur circa zur Hälfte ausgeschöpft (vgl. BFA, a. a. O., S. 10). Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sich dies durch den Zuzug ukrainischer Flüchtlinge nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine geändert haben könnte. Vielmehr wird die Belegungsquote für Mitte Juni 2022 mit 53 % weitgehend unverändert angegeben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 06.07.2022, S. 1).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die medizinische Versorgung wird gewährleistet, indem grundlegende Dienstleistungen in den Aufnahmezentren angeboten werden und die Asylbewerber im Übrigen im nationalen Gesundheitssystem versorgt sind (vgl. Aida, a. a. O., S. 70 f.). Dies gilt auch für sog. „Dublin-Rückkehrer“ (vgl. BFA, a. a. O., S. 12 f.).</td></tr></table><table><tr><td>(3)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Auch in Hinblick auf die Situation von Asylbewerbern nach der Zuerkennung internationalen Schutzes ist die konkrete Gefahr einer extremen Verelendung nicht anzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Zwar ist nach den Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien mit verschiedenen Problemen konfrontiert werden, die ihnen die Sicherung ihres Lebensunterhaltes erschweren. Diese sind jedoch – jedenfalls für den vorliegenden Fall eines gesunden und arbeitsfähigen alleinstehenden Mannes – in der Gesamtschau nicht als derart gravierend anzusehen, dass aus ihnen die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer extremen materiellen Not erwachsen wird (vgl. wie hier VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 24.02.2022 – A 4 S 162/22 – juris, Rn. 32; zuvor bereits Beschl. v. 27.05.2019 – A 4 S 1329/19 – juris, Rn. 16 ff.; Nds. OVG, Urt. v. 07.12.2021 – 10 LB 257/20 – juris, Rn. 30 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15.02.2022 – 11 A 1625/21.A – juris, Rn. 52 ff.; VG Minden, Beschl. v. 30.03.2022 – 12 L 233/22.A – juris, S. 16 ff.; VG Aachen, Beschl. v. 07.04.2022 – 8 L 123/22.A – juris, S. 24 ff.; VG München, Beschl. v. 02.06.2022 – M 10 S 22.50254 – juris, Rn. 22; VG Leipzig, Urt. v. 28.06.2022 – 7 K 289/22.A – juris, Rn. 28 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Im Einzelnen liegen dem folgende Erwägungen zugrunde:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Anerkannte Schutzberechtigte können in Bulgarien nicht dauerhaft die materiellen Leistungen für Asylbewerber (Verpflegung, Unterkunft usw.) in Anspruch nehmen, sondern sind auf die eigene Sicherung des Lebensunterhaltes angewiesen. Ob darüber hinaus eine Sicherung durch Sozialleistungen in Betracht zu ziehen ist, erscheint zweifelhaft. Einerseits wird die Möglichkeit einer Sozialhilfe in Höhe von monatlich 40 EUR und jährlicher Einmalhilfe von 192 EUR erwähnt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 08.07.2022, S. 2). Andererseits gibt es Hinweise, dass die bürokratischen Hindernisse der Antragstellung praktisch kaum oder allenfalls mit Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen überwindbar sind (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, vom 19.07.2021, S. 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Anerkannte Schutzberechtigte haben uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, der sich jedoch praktisch aufgrund fehlender Sprachkenntnisse und fehlender staatlicher Unterstützung schwierig gestalten kann. Arbeitsmöglichkeiten finden sich überwiegend in schlechter bezahlten, unqualifizierten Tätigkeiten (z. B. Landwirtschaft, Gastronomie) und über Kontakte zu Landsleuten, die sich ein eigenes Gewerbe aufgebaut haben (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Potsdam vom 11.03.2021, S. 5). Nach Angaben von UNHCR besteht Interesse von Arbeitgebern an der Beschäftigung von Flüchtlingen, und UNHCR beteiligt sich an der Kontaktvermittlung (z. B. durch Jobmessen; vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4). Auch weitere Nichtregierungsorganisationen können bei entsprechender Initiative Hilfe und Vermittlung bieten (vgl. BFA, Anfragebeantwortung vom 19.07.2021, S. 5 f.). Soweit ersichtlich, werden die Chancen anerkannter Schutzberechtigter auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gravierend durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie beeinträchtigt, da sich in den letzten beiden Jahren wieder ein moderates Wirtschaftswachstum eingestellt und sich die Arbeitslosenrate auf einem relativ niedrigen Niveau von ca. 5 % stabilisiert hat (vgl. Europäische Kommission, Spring 2022 Economic Forecast for Bulgaria vom 16.05.2022, online abrufbar unter: https://ec.europa.eu/economy_finance/forecasts/2022/spring/ecfin_forecast_spring_2022_bg_en.pdf). Ein starkes Wachstum ist andererseits angesichts zunehmender Unsicherheiten und einer sich abzeichnenden Rezession in Europa nicht zu erwarten (vgl. Germany Trade and Invest, Wirtschaftsausblick Bulgarien, vom 10.06.2022, online abrufbar unter: https://www.gtai.de/de/trade/bulgarien/wirtschaftsumfeld/unsicherheiten-und-risiken-nehmen-zu-270130). Durch den Zuzug ukrainischer Flüchtlinge ist ein negativer Einfluss auf die Beschäftigungsmöglichkeiten zu erwarten, der jedoch noch nicht abgeschätzt werden kann (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft an OVG Nordrhein-Westfalen vom 08.07.2022, S. 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Insgesamt erscheint eine Teilnahme am Arbeitsmarkt bei entsprechender Eigeninitiative, die vom gesunden und arbeitsfähigen Antragsteller erwartet werden kann, realistisch möglich. Damit ist ein Lebensstandard im unteren Bereich der bulgarischen Lebensverhältnisse zugrunde zu legen. Dies ist zudem mit einigen Unsicherheiten hinsichtlich der weiteren Wirtschaftsentwicklung, des Einflusses ukrainischer Flüchtlinge und der Entwicklung der Lebenshaltungskosten belastet. Gerade in den unteren Einkommensschichten kann der Anstieg der Lebenshaltungskosten zu einem Rückgang der Kaufkraft führen (vgl. Bericht Radio Bulgaria vom 22.08.2022, online abrufbar unter: https://bnr.bg/de/post/101694176/inflation-ubersteigt-weiterhin-das-einkommenswachstum). Dem Anstieg von Energiekosten wird allerdings durch Maßnahmen der bulgarischen Regierung (Steuerrabatt für Treibstoff, Preisdeckel für Elektrizität) begegnet (vgl. Bericht Reuters, Europe's efforts to shield households from soaring energy costs, vom 04.09.2022, online abrufbar unter: https://www.reuters.com/business/energy/europes-efforts-shield-households-soaring-energy-costs-2022-09-02/). Es ist zudem zu beachten, dass der schlechten Einkommenssituation vergleichsweise niedrige Lebenshaltungskosten gegenüberstehen (vgl. Europäische Arbeitsbehörde EURES, Lebens- und Arbeitsbedingungen in Bulgarien, online abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eures/public/living-and-working/living-and-working-conditions/living-and-working-conditions-bulgaria_de) und sich ein Anstieg im europäischen Vergleich somit auf niedrigem Niveau bewegt. Prognostisch ist weiter von einer mäßigen Lohnentwicklung auszugehen, was andererseits einen Mangel an Arbeitskräften bedingt (vgl. Bericht Radio Bulgaria vom 17.08.2022, online abrufbar unter: https://bnr.bg/de/post/101692073/grosste-probleme-des-arbeitsmarkts-arbeitskraftemangel-und-gleichzeitig-arbeitsscheue-arbeitnehmer) und die Chancen anerkannter Schutzberechtigter auf dem Arbeitsmarkt verbessern sollte. Zudem ist bei lebensnaher Betrachtung auch eine zunehmende Integration des Antragstellers in Gesellschaft und Arbeitsmarkt zu erwarten, wodurch er nicht auf eine randständige Position innerhalb der bulgarischen Gesellschaft festgelegt ist. Die genannten mittelfristigen Risiken der Unterhaltssicherung stützen daher derzeit nicht die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der extremen Verelendung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Eine solche ergibt sich auch nicht hinsichtlich der Erlangung einer Unterkunft. Zwar endet nach dem Abschluss des Asylverfahrens die Möglichkeit der Unterkunft in den Aufnahmezentren. Die Wohnungssuche gestaltet sich für anerkannte Schutzberechtigte aufgrund der generellen Integrationsprobleme (Sprachkenntnisse, behördliche Registrierung, gleichzeitige Arbeitssuche, Vorbehalte bei Vermietern) schwierig. In einigen Erkenntnismitteln wird dies so dargestellt, dass die Erlangung einer privaten Unterkunft für anerkannte Schutzberechtigte praktisch ausgeschlossen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 08.07.2022, S. 3). Andererseits gibt es keine Hinweise auf eine größere Zahl von Obdachlosen unter den anerkannten Schutzberechtigten (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019; VG Bremen, Beschl. v. 04.07.2022 – 2 V 153/22 – juris, Rn. 45 m. w. N.). Denn den Schwierigkeiten stehen auch Berichte über verschiedene Hilfsangebote gegenüber, die dem Antragsteller bei entsprechender Initiative zugute kommen können, darunter auch die einheimischen muslimischen Gemeinden (vgl. BFA, Länderinformationsblatt vom 13.06.2022, S. 13 ff.; Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien vom 01.05.2020, S.5 f.). Zudem wird die Gefahr der Obdachlosigkeit auch durch die Möglichkeit abgemildert, in einer Übergangszeit weiter in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (nach Aida, a. a. O., S. 97, nahmen dies Ende 2021 212 anerkannte Schutzberechtigte in Anspruch), die praktisch angesichts der aktuellen Belegungsquote von 53 % (s. oben) gegeben sein dürfte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Die medizinische Versorgung ist in Notfällen kostenfrei und wird im Übrigen durch die staatliche Krankenversicherung mit einem Beitragssystem bei Beschäftigten und einem Mindestbeitrag bei Arbeitslosen gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Potsdam vom 11.03.2021, S. 6). Zweifel an der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse anerkannt Schutzberechtigter ergeben sich insoweit nicht. Einen besonderen medizinischen Behandlungsbedarf hat der Antragsteller nicht geltend gemacht.</td></tr></table><table><tr><td>c)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine Abschiebung des Antragstellers derzeit aufgrund des tatsächlichen Hindernisses einer fehlenden Aufnahmebereitschaft Bulgariens nicht durchgeführt werden kann, so dass offen bleiben kann, ob die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung sich auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG auswirken kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht war, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO bezeichneten Überstellungsfrist eigne, was dazu führt, dass sich jedenfalls das Bundesamt bei einer Entscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht auf eine tatsächliche Unmöglichkeit der Durchführung einer Überstellungsentscheidung berufen kann (EuGH, Urt. v. 22.09.2022 – C-245/21 u. C-248/21 – <MA u. a.>, Rn. 65 u. 70). Ob dies dazu führt, dass § 34a Abs. 1 AsylG unionsrechtskonform auszulegen ist und die Voraussetzung, „sobald feststeht, dass [die Abschiebung] durchgeführt werden kann“, nicht auf die tatsächliche Durchführbarkeit der Überstellung abstellt, braucht hier nicht entschieden zu werden. Denn zwischenzeitliche Annahmen, dass es aufgrund des Zustroms von Flüchtlingen aus der Ukraine an einer Wiederaufnahmebereitschaft Bulgariens fehlen könnte, haben sich nicht in greifbaren Anhaltspunkten niedergeschlagen und sind als überholt anzusehen (so explizit Übersicht Informationsverbund Asyl & Migration vom 01.06.2022, online abrufbar unter: https://www.asyl.net/view/uebersicht-auswirkungen-des-ukraine-krieges-auf-dublin-ueberstellungen, mit weiteren Nachweisen; vgl. auch VG Aachen, Beschl. v. 07.04.2022 – 8 L 123/22.A – juris, S. 23, wonach Bulgarien von ukrainischen Flüchtlingen eher als Transitland angesehen wird; wie hier VG München, Beschl. v. 02.06.2022 – M 10 S 22.50254 – juris, Rn. 25).</td></tr></table><table><tr><td>d)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Soweit der Antragsteller geltend macht, die konkreten Modalitäten der Überstellung nach Bulgarien seien nicht bekannt, ist ein Abschiebungshindernis damit nicht dargelegt. Im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ist ohne konkrete gegenteilige Anhaltspunkte davon auszugehen, dass Bulgarien als zuständiger Mitgliedsstaat seiner Verpflichtung aus Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO nachkommt und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft des Antragstellers treffen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Andere Gründe, die einer Überstellung des Antragstellers im Rahmen des Dublin-Verfahrens entgegenstehen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</td></tr></table><table><tr><td>3.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, da Gerichtskosten nicht erhoben werden (§ 83b AsylG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</td></tr></table></td></tr></table>
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ovgni-2022-09-27-11-me-28422
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11 ME 284/22
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:19"
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Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 5. Kammer - vom 23. September 2022 geändert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (- 5 A 260/22 -) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. September 2022 wird wiederhergestellt, soweit unter</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Ziffer 3 als Ort der Versammlung das Flurstück D., Flur E. (nördlich des Regenrückhaltebeckens), Gemarkung F., G., bestimmt wird, und soweit unter</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Ziffer 7 Satz 1 Plakate, Banner oder ähnliches nicht an öffentlichen Einrichtungen, sowie Bäumen, befestigt werden dürfen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen die teilweise Ablehnung seines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Am 14. September 2022 zeigte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin eine Versammlung an zu den Themen „Keine neue Autofabrik in H. und nirgendwo, Mahnwache gegen I., Utopie statt I., Datum: Ab 22.03. bis 01.04., Ort: Auf dem Feld nördlich des Fahrradwegs, der nach Osten von der J. zwischen WarK. und L. abbiegt“. Als Kundgebungsmittel wurden genannt: Banner, Spruchbänder, Flyertisch, Infomaterial, Bauwagen, Zelte, Pavillon, Komposttoilette, Gaskocher. Die Versammlung wurde für 5 - 50 Teilnehmer angemeldet, die rund um die Uhr an dem Ort, an dem das I. -Werk der M. gebaut werde, präsent sein wollen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Nachdem der Antragsteller klargestellt hatte, dass die Versammlung ab dem 22. September 2022 stattfinden solle, wurde am 20. September 2022 ein Kooperationsgespräch durchgeführt. Mit Bescheid vom selben Tag bestätigte die Antragsgegnerin die vom Antragsteller angemeldete Versammlung und ordnete u.a. die folgenden Auflagen an:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„3. Ort der Versammlung ist das Flurstück D., Flur E. (nördlich des Regenrückhaltebeckens) der Gemarkung H., G.. …</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">7. Plakate, Fahnen, Banner oder ähnliches dürfen nicht an öffentlichen Einrichtungen, sowie Bäumen befestigt werden. Sämtliche Kundgebungsmittel sind zu beaufsichtigen und gegen Wegfliegen zu sichern. Bodenverankerungen sind nicht gestattet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">8. Der Bereich der Versammlung (das Camp) ist zum öffentlichen Straßenraum rücklings durch Sicht- oder Lärmschutzwände abzusichern. …“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">N. …O.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Am 22. September 2022 hat der Antragsteller Klage (5 A 260/22) hinsichtlich der Auflagen in Ziffern 3, 7 und 8 (erster Satz) erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Mit Schriftsatz vom 23. September 2022 hat die Antragsgegnerin erklärt, der letzte Satz der Auflage in Ziffer 7 und Ziffer 8 insgesamt werde gestrichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Auf den ebenfalls am 22. September 2022 eingelegten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller erhobenen Klage wiederhergestellt, soweit in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. September 2022 in Ziffer 7 Satz 3 Bodenverankerungen nicht gestattet wurden und soweit in Ziffer 8 Satz 1 der Bereich der Versammlung (das Camp) zum öffentlichen Straßenraum rücklings durch Sicht- oder Lärmschutzwände abzusichern war; im Übrigen hat das Verwaltungsgericht den Eilantrag abgelehnt. Zugleich hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass der Antragsteller keine vollständigen Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen gemacht habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller hat am 23. September 2022 Beschwerde eingelegt, soweit sein Antrag hinsichtlich Ziffern 3 und 7 abgelehnt worden ist. Zugleich hat er Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingelegt, die der Senat mit Beschluss vom heutigen Tag verworfen hat (11 PA 285/22)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Die gegen Ziffern 3 und 7 Satz 1 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. September 2022 gerichtete Beschwerde ist zulässig und begründet. Die von dem Antragsteller vorgetragenen Beschwerdegründe, auf deren Überprüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen zu einer Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen Ziffern 3 und 7 Satz 1 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. September 2022 in der durch Schriftsatz vom 23. September 2022 geänderten Fassung hat Erfolg, weil sich die in Ziffern 3 und 7 Satz 1 getroffenen Anordnungen nach der im vorliegenden Eilverfahren gebotenen Prüfung der Sach- und Rechtslage voraussichtlich als rechtswidrig erweisen werden und den Antragsteller in seinen Rechten verletzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>1. Es liegt eine Versammlung vor. Nach Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (BVerfG, Beschl. v. 7.3.2011 - 1 BvR 388/05 - juris Rn. 32, m.w.N.). Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird. Der verfassungsrechtliche Schutz ist auch nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen (ständige Rspr., vgl. z.B. BVerfG, Beschl. v. 7.3.2011 - 1 BvR 388/05 - juris Rn. 32, m.w.N.). Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll (vgl. BVerfG, Urt. v. 22.2.2011 - 1 BvR 699/06 - juris Rn. 64). Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen - gegebenenfalls auch mit Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen - am Wirksamsten zur Geltung bringen können (Senatsbeschl. v. 26.8.2020 - 11 LC 251/19 - juris Rn. 40, m.w.N.). Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schützt dabei auch das Interesse des Veranstalters, auf einen Beachtungserfolg nach seinen Vorstellungen zu zielen, also gerade auch durch eine möglichst große Nähe zu dem symbolhaltigen Ort (BVerfG, Beschl. v. 27.6.2022 - 1 BvQ 45/22 - juris Rn. 6, mw.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Ausgehend von diesen Maßstäben fällt die von dem Antragsteller auf dem Feld nördlich des Fahrradwegs zwischen H. und L. geplante Dauermahnwache unstreitig unter den Schutz der Versammlungsfreiheit.Seinen Angaben lässt sich nach objektivem Verständnis ein auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteter kommunikativer Zweck entnehmen (vgl. dazu auch BVerwG, Urt. v. 24.5.2022 - 6 C 9/20 - juris Rn. 17 ff.).Zweck der Dauermahnwache ist es nach seiner Darstellung, an dem Ort präsent zu sein, an dem das I. -Werk gebaut werden soll, um ein Kristallisationspunkt öffentlicher Meinungskundgabe und -bildung zu werden und insbesondere die lokale Bevölkerung anzusprechen. Die Information der Öffentlichkeit über individualverkehrsrelevante Projekte und die Kundgabe der eigenen Meinung dazu gehören zum Schutzbereich des Versammlungsrechts.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>2. Die rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass der von der Antragsgegnerin angeordneten, hier angegriffenen Beschränkungen sind nach summarischer Prüfung nicht gegeben. Gemäß Art. 8 Abs. 2 GG kann das Recht auf friedliche Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Ein solches Gesetz stellt § 8 Abs. 1 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes (NVersG) dar, wonach die zuständige Behörde Beschränkungen zu einer angezeigten Versammlung verfügen kann, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Der Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ umfasst dabei den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Die „unmittelbare Gefährdung“ i.S.d. § 8 Abs. 1 NVersG erfordert eine konkrete Sachlage, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt. Dabei muss die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar, d.h. in zeitlicher Nähe mit dem Stattfinden der Versammlung, gefährdet sein. Erforderlich sind nachweisbare Tatsachen als Grundlage der Gefahrenprognose; bloße Vermutungen reichen nicht (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 - 1 BvR 2793/04 - juris Rn. 19; dasselbe, Beschl. v. 29.3.2002 - 1 BvQ 9/02 - juris Rn. 9, u. Beschl. v. 21.4.1998 - 1 BvR 2311/94 - juris Rn. 27; Wefelmeier, in: NVersG, 2. Aufl., 2020, § 8 Rn. 22, m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Das der zuständigen Behörde durch § 8 Abs. 1 NVersG eingeräumte Entschließungsermessen ist grundrechtlich gebunden. Die Versammlungsfreiheit hat nur dann zurückzutreten, wenn eine Abwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechtes ergibt, dass dies zum Schutz anderer mindestens gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.4.2018 - 1 BvR 3080/09 - juris Rn. 32). Zu beachten ist auch, dass vom Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters nicht die Entscheidung umfasst ist, welche Beeinträchtigungen die Träger der kollidierenden Rechtsgüter hinzunehmen haben. Insofern ist auch zu prüfen, ob das Selbstbestimmungsrecht unter hinreichender Berücksichtigung der gegenläufigen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit ausgeübt worden ist (vgl. BVerfG, Beschl. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 - juris Rn. 63). Rechtsgüterkollisionen können im Rahmen versammlungsrechtlicher Beschränkungen ausgeglichen werden (st. Senatsrspr., siehe z.B. Beschl. v. 19.2.2021 - 11 ME 34/21 - juris Rn. 7, und Beschl. v. 4.6.2021 - 11 ME 126/21 - juris Rn. 9). Maßgeblich sind dabei stets die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte (vgl. BVerfG, Beschl. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 - juris Rn. 64). Wichtige Abwägungselemente sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, evtl. Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit evtl. verhinderter Anliegen, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 - juris Rn 64, m.w.N.). Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema, oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 - juris Rn. 64; Senatsbeschl. v. 4.6.2021 - 11 ME 126/21 - juris Rn. 9; HessVGH, Beschl. v. 30.10.2020 - 2 B 2655/20 - juris Rn. 5). Handelt es dabei um ein sog. Protestcamp, das typischerweise an einem Ort veranstaltet wird, der einen Bezug zu dem jeweils inmitten stehenden Thema hat, und durch seine zeitliche Dauer von einigen Tagen bis in Einzelfällen auch zu mehreren Jahren geprägt wird, erlangen die Rechte Dritter sowie den betroffenen öffentlichen Belangen im Rahmen der Abwägung ein umso höheres Gewicht, je länger ein Protestcamp absehbar dauern wird (BVerwG, Urt. v. 24.5.2022 - 6 C 9/20 - juris Rn. 17, 24).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>In Bezug auf den Ort der Versammlung ist zudem zu berücksichtigen, dass die Versammlungsfreiheit kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten verschafft. Insbesondere gewährt sie dem Bürger keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit - wie beispielsweise Privatgrundstücke - nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird (BVerfG, Urt. v. 22.2.2011 - 1 BvR 699/06 - juris Rn. 69; Senatsbeschl. v. 26.8.2020 - 11 LC 251/19 - juris Rn. 41). Ein Grundstück, das für ein Protestcamp bzw. infrastrukturelle Einrichtungen, die einen inhaltlichen Bezug zu der mit dem Camp bezweckten Meinungskundgabe oder für dieses logistisch erforderlich und ihm räumlich zuzurechnen ist, genutzt wird, unterfällt dem unmittelbaren, durch das Versammlungsgesetz ausgestalteten Schutz durch Art. 8 GG. Dies gilt auch für die im Eigentum der öffentlichen Hand stehende Grundstücksfläche und ein im Eigentum einer Privatperson stehendes Grundstück, auf dem eine solche Nutzung mit Einwilligung des Verfügungsberechtigten stattfindet (BVerwG, Urt. v. 24.5.2022 - 6 C 9/20 - juris Rn. 27, 31, vgl. auch Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 18. Aufl. 2019, Rn. 144 f.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Ausgehend von diesen Grundsätzen ergeben sich durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verlegung der Versammlung auf das Flurstück D., Flur E. (nördlich des Regenrückhaltebeckens), Gemarkung H., durch Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. September 2020 (dazu a)) und an der in Ziffer 7 Satz 1 getroffenen Anordnung, dass Plakate, Fahnen, Banner oder ähnliches nicht an öffentlichen Einrichtungen, sowie Bäumen befestigt werden dürfen (dazu b)).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>a) Die örtliche Verlegung der Versammlungsfläche ist gemäß § 8 Abs. 1 NVersG nur gerechtfertigt, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Errichtung des Protestcamps auf der vom Antragsteller gewünschten Versammlungsfläche unmittelbar gefährdet ist. Erforderlich ist somit - wie erwähnt - eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Nicht auf der Grundlage des § 8 Abs. 1 NVersG werden demgegenüber behördliche Maßgaben erlassen, die nicht eine Abwehr konkret bevorstehender unmittelbarer Gefahren bezwecken, sondern Vorkehrungen für abstrakt gefährliche Tatbestände vorsehen (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 - 1 BvR 2793/04 - juris Rn. 19 zu § 15 Abs. 1 VersG). Nach summarischer Prüfung wird die Verlegung der Versammlung auf das Flurstück D., Flur E. (nördlich des Regenrückhaltebeckens), Gemarkung H., durch Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. September 2020 diesen Anforderungen nicht gerecht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat die von der Antragsgegnerin getroffene Gefahrenprognose und vorgenommene Abwägung für die Änderung des Versammlungsortes mit folgenden Erwägungen unbeanstandet gelassen: Die örtliche Beschränkung der Versammlung stelle eine rechtmäßige Beschränkung der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit des Antragstellers dar. Das ursprünglich vom Antragsteller für die Dauermahnwache vorgesehene Grundstück stehe im Eigentum der Antragsgegnerin und befinde sich im Baufeld für die zu errichtende Autofabrik für das neue P.. Es liege auf der Hand, dass der Antragsteller und die übrigen Kundgebungsteilnehmer mit der Wahl des Kundgebungsortes beabsichtigten, den Fortgang der Bauarbeiten zu stören. Zu Recht weise die Antragsgegnerin in dem Bescheid darauf hin, dass das beabsichtigte Campinglager die Errichtung von Zäunen oder anderen Einrichtungen zur Sicherung der Baustelle an dieser Stelle behindere bzw. verhindere. Soweit sich der Antragsteller darauf berufe, der Bauer habe der Nutzung des von ihm gepachteten Feldes zugestimmt, so sei dem entgegenzuhalten, dass er seine Zustimmung nur bis zum Ablauf seiner Pachtzeit am 30. September 2022 habe erteilen dürfen und er bei einer Zustimmung gegen wesentliche vertragliche Regelungen mit seiner Verpächterin (Verpachtung ausschließlich zu landwirtschaftlichen Zwecken) verstoßen dürfte. Im Übrigen wäre eine solche Zustimmung auch nichtig, weil sie gegen Kerninteressen der Antragsgegnerin (keine Beeinträchtigung des Bauvorhabens) verstoße.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Der Antragsgegner wendet mit seiner Beschwerde zu Recht ein, dass sich hieraus keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ergeben, dass nach den zur Zeit des Erlasses Bescheides vom 20. September 2020 erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Errichtung des Protestcamps auf der vom Antragsteller gewünschten Versammlungsfläche unmittelbar gefährdet wäre. Nach dem - im Beschwerdeverfahren unwidersprochen gebliebenen - Vortrag des Antragstellers befinde sich die Versammlungsfläche derzeit im Eigentum der Antragsgegnerin und bis zum 30. September 2020 im Besitz eines Pächters. Die Antragsgegnerin werde das Grundstück an die M. verkaufen und zu einem unbestimmten Zeitpunkt (vermutlich erst im November) übergeben. Diese zeitlichen Angaben lassen sich mit den Angaben der Antragsgegnerin und mit den über allgemein zugängliche Quellen zu erhaltenden Informationen in Einklang bringen. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Antragserwiderung vom 23. September 2022 (Bl. 71 f., 72 der Gerichtsakte 5 A 260/22) ausgeführt, die beantragte Fläche werde in Kürze (auf jeden Fall innerhalb der Dauer der Anmeldung der Mahnwache) veräußert. Ein entsprechender Beschluss der Vertretung sei bereits erfolgt. Aus diesem Grund werde die Fläche im Verlauf der Dauer der Mahnwache nicht uneingeschränkt der Verfügungsgewalt der Stadt Wolfsburg unterliegen. Es könne daher auch nicht gewährleistet werden, dass die Versammlung für den gesamten Zeitraum auf der gewünschten Fläche bestehen könne. Nach den im Internet von der M. zur Verfügung gestellten Informationen (Q., abgerufen am 27.9.2022) sollen die Bauarbeiten für das neue R. im Jahr 2023 beginnen. Auf der Webseite der Stadt Wolfsburg heißt es, der Spatenstich sei im II. Quartal 2023 geplant, es sei geplant, den Bau des I. -Werks im III. Quartal 2024 abzuschließen, offizieller Produktionsstart des I. sei für 2026 geplant, die ersten Vorserien würden in 2025 gebaut (S., abgerufen am 27.9.2022).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Soweit das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss angenommen hat, das beabsichtigte Campinglager behindere bzw. verhindere die Errichtung von Zäunen oder anderen Einrichtungen zur Sicherung der Baustelle an dieser Stelle (vgl. insoweit auch die Antragserwiderung vom 23. September 2022, Bl. 72 der Gerichtsakte 5 A 260/22), ergibt sich unter Berücksichtigung des dargestellten Zeitrahmens kein greifbarer Anhaltspunkt für eine unmittelbare Gefahr. Wie ausgeführt, steht zunächst die tatsächliche Veräußerung und die Übergabe der Fläche an die M. an. Diese Schritte stehen gegenwärtig nicht unmittelbar bevor, sondern deren Zeitpunkt ist derzeit noch ungewiss. Es ist weder vorgetragen noch für den Senat sonst ersichtlich, dass vor diesen Schritten und damit in unmittelbarer zeitlicher Nähe mit dem Beginn der vom Antragsteller beabsichtigten Versammlung eine Errichtung von Zäunen oder anderen Einrichtungen zur Sicherung der Baustelle ansteht. Insofern besteht derzeit auch kein Anhaltspunkt für die Annahme, das beabsichtigte Campinglager gefährde unmittelbar die Errichtung von Zäunen oder anderen Einrichtungen zur Sicherung der Baustelle an dieser Stelle.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Soweit die Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung angeführt hat (Bl. 71 f., 72 der Gerichtsakte 5 A 260/22), sofern die Versammlung direkt auf dem Bauplatz stattfinde, sei mit einem erheblichen Aufwand an Objektschutz- und Sicherheitsmaßnahmen zu rechnen, die den Baubeginn bzw. -fortschritt massiv verzögern könnten, gilt nichts anderes. Da der Baubeginn zeitlich nach einer Errichtung von Bauzäunen oder anderen Einrichtungen zur Sicherung der Baustelle liegt, besteht derzeit auch kein Anhaltspunkt für die Annahme, das beabsichtigte Campinglager könne einen Baubeginn unmittelbar gefährden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Soweit die Antragsgegnerin ihren Vortrag im Beschwerdeverfahren mit Blick auf die ebenfalls eingereichte polizeiliche Gefährdungseinschätzung vom 23. September 2022 ergänzt hat, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Antragsgegnerin hat dazu in ihrem Schriftsatz vom 26. September 2022 ausgeführt, der Antragsteller sei politisch dem linksorientierten Spektrum zuzuordnen. Er weise einschlägige Erkenntnisse aus dem Bereich der politisch motivierten Kriminalität - Links auf. Die Erkenntnislage erstrecke sich hauptsächlich auf Straftaten im Zusammenhang mit Aktionen der Klimaschutzszene. Das Verhalten des Antragstellers lasse den Schluss zu, dass er mit der angemeldeten Dauermahnwache nicht nur den Baufortschritt am Werk „I.“ behindern, sondern auch gänzlich verhindern wolle. Die Erkenntnisse sprächen dafür, dass die Sicherheit und Ordnung bei Durchführung der Dauermahnwache auf dem Baugelände nicht mehr gewährleistet werden könne. Die Verlegung der Versammlung ca. 50 m nach Westen werde für geeignet und notwendig erachtet, die zur Verhinderung des Neubaus fest entschlossenen Versammlungsteilnehmer so weit auf Distanz zu halten, dass rechtswidrige Blockade- oder ähnliche Aktionen nicht unmittelbar dort stattfänden, wo die Bewegung der Baufahrzeuge und des Personals einsetzen würden. Auch daraus folgt nichts für eine konkret bevorstehende unmittelbare Gefahr. Die Gefahr, dass die Sicherheit und Ordnung bei Durchführung der Dauermahnwache auf dem Baugelände nicht mehr gewährleistet werden kann, setzt zunächst voraus, dass die in Rede stehende Fläche als Baugelände eingerichtet wird. Wie ausgeführt, steht dies nach summarischer Prüfung nicht mit einer ausreichenden zeitlichen Nähe zum Beginn der Versammlung an. Der Senat verkennt dabei nicht, dass die Ausübung der Versammlungsfreiheit keine Rechtfertigung für strafbares oder ordnungswidriges Verhalten gibt. Gleichwohl liegen auch bei Berücksichtigung des Vorbringens der Antragsgegnerin keine hinreichend bestimmten Anhaltspunkte dafür vor, dass bzw. welche entsprechenden Verhaltensweisen der Antragsteller in unmittelbar zeitlicher Nähe mit dem Beginn der Versammlung an den Tag legen wird. Eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit ist auf der Grundlage des bisherigen Vortrags der Antragsgegnerin derzeit nicht gerechtfertigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Die weiteren Angaben in der Gefährdungseinschätzung der Polizeiinspektion T. vom 23. September 2022 führen zu keiner anderen Beurteilung. Die Polizeiinspektion T. führt in ihrer Gefährdungseinschätzung vom 23. September 2022 weiter aus, der Umstand, dass der Bau des neuen Werks voraussichtlich erst um das Datum des 1. April 2023 konkret beginnen werde („Spatenstich“), lasse die Gefahren nicht entfallen, denn die polizeiliche Erfahrung zeige, dass insbesondere der Ausbau des begehrten Areals in einer solchen Art zu besorgen sei, dass es im Falle der Notwendigkeit, etwa zum konkreten Baustart, nur mit ganz erheblichem Aufwand noch möglich sein werde, Einrichtungen der Dauermahnwache einschließlich des protestierenden Potentials an Aktivisten mit einem vertretbaren Aufwand und zudem unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu entfernen und zu zerstreuen. Auch unter Berücksichtigung dieser Aussagen ist weder hinreichend dargelegt noch sonst für den Senat zu erkennen, dass der bei einer Nutzung des vom Antragsteller gewünschten Grundstücks möglicherweise zeitnah zu besorgende „Ausbau des … Areals“ für sich genommen bereits eine unmittelbare, durch § 8 Abs. 1 NVersG abzuwendende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung begründet. Soweit in der Gefährdungseinschätzung der Polizeiinspektion T. vom 23. September 2022 wiederum von Maßnahmen zu einem späteren Zeitpunkt, etwa zum konkreten Baustart, ausgeführt wird, fehlt es abermals an der für eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit erforderlichen hinreichenden zeitlichen Nähe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Im Übrigen und ohne dass es hierauf noch entscheidungserheblich ankommt, bestehen auch Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der von der Antragsgegnerin ergriffenen Maßnahme. Die Antragsgegnerin hat nicht dargelegt, dass mildere Mittel nicht in Betracht kommen. Aus Sicht des Senats wäre etwa an eine zeitliche Beschränkung des Protestcamps am vom Antragsteller gewünschten Standort und/oder an Auflagen zur Absicherung der Tätigkeiten in dem Protestcamp selbst zu denken (zu einem solchen Fall auch etwa OVG MV, Urt. v. 7.9.2021 - 1 L 9/12 - juris Rn. 91 ff.; s. auch VG A-Stadt, Beschl. v. 14.9.2020 - 4 L 3000/20.GI - juris Rn. 67 ff.). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass bei Verstößen gegen Auflagen einschneidendere Maßnahmen bis hin zur Auflösung einer Versammlung zulässig werden können (vgl. dazu OVG SH, Beschl. v. 12.9.2022 - 4 MB 33/22 - juris Rn. 17 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Der Senat merkt ergänzend an, dass sich nach summarischer Prüfung der Sachstand anders darstellt, sobald die in Rede stehende Grundstücksfläche an die M. veräußert ist. Denn danach wird die weitere Grundstücksnutzung durch den Antragsteller von einer Zustimmung der neuen Eigentümerin abhängen. Der Antragsgegnerin bleibt es vorbehalten, das angemeldete Protestcamp gemäß § 8 Abs. 1 NVersG in Umfang und zeitlicher Dauer aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ggfls. zu begrenzen und mit Auflagen zu versehen. Der Antragsgegnerin ist dabei ein Ermessensspielraum eingeräumt (vgl. HessVGH, Beschl. v. 11.9.2020 - 2 B 2254/20 - juris Rn. 23).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>b) Die in Ziffer 7 Satz 1 getroffenen Anordnung, Plakate, Fahnen, Banner oder ähnliches nicht an öffentlichen Einrichtungen, sowie Bäumen zu befestigen, findet ebenfalls nicht in § 8 Abs. 1 NVersG ihre Grundlage. Es fehlt nach summarischer Prüfung an der Verhältnismäßigkeit, namentlich der Erforderlichkeit der Maßnahme.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat hierzu in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt, hier sei die lange Dauer des Protestcamps in den Blick zu nehmen, Bäume könnten durch die übermäßige Nutzung durch die Versammlungsteilnehmer beeinträchtigt werden. Der Antragsteller wendet hiergegen in nachvollziehbarer Weise ein, insbesondere wenn am Baumstamm eine Schutzmatte angebracht werde, könne eine mit Seilen befestigte, geöste Plane rückstands- und beschädigungsfrei angebracht werden. Dem folgt der Senat nach summarischer Prüfung. Vor dem dargelegten Hintergrund spricht nichts dafür, dass die getroffene Anordnung eines vollständigen Verbots, Plakate, Fahnen, Banner oder ähnliches an öffentlichen Einrichtungen, sowie Bäumen, zu befestigen, zu deren Schutz notwendig ist und mildere Mittel - wie etwa die Auflage, die genannten Hilfsmittel nur so an öffentlichen Einrichtungen sowie Bäumen zu befestigen, dass diese nicht beschädigt werden - nicht zur Verfügung stehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Dabei ist es gerechtfertigt, der Antragsgegnerin die gesamten Kosten auch des erstinstanzlichen Verfahrens aufzuerlegen. Denn die Antragsgegnerin ist im Beschwerdeverfahren - also hinsichtlich des Teils, hinsichtlich dessen das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers abgelehnt und ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt hatte - vollständig unterlegen. Im Übrigen hatte das Verwaltungsgericht dem Antrag des Antragstellers stattgegeben und der Antragsgegnerin die Verfahrenskosten auferlegt bzw. hatte diese selbst abgeholfen, so dass auch unter Berücksichtigung dessen ihr die Verfahrenskosten aufzuerlegen wären.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG und folgt den Empfehlungen in Ziffer 45.4 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11; siehe dazu ausführlich: Senatsbeschl. v. 8.7.2022 - 11 OA 61/22 - juris Rn. 5 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, da der Antragsteller die Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse entgegen § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und Abs. 4 ZPO nicht vollständig ausgefüllt hat. Gemäß § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO sind dem Antrag eine Erklärung der Partei über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen. Soweit dazu vom zuständigen Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ein Formular eingeführt wurde, muss sich die Partei dieses Formulars bedienen (§ 117 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 ZPO). Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von dieser Ermächtigung durch Erlass der Verordnung zur Verwendung eines Formulars für die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- und Verfahrenskostenhilfe (- PKHFV - VO v. 6.1.2014, BGBl. I 34) Gebrauch gemacht (vgl. Reichling, in: Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, Stand: 1.7.2022, § 117 Rn. 36). Entsprechend diesen Vorgaben hat der Antragsteller auch das richtige Formular genutzt, er hat es jedoch entgegen der gesetzlichen Vorgaben nicht vollständig ausgefüllt. Ist der Vordruck in wesentlichen Punkten unvollständig ausgefüllt und können die Lücken auch nicht durch beigefügte Anlagen, die vergleichbar übersichtlich und klar sind, geschlossen werden, ist der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen (vgl. BFH, Urt. v. 17.1.2001 - XI B 76-78/00 - juris Rn. 8; OVG NW, Beschl. v. 25.5.2016 - 18 A 2206/12 - juris Rn. 9). So liegt der Fall hier, da der Antragsteller insbesondere im Abschnitt B, C, D keinerlei und im Abschnitt E und G des Formulars nur unvollständige Angaben gemacht hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller kann sich in diesen Zusammenhang zunächst nicht auf Unkenntnis berufen, weil er anwaltlich vertreten ist. Zudem muss sich ein Antragsteller über die Voraussetzungen einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe selbst kundig machen (BFH, Beschl. v. 8.3.2016 - V S 9/16 [PKH] - juris Rn. 10).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller war auch nicht deshalb von dem vollständigen Ausfüllen des Formulars befreit, weil er - wie er insofern durch Vorlage eines Bescheids des Jobcenters vom 10. September 2021 glaubhaft gemacht hat - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezieht. Eine vereinfachte Erklärung der Abschnitte E bis J des Formulars ist nur im Fall des Bezugs von Leistungen nach dem SGB XII möglich (§ 2 Abs. 2 PKHFV, siehe auch den entsprechenden Hinweis in dem vom Antragsteller genutzten Formular vor Abschnitt E, S. 2). Auch eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 2 PKHFV zugunsten von Antragstellern, die Leistungen nach dem SGB II beziehen und darüber - wie der Antragsteller - einen Bewilligungsbescheid vorlegen, scheidet mangels vergleichbarer Interessenlage aus (BFH, Beschl. v. 8.3.2016 - V S 9/16 [PKH] - juris Rn. 9; SächsOVG, Beschl. v. 7.1.2020 - 6 D 70/19 - juris Rn. 7). Ein Bescheid über Leistungen nach dem SGB II gibt nämlich nicht in vergleichbarer Weise wie ein Bescheid über Leistungen nach dem SGB XII Aufschluss über die Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe, da das Recht der Prozesskostenhilfe an das SGB XII anknüpft und die Anspruchsvoraussetzungen nach dem SGB II und nach dem SGB XII voneinander abweichen (BFH, Beschl. v. 8.3.2016 - V S 9/16 [PKH] - juris Rn. 9; SächsOVG, Beschl. v. 7.1.2020 - 6 D 70/19 - juris Rn. 7). Folglich sind auch Empfänger von Leistungen nach dem SGB II - wie sämtliche sonstigen Antragsteller von Prozesskostenhilfe - verpflichtet, das Formular vollständig auszufüllen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 19.6.2020 - 12/19 - juris Rn. 12; SächsOVG, Beschl. v. 7.1.2020 - 6 D 70/19 - juris Rn. 7). Im Übrigen gilt auch die Befreiung für Empfänger von Leistungen nach dem SGB XII, wie in dem Hinweis auch ausdrücklich angeführt, nicht für die - vom Antragsteller ebenfalls nicht ausgefüllten - Abschnitte B, C und D des Formulars.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Soweit der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung vom 23. September 2022 ausführt, dass der Abschnitt G ausgefüllt sei, weil er Angaben zu seinen Konten (G 1.) sowie vorhandenem Bargeld (G 4.) gemacht habe und sich daraus „im Umkehrschluss“ ergebe, dass „andere Vermögenswerte nicht vorhanden“ seien, kann ihm nicht gefolgt werden. Denn aus dem vom Antragsteller angegebenen Umstand, dass er über ein Bankkonto mit dem angegebenen Kontostand sowie Bargeld in der angegebenen Höhe verfügt, lässt sich gerade nicht der sichere Rückschluss ziehen, dass der Antragsteller z.B. kein Kraftfahrzeug, keine Lebens- oder Rentenversicherung und keine sonstigen Vermögenswerte hat. Auch die Frage in Abschnitt B nach dem Vorliegen einer Rechtsschutzversicherung bzw. einer Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die die Kosten der Prozess- oder Verfahrensführung übernehmen könnte, hat der Antragsteller vollständig unbeantwortet gelassen, ohne dass diese Lücken anhand der von ihm getätigten Angaben vergleichbar übersichtlich und klar gefüllt werden könnten. Da der Antrag des Antragstellers damit bereits durch diese fehlenden bzw. in Bezug auf den Abschnitt G unvollständigen Angaben in wesentlichen Punkten unvollständig ausgefüllt ist, kommt es auch nicht mehr entscheidungserheblich auf die Frage an, ob man - wie der Antragsteller meint - in Bezug auf die von ihm im Abschnitt E ausschließlich zum Bezug von Arbeitslosengeld II getätigten Angaben den berechtigten Umkehrschluss ziehen kann, dass der Antragsteller keine weiteren Bruttoeinnahmen hat.</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007260&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,818
vg-koln-2022-09-27-7-k-181419
{ "id": 844, "name": "Verwaltungsgericht Köln", "slug": "vg-koln", "city": 446, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
7 K 1814/19
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-10-05T10:02:04"
"2022-10-17T11:10:48"
Urteil
ECLI:DE:VGK:2022:0927.7K1814.19.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht das beklagte Versorgungswerk Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wendet sich gegen die Verrechnung eingegangener Zahlungen an die Beklagte.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist Pflichtmitglied bei der Beklagten. Er gehört einer Partnergesellschaft als Gesellschafter an.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Gesellschaft zahlte für den Kläger an den Beklagten am 30.11.2017 insgesamt 12.993,12 Euro. Die Summe wurde auf sechs verschiedene Überweisungen in Höhe von 3.600,00 Euro, 3.600,00 Euro, 1.349,52 Euro, 1.357,68 Euro, 1.768,80 Euro und 1.317,12 Euro aufgeteilt. In dem Verwendungszweck war jeweils „Ausgleich des Mitgliedsbeitrags“ sowie eine Jahreszahl angegeben.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 30.11.2017 erklärte der Kläger gegenüber der Beklagten, die Zahlungen sollten als Zahlung auf die Beitragsschuld mit dort angegebener Tilgungsbestimmung vorgenommen werden, nämlich 3.600,00 Euro: Ausgleich des Mitgliedsbeitrags 2017; 3.600,00 Euro: Ausgleich des Mitgliedsbeitrags 2016; 1.349,52 Euro: Ausgleich des Mitgliedsbeitrags 2015; 1.357,68 Euro: Ausgleich des Mitgliedsbeitrags 2014; 1.768,80 Euro: Ausgleich des Mitgliedsbeitrags 2013; 1.317,12 Euro: Ausgleich des Mitgliedsbeitrags 2012.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 05.01.2018 (Kontostandsanzeige mit Festsetzung von Verzugszinsen) teilte die Beklagte mit, dass zum 31.12.2017 Beitragsrückstände inklusive Verzugszinsen in Höhe von 49.391,94 Euro bestünden. Aus der Anlage ist ersichtlich, dass auf diese Forderung die eingegangene Zahlung in Höhe von 12.993,12 Euro angerechnet worden ist. Das ausgewiesene Gesamtsaldo betrug danach 36.398,82 Euro.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Unter dem 19.02.2018 übersandte die Beklagte eine Bescheinigung über entrichtete Mitgliedsbeiträge im Jahr 2017 und wies dort eine Zahlung von insgesamt 4.066,94 Euro aus.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 12.03.2019 richtete sich der Kläger an die Beklagte und forderte die Anrechnung der gesamten Zahlung auf die Beiträge.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 18.03.2019 erklärte die Beklagte: Der Betrag in Höhe von 12.003,12 Euro sei zwar eingegangen, Kosten und Verzugszinsen seien jedoch keine Beiträge. Kosten und Verzugszinsen würden nach § 367 BGB zuerst verrechnet.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Am 22.03.2019 hat der Kläger Klage erhoben.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt er vor:</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte sei nicht berechtigt, die den Betrag von 4.066,94 Euro übersteigenden Zahlungen nach § 367 BGB auf Kosten und Zinsen anrechnen zu dürfen. § 33 Abs. 4 Satz 1 der Satzung der Beklagten bestimme, dass Zahlungen gemäß § 366 Abs. 2 BGB zu tilgen seien. § 366 Abs. 2 BGB regele die Reihenfolge der Verrechnung auf mehrere Schulden. Gemeint seien dort Hauptschulden, also nicht Zinsen und Kosten, die in § 367 BGB geregelt seien. Erst wenn die Schulden getilgt seien, komme überhaupt eine Verrechnung auf Zinsen und Kosten in Betracht. Zwar regele § 367 Abs. 1 Satz 1 BGB zivilrechtlich auch die Konkurrenz von Kosten und Zinsen zur Hauptschuld. § 367 Abs. 1 BGB werde als beitragsrechtliche Verrechnungsregel in § 33 Abs. 6 der Satzung aber nur wegen der Säumniszuschläge, Zinsen und Kosten, nicht aber wegen der Hauptschuld in Bezug genommen. Bei der Verwendung der Überweisungen handele es sich um Valuta, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung der Rentenanwartschaft des Klägers zu Gute gekommen wären. Rentenanwartschaften seien wegen ihrer Eigenschaft als Rentenstammrecht immer unpfändbar (BGH, Beschluss vom 21.11.2002, IX ZB 85/02). Daher seien auch Zahlungen, die durch Gutschrift auf dem Konto der Beklagten eingingen und nur durch Zubuchung auf dem Beitragskonto für die Rentenanwartschaft verwendet werden könnten, gegenüber anderen Forderungen privilegiert. Diesem Gedanken trage § 33 Abs. 6 Rechnung. Mit der nur eingeschränkten Verweisung habe eine Ausnahme geschaffen werden müssen, um der Unpfändbarkeit von Rentenanwartschaften einschließlich der zum Aufbau von Rentenanwartschaften in den Verfügungsbereich des Versorgungswerkes gelangten Zahlungen gerecht zu werden. Die von § 367 Abs. 1 BGB am Ende geregelte Zahlung auf die Hauptleistung sei von der Verweisungsregelung des § 33 Abs. 6 der Satzung nicht erfasst, da der Begriff „Hauptleistung“ anders als in der gesetzlichen Regelung des § 367 Abs. 1 BGB im Wortlaut der Satzung nicht vorkomme. Die Satzung verweise wegen der Hauptleistung eben gerade nicht auf § 367 BGB, sondern nur wegen Säumniszuschlag, Zinsen und Kosten. Hätte der Satzungsgeber mit der Verweisung die gesamte Vorschrift des § 367 Abs. 1 BGB in Bezug nehmen wollen, sei die Verweisung überflüssig gewesen, weil dann § 367 BGB ohne Verweisung gegolten hätte. Zahlungen auf Hauptleistungen dürften daher nicht nach § 367 BGB verrechnet werden. Die Verrechnung wäre nur zulässig gewesen, wenn der Kläger keine Tilgungsbestimmung vorgenommen hätte. Diese sei jedoch durch das Schreiben vom 30.11.2017 sowie dem Überweisungstext selbst durch den Kläger erfolgt. Da die Beklagte die Tilgungsbestimmung ohne Widerspruch entgegengenommen habe, habe sie eine Tilgungsvereinbarung mit dem Kläger geschlossen. Nur wegen der Tilgungsbestimmung sei die Überweisung nicht in einem Gesamtbetrag erfolgt. Auch sei die Zahlung von einem unbeteiligten Dritten, der Partnerschaft, vorgenommen worden, die nicht der Satzung der Beklagten unterliege. Mit der Entgegennahme der Überweisungsvaluta eines Dritten habe die Beklagte die Tilgungsbestimmung akzeptiert. Andernfalls hätte sie die Valuta an den Dritten zurückzahlen müssen. Außerdem werde bestritten, dass bei Erhalt der Zahlung am 01.12.2017 ein Betrag von 8.866,18 Euro an Zinsen und Kosten offen gewesen sei. Denn eine Verzugszinsfestsetzung für die Zeit vom 30.04.2015 bis 30.11.2017 habe nicht stattgefunden. Die von dem Beklagten monatlich versandten Zinsinformationen seien trotz der Rechtsbehelfsbelehrung keine Verwaltungsakte, da ihnen der Regelungscharakter fehle. Die Zinsforderung sei auch ihrer Höhe nach unzulässig. Über § 12 KAG sei die Abgabenordnung entsprechend anwendbar. Der Zinssatz übersteige den angemessenen Rahmen. Dies führe im Ergebnis auch zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Beklagten.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">festzustellen, dass der Kläger an die Beklagte im Jahre 2017 über den bescheinigten Mitgliedsbeitrag in Höhe von 4.066,94 Euro hinaus weitere Mitgliedsbeiträge in Höhe von 8.866,18 Euro, insgesamt also 12.993,12 Euro gezahlt hat.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">              die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt sie vor:</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei bereits unzulässig. Bei der Bescheinigung vom 19.02.2018 handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt. Wenn sie einen Verwaltungsakt darstellte, so hätte der Kläger die zwölfmonatige Klagefrist verpasst und dem Feststellungsbegehren stehe § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO entgegen. Zum 30.11.2017 seien Verzugszinsen in Höhe von 8.734,60 Euro, festgesetzt vom 30.04.2015 bis 30.11.2017, offen gewesen. Darüber hinaus seien Vollstreckungskosten in Höhe von 191,58 Euro im Kalenderjahr angefallen. Die Verrechnung stimme mit den Satzungsvorgaben aus § 33 Abs. 6 der Satzung überein. Da danach das Bestimmungsrecht des Schuldners entfalle, seien nicht zunächst die Beitragsschulden zu tilgen. Nebenforderungen entständen nicht zwangsläufig. Auch würden nur Teile der zivilrechtlichen Regelungen für anwendbar erklärt. Eine konkludente Tilgungsvereinbarung sei mit den Satzungsbestimmungen des § 33 Abs. 4 und Abs. 6 nicht vereinbar. Bestimmungsrechte Dritter seien in der Rechtsbeziehung zwischen den Parteien nicht denkbar. Schuldner aller Zahlungen sei in der Rechtsbeziehung der Klageparteien das Mitglied. Nur zu diesem bestehe eine Rechtsbeziehung. Zahlungen Dritter stellten sich als Zahlungen des Mitglieds dar.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Verwaltungsvorgänge verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 VwGO zulässig. Das Begehren des Klägers, die Höhe der von ihm gezahlten Mitgliedsbeiträge im Jahr 2017 zu bescheinigen, ist gerichtet auf die Feststellung über das Bestehen eines Rechtsverhältnisses. Dieses Begehren kann der Kläger nicht durch die vorrangige Verpflichtungsklage (§ 42 VwGO) verfolgen, da es für einen solchen Verwaltungsakt in der maßgeblichen Satzung der Beklagten keine Ermächtigungsgrundlage gibt. Eine verbindliche Feststellung der gezahlten Beiträge sieht die Satzung erst mit einem Beitreibungs- oder Verzugszinsfestsetzungsbescheid vor. Das Gericht erkennt das Feststellungsinteresse des Klägers darin, eine verbindliche Feststellung der eingezahlten Beiträge zu erhalten, bevor es zur Beitreibung oder Verzugszinsfestsetzung kommt.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat indessen keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung, da er keine Beiträge in der geltend gemachten Höhe geleistet hat.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Unstreitig ist bei der Beklagten am 30.11.12.2017 eine Zahlung in Höhe von 12.993,12 Euro eingegangen, den die Partnergesellschaft des Klägers für den Kläger, aufgeteilt auf bestimmte Teilbeträge und versehen mit unterschiedlichen Überweisungszwecken, geleistet hat.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Beklagten stand in diesem Zeitpunkt eine Verzugszinsforderung in Höhe von 8.734,60 Euro sowie Vollstreckungskosten in Höhe von 191,58 Euro zu.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Verzugszinsforderung ergibt sich aus den bestandskräftigen Verzugszinsfestsetzungsbescheiden, die vom 06.05.2015 bis einschließlich 14.12.2017 ergangen sind. Die Bescheide und deren Inhalt hat die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 05.06.2019 jeweils mit der entsprechenden Fundstelle im Verwaltungsvorgang zutreffend aufgeführt.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger geltend gemachten Zweifel an der Verwaltungsaktqualität der jeweiligen Bescheide teilt das Gericht nicht. Insbesondere entfalten die Bescheide eine Regelungswirkung, indem sie verbindlich die Höhe der Verzugszinsen festsetzen, § 35 Satz 1 VwVfG NRW. Dies ergibt sich bereits aus dem eindeutigen Wortlaut der Bescheide („hiermit festgesetzte Verzugszinsen“) sowie der Überschrift („Kontostandsanzeige mit Festsetzung von Verzugszinsen“) und der äußeren Form, namentlich der Rechtsbehelfsbelehrung. Die Bescheide sind bestandskräftig.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens (§ 52 VwVfG) oder eine Nichtigkeit der jeweiligen Verwaltungsakte (§ 44 VwVfG) bestehen nicht. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus der geltend gemachten Höhe der Verzugszinsen. Diese mag zur Rechtswidrigkeit der Bescheide führen,</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Köln, Urteil vom 13.10.2020 – 7 K 4569/17 – juris Rn 29 f.; a.A. VG Düsseldorf, Urteil vom 19.08.2015 – 20 K 63/15 juris Rn 67,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">begründet aber keine Nichtigkeit. Einen besonders schwerwiegenden, offensichtlichen Fehler (§ 44 Abs. 1 VwVfG) oder einen Verstoß gegen die guten Sitten (§ 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG) vermag das Gericht in einer möglicherweise überhöhten Verzugszinsfestsetzung nicht zu erkennen. Der Kläger hätte diesen Einwand im Rahmen eines Klageverfahrens geltend machen können und müssen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte durfte die eingegangene Zahlung auch in der erfolgten Weise auf ihre Zins- und Vollstreckungsforderungen anrechnen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Das Beitragsverfahren ist in § 33 der Satzung der Beklagten geregelt. Nach § 33 Nr. 6 Satz 6 der Satzung werden Säumniszuschlag, Zinsen und Kosten entsprechend § 367 Abs. 1 BGB getilgt. Nach § 367 Abs. 1 BGB wird eine zur Tilgung der ganzen Schuld nicht ausreichende Leistung zunächst auf die Kosten, dann auf die Zinsen und zuletzt auf die Hauptleistung angerechnet, wenn der Schuldner außer der Hauptleistung Zinsen und Kosten zu entrichten hat.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung des Klägers ist die damit niedergelegte Tilgungsreihenfolge durch die Satzung auch für den Fall anzuwenden, in welchem ein Mitglied nicht nur offene Kosten und Zinsen, sondern auch eine offene Beitragsforderung zu begleichen hat.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger geltend macht, die Satzung verweise nur hinsichtlich der Tilgung von Säumniszuschlag, Zinsen und Kosten auf § 367 Abs. 1 BGB, folgt das Gericht dem nicht. Der Wortlaut des § 33 Nr. 6 Satz 4 der Satzung steht dem nicht entgegen. § 33 Nr. 6 Satz 4 sieht für die Tilgung eine „entsprechende“ Geltung des § 367 Abs. 1 BGB vor. Damit ist bereits zum Ausdruck gebracht, dass die in Bezug genommene Regelung des BGB unter Berücksichtigung des Systems der Satzung der Beklagten gilt. Für ein solches Verständnis spricht auch die Systematik der Satzung. So verweist der vorangehende § 33 Abs. 4 der Satzung für den Fall des ausschließlichen Beitragsrückstandes auf § 366 Abs. 2 BGB. Der Fall, in welchem entweder nur Zinsen, Kosten und Säumniszuschläge oder Beiträge und vorgenannten Forderungen offen sind, ist vom nachfolgenden § 33 Abs. 6 der Satzung erfasst. Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Tilgungsreihenfolge kann der Verweis nur so verstanden werden, dass nicht nur die Tilgungsreihenfolge zwischen rückständigen Zinsen und Kosten, sondern auch zwischen Zinsen, Kosten, Säumniszuschlägen und der Hauptleistung, oder im System der Beklagten, Beiträgen, geregelt werden soll. Dies ist auch primärer Inhalt von § 367 Abs. 1 BGB, dessen Regelung die Beklagte aufnehmen wollte. Denn die Beklagte hat im Interesse der Solidargemeinschaft ein erkennbares Interesse daran, dass zunächst die rückständigen Zinsen und Kosten getilgt werden, bevor eingegangene Zahlungen auf Beiträge angerechnet werden.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dem steht auch nicht die vom Kläger angeführte Unpfändbarkeit von Rentenanwartschaften entgegen. Das Gericht vermag in einer bloßen Zahlung an das Versorgungswerk schon keine Rentenanwartschaft erkennen. Nicht jede Zahlung, die potentiell als Beitrag gewertet werden und infolgedessen eine Rentenanwartschaft begründen kann, ist bereits als Rentenanwartschaft zu betrachten. Wäre dies der Fall, dürfte die Beklagte nie eine Vollstreckung in das Vermögen der Mitglieder betreiben, weil jedes Zahlungsmittel ein potentieller Beitrag und damit eine potentielle Rentenanwartschaft wäre. Dies ist ersichtlich nicht gewollt.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Anrechnung durch die Beklagte steht auch nicht die vom Kläger vermeintlich getroffene Tilgungsbestimmung entgegen. Das Bestimmungsrecht des Klägers ist nach § 33 Nr. 6 Satz 7 der Satzung ausdrücklich ausgeschlossen. Für die vom Kläger angenommene konkludente Tilgungsvereinbarung durch stillschweigende Entgegennahme der Zahlung fehlt es erkennbar am Geschäftswillen der Beklagten. Der Kläger kann nicht davon ausgehen, dass die Beklagte die einseitig gesetzten Bedingungen jedes Zahlungseingangs akzeptiert, es sei denn, dass sie widerspricht. Eine solche Praxis ist vor dem Hintergrund der genannten Satzungsbestimmung und der sonstigen, dem Kläger im Übrigen vertrauten Praxis der Tilgungsvereinbarungen zwischen der Beklagten und dem jeweiligen Mitglied ausgeschlossen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Situation stellt sich nicht anders dar, weil die Zahlung von einem Dritten geleistet wurde. Leistet ein Dritter erkennbar für ein Mitglied eine Zahlung an das Versorgungswerk, darf die Beklagte die Zahlung wie eine Zahlung durch das Mitglied behandeln und dem folgend auch den satzungsrechtlichen Bestimmungen unterwerfen. Innerhalb der Rechtsbeziehung zwischen dem Versorgungswerk und dem Mitglied ist für einen Dritten kein Raum. Dies ist auch vor der erheblichen Gefahr von Umgehungsgeschäften geboten. Ansonsten stünde es jedem Mitglied frei, die satzungsrechtlichen Vorschriften auszuhebeln, indem ein Dritter, womöglich wie vorliegend sogar das Mitglied selbst durch eine Partnergesellschaft des Mitglieds, die Zahlungen vornimmt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p> <span class="absatzRechts">42</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p> </li> <li><span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">8.886,18 €</span></strong></p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
346,784
lagham-2022-09-27-10-sa-22922
{ "id": 794, "name": "Landesarbeitsgericht Hamm", "slug": "lagham", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Arbeitsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
10 Sa 229/22
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-10-01T10:01:24"
"2022-10-17T11:10:44"
Beschluss
ECLI:DE:LAGHAM:2022:0927.10SA229.22.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 18.01.2022 - 4 Ca 931/21 - wird kostenpflichtig als unzulässig verworfen.</strong></p> <p><strong>Die Revisionsbeschwerde wird zugelassen.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>A.</strong>              Die Parteien streiten über das Bestehen eines Provisionsanspruchs.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger war in der Zeit vom 03.02.2020 bis zum 28.02.2021 bei der Beklagten als kaufmännischer Angestellter im Vertrieb beschäftigt.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit der am 21.06.2021 beim Arbeitsgericht Gelsenkirchen eingegangenen Klage hat der Kläger Zahlung von Provisionen in Höhe von 1.417,40 EUR brutto verlangt und sich dazu auf eine mündliche Provisionsvereinbarung berufen, die er mit dem Ehemann der Geschäftsführerin der Beklagten geschlossen hätte.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat das Vorliegen einer Provisionsvereinbarung sowie auch die entsprechende Vollmacht des Ehemanns der Geschäftsführerin bestritten.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Arbeitsgericht hat der Klage vollumfänglich stattgegeben. Nach Durchführung einer Parteivernehmung ist es zu der Würdigung gelangt, der Kläger habe mit dem Ehemann der Geschäftsführerin eine mündliche Provisionsabrede getroffen, die sich die Beklagte jedenfalls nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht zurechnen lassen müsse.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses ihr am 28.01.2022 zugestellte Urteil vom 18.01.2022 hat die Beklagte durch den Arbeitgeberverband A e.V. vorab per Telefax am 24.02.2022 und später per Originalschriftsatz Berufung beim Landesarbeitsgericht Hamm eingelegt. Der Berufungsschriftsatz wurde ausdrücklich kenntlich gemacht als von „Syndikusrechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht“ B. stammend (vgl. Bl. 53 d.A.). Ein elektronischer Eingang der Berufung auf sicherem Übermittlungsweg per besonderem elektronischen Anwaltspostfach erfolgte indes nicht.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsbegründung wurde ebenfalls per Telefax sowie durch Originalschriftsatz, eingereicht, nicht jedoch auf elektronischem Weg.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Bereits mit Schriftsatz vom 04.05.2022 rügte der Kläger die Zulässigkeit der Berufung; das Landesarbeitsgericht unterbreitete daraufhin den Parteien unter dem 12.05.2022 einen Vergleichsvorschlag nach § 278 Abs. 6 ZPO und verwies in der erläuternden Begründung ebenfalls auf die ungeklärte Problematik der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für die als Vertreter des Arbeitgeberverbandes auftretenden Syndikusrechtsanwälte.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Erneut mit Hinweis vom 30.08.2022 wies das Landesarbeitsgericht darauf hin, dass über die Zulässigkeit der Berufung nunmehr durch Beschluss entschieden werden sollte, da es zu der Rechtsauffassung neige, eine aktive Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für Syndikusrechtsanwälte zu bejahen und gab den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><strong>B.</strong>              Die Berufung war mangels formwirksamer Einlegung als unzulässig zu verwerfen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong>              Für den auf Seiten der Beklagten als Prozessbevollmächtigten auftretenden Arbeitgeberverband A e.V. hat Syndikusrechtsanwalt B. am 24.02.2022 Berufung beim Landesarbeitsgericht Hamm eingelegt, diese allerdings lediglich in Papierform übermittelt.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong>              Die Einlegung der Berufung erfolgte nicht formwirksam.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Seit dem 01.01.2022 war der für den Arbeitgeberverband handelnde Syndikusrechtsanwalt jedoch gemäß §§ 64 Abs 6 ArbGG, § 519 Abs. 4 ZPO i.V.m.    §§ 46g, 46c ArbGG verpflichtet, das für ihn eingerichtete besondere elektronische Anwaltspostfach (im Folgenden beA) zu nutzen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong>              Gemäß § 46g Satz 1 ArbGG sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln (sog. aktive Nutzungspflicht). Näheres zur Ausgestaltung des elektronischen Dokuments regelt § 46c ArbGG. Für die Rechtsanwaltschaft ist dazu als sog. sicherer Übermittlungsweg i.S.d. § 46c Abs. 4 Nr. 2 ArbGG zur aktiven Nutzung des Elektronischen Rechtsverkehrs (im Folgenden ERV) nach § 31a BRAO das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), für die Behörden und öffentlich-rechtlichen Körperschaften i.S.d. § 46c Abs. 4 Nr. 3 ArbGG das besondere elektronische Behördenpostfach (im Folgenden beBPO) eingerichtet.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong>              Gemäß § 46g Satz 2 ArbGG gilt die gleiche Verpflichtung zur Übermittlung elektronischer Dokumente auch für die nach diesem Gesetz, mithin dem ArbGG, vertretungsberechtigten Personen, sofern ein sicherer Übermittlungsweg nach § 46c Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 zur Verfügung steht.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Zu den davon erfassten, im arbeitsgerichtlichen Verfahren vertretungsberechtigten Personen gehört unbestritten gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ArbGG auch der hier für die Beklagte auftretende Arbeitgeberverband.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Für die Verbände gibt es allerdings derzeit noch keinen zwingend zu verwendenden sicheren Übermittlungsweg, da das besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach (im Folgenden eBO) zum einen zum hier streitgegenständlichen Zeitpunkt der Berufungseinlegung technisch noch nicht funktionsfähig war und dessen aktive Nutzungspflicht zum anderen erst zum 01.01.2026 beginnt. Grundsätzlich besteht daher für die Arbeitgeberverbände noch keine Verpflichtung, Schriftsätze als elektronisches Dokument einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong>              Kontrovers diskutiert und höchstrichterlich noch nicht entschieden ist die hier zu entscheidende Frage, wie es sich auswirkt, falls als zur Prozessführung Beauftragter nunmehr ein Syndikusrechtsanwalt des bevollmächtigten Arbeitgeberverbands nach Maßgabe des § 11 Abs. 4 Satz 2 ArbGG i.V.m. § 46c Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. BRAO auftritt.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Da für den Syndikusrechtsanwalt ein personenbezogenes beA eingerichtet ist, ihm in dieser Funktion also ein sicherer Übermittlungsweg zur Verfügung stünde, stellt sich die Frage, ob insoweit eine aktive Nutzungspflicht herzuleiten und zu bejahen ist.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Anders ausgedrückt ist umstritten, ob im Rahmen des § 46g ArbGG auf das „ERV-Pflichtenprogramm“ des Verbandes oder aber des im Einzelfall beauftragten Syndikusrechtsanwalts abgestellt werden muss und ob es im Rahmen des § 46g Satz 1 ArbGG auf ein rein statusbezogenes oder aber ein rollenbezogenes Verständnis des Begriffs Rechtsanwalt ankommt. Je nach Rechtsposition stellen sich dann eventuell noch Folgefragen dahingehend, ob es ein nach außen erkennbares, bewusst gewähltes Auftreten als Syndikusrechtsanwalt zu fordern ist und ob darüber letztlich der Arbeitgeberverband oder aber der Syndikusrechtsanwalt selbst entscheiden darf.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong>              Auf der einen Seite des Meinungsspektrums positionieren sich Heimann/Steidle (NZA 2021, 521 ff.), nach deren Auffassung beim ERV-Pflichtenprogramm allein auf das Organ bzw. den mit der Prozessführung beauftragten Vertreter abgestellt werden müsse. Sei dieser Vertreter zugleich ein zugelassener (Syndikus-)Rechtsanwalt, sei er nach § 46g Satz 1 ArbGG i.V.m. § 46c Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. den §§ 31a, 31c BRAO seit dem 01.01.2022 einschränkungslos verpflichtet, Schriftsätze ausschließlich als elektronisches Dokument einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Begründet wird diese Auffassung im Wesentlichen damit, dass sich die Gleichsetzung von Rechtsanwalt und Syndikusrechtsanwalt in § 46c BRAO nicht nur auf Berufspflichten bezöge. Die anstehende Einrichtung des eBO gäbe den Verbänden nur einen zusätzlichen potentiellen, sicheren Übermittlungsweg, tangiere aber die aktive und passive Nutzungspflicht des einzelnen Syndikus nicht.  Sie sei auch nicht mit der fehlenden Nutzungspflicht des Arbeitgeberverbandes verknüpft, denn die rechtsanwaltliche beA-Nutzungspflicht sei über die BRAO persönlich ausgestaltet und treffe ihn in allen Fällen, in denen er in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt auftrete und unbestritten auch dann, wenn er eine Privatperson ohne eigene aktive Nutzungspflicht vertrete. Auch Müller (FA 2022, 62; jurisPK-ERV, § 130a ZPO, Rn. 199) folgt diesem berufsrechtlichen Ansatz und bejaht die beA-Nutzungspflicht des für den Verband auftretenden Syndikusrechtsanwalts insbesondere im Hinblick auf den reinen Wortlaut des § 46g Satz 1 ArbGG verbunden mit seinem Zweck, die elektronischen Posteingänge bei den Gerichten zur Ermöglichung der Führung elektronischer Gerichtsakten zu erhöhen sowie schließlich Praktikabilitäts-erwägungen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong>              Die konträre Rechtsposition zu diesem oben kurz skizzierten berufsrechtlichen Ansatz vertreten Elking (NZA 2022, 1009) und zuvor schon Schrade/Elking (NZA 2021, 1675) mit einem prozessualen Ansatz, bei dem in der Konsequenz auf das ERV-Pflichtenprogramm des Arbeitgeberverbandes abgestellt wird.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Da prozessual der eigentliche und rechtlich handelnde Prozessbevollmächtigte eben der Arbeitgeberverband und nicht der jeweilige Syndikusrechtsanwalt sei und sowohl die aktive als auch die passive Nutzungspflicht des ERV an den Status der prozessual handelnden Person anknüpfe, fehle es an einer aktiven ERV-Nutzungspflicht. Die Eingabe erfolge nämlich nicht wie gefordert „durch einen Rechtsanwalt“, sondern nach Maßgabe des § 11 Abs. 2 Satz 3 ArbGG nur aufgrund seiner Funktion als mit der Prozessvertretung beauftragten Person für den eigentlichen Prozessbevollmächtigten, also den Verband, für den es eben derzeit den sicheren Übermittlungsweg noch nicht gebe. Folgerichtig wird dann vertreten, es müsse sogar die Nutzung des persönlichen beA eines beim Verband angestellten (Syndikus-)Rechtsanwalts ausscheiden, da im Rahmen der für die Einreichung einschlägigen Vorschrift des § 46c ArbGG „verantwortende Person“ und Signierender zwangsläufig nur der Verband sein könnte, der wiederum eben nicht Inhaber des beA-Postfachs ist.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><strong>c)</strong>              Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich jüngste Entscheidungen des Arbeitsgerichts Stuttgart und des Landesarbeitsgerichts Hamm, die – da jeweils die Wirksamkeit erfolgter elektronischer Einreichungen per beA zu prüfen waren -, zu den Voraussetzungen des § 46c ArbGG ergangen sind.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 15.12.2021, 4 BV 139/21, hat das Arbeitsgericht Stuttgart eine durch die Syndikusrechtsanwältin per beA eingereichte Antragsrücknahme im Beschlussverfahren für rechtswirksam erachtet und daraufhin das Verfahren eingestellt. Zur Begründung führt es zusammengefasst aus, der bei Prozessvertretung durch einen Verband handelnde Syndikusrechtsanwalt sei über § 11 Abs. 2 Satz 3 ArbGG zugleich auch „verantwortende Person“ im Sinne von § 46c Abs. 3 Satz 1 Var. 1,2 ArbGG, andernfalls sei nicht nachvollziehbar, wofür die Einrichtung „seines“ beA durch den Gesetzgeber erfolgt sein soll, wenn der Syndikusrechtsanwalt es für die einzige Tätigkeit, die er nach außen erbringen dürfe, gar nicht „verantwortende Person“ sein könne. Es möge zwar gute Gründe geben, eine Nutzungspflicht zu verneinen, daraus jedoch den Ausschluss von Nutzungsmöglichkeiten zu schlussfolgern, erscheine überschießend. In seiner Anmerkung vertritt Tiedemann explizit die Auffassung, eine ERV-Nutzungspflicht des Syndikus sei abzulehnen, stimmt aber der Nutzungsmöglichkeit indes zu (Tiedemann, jurisPR-ArbR 19/2022 Anm. 9).</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 03.05.2022, 14 Sa 1381/21 hat sich das Landesarbeitsgericht Hamm der Rechtsauffassung des ArbG Stuttgart angeschlossen und eine per beA eingereichte Berufung eines Syndikusrechtsanwalts ebenfalls für zulässig erachtet. Entgegen Schrade/Elking komme es im Rahmen des § 46c ArbGG nicht auf das ERV-Pflichtenprogramm des Verbandes bzw. Vertretungsfragen an.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 18.07.2022 , 4 Ca 1688/22 hat das Arbeitsgericht Stuttgart schließlich seine Rechtsprechung weiter präzisiert und entschieden, dass jedenfalls keine ERV-Nutzungspflicht bestünde für einen Verbandsmitarbeiter (hier: Rechtsschutzsekretär), der nur zur Ausübung eines Nebenberufs über eine Zulassung als Rechtsanwalt verfügt, im Prozess jedoch im Rahmen seiner hauptberuflichen Verbandstätigkeit und gerade nicht als Rechtsanwalt auftrat; es macht aber gleichzeitig deutlich, eine grundsätzliche ERV-Nutzungspflicht von Syndikusrechtsanwälten unabhängig von deren Auftreten nach außen abzulehnen.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>d)</strong>              Nach hier vertretener Auffassung besteht nicht nur eine aktive ERV-Nutzungsmöglichkeit, sondern eben auch eine aktive ERV-Nutzungspflicht jedenfalls in den Fällen, in denen nach außen erkennbar für den Verband ein Syndikusrechtsanwalt handelt, wie dies auch in der Kommentierung von Natter (JurisPK-ERV/Natter, 1. Aufl., § 46c ArbGG, Rn. 41.1) vertreten und begründet wird.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dabei sind § 46g ArbGG und § 46c ArbGG in ihrem Zusammenspiel sowie die gesetzgeberische Intention, den ERV voran zu treiben, gemeinsam in den Blick zu nehmen.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Zusammenfassend lässt sich daraus der gesetzgeberische Wille ableiten, möglichst zügig und umfassend all diejenigen in den ERV einzubinden, für die ein sicherer Übermittlungsweg zur Verfügung steht.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"><strong>aa)</strong>              Auszugehen ist zunächst vom reinen Gesetzeswortlaut. Nach § 46g Satz 1 ArbGG trifft einen Rechtsanwalt als Einreicher eine aktive beA-Nutzungspflicht; eine Ausnahme für den Syndikusrechtsanwalt ist in dem Gesetz weder vorgesehen noch ist sie erforderlich. Da auch für den Syndikusrechtsanwalt in dieser Funktion ein beA eingerichtet ist (bei gleichzeitiger Rechtsanwaltszulassung ja sogar ein weiteres separates, (§ 46c Abs. 5 BRAO), steht ihm der sichere Übermittlungsweg offen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dem ArbG Stuttgart (ArbG Stuttgart, 18.07.2022, 4 Ca 1688/22) ist in der Begründung zu folgen, dass ein rein statusbezogenes Verständnis abzulehnen ist und eine ERV-Nutzungspflicht auch an die Berufsausübung gekoppelt sein muss. Diese Voraussetzung liegt hier jedoch unproblematisch vor, denn der Syndikusrechtsanwalt würde sein beA letztlich genau zu der Art der Berufsausübung nutzen (müssen), zu der ihm die Zulassung erteilt wurde.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>bb)</strong>              Dieser schlichten Wortlauttreue zu § 46g Satz 1 ArbGG steht nach Auffassung des Gerichts § 46g Satz 2 ArbGG nicht entgegen, denn auch wenn – wohl unbestritten - die vertretungsberechtigte Person in § 46g Satz 2 ArbGG der Arbeitgeberverband ist, ergibt sich daraus im Ergebnis nichts anderes. Die beiden Sätze 1 und 2 derselben Norm verfolgen einen einheitlichen Zweck und können als sich ergänzend gelesen werden.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks"><strong>(1)</strong>              Wie bereits mehrfach ausgeführt und unstreitig, vertreten die Verbandssyndikusrechtsanwälte die am Rechtsstreit beteiligten Unternehmen nicht unmittelbar, sondern vertretungsbefugter Bevollmächtigter bleibt gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 4 ArbGG der Verband selbst. Flankierend dazu regelt § 46 Abs. 5 2 Nr. 2 BRAO, dass Syndikusrechtsanwälte Rechtsdienstleistungen ihres Arbeitgebers gegenüber Verbandsmitgliedern erbringen. Verbandsvertreter werden durch ihre Zulassung zum Syndikusrechtsanwalt somit nicht zu rechtsanwaltlichen Bevollmächtigten des jeweils vertretenen Unternehmens, sie genießen über die Verweisung des § 46c Abs. 1 BRAO aber die prozessuale Stellung von Rechtsanwälten und unterscheiden sich dadurch von Verbandsvertretern ohne entsprechende Zulassung.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks"><strong>(2)</strong>              Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 ArbGG handeln Bevollmächtigte, die keine natürlichen Personen sind, durch ihre Organe und mit der Prozessvertretung beauftragten Vertreter. Die Norm ist insoweit wortidentisch mit § 79 Abs. 2 Satz 3 ZPO. Beide Vorschriften enthalten eine Klarstellung zur Postulationsfähigkeit von Bevollmächtigten, die keine natürlichen Personen sind: Im Prozess handlungsbefugt sind außer ihren Organen (nur) die innerhalb des Unternehmens oder Verbands "mit der Prozessvertretung beauftragten Vertreter", die jedoch wiederum eigene Erklärungen abgeben (so auch LAG Hamm, 03.05.2022, 14 Sa 1381/21, ArbG Stuttgart 15.12.2021,- 4 BV 139/21; Zöller/Althammer, ZPO, 34. Aufl., § 79 ZPO, Rn. 10). Insoweit gilt nichts anderes als bei der Stellvertretung nach § 164 Abs. 1 BGB, bei welcher der Vertreter in fremden Namen eigene Willenserklärungen abgibt (vgl. LAG Hamm, 03.05.2022, 14 Sa 1381/21; Erman/Maier-Reimer/Finkenauer, BGB, 16. Aufl., § 164 Rn. 3).</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks"><strong>(3)</strong>              Auch in anderem Zusammenhang ist es der Rechtsprechung im Übrigen nicht fremd, auf die persönlichen Eigenschaften der handelnden Personen abzustellen, sofern eine juristische Person nach § 11 Abs. 2 ArbGG bevollmächtigt ist, naheliegend ist dies etwa für den in § 41 Nr. 4 ZPO geregelten Ausschlussgrund entschieden, bei dem trotz § 11 Abs. 2 ArbGG „Prozessbevollmächtigter“ nur die für die vertretungsberechtigte juristische Person handelnde natürlichen Personen sein könne (BAG, 07.11.2012, 7 AZR 646/10 (A)).</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><strong>(4)</strong>              Tatsächlich und körperlich einen Schriftsatz bei Gericht einreichen kann denklogisch immer nur eine natürliche Person unabhängig von der Frage, wer Prozessbevollmächtigter ist.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Soweit nun vertreten wird, § 46g ArbGG knüpfe nicht an die tatsächlich, sondern die rechtlich handelnde Person an, da Personen, die keine natürlichen Personen sind, naturgemäß nie selbst handeln könnten und dann eine aktive Nutzungspflicht für Behörden oder Verbände inhaltsleer bliebe (Elking, NZA 2022, 1009 ff.), so vermag dies nicht zu überzeugen. Abzustellen ist vielmehr auf den für die erfolgreiche Nutzung und Förderung des ERV alles entscheidenden sicheren Übermittlungsweg. Da eben für Behörden das beBPO und nunmehr für die Verbände das eBO eingerichtet ist, haben diese bzw. selbstverständlich die für sie jeweils handelnden Personen den dafür gedachten sicheren Übermittlungsweg zu nutzen. Damit bliebe aber auch das eBO nicht ungenutzt, da die Assessoren dies künftig nutzen müssen.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks"><strong>cc)</strong>              Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass sich eine beA-Nutzungspflicht des Syndikusrechtsanwalts zwanglos aus § 46g Satz 1 ArbGG herauslesen lässt und diesem Ergebnis § 46 Satz 2 ArbGG jedenfalls nicht entgegensteht.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>dd)</strong>              Unproblematisch ist nach hier vertretener Auffassung auch, dass mit der Prozessvertretung innerhalb der Arbeitgeberverbände regelmäßig Assessoren gleichermaßen wie eben auch Syndikusrechtsanwälte beauftragt sind. Da den Assessoren die Möglichkeit der Einrichtung eines beA nicht offensteht, können sie diesen Übermittlungsweg schlicht nicht nutzen. Es ist aber nicht einsichtig, warum daneben die Syndikusrechtsanwälte das für sie eingerichtete beA nicht nutzen müssten. Die Unterscheidung zwischen Auftreten als Assessoren einerseits und Syndikusrechtsanwälten andererseits wird nicht zuletzt von den Vertretern selbst in jedem Stadium des Verfahrens explizit kenntlich gemacht. Tritt jedoch ein Syndikusrechtsanwalt als solcher nach außen auf, so ist es auch nur folgerichtig, ihn auch den rechtsanwaltlichen Pflichten zu unterwerfen. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der Gesetzgeber in der vorliegenden Fallkonstellation die Syndikusrechtsanwälte privilegieren wollte, was jedoch die Rechtsfolge wäre, würde man ihnen ein Wahlrecht geben, ob sie Schriftsätze weiterhin in Papierform oder aber in elektronischer Form einreichen. Umgekehrt wiederum ist nicht davon auszugehen, dass aufgrund einer vom Gesetzgeber bislang bedauerlicherweise unzulänglich getroffenen Regelung der hier gefundene Lösungsansatz der verbandsangehörigen Partei den Zugang zum Gericht unzulässig erschweren würde. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass die Übermittlung per beA gegenüber der bisher üblichen Übermittlung in Papierform eine Erschwerung bedeutet. Auch ansonsten ist nicht von einer unzulässigen Einschränkung auszugehen, da die ungeklärte Rechtslage zwar für alle an den Verfahren Beteiligten inklusive der Gerichte eine unbefriedigende, gleichwohl nicht ungewöhnliche Situation darstellt.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Handelt für den Verband – wie hier – nach außen erkennbar ein Syndikusrechtsanwalt, so folgt aus seiner Stellung als Rechtsanwalt die Pflicht, sein eigens dafür bereit gestelltes beA zu benutzen, um Schriftsätze an das Gericht zu übermitteln. Obliegt hingegen die konkrete Handlung qua erteilter Vollmacht einem Assessor, so hat dieser mangels Einrichtung eines beA oder Einrichtung eines sicheren Übermittlungswegs für den Verband (noch) keine aktive Nutzungspflicht für den ERV. Dieses Verständnis deckt sich mit der in der Literatur dazu auch vertretenen sog. „2-Hüte-Theorie“. Die Differenzierung der Pflichten von Assessoren und Syndikusrechtsanwälten (erläuternd hierzu Pulz, NZA 2018, 14 ff.) hat auch in der Vergangenheit nicht zu Problemen geführt und bereitet soweit ersichtlich in der Praxis keine Schwierigkeiten. Sie kann auch in puncto ERV fortgesetzt werden. Ist der Syndikusrechtsanwalt zugleich als Rechtsanwalt zugelassen oder ist er im Rahmen mehrerer Arbeitsverhältnisse als Syndikusrechtsanwalt tätig, hat gem. § 46c V 2 BRAO eine gesonderte Eintragung für jede der Tätigkeiten zu erfolgen. Für jede Eintragung ist jeweils ein gesondertes beA einzurichten, so dass auf den jeweiligen Tätigkeitsbereich zugeschnittene Zugangsberechtigungen vergeben werden können und die Vertraulichkeit innerhalb der jeweiligen Mandats- und Arbeitsverhältnisse gewährleistet werden kann. Es ist dann aber nicht einsichtig, warum das eigens für die Tätigkeit als Verbandssyndikusrechtsanwalt zugeordnete beA nicht auch zu eben jenem Zweck genutzt werden müsste, wie dies der übrigen Rechtsanwaltschaft ebenso aufgebürdet wird.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks"><strong>ee)</strong>              Auch im Hinblick auf den mit § 46g ArbGG aufs Engste verknüpfte § 46c Abs. 3 Satz 1 ArbGG gilt nichts anders. Normzweck dort ist wie bei § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO auch, die Sicherstellung von Authentizität und Integrität eines elektronischen Dokuments. Dieser Zweck hat zwar mit der Frage der Prozessvertretung nichts zu tun, da maßgeblich allein die Authentizität und Integrität des eingereichten elektronischen Dokuments, d.h. der Nachweis für die Verknüpfung des Erklärungsinhalts ("elektronisches Dokument") mit der Identität des Absenders ("verantwortende Person") ist und nur auf elektronischem Wege die Funktion der handschriftlichen Unterschrift nach § 130 Nr. 6 Hs. 1 ZPO ersetzt wird (vgl. LAG Hamm, 03.05.2022, 14 Sa 1381/21; ArbG Stuttgart 15.12. 2021, 4 BV 139/21; JurisPK-ERV/Müller 1. Aufl.,     § 130a ZPO, Rn. 52).</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Bei der eigenhändigen Unterzeichnung ist der Unterzeichner aber derjenige, welcher den Inhalt verantwortet, selbst wenn er für einen bevollmächtigten Verband handelt. Verantwortende Person im Sinne des § 46c Abs. 3 ArbGG ist immer die handelnde natürliche Person im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 3 ArbGG, es gilt nichts anderes als bei der eigenhändigen Unterzeichnung eines Schriftsatzes.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Einrichtung eines separaten beA als sicheren Übermittlungswegs durch den Gesetzgeber wäre überflüssig, wenn Syndikusrechtsanwälte für die einzige Tätigkeit, die sie nach außen erbringen dürfen, gar nicht "verantwortende Person" im Sinne von § 46c Abs. 3 Satz 1 Var. 2 ArbGG sein könnten (vgl. LAG Hamm, 03.05.2022, 14 Sa 1381/21; ArbG Stuttgart, 15.12. 2021, 4 BV 139/21).</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Aus Sicht des hier erkennenden Gerichts spricht auch gerade nichts dagegen, ausgehend von der „verantwortenden Person“ aus § 46c ArbGG Rückschlüsse zu ziehen auf die Frage, auf welches ERV-Pflichtenprogramm es nach § 46g ArbGG,          § 173 ZPO ankommen muss.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks"><strong>ff)</strong>              Da nunmehr den Verbänden selbst mit dem eBO ein Postfach zur Verfügung stehen und ab 2026 eine eigene ERV-Nutzungspflicht etabliert wird, ergibt sich daraus nur ein weiterer sicherer Übermittlungsweg zur Nutzung des ERV; es ist jedoch der gesetzgeberischen Intention an keiner Stelle zu entnehmen, dass für einen Prozessbevollmächtigten (oder aber eine einen Schriftsatz zu verantwortenden Person) nur ein Übermittlungsweg exklusiv zur Verfügung stehen dürfte (ebenso JurisPK-ERV/Natter, § 46c ArbGG, Rn. 41c).</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vergleichend heranzuziehen ist hier auch die Einführung des § 31b BRAO ab August 2022 und der erst dadurch vorgesehenen Schaffung eines besonderen elektronischen Anwaltspostfaches für Berufsausübungsgesellschaften als Berufsträger-gesellschaften, denn auch daraus lässt sich nicht der Rückschluss ziehen, die einzelnen Berufsträger in einer solchen Gesellschaft dürften ihr beA im Rahmen von Mandaten, die der Gesellschaft erteilt werden, nicht nutzen. Dies wird vom Bundesgerichtshof im Gegenteil im Hinblick auf die passive Nutzungsmöglichkeit und den daraus resultierenden, als zumutbar angesehenen organisatorischen Mehraufwand für die Gesellschaft sogar vorausgesetzt (vgl. BGH, 19.05.2019, AnwZ (Brfg) 69/18; LAG Hamm 03.05.2022, 14 Sa 1381/21).</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Unter allen Gesichtspunkten ist daher im Ergebnis festzuhalten, dass für Verbandssyndikusrechtsanwälte, die als solche nach außen auftreten und ihren Beruf ausüben, über das ihnen eigens zu diesem Zweck eingerichtete beA eine ERV-Nutzungspflicht besteht.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die nur in Papierform erhobene Berufung der Beklagten war gemäß §§ 64, 66 ArbGG i.V.m. § 522 ZPO mangels formwirksamer Einlegung als unzulässig zu verwerfen mit der Kostenfolge des § 97 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Revisionsbeschwerde wird zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">RECHTSMITTELBELEHRUNG</span></strong></p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann von der beklagten Partei</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks"><strong>REVISIONSBESCHWERDE</strong></p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss ist für die klagende Partei ein Rechtsmittel nicht gegeben.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Revisionsbeschwerde muss</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">innerhalb einer Notfrist* von einem Monat</span></strong></p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">nach der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Beschlusses schriftlich oder in elektronischer Form beim</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Bundesarbeitsgericht</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Hugo-Preuß-Platz 1</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">99084 Erfurt</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Fax: 0361 2636-2000</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse besteht ab dem 01.01.2022 gem. §§ 46g Satz 1, 92 Abs. 2 ArbGG grundsätzlich die Pflicht, die Rechtsbeschwerde ausschließlich als elektronisches Dokument einzureichen. Gleiches gilt für vertretungsberechtigte Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 46c Abs. 4 Nr. 2 ArbGG zur Verfügung steht.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Revisionsbeschwerdeschrift <strong>muss</strong> von einem <strong>Bevollmächtigten</strong> eingelegt werden. Als <strong>Bevollmächtigte</strong> sind nur zugelassen:</p> <span class="absatzRechts">67</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">1. Rechtsanwälte,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">2. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">3. Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nr. 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung der Mitglieder dieser Organisation oder eines anderen Verbandes oder Zusammenschlusses mit vergleichbarer Ausrichtung entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsbeschwerdeschrift unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden Sie auf der Internetseite des Bundesarbeitsgerichts www.bundesarbeitsgericht.de.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks"><strong>* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.</strong></p>
346,751
ovgnrw-2022-09-27-4-b-65422
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
4 B 654/22
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:20"
"2022-10-17T11:10:38"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0927.4B654.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 12.5.2022 wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den sinngemäßen Antrag,</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, keine Strafanzeige gegen die Antragstellerin wegen unerlaubter Veranstaltung eines Glücksspiels i. S. d. § 284 StGB zu erstatten,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, der für den Erlass der begehrten Sicherungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Ein öffentlich-rechtlicher Anspruch der Antragstellerin gegen den Antragsgegner, durch die Bezirksregierung keine Strafanzeige gegen sie wegen – behaupteter – unerlaubter Veranstaltung eines Glücksspiels zu erstatten, könne in Ermangelung anderer hier einschlägiger spezialgesetzlicher Rechtsgrundlagen nur aus dem allgemeinen, gewohnheitsrechtlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch herrühren. Der Unterlassungsanspruch leite sich insoweit aus der Grundrechtsposition des Betroffenen ab und schütze vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen jeder Art, auch vor solchen durch schlichtes Verwaltungshandeln. Eine rechtswidrige Beeinträchtigung von Grundrechten der Antragstellerin sei allein durch das mögliche Stellen einer Strafanzeige seitens der Bezirksregierung jedoch ohne Hinzutreten weiterer Umstände so nicht denkbar. Bedingt durch den Grundsatz der Rechtsbindung der Verwaltung gälten die Erfordernisse der Objektivität und Wahrheit im Fall einer Anzeigeerstattung durch die öffentliche Verwaltung für diese in besonderem Maße. Die Antragstellerin sei zudem durch die bereits aufgeführte Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Objektivität sowie durch ihre Beteiligungsrechte im Ermittlungsverfahren in den §§ 161 ff. StPO, insbesondere in § 163a Abs. 1 Satz 1 StPO, in ausreichendem Maße geschützt. Allein wenn zu befürchten wäre, dass sich die Bezirksregierung bewusst über ihre soeben dargestellten Verpflichtungen hinwegsetzte und die Antragstellerin in bloßer Schädigungsabsicht mit einer Strafanzeige zu überziehen beabsichtigte, könnte möglicherweise anderes gelten. Hierfür sei jedoch nicht das Geringste ersichtlich. Im Gegenteil habe die Bezirksregierung im Rahmen ihrer Antragserwiderung vom 7.4.2022 hinreichend deutlich erklärt, dass sie nicht beabsichtige, eine Strafanzeige zu erstatten. Sie habe auch in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt etwas anderes zu erkennen gegeben. Im Übrigen gehe die Bezirksregierung davon aus, dass nicht sie, sondern die für die betreffende Wettvermittlungsstelle örtlich zuständige Ordnungsbehörde für aufsichtsrechtliche Maßnahmen zuständig sei. Dies verstehe die Kammer so, dass die Bezirksregierung hiervon auch die Weiterleitung etwaiger Sachverhalte an die Strafverfolgungsbehörden umfasst sehe. Hieraus folge zugleich, dass auch ein Anordnungsgrund nicht gegeben sei.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Diese Würdigung wird durch das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nicht erschüttert. Die Beschwerdebegründung stellt schon die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage, ein Anordnungsgrund sei bereits deshalb nicht gegeben, weil die Bezirksregierung hinreichend deutlich erklärt habe, dass sie nicht beabsichtige, eine Strafanzeige zu erstatten. Auf diese Argumentation wird in dem ausführlichen Beschwerdebegründungsschriftsatz nicht eingegangen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen fehlt es an einem Anordnungsanspruch, weil die Erstattung einer Strafanzeige durch die Bezirksregierung, soweit sie sich künftig hierzu etwa durch die hartnäckige Fortführung des Betriebs des streitgegenständlichen Wettbüros ohne Erlaubnis veranlasst sehen sollte, unter den Voraussetzungen nicht zu beanstanden wäre, die der Senat in seinem ebenfalls gegenüber der Antragstellerin ergangenen Beschluss vom 30.6.2022,</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">‒ 4 B 1864/21 ‒, juris,</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">näher ausgeführt hat.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Insbesondere hat der Senat in diesem Beschluss ausgeführt,</p> <span class="absatzRechts">9</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">unter welchen Voraussetzungen die Erstattung einer Strafanzeige verhältnismäßig wäre und in welchen Ausnahmekonstellationen eine aktive Duldung mit das Strafunrecht nach § 284 StGB ausschließender Wirkung in Betracht komme,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">dass die von der Antragstellerin in Frage gestellte Abstandsregelung des § 13 Abs. 13 Satz 2, Abs. 15 Satz 2 AG GlüStV NRW für Wettvermittlungsstellen insbesondere auch mit Blick auf die für Bestandsspielhallen geltende Übergangsreglung in § 18 Abs. 1 AG GlüStV NRW eine kohärente und mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbare Regelung darstelle,</p> </li> <li><span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">und dass sich weder aus der gegenüber der Luftlinienentfernung längeren Fußwegentfernung noch aus dem fehlenden Sichtkontakt zwischen Wettvermittlungsstelle und Schulgebäude, einem besonders großen Schulgrundstück oder aber aus dem baurechtlich erlaubten Bestand der Wettvermittlungsstelle Anhaltspunkte dafür ergeben würden, dass unter Berücksichtigung der örtlichen Lage der Wettvermittlungsstelle vom Mindestabstandserfordernis abgewichen werden müsse.</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auch die weitere Argumentation der Antragstellerin in diesem Verfahren einschließlich der aufgezeigten Umstände des Einzelfalls begründen keinen Anordnungsanspruch mit dem Inhalt, eine etwaige künftige Strafanzeige der Bezirksregierung abwehren zu können.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Inwieweit die Qualität der Wettvermittlungsstelle, die vornehmlich für ihre Besucher von Bedeutung ist, eine zwingende Abweichung von dem zum Kinder- und Jugendschutz einzuhaltenden Mindestabstand zu benachbarten Einrichtungen gebieten sollte, legt die Antragstellerin selbst nicht dar.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin dringt auch nicht damit durch, dass die Grundschule keine nach § 13 Abs. 13 Satz 2 AG GlüStV NRW zu berücksichtigende Schule sei.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die zentralörtlich in einem Luftlinienabstand von 90 m zur im Streit stehenden Wettvermittlungsstelle gelegene Grundschule am X.        (T.----straße 00 in 00000 C.        ) ist eine öffentliche Schule im Sinne des § 13 Abs. 13 Satz 2 AG GlüStV NRW. Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne dieser Vorschrift sind entsprechend dem Regelungszweck Einrichtungen, die regelmäßig von Kindern und Jugendlichen aufgesucht werden. Hierunter fallen insbesondere Schulen, die nicht ausschließlich der Erwachsenenbildung dienen, unabhängig von der jeweiligen Trägerschaft.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.6.2022 – 4 B 1864/21 –, juris, Rn. 114 f., unter Hinweis auf das Urteil des Senats vom 10.3.2021 – 4 A 3178/19 –, juris, Rn. 110; siehe auch Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, Erlass vom 14.9.2021 – 13-38.07.03-2 –, S. 15.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Es besteht kein Anlass, mit Blick auf Sinn und Zweck der Abstandsregelung zu öffentlichen Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe die Grundschule aufgrund ihrer besonderen Schülerstruktur vom Anwendungsbereich auszunehmen. Die Abstandsregelung bezweckt nicht ausschließlich, konkrete Gefährdungen durch den Konsum von Glücksspielen zu vermeiden. Sie soll auch helfen, einen Gewöhnungseffekt bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 17/6611, S. 36.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg macht die Antragstellerin insoweit mit Blick auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 24.10.2018,</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">‒ 2 K 49/18.KO ‒, juris, Rn. 20,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">und den Abschlussbericht aus dem Jahr 2014 zur Studie „Konsum von Glücksspielen bei Kindern und Jugendlichen: Verbreitung und Prävention“ geltend, die zu schützende Einrichtung müsse sich dadurch auszeichnen, dass sich in ihr tatsächlich Mitglieder der durch das Glücksspiel besonders gefährdeten und deshalb durch den Glücksspielstaatsvertrag 2021 besonders geschützten Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen aufhielten. Die damalige vom VG Koblenz angewandte Norm des Landesrechts in Rheinland-Pfalz (§ 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 LGlüG a. F.) hatte im Sinne einer Gefährdungsabwehr ausschließlich öffentliche oder private Einrichtungen, die überwiegend von Minderjähren besucht werden, in den Blick genommen. § 13 Abs. 13 AG GlüStV NRW bezieht hingegen öffentliche Schulen (in ihrer Gesamtheit) zur Vermeidung des Gewöhnungseffekts in den Schutzbereich ein. Die Gefahr eines derartigen Effekts wird von der seitens der Antragstellerin benannten Studie bestätigt. Dort wird im Zusammenhang mit der glücksspielbezogenen Werbung ausgeführt:</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">„Zwar ist die reine Bekanntheit eines Produkts noch kein hinreichender Indikator für die reale Nutzung desselben, jedoch zeigen Studien zum sog. Mere Exposure Effect (also der häufigen und wiederholten Darbietung ein und desselben Objekts), dass allein die Vertrautheit, die sich durch häufige Konfrontation mit einem Objekt aufbaut, zu einer positiveren Bewertung desselben führt“ (S. 134 der Studie).</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">In diesem Zusammenhang greifen auch die Einwände der Antragstellerin nicht durch, es seien keine Erkenntnisse über negative Auswirkungen auf Besucher der Grundschule vorhanden und in der Praxis erreichten die Schüler die Grundschule auch gar nicht selbständig. Abgesehen davon, inwieweit diese Darstellung die tatsächlichen Umstände, auch mit Blick auf den erwähnten Schutzzweck der Regelung, nach dem auch Gewöhnungseffekte vermieden werden sollen, zutreffend wiedergibt, gehört die Kenntnis der eigenen Lebenssituation auch im Umfeld von Wohnort und Schule jedenfalls zur Kompetenzerwartung am Ende des Besuchs der Grundschule.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. Lehrpläne für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen, RdErl. d. Ministeriums für Schule und Bildung vom 1.7.2021, S. 190 (Räume nutzen und schützen), https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_PS/ps_lp_sammelband_2021_08_02.pdf.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen ändert selbst eine Begleitung von Schulkindern auf dem Weg zur Grundschule nichts an der Gefahr eines Gewöhnungseffekts durch eine in der Nähe der Schule befindliche Wettvermittlungsstelle.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Schließlich lässt sich ein Anspruch auf eine Abweichung nicht mit dem Argument begründen, die Bezirksregierung habe die Antragstellerin ermessensfehlerhaft auf anderweitige Standorte für Wettvermittlungsstellen verwiesen. Selbst wenn anderweitige Standorte ‒ wovon schon nicht auszugehen ist ‒ nicht zur Verfügung stünden, änderte dies nichts an der glücksspielrechtlichen Unzulässigkeit der Wettvermittlung am jetzigen Standort. Auch die zentralörtliche Lage der Wettvermittlungsstelle und ihre bauplanungsrechtliche Zulässigkeit können nicht ansatzweise die Grundlage für einen Anspruch auf Abweichung vom Mindestabstandserfordernis bieten.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 2 GKG und entspricht in ihrer Höhe der nicht beanstandeten Festsetzung des Verwaltungsgerichts für den ersten Rechtszug.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,750
ovgnrw-2022-09-27-19-a-191721
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 A 1917/21
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:18"
"2022-10-17T11:10:38"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0927.19A1917.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 40.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin stützt ihren Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 VwGO. Keiner der Gründe liegt vor.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">I. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. statt vieler BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. März 2022 ‑ 2 BvR 1232/20 ‑, NVwZ 2022, 789, juris, Rn. 23, vom 7. Juli 2021 ‑ 1 BvR 2356/19 -, NVwZ-RR 2021, 961, juris, Rn. 23, vom 16. April 2020 ‑ 1 BvR 2705/16 ‑, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 21, und Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff.; VerfGH NRW, Beschlüsse vom 13. Oktober 2020 ‑ VerfGH 82/20.VB‑2 ‑, juris, Rn. 19, und vom 17. Dezember 2019 ‑ VerfGH 56/19.VB‑3 -, NVwZ-RR 2020, 377, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass der Bescheid des Landesprüfungsamts über das endgültige Nichtbestehen der Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen vom 5. Februar 2020 rechtmäßig sei, weil keine schwerwiegenden Gründe für den Antrag auf Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst und der damit verbundenen Beendigung des Prüfungsverfahrens gemäß § 36 Abs. 2 der Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen (Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung – OVP) vom 10. April 2011 vorlägen. Es sei, worauf das Landesprüfungsamt die Klägerin unverzüglich nach Eingang des Antrags auf Rücktritt vom Prüfungsverfahren hingewiesen habe, aus ihrem Antrag nicht hinreichend deutlich geworden, weshalb es ihr unzumutbar gewesen sei, nach Eintritt in die Prüfung und Nichtbestehen des ersten Prüfungsversuchs das Prüfungsverfahren fortzusetzen. Der bloße Verweis auf Kindererziehung und eine länger zurückliegende Erkrankung seien auch nicht ansatzweise geeignet gewesen, der Behörde eine sachgerechte Prüfung der Voraussetzungen eines schwerwiegenden Grunds zu ermöglichen. Auch aus dem nach Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst vorgelegten Attest des Psychologischen Psychotherapeuten Dr. phil. Dipl.-Psych. T.      vom 30. Januar 2020 würden schwerwiegende Gründe nicht erkennbar. Die Klägerin könne sich auch nicht darauf berufen, ihr seien mangels hinreichender Hinweise des Beklagten die rechtlichen Konsequenzen und Anforderungen im Zusammenhang mit der Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst bzw. dem Rücktritt vom Prüfungsverfahren nicht bewusst gewesen. Sie sei vielmehr vom Landesprüfungsamt hinreichend informiert worden, zuletzt im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Eingang ihres Antrags.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin macht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils insoweit geltend, als sie sich durch das beklagte Land falsch beraten sieht; der Beklagte habe hiermit gegen beamtenrechtliche Fürsorgeregelungen verstoßen. Diese Rüge bleibt ohne Erfolg. Mit den seitens des Verwaltungsgerichts getroffenen Feststellungen zu den zeitlichen Abläufen der Beantragung sowohl der Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst als auch der Genehmigung des Prüfungsrücktritts setzt sich das Zulassungsvorbringen entgegen § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht hinreichend auseinander. Insbesondere unterbleibt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der ‑ auf der Grundlage des Verwaltungsvorgangs zutreffenden ‑ Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass das Landesprüfungsamt die Klägerin ausdrücklich auf das Fehlen schwerwiegender Gründe für den Prüfungsrücktritt und die rechtlichen Konsequenzen hingewiesen habe. Inwieweit vor diesem Hintergrund eine etwaige Falschberatung durch den Seminarleiter zu einem Fehler der Entscheidung des Landesprüfungsamts geführt haben soll, ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Sollten mit dem Zulassungsvorbringen entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des Schriftsatzes vom 18. August 2021 ernstliche Zweifel auch insoweit geltend gemacht werden, als die Bewertung des Verwaltungsgerichts zur Verhältnisbestimmung der Rechtsbegriffe „wichtiger Grund“ (§ 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 OVP) und „schwerwiegender Grund“ (§ 36 Abs. 2 OVP) für falsch gehalten wird, greift dies in der Sache nicht durch. Entscheidungserheblich ist allein, ob das Landesprüfungsamt als für die Abnahme der Staatsprüfung zuständige Behörde (§ 30 Abs. 1 Satz 1 OVP) den unbestimmten Rechtsbegriff des „schwerwiegenden Grunds“ im Sinn des § 36 Abs. 2 OVP ordnungsgemäß auslegt und anwendet. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene eigenständige Auslegung des Begriffs eines schwerwiegenden Grunds führt nicht auf Rechtsfehler des angefochtenen Urteils. Die rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts steht vielmehr im Einklang mit den in der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts aufgestellten Grundsätzen, die das Verwaltungsgericht ausdrücklich seiner Prüfung zugrunde legt. Nach diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass die Klägerin einen schwerwiegenden Grund nach § 36 Abs. 2 OVP nicht nachgewiesen habe. Die sinngemäße Rüge, die Bewertung des psychischen Krankheitsbilds sei fehlerhaft, zieht diese unter konkreter und eingehender Bewertung des Attests vom 30. Januar 2020 vorgenommene Würdigung nicht durchgreifend in Zweifel. Der Senat folgt insoweit vollständig der Begründung des angefochtenen Urteils (dort S. 7) und macht sie sich zu Eigen.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">II. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. April 2020 ‑ 1 BvR 2705/16 -, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 23, und Beschluss vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 33, jeweils m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 22. September 2020 - 1 B 39.20 -, juris, Rn. 3, und vom 2. Dezember 2019 - 2 B 21.19 -, juris, Rn. 4 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. November 2021 ‑ 19 A 4532/19 ‑, juris, Rn. 12, vom 30. September 2021 - 19 A 958/21 -, juris, Rn. 27, vom 9. September 2021 - 19 A 3347/20 -, juris, Rn. 23, vom 2. Juli 2021 ‑ 19 A 1113/20 -, juris, Rn. 32, und vom 6. Januar 2021 ‑ 19 A 4359/19 ‑, juris, Rn. 21, jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin erachtet als klärungsbedürftig die Fragen,</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">in welchem Umfang dem Betroffenen zuzumuten ist, die mehr oder weniger feinsinnigen Abgrenzungen (der Rechtsbegriffe „wichtiger Grund“ und „schwerwiegender Grund“) zu kennen, deren Inhalt zu erfassen und hieraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen (Stichwort: „Parallelwertung in der Laiensphäre“),</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">wie weit die Beweis- und Darlegungslast bei psychischen Beeinträchtigungen geht und ob die von der Rechtsprechung hierzu niedergelegten Grundsätze auch bei nicht körperlichen besonderen Belastungen gelten.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtsfrage ist nicht schon klärungsbedürftig, wenn sie noch nicht Gegenstand einer höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Entscheidung war. Nur wenn ihre Klärung gerade eine solche Entscheidung verlangt, muss ein Rechtsmittelverfahren in der Hauptsache durchgeführt werden. Um dies darzulegen, muss die Klägerin aufzeigen, dass die Frage nicht schon anhand der üblichen Auslegungsregeln unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung aus dem Gesetz- oder Verordnungsrecht zu beantworten ist.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. Juni 2018 ‑ 2 BvR 350/18 ‑, juris, Rn. 17 m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 9. März 2022 ‑ 1 B 24.22 ‑, juris, Rn. 21, vom 29. September 2021 ‑ 1 B 61.21 ‑, juris, Rn. 2, vom 22. September 2020, a. a. O., Rn. 3, vom 13. Mai 2020 - 8 B 69.19 ‑, juris, Rn. 5, vom 25. Juli 2017 ‑ 1 B 117.17 ‑, juris, Rn. 3, und vom 18. Januar 2017 - 8 B 16.16 ‑, LKV 2017, 126, juris, Rn. 20; OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2022 ‑ 19 A 1181/22.A ‑, juris, Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben ist auch mit Blick auf die obigen Ausführungen ein Berufungsverfahren hinsichtlich der von der Klägerin aufgeworfenen Fragen nicht erforderlich. Auf das Verhältnis der in § 36 Abs. 2 OVP einerseits („schwerwiegender Grund“) und § 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 OVP andererseits („wichtiger Grund“) verwandten Rechtsbegriffe kommt es für ein etwaiges Berufungsverfahren nicht an. Die Entscheidung über das Nichtbestehen der Prüfung nach § 36 Abs. 2 OVP trifft das Landesprüfungsamt eigenständig im Rahmen des mit dem Eintritt in die Prüfung begründeten Prüfungsrechtsverhältnisses (§ 29 Abs. 2 OVP). Es trifft die Entscheidung insbesondere unabhängig von anderen Entscheidungen der Bezirksregierung als Einstellungsbehörde, die bei einer Entlassung auf eigenen Antrag der Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter aufgrund der Angaben der Antragstellerin oder des Antragstellers über das Vorliegen eines wichtigen Grunds im Sinn des § 5 Abs. 2 Satz 4 OVP im Zeitpunkt der Entlassung entscheidet und zuvor über die Folgen der Entlassung informiert (§ 6 Abs. 4 OVP). Die Bezirksregierung ist nach § 3 Satz 1 OVP Ausbildungsbehörde und nach § 6 Abs. 1 OVP Dienstvorgesetzte Stelle der mit der Einstellung in den Vorbereitungsdienst in das Beamtenverhältnis auf Widerruf berufenen Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon ist die hier allein entscheidungstragende Auslegung des Begriffs des „schwerwiegenden Grunds“ im Sinn des § 36 Abs. 2 OVP auch hinsichtlich psychischer Beeinträchtigungen insoweit geklärt, als sie überhaupt verallgemeinerungs- und klärungsfähig ist. Gleiches gilt für die Anforderungen an die Darlegung des schwerwiegenden Grunds sowie die Frage der Beweislast,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Urteile vom 29. Januar 2020 ‑ 19 A 3028/15 ‑, juris, Rn. 36 ff., und vom 12. September 2017 ‑ 14 A 467/15 ‑, juris, Rn. 71 (zu § 39 Abs. 1 Satz 1 OVP 2003),</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">und zwar auch in Bezug auf psychische Beeinträchtigungen oder Erkrankungen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. April 2020 ‑ 19 A 3026/18 ‑, demnächst in juris.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Weitergehenden Klärungsbedarf zeigt der Zulassungsantrag insoweit nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 40, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,749
ovgnrw-2022-09-27-19-a-112821
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 A 1128/21
"2022-09-27T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:17"
"2022-10-17T11:10:38"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0927.19A1128.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 40.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin stützt ihren Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1, 2 und 3 VwGO. Keiner der Gründe liegt vor.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">I. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. statt vieler BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. März 2022 - 2 BvR 1232/20 -, NVwZ 2022, 789, juris, Rn. 23, vom 7. Juli 2021 - 1 BvR 2356/19 -, NVwZ-RR 2021, 961, juris, Rn. 23, vom 16. April 2020 ‑ 1 BvR 2705/16 ‑, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 21, und Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff.; VerfGH NRW, Beschlüsse vom 13. Oktober 2020 ‑ VerfGH 82/20.VB-2 ‑, juris, Rn. 19, und vom 17. Dezember 2019 ‑ VerfGH 56/19.VB-3 -, NVwZ-RR 2020, 377, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass der Bescheid des Landesprüfungsamts über das (erstmalige) Nichtbestehen der Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen vom 19. März 2020 rechtmäßig sei, weil im Ergebnis auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin im Verwaltungsverfahren geltend gemachten Erkrankungen ihrer Eltern und Darlegung der persönlichen Beweggründe keine schwerwiegenden Gründe für den Antrag auf Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst und der damit verbundenen Beendigung des Prüfungsverfahrens gemäß § 36 Abs. 2 der Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen (Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung – OVP) vom 10. April 2011 vorlägen. Es sei, worauf das Landesprüfungsamt die Klägerin unverzüglich nach Eingang des Antrags auf Rücktritt vom Prüfungsverfahren hingewiesen habe, aus ihrem Antrag nicht hinreichend deutlich geworden, weshalb es ihr unzumutbar gewesen sei, nach Eintritt in die Prüfung am 30. November 2019 nicht noch die wenigen Monate bis zum absehbaren Abschluss der Prüfung durchzustehen. Letztlich sei aus den zum Gesundheitszustand ihrer in Weißrussland lebenden Eltern vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und ihrer eigenen Darlegung nicht hinreichend deutlich geworden, weshalb gerade in dem Zeitraum nach Eintritt in die Prüfung eine so wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ihrer Eltern eingetreten sei, die eine Fortsetzung der Prüfung unmöglich mache. Auch für eine schrittweise und gleichsam schleichende verschlechternde Entwicklung fehlten nachvollziehbare Anhaltspunkte in der Schilderung der Klägerin im Zusammenhang mit der Antragstellung.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1. Gegen diese Feststellungen und Wertungen wendet die Klägerin ohne Erfolg ein, es könne nicht sein, dass ein „schwerwiegender Grund“ größeres Gewicht aufweisen müsse als der (nur) „wichtige Grund“, der gemäß § 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 OVP eine spätere Wiedereinstellung in den Vorbereitungsdienst auch nach Beendigung des Vorbereitungsdiensts auf eigenen Antrag ermöglicht. Denn auf die mit dem Zulassungsantrag unter Verweis auf sprachliche, semantische und rechtsvergleichende Argumente geltend gemachte unterschiedliche Gewichtung der beiden Rechtsbegriffe kommt es für ein etwaiges Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich an.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Entscheidungserheblich ist allein, ob das Landesprüfungsamt als für die Abnahme der Staatsprüfung zuständige Behörde (§ 30 Abs. 1 Satz 1 OVP) den unbestimmten Rechtsbegriff des „schwerwiegenden Grunds“ im Sinn des § 36 Abs. 2 OVP ordnungsgemäß auslegt und anwendet. Die Entscheidung über das Nichtbestehen der Prüfung nach § 36 Abs. 2 OVP trifft das Landesprüfungsamt eigenständig im Rahmen des mit dem Eintritt in die Prüfung begründeten Prüfungsrechtsverhältnisses (§ 29 Abs. 2 OVP). Es trifft die Entscheidung insbesondere unabhängig von anderen Entscheidungen der Bezirksregierung als Einstellungsbehörde, die bei einer Entlassung auf eigenen Antrag der Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter aufgrund der Angaben der Antragstellerin oder des Antragstellers über das Vorliegen eines wichtigen Grunds im Sinn des § 5 Abs. 2 Satz 4 OVP im Zeitpunkt der Entlassung entscheidet und zuvor über die Folgen der Entlassung informiert (§ 6 Abs. 4 OVP). Die Bezirksregierung ist nach § 3 Satz 1 OVP Ausbildungsbehörde und nach § 6 Abs. 1 OVP Dienstvorgesetzte Stelle der mit der Einstellung in den Vorbereitungsdienst in das Beamtenverhältnis auf Widerruf berufenen Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter. Dass die Bezirksregierung über das Vorliegen eines „wichtigen Grunds“ in eigener Zuständigkeit und ohne vorgreifliche Wirkung für Entscheidungen des Landesprüfungsamts im Prüfungsrechtsverhältnis befindet, wird den Prüflingen seitens des Landesprüfungsamts auch ausdrücklich mitgeteilt. So führen die vom Landesprüfungsamt für die Prüflinge herausgegebenen „Hinweise für Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter sowie für Lehrkräfte in Ausbildung“, Stand: Juli 2019, aus, dass schwerwiegende Gründe im prüfungsrechtlichen Sinn von „wichtigen Gründen“ aus denen eine Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst bei der Bezirksregierung beantragt werden kann, zu unterscheiden seien; beide Stellen entschieden über die jeweiligen Anträge nach eigenem Ermessen (dort S. 5).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Von daher kann offen bleiben, ob – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – schon die unterschiedliche Wortwahl in § 36 Abs. 2 OVP einerseits und § 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 OVP andererseits zeigt, dass die schwerwiegenden Gründe für die Genehmigung des Rücktritts im Sinn des § 36 Abs. 2 OVP ein größeres Gewicht aufweisen müssen als der (nur) wichtige Grund für die Beendigung des Vorbereitungsdienstes auf eigenen Antrag im Sinn des § 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 OVP.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. September 2017 - 14 A 467/15 -, juris, Rn. 48, 77 (zu § 39 Abs. 1 Satz 1 OVP 2003).</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die daran anknüpfende eigenständige Auslegung des Begriffs eines schwerwiegenden Grunds führt nicht auf Rechtsfehler des angefochtenen Urteils. Die rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts steht vielmehr im Einklang mit den in der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts aufgestellten Grundsätzen, die das Verwaltungsgericht ausdrücklich seiner Prüfung zugrunde legt.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">In der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts werden unter einem schwerwiegenden Grund im Sinn des § 36 OVP grundsätzlich in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der Prüfung (Prüfungsteil oder Prüfung insgesamt) eingetretene, unvorhersehbare Ereignisse verstanden, deren Entstehung der Prüfling nicht verhindern konnte und die seine Teilnahme an der Prüfung oder die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens als unzumutbar erscheinen lassen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteile vom 29. Januar 2020 - 19 A 3028/15 -, juris, Rn. 36 ff., und vom 12. September 2017, a. a. O., Rn. 71.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Regelmäßig zählen dazu erhebliche Beeinträchtigungen der Prüfungsfähigkeit mit Krankheitswert,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteil vom 29. Januar 2020, a. a. O., Rn. 39,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">ohne dass sich der unbestimmte, einer vollständigen Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte unterworfene Rechtsbegriff eines schwerwiegenden Grunds auf solche Fälle beschränkt.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Vorliegen eines schwerwiegenden Grunds für den Rücktritt hat der Prüfling nach § 36 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 35 Abs. 4 OVP darzulegen. Dies ist Ausdruck des auch im Prüfungsrechtsverhältnis geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben, wonach es dem Prüfling obliegt, das Vorliegen eines Hinderungsgrunds auf Anforderung nachzuweisen, um einem Missbrauch wirksam vorzubeugen und den Grundsatz der Chancengleichheit zu wahren.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteil vom 29. Januar 2020, a. a. O., Rn. 43 ff., unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1969 - VII C 77.67 -, BVerwGE 31, 190, juris, Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Entscheidend ist auch am Maßstab des Gebots der Chancengleichheit bei berufsbezogenen Prüfungen nach Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG, dass die Rücktrittsanzeige die von der Prüfungsbehörde geforderte Überprüfung ermöglicht.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteil vom 29. Januar 2020, a. a. O., Rn. 54 f., unter Verweis auf BVerwG, Beschluss vom 25. Januar 2018 - 6 B 36.17 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 432, juris, Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vermag der Prüfling den Nachweis eines schwerwiegenden Grunds nicht zu erbringen, geht dies nach allgemeinen Grundsätzen zu seinen Lasten, da er insoweit die Beweislast trägt.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. Januar 2020, a. a. O., Rn. 56 f., unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 1982 - 7 C 119.81 -, BVerwGE 66, 213, juris, Rn. 11; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Juli 2014 - OVG 10 S 5.14 -, NVwZ-RR 2014, 889, juris, Rn. 14 m. w. N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 1. Dezember 2015 - 2 K 6434/14 -, juris, Rn. 25.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">2. Nach diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass die Klägerin einen schwerwiegenden Grund nach § 36 Abs. 2 OVP nicht nachgewiesen habe. Die mit dem Zulassungsantrag vorgebrachten Rügen ziehen diese Würdigung nicht durchgreifend in Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beschränkt sich insoweit darauf, die Argumente des Landesprüfungsamts im Klageverfahren als geschmacklos, realitätsfern und abstrus zu bezeichnen und die Aussage zu formulieren, sie könne „ihre Eltern nicht in Weißrussland verrecken lassen“. Mit den seitens des Verwaltungsgerichts konkret zu den jeweils für sich genommen und auch in Gesamtwürdigung unzureichenden Darlegungen der Klägerin im Einzelnen getroffenen Feststellungen und Bewertungen setzt sich das Zulassungsvorbringen entgegen § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hingegen nicht ansatzweise auseinander.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Fehlen eines schwerwiegenden Grunds für den Rücktritt nach § 36 Abs. 2 OVP sind auch in der Sache nicht zu beanstanden. Der Senat folgt insoweit vollständig der Begründung des angefochtenen Urteils (dort S. 6 f.) und macht sie sich zu Eigen. Dabei ist bereits berücksichtigt, dass die Bedingungen, unter denen die Klägerin ihre Zweite Staatsprüfung hätte ablegen müssen, durch die Umstände im Zusammenhang mit der Lebens- und Gesundheitssituation ihrer im Ausland lebenden Eltern sicherlich schlechter waren als die Prüfungsbedingungen von Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärtern, die keine engen Verwandten im Ausland hatten oder die eine Unterstützung naher Angehöriger mit weniger Aufwand organisieren konnten. Ihre Prüfungsbedingungen wären gegenüber jenen jedoch nicht so viel schlechter, dass ihr die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens unzumutbar gewesen wäre. Vollständig gleiche Prüfungsbedingungen lassen sich insoweit angesichts der vielen unterschiedlichen Lebensumstände von Lehramtsanwärtern nicht herstellen.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. schon OVG NRW, Urteil vom 12. September 2017, a. a. O., Rn. 76.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">II. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. April 2020 - 1 BvR 2705/16 -, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 23, und Beschluss vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 33, jeweils m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 22. September 2020 - 1 B 39.20 -, juris, Rn. 3, und vom 2. Dezember 2019 - 2 B 21.19 -, juris, Rn. 4 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. November 2021 - 19 A 4532/19 -, juris, Rn. 12, vom 30. September 2021 - 19 A 958/21 -, juris, Rn. 27, vom 9. September 2021 - 19 A 3347/20 -, juris, Rn. 23, vom 2. Juli 2021 - 19 A 1113/20 -, juris, Rn. 32, und vom 6. Januar 2021 - 19 A 4359/19 -, juris, Rn. 21, jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin erachtet als klärungsbedürftig die Fragen,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">ob es überhaupt im deutschen Rechtssystem den juristischen Begriff des schwerwiegenden Grunds gibt,</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">und wie, sollte es den Begriff des schwerwiegenden Grunds geben, dieser in Relation zum wichtigen Grund steht,</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">ob neben dem wichtigen Grund für die Entlassung ein anderer Grund als ein wichtiger Grund für die Genehmigung des Rücktritts anerkannt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtsfrage ist nicht schon klärungsbedürftig, wenn sie noch nicht Gegenstand einer höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Entscheidung war. Nur wenn ihre Klärung gerade eine solche Entscheidung verlangt, muss ein Rechtsmittelverfahren in der Hauptsache durchgeführt werden. Um dies darzulegen, muss die Klägerin aufzeigen, dass die Frage nicht schon anhand der üblichen Auslegungsregeln unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung aus dem Gesetz- oder Verordnungsrecht zu beantworten ist.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. Juni 2018 ‑ 2 BvR 350/18 ‑, juris, Rn. 17 m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 9. März 2022 - 1 B 24.22 -, juris, Rn. 21, vom 29. September 2021 - 1 B 61.21 -, juris, Rn. 2, vom 22. September 2020, a. a. O., Rn. 3, vom 13. Mai 2020 - 8 B 69.19 ‑, juris, Rn. 5, vom 25. Juli 2017 - 1 B 117.17 -, juris, Rn. 3, und vom 18. Januar 2017 - 8 B 16.16 ‑, LKV 2017, 126, juris, Rn. 20; OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2022 - 19 A 1181/22.A -, juris, Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben ist mit Blick auf die obigen Ausführungen ein Berufungsverfahren hinsichtlich der von der Klägerin aufgeworfenen Fragen nicht erforderlich. Die erste Frage ist angesichts der ausdrücklichen Regelung in § 36 Abs. 2 OVP ohne weiteres zu bejahen. Auf das mit der zweiten Frage angesprochene Verhältnis der in § 36 Abs. 2 OVP einerseits („schwerwiegender Grund“) und § 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 OVP andererseits („wichtiger Grund“) verwandten Rechtsbegriffe kommt es für ein etwaiges Berufungsverfahren nach dem oben Gesagten nicht an. Im Hinblick auf die dritte Frage ist die hier allein entscheidungstragende Auslegung des Begriffs des „schwerwiegenden Grunds“ im Sinn des § 36 Abs. 2 OVP insoweit geklärt, als sie überhaupt verallgemeinerungs- und klärungsfähig ist, und hängt die konkrete Beantwortung der Frage von den Umständen des Einzelfalls ab.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">III. Schließlich liegt der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ebenfalls nicht vor, weil die Rechtssache aus den vorgenannten Gründen keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist, die einer Klärung in einem Berufungsverfahren bedürfen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 40, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. eingehend OVG NRW, Beschluss vom 14. Juni 2021 - 19 E 506/21 -, juris, Rn. 5 ff. (stattgebende Streitwertbeschwerde in dieser Sache).</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,922
vghbw-2022-09-26-12-s-177022
{ "id": 161, "name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg", "slug": "vghbw", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
12 S 1770/22
"2022-09-26T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:40"
"2022-10-17T11:11:05"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Nach Zurücknahme der Beschwerden wird das Beschwerdeverfahren eingestellt.</p><p>Die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte.</p><p>Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 03.08.2022 - 7 K 3216/22 - wird aufgehoben, soweit mit diesem ein Streitwert festgesetzt wird.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>I. Nach der mit Schriftsatz vom 25.08.2022 erklärten Rücknahme der Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart, soweit mit diesem die Antragsgegnerin zur Neubescheidung des auf Zuweisung eines Platzes in einer kommunalen Kindertageseinrichtung gerichteten Antrags verpflichtet wurde, und nach Rücknahme der Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss mit Schriftsatz vom 29.08.2022, soweit der Antrag des Antragstellers im Übrigen abgelehnt wurde, wird das Beschwerdeverfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO (i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfrei. Streitigkeiten um die Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer (kommunalen) Kindertageseinrichtung sind auch dann nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfrei, wenn der Anspruch gegen die Gemeinde geltend und auf den kommunalrechtlichen Benutzungsanspruch aus § 10 Abs. 2 GemO gestützt wird. Es handelt sich dabei um Angelegenheiten der Jugendhilfe im Sinne des § 188 Satz 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Die Regelung des § 188 Satz 2 VwGO zur Gerichtskostenfreiheit nimmt Bezug die Regelung in Satz 1 der Vorschrift, wonach bestimmte Sachgebiete wie u.a. in Angelegenheit der Fürsorge sowie - speziell - der Jugendhilfe in einem Spruchkörper zusammengefasst werden sollen. In den Verfahren dieser Art werden Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) nicht erhoben (Satz 2).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Die Regelung ist ausdrücklich auf bestimmte Sachgebiete bezogen. Damit hat der Gesetzgeber aus Gründen der Vereinfachung eine umfassende Pauschalregelung getroffen, bezogen auf die Art der Streitigkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 23.04.2019 - 5 C 2.18 -, juris Rn. 43, und vom 28.11.1974 - V C 18.74 -, juris Rn. 17). Der Begriff „Sachgebiet“ macht deutlich, dass es nicht nur auf das gleichnamige Gesetz, sondern auf alle Gesetze ankommt, die materiell den Angelegenheiten der Fürsorge, Jugendhilfe usw. oder zugehörigem Verwaltungsverfahrensrecht zuzurechnen sind. Welchen Streitsachen hierzu jeweils zählen, richtet sich nach dem Schwerpunkt der Materie, in deren Rahmen Ansprüche geltend gemacht werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.06.2012 - 1 S 866/12 -, juris Rn. 2; Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 6; Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 188 Rn. 3). Die Regelung stellt allgemein auf die objektive Zugehörigkeit des Klagebegehrens zu einem der genannten Rechtsgebiete ab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.04.2011 - 6 C 10.10 -, juris Rn. 3; Bader in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albdedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 188 Rn. 7). Es kommt dabei nicht darauf an, welchen - möglicherweise von Fall zu Fall unterschiedlichen - Zweck der Kläger mit dem Rechtsstreit verfolgt und auf welche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte er sein Begehren im Einzelnen stützt (vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 31.05.2021 - 4 LA 269/20 -, juris Rn. 10).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>In das Sachgebiet der Jugendhilfe im Sinne von § 188 VwGO fallen Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen öffentlichen Fürsorge zugunsten Kinder und Jugendlicher (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.07.2017 - 12 S 468/15 -, juris Rn. 64). Umfasst sind alle Streitigkeiten nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch und den ergänzenden Landesausführungsgesetzen, sofern sie dem Bereich der Fürsorge in einem weiten Sinne zugeordnet werden können (Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 188 Rn. 5). Ferner gehören Angelegenheiten mit „mittelbarem“ Bezug zu fürsorgerischen Maßnahme wie etwa die Anerkennung und Förderung von Trägern der Jugendhilfe, insbesondere die Zuschussgewährung für Kindertageseinrichtungen, angesichts der weiten Fassung der Regelung zum Sachgebiet der Jugendhilfe (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.07.2017 - 12 S 468/15 -, juris Rn. 64; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.01.2017 - 7 A 1057/16 -, juris Rn. 52; Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 11 m.w.N.). Auch andere Verfahren in „Angelegenheiten des Kindergartenrechts“ werden den Angelegenheiten der Jugendhilfe im Sinne von § 188 VwGO zugeordnet, wie etwa die Streitigkeiten um die Wahl der Kita-Elternbeiräte (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.04.2020 - OVG 6 S 9/20 -, juris Rn. 11) oder die Streitigkeiten über Elternbeträge für die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege (BVerwG, Urteil vom 28.03.2019 - 5 CN 1.18 -, juris Rn. 22). Letzteres wird unabhängig von der konkreten Rechtsgrundlage angenommen, da die sachliche Nähe zu fürsorgerischen Leistungen den (auch) abgabenrechtlichen Charakter solcher Verfahren überwiegt (vgl. Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 11 m.w.N.). Dem Sachgebiet der Jugendhilfe können ferner auch sonst Verfahren zugeordnet werden, deren Rechtsgrundlagen außerhalb des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch liegen, wenn ihr Schwerpunkt im Kinder- und Jugendhilferecht liegt, die sachliche Nähe zu fürsorgerischen Leistungen zugunsten von Kindern und Jugendlichen überwiegt oder die Sachlage derjenigen in Kinder- und Jugendhilfesachen vergleichbar ist, wie etwa bei Streitigkeiten nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (vgl. zum UVG BVerwG, Urteil vom 14.10.1993 - 5 C 10.91 -, juris Rn, 17; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.11.1995 - 6 S 1945/95 -, juris Rn. 19; Clausing/Kimmel in: Schoch/Schneider, VwGO, § 188 Rn. 11).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Nach diesen Maßgaben handelt es sich bei den Streitigkeiten um die Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer (kommunalen) Kindertageseinrichtung um eine Angelegenheit der Jugendhilfe im Sinne des § 188 Satz 1 VwGO. Dies wird einheitlich so gesehen, wenn die antragstellende Person - in der Regel das zu betreuende Kind vertreten durch seine Eltern - den Anspruch auf Zuweisung eines Betreuungsplatzes auf § 24 Abs. 2 oder 3 SGB VIII stützt (st. Rspr., vgl. etwa OVG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 01.09.2022 - OVG 6 S 55/22 -, juris Rn. 6; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19.07.2022 - 14 ME 277/22 -, juris Rn. 6; Senatsbeschlüsse vom 13.12.2021 - 12 S 3227/21 -, juris Rn. 23, vom 21.07.2020 - 12 S 1545/20 -, juris Rn. 34 und vom 18.07.2018 - 12 S 643/18 -, juris Rn. 27). Nichts anders gilt, wenn der Anspruch auf Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung kumulativ oder - wie hier - allein auf § 10 Abs. 2 GemO gestützt und gegenüber der Gemeinde geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne zum jeweiligen Landesrecht auch VG Potsdam, Beschlüsse vom 13.06.2018 - 7 L 423/18 -, juris Rn. 28, 33, und vom 27.04.2018 - VG 7 L 296/18 -, juris Rn. 18 ff., 29; VG München, Urteil vom 18.09.2013 - M 18 K 13.2256 -, juris Rn. 51, 71; a.A. VG Ansbach, Beschluss vom 17.02.2017 - AN 15 E 17.00226 -, juris Rn. 46; jeweils ohne Begründung).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Auch wenn im vorliegenden Fall die geltend gemachte Anspruchsnorm im Kommunalrecht liegt, wird der Sache nach eine Leistung aus dem Bereich der Fürsorge in einem weiten Sinne zugunsten von Kindern begehrt, da die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen ihren Schwerpunkt in einer fürsorgenden Betreuung mit dem Ziel einer Förderung sozialer Verhaltensweisen und damit (präventiver) Konfliktvermeidung hat (vgl. BT-Drs. 16/9299). Ebenso wie bei Geltendmachung eines Anspruchs auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege nach § 24 Abs. 2, 3 SGB VIII geht es bei der begehrten Zuweisung eines Platzes in einer kommunalen Kindertageseinrichtung nach § 10 Abs. 2 GemO um anspruchsberechtigte Kinder, die sich in einem Alter befinden, in denen sie einer besonderen Betreuung bedürfen. Das konkrete Begehren, d.h. das Rechtsschutzziel - die Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung - unterscheidet sich nicht von dem Begehren derjenigen Person, die sich hierfür auf ihren Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 oder 3 SGB VIII beruft (vgl. allgemein zum Klagebegehren bei unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen Wöckel in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 88 Rn. 7). Andernfalls würde ein und dasselbe Begehren der antragstellenden Person je nach Anspruchsgrundlage bei der gerichtsinternen Geschäftsverteilung und der Gerichtskostenfreiheit unterschiedlich behandelt, was zu einer nicht nachvollziehbaren Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts führen und dem gesetzgeberischen Zweck, mit § 188 VwGO eine umfassenden Pauschalregelung getroffen zu haben, zuwiderlaufen würde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Es kommt für die Zuordnung zum Sachgebiet der Jugendhilfe im Sinne von § 188 VwGO auch nicht darauf an, ob die Gemeinde nach § 69 SGB VIII i.V.m. § 1 Abs. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetz für Baden-Württemberg (LKJHG) in der Fassung vom 14. April 2005 (GBl. 2005, 376) zugleich örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist, was sie mit Ausnahme der kreisfreien Städte oder der zu örtlichen Trägern bestimmten kreisangehörigen Gemeinde nicht sind (anders bei Streitigkeiten um einen Platz in der Kinderkrippe des Studentenwerks VG Göttingen, Beschluss vom 30.09.2004 - 4 B 116/04 -, juris Rn. 22). Entscheidend ist vielmehr die sachliche Nähe des geltend gemachten Anspruchs auf Zuweisung eines Platzes in einer kommunalen Kindertageseinrichtung zu den Regelungen der §§ 22 ff. SGB VIII, insbesondere den Grundsätzen der Förderung in § 22 SGB VIII und dem Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII (vgl. zur Berücksichtigung des § 22 SGB VIII bei der Vergabe von Kita-Plätzen etwa OVG Niedersachsen, Beschluss vom 03.09.2020 - 10 ME 174/20 -, juris Rn. 4). Dafür spricht auch, dass die Gemeinden nicht nur als Träger der kommunalen Tageseinrichtungen die Grundsätze der Förderung nach §§ 22 ff. SGB VIII zu beachten haben, sondern sie darüber hinaus in vielfältiger Weise in die Erfüllung der Aufgaben nach §§ 22 ff. SGB VIII eingebunden sind (vgl. §§ 2 ff. des Gesetzes über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, andere Tageseinrichtungen und der Kindertagespflege [Kindertagesbetreuungsgesetz - KiTaG] vom 19.03.2009, GBl. 2009, 161).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>III. Die Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 03.08.2022 - 7 K 3216/22 -, soweit mit diesem eine Gerichtskostenfreiheit verneint und ein Streitwert in Höhe von 5.000,-- Euro festgesetzt worden ist, findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Danach kann die Festsetzung von dem Rechtsmittelgericht von Amts wegen geändert werden, wenn das Verfahren - wie hier - wegen der Hauptsache in der Rechtsmittelinstanz schwebt; die Änderung ist innerhalb von sechs Monaten zulässig, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat (Satz 2). Von dieser Vorschrift macht die Berichterstatterin Gebrauch und hebt die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts - als stärkste Art der Änderung - auf (vgl. zur Aufhebung einer Streitwertfestsetzung im Fall der Gerichtskostenfreiheit Senatsbeschlüsse vom 23.02.2022 - 12 S 659/19 -, n.v., S. 9, und vom 25.01.2021 - 12 S 4264/20 -, juris Rn. 11).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>IV. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr></table>
346,752
ovgnrw-2022-09-26-2-e-41722
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2 E 417/22
"2022-09-26T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:21"
"2022-10-17T11:10:39"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0926.2E417.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die nach §§ 146 Abs. 1, 147 VwGO zulässige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 2. Mai 2022, mit dem das Verwaltungsgericht das bei ihm anhängige Klageverfahren auf Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheids für die Errichtung eines Wohnhauses auf dem Grundstück Gemarkung X.       , Flur 35, Flurstück 1093, bis zum rechtskräftigen Abschluss des beim Senat gegen die 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T.              " der Beigeladenen anhängigen Normenkontrollverfahrens 2 D 62/22.NE gemäß § 94 VwGO analog ausgesetzt hat, ist begründet.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Entscheidung über eine Beschwerde gegen einen Aussetzungsbeschluss gemäß § 94 VwGO (analog) prüft das Beschwerdegericht (nur), ob die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Aussetzung nach dieser Norm vorlagen und ob das aussetzende Gericht das ihm darin eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat. Bei der Überprüfung der Tatbestandsvoraussetzungen hat das Beschwerdegericht grundsätzlich die Würdigung der Sach- und Rechtslage durch das aussetzende Gericht zugrunde zu legen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. Rudisile, in: Schoch / Schneider, Kommentar zur VwGO, Loseblatt, Stand: Februar 2022, § 94 Rn. 41 m. w. N.; Peters / Schwarzburg, in: Sodan / Ziekow, Kommentar zur VwGO, 5. Auflage, 2018, § 94 Rn. 29 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vorliegend ist es dem Senat aber bereits nicht möglich zu überprüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 94 VwGO in der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen entsprechenden Anwendung der Norm auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung vorgelegen haben, da im Aussetzungsbeschluss hierzu keine Ausführungen enthalten sind, so dass der Beschluss schon aus diesem Grund aufzuheben ist (dazu nachfolgend unter 1.). Davon unabhängig hat das Verwaltungsgericht in dem Aussetzungsbeschluss das ihm in § 94 VwGO eingeräumte Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt (dazu nachfolgend unter 2.).</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1.              Gemäß § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach der vom Verwaltungsgericht unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">vgl. etwa: BVerwG, Beschlüsse vom 16. August 2017 - 9 C 18.16 -, juris Rn. 1, und vom 8. Dezember 2000 - 4 B 75.00 -, NVwZ-RR 2001, 483 = juris Rn. 7,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">angenommenen analogen Anwendung des § 94 VwGO in Bezug auf ein anderweitig anhängiges Normenkontrollverfahren ist daher vorliegend tatbestandliche Voraussetzung für eine Aussetzung, dass die Entscheidung des beim Verwaltungsgericht anhängigen Klageverfahrens auf Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheids für die Errichtung eines Wohnhauses auf dem Grundstück Gemarkung X.       , Flur 35, Flurstück 1093, von der Wirksamkeit der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T.              " der Beigeladenen abhängt, welche Gegenstand des beim Senat anhängigen Normenkontrollverfahrens - 2 D 62/22.NE - ist. Diese Tatbestandsvoraussetzung der sog. Vorgreiflichkeit des Normenkontrollverfahrens gegenüber dem verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht in dem Aussetzungsbeschluss jedoch nicht geprüft, obwohl es dazu verpflichtet gewesen wäre.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dem Aussetzungsbeschluss muss nämlich hinreichend entnommen werden können, ob und welche Überlegungen das aussetzende Verwaltungsgericht zur Frage der Vorgreiflichkeit angestellt hat, weil das Beschwerdegericht die Frage, ob von Vorgreiflichkeit auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Ausgangsgerichts auszugehen ist, nur beurteilen kann, wenn diese Rechtsauffassung im Aussetzungsbeschluss hinreichend erläutert und damit als solche „messbar“ wird.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BayVGH, Beschlüsse vom 30. Juli 2018 - 15 C 18.795 -, juris Rn. 24, vom 9. Juli 2007 - 26 C 06.3297 -, juris Rn. 11, und vom 8. Juli 2003 - 14 C 03.1428 -, juris Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vorliegend fehlen in dem angefochtenen Aussetzungsbeschluss allerdings Ausführungen dazu, warum die Frage der Wirksamkeit der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T.              " der Beigeladenen für das verwaltungsgerichtliche Klageverfahren entscheidungserheblich ist. Zur Begründung dieser Entscheidungserheblichkeit reicht die Bemerkung des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Beschluss, eine etwaige Unwirksamkeitserklärung der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 „T.              “ der Beigeladenen durch das Oberverwaltungsgericht im Normenkontrollverfahren 2 D 62/22.NE wäre allgemein verbindlich und damit auch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren zu beachten (§ 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO), ersichtlich nicht aus. Vielmehr hätte das Verwaltungsgericht an dieser Stelle des Beschlusses - zumindest kurz - darlegen müssen, dass die Klägerin seiner Ansicht nach nur wegen der entgegenstehenden Festsetzungen der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T.              " keinen Anspruch auf Erteilung des von ihr beantragten bauplanungsrechtlichen Vorbescheids hat, so dass es auf deren Wirksamkeit entscheidungserheblich ankommt, und nicht auch aus anderen (selbständig tragenden) Gründen. Als derartige Gründe kämen etwa durchgreifende Mängel der bauplanungsrechtlichen Voranfrage der Klägerin an die Beklagte in Betracht oder der Umstand, dass das von der Klägerin angefragte Bauvorhaben (auch) den Festsetzungen der bei unterstellter Unwirksamkeit der 16. Änderung des Bebauungsplans Nr. 11 "T.              " zur Anwendung gelangenden vorherigen Fassung des Bebauungsplans widerspräche. Die sachgerechte Prüfung solcher Umstände kann jedoch nur nach Beiziehung des Verwaltungsvorgangs der Beklagten zur bauplanungsrechtlichen Voranfrage der Klägerin sowie Vorlage der Klageerwiderung durch die Beklagte erfolgen. Im Zeitpunkt der Fassung des Aussetzungsbeschlusses hatte das Verwaltungsgericht aber weder den Verwaltungsvorgang beigezogen noch die mit gerichtlicher Verfügung vom 21. September 2021 erstmals angeforderte Klageerwiderung vorliegen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Es ist auch nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, die Prüfung der Vorgreiflichkeit nachzuholen. Maßgebend für die Entscheidung über die Aussetzung ist nämlich die materiell-rechtliche Beurteilung des Prozessstoffes durch das Ausgangsgericht. Andernfalls würde die gesetzliche Reihenfolge der Instanzen dadurch verändert, dass das Beschwerdegericht in einem Zwischenstreit über die Aussetzung den gesamten Streitstoff beurteilen und dem Ausgangsgericht die Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorgeben müsste.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. BayVGH, Beschluss vom 8. Juli 2003 - 14 C 03.1428 -, juris Rn. 9 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">2.              Dessen ungeachtet hat das Verwaltungsgericht das ihm in § 94 VwGO (analog) eingeräumte Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Ermessensausübung durch das Verwaltungsgericht hat sich daran auszurichten, dass seine im Interesse zügigen und effektiven Rechtsschutzes i. S. v. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK bestehende Verpflichtung, den Prozess zu fördern, nur aus gewichtigen Gründen zurückgestellt werden darf.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020 - 10 E 538/20 -, juris Rn. 7 f. m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dem Aussetzungsbeschluss des Verwaltungsgerichts sind jedoch keine diesen Anforderungen genügenden Ermessenserwägungen zu entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Soweit das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Ermessensausübung zunächst darauf abgestellt hat, dass die Aussetzung des bei ihm anhängigen Klageverfahrens prozessökonomisch sinnvoll sei, weil sich in diesem Verfahren und dem beim Senat anhängigen Normenkontrollverfahren weitüberwiegend dieselben Rechtsfragen stellten, handelt es sich hierbei um einen Umstand, der bereits bei Bejahung der Vorgreiflichkeit auf der Tatbestandsseite des § 94 VwGO vorliegt und damit keinen bei der Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite der Norm zu berücksichtigenden gewichtigen Grund im zuvor genannten Sinne darstellt.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls nicht auf einen gewichtigen Grund führt die weitere Ermessenserwägung des Verwaltungsgerichts, seine Prozessförderungspflicht betreffe nicht nur das vorliegende Klageverfahren, sondern auch die übrigen - teils nicht unerheblich länger - im Dezernat des Berichterstatters anhängigen Hauptsacheverfahren, die ebenso wirtschaftlich bedeutsam seien; zudem bestehe eine erhebliche Belastung der Baukammern mit Eilverfahren. Denn in jedem erstinstanzlichen (baurechtlichen) Dezernat wird es (ähnlich bedeutsame) ältere Hauptsacheverfahren sowie zusätzliche Eilverfahren geben, so dass derartige Umstände keine Besonderheit darstellen, die das Zurückstellen der Prozessförderungspflicht im ausgesetzten Verfahren rechtfertigen können. Darüber hinaus ist vorliegend das Normenkontrollverfahren beim Senat erst seit Februar 2022 anhängig, während beim Verwaltungsgericht die Klage bereits im Juli 2021 eingegangen ist.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Soweit das Verwaltungsgericht weiter anführt, es sei auch "zu erwarten", dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht rechtskräftig werde, solange nicht rechtskräftig über den Normenkontrollantrag der Klägerin entschieden worden sei, handelt es sich lediglich um eine nicht näher begründete Spekulation.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Alle weiteren vom Verwaltungsgericht zur Ermessensausübung getätigten Ausführungen zielen lediglich darauf ab, die von der Klägerin im Rahmen der vorherigen Anhörung zur beabsichtigten Verfahrensaussetzung vorgebrachten Einwendungen gegen die Aussetzung zu widerlegen, enthalten darüber hinaus aber keinen wichtigen Grund für eine Verfahrensaussetzung im oben genannten Sinne.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
346,731
ovgni-2022-09-26-1-la-7721
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1 LA 77/21
"2022-09-26T00:00:00"
"2022-09-28T10:01:00"
"2022-10-17T11:10:36"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 12. April 2021 wird abgelehnt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf 30.000 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Klägerin wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Carports und eines Geräteraums.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Klägerin ist Eigentümerin eines mit einem Schlachtereibetrieb bebauten Grundstücks auf den Flurstücken Nr. F. und G., Flur H., Gemarkung A-Stadt. Der Schlachtereibetrieb grenzt rückwärtig an die seit Jahrzehnten bestehenden Verkaufsräume der Klägerin unter der postalischen Adresse A-Straße in A-Stadt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Der Beigeladene ist Eigentümer des angrenzenden Grundstücks D-Straße bis 4, eines etwa 4.000 m² großen Grundstücks, im Wesentlichen bestehend aus dem Flurstück NrI., Flur H., Gemarkung A-Stadt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der Beklagte erteilte dem Kläger im Jahr 1964 eine Baugenehmigung zur Errichtung des Schlachtbetriebs, wobei eine grenzständige Bebauung und der Einbau von Glasbausteinen entlang der Grenze des Flurstücks Nr. G. zugelassen und auf die Errichtung einer vorschriftsmäßigen Brandmauer verzichtet wurde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Der Beigeladene errichtete etwa im Jahr 2015 grenzständig entlang der nördlichen Grenze des Flurstücks einen etwa 8 m langen, 4 m breiten und 3,50 m hohen Carport mit einem daran anschließenden 4,66 m langen und 2,76 m breiten Geräteraum (Grundfläche 12,86 m²).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Eine auf bauaufsichtliches Einschreiten des Beklagten gegen diese Bebauung gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht mit rechtskräftigem Urteil vom 17. Juni 2019 (Az.: 2 A 263/17) ab.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Am 6. November 2019 erteilte der Beklagte dem Beigeladenen zur Legalisierung seines Carports mit Geräteraum eine Baugenehmigung verbunden mit der Auflage (Nr. 12), die tragende und aussteifende Konstruktion des Carports gemäß einer vom Beigeladenen selbst eingereichten brandschutztechnischen Beschreibung feuerhemmend zu verkleiden. Zugleich ließ sie mit der baulichen Genehmigung eine Abweichung von § 5 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 NBauO und von § 5 Abs. 8 Satz 3 NBauO, jeweils in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung, zu. Den gegen diese Baugenehmigung erhobenen Widerspruch, den die Klägerin auch mit Mängeln der brandschutzrechtlichen Prüfung begründete, wies der Beklagte mit Bescheid vom 7. Juli 2020 unter anderem mit der Begründung zurück, dem Brandschutz durch die erteilten Auflagen ausreichend Rechnung getragen zu haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Die gegen diese Baugenehmigung gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Baugenehmigung verstoße nicht gegen nachbarschützende Vorschriften. Der erforderliche Brandschutz für das Gebäude der Klägerin sei durch die Auflage zur Umsetzung des Brandschutzkonzepts ausreichend sichergestellt. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch darauf, dass der Beigeladene allein den Brandschutz an der gemeinsamen Grundstücksgrenze gewährleiste. Denn der Inhaber einer Baugenehmigung, mit der der Einbau von Glasbausteinen in eine Brandwand genehmigt worden sei, könne sich nicht mit Erfolg gegen eine Baugenehmigung für ein Nachbarvorhaben wenden, das an die Grenzwand angebaut werden solle. Gegebenenfalls müsse die Klägerin entsprechende Ertüchtigungsmaßnahmen an ihrem Gebäude vornehmen, wenn sie dieses Brandschutzkonzept für unzulänglich erachte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Der dagegen gerichtete, der Sache nach auf den Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens eine erhebliche Tatsachenfeststellung oder einen tragenden Rechtssatz mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich dadurch etwas am Entscheidungsergebnis ändern könnte. Überwiegende Erfolgsaussichten sind nicht erforderlich; es genügt, wenn sich diese als offen erweisen. Das darzulegen, ist der Klägerin nicht gelungen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin darauf, dass die Grenzbebauung schon deshalb unzulässig sei, weil die von ihr errichtete Grenzwand keine Brandwand sei und das Bauvorhaben seinerseits nicht den Brandschutzvorschriften entspreche.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 NBauO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn die Baumaßnahme, soweit sie genehmigungsbedürftig und eine Prüfung erforderlich ist, dem öffentlichen Baurecht entspricht. Hat die Baugenehmigungsbehörde die Vereinbarkeit eines Vorhabens mit bestimmten Anforderungen des öffentlichen Baurechts nicht zu prüfen, enthält die Baugenehmigung auch keine Aussage zur Vereinbarkeit des Vorhabens mit diesen Anforderungen. Dementsprechend enthält die Baugenehmigung insoweit auch keine verbindliche Regelung, die den Nachbarn belasten könnte, so dass eine Anfechtung einer Baugenehmigung durch den Nachbarn insoweit entfällt (vgl. Senatsbeschl. v. 17.12.1996 - 1 M 5481/96 -, NdsRpfl 1997, 128 = BRS 58 Nr. 183 = juris Rn. 10).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Gemäß § 63 Abs. 1 Satz 2 NBauO prüft die Bauaufsichtsbehörde die Bauvorlagen im hier durchgeführten vereinfachten Genehmigungsverfahren grundsätzlich nur auf ihre Vereinbarkeit mit den dort genannten Vorschriften. Zu diesen zählen die Vorschriften zum Brandschutz, etwa die die Errichtung von Brandwänden betreffende Vorschrift des § 30 NBauO, nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die Beklagte hat aber, wie sich aus der Baugenehmigung und dem Widerspruchsbescheid ergibt, überobligatorisch die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit Belangen des Brandschutzes geprüft und durch die erteilten Auflagen als gesichert angesehen. Ob sich dadurch die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung auch auf die grundsätzlich drittschützenden Anforderungen an den Brandschutz erstreckt (vgl. dazu Stiel/Lenz, in: Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 63 Rn. 8; Kemper, in: Spannowsky/Otto, Bauordnungsrecht Niedersachsen, § 63 Rn. 48, Stand: 1.3.2022), kann hier offenbleiben, weil drittschützende nachbarrechtliche Brandschutzvorschriften nicht verletzt sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>a)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Die Tatsache, dass die Klägerin bei Bau ihres Gebäudes von den Verpflichtungen zur Errichtung einer Brandwand befreit war, führt nicht zur Rechtswidrigkeit der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung. Die Klägerin legt nicht dar, aus welchen rechtlichen Gründen ein Anbau von einem Carport und einem Geräteraum an einer Wand, die keine Brandschutzwand ist, nicht zugelassen werden kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Aus den Vorschriften zu den Grenzabständen gemäß § 5 ff. NBauO ergibt sich dies nicht. Diese dienen grundsätzlich nicht dem Brandschutz, insbesondere nicht der Begrenzung einer Brandausbreitung, was sich bereits in § 5 NBauO, der zahlreiche Ausnahmen gestattet, in aller Deutlichkeit zeigt. Der Brandschutz wird im Bauordnungsrecht vielmehr in speziellen Vorschriften (u.a. § 14 NBauO, §§ 26 ff. NBauO, § 8 DVO-NBauO) geregelt (vgl. Senatsbeschl. v. 17.11.2021 - 1 ME 34/21 -, BauR 2022, 223 = juris Rn. 11 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Aus der Tatsache, dass die Klägerin bei Bau ihres Schlachtbetriebs von der Verpflichtung, eine gebäudeabschließende Wand als Brandmauer zu errichten, befreit worden ist, lässt sich dies ebenfalls nicht folgern. Der Wert der der Klägerin erteilten Befreiung erschöpft sich zum einen darin, dass sie seinerzeit bei Errichtung ihres grenzständigen Gebäudes keine Aufwendungen zur Errichtung einer Brandwand tätigen musste. Zum anderen resultiert aus einer solchen Befreiung, dass ein anbauender Nachbar aufgrund der Legitimationswirkung der der Klägerin erteilten Genehmigung keine Ansprüche auf bauaufsichtliches Einschreiten wegen des Fehlens einer Brandwand geltend machen kann. Darüber hinaus kann die Klägerin keine weiteren Vorteile gegenüber dem Beigeladenen für sich herleiten. Insbesondere resultieren aus der ihr günstigen Befreiung keine Einschränkungen der Bebaubarkeit des Nachbargrundstücks.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Soweit die Klägerin mit dem pauschal erhobenen Einwand zudem geltend machen will, dass das Nachbargebäude des Beigeladenen dadurch gefährdet sei, dass von ihrem Gebäude wegen der fehlenden Brandwand eine Brandgefahr ausgehe, macht sie keinen sie begünstigenden, drittschützenden Belang geltend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>b)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Die Klägerin kann die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung auch nicht mit dem Vortrag infrage stellen, dass der von dem Beigeladenen erstellte Carport und der Geräteraum seinerseits nicht den grundsätzlich drittschützenden Brandschutzvorschriften entsprächen. Entgegen ihrem auf die von ihr eingeholten brandschutztechnischen Stellungnahmen gestützten Vortrag, auf den die Klägerin - bei ihr günstiger Auslegung ihres Zulassungsantrags - Bezug nimmt, musste das Bauvorhaben des Beigeladenen nicht mit einer Brandschutzwand versehen werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Soweit es den Geräteraum betrifft, ist dieser zwar grundsätzlich ein Gebäude, für das gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Allgemeinen Durchführungsverordnung zur Niedersächsischen Bauordnung - DVO-NBauO - vom 26. September 2012 (Nds. GVBl. S. 382) in der bei Genehmigungserteilung geltenden Fassung vom 19. September 2019 (Nds. GVBl. S. 277) eine Brandwand vorgesehen ist, weil der Abstand der Abschlusswand zu den Grenzen des Baugrundstücks weniger als 2,50 m beträgt und die Abschlusswand diesen Grenzen in einem Winkel von weniger als 45° zugekehrt ist. Gemäß Satz 2 gilt Satz 1 Nr. 1 aber nicht für Gebäudeabschlusswände von eingeschossigen Gebäuden mit nicht mehr als 30 m² Grundfläche, die weder Aufenthaltsräume noch Feuerstätten haben. Diese Voraussetzungen erfüllt der nur etwa 13 m² große Geräteraum.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Auch der Carport muss nicht mit einer mindestens feuerhemmenden Trennwand in Richtung der Schlachterei versehen werden. Eine derartige Pflicht ergibt sich nicht aus § 8 Abs. 1 der Verordnung über den Bau und Betrieb von Garagen und Stellplätzen - GaStplVO - vom 4. September 1989 (Nds. GVBl. S. 327) in der bei Genehmigungserteilung geltenden Fassung vom 11. Oktober 2012 (Nds. GVBl. S. 401). Danach müssen zwischen Garagen und nicht zu den Garagen gehörenden Räumen Trennwände als raumabschließende Bauteile vorhanden sein. Nach Satz 2 müssen diese Trennwände die dort genannten Voraussetzungen an die Feuerwiderstandsfähigkeit erfüllen, mindestens jedoch feuerhemmend sein. Gemäß Abs. 4 Nr. 2 der Norm gilt dies jedoch nicht für offene Kleingaragen. Um eine solche handelt es sich bei dem Carport des Beigeladenen. Dieser ist mit einer Grundfläche von unter 100 m² eine Kleingarage im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 GaStplVO. Dadurch, dass er unmittelbar ins Freie führende und unverschließbare Öffnungen in einer Größe von mindestens einem Drittel der Gesamtfläche der umfassenden Wände hat, ist er auch eine offene Kleingarage im Sinne des § 1 Abs. 3 GaStplVO. Aus dem gleichen Grund bedarf es gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 GaStplVO keiner Brandwand im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 DVO-NBauO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Entgegen den Ausführungen in den von der Klägerin eingeholten sachverständigen Stellungnahmen, insbesondere der Stellungnahme vom 17. Februar 2021, sehen die genannten Vorschriften keine Verschärfung der Anforderungen für den Fall vor, dass ein Carport bzw. ein Geräteraum an eine Wand angebaut werden, die ihrerseits keine Brandwand ist. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, kann die Klägerin auch dann, wenn sie ihr Gebäude mit Genehmigung des Beklagten ohne Brandschutzwand errichten durfte, aus keinem rechtlichen Grund Unzulänglichkeiten des Brandschutzes ihrer eigenen baulichen Anlagen auf den Beigeladenen abwälzen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Dass das Dach des Carports und des Geräteraums die Voraussetzungen des § 11 Abs. 7 Satz 1 DVO-NBauO zur brandschutztechnischen Ausgestaltung von Dächern erfüllen, die an Außenwände ohne Feuerwiderstandsfähigkeit oder an Außenwände mit Öffnungen oberhalb des Daches angebaut sind, stellt auch der Privatgutachter der Klägerin in seiner Stellungnahme zuletzt vom 17. Februar 2021 nicht infrage. Nach dieser sind die Berechnungen zum Feuerwiderstand, die die Beklagte zum Inhalt der Baugenehmigung gemacht hat, „vermutlich richtig“. Der Privatsachverständige der Klägerin vermisst lediglich Ausführungen zu einem Raumabschluss zwischen der Garage und der angrenzenden Fleischerei, der aber wie ausgeführt nicht erforderlich ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Zu Unrecht hält die Klägerin die Baugenehmigung auch deshalb für rechtswidrig, weil die Belüftung durch die Kippfenster beeinträchtigt und der Lichteinfall in die Produktionsräume der Klägerin durch einen querlaufenden Trägerbalken des Anbaus der Beigeladenen erheblich eingeschränkt sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Mit diesem Vortrag macht die Klägerin die Rechtswidrigkeit der Befreiung von den Abstandsvorschriften geltend. Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 NBauO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn diese unter Berücksichtigung des Zwecks und der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen nach § 3 Abs. 1 NBauO vereinbar sind. Zu den mit den Abstandsvorschriften verfolgten Zwecke gehört - anders als der Brandschutz - die Sicherstellung einer ausreichenden Belüftung, Besonnung und Tageslichtbeleuchtung. Von dem ihr damit eröffneten Ermessen hat die Beklagte fehlerfrei Gebrauch gemacht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Aus den im früheren Verfahren (Az: 2 A 263/17) vor dem Verwaltungsgericht zur Akte gereichten Lichtbildern ist zu erkennen, dass der Carport und der angrenzende Geräteraum die Flächen aus Glasbausteinen etwa zur Hälfte verdecken. Unterhalb des Daches des Carports und des Geräteraums ist daher mit einer Verschattung zu rechnen, wenngleich auch in diesem Bereich noch Tageslicht in die dahinterliegenden Produktionsräume gelangen kann. Oberhalb des Daches ist der Einfall von Tageslicht nicht beeinträchtigt. Für die Besonnung ist diese nach Norden weisende Außenwand ohnehin nicht von Bedeutung. Im Osten und im für die Besonnung deutlich relevanteren Süden stehen unverdeckte Außenwände zur Verfügung, die deutlich länger sind als die hier relevante Außenwand. Die Belüftung wird durch den Carport und den Geräteraum nicht beeinträchtigt, weil die kippbaren Glasbausteine, die die Belüftung sicherstellen, oberhalb des Daches des Carports liegen. Mit einer Höhe von 3,50 m überschreitet das Bauvorhaben des Beigeladenen die maximale Höhe von 3 m nur knapp, bis zu der Garagen gemäß § 5 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 NBauO ohne Abstand oder mit einem bis auf 1 m verringerten Abstand von der Grenze ohnehin zulässig sind. Angesichts dessen steht dem Interesse des Beigeladenen an einer Grenzbebauung nur ein vergleichsweise geringes Interesse der Klägerin gegenüber. Ihr Versäumnis, sich von dem Rechtsvorgänger des Beigeladenen eine zivil- oder öffentlich-rechtliche Sicherung ihres Grenzbaus bewilligen zu lassen, wirkt sich zu ihren Lasten aus; sie hat - was der Beklagte bei seiner Ermessensbetätigung berücksichtigen kann - mit Blick auf die Schutzzwecke des Grenzabstandrechts grundsätzlich keine Handhabe, dem Beigeladenen eine ihrem eigenen Bau entsprechende oder dahinter zurückbleibende Grenzbebauung zu verwehren (vgl. Senatsbeschl. v. 17.11.2021 - 1 ME 34/21 -, BauR 2022, 223 = juris Rn. 17 m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Soweit die Klägerin geltend macht, dass der Beigeladene angesichts der Größe seines Grundstücks das Bauvorhaben auch an anderer Stelle realisieren könnte, ist dem entgegenzuhalten, dass die Zulässigkeit einer Unterschreitung des Abstands zu einer Grundstücksgrenze nicht davon abhängig ist, dass das Bauvorhaben nur an dieser Grenze errichtet werden kann. Das ergibt sich bereits daraus, dass das Bauvorhaben, würde es die Grenzen des § 5 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 NBauO einhalten, ohne Weiteres zulässig wäre. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Senatsbeschluss vom 20. Januar 2011 (- 1 ME 275/10 -, BauR 2011, 994 = BRS 78 Nr. 198 = juris Rn. 11). Diese Entscheidung erging zu der damals noch geltenden Norm des § 8 Abs. 4 NBauO, nach der die Bauaufsichtsbehörde bei einer nach städtischen Planungsrecht zulässigen Errichtung eines Gebäudes ohne Grenzabstand verlangen konnte, dass dennoch der gesetzliche Abstand eingehalten wird, wenn die vorhandene Bebauung dies erfordert. Diese Vorschrift hat in der heute geltenden NBauO keine Entsprechung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>3.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen beruht die Entscheidung auf § 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, weil sich der Beigeladene durch die Stellung eines Antrags einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG und Nr. 7e der Streitwerteinnahmen der Bausenate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für vor dem 1. Juni 2021 eingegangene Streitsachen (NdsVBl 2002, 192); der Senat berücksichtigt, dass eine erhebliche Beeinträchtigung eines Gewerbebetriebs geltend gemacht wird. Die Anpassung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007177&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,946
ovgnrw-2022-09-23-21-d-1219ak
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
21 D 12/19.AK
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:31"
"2022-10-17T11:11:08"
Urteil
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0923.21D12.19AK.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt die Klägerin.</p> <p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p> <p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin, eine Gemeinde im Kreis X.     , wendet sich gegen den Planfeststellungsbeschluss der Bezirksregierung E.          (Planfeststellungsbehörde) vom 9. Januar 2019 betreffend die Erdgasfernleitung A.       der Beigeladenen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Gegenstand des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses ist die Errichtung und der Betrieb der Erdgasfernleitung Nr. 098, A.       im ca. 105 km langen Abschnitt von der Station I.            (Gemeinde K.      ) bis zur Station E1.          (Gemeinde T.          ) einschließlich der hiermit im Zusammenhang stehenden Folgemaßnahmen an anderen Anlagen sowie der Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege. Es handelt sich um eine Hochdruckleitung mit einen maximal zulässigen Betriebsdruck von 100 bar. Die planfestgestellte Trasse kreuzt im hier interessierenden Bereich aus südwestlicher Richtung kommend ca. 800 m nördlich der M.     die Bundesautobahn 3, verläuft anschließend in nördlicher Richtung und nach Kreuzung der Bundesstraße 58 in östlicher Richtung jeweils entlang der zunächst östlich später südlich der Trasse gelegenen Bebauung im Ortsteil E2.         der Klägerin, bevor sie nach Kreuzung der Straße „Q.---weg “ wieder nach Norden verschwenkt. Südlich der Bundesstraße 58 und westlich der vorhandenen Bebauung des Ortsteils E2.         weist der Bebauungsplan Nr. 45 „O.-----straße “ der Klägerin ein Allgemeines Wohngebiet aus, das nach Angaben der Klägerin einen Abstand von teilweise weniger als 100 m zur Trasse der Leitung hat.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Planfeststellungsverfahren wurde mit Antrag der Beigeladenen vom 22. August 2017 in Gang gesetzt. Im Rahmen des durchgeführten Anhörungsverfahrens erhob die Klägerin mit Schreiben vom 25. Oktober 2017 Einwendungen gegen das Vorhaben. Sie machte im Wesentlichen geltend, dass hinsichtlich des beantragten Trassenverlaufs Sicherheitsbedenken in Bezug auf die – an oberster Stelle stehenden – Schutzgüter Mensch und Umwelt bestünden. Ferner sei zweifelhaft, ob die geplante Überdeckung der Gasleitung eine ausreichende Sicherheit bieten werde. Schließlich forderte sie Regelungen hinsichtlich zu erwartender Nachteile bei der Vermarktung von Grundstücken, zum Schutz der Trinkwasserqualität sowie in Bezug auf die Beseitigung von Beschädigungen an gemeindeeigenen Straßen und Wegen und die Abstimmung der Art der Querung von Straßen, Wegen und Kanälen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit dem erwähnten Beschluss vom 9. Januar 2019, der Klägerin zugestellt im Februar 2019, stellte die Planfeststellungsbehörde das streitige Vorhaben fest.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 1. März 2019 Klage erhoben.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor: Die Klage sei zulässig, insbesondere sei sie klagebefugt, da sie geltend machen könne, durch den angegriffenen Planfeststellungsbeschluss in eigenen Rechten verletzt zu werden. Das Vorhaben solle sehr nah an bebauten und – nach ihrer planerischen Konzeption – bebaubaren Flächen vorbeiführen. Die Nähe zu den bebaubaren Flächen führe dazu, dass die in Form eines verbindlichen Bauleitplans bestehende planerische Konzeption einer Siedlungsentwicklung im Bereich des Gebiets des Bebauungsplans Nr. 45 „O.-----straße “ vereitelt bzw. jedenfalls beeinträchtigt werde, da allenfalls geringes Interesse an der Errichtung von Wohnhäusern neben der Erdgasfernleitung bestehe, so dass eine Bebauung des Bebauungsplangebiets nicht oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erfolgen würde. Zudem könne sie die in ihrem Eigentum stehenden Baugrundstücke nicht oder nur zu wesentlich geringeren Preisen veräußern, sodass auch eine Verletzung ihres einfachrechtlichen Eigentumsrechts nicht ausgeschlossen sei. Dieses sei auch betroffen, soweit das planfestgestellte Vorhaben Straßen und Wege kreuze, die in ihrem Eigentum ständen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei auch begründet. Der angegriffene Planfeststellungsbeschluss sei rechtswidrig und verletzte sie in ihren Rechten. Er sei aufzuheben, da die Mängel nicht durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden könnten.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das planfestgestellte Vorhaben entspreche nicht den einschlägigen Sicherheitsanforderungen, jedenfalls sei der im Abwägungsgebot verankerte Grundsatz der Konfliktbewältigung verletzt und der Planfeststellungsbeschluss nicht bestimmt i. S. v. § 37 Abs. 1 VwVfG. Dieser enthalte keine hinreichend genauen Vorgaben zu dem nach der Rechtsprechung des 11. Senats des erkennenden Gerichts maßgeblichen Sicherheitskonzept, nach welcher gemäß dem Regelungskonzept der § 49 EnWG und § 2 GasHDrLtGV dem Regelungswerk des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e. V. (DVGW) besondere Bedeutung zukomme. Dieses verfolge ein primär auf die Sicherheit der Anlage selbst ausgerichtetes Sicherheitskonzept und verlange keine bestimmten Abstände zu bebauten Gebieten oder eine Meidung solcher Gebiete. Die Einhaltung des anlagenbezogenen Sicherheitskonzepts habe der Planfeststellungsbeschluss sicherzustellen. Dies setze voraus, dass sich dem Planfeststellungsbeschluss entnehmen lasse, dass das Vorhaben, so wie die Vorhabenträgerin es errichten und betreiben wolle, den gesetzlichen Anforderungen entspreche. Insofern sei es nicht ausreichend, wenn lediglich die gesetzlichen Anforderungen dargestellt würden oder in Nebenbestimmungen abstrakt die Einhaltung rechtlicher Vorgaben gefordert werde. So sei ein baurechtlicher Vorbescheid, der als Nebenbestimmung für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens im unbeplanten Innenbereich vorsehe, dass sich das Vorhaben in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen müsse, gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG nichtig, weil der Vorbescheid im konkreten Fall mit feststellender Wirkung gerade darüber befinden solle, ob diese Voraussetzungen erfüllt seien. Dies gelte entsprechend für Verwaltungsakte mit anderen Wirkungsmodalitäten, insbesondere für begünstigende Verwaltungsakte. § 75 Abs. 1 Satz 1 VwVfG erfordere eine Entscheidung darüber, ob das konkrete Vorhaben mit den einschlägigen Vorschriften übereinstimme. Demgemäß könne ein Planfeststellungsbeschluss, der – auch unter Berücksichtigung der Planunterlagen – lediglich die gesetzlichen Voraussetzungen beschreibe, nichtig sein, auch dann, wenn nach den gesetzlichen Vorschriften bestimmte technische Normen maßgeblich seien oder sein könnten und der Verwaltungsakt sich auf die Nennung oder Wiedergabe dieser technischen Normen beschränke. Voraussetzung für die Nichtigkeit sei eine Offenkundigkeit der Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts; fehle es an dieser sei der Verwaltungsakt wirksam aber rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon sei der angegriffene Planfeststellungsbeschluss jedenfalls rechtswidrig, da er nicht feststelle, ob das planfestgestellte Vorhaben den Anforderungen an eine Erdgasfernleitung nach § 49 Abs. 1 EnWG i. V. m. den technischen Regeln der DVGW entspreche. Weder aus den Nebenbestimmungen noch aus der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses ergebe sich, wie die Anlage konkret ausgestaltet sein müsse. Die diesbezüglichen Nebenbestimmungen – Nr. 2.1 bis 2.3 sowie 2.5 unter Gliederungspunkt A.V.2. des Planfeststellungsbeschlusses – gingen inhaltlich nicht über die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts hinaus. Auch in der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses, S. 311 ff., würden erneut nur die gesetzlichen Anforderungen nach § 49 EnWG skizziert, die Rechtsprechung des 11. Senats des erkennenden Gerichts wiedergegeben und in Bezug auf die Vorhabenträgerin festgestellt, dass diese die „dargelegten und insbesondere die in § 2 und § 3 GasHDrLtgV geforderten Sicherheitsanforderungen in vollem Umfang [befolge]“. Diese Feststellung der Planfeststellungsbehörde sei indes eine bloße Behauptung, da die konkrete Ausgestaltung der Anlage nicht aus den zum Bestandteil des Planfeststellungsbeschlusses gemachten Unterlagen hervorgehe. Insbesondere behaupte auch der von der Vorhabenträgerin vorgelegte Erläuterungsbericht vom 11. August 2017 lediglich die Beachtung der gesetzlichen Anforderungen, ohne jedoch in wesentlichen Beziehungen Anlagenspezifika darzustellen, die diese Behauptung überprüfbar machten. So gingen die dortigen Ausführungen auf den Seiten 38 ff. nur ganz vereinzelt über die allgemeinen Anforderungen des Gesetzes bzw. des Planfeststellungsbeschlusses hinaus. Es werde etwa ausgeführt, dass der passive Korrosionsschutz bei der offenen Verlegung „in der Regel“ durch eine Ummantelung mit Polyethylen sowie bei Sonderanwendungen mit Polypropylen oder glasfaserverstärktem Kunststoff und der aktive Korrosionsschutz durch ein Schutzstromverfahren erfolge, ohne dass daraus hervorginge, welcher Werkstoff für die Leitung verwendet werde und welche Eigenschaften dieser aufweise. Die Angabe in Tabelle 3 des Erläuterungsberichts, es würden hochfeste, kunststoffummantelte Stahlrohre verwendet, sei zu allgemein und genüge nicht für die Überprüfung, ob die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten würden.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Mangel der nicht hinreichenden Festlegung des Sicherheitskonzepts und Überprüfung des Vorhabens auf die Einhaltung dieses Konzepts führe zur Unbestimmtheit des Planfeststellungsbeschlusses im Sinne von § 37 Abs. 1 VwVfG. In seiner nachbarrechtlichen Ausprägung verlange das Bestimmtheitsgebot, dass sich der Genehmigung mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen lasse, dass das genehmigte Vorhaben Nachbarrechte nicht beeinträchtigen könne. In Bezug auf die Bestimmtheit eines Planfeststellungsbeschlusses sowie die Beeinträchtigung einer kommunalen Planung müsse sich danach dem Planfeststellungsbeschluss mit hinreichender Sicherheit entnehmen lassen, dass das planfestgestellte Vorhaben die kommunale Planung nicht beeinträchtigen könne. Dies sei angesichts des im Planfeststellungsbeschluss nicht bzw. nur unzureichend festgelegten Sicherheitskonzepts nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Aus dem Vorstehenden resultiere ein Abwägungsfehler zu ihren Lasten. Der Umstand, dass im Planfeststellungsbeschluss ein Sicherheitskonzept nicht hinreichend determiniert worden sei, führe dazu, dass die Sicherheit der in der Nähe der Trasse wohnenden oder sich sonst aufhaltenden Personen sowie der Sachwerte unterschätzt oder jedenfalls nicht mit dem ihnen zukommenden hohen Gewicht in die Abwägung eingestellt worden sei. Dieser Mangel führe zu einer Verletzung ihrer Rechte. Mit Blick auf das abwägungserhebliche Interesse einer Gemeinde an der Wahrung ihrer Planungshoheit und den im Falle einer Konkurrenz zwischen Bauleitplanung und Fachplanung geltenden Grundsatz der Priorität müsse hier das planfestgestellte Vorhaben auf ihre Planung in Form des Bebauungsplans Nr. 45 „O.-----straße “ Rücksicht nehmen. Die Trassenführung entlang des Wohngebiets mit geringem Abstand zu Wohnbauflächen beeinträchtige diese Planung, da aufgrund der Sicherheitsrisiken mit einer Realisierung nicht oder nur eingeschränkt gerechnet werden könne. Ein Abwägungsfehler bestehe ferner bezüglich des gemeindlichen Eigentums an den Baugrundstücksflächen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 45 „O.-----straße “. Die nachteiligen Auswirkungen auf ihre Grundstücke, die sich insbesondere in der erschwerten Veräußerung dieser Grundstücke zeigten, hätten in der Abwägung keine Berücksichtigung gefunden. Die vorliegenden Veräußerungserschwernisse bzw. Verkehrswertsenkungen seien beachtlich, da sie auf dem Sicherheitskonzept der Erdgasleitung beruhten, welches wiederum abwägungserheblich sei. Die vorgenannten Abwägungsmängel seien auch nach § 43 Satz 7 EnWG a. F., § 75 Abs. 1a Satz 1 VwVfG offensichtlich, weil sie die äußere Seite des Abwägungsvorgangs beträfen sowie auf objektiv erfassbaren Sachumständen beruhten, und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen, weil nach den Umständen des Falles die konkrete Möglichkeit bestehe, dass die Planung ohne die Mängel anders ausgefallen wäre. Wenn die Planfeststellungsbehörde die von der Gasleitung aufgrund des nicht hinreichend festgelegten Sicherheitskonzepts ausgehenden verbleibenden Risiken erkannt hätte, wäre eine andere Trassenwahl im Bereich Hünxe E2.         naheliegend gewesen, insbesondere weil bei einer Trassenführung in der Nähe des Plankenbachs den Sicherheitsbelangen ausreichend Rechnung getragen worden wäre und eine solche Trassenführung jedenfalls nicht offensichtlich ausschiede.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung der Planfeststellungsbehörde erweise sich ferner deswegen als abwägungsfehlerhaft zu ihren Lasten, weil der Belang, der Sicherheit der Wohnbebauung und entsprechend bebaubarer Flächen möglichst durch einen Sicherheitsabstand Rechnung zu tragen, nicht berücksichtigt worden sei. Innerhalb eines solchen Sicherheitsabstands, dessen Einhaltung hier nicht unmöglich sei, lägen Bauflächen des Bebauungsplangebiets Nr. 45 „O.-----straße “. Durch einen anderen Trassenverlauf hätte die Beeinträchtigung des Bebauungsplangebiets Nr. 45 „O.-----straße “ vermieden werden können. Dieser Mangel sei ebenfalls erheblich, da er offensichtlich sei und die konkrete Möglichkeit bestanden habe, dass die Abwägungsentscheidung ohne ihn anders ausgefallen wäre. Insofern sei in Bezug auf Erdgasfernleitungen, die nicht der Versorgung bebauter Gebiete dienten, die Auffassung des 11. Senats des erkennenden Gerichts überdenkenswert, dass bei der Errichtung von der öffentlichen Versorgung mit Gas dienenden Gashochdruckleitungen ein primär auf die Sicherheit der Anlage selbst ausgerichtetes Sicherheitskonzept den gesetzlichen Anforderungen genüge.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Es sprächen gewichtige Argumente für das Bestehen einer technischen Regel, Gasfernleitungen möglichst nicht in bebautem Gebiet zu verlegen und, sofern das nicht möglich sei, Gefährdungen durch die Einhaltung von Abständen zu verringern, sodass es jedenfalls gewichtiger Belange bedürfe, um eine Trasse nah an dem Wohnen dienende Bebauung oder entsprechend bebaubare Flächen heranzuführen. Die gesetzlichen Anforderungen an Gashochdruckleitungen schlössen ein Sicherheitskonzept nicht aus, welches die Folgen einer Havarie durch Abstände zu schutzbedürftigen Gebieten minimiere. Maßgeblich sei, dass die Anlage dem Stand der Technik entspreche. Die – den Stand der Technik wiedergebenden – technischen Regeln betreffend Leitungen zum Transport brennbarer Flüssigkeiten und von Erdgas sähen jeweils die Meidung bebauter und bebaubarer Gebiete vor.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die technischen Regeln für Gashochdruckleitungen (TRGL) aus August 1978, die vom nach § 14 GasHDrLtgV a. F. vorgesehenen Ausschuss für Gashochdruckleitungen als dem Stand der Technik entsprechende Regeln für nicht der öffentlichen Versorgung dienende Gashochdruckleitungen ermittelt worden seien, sähen unter TRGL 111 – Leitungsführung, Ziff. 1.3 vor, dass Gashochdruckleitungen nach Möglichkeit nicht in bebautem oder nach einem Bebauungsplan bebaubarem Gelände errichtet werden sollten.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Auch die Technische Regel für Rohrfernleitungen (TRFL) aus Juni 2017, die vom nach § 9 Abs. 1 und 2 Nr. 2 RohrFLtgV zuständigen und beim Bundesumweltministerium angesiedelten Ausschuss für Rohrfernleitungen als dem – nach § 3 Abs. 2 RohrFLtgV für die Errichtung und den Betrieb von Rohrfernleitungen maßgeblichen – Stand der Technik entsprechende Regel ermittelt worden sei, sehe unter Ziff. 3.1.2 vor, dass Rohrfernleitungsanlagen nach Möglichkeit nicht in bebautem oder in einem genehmigten Bebauungsplan zur Bebauung ausgewiesenem Gebiet, wenn es sich um eine dem Wohnen dienende Bebauung im Sinne der BauNVO handele, errichtet werden. Wenn dies nicht möglich sei, seien besondere Sicherheitsmaßnahmen vorzusehen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon entspreche es dem Stand der Technik bezüglich der Leitungsführung, Gasleitungen grundsätzlich – nach Möglichkeit – nicht in bebautem oder bebaubarem Gebiet zu errichten. Den Aussagen der vorgenannten Ausschüsse komme ein erhebliches Gewicht zu, da – entsprechend der ihnen übertragenen Aufgaben – die veröffentlichten technischen Regeln gerade darauf abgezielt hätten, den Stand der Technik wiederzugeben, und durch die Ausschussbesetzung jeweils ein hohes Maß an wissenschaftlich-technischem Sachverstand sichergestellt gewesen sei.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dass das DVGW-Arbeitsblatt G 463 in der Fassung aus Juli 2016 an einem anlagenbezogenen Schutzkonzept festhalte, bedeute nicht, dass dieses in Bezug auf die Leitungsführung dem Stand der Technik entspreche. Denn der DVGW habe nicht die Aufgabe, den Stand der Technik zu ermitteln, sondern verfolge mit seiner privaten Normung auch andere Zwecke, etwa solche der Standardisierung. Dass das DVGW-Regelwerk keine Sicherheitsabstände vorsehe, sondern ein primär an der Sicherheit der Leitung ansetzendes Sicherheitskonzept verfolge, erkläre sich anhand der Tatsache, dass dieses Regelwerk nicht auf den Bau von großvolumigen Gasfernleitungen ausgerichtet sei, sondern vornehmlich örtliche Verteilernetze in den Blick nehme, bei denen naturgemäß Abstände nicht eingehalten werden könnten. Im Übrigen werde auch das in den DVGW-Arbeitsblättern vorgesehene anlagenbezogene, deterministische Schutzkonzept mittlerweile durch probabilistische Ansätze ergänzt, etwa bei der Trassenführung in der Nähe von Windenergieanlagen und Windparks. Der DVGW gehe daher insoweit selbst nicht davon aus, dass eine hinreichende Sicherheit allein durch technisch-konstruktive Merkmale und einen Schutzstreifen zu erreichen sei.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dem Grundsatz der Meidung bebauter und bebaubarer Gebiete könne nicht entgegengehalten werden, dass die TRFL explizit nicht auf Energieanlagen im Sinne des Energiewirtschaftsgesetzes anzuwenden sei. Denn es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass für Rohrfernleitungsanlagen i. S. d. § 2 Abs. 1 RohrFLtgV und Gashochdruckleitungen ein unterschiedlicher Stand der Technik in Bezug auf die Leitungsführung bestehe. Insbesondere handele es sich bei den der Rohrfernleitungsverordnung unterfallenden Anlagen nicht um solche Leitungen, die im Vergleich zu Leitungen nach der Gashochdruckleitungsverordnung dem Transport ungefährlicherer Stoffe dienten. Die Unterscheidung sei vielmehr rein rechtlicher Natur und lasse den Stand der Technik unberührt.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dass die Meidung bebauter Gebiete dem Stand der Technik der Leitungsführung entspreche, werde auch durch die „Safety Guidelines – Good Practise for Pipelines“ der UNECE aus Februar 2014 gestützt, die unter den Ziff. 24 und 26 jeweils Sicherheitsabstände ansprächen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Forschungsbericht Nr. 285 „Zu den Risiken des Transports flüssiger und gasförmiger Energieträger in Pipelines“ der Bundesanstalt für Materialforschung und-prüfung aus 2009 verdeutliche anhand von allein 17 Unfällen seit dem Jahr 2000, dass es ein Unfallrisiko bei erdgasführenden Pipelines gebe.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von dem Vorstehenden gebe das DVGW-Regelwerk nicht den Stand der Technik wieder. Es entspreche vielmehr dem Stand der Technik, bebaute und bebaubare Gebiete – soweit möglich – zu meiden bzw. Abstände einzuhalten. Nur soweit dies nicht möglich sei, könnten andere, anlagenbezogene Maßnahmen an die Stelle des vorzugswürdigeren, da die Sicherheit am effektivsten gewährleistenden, Abstands treten.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">den Planfeststellungsbeschluss der Bezirksregierung E.          vom 9. Januar 2019 für die Errichtung und den Betrieb der Erdgasfernleitung Nr. 098, A.       im Abschnitt von der Station I.            bis zur Station E1.          in der gegenwärtig geltenden Fassung aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt er u. a. vor, dass die Klage – aus den von der Beigeladenen benannten Gründen – bereits unzulässig sei. Sie sei auch unbegründet, da der Planfeststellungsbeschluss rechtmäßig sei und die Klägerin eine Verletzung ihrer Belange nicht aufgezeigt habe. Insbesondere seien die von der Klägerin erhobenen Rügen im Zusammenhang mit dem Sicherheitskonzept der Leitung nicht geeignet, eine Verletzung in eigenen Rechten zu begründen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Planfeststellungsbeschluss sei in Bezug auf das Sicherheitskonzept ausreichend bestimmt. Er setze sich unter Gliederungspunkt B.V.6.2. ausführlich mit dem Sicherheitskonzept auseinander und stelle ausdrücklich fest, dass die gesetzlichen Anforderungen eingehalten würden. Weitere Ausführungen seien nicht erforderlich gewesen. Unabhängig davon würden Dritte, die nicht Adressaten eines Verwaltungsaktes seien, durch dessen Unbestimmtheit nur dann in ihren Rechten verletzt, wenn sich diese gerade auf die Merkmale eines Vorhabens beziehe, deren genaue Festlegung erforderlich sei, um die Verletzung drittschützender Vorschriften auszuschließen. Die technische Sicherheit der Leitung im Sinne von § 49 EnWG berühre die Klägerin indes nicht in eigenen Rechten. Die geltend gemachten Sicherheitsrisiken beträfen allenfalls die Einwohner der Klägerin. Ihr Recht auf kommunale Selbstverwaltung umfasse nicht die Befugnis, als Sachwalter der Belange ihrer Einwohner aufzutreten. Die Sicherheit der Leitung sei ferner – entgegen der Ansicht der Klägerin – auch kein abwägungserheblicher Belang, sondern ein zwingend zu beachtender Planungsleitsatz, der nicht im Wege der Abwägung überwunden werden könne. Das Sicherheitskonzept entspreche ohnehin inhaltlich in vollem Umfang den gesetzlichen Anforderungen. Insbesondere sei die Einhaltung bestimmter Sicherheitsabstände zu bebauten Gebieten nicht erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Auch im Hinblick auf die Planungshoheit der Klägerin liege kein Abwägungsfehler vor. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern die Leitung zu einer Verzögerung der Bebauung in dem durch den Bebauungsplan Nr. 45 ausgewiesenen Wohngebiet führen solle. Die Trasse verlaufe weder direkt durch das Plangebiet noch berühre sie dieses unmittelbar. Der Schutzstreifen liege außerhalb des Plangebiets und stehe einer Bebauung nicht entgegen. Mangels Beeinträchtigung der Planungshoheit der Klägerin bestehe kein Konkurrenzverhältnis zwischen Bauleitplanung und Fachplanung, welches mithilfe des Prioritätsgrundsatzes, der ohnehin mit Blick auf das Fachplanungsprivileg des § 38 BauGB nicht uneingeschränkt anwendbar sei, aufgelöst werden müsste.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">In Bezug auf das gemeindliche Eigentum liege ein Abwägungsfehler ebenfalls nicht vor. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern das Eigentum der Klägerin durch die nicht über deren Grundstücke verlaufende Leitung beeinträchtigt sein solle. Für die behauptete Erschwerung der Veräußerung benachbarter gemeindlicher Grundstücke lege sie schon keinerlei Belege vor. Das Gleiche gelte für den Vorwurf im Zusammenhang mit der Kreuzung gemeindlicher Straßen und Wege. Die Belange der Eigentümer seien im Planfeststellungsbeschluss ausreichend berücksichtigt worden. Dieser führe zu Recht aus, dass etwaige Wertminderungen eines Grundstücks aufgrund der Nachbarschaft zur Leitung keinen eigenständigen Abwägungsbelang darstellten.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Alternativenprüfung und -auswahl sei auch nicht zu beanstanden. Sie habe alle ernsthaft in Betracht kommenden Planungsvarianten bei ihrer Entscheidung berücksichtigt und im Planfeststellungsbeschluss diskutiert. Auch mit der von der Klägerin nicht näher konkretisierten Trassenführung in der Nähe des Plankenbachs habe sie sich im Rahmen der Einwendungen auseinandergesetzt. Diese habe sich nicht als eindeutig besser aufgedrängt, da sie ebenfalls nicht konfliktfrei sei.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Beigeladene beantragt ebenfalls,</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Sie macht zur Begründung u. a. geltend, dass die Klage bereits unzulässig sei, da der Klägerin keine Klagebefugnis zustehe. Eine Verletzung von subjektiv-öffentlichen Rechten der Klägerin sei nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Ihr gemeindliches Selbstverwaltungsrecht aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sei nicht betroffen. Die Trasse führe weder direkt durch im Zusammenhang bebaute Teile von E2.         noch durchkreuze oder berühre sie das geplante Neubaugebiet nach dem Bebauungsplan Nr. 45 „O.-----straße “. Hinsichtlich der behaupteten Beeinträchtigung ihrer Planung genüge der Vortrag der Klägerin nicht den gesetzlichen Anforderungen an eine Klagebegründung nach § 43e Abs. 3 EnWG. Anhand ihrer unsubstantiierten Angaben könne nicht überprüft werden, inwiefern die Siedlungsentwicklung im Bebauungsplangebiet Nr. 45 „O.-----straße “ tatsächlich noch oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erfolgen könne. Selbst bei Wahrunterstellung ihrer Behauptungen sei eine nachhaltige Störung der gemeindlichen Planung nicht anzunehmen, da es an einer unmittelbaren gewichtigen Auswirkung fehlte. Die Realisierung der geplanten Bebauung werde durch die Trasse weder rechtlich noch faktisch verhindert. Sofern sich keine Interessenten für die Grundstücke fänden, wäre dies lediglich eine mittelbare Auswirkung auf die gemeindliche Planung, die für die Annahme einer nachhaltigen Störung einer verfestigten gemeindlichen Planung nicht genügte. Ferner wäre die gemeindliche Planung jedenfalls nicht nachhaltig gestört, wenn die Klägerin selbst nur von einem „allenfalls geringen Interesse“ ausgehe, welches nicht mit dem Ausbleiben jeglicher Interessenten gleichzusetzen sei. Für die behaupteten Schwierigkeiten bei der Veräußerung der Grundstücke führe die Klägerin bereits keinerlei Belege an. Insbesondere sei weder näher ausgeführt noch belegt, welche Bemühungen die Klägerin zur Vermarktung der Grundstücke unternommen habe und inwiefern der vermeintliche Rückgang der Interessenten gerade auf die Planungen der Beigeladenen zurückzuführen sei. Mangels Substantiierung der Behauptungen durch die Klägerin sei eine rechtliche Bewertung nicht möglich, jedenfalls könne auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Informationen nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Nutzung der beplanten Fläche in naher Zukunft nicht mehr realisieren lasse.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin habe auch nicht substantiiert dargelegt, dass sie durch das planfestgestellte Vorhaben in ihrem einfachgesetzlich geschützten Grundeigentum verletzt werde. Die Vorhabentrasse führe nicht über im gemeindlichen Eigentum liegende Grundstücke innerhalb des Bebauungsplangebiets „O.-----straße “. Die Behauptung der Klägerin, der räumliche Bezug zum Vorhaben führe zu einem Wertverlust der in Trassennähe liegenden Grundstücke, ist ebenfalls unbelegt. Selbst wenn die Grundstücke des Plangebiets ihren Verkehrswert auch nur teilweise eingebüßt hätten und nur zu wesentlich geringeren Preisen veräußert werden könnten, so sei dies dem öffentlichen Umgang der Klägerin mit dem planfestgestellten Vorhaben zuzuschreiben. Soweit die Klägerin darauf Bezug nehme, dass das planfestgestellte Vorhaben Straßen und Wege kreuze, die in ihrem Eigentum ständen, fehle es bereits an der substantiierten Darlegung, inwiefern es sich bei den nach den Schilderungen der Klägerin betroffenen Straßen und Wegen gerade um solche in ihrem Eigentum handele und inwiefern sich allein aus der Tatsache der Kreuzung kommunaler Wege eine Rechtsverletzung ergeben solle. Jedenfalls sei den im Verwaltungsverfahren in Bezug auf gemeindeeigene Straßen und Wege erhobenen Forderungen der Klägerin im Planfeststellungsbeschluss mit den Nebenbestimmungen 10.1 bis 10.3 entsprochen worden.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Eine Klagebefugnis folge auch nicht aus den von ihr geltend gemachten Sicherheitsbedenken. Die Sicherheitsanforderungen nach § 49 EnWG schützten die Energieversorgung im Sinne einer mengenmäßig ausreichenden Versorgung der Abnehmer sowie Leib, Leben und Vermögenwerte Dritter. Dabei handele es sich um keine Rechte und Rechtsgüter der Klägerin als Gemeinde, sondern nur um solche ihrer Einwohner und sonstiger betroffener Personen, auf die die Klägerin sich nicht berufen könne.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei jedenfalls unbegründet. Der Planfeststellungsbeschluss sei nicht mangels hinreichender Festlegung des Sicherheitskonzepts rechtswidrig oder gar nichtig. Die Planfeststellungsbehörde habe im Planfeststellungsbeschluss die ausdrückliche Feststellung getroffen, dass die geltenden Sicherheitsanforderungen eingehalten würden, und damit den gesetzlichen Bestimmtheitsanforderungen des § 37 Abs. 1 VwVfG entsprochen. Eine weitergehende Darstellung des Sicherheitskonzepts sei nicht erforderlich gewesen. Gleichwohl sei eine detaillierte, über das gesetzlich geforderte Maß hinausgehende Auseinandersetzung mit dem Sicherheitskonzept auf den Seiten 311 ff. des Planfeststellungsbeschlusses erfolgt. Die technische Sicherheit der Leitung, die bereits kein abwägungsrelevanter Belang sei und die Klägerin nicht in eigenen Rechten berühre, sei durch das von der Beigeladenen verfolgte und im Planfeststellungsbeschluss bestätigte Sicherheitskonzept, welches den geltenden Stand der Technik wiederspiegele und damit den gesetzlichen Anforderungen an die technische Sicherheit der Leitung in vollem Umfang entspreche, sichergestellt. Insbesondere existiere – entgegen der Darstellung der Klägerin – keine technische Regel, wonach Gasfernleitungen einen Sicherheitsabstand zu benachbarter Bebauung einhalten müssten.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Planfeststellungsbeschluss weise keine Abwägungsfehler zu Lasten der Klägerin auf. Es fehle – wie bereits in Bezug auf deren Klagebefugnis ausgeführt – an einer Betroffenheit der Klägerin in eigenen Rechten.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die von der Klägerin in den Raum gestellte Trassenführung in der Nähe des Q1.            stelle keine Alternative dar, die sich eindeutig als die bessere, weil öffentliche und private Belange insgesamt schonendere Lösung, hätte aufdrängen müssen. Dies sei schon deswegen der Fall, weil die von der Klägerin angeführten Belange durch die Trassenwahl nicht beeinträchtigt würden. Zudem lasse der klägerische Vortrag offen, wo genau diese Alternativtrasse verlaufen solle. Jedenfalls habe sie, die Beigeladene, sich mit einer alternativen Trassenführung im Bereich des Q1.            auseinandergesetzt und diese aufgrund der Konflikte, die sich im Raumordnungsverfahren gezeigt hätten, bewusst verworfen. Dem habe sich die Planfeststellungsbehörde ausweislich des Planfeststellungsbeschlusses, Seite 512, angeschlossen.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der von dem Beklagten vorgelegten planfestgestellten Unterlagen und Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe</span></p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">A. Die Klage ist zulässig. Die Klägerin ist – entgegen der Ansicht der Beigeladenen und des Beklagten – insbesondere klagebefugt im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist eine Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Die Verletzung eigener Rechte muss auf der Grundlage des Klagevorbringens als möglich erscheinen. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn die von dem Kläger behaupteten Rechte offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise bestehen oder ihm zustehen können.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2021– 4 A 2.20 –, juris, Rn. 12 m. w. N. zur ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin macht u. a. eine Verletzung des aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts in Form der Planungshoheit geltend. Die gemeindliche Planungshoheit vermittelt eine wehrfähige, in die Abwägungsentscheidung einzubeziehende Rechtsposition gegen fremde Fachplanungen auf dem eigenen Gemeindegebiet, wenn das Vorhaben eine bestimmte Planung der Gemeinde nachhaltig stört, wesentliche Teile des Gemeindegebiets einer durchsetzbaren gemeindlichen Planung entzieht oder kommunale Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich beeinträchtigt.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Juli 2021– 4 A 14.19 –, juris, Rn. 85, und vom 15. Dezember 2016 – 4 A 4.15 –, juris, Rn. 58.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Zudem ist die Planungshoheit betroffen, wenn ein Vorhaben die Umsetzung bestehender Bebauungspläne faktisch erschwert oder die in ihnen zum Ausdruck kommende städtebauliche Ordnung nachhaltig stört.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom – 4 VR 2.20 –, juris, Rn. 21, und vom 31. Juli 2020 – 7 B 2.20 –, Rn. 8 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon kann hier nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen werden, dass der Bau und Betrieb der planfestgestellten Erdgasleitung in der Nähe des Bebauungsplangebiets Nr. 45 „O.-----straße “ der Klägerin deren Planungshoheit verletzt.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Angesichts dessen kann offen bleiben, ob eine Klagebefugnis der Klägerin auch daraus folgt, dass sie sich auf ihr – in ihrem Fall nicht grundrechtlich, sondern lediglich einfachgesetzlich geschütztes – Eigentum an – allerdings nicht näher bezeichneten – Grundstücken beruft.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">B. Die Klage ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der angefochtene Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 9. Januar 2019 in der gegenwärtig geltenden Fassung leidet an keinem Fehler, der die Klägerin in ihren Rechten verletzt und der seine Aufhebung erfordert oder zumindest auf die Feststellung seiner Rechtswidrigkeit sowie Nichtvollziehbarkeit führt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">I. Da bei der gerichtlichen Überprüfung eines Planfeststellungsbeschlusses grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage bei seinem Erlass abzustellen ist,</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 14. März 2018– 4 A 5.17 –, juris, Rn. 15 m. w. N. zur ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung,</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">ist Rechtsgrundlage des hier angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses § 43 Satz 1 Nr. 2, Satz 7 und 9 EnWG in Verbindung mit §§ 72 ff. VwVfG NRW jeweils in der am 9. Januar 2019 geltenden Fassung. Daran ändern die hier nachfolgenden Änderungen des Planfeststellungsbeschlusses im Ergebnis nichts, weil sie die konkret streitigen Fragen nicht berühren.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Für den Umfang der rechtlichen Kontrolle des Planfeststellungsbeschlusses ist von Bedeutung, dass die Klägerin als von dem planfestgestellten Vorhaben betroffene Gemeinde auf die Rüge von Vorschriften beschränkt ist, die ihrem Schutz dienen. Weder die in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Selbstverwaltungsgarantie und Planungshoheit noch das zivilrechtliche Eigentum an Grundstücken vermitteln einer Gemeinde einen Anspruch auf Vollüberprüfung des Planfeststellungsbeschlusses. Ebenso wenig ist sie befugt, als Sachwalterin von Rechten Dritter bzw. des Gemeinwohls Belange ihrer Bürger geltend zu machen.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2021– 4 A 2.20 –, juris, Rn. 16 m. w. N. zur ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch kann sie sich nicht zum Kontrolleur anderer staatlicher Behörden in Bezug auf die Wahrung des objektiven öffentlichen Rechts aufschwingen.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2021– 4 A 9.19 –, juris, Rn. 56.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">II. Der angefochtene Planfeststellungsbeschluss weist jedenfalls keinen Fehler auf, den die Klägerin mit Erfolg rügen kann.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">1. Eine Verletzung zwingender Rechtsvorschriften liegt nicht vor. Von daher kann offen bleiben, ob ein solcher Rechtsverstoß unmittelbar auf eine Verletzung der angesprochenen subjektiven Rechte der Klägerin führte oder lediglich im Rahmen der Abwägung der klägerischen Belange Relevanz hätte.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Tendenziell für Letzteres sprechend: BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2021 – 4 A 2.20 –, juris, Rn. 17.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Zwar zielt das Vorbringen der Klägerin, dass das planfestgestellte Vorhaben nicht den einschlägigen Sicherheitsanforderungen entspreche, es insbesondere entgegen dem Stand der Technik keine hinreichenden Sicherheitsabstände zu bebauten oder bebaubaren Gebieten einhalte, und ferner der Planfeststellungsbeschluss jedenfalls rechtswidrig sei, weil er weder überprüfe, ob das Vorhaben diese Sicherheitsanforderungen einhalte, noch ein hinreichendes Sicherheitskonzept festlege, in der Sache insgesamt darauf ab, dass die technische Sicherheit der planfestgestellten Leitung i. S. d. § 49 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EnWG i. V. m. § 2 Abs. 1 GasHDrLtgV nicht gewährleistet sei. Auch beruft sie sich damit auf eine zwingende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, die nicht im Wege der Abwägung überwunden werden kann und somit – anders als es in der Klagebegründung anklingt – grundsätzlich auch nicht Teil der Abwägung ist.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">So schon OVG NRW, Beschluss vom 12. September 2019 – 21 B 295/19.AK –, juris, Rn. 18, und Urteil vom 4. September 2017 – 11 D 14/14.AK –, juris, Rn. 118 ff.; ebenso der angefochtene Planfeststellungsbeschluss (S. 277).</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Indes liegt ein Verstoß gegen die zuvor genannten Vorschriften nicht vor, d. h. die technische Sicherheit der Leitung ist gewährleistet.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Nach § 49 Abs. 1 Satz 1 EnWG sind Energieanlagen so zu errichten und zu betreiben, dass die technische Sicherheit gewährleistet ist. Dabei sind nach Satz 2 der Vorschrift vorbehaltlich sonstiger Rechtsvorschriften die allgemein anerkannten Regeln der Technik zu beachten. Ferner ist nach § 49 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EnWG das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie u. a. ermächtigt, zur Gewährleistung der technischen Sicherheit von Energieanlagen Anforderungen an die technische Sicherheit dieser Anlagen, an ihre Errichtung und ihren Betrieb festzulegen (Nr. 1) sowie nach den Nummern 2 bis 8 weitere Regelungen zu treffen. Auf der Grundlage dieser Verordnungsermächtigung ist die Verordnung über Gashochdruckleitungen (GasHDrLtgV) vom 18. Mai 2011 (BGBl. I S. 928) erlassen worden, die den Vorbehalt in § 49 Abs. 1 Satz 2 EnWG für die Errichtung und den Betrieb von Gashochdruckleitungen, die – wie die planfestgestellte Leitung – als Energieanlagen im Sinne des Energiewirtschaftsgesetzes der Versorgung mit Gas dienen und für einen maximal zulässigen Betriebsdruck von mehr als 16 bar ausgelegt sind (§ 1 Abs. 1 GasHDrLtgV), ausfüllt. Nach § 2 Abs. 1 GasHDrLtgV müssen Gashochdruckleitungen den Anforderungen der §§ 3 und 4 GasHDrLtgV entsprechen – § 3 enthält Anforderungen an die Errichtung von Gashochdruckleitungen, § 4 solche für deren Betrieb – und nach dem Stand der Technik so errichtet und betrieben werden, dass die Sicherheit der Umgebung nicht beeinträchtigt wird und schädliche Einwirkungen auf den Menschen und die Umwelt vermieden werden. Mit diesem Standard, der gegenüber den ansonsten nach § 49 Abs. 1 Satz 2 EnWG bei Energieanlagen anzulegenden Anforderungen der allgemein anerkannten Regeln der Technik anspruchsvoller ist, wird der höheren Gefährdungslage bei solchen Leitungen Rechnung getragen.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. März 2021– 4 B 14.20 –, juris, Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 GasHDrLtgV wird vermutet, dass Errichtung und Betrieb dem Stand der Technik entsprechen, wenn das technische Regelwerk des DVGW eingehalten wird. Sofern fortschrittlichere Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen vorhanden sind, die nach herrschender Auffassung führender Fachleute besser gewährleisten, dass die Sicherheit der Umgebung nicht beeinträchtigt wird und schädliche Einwirkungen auf den Menschen und die Umwelt vermieden werden, und die im Betrieb bereits mit Erfolg erprobt wurden, kann nach Satz 2 die zuständige Behörde im Einzelfall deren Einhaltung fordern.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend stellt der angefochtene Planfeststellungsbeschluss positiv fest, dass die in Rede stehende Gashochdruckleitung die Anforderungen der §§ 3 f. GasHDrLtgV und des DVGW-Regelwerks erfüllt (insbesondere S. 317 f., S. 319 Abs. 4).</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Siehe zur Einhaltung des DVGW-Regelwerks bereits OVG NRW, Beschluss vom 12. September 2019 – 21 B 295/19.AK –, juris, Rn. 23 ff.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">In Ansehung dessen geht die klägerische Kritik auf den Seiten 5 ff. der Klagebegründung, die sie selbst dahingehend zusammenfasst, es fehle an der hinreichenden Festlegung eines Sicherheitskonzepts in dem Planfeststellungsbeschluss sowie der Überprüfung des Vorhabens auf die Einhaltung dieses Konzepts, ins Leere und erweist sich ihre Rüge, der Planfeststellungsbeschluss sei wegen fehlender hinreichender Bestimmtheit im Sinne von § 37 Abs. 1 VwVfG NRW jedenfalls rechtswidrig, als unzutreffend. Was die Gewährleistung der Sicherheit der Leitung anbelangt, musste der Planfeststellungsbeschluss kein – abstraktes – „Sicherheitskonzept“ festlegen, sondern die insoweit zu erfüllenden Anforderungen ergaben und ergeben sich, wie zuvor ausgeführt, aus den §§ 3 f. GasHDrLtgV und dem DVGW-Regelwerk. Dass die konkrete Leitung diesen Anforderungen entspricht, stellt der Planfeststellungsbeschluss (S. 317 f.) nicht abstrakt, sondern unter Bezugnahme auf die jeweiligen planfestgestellten Antragsunterlagen fest. Nach diesen Teil des Planfeststellungsbeschlusses gewordenen Unterlagen ist das Vorhaben auch hinsichtlich sicherheitsrelevanter Bauteile und Bauweisen hinreichend bestimmt. Dabei begegnet es insbesondere keinen Bedenken, dass die Planfeststellungsbehörde hinsichtlich der Werkstoffauswahl für die Leitung die Angaben im Erläuterungsbericht der Beigeladenen, es würden hochfeste und kunststoffummantelte Stahlrohre verwendet, deren technische Lieferbedingungen in der DIN EN ISO 3183 „Erdöl- und Erdgasindustrie – Stahlrohre für Rohrleitungstransportsysteme“, Anhang M, festgelegt seien (S. 40 und 48), für ausreichend erachtet hat, um die zu erfüllenden Anforderungen als eingehalten anzusehen. Dass diese DIN-Norm wiederum hinsichtlich eines sicherheitsrelevanten Aspektes der Rohre unbestimmt sein könnte, ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerin nicht. Dass die Leitung tatsächlich entsprechend den Antragsunterlagen gebaut und betrieben wird und dementsprechend die Sicherheit gewährleistet ist, wird durch die Nebenbestimmungen unter Gliederungspunkt A.V.2.3. des Planfeststellungsbeschlusses (S. 158 f.) sichergestellt.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Auffassung der Klägerin, dass das DVGW-Regelwerk nicht mehr den Stand der Technik in Bezug auf die Leitungsführung wiedergebe, trifft nicht zu. Zwar ist die Vermutung des § 2 Abs. 2 Satz 1 GasHDrLtgV widerleglich.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Ausführlich dazu BVerwG, Beschluss vom 15. März 2021 – 4 B 14.20 –, juris, Rn. 13.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Indes zeigt das Vorbringen der Klägerin auch nicht annähernd auf, dass es (nunmehr) gerade für Gashochdruckleitungen einen Stand der Technik gibt, nach dem zu bebauten oder bebaubaren Gebieten Sicherheitsabstände (welchen Ausmaßes auch immer) einzuhalten sind. Voraussetzung wäre, dass das DVGW-Regelwerk nach Auffassung der maßgebenden Fachleute als überholt oder sicherheitstechnisch unzulänglich anzusehen wäre.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Sinne BVerwG, Beschluss vom 15. März 2021 – 4 B 14.20 –, juris, Rn. 13.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Solches ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerin nicht ansatzweise und ist auch sonst nicht ersichtlich.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Zunächst ist klarzustellen, dass es entgegen dem von der Klägerin mitunter vermittelten Eindruck keinen eigenständigen Stand der Technik hinsichtlich der Leitungsführung gibt. Die nach § 49 Abs. 1 Satz 1 EnWG zu gewährleistende Sicherheit der Leitung bezieht sich nach § 2 Abs. 1 GasHDrLtgV auch auf die Umgebung; die Vermeidung schädlicher Einwirkungen gilt in Bezug auf den Menschen und die Umwelt. Dies schließt offensichtlich sämtliche möglichen Leitungsführungen mit ein, insbesondere solche durch bewohnte Gebiete oder in der Nähe von solchen. Denn die Vermeidung schädlicher Einwirkungen auf den Menschen hat gerade dann besondere Relevanz, wenn die Leitung durch bebaute Gebiete führt, da insbesondere im Fall von Wohnbebauung eine Vielzahl von Menschen potentiell betroffen ist. Der Umstand, dass § 2 Abs. 2 Satz 1 GasHDrLtgV vor diesem Hintergrund hinsichtlich des Standes der Technik allein auf das DVGW-Regelwerk verweist, schließt die Annahme aus, dieses sei hinsichtlich der Leitungsführung nicht abschließend oder es gebe jenseits dieses Regelwerks einen spezifisch die Leitungsführung betreffenden Stand der Technik.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Ansonsten führt nichts von dem, was die Klägerin unter Gliederungspunkt 3. ab Seite 11 der Klagebegründung ausführt, auf einen – das DVGW-Regelwerk überholenden – Stand der Technik („in Bezug auf die Leitungsführung“), der (bestimmte) einzuhaltende Sicherheitsabstände zu bebauten oder zur Bebauung vorgesehenen Gebieten vorsieht. Die Klagebegründung folgt dabei der von der Klägerin ausdrücklich in Bezug genommenen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">– Beschluss vom 29. Juni 2011 – 7 MS 72/11 –, juris –.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerin unter weitgehender Übernahme der Ausführungen aus dem zuvor zitierten Beschluss (dessen Randnummern nach juris nachfolgend in Klammern gesetzt) argumentiert mit – verkürzt –</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">-              Gashochdruckleitungsverordnung alter Fassung und auf ihrer Grundlage erlassene „Technische Regeln für Gashochdruckleitungen Leitungsführung (TRGL 111)“ (Rn. 44),</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">-              Rohrfernleitungsverordnung und auf ihrer Grundlage erlassene „Technische Regel für Rohrfernleitungsanlagen (TFRL)“ (Rn. 45),</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">-              „Safety Guidelines“ der UNECE (Rn. 46),</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">-              Forschungsbericht Nr. 285 der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (Rn. 51),</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">dringt das nicht durch, weil sich nirgends, auch nicht in dem zuvor zitierten Beschluss im Übrigen, die Auffassung von (maßgebenden) Fachleuten findet, das DVGW-Regelwerk sei überholt und bei Gashochdruckleitungen seien zu bebauten und zur Bebauung vorgesehenen Bereichen bestimmte (Sicherheits-)Abstände einzuhalten. Dies gilt angesichts dessen Bezeichnung offensichtlich auch für den von der Klägerin ferner in Bezug genommenen „Abschlussbericht ‚Windenergieanlagen in Nähe von Schutzobjekten‘, G 2/01/12, 11.12.2014“, da dieser allenfalls Abstände regelt, die die Windenergieanlagen einzuhalten haben. Im Übrigen ist unverständlich, warum die Klägerin meint, aus dem Windenergieanlagen betreffenden Abschlussbericht irgendwelche Schlussfolgerungen hinsichtlich des DVGW-Regelwerks ziehen zu können.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich ohnehin nichts daraus ableiten ließe, dass sich in den beiden anderen zuvor genannten technischen Regelwerken jeweils die sinngemäße Forderung findet, Gashochdruck-/Rohrfernleitungen möglichst nicht in bebauten oder zur Bebauung vorgesehenen Gebieten zu verlegen. Denn eine Forderung, jedenfalls bestimmte Abstände zu den zuvor bezeichneten Gebieten einzuhalten, findet sich in den Regelwerken nicht.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">So auch Nds. OVG, Beschluss vom 29. Juni 2011 – 7 MS 72/11 –, juris, Rn. 47.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Dies schließt die Annahme aus, die Einhaltung von Mindest-/Sicherheitsabständen sei Stand der Technik.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Unklar Nds. OVG, Beschluss vom 29. Juni 2011– 7 MS 72/11 –, juris, Rn. 52 a. E.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Von daher kommt es ferner nicht darauf an, dass die Technischen Regeln für Gashochdruckleitungen Leitungsführung (TRGL 111) zum 1. Januar 2013 außer Kraft getreten sind (siehe GMBl 2012, S. 902) und die Technische Regel für Rohrfernleitungsanlagen (TFRL) nach ihrem Geltungsbereich explizit nicht auf Gashochdruckleitungen anwendbar ist.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">2. Die Abwägungsentscheidung verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Nach § 43 Satz 4 EnWG in der Fassung des Gesetzes vom 21. Dezember 2015 (BGBl. I, S. 2490) sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Das Abwägungsgebot verlangt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass – erstens – eine Abwägung überhaupt stattfindet, dass – zweitens – in die Abwägung an Belangen eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss, und dass – drittens – weder die Bedeutung der öffentlichen und privaten Belange verkannt noch der Ausgleich zwischen ihnen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die zur Planung ermächtigte Stelle in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Vgl. Urteile vom 9. Dezember 2021 – 4 A 2.20 –, juris, Rn. 18, vom 15. Oktober 2020 – 7 A 9.19 –, juris, Rn. 103, vom 14. März 2018 – 4 A 5.17 –, juris, Rn. 73 sowie grundlegend Urteil vom 7. Juli 1978 – IV C 79.76 u. a. –, juris, Rn. 59.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Da die Klägerin lediglich die Verletzung von Vorschriften geltend machen kann, die ihrem Schutz dienen, ist auch die gerichtliche Abwägungskontrolle auf die Prüfung beschränkt, ob die eigenen, dem Planvorhaben entgegenstehenden Belange der Klägerin sowie die für das Vorhaben sprechenden Belange jeweils so ausreichend ermittelt und bewertet worden sind, dass der Beklagte den „planstützenden“ Belangen den Vorrang vor den Belangen der Klägerin einräumen durfte.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 9. Dezember 2021– 4 A 2.20 –, juris, Rn. 19, und vom 7. Oktober 2021 – 4 A 9.19 – , juris, Rn. 57.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Dies setzt zunächst voraus, dass – ausgehend von der aufgrund der UVP-Pflichtigkeit des Vorhabens gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 2 UVPG, § 3b Abs. 1 i. V. m. Anlage 1 Nr. 19.2.1 UVPG a. F. anwendbaren Regelung des § 6 Satz 1 UmwRG, nach der die zur Begründung einer Klage gegen eine Entscheidung im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG dienenden Tatsachen und Beweismittel innerhalb einer Frist von zehn Wochen ab Klageerhebung anzugeben sind – die Klägerin in einem ersten Schritt innerhalb dieser Frist substantiiert dargelegt hat, dass sie in eigenen abwägungserheblichen Belangen betroffen ist.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2021 – 4 A 2.20 –, juris, Rn. 19, 23.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Dies ist der Klägerin vorliegend nicht gelungen.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Soweit sie rügt, dass die Sicherheit der in der Nähe der Trasse wohnenden oder sich sonst aufhaltenden Personen sowie der Sachwerte unterschätzt oder jedenfalls nicht mit dem ihnen zukommenden hohen Gewicht in die Abwägung eingestellt worden sei, handelt es sich schon um keine eigenen Belange der Klägerin, sondern um solche ihrer Einwohner.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Sollten mit den zuvor genannten Sachwerten auch im Eigentum der Klägerin stehende Grundstücke im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 45 „O.-----straße “ gemeint sein, ist eine abwägungserhebliche Betroffenheit nicht dargelegt. Dies ergibt sich bereits daraus, dass es an einer konkreten Bezeichnung bestimmter Grundstücke fehlt. Es ist weder anhand des Vorbringens der Klägerin noch der vorliegenden Verwaltungsvorgänge für den Senat erkenn- oder nachvollziehbar, dass und ggf. welche der im Bebauungsplangebiet liegenden Grundstücke bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses (noch) in ihrem Eigentum gestanden haben. Eine weitergehende diesbezügliche Amtsermittlung durch den Senat scheidet angesichts der bereits dargestellten von der Klägerin zu beachtenden Darlegungsfrist von zehn Wochen ab Klageerhebung aus. Unabhängig davon ist eine abwägungserhebliche Betroffenheit nicht erkennbar. Eine solche ergibt sich nicht aus den von der Klägerin gegen die Sicherheit der Leitung vorgebrachten Einwänden, weil diese, wie zuvor aufgezeigt, nicht stichhaltig sind, von der Leitung also keine Gefahren für die Grundstücke ausgehen. Ansonsten erschöpft sich das Vorbringen der Klägerin in der pauschalen, auch nicht durch entsprechende Belege untermauerten Behauptung, dass sie ihre Grundstücke mit Blick auf das planfestgestellte Vorhaben nicht bzw. nur erschwert und nur zu geringeren Preisen verkaufen könne. Dies stellt keine substantiierte Darlegung dar. Aus einer erst zukünftig– nach dem Verkauf ihrer Grundstücke – etwaig beabsichtigten Bebauung der Grundstücke durch Dritte ergibt sich erst recht keine eigene Betroffenheit der Klägerin. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob und ggf. in welchen Fällen Verkehrswertminderungen, die aufgrund der Nähe eines Grundstücks zu einer Energieanlage im Sinne des Energiewirtschaftsgesetzes und damit einhergehender Sicherheitsbedenken eintreten, als eigenständiger Abwägungsposten Berücksichtigung im Rahmen der Abwägungsentscheidung finden müssten.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu Verkehrswertminderungen bei faktischen vorhabenbedingten Beeinträchtigungen BVerwG, Beschluss v. 14. Dezember 2021 – 4 B 10.21 –, juris, Rn. 18 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass hier für abwägungserhebliche Verkehrswertminderungen im Sinne der zuvor zitierten Entscheidung, die auf faktische vorhabenbedingte Beeinträchtigungen der Grundstücke zurückgehen, nichts Konkretes vorgetragen worden ist.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Eine abwägungserhebliche Betroffenheit ist ferner nicht dargelegt hinsichtlich im Eigentum der Klägerin stehender Straßen- und Wegegrundstücke, die von der planfestgestellten Leitung gekreuzt werden. Abgesehen davon, dass die Klägerin wiederum keine bestimmten Grundstücke konkret bezeichnet hat, führen auch diesbezüglich die geltend gemachten Sicherheitsbedenken, wie zuvor im Hinblick auf Grundstücke im Bebauungsplangebiet ausgeführt, nicht auf eine Betroffenheit. Ansonsten hat die Klägerin außer dem Umstand, dass Straßen-/Wegegrundstücke von der Leitung gekreuzt werden, nichts für eine abwägungserhebliche Betroffenheit dargelegt. Im Übrigen ist den Einwendungen der Klägerin, die diese im Verwaltungsverfahren hinsichtlich der Kreuzung von Straßen und Wegen geltend gemacht hatte, durch die Nebenbestimmungen unter Gliederungspunkt A.V.10. des Planfeststellungsbeschlusses (S. 179 f.) vollumfänglich Rechnung getragen worden.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Eine Betroffenheit der Klägerin in ihren abwägungserheblichen Belangen ist schließlich nicht anhand ihres Vorbringens zu einer Beeinträchtigung ihrer Planungshoheit ersichtlich. Soweit sie geltend macht, dass aufgrund des planfestgestellten Vorhabens die Realisierung einer kommunalen Planung, namentlich des Bebauungsplangebiets Nr. 45 „O.-----straße “, beeinträchtigt werde, weil eine Bebauung nicht oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erfolgen könne, und als Grund dafür bei potentiellen Grundstücksinteressenten bestehende Sicherheitsbedenken sieht, handelt es sich um eine durch nichts belegte Behauptung, die für den Senat so nicht nachvollziehbar ist. Die Klägerin legt weder substantiiert dar, dass es keinerlei oder jedenfalls zu wenig Interessenten für die in Rede stehenden Grundstücke des Bebauungsplangebiets gäbe, noch, dass ein solcher Zustand auf das planfestgestellte Vorhaben und nicht auf andere Gründe zurückzuführen wäre. Sollte die Klägerin mit ihrem Einwand lediglich ihren seinerzeitigen Befürchtungen Ausdruck verliehen haben, hätten sich diese jedenfalls als unbegründet erwiesen. Denn ausweislich einer von der Klägerin selbst veröffentlichten Mitteilung, die über deren Facebook-Auftritt abrufbar und auch von anderen Medien aufgegriffen worden ist,</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">https://www.lokalkompass.de/huenxe-drevenack/c-wirtschaft/die-grundstuecksvermarktung-fuer-das-neubaugebiet-nelkenstrasse-ist-abgeschlossen_a1520951,</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">ist das Bewerbungsverfahren für die Baugrundstücke im Neubaugebiet „O.-----straße “ bereits zum 26. Januar 2021 abgeschlossen worden, nachdem für alle Grundstücke Bewerber gefunden worden sind. Vor diesem Hintergrund kann schon – ungeachtet der Frage, wann nach den ursprünglichen Vorstellungen der Klägerin die Grundstücksvermarktung hätte abgeschlossen sein sollen – jedenfalls keine Rede von einer erheblichen zeitlichen Verzögerung, geschweige denn von einer gänzlichen Vereitelung der Umsetzung ihrer Planung sein. In der Folge kommt es auf den von ihr bemühten Prioritätsgrundsatz schon in Ermangelung eines Konflikts zwischen Fach- und Bauleitplanung nicht an.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die in diesem Zusammenhang vertretene Auffassung der Klägerin, dem Planfeststellungsbeschluss müsse sich mit hinreichender Sicherheit entnehmen lassen, dass das planfestgestellte Vorhaben die kommunale Planung nicht beeinträchtigen könne, bereits im Ansatz fehlgeht. Mit diesem zwar primär im Hinblick auf eine vermeintliche Unbestimmtheit des Planfeststellungsbeschlusses erhobenen Einwand macht die Klägerin sinngemäß zugleich geltend, dass ihrer Planungshoheit ein absoluter Vorrang gegenüber allen planstützenden Belangen zukomme. Ein solcher Vorrang, für den die Klägerin bereits keine gesetzliche Grundlage benennt, besteht indes nicht. Vielmehr handelt es sich bei der Planungshoheit einer Gemeinde – wie bereits ausgeführt – um einen „bloßen“ in die Abwägungsentscheidung einzustellenden Posten, der sich in der Abwägung indes nicht durchsetzen muss. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin zur Begründung ihres Rechtsstandpunkts angeführten Entscheidung des 2. Senats des erkennenden Gerichts,</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">vgl. Urteil vom 15. Mai 2013 – 2 A 3010/11 –, juris,</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">die sich anlässlich einer Drittanfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung u. a. zum Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung, aber weder zu einer im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden Abwägungsentscheidung auf Grundlage des § 43 EnWG noch zu planerischen Abwägungsentscheidungen im Allgemeinen verhält. Dass dem nachbarrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme neben dem Abwägungsgebot keine selbständige oder gar weitergehende Bedeutung zukommt, ist jedenfalls höchstrichterlich geklärt.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Vgl. in Bezug auf das Abwägungsgebot in § 18 Satz 2 AEG a. F.: BVerwG, Urteil vom 29. März 2007 – 9 A 17.06 –, juris, Rn. 25 m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon, dass die Klägerin eine Betroffenheit eigener abwägungserheblicher Belange nicht dargetan hat, kommt es auf die Ermittlung und Bewertung der für das planfestgestellte Vorhaben sprechenden („planstützenden“) Belange nicht an. Das – ohnehin unsubstantiierte – Vorbringen der Klägerin zu einem alternativen Trassenverlauf ist vor diesem Hintergrund ohne Belang.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Kosten der Beigeladenen werden aus Billigkeitsgründen für erstattungsfähig erklärt, da diese einen Antrag gestellt und sich daher einem Prozessrisiko ausgesetzt hat, vgl. § 154 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den § 167 VwGO, § 708 Nr. 10, § 709 Satz 2, § 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
346,919
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10 K 233/20
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:32"
"2022-10-17T11:11:04"
Urteil
ECLI:DE:VGAC:2022:0923.10K233.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 11. November 2019 verpflichtet, über den Antrag der Klägerin vom 15. Juli 2019 auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern im öffentlichen Straßenraum der Beklagten an den Standorten „I.-----Straße“, „X.------straße / G.--------straße “, „C.------straße “, „T.------Straße“ und „A.-----straße“ unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.</p> <p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist ein Unternehmen, das sich mit der Sammlung und dem Recycling von Altkleidern befasst. Sie begehrt die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern an verschiedenen Standorten im öffentlichen Straßenraum der Beklagten.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte schloss am 1. April 2009 durch ihren Eigenbetrieb LXL (im Folgenden: L.   ) mit der Firma G.   GmbH einen Vertrag über die Erfassung und Verwertung von Altkleidern und -schuhen in X. , der im Jahr 2011 durch einen neuen Vertrag ersetzt wurde. Danach verpflichteten sich die L.   , während der Vertragslaufzeit Altkleidersammlungen im öffentlichen Straßenraum der Beklagten nur in Kooperation mit der G.   GmbH durchzuführen (vgl. Ziffer 8 des Vertrags). Die von der G.   GmbH zur Verfügung gestellten Container sollten mit Logo und Telefonnummer des Malteser Hilfsdienst X. e.V. versehen sein (Ziffer 1 des Vertrags), der nach Ziffer 4 Abs. 1 des Vertrags für die Leerung der Container und die Reinigung der Standplätze zuständig war. Die Lieferung und Aufstellung der Container erfolgte an den von den L.   bezeichneten Standorten, wobei sich die G.   GmbH vorbehielt, Stellplätze abzulehnen (Ziffer 2 Abs. 1 des Vertrags). Eine Standortliste war dem Vertrag nicht beigefügt. Nach Ziffer 7 Abs. 1 lief der Vertrag zunächst bis zum 31. Dezember 2017 und verlängerte sich hiernach jeweils stillschweigend um ein Jahr, wenn er nicht vorher schriftlich mit einer Frist von sechs Monaten zum Ende eines Kalenderjahres gekündigt wurde.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 15. Juli 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis für die Aufstellung von zwölf Altkleidersammelcontainern an zwölf unterschiedlichen Standplätzen im Stadtgebiet der Beklagten für einen Zeitraum von drei Jahren. Hinsichtlich der einzelnen Standorte erklärte sie, dass es sich um Altglassammelstellen handle und sich erfahrungsgemäß bereits vorhandene Recyclingsammelplätze für die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern anböten.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daraufhin traf der Rat der Beklagten in seiner Sitzung am 5. November 2019 den Beschluss, die Anzahl der Sammelcontainer auf öffentlichen Flächen bezogen auf das gesamte Stadtgebiet auf 38 Standplätze (38 Container an 26 Standorten) zu beschränken. Dieses entspreche einer Standortdichte von 1.000 Einwohnern pro Standortplatz. Für weitere Altkleidersammelcontainer auf öffentlichen Flächen solle keine straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis erteilt werden, damit eine negative Beeinflussung des Orts- und Stadtbildes vermieden werden könne. Zudem wurde die Verwaltung beauftragt, ein auf die Beklagte angepasstes Konzept für die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern zu erstellen. In der zugehörigen Beschlussvorlage für den Rat wird zur Begründung der Dringlichkeit der Sache ausgeführt, dass eine Entsorgungsfirma am 15. Juli 2019 einen Antrag auf Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen zur Aufstellung von zwölf Altkleidersammelcontainern gestellt habe. „Um den Antrag ablehnen zu können“, sei „ein Ratsbeschluss mit der Begrenzung der Anzahl von Altkleidercontainern zwingend notwendig“. Dies schütze die Beklagte auch vor Folgeanträgen. In X.        erfasse bereits seit zehn Jahren ein Entsorgungsunternehmen über Altkleidersammelcontainer die Alttextilien, Bekleidung und Schuhe. Die Zusammenarbeit sei von Beginn an durchweg positiv, sodass im Interesse der Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs, der Sauberkeit des Straßen- und Ortsbildes, der Vereinheitlichung der Verwaltungspraxis sowie der Verwaltungsvereinfachung die Zuteilung der öffentlichen Standplätze für Altkleidersammelcontainer bei dem Entsorgungsunternehmen bleiben solle.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 11. November 2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 15. Juli 2019 ab. Zur Begründung gab sie den Ratsbeschluss vom 5. November 2019 - mit Ausnahme der Standortliste und des Auftrags an die Verwaltung zur Konzepterstellung - wörtlich wieder. Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt der Bescheid nicht.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 28. Januar 2020 Klage erhoben, mit der sie die Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung ihres Antrags hinsichtlich fünf der ursprünglich zwölf beantragten Standorte - namentlich die Standorte „I.-----Straße “, „X.------straße /G.--------straße “, „C.------straße “, „T.-----Straße“ und „A.-----straße “ - begehrt.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am Tag der Klageerhebung stellte die Klägerin außerdem bei der Beklagten einen weiteren Sondernutzungsantrag für die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern für drei Jahre, der auf den Beschluss der Beklagten vom 5. November 2019 Bezug nimmt. Beantragt wurden 21 weitere Standorte, die alle in der vom Rat der Beklagten beschlossenen Standortliste enthalten waren. Mit Schreiben vom 6. Februar 2020 erklärte die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass der Antrag zurückgestellt werden solle, bis das anhängige Klageverfahren abgeschlossen sei.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Vertrag zwischen den L.   und der G.   GmbH wurde im Laufe des Klageverfahrens zum 31. Dezember 2020 gekündigt. Unter dem 14. Dezember 2020 erteilte die Beklagte der S.               AöR eine Sondernutzungserlaubnis auf jederzeitigen Widerruf zur Aufstellung von 38 Altkleidersammelcontainern an 38 Standorten. Mit Wirkung zum 1. Juli 2022 übertrug die S.               AöR infolge einer öffentlichen Ausschreibung die Sammlung und Verwertung der Altkleider ihrerseits auf einen neuen Vertragspartner.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung ihrer Klage trägt die Klägerin vor, die Ablehnungsentscheidung sei ermessensfehlerhaft. Die beantragten Standorte seien von dem Ratsbeschluss, der allein zur Verhinderung des klägerischen Antrags gefasst worden sei, umfasst. Soweit aus der Ratsvorlage hervorgehe, dass die Beklagte dem Grundsatz „bekannt und bewährt“ folgend an ihrem bisherigen Entsorgungsunternehmen festhalten wolle, mangele es dieser Begründung an dem erforderlichen straßenrechtlichen Bezug. Der Beklagten sei es versagt, einzelnen Inhabern von Sondernutzungserlaubnissen eine „Ewigkeitsgarantie“ zu geben. Ferner stelle der abfallwirtschaftliche Bedarf von einem Container je 1.000 Einwohnern kein straßenrechtlich relevantes Kriterium dar. Die Vereinbarung mit der G.   GmbH sei straßenrechtswidrig. Die Beklagte praktiziere auch kein „Alles-aus-einer-Hand-Prinzip“, sondern erfülle lediglich eine rechtswidrige Exklusivitätsvereinbarung. Während des Klageverfahrens hat die Klägerin für die beantragten Standorte Fotos bzw. Luftbildaufnahmen vorgelegt, auf denen sie den jeweils für ihre Container gewünschten Platz bzw. ihre 1. Wahl und ihre 2. Wahl für einen Platz markiert hat.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 11. November 2019 zu verpflichten, über den Antrag der Klägerin vom 15. Juli 2019 auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern im öffentlichen Straßenraum der Beklagten an den Standorten „I.------Straße xx“, „X.------straße /G.--------straße “, „C.------straße “, „T.-----Straße“ und „A.-----straße x“ unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Standorte „X.------straße /G.--------straße “ und „T.-----Straße“ sei die Klage bereits unzulässig, da der Antrag insoweit mangels Angabe von Hausnummern oder einer Umschreibung der Örtlichkeit nicht hinreichend bestimmt sei. Im Übrigen sei die Ablehnung des Antrags ermessensfehlerfrei erfolgt. Sie habe sich an Gründen orientiert, die einen sachlichen Bezug zur Straße hätten. Der Grundsatz „bekannt und bewährt“ sei nicht entscheidungstragend gewesen. Die Anzahl der 38 Standorte entspreche einer Dichte von 1.000 Einwohnern pro Standortplatz. Dieser Bedarf ergebe sich bei einer jährlichen Sammelmenge von ca. 250 t und unter Berücksichtigung des Umstands, dass ein Altkleidersammelcontainer pro Jahr bei regelmäßiger Befüllung und Entleerung rund 6,5 t Altkleider erfasse, aus dem Abfallwirtschaftskonzept des Zweckverbandes (A2.   ). Der Ratsbeschluss sei aus straßenrechtlichen Erwägungen erfolgt und ein tragfähiger Ablehnungsgrund. Der beantragte Standort „A.-----straße x“ sei von der beschlossenen Standortliste nicht umfasst. Soweit die übrigen beantragten Standorte mit den auf der Standortliste enthaltenen Plätzen übereinstimmten, seien diese bereits bis zum 31. Dezember 2020 an die G.   GmbH vergeben gewesen. Ein subjektives Recht darauf, dass die einem Dritten erteilte Sondernutzungserlaubnis widerrufen werde, bestehe nicht. Eine Vergabe von Standplätzen für Altkleidersammelcontainer auf öffentlichen Flächen sei generell und ausschließlich an die G.   GmbH erfolgt. Gründe hierfür seien eine Begrenzung der Containeranzahl und die Bestrebung, Wartung und Entsorgung in Bezug auf Alttextilien „in eine Hand“ zu geben, dadurch den zunehmenden Verschmutzungen an Standorten effektiv begegnen zu können und mögliche Beeinträchtigungen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs in Grenzen zu halten. Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes liege nicht vor, da die Klägerin neben der G.   GmbH zu keiner Zeit als gleichberechtigte Antragstellerin um die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis für dieselben Straßenflächen gestanden habe. Zu der im Laufe des Klageverfahrens erteilten Sondernutzungserlaubnis für die S.               AöR trägt die Beklagte zuletzt vor, dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger müsse es vorrangig ermöglicht werden, seine Abfallentsorgungspflicht zu erfüllen, wozu auch die Aufstellung eigener Altkleidersammelcontainer gehöre.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">A. Die Klage wird unter Berücksichtigung des klägerischen Begehrens (vgl. § 88 VwGO) dahingehend ausgelegt, dass die Klägerin die Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis zukunftsorientiert für einen Zeitraum von drei Jahren begehrt und nicht etwa für den Zeitraum von drei Jahren beginnend mit dem Tag der Antragstellung bei der Beklagten oder lediglich für die Jahre 2019 bis 2021.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Bei der Bestimmung des Rechtsschutzziels sind sämtliche Umstände, insbesondere die Gesamtheit des Vorbringens des Beteiligten, zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl.              BVerwG, Beschluss vom 27. April 2020 - 2 B 48.19 -, juris, Rn. 15, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die für § 88 VwGO entwickelten Grundsätze sind auch auf die Auslegung der Anträge bei der Behörde (vgl. § 22 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen [VwVfG NRW]) anzuwenden.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 22. Auflage 2021, § 22 Rn. 57.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat in ihrem Antrag vom 15. Juli 2019 angegeben, die Altkleidersammelcontainer „für drei Jahre“ aufstellen zu wollen, ohne eine Einschränkung hinsichtlich bestimmter Jahre getroffen zu haben. Diese offene Formulierung zeigt, dass es dem Interesse der Klägerin entspricht, generell für einen dreijährigen Zeitraum Altkleidersammelcontainer im Gebiet der Beklagten aufzustellen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl.              zu entsprechenden Anträgen bereits VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 14 ff., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 15 ff., sowie vom 7. Oktober 2021 - 10 K 1637/20 -, juris, Rn. 26 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das klägerische Begehren zur Aufstellung der Container mit einem bestimmten Jahr endet. In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vielmehr auf Nachfrage ausdrücklich erklärt, dass der Antrag zukunftsoffen für drei Jahre gestellt worden soll.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">B. Die so verstandene Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist zulässig.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Sie ist als Verpflichtungsklage in Form einer Bescheidungsklage gem. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO statthaft. Das Begehren der Klägerin hat sich insbesondere nicht durch Zeitablauf erledigt, denn die Klägerin beansprucht mit ihrem Antrag vom 15. Juli 2019 - wie ausgeführt - die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern generell für einen Zeitraum von drei Jahren.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Sie ist darüber hinaus auch nicht verfristet, weil sie jedenfalls innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO erhoben worden ist, die hier einschlägig ist, weil der Ablehnungsbescheid vom 11. November 2019 keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">II. Die Klage ist auch begründet.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrags vom 15. Juli 2019 hinsichtlich der klagegegenständlichen Standorte. Der Bescheid der Beklagten vom 11. November 2019 ist im angefochtenen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einer Verpflichtungsklage ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 102.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Dies gilt auch hier, denn es liegt kein Fall vor, in dem ausnahmsweise aufgrund des materiellen Rechts ein früherer Zeitpunkt maßgeblich wäre.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen ist § 18 Abs. 1 Satz 2 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (StrWG NRW). Danach bedarf die Benutzung öffentlicher Straßen über den Gemeingebrauch hinaus (Sondernutzung) unbeschadet des § 14a Abs. 1 StrWG NRW der Erlaubnis der Straßenbaubehörde. Die Sondernutzungserlaubnis wird auf Grund einer Ermessensentscheidung erteilt (vgl. § 18 Abs. 2 StrWG NRW).</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">1. Die von der Klägerin beabsichtigte Aufstellung von Altkleidersammelcontainern an Standorten, die - unstreitig - sämtlich im öffentlichen Straßenraum liegen, stellt eine Sondernutzung dar.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl.              hierzu OVG NRW, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 11 A 566/13 -, juris, Rn. 38 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">2. Der von der Klägerin gestellte Antrag auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis ist entgegen der Ansicht der Beklagten hinreichend bestimmt und bescheidungsfähig.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Sondernutzungserlaubnis wird nur auf Antrag erteilt (§ 22 Satz 2 Nr. 2 VwVfG NRW). Im Verwaltungsverfahren besteht gemäß § 26 Abs. 2 VwVfG NRW eine Mitwirkungspflicht des Antragstellers.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 47 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Damit die Behörde prüfen kann, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis vorliegen, muss der Antragsteller sie insbesondere über Ort, zeitliche Dauer und Umfang seines Vorhabens in Kenntnis setzen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 49 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Erforderlich ist, dass der jeweilige Standort für die Altkleidersammelcontainer durch eine konkrete räumliche Eingrenzung dem Antrag zu entnehmen ist. Für eine hinreichende Identifizierung des Standorts ist es vielfach nicht ausreichend, lediglich den Straßennamen mit Hausnummer zu benennen. Vielmehr ist eine Präzisierung etwa durch Lagepläne, Flurkarten oder Lichtbilder mit in Frage kommendem und gekennzeichnetem Standort regelmäßig notwendig.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Beschlüsse vom 15. September 2014 - 11 A 624/14 -, juris, Rn. 6 ff., und vom 27. Januar 2014 - 11 A 1986/13 -, juris, Rn. 9, sowie ferner Urteil vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 - juris, Rn. 51; Bay. VGH, Beschlüsse vom 22. Januar 2018 - 8 ZB 17.1590 -, juris, Rn. 6 f., und vom 1. August 2017 - 8 ZB 17.1015 -, juris, Rn. 7; VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 38 f., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 40 f., sowie vom 7. Oktober 2021 - 10 K 1637/20 -, juris, Rn. 53 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Dieser Pflicht ist die Klägerin hinsichtlich der noch beantragten fünf Aufstellungsorte nachgekommen. Sie hat die im Verwaltungsverfahren angegebenen Standorte im Klageverfahren um Lichtbilder ergänzt, auf welchen sie jeweils die konkrete Aufstellfläche mittels Kreuzmarkierungen gekennzeichnet hat. Für den Fall mehrerer gesetzter Kreuze hat sie durch die Beschriftung „1. Wahl“ und „2. Wahl“ für die Beklagte hinreichend nachvollziehbar gemacht, in welcher Reihenfolge sie die jeweiligen Aufstellflächen begehrt. Die Beklagte kann somit die jeweiligen Standorte - auch die von ihr gerügten Standorte „X.------straße /G.--------straße “ und „T.----- Straße“ - ohne Weiteres erkennen.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">3. Die Ablehnung des Antrags der Klägerin durch Bescheid vom 11. November 2019 ist rechtswidrig, weil sie ermessensfehlerhaft erfolgt ist.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">a. Das der Behörde eingeräumte Ermessen ist entsprechend dem Zweck des § 18 Abs. 2 StrWG NRW unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen, insbesondere des Gebots der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes [GG]), auszuüben (§ 40 VwVfG NRW). Die gerichtliche Kontrolle der Ermessensentscheidung beschränkt sich auf die Einhaltung dieses rechtlichen Rahmens (§ 114 Satz 1 VwGO). Dabei sind im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zulässig nachgeschobene Ermessenserwägungen im Sinne von § 114 Satz 2 VwGO vom Gericht zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Eine ordnungsgemäße Ermessensausübung setzt zunächst voraus, dass der der Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt wird und alle wesentlichen Umstände berücksichtigt werden. Für die Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung genügt es grundsätzlich, wenn bei einer auf mehrere Gründe gestützten Ermessensentscheidung nur einer der herangezogenen Gründe sie trägt, es sei denn, dass nach dem Ermessen der Behörde nur alle Gründe zusammen die Entscheidung rechtfertigen sollen.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 45 ff., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 55 ff., vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 26 ff., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 40 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Entsprechend dem Zweck des § 18 Abs. 2 StrWG NRW hat sich die behördliche Ermessensausübung an Gründen zu orientieren, die einen sachlichen Bezug zur Straße haben. Zu diesen Gründen können insbesondere ein einwandfreier Straßenzustand (Schutz des Straßengrunds und des Zubehörs), die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, der Ausgleich zeitlich und örtlich gegenläufiger Interessen verschiedener Straßenbenutzer und Straßenanlieger (etwa Schutz vor Abgasen, Lärm oder sonstigen Störungen) oder Belange des Straßen- und Stadtbilds, d. h. baugestalterische oder städtebauliche Vorstellungen mit Bezug zur Straße (Vermeidung einer „Übermöblierung“ des öffentlichen Straßenraums, Schutz eines bestimmten Straßen- oder Platzbilds und Ähnliches) zählen.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 48 f., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 58 f., vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 29 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 43 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Ob die Sondernutzung durch einen Altkleidersammelcontainer eines gemeinnützigen oder gewerblichen Aufstellers vorgenommen wird, ist straßenrechtlich ohne Belang. Das Sondernutzungsrecht ist im Grundsatz wirtschafts- und wettbewerbsneutral. Straßenrechtlich zu beanstanden sind etwa rein subjektive oder geschäftsbezogene Merkmale. So fehlt auch dem im Marktrecht entwickelten Grundsatz „bekannt und bewährt“ der straßenrechtliche Bezug. Die Zuverlässigkeit ist grundsätzlich ebenfalls ein subjektives Merkmal, das einen straßenrechtlichen Bezug nicht aufweist.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 50 f., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 60 f., vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 31 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 45 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich ist es nicht ermessensfehlerhaft, Anträge auf Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen mit der Begründung abzulehnen, für die beantragte Fläche sei bereits einem Dritten eine Sondernutzungserlaubnis erteilt worden. Für dieselbe öffentliche Straßenfläche kann nur eine Sondernutzungserlaubnis vergeben werden. Nach § 18 Abs. 2 Satz 1 StrWG NRW darf diese Erlaubnis nur auf Zeit oder Widerruf erteilt werden. Ist der Zeitraum, für den die Sondernutzungserlaubnis an einen Dritten erteilt worden ist, noch nicht abgelaufen, ist es in aller Regel ermessensfehlerfrei, den Antrag mit Blick auf diesen Umstand abzulehnen. Ist für die beantragte Fläche bereits eine unbefristete Erlaubnis erteilt, bedürfte es eines Widerrufs der dem Dritten erteilten Erlaubnis. Ein subjektives Recht darauf, dass die einem Dritten erteilte Sondernutzungserlaubnis widerrufen wird, besteht aber grundsätzlich nicht. Denn § 18 Abs. 1 StrWG NRW vermittelt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung keinen Drittschutz.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 52 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 47 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Da Schutzzweck der Erlaubnis für die Sondernutzung an Straßengelände auch das öffentlich-rechtliche Bedürfnis sein kann, zeitlich und örtlich gegenläufige Interessen verschiedener Straßenbenutzer (Verteilungs- und Ausgleichsfunktion) auszugleichen, kann im Rahmen der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen beim Zusammentreffen solcher gegenläufiger Interessen verschiedener Straßenbenutzer bezogen auf dieselbe Straßenfläche auch ein entsprechender Interessensausgleich erforderlich werden.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 54 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 49 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Kommune darf ihr Ermessen zur Bewirkung einer gleichmäßigen Handhabung durch die Straßenbaubehörde auch generell ausüben, etwa durch den Erlass ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften (Ermessensrichtlinien). Hierdurch bewirkt sie eine Selbstbindung, die im Grundsatz von der gesetzlichen Ermessensermächtigung zugelassen wird. Die durch eine Verwaltungsvorschrift bewirkte Ermessensbindung der Behörde geht aber nicht so weit, dass wesentlichen Besonderheiten des Einzelfalls nicht mehr Rechnung getragen werden könnte. In atypischen Fällen, in denen die generelle Ermessensausübung die individuellen Besonderheiten des konkreten Einzelfalls nicht (hinreichend) berücksichtigt, ist der Behörde ein Abweichen von den ermessenslenkenden Vorschriften möglich.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 56 f., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 62 f., vom 18. Juni 2020 - 11 A 4178/18 -, juris, Rn. 68 f., und vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 33 f., jeweils m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 19. März 1996 - 1 C 34.93 -, juris, Rn. 22; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 114, Rn. 22 und 74 ff.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">b. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Ablehnungsentscheidung der Beklagten ermessensfehlerhaft. Die Begründung, der Rat habe am 5. November 2019 beschlossen, die Anzahl von Altkleidersammelcontainern auf 38 Standorte zu beschränken und für weitere Container auf öffentlichen Flächen keine Sondernutzungserlaubnis zu erteilen, hält einer an den aufgeführten Grundsätzen orientierten Prüfung in Bezug auf den Antrag der Klägerin nicht stand. Weder der Ablehnungsbescheid (aa.) noch der von diesem herangezogene Ratsbeschluss (bb.) vermögen die Ablehnungsentscheidung zu rechtfertigen. Die Beklagte kann sich vorliegend auch nicht erfolgreich darauf berufen, die Sammlung und Verwertung von Alttextilien „in eine Hand“ vergeben zu haben (cc.).</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">aa. Der Ablehnungsbescheid vom 11. November 2019 ist bereits deswegen ermessensfehlerhaft, weil seine Begründung die Ablehnungsentscheidung für vier der begehrten Standorte nicht trägt. Denn die Berufung auf die durch den Ratsbeschluss erfolgte Festlegung auf 38 Standorte rechtfertigt die Ablehnung der beantragten Erlaubnis für die vier Standorte „I.-----Straße“, „X.------straße / G.--------straße “, „C.------straße “ und „T.-----Straße“ gerade nicht, da diese Standorte in der vom Rat beschlossenen Standortliste enthalten sind. Dazu, warum der Klägerin eine Sondernutzung für diese vier Standorte gleichwohl nicht erteilt werden kann, verhält sich der Ablehnungsbescheid nicht.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">bb. Der bei der Ablehnungsentscheidung in Bezug genommene Ratsbeschluss vom 5. November 2019 vermag diese auch nicht als generelle Ermessensentscheidung zu rechtfertigen. Hinsichtlich der zuvor genannten vier Standorte trägt er die Ablehnungsentscheidung bereits deswegen nicht, weil der Beschlusstenor über die Festlegung der konkreten Standplätze hinaus keine weitere Grundsatzentscheidung beinhaltet. Im Übrigen hält der Beschluss einer straßenrechtlichen Überprüfung nicht stand.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">(1) Zwar erfüllt er formell die Anforderungen an eine vorweggenommene generelle Ermessensentscheidung.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Denn die Entscheidung über die Ausübung generellen Ermessens bedarf in der Regel eines vorherigen Ratsbeschlusses. Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW) ist der Rat der Gemeinde für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zuständig, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. Abgesehen von den in § 41 Abs. 1 Satz 2 GO NRW enumerativ aufgezählten Fällen kann der Rat die Entscheidung über bestimmte Angelegenheiten auf Ausschüsse oder den Bürgermeister übertragen (§ 41 Abs. 2 Satz 1 GO NRW). Geschäfte der laufenden Verwaltung gelten im Namen des Rats als auf den Bürgermeister übertragen, soweit nicht der Rat sich, einer Bezirksvertretung oder einem Ausschuss für einen bestimmten Kreis von Geschäften oder für einen Einzelfall die Entscheidung vorbehält (§ 41 Abs. 3 GO NRW). Bei den „Geschäften der laufenden Verwaltung“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt. Nach gefestigter Rechtsprechung fallen die nach Regelmäßigkeit und Häufigkeit üblichen Geschäfte darunter, deren Erledigung nach feststehenden Grundsätzen „auf eingefahrenen Gleisen“ erfolgt und die für die Gemeinde unter Berücksichtigung ihrer Größe und Finanzkraft weder wirtschaftlich noch grundsätzlich von wesentlicher Bedeutung sind.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon zählt zwar u. a. die Entscheidung über die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen regelmäßig zu den Geschäften der laufenden Verwaltung. Der Erlass allgemeiner Richtlinien oder Anweisungen, die die Ermessenspraxis einer Gemeinde bei der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen im öffentlichen Straßenraum bestimmen sollen, gehört jedoch regelmäßig nicht mehr zu den Geschäften der laufenden Verwaltung. Eine solche Entscheidung ist vielmehr wegen des grundlegenden Charakters, den eine generelle Ermessensausübung mit Blick auf künftige Entscheidungen über entsprechende Erlaubnisanträge in sich trägt, dem Gemeinderat vorbehalten, wenn nicht die zu regelnde Angelegenheit für die Gemeinde ausnahmsweise von untergeordneter Bedeutung ist.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 80 ff., und vom 13. Mai 2019 - 11 A 2057/17 -, juris, Rn. 41 ff., jeweils m. w. N.; VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 63 ff., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 59 ff., sowie vom 7. Oktober 2021 - 10 K 1637/20 -, juris, Rn. 71 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung, eine bestimmte Art der Sondernutzung - die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern - im Stadtgebiet generell stark einzuschränken, indem die Anzahl der Standplätze auf 38 beschränkt und die Standorte festgelegt werden, stellt eine grundlegende Vorentscheidung für alle zukünftigen Anträge auf Genehmigung einer solchen Sondernutzung dar.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">(2) Allerdings steht der Grundsatzbeschluss vom 5. November 2019 materiell-rechtlich nicht in Einklang mit § 18 Abs. 2 StrWG NRW.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung, die Containeranzahl zu begrenzen, kann zulässig sein, sofern sie einen straßenrechtlichen Bezug aufweist. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn die Begrenzung der Vermeidung einer „Übermöblierung“ des öffentlichen Straßenraums und dem Schutz der Anlieger vor nutzungsbedingtem Lärm und Abgasen oder dem Ausgleich sonstiger zeitlich und örtlich gegenläufiger Interessen verschiedener Straßenbenutzer und -anlieger dient oder Beeinträchtigungen der Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs verhindert werden sollen.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 59, vom 7. April 2017 - 11 A 2068/14 -, juris, Rn. 96, und vom 16. Juni 2015 - 11 A 1141/13 -, juris, Rn. 47 und 75; VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 89 f., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 110 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Vorliegend fehlt es der Begrenzung der Containeranzahl an dem erforderlichen straßenrechtlichen Bezug.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">(a) Ausweislich der Begründung der zugehörigen Vorlage war es ausdrücklich Ziel des Beschlusses, den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis ablehnen zu können und sich vor weiteren Anträgen zu schützen, also auch diese künftig ablehnen zu können. Die Altkleidersammlung sollte weiterhin durch die G.   GmbH erfolgen, mit der die Beklagte nach Darstellung in der Beschlussvorlage zum Zeitpunkt der Beschlussfassung seit 10 Jahren „durchweg positiv“ zusammengearbeitet habe.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Dass hinter diesem erklärten Ziel straßenrechtliche Erwägungen der Beklagten standen, vermag die Kammer nicht zu erkennen. So ergibt sich weder aus den Ratsunterlagen noch aus dem Verwaltungsvorgang der Beklagten, aus welchen Gründen im Stadtgebiet eine Begrenzung der Anzahl von Sammelcontainern auf öffentlichen Flächen zur erklärtermaßen beabsichtigten Vermeidung der Übermöblierung des öffentlichen Verkehrsraums und der negativen Beeinflussung des Orts- und Stadtbildes notwendig, diese Begrenzung auf insgesamt 38 Standplätze an 26 Standorten erfolgt und die Wahl gerade auf die gelisteten Standorte gefallen ist. Straßenrechtliche Ermessenserwägungen hinsichtlich der Standorte lassen sich den vorliegenden Unterlagen ebenso wenig entnehmen wie solche hinsichtlich der konkreten Anzahl der Standplätze. Welche Kriterien für ihre Auswahl maßgeblich waren, ist nicht nachvollziehbar. Dass zum Zeitpunkt des Beschlusses tatsächlich ein Konzept für die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern noch gar nicht vorlag, ist dem Umstand zu entnehmen, dass der Rat die Verwaltung mit der Erstellung des Konzepts erst beauftragte. Auch soweit eingangs der Beschlussvorlage darauf hingewiesen wird, dass der Gesichtspunkt der Übermöblierung „eine tragende straßenrechtliche Erwägung“ sei, „um … Anträge auf Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis abzulehnen“, wird der Eindruck bekräftigt, dass dem Beschluss tatsächlich (allein) der Wille zugrunde lag, an der bestehenden Zusammenarbeit mit der G.   GmbH festzuhalten. Soweit der Rat die bisherige positive Zusammenarbeit zur Grundlage seines Beschlusses macht, handelt es sich um eine subjektive Erwägung im Sinne des Grundsatzes „bekannt und bewährt“, der im spezifisch straßenrechtlichen Ermessensprogramm - wie bereits ausgeführt - nicht zu berücksichtigen ist.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">(b) Der weitere Vortrag der Beklagten im Klageverfahren zu dem Grundsatzbeschluss vom 5. November 2019 vermag an dem vorstehenden Ergebnis nichts zu ändern. Dabei kann dahin stehen, ob die Beklagte, die in ihrem Bescheid vom 11. November 2019 über die Bezugnahme auf den Ratsbeschluss hinaus kein Ermessen ausgeübt hat, ihre Erwägungen im Klageverfahren in zulässiger Weise gemäß § 114 Satz 2 VwGO nachbessern durfte. Denn jedenfalls greifen die von ihr im Klageverfahren vorgebrachten Erwägungen nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Soweit sich die Beklagte zur Begründung der Anzahl der 38 Standorte auf die jährliche Sammelmenge und den sich hieraus ergebenden Bedarf von 38 Containern beruft, handelt es sich nicht um straßenrechtliche Ermessenserwägungen, sondern um abfallrechtliche bzw. abfallwirtschaftliche Belange.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG Saarl., Urteil vom 3. Februar 2021 - 1 A 308/19 -, juris, Rn. 66; Nds. OVG, Urteil vom 18. Mai 2017 - 7 LC 85/15 -, juris, Rn. 41; VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 91 f., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 112 f., jeweils m. w. N.; VG Mainz, Urteil vom 20. Juni 2018 - 3 K 907/17.MZ -, juris, Rn. 27.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Aus Sicht der Straße spielt es im Übrigen keine Rolle, ob oder in welchem Ausmaß das durch die Sondernutzung vermittelte Angebot tatsächlich in Anspruch genommen wird. Ebenso wenig wie es für die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis erheblich ist, wie stark etwa eine beantragte Außengastronomie ausgelastet ist,</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">vgl.              hierzu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18. März 2014 - 5 S 348/13 -, juris, Rn. 41,</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">kommt es darauf an, ob die Altkleidersammelcontainer tatsächlich von der Bevölkerung genutzt werden. Für die Straße macht es keinen Unterschied, ob der Container mit Alttextilien befüllt ist oder leer steht. Inwieweit Bedarf besteht oder nicht, dürfte sich über den Markt, also die Nachfrage, regeln. Auch die Aufsteller von Altkleidersammelcontainern dürften kein Interesse daran haben, diese an Standorten aufzustellen, an denen sie von der Bevölkerung im Ergebnis als überflüssig eingestuft werden.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl.              bereits VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 93 ff., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 114 ff.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">cc. Die Beklagte kann sich vorliegend zur Begründung ihrer Ablehnungsentscheidung auch nicht darauf berufen, die Altkleidersammlung und -verwertung „in eine Hand“ vergeben zu haben. Dies gilt sowohl für die Ausschließlichkeitsvereinbarung mit der G.   GmbH als auch für die aktuelle Sondernutzungssituation.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">(a) Auf die vertragliche Vereinbarung mit der G.   GmbH kann sich die Beklagte zur Begründung ihrer Ablehnungsentscheidung im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung schon deshalb nicht mehr berufen, da diese im Laufe des Klageverfahrens gekündigt wurde. Die dem Ratsbeschluss zugrunde gelegte ausschließliche Zusammenarbeit mit der G.   GmbH hätte der straßenrechtlichen Ermessensprüfung im Übrigen aus den folgenden Gründen nicht standgehalten:</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">(aa) Die Entscheidung, zugunsten der G.   GmbH und zu Lasten anderer Altkleidersammler eine Ausschließlichkeitsvereinbarung zu treffen, hätte ausgehend von der oben beschriebenen Abgrenzung zwischen Geschäften der laufenden Verwaltung und Entscheidungen, die wegen ihres grundlegenden Charakters dem Rat überlassen sind, in formeller Hinsicht eines - hier fehlenden - Ratsbeschlusses bedurft. Denn der Ausschluss jeglicher anderer Altkleidersammler stellt eine grundlegende Vorentscheidung für alle zukünftigen Anträge auf Genehmigung einer solchen Sondernutzung dar. Dem Beschluss vom 5. November 2019 liegt zwar die Zusammenarbeit mit einem „anderen“ Entsorgungsunternehmen zugrunde; eine (Grundsatz-)Entscheidung über die Zusammenarbeit mit der G.   GmbH und eine ausschließliche Vergabe von Sondernutzungserlaubnissen an diese hat der Rat jedoch nicht getroffen.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">(bb) Die Vereinbarung selbst stand darüber hinaus materiell-rechtlich nicht in Einklang mit den Voraussetzungen des § 18 Abs. 2 StrWG NRW.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Zwar ist es grundsätzlich zulässig, im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass für die beantragten Standorte bereits einem anderen Anbieter die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern genehmigt wurde. Die Einräumung des Rechts zur Sondernutzung für einen Dritten kann dabei sowohl durch einen Verwaltungsakt als auch durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag erfolgen (§ 54 VwVfG NRW).</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 11 A 566/13 -, juris, Rn. 49 f., m. w. N.; VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2021 -             10 K 292/20 -, juris, Rn. 74 ff., m. w. N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 29. Januar 2013 - 16 K 6801/12 -, juris, Rn. 19; Majcherek, in: Hengst/Majcherek, StrWG NRW, Kommentar, Stand: Februar 2020, § 18 Ziffer 1.2.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Soweit Verträge eine sog. Ausschließlichkeitsklausel enthalten, also eine Regelung, die ausschließlich dem Vertragspartner eine bestimmte Sondernutzung gestattet, begegnen diese jedoch grundsätzlich rechtlichen Bedenken.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. bereits VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2021 - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 78 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Insbesondere kann eine Nutzungsvereinbarung mit Ausschließlichkeitsrecht nicht so weit reichen, dass sie einen nach § 18 Abs. 1 StrWG NRW und Art. 3 Abs. 1 GG bestehenden Rechtsanspruch auf Sondernutzungserlaubnis grundsätzlich hindert. Eine ermessensgerechte Ablehnung der Sondernutzung eines anderen Interessenten kann sie allein nicht rechtfertigen.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Nds. OVG, Urteile vom 20. Juli 2017 - 7 LB 58/16 -, juris, Rn. 42 f., und vom 23. April 1992 - 12 A 166/88 -, NVwZ-RR 1993, 393 (394); letzteres bestätigt durch BVerwG, Urteil vom 24. August 1994 -       11 C 57.92 -, juris, Rn. 12; VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2021 - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 80.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Verträge dieser Art werden (nur) ausnahmsweise für zulässig gehalten, soweit sie zulässige Ermessenserwägungen, etwa ein Gestaltungskonzept, umsetzen.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl.              VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2021 - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 82 f., unter Verweis auf VG Greifswald, Urteil vom 6. Juli 2017 - 6 A 1245/14 -, juris, Rn. 18 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Erteilung der Sondernutzungserlaubnis erfordert, wie dargelegt, eine Abwägung der Rechte des Antragstellers und der Belange des Straßenrechts. Die Behörde darf eine Erlaubnis nur aus spezifischen straßenrechtlichen Erwägungen versagen.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Vgl.              BVerwG, Urteil vom 24. August 1994 - 11 C 57.92 -, juris, Rn. 13; Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Auflage 2020, Rn. 382, m. w. N.; Herber, in: Kodal, Straßenrecht, 8. Auflage 2021, Kapitel 26, Rn. 24.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Der hier geschlossene Vertrag ließ jedoch weder Raum für eine Abwägung gegenläufiger Nutzungsinteressen noch für sonstige für und gegen die Erteilung der Sondernutzungserlaubnis sprechenden Gründe noch für eine am Straßenrecht orientierte Auswahlentscheidung. Vielmehr wurde vertraglich jede weitere Sondernutzungserlaubnis ausgeschlossen. Die Beklagte hat somit (bewusst und gewollt) eine Monopolstellung der G.   GmbH geschaffen, die - auch nach dem ausdrücklichen Vortrag der Beklagten im Klageverfahren - dazu führte, dass andere Antragsteller nicht gleichberechtigt daneben die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis beantragen konnten, sondern von vornherein und grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähig waren.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Auch soweit sich die Beklagte im Klageverfahren ursprünglich darauf berufen hat, der Vergabe von Standplätzen für Altkleidersammelcontainer auf öffentlichen Flächen ausschließlich an die G.   GmbH liege der Wunsch nach einer Begrenzung der Containeranzahl im Stadtgebiet sowie die Bestrebung, Wartung und Entsorgung in Bezug auf Alttextilien „in eine Hand“ zu geben, zugrunde, ist diese Erwägung ermessensfehlerhaft. Zum einen ist in dem Vertrag mit der G.   GmbH eine Begrenzung der Containeranzahl gerade nicht enthalten. Zum anderen erfolgt die Sammlung, Wartung und Entsorgung nach dem geschlossenen Vertrag auch nicht „in einer Hand“. Vielmehr ist nach Ziffer 4 Abs. 1 des Vertrages für die Leerung der Container und die Reinigung der Standplätze der Malteser Hilfsdienst X.        e. V. zuständig, mit dessen Logo und Telefonnummer nach Ziffer 1 des Vertrages auch die Container beschriftet sind. Auch sieht Ziffer 4 Abs. 2 ausdrücklich mit Zustimmung der Vertragsparteien die Möglichkeit des Einsatzes weiterer Subunternehmer vor.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu einem ähnlichen Fall OVG NRW, Urteil vom 7. April 2017 - 11 A 2068/14 -, juris, Rn. 87.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Der Vertrag mit der G.   GmbH war außerdem entgegen § 18 Abs. 2 Satz 1 StrWG NRW nicht auf Zeit geschlossen, sondern mit einer automatischen Vertragsverlängerungsklausel versehen. Eine solche Klausel widerspricht dem Grundverständnis einer nur auf Zeit erteilten Sondernutzungserlaubnis, die automatisch mit Zeitablauf ihre Wirksamkeit verliert und somit zwingend eine neue Antragstellung und eine erneute Überprüfung der örtlichen Gegebenheit durch die Behörde erforderlich macht. Durch die automatische Vertragsverlängerung wird dieses Prinzip in ihr Gegenteil verkehrt.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl.              zu einer solchen automatischen Vertragsverlängerung bereits eingehend VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2021 - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 96 ff.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Durch die vertraglichen Regeln wurde ebenso wenig die von § 18 Abs. 2 Satz 1 StrWG NRW alternativ vorgesehene Möglichkeit der Erlaubniserteilung auf Widerruf abgebildet. Der Widerruf einer Sondernutzungserlaubnis ist jedoch ebenfalls eine Ermessensentscheidung, die sich an denselben straßenrechtlichen Erwägungen wie die Erteilung der Sondernutzungserlaubnis messen lassen muss.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl.              VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2021 - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 102 f., m. w. N.; Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Auflage 2020, Rn. 444 f.; Sächs. OVG, Beschluss vom 28. August 2017 - 3 B 96/17 -, juris, Rn. 6, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Übertragen auf einen öffentlich-rechtlichen Vertrag bedeutet dies, dass eine Kündigung zulässigerweise nur aus Gründen möglich sein kann, die auch eine Versagung der Sondernutzungserlaubnis rechtfertigen könnten.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Vgl.              VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2021 - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 104; Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Auflage 2020, Rn. 464.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Auch das war von dem Vertrag nicht vorgesehen.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">(b) Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, die Sammlung und Verwertung von Alttextilien „in eine Hand“ vergeben zu haben.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">(aa) Die nach den im Klageverfahren gemachten Angaben der Beklagten zwischenzeitlich getroffene Entscheidung, die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern im Stadtgebiet der Beklagten ausschließlich der S.               AöR zu erteilen und „in eine Hand“ zu vergeben, hätte wegen ihres grundlegenden Charakters in formeller Hinsicht eines Ratsbeschlusses bedurft. Der Rat wurde mit dieser Entscheidung jedoch, soweit ersichtlich, überhaupt nicht befasst; jedenfalls fehlt es an der erforderlichen (und zudem auf straßenbezogenen Erwägungen beruhenden) Grundsatzentscheidung.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">(bb) Darüber hinaus erfolgt auch aktuell die Sammlung und Verwertung von Alttextilien gerade nicht „in einer Hand“ durch die S.               AöR. Seit dem 1. Juli 2022 hat die S.               AöR mit einem neuen Vertragspartner eine Vereinbarung über die Sammlung und Verwertung der Alttextilien im Stadtgebiet der Beklagten getroffen. Die S.               AöR nimmt die Aufgabe der Sammlung und Verwertung von Alttextilien (rechtlich und tatsächlich) also nicht selbst wahr, sondern hat sie ihrerseits „aus der Hand“ und an einen Dritten weitergegeben.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Diese Vergabe „in eine (weitere) Hand“ kann dem Antrag der Klägerin nach wie vor nicht entgegengehalten werden. Denn sie beruht nicht auf einer Auswahl- und Verteilungsentscheidung der Beklagten als Ergebnis einer entsprechenden Ermessensausübung. Erst recht sind in diese Entscheidung nicht die Belange der Klägerin als Antragstellerin einbezogen worden. Vielmehr beruht die Weitergabe auf einer eigenverantwortlichen Entscheidung der S.               AöR, in die die Beklagte nicht einbezogen worden ist. Im Laufe des Klageverfahrens ist deutlich geworden, dass die Beklagte die Sammlung und Verwertung von Alttextilien gänzlich derart aus ihrer Hand gegeben hat, dass sie keine Kenntnis mehr darüber hat, wie diese tatsächlich erfolgt. Der aktuell beauftragte Dritte, also das (gewerbliche oder gemeinnützige) Unternehmen, das eigenverantwortlich im öffentlichen Straßenraum der Beklagten und unter Ausnutzung der der S.               AöR erteilten Sondernutzungserlaubnis die Sammlung der Alttextilien durchführt, ist der Beklagten nicht bekannt. Selbst dann, wenn die aktuelle Praxis mit Einverständnis der Beklagten erfolgte, kann dies eine fehlerfreie Ausübung des bei der Bescheidung eines Antrags auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis der Erlaubnisbehörde zukommenden Ermessens nicht ersetzen.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 52.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist und bleibt es Aufgabe der Straßenbaubehörde, über einer einen solchen Antrag entsprechend dem Zweck des § 18 Abs. 2 StrWG NRW ermessensfehlerfrei zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 1 und 2, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).</p>
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10 K 1259/19
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-14T10:01:31"
"2022-10-17T11:11:04"
Urteil
ECLI:DE:VGAC:2022:0923.10K1259.19.00
<h2>Tenor</h2> <p>Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat.</p> <p>Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 21. März 2019 verpflichtet, über den Antrag der Klägerin vom 14. März 2019 auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern im öffentlichen Straßenraum der Beklagten mit Ausnahme der Standorte „P1.-----weg “ und „C1.------straße “ unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 1/7 und die Beklagte zu 6/7.</p> <p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist ein Unternehmen, das sich mit der Sammlung und dem Recycling von Altkleidern befasst. Sie begehrt die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern an verschiedenen Standorten im öffentlichen Straßenraum der Beklagten.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Rat der Beklagten beschloss in seiner Sitzung am 20. Juni 2006, die Aufgabe der Abfallbeseitigung ab dem Jahr 2007 dem Entsorgungszweckverband T. .                zu übertragen. Dem Zweckverband gehören neben der Beklagten die Städte und Gemeinden    Ü.,  O.,  Z.,   Q.,   W., C.,   M., Y., G.,   N., A.,  S.,    V., St.   und X. an. Die dem Zweckverband jeweils übertragenen Aufgaben werden von der 2005/2006 gegründeten S1.  AöR wahrgenommen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">In seiner Sitzung am 27. März 2014 fasste der Rat der Beklagten den Beschluss, die Standplätze zur Aufstellung von Sammelbehältern für Alttextilien, Bekleidung und Schuhe auf öffentlichen Verkehrsflächen und städtischen Grundstücken „in eine Hand“ an die S1. AöR zu vergeben, dieser aufgrund eines (noch zu stellenden) Antrags entsprechende Sondernutzungserlaubnisse zu erteilen, den Bürgermeister der Beklagten zur Erteilung der Erlaubnis bzw. zum Abschluss einer Nutzungsvereinbarung zu beauftragen sowie die gemeinnützigen Institutionen „vor Ort“ bei der Umsetzung dieses Konzeptes zu berücksichtigen und zu integrieren. In der zugehörigen, bei Beschlussfassung ausdrücklich in Bezug genommenen Beschlussvorlage heißt es u. a.: Mit dem Ratsbeschluss solle erreicht werden, dass die Ablehnung von Sondernutzungsanträgen für die Aufstellung von Altkleidercontainern anderer Sammler ohne Einzelfallprüfung erfolgen könne. Seit der Neufassung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG) hätten einige Firmen Sammlungen angezeigt; die Verfahren gestalteten sich als umfangreich. Eine gewerbliche Sammlung sei nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, u. a. dürften ihr keine öffentlichen Interessen entgegenstehen. Dies sei der Fall, wenn die Sammlung die Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers gefährde oder diesem Erlöse entzogen würden, die stabilisierend auf die Gebührenkalkulation wirkten. Eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit läge vor, wenn der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger selbst eine hochwertige Erfassung und Verwertung von Altkleidern durchführe. Der Zweckverband F.                 X.    (A.   ) beabsichtige eine Fortschreibung des Abfallwirtschaftskonzeptes mit dem Ziel, die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zu verpflichten, die Altkleider einer getrennten Entsorgung zuzuführen. In diesem Zusammenhang habe die S1.               ein Konzept zum Ausbau eines kommunalen Erfassungssystems erstellt. Hierbei würden insbesondere die Anforderungen des KrWG zum Nachweis einer hochwertigen und haushaltsnahen Erfassung dargelegt; nur solch ein hochwertiges Erfassungskonzept sichere den Ausschluss gewerblicher Sammlungen über das KrWG. Geplant sei die Einführung eines eigenen Rücknahmesystems für Altkleider, zu dem in allen dem Zweckverband angehörigen Kommunen ein dringlicher Grundsatzbeschluss gefasst werden solle.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 3. Juni 2014 beantragte die S1.               AöR die Erlaubnis zur Aufstellung von maximal 45 Altkleidersammelcontainern im Stadtgebiet der Beklagten und erklärte hierzu u. a., die Container würden neben bestehenden Glascontainern gemäß einer vorab mit dem Eigenbetrieb Technische Dienste der Beklagten abgestimmten Liste aufgestellt. Mit dem gemeinnützigen Unternehmen Deutsches Rotes Kreuz (DRK) werde eine Kooperationsvereinbarung abgeschlossen, um dessen bereits bestehende Standplätze in das Konzept zu integrieren. Mit Bescheid vom 18. Juni 2014 erteilte die Beklagte der S1.               AöR antragsgemäß und gebührenfrei eine entsprechende Sondernutzungserlaubnis auf jederzeitigen Widerruf.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Unter dem 14. März 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von 14 Altkleidersammelcontainern an 14 unterschiedlichen Standorten im Stadtgebiet der Beklagten für einen Zeitraum von drei Jahren. Hinsichtlich der einzelnen Standorte erklärte sie, dass es sich um Altglassammelstellen handele und sich erfahrungsgemäß bereits vorhandene Recyclingsammelplätze für die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern anböten.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 21. März 2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie aus, mit der Änderung des KrWG seien die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger verpflichtet, die in ihrem Gebiet anfallenden und ihnen zu überlassenden Abfälle zu verwerten oder zu beseitigen. Eine Pflicht zur Überlassung der Abfälle aus privaten Haushalten bestehe nicht für Abfälle, die durch gewerbliche Sammlung einer ordnungsgemäßen und schadlosen Verwertung zugeführt würden, soweit überwiegende öffentliche Interessen dieser Sammlung nicht entgegenstünden. Dies wäre allerdings dann der Fall, wenn durch die gewerbliche Sammlung die Stabilität der Gebühren gefährdet werde. Aufgrund dieser Rechtsgrundlage habe der Rat der Beklagten in seiner Sitzung am 27. März 2014 beschlossen, die Standplätze zur Aufstellung von Sammelbehältern für Alttextilien, Bekleidung und Schuhe auf öffentlichen Verkehrsflächen und städtischen Grundstücken „in eine Hand“ an die S1.               AöR zu vergeben. Erzielte Erlöse aus den Sammlungen sollten durch die S1.               AöR zur Senkung bzw. Stabilisierung der Abfallgebühren führen. Entsprechende Sondernutzungserlaubnisse seien der S1.               AöR am 18. Juni 2014 erteilt worden.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 23. April 2019, dem auf Ostermontag folgenden Dienstag, Klage erhoben, mit der sie die Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung ihres Antrags begehrt. Nachdem sich ihre Klage zunächst auf alle ursprünglich beantragten 14 Standorte bezogen hat, hat sie die Klage zwischenzeitlich hinsichtlich der Standorte „P.-----weg “ und „C.------straße “ zurückgenommen.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Im Laufe des Klageverfahrens hat der Rat der Beklagten einen weiteren Beschluss betreffend das kommunale Erfassungssystem für Alttextilien und Schuhe („Standortkonzept“) gefasst. In seiner Sitzung am 15. September 2020 entschied er, die Anzahl der Standorte für Altkleidersammelcontainer auf öffentlichen Flächen im Stadtgebiet auf insgesamt 48 Standorte in Form von sogenannten „Wertstoffinseln“ zu beschränken und für weitere Standorte keine straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnisse zu erteilen. In der Beschlussvorlage wird u. a. ausgeführt, nach der obergerichtlichen Rechtsprechung sei das Verwaltungshandeln, Sondernutzungserlaubnisse ausschließlich „in eine Hand“, namentlich der T. .                AöR, zu erteilen, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ermessensfehlerhaft. Nicht beanstandet werden könne aber, wenn dem abfallentsorgungspflichtigen öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger vorrangig öffentliche Flächen zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern bereitgestellt würden. Nach einschlägiger Erfahrung führe die Verschmutzung der Sammelstellen zu erheblichen negativen Auswirkungen auf das Stadtbild. Die Verwaltung halte eine Steuerung der Sammelstandorte durch sie für zielführend „(Stichwort: ‚Übermöblierung‘, Konzept ‚gebündelte Wertstoffinseln‘)“. Im Übrigen müsse das öffentlich-rechtliche Abfallentsorgungssystem jederzeit zur Benutzung durch die Bürgerinnen und Bürger verfügbar und einsatzbereit sein. Aus dem Abfallwirtschaftskonzept des A.   leite sich ein Bedarf von einem Containerstandort je 1.000 Einwohner, für Alsdorf also eine Anzahl von 48 Standorten ab. Diese würden nach verkehrlicher und stadtbildpflegerischer Beurteilung unter Berücksichtigung bereits vorhandener Standorte für Wertstoffe ausgewählt. Oberstes Ziel sei neben der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs und einer guten Erreichbarkeit die Sicherstellung der Sauberkeit der Wertstoffsammelstellen. Die genaue Anzahl der Container am jeweiligen Standort werde abhängig vom vorhandenen Platzangebot sowie der Auslastung bzw. dem Einzugsbereich bewertet. Die festgelegten Standorte sollten einen gepflegten Eindruck vermitteln. Mit der Konzentration auf die vorgegebenen Sammelplätze sei deren Sauberhaltung leichter zu organisieren und zu überwachen. Dem Beschluss ist eine Liste von 48 unterschiedlichen Standorten beigefügt.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Unter dem 12. Mai 2021 erteilte die Beklagte der S1.               AöR eine neue Sondernutzungserlaubnis auf jederzeitigen Widerruf zur Aufstellung von 48 Alttextilien-Sammelcontainern an den vom Rat beschlossenen 48 Standorten und widerrief zugleich die alte Sondernutzungserlaubnis aus Juni 2014.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die S1.               AöR beauftragte hiernach zuletzt bis zum 30. Juni 2022 den gemeinnützigen Förderverein „B. e.V.“ mit der Leerung der Container und dem Transport bis zur Transportbrücke sowie für die Gestellung der Transportbrücken und die Verwertung der Altkleider die Firma U.   GmbH. Mit Wirkung zum 1. Juli 2022 übertrug die S1.               AöR infolge einer öffentlichen Ausschreibung die Sammlung und Verwertung der Altkleider an 39 Standorten mit 46 Containern auf einen neuen Vertragspartner.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung ihrer Klage trägt die Klägerin vor, der Ablehnungsbescheid sei rechtswidrig und verletze sie in ihren Rechten. Er beruhe auf straßenrechtsfremden Erwägungen, namentlich der abfallrechtlichen Rechtslage und abfallrechtlichen Belangen. Der Ablehnungsbescheid leide außerdem an einem Ermessensausfall. Ferner verfolge die Beklagte kein „Alles-aus-einer-Hand-Prinzip“, da ausweislich des Ratsbeschlusses vom 27. März 2014 gemeinnützige Institutionen bei der Umsetzung des Konzeptes zu berücksichtigen und zu integrieren seien. Das vom Rat der Beklagten beschlossene Konzept beruhe auch nicht auf straßenrechtlichen Erwägungen, sondern diene allein dem Anliegen, den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zu schützen. Die 2020 beschlossene Standortliste weise mit acht der von der Klägerin beantragten Standorten Übereinstimmungen auf. Das Konzept sei ferner deshalb rechtswidrig, weil sowohl die Anzahl als auch die Verortung der beschlossenen Containerstandorte ohne jegliche Begründung erfolgt seien.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Während des Klageverfahrens hat die Klägerin für die von ihr noch begehrten zwölf Standorte - „N.-----straße XX“, „H.       -I.         -Platz“, „I1.---weg “, „T.----------straße X“, „X.---ring XX“, „U.       -T1.     -Straße“, „U.       -T1.     -Straße XX“, „U.       -T1.     -Straße X“, „L.------weg X“, „Q.----weg X“, „B.      -C.     -Straße X“ und „E.---straße XX“ - jeweils ein Foto vorgelegt, auf dem sie den für ihre Container jeweils gewünschten Platz bzw. ihre 1. Wahl und ihre 2. Wahl für einen Platz markiert hat.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt nunmehr noch,</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 21. März 2019 zu verpflichten, über ihren Antrag vom 14. März 2019 auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern im öffentlichen Straßenraum der Beklagten mit Ausnahme der Standorte „P.-----weg “ und „C.------straße “ unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt der Verwaltungsakte und trägt ergänzend vor, Sondernutzungserlaubnisse für Altkleidersammelcontainer auf öffentlichen Flächen könnten durch die Behörden auf Grund eines Konzeptes der Entsorgung und Wartung aus einer Hand abgelehnt werden. Der Rat habe am 27. März 2014 einen entsprechenden Beschluss zur Vergabe der Standplätze zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern auf öffentlichen Verkehrsflächen und städtischen Grundstücken „in eine Hand“ an die S1.               AöR gefasst. Diese sei als öffentlich-rechtlicher Entsorgungsträger für die Altkleidersammlung und -verwertung zuständig. Die Sammlung erfolge über in ihrem Eigentum stehende Container, die in ihrem Corporate Design gestaltet seien; hierfür habe die S1.               AöR eine straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis erhalten. Bis 2015 sei die Sammlung und Leerung der Container durch eigene Mitarbeiter der S1.               AöR erfolgt. Aus wirtschaftlichen Gründe seien diese Aufgaben seitdem vertraglich an Dritte vergeben.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">A. Soweit die Klägerin die Klage hinsichtlich der Standorte „P.-----weg “ und „C.------straße “ zurückgenommen hat, ist das Verfahren einzustellen (vgl. § 92 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">B. Die aufrechterhaltene Klage wird unter Berücksichtigung des klägerischen Begehrens (vgl. § 88 VwGO) dahingehend ausgelegt, dass die Klägerin die Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis zukunftsorientiert für einen Zeitraum von drei Jahren begehrt und nicht etwa für den Zeitraum von drei Jahren beginnend mit dem Tag der Antragstellung bei der Beklagten oder lediglich für die Jahre 2019 bis 2021.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Bei der Bestimmung des Rechtsschutzziels sind sämtliche Umstände, insbesondere die Gesamtheit des Vorbringens des Beteiligten, zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl.              BVerwG, Beschluss vom 27. April 2020 - 2 B 48.19 -, juris, Rn. 15, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die für § 88 VwGO entwickelten Grundsätze sind auch auf die Auslegung der Anträge bei der Behörde (vgl. § 22 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen [VwVfG NRW]) anzuwenden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 22. Auflage 2021, § 22 Rn. 57.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat in ihrem Antrag vom 14. März 2019 angegeben, die Altkleidersammelcontainer „für drei Jahre“ aufstellen zu wollen, ohne eine Einschränkung hinsichtlich bestimmter Jahre getroffen zu haben. Die offene Formulierung zeigt, dass es dem Interesse der Klägerin entspricht, generell für einen dreijährigen Zeitraum Altkleidersammelcontainer im Gebiet der Beklagten aufzustellen.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl.              zu entsprechenden Anträgen bereits VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 14 ff., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 15 ff., sowie vom 7. Oktober 2021 - 10 K 1637/20 -, juris, Rn. 26 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das klägerische Begehren zur Aufstellung der Container mit einem bestimmten Jahr endet. In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vielmehr auf Nachfrage ausdrücklich erklärt, dass der Antrag zukunftsoffen für drei Jahre gestellt worden soll.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">C. Die so verstandene Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist zulässig.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Sie ist als Verpflichtungsklage in Form einer Bescheidungsklage gem. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO statthaft. Das Begehren der Klägerin hat sich insbesondere nicht durch Zeitablauf erledigt, denn die Klägerin beansprucht mit ihrem Antrag vom 14. März 2019 - wie ausgeführt - die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern generell für einen Zeitraum von drei Jahren.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Sie ist auch fristgemäß binnen der Monatsfrist gemäß § 74 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 VwGO erhoben worden. Zwar lässt sich weder der Gerichtsakte noch dem Verwaltungsvorgang entnehmen, wann der Bescheid vom 21. März 2019 dem Kläger bekanntgegeben worden ist; jedenfalls aber wurde die Klage mit Eingang bei Gericht am 23. April 2019, dem Dienstag nach Ostern, innerhalb der hier gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) und den §§ 188 Abs. 2, 193 des Bürgerlichen Gesetzesbuches (BGB) frühestens mit Ablauf dieses Tages endenden Frist erhoben.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">II. Die Klage ist auch begründet.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrags vom 14. März 2019 hinsichtlich der dort benannten und noch im Streit befindlichen Standorte. Der Bescheid der Beklagten vom 21. März 2019 ist im noch angefochtenen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einer Verpflichtungsklage ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl.              Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 102.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dies gilt auch hier, denn es liegt kein Fall vor, in dem ausnahmsweise aufgrund des materiellen Rechts ein früherer Zeitpunkt maßgeblich wäre.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen ist § 18 Abs. 1 Satz 2 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (StrWG NRW). Danach bedarf die Benutzung öffentlicher Straßen über den Gemeingebrauch hinaus (Sondernutzung) unbeschadet des § 14a Abs. 1 StrWG NRW der Erlaubnis der Straßenbaubehörde. Die Sondernutzungserlaubnis wird auf Grund einer Ermessensentscheidung erteilt (vgl. § 18 Abs. 2 StrWG NRW).</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">1. Die von der Klägerin beabsichtigte Aufstellung von Altkleidersammelcontainern an Standorten, die - unstreitig - sämtlich im öffentlichen Straßenraum liegen, stellt eine Sondernutzung dar.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl.              hierzu OVG NRW, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 11 A 566/13 -, juris, Rn. 38 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">2. Der von der Klägerin gestellte und im Laufe des Klageverfahrens auf zwölf Standorte beschränkte Antrag auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis ist hinreichend bestimmt und bescheidungsfähig.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Sondernutzungserlaubnis wird nur auf Antrag erteilt (§ 22 Satz 2 Nr. 2 VwVfG NRW). Im Verwaltungsverfahren besteht gemäß § 26 Abs. 2 VwVfG NRW eine Mitwirkungspflicht des Antragstellers.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 47 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Damit die Behörde prüfen kann, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis vorliegen, muss der Antragsteller sie insbesondere über Ort, zeitliche Dauer und Umfang seines Vorhabens in Kenntnis setzen.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 49 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Erforderlich ist, dass der jeweilige Standort für die Altkleidersammelcontainer durch eine konkrete räumliche Eingrenzung dem Antrag zu entnehmen ist. Für eine hinreichende Identifizierung des Standorts ist es vielfach nicht ausreichend, lediglich den Straßennamen mit Hausnummer zu benennen. Vielmehr ist eine Präzisierung etwa durch Lagepläne, Flurkarten oder Lichtbilder mit in Frage kommendem und gekennzeichnetem Standort regelmäßig notwendig.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Beschlüsse vom 15. September 2014 - 11 A 624/14 -, juris, Rn. 6 ff., und vom 27. Januar 2014 - 11 A 1986/13 -, juris, Rn. 9, sowie ferner Urteil vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 - juris, Rn. 51; Bay. VGH, Beschlüsse vom 22. Januar 2018 - 8 ZB 17.1590 -, juris, Rn. 6 f., und vom 1. August 2017 - 8 ZB 17.1015 -, juris, Rn. 7; VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 38 f., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 40 f., sowie vom 7. Oktober 2021 - 10 K 1637/20 -, juris, Rn. 53 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Dieser Pflicht ist die Klägerin hinsichtlich der noch beantragten zwölf Aufstellungsorte nachgekommen. Sie hat die im Verwaltungsverfahren angegebenen Straßennamen und (in acht von zwölf Fällen) Hausnummern im Klageverfahren um Lichtbilder ergänzt, auf welchen sie jeweils die konkrete Aufstellfläche mittels Kreuzmarkierungen gekennzeichnet hat. Für den Fall mehrerer gesetzter Kreuze hat sie durch die Beschriftung „1. Wahl“ und „2. Wahl“ für die Beklagte hinreichend nachvollziehbar gemacht, in welcher Reihenfolge sie die jeweiligen Aufstellflächen begehrt.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">3. Die Ablehnung des Antrags der Klägerin durch Bescheid vom 21. März 2019 ist rechtswidrig, weil sie ermessensfehlerhaft erfolgt ist.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">a. Das der Behörde eingeräumte Ermessen ist entsprechend dem Zweck des § 18 Abs. 2 StrWG NRW unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen, insbesondere des Gebots der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes [GG]), auszuüben (§ 40 VwVfG NRW). Die gerichtliche Kontrolle der Ermessensentscheidung beschränkt sich auf die Einhaltung dieses rechtlichen Rahmens (§ 114 Satz 1 VwGO). Dabei sind im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zulässig nachgeschobene Ermessenserwägungen im Sinne von § 114 Satz 2 VwGO vom Gericht zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Eine ordnungsgemäße Ermessensausübung setzt zunächst voraus, dass der der Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt wird und alle wesentlichen Umstände berücksichtigt werden. Für die Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung genügt es grundsätzlich, wenn bei einer auf mehrere Gründe gestützten Ermessensentscheidung nur einer der herangezogenen Gründe sie trägt, es sei denn, dass nach dem Ermessen der Behörde nur alle Gründe zusammen die Entscheidung rechtfertigen sollen.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 45 ff., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 55 ff., vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 26 ff., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 40 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Entsprechend dem Zweck des § 18 Abs. 2 StrWG NRW hat sich die behördliche Ermessensausübung an Gründen zu orientieren, die einen sachlichen Bezug zur Straße haben. Zu diesen Gründen können insbesondere ein einwandfreier Straßenzustand (Schutz des Straßengrunds und des Zubehörs), die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, der Ausgleich zeitlich und örtlich gegenläufiger Interessen verschiedener Straßenbenutzer und Straßenanlieger (etwa Schutz vor Abgasen, Lärm oder sonstigen Störungen) oder Belange des Straßen- und Stadtbilds, d. h. baugestalterische oder städtebauliche Vorstellungen mit Bezug zur Straße (Vermeidung einer „Übermöblierung“ des öffentlichen Straßenraums, Schutz eines bestimmten Straßen- oder Platzbilds und Ähnliches) zählen.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 48 f., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 58 f., vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 29 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 43 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Ob die Sondernutzung durch einen Altkleidersammelcontainer eines gemeinnützigen oder gewerblichen Aufstellers vorgenommen wird, ist straßenrechtlich ohne Belang. Das Sondernutzungsrecht ist im Grundsatz wirtschafts- und wettbewerbsneutral. Straßenrechtlich zu beanstanden sind etwa rein subjektive oder geschäftsbezogene Merkmale. So fehlt auch dem im Marktrecht entwickelten Grundsatz „bekannt und bewährt“ der straßenrechtliche Bezug. Die Zuverlässigkeit ist grundsätzlich ebenfalls ein subjektives Merkmal, das einen straßenrechtlichen Bezug nicht aufweist.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 50 f., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 60 f., vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 31 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 45 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich ist es nicht ermessensfehlerhaft, Anträge auf Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen mit der Begründung abzulehnen, für die beantragte Fläche sei bereits einem Dritten eine Sondernutzungserlaubnis erteilt worden. Für dieselbe öffentliche Straßenfläche kann nur eine Sondernutzungserlaubnis vergeben werden. Nach § 18 Abs. 2 Satz 1 StrWG NRW darf diese Erlaubnis nur auf Zeit oder Widerruf erteilt werden. Ist der Zeitraum, für den die Sondernutzungserlaubnis an einen Dritten erteilt worden ist, noch nicht abgelaufen, ist es in aller Regel ermessensfehlerfrei, den Antrag mit Blick auf diesen Umstand abzulehnen. Ist für die beantragte Fläche bereits eine unbefristete Erlaubnis erteilt, bedürfte es eines Widerrufs der dem Dritten erteilten Erlaubnis. Ein subjektives Recht darauf, dass die einem Dritten erteilte Sondernutzungserlaubnis widerrufen wird, besteht aber grundsätzlich nicht. Denn § 18 Abs. 1 StrWG NRW vermittelt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung keinen Drittschutz.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 52 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 47 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Da Schutzzweck der Erlaubnis für die Sondernutzung an Straßengelände auch das öffentlich-rechtliche Bedürfnis sein kann, zeitlich und örtlich gegenläufige Interessen verschiedener Straßenbenutzer (Verteilungs- und Ausgleichsfunktion) auszugleichen, kann im Rahmen der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen beim Zusammentreffen solcher gegenläufiger Interessen verschiedener Straßenbenutzer bezogen auf dieselbe Straßenfläche auch ein entsprechender Interessensausgleich erforderlich werden.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 54 f., und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 49 f., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die Kommune darf ihr Ermessen zur Bewirkung einer gleichmäßigen Handhabung durch die Straßenbaubehörde auch generell ausüben, etwa durch den Erlass ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften (Ermessensrichtlinien). Hierdurch bewirkt sie eine Selbstbindung, die im Grundsatz von der gesetzlichen Ermessensermächtigung zugelassen wird. Die durch eine Verwaltungsvorschrift bewirkte Ermessensbindung der Behörde geht aber nicht so weit, dass wesentlichen Besonderheiten des Einzelfalls nicht mehr Rechnung getragen werden könnte. In atypischen Fällen, in denen die generelle Ermessensausübung die individuellen Besonderheiten des konkreten Einzelfalls nicht (hinreichend) berücksichtigt, ist der Behörde ein Abweichen von den ermessenslenkenden Vorschriften möglich.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 56 f., vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 62 f., vom 18. Juni 2020 - 11 A 4178/18 -, juris, Rn. 68 f., und vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 33 f., jeweils m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 19. März 1996 - 1 C 34.93 -, juris, Rn. 22; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 114, Rn. 22 und 74 ff.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">b. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Ablehnungsentscheidung der Beklagten ermessensfehlerhaft. Die Begründung, aufgrund einer Änderung des KrWG habe der Rat im Jahr 2014 beschlossen, die Standplätze „in eine Hand“ an die S1.               AöR zu vergeben, hält einer an den aufgeführten Grundsätzen orientierten Prüfung in Bezug auf den Antrag der Klägerin nicht stand. Weder der Ablehnungsbescheid (aa.) noch der von diesem herangezogene Ratsbeschluss aus dem Jahr 2014 (bb.) vermögen die Ablehnungsentscheidung zu rechtfertigen. Eine Berücksichtigung des Ratsbeschlusses aus dem Jahr 2020 führt zu keinem anderen Ergebnis (cc.). Die Beklagte kann dem Antrag der Klägerin auch nicht erfolgreich eine neue Sondernutzungssituation entgegenhalten (dd.).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">aa. Der Ablehnungsbescheid vom 21. März 2019 beruht nicht auf Erwägungen, die dem Zweck des § 18 Abs. 2 StrWG NRW entsprechend einen sachlichen Bezug zur Straße haben. Stattdessen beruft sich die Beklagte in ihrem Bescheid zur Begründung ihrer Entscheidung ausschließlich auf abfallwirtschaftliche Erwägungen, namentlich eine Änderung des KrWG zum 1. Juni 2015 (gemeint sein dürfte das Jahr 2012), den darauf beruhenden Ratsbeschluss zugunsten der S1.               AöR und die angestrebte Stabilität bzw. Senkung der Abfallgebühren. Straßenbezogene Ermessenserwägungen fehlen völlig. Dies gilt auch für eine Berücksichtigung oder Abwägung der Interessen der Klägerin, die im Rahmen des Ablehnungsbescheids ersichtlich keine Rolle gespielt haben.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">bb. Der bei der Ablehnungsentscheidung in Bezug genommene Ratsbeschluss vom 27. März 2014 vermag diese auch nicht als generelle Ermessensentscheidung zu rechtfertigen. Die Beklagte kann sich nicht erfolgreich auf eine Vergabe der Standplätze „in eine Hand“ berufen.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">(1) Zwar erfüllt der Beschluss formell die Anforderungen an eine vorweggenommene generelle Ermessensentscheidung.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Denn die Entscheidung über die Ausübung generellen Ermessens bedarf in der Regel eines vorherigen Ratsbeschlusses. Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW) ist der Rat der Gemeinde für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zuständig, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. Abgesehen von den in § 41 Abs. 1 Satz 2 GO NRW enumerativ aufgezählten Fällen kann der Rat die Entscheidung über bestimmte Angelegenheiten auf Ausschüsse oder den Bürgermeister übertragen (§ 41 Abs. 2 Satz 1 GO NRW). Geschäfte der laufenden Verwaltung gelten im Namen des Rats als auf den Bürgermeister übertragen, soweit nicht der Rat sich, einer Bezirksvertretung oder einem Ausschuss für einen bestimmten Kreis von Geschäften oder für einen Einzelfall die Entscheidung vorbehält (§ 41 Abs. 3 GO NRW). Bei den „Geschäften der laufenden Verwaltung“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt. Nach gefestigter Rechtsprechung fallen die nach Regelmäßigkeit und Häufigkeit üblichen Geschäfte darunter, deren Erledigung nach feststehenden Grundsätzen „auf eingefahrenen Gleisen“ erfolgt und die für die Gemeinde unter Berücksichtigung ihrer Größe und Finanzkraft weder wirtschaftlich noch grundsätzlich von wesentlicher Bedeutung sind.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon zählt zwar u. a. die Entscheidung über die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen regelmäßig zu den Geschäften der laufenden Verwaltung. Der Erlass allgemeiner Richtlinien oder Anweisungen, die die Ermessenspraxis einer Gemeinde bei der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen im öffentlichen Straßenraum bestimmen sollen, gehört jedoch regelmäßig nicht mehr zu den Geschäften der laufenden Verwaltung. Eine solche Entscheidung ist vielmehr wegen des grundlegenden Charakters, den eine generelle Ermessensausübung mit Blick auf künftige Entscheidungen über entsprechende Erlaubnisanträge in sich trägt, dem Gemeinderat vorbehalten, wenn nicht die zu regelnde Angelegenheit für die Gemeinde ausnahmsweise von untergeordneter Bedeutung ist.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 28. Mai 2021 - 11 A 390/19 -, juris, Rn. 80 ff., und vom 13. Mai 2019 - 11 A 2057/17 -, juris, Rn. 41 ff., jeweils m. w. N.; VG Aachen, Urteile vom 21. Juni 2021 - 10 K 1524/19 -, juris, Rn. 63 ff., und - 10 K 292/20 -, juris, Rn. 59 ff., sowie vom 7. Oktober 2021 - 10 K 1637/20 -, juris, Rn. 71 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung, eine bestimmte Art der Sondernutzung - die Aufstellung von Altkleidersammelcontainern - im Stadtgebiet generell stark einzuschränken, indem festgelegt wird, die Erlaubnis künftig ausschließlich einer bestimmten Erlaubnisnehmerin - hier der S1.               AöR - zu erteilen, stellt eine grundlegende Vorentscheidung für alle zukünftigen Anträge auf Genehmigung einer solchen Sondernutzung dar.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">(2) Allerdings steht der Grundsatzbeschluss vom 27. März 2014 materiell-rechtlich nicht in Einklang mit § 18 Abs. 2 StrWG NRW.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Ob eine Kommune, die als öffentlich-rechtliche Entsorgungsträgerin gemäß § 5 Abs. 1 oder Abs. 6 Satz 1 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (LKrWG) i. V. m. § 17 Abs. 1 KrWG die Aufgabe der Sammlung von Alttextilien durch im öffentlichen Straßenraum aufgestellte Container selbst oder ausschließlich durch einen Eigenbetrieb, ein eigenbetriebsähnliches gemeindliches Unternehmen oder ein Kommunalunternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit wahrnimmt, die Aufstellung weiterer Container gemeinnütziger oder gewerblicher Sammler unter Berufung auf die Ausschließlichkeit der Entsorgung durch den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger ablehnen kann, kann hier offen bleiben. Denn aufgrund des Ratsbeschlusses vom 27. März 2014 soll die Entsorgung nicht ausschließlich durch den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger bzw. ein Kommunalunternehmen (die S1.               AöR), sondern unter Berücksichtigung gemeinnütziger Unternehmen erfolgen (a). Dies führt zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung gewerblicher Sammler wie der Klägerin und einem die Rechtswidrigkeit der Ablehnungsentscheidung begründenden Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (b).</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">(a) Der Ratsbeschluss beschränkt sich entgegen der darin unter Ziffer 1 getroffenen Entscheidung nicht darauf, die Standplätze zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern „in eine Hand“ an die S1.               AöR zu vergeben. Denn unter Ziffer 3 hat der Rat am 27. März 2014 zugleich beschlossen, dass bei der Konzeptumsetzung die örtlichen gemeinnützigen Institutionen zu berücksichtigen und zu integrieren sind. Diese Entscheidung schließt Dritte im Ergebnis gerade nicht von der Vergabe öffentlicher Standplätze aus, sondern macht im Gegenteil die Einbeziehung gemeinnütziger Unternehmen zum notwendigen Bestandteil des Erfassungskonzepts. Es handelt sich damit nicht um eine Vergabe der Standplätze zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern „in eine Hand“, sondern in (mindestens) zwei verschiedene Hände. Mit dieser Grundsatzentscheidung hat der Rat der Beklagten sein Ermessen dahingehend ausgeübt, die örtlichen gemeinnützigen Institutionen generell miteinzubeziehen und damit zugleich gegenüber anderen (gewerblichen) Sammlern zu bevorzugen. Dementsprechend kündigte die S1.               AöR in ihrem an die Beklagte gerichteten Antrag vom 3. Juni 2014 auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis eine vertragliche Kooperation mit dem DRK an, die dessen bereits bestehende Standplätze für Altkleidersammelcontainer betreffen sollte.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">(b) Diese generelle Ermessensausübung führt zu einer strukturellen Ungleichbehandlung gewerblicher Sammler, die vorliegend gemessen am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG bereits mangels jeglicher Ermessenserwägungen sachlich nicht gerechtfertigt ist und die Rechte der Klägerin verletzt.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Bindet der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger - wie hier - gemeinnützige Organisationen in seine Aufgabenwahrnehmung ein, muss dies bei der Ermessensentscheidung berücksichtigt und die hierin liegende Ungleichbehandlung anderer - insbesondere gewerblicher - Sammler mit straßenbezogenen Erwägungen sachlich gerechtfertigt werden.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 48, und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 70.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">An einer sachlichen Rechtfertigung für die im Grundsatzbeschluss des Rates vorgesehene Einbindung der gemeinnützigen Organisationen - bei gleichzeitigem Ausschluss gewerblicher Aufsteller - fehlt es hier. Weder dem Ratsbeschluss noch der zugehörigen Beschlussvorlage lassen sich straßenbezogene Erwägungen entnehmen, die zu dieser Entscheidung geführt haben. Eine Begründung hierfür fehlt vielmehr ganz.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Der Status als gemeinnützige Organisation allein erlaubt nicht deren Besserstellung bei der Vergabe von Standplätzen für Altkleidersammelcontainer. Denn ob die Sondernutzung durch einen Altkleidersammelcontainer eines gemeinnützigen oder gewerblichen Aufstellers erfolgt, ist straßenrechtlich ohne Belang, weil das Sondernutzungsrecht - wie dargelegt - im Grundsatz wirtschafts- und wettbewerbsneutral ist.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteile vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 49, und vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 69.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">cc. Auch eine Berücksichtigung des Ratsbeschlusses vom 15. September 2020 vermag an dem vorstehenden Ergebnis nichts zu ändern.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung (erstmals) ausdrücklich erklärt, dass ihre Ablehnungsentscheidung nunmehr auch auf das neue Standortkonzept gestützt werden soll. Dabei kann dahin stehen, ob die Beklagte ihre Ermessenserwägungen im Klageverfahren in zulässiger Weise gemäß § 114 Satz 2 VwGO nachbessern durfte. Denn jedenfalls hält die streitgegenständliche Ablehnungsentscheidung auch unter Berücksichtigung des Ratsbeschlusses aus 2020 einer gerichtlichen Prüfung nicht stand.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">(1) Mit der Grundsatzentscheidung vom 15. September 2020 hat der Rat beschlossen, die Anzahl der Standorte für Altkleidersammelcontainer auf 48 dem Beschluss in einer Liste beigefügten Standorte zu beschränken. Die genaue Anzahl der Container am jeweiligen Standort ist nicht Gegenstand des Beschlusses; diese sollte vielmehr ausweislich der Beschlussvorlage jeweils abhängig von vorhandenem Platzangebot, Auslastung und Einzugsbereich noch (nachträglich) festgelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">(2) Dieser Ratsbeschluss trägt die alle beantragten Standorte umfassende Ablehnungsentscheidung bereits deswegen nicht, weil acht der vom Rat beschlossenen Standorte, namentlich die Standorte „B.      -C.     -Straße/Ecke T2.            Weg“, „E.---straße (Schulgelände)“, „H.       -I.         -Platz“, „L.------weg “, „U.       -T1.     -Straße/B1.----weg “, „U.       -T1.     -Straße (Kirche)“, „U.       -T1.     -Straße (Weiher)“ und „X.---ring “, (teilweise) Übereinstimmungen mit acht von der Klägerin beantragten Standorten aufweisen, namentlich den Standorten „B.      -C.     -Straße 30“, „E.---straße XX“, „H.       -I.         -Platz“, „L.------weg X“, „U.       -T1.     -Straße“, „U.       -T1.     -Straße XX“, „U.       -T1.     -Straße XX“, und -„X.---ring  XX“. Da eine Obergrenze der Anzahl von Containern am jeweiligen Standort gerade nicht Gegenstand der Entscheidung des Rates war, ist dieser Entscheidung eine Aussage dazu, ob die Klägerin ihre Container an diesen Standorten neben bereits vorhandenen Containern aufstellen darf oder nicht, nicht zu entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">(3) Ferner erweist sich der Ratsbeschluss vom 15. September 2020 im Ganzen - und damit auch bezogen auf die übrigen von der Klägerin beantragten Standorte - als ermessensfehlerhaft.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">(a) Der neue Ratsbeschluss vermag die Fehlerhaftigkeit des ersten Ratsbeschlusses aus dem Jahr 2014 nicht zu beheben.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Ziel des neuen Grundsatzbeschlusses war es ausgehend von der Beschlussvorlage, den Beschluss aus 2014 angesichts aktueller Rechtsprechung „insoweit zu aktualisieren, als ein (…) optimiertes Konzept mit einer Obergrenze für die Anzahl der Standorte für Altkleidercontainer eingeführt werden“ sollte. Es sollte lediglich - vor dem Hintergrund zwischenzeitlich ergangener Rechtsprechung - über die Begrenzung der Anzahl der Standorte die bestehende Vergabe an die S1.               AöR abgesichert werden. Eine (erneute) Entscheidung über diese Vergabe, etwa unter Hinzuziehung straßenrechtlicher Belange, ist nicht Gegenstand des Ratsbeschlusses. Der Beschluss vom 27. März 2014 wurde mit dem neuen Beschluss also nicht etwa aufgehoben. Die Ratsentscheidung vom 27. März 2014 bleibt vielmehr weiterhin Beschlusslage, die durch die Entscheidung vom 15. September 2020 - lediglich - eine Aktualisierung erhalten hat. Dabei bleibt es aber bei den zuvor beschriebenen hiergegen bestehenden rechtlichen Bedenken. Insbesondere bleibt es bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei der Beschlusslage, dass die Standplätze zur Aufstellung von Altkleidersammelcontainern an die S1.               AöR vergeben und hierbei die örtlichen gemeinnützigen Institutionen integriert werden sollen.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn die tatsächliche aktuelle Praxis von diesem Grundsatzbeschluss abweichen sollte, führt dies nicht dazu, dass dieser zwischenzeitlich unwirksam geworden ist. Solange der Rat ihn nicht aufgehoben oder durch eine generalisierende Ermessensausübung anderen Inhalts ersetzt hat, ermöglicht der Grundsatzbeschluss weiterhin eine sachlich nicht gerechtfertigte und damit willkürliche Ungleichbehandlung gewerblicher Sammler. Er bleibt daher untaugliche Grundlage für die Ablehnung des Antrags eines gewerblichen Sammlers auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Vgl.              hierzu OVG NRW, Urteil vom 28. März 2019 - 11 A 1166/16 -, juris, Rn. 72.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">(b) Das Standortkonzept beruht zudem nicht auf straßenbezogenen Erwägungen.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich nichts zu erinnern ist dagegen, wenn ein Standortkonzept aufgrund straßenbezogener Kriterien zur Vermeidung der „Verschandelung“ des Orts- und Stadtbildes mit Begrenzung der absolut zulässigen Anzahl von Standorten für Altkleidersammelcontainer im öffentlichen Straßenraum zugleich eine entsprechende Einschränkung für Sondernutzungserlaubnisse vornimmt. Dies gilt auch dann, wenn eine auf - für sich genommen nicht zu beanstandenden - straßenrechtlichen Erwägungen beruhende Festlegung von Standorten für Altkleidersammelcontainer in einem Standort- bzw. Sondernutzungskonzept nur solche Standorte umfasst, für die zu diesem Zeitpunkt bereits eine entsprechende Sondernutzungserlaubnis erteilt worden ist. Ausgehend von der Wettbewerbsneutralität des Straßenrechts ist es nicht erforderlich, dass ein Sondernutzungskonzept freie Standorte vorhält, um einen Marktzugang für „neue“ Antragsteller zu ermöglichen.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris, Rn. 59 und 61.</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Wird ein Antrag auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis aufgrund eines solchen Standort- bzw. Sondernutzungskonzeptes abgelehnt, müssen diesem Konzept jedoch nachvollziehbar straßenbezogene Ermessenserwägungen zugrunde liegen.</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Dies ist vorliegend nicht der Fall.</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Zwar zieht der Grundsatzbeschluss vom 15. September 2020 in seinem Beschlusstenor ausdrücklich straßenrechtliche Belange heran, namentlich die Vermeidung einer zu großen Anzahl von Containern auf öffentlichen Flächen, verbunden mit einer Übermöblierung des öffentlichen Verkehrsraums, der negativen Beeinflussung des Orts- und Stadtbildes sowie Risiken für die Sicherheit und Leichtigkeit der Verkehrsteilnehmer. Die Nennung dieser Belange vermag hier jedoch nicht darüber hinwegzuhelfen, dass die Beklagte jedenfalls im Hinblick auf die konkrete Anzahl und Auswahl der Standorte keine straßenbezogenen Erwägungen angestellt hat. Belange des Straßen- und Stadtbildes, also baugestalterische oder städtebauliche Vorstellungen mit Bezug zur Straße, die für die Auswahl der festgelegten 48 Standorte sprechen, sind nicht erkennbar. Zwar heißt es in der Beschlussvorlage, die Standorte „werden“ nach entsprechender verkehrlicher und stadtbildpflegerischer Beurteilung sowie Erfahrungswerten unter Berücksichtigung bereits vorhandener Standorte für Wertstoffe ausgewählt. Welche Kriterien hierfür über die Bezugnahme auf offenbar bereits vorhandene Standorte hinaus angesetzt wurden - die Standorte standen entgegen der zukunftsoffenen Formulierung in der Beschlussvorlage zum Entscheidungszeitpunkt ausweislich der vorgelegten Liste bereits fest -, bleibt offen. Sofern der Beschlussvorlage die Intention zu entnehmen ist, mit der vorgesehenen Bündelung sollten „Wertstoffinseln“ geschaffen werden, genügt dies nicht. Denn für die Bestimmung der Standorte hat sich die Beklagte nicht etwa aus straßenbezogenen Erwägungen an bestehenden Altglassammelstellen orientiert, von denen es ausweislich des Internetauftritts der Beklagten in ihrem Stadtgebiet derzeit 60 Standorte gibt,</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">vgl.              http://B1.de/web/cms/front_content.php?idcat=871 (letzter Abruf: 23. September 2022),</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">sondern ausdrücklich das Abfallwirtschaftskonzept des A.   und damit erneut einen dem wettbewerbs- und wirtschaftsneutralen Sondernutzungsrecht fremden Anknüpfungspunkt herangezogen.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Mangels straßenrechtlicher Erwägungen nicht nachvollziehbar ist auch, inwieweit die Festlegung dieser 48 Standorte zur Vermeidung einer in der Beschlussvorlage stichwortartig herangezogenen negativen Beeinflussung des Orts- und Stadtbildes oder einer Übermöblierung beitragen soll. Dies gilt umso mehr, als dass immerhin 24 der vom Rat beschlossenen Standorte lediglich Straßennamen benennen, die einen Rückschluss auf einen konkreten - unter straßenbezogenen Gesichtspunkten ausgewählten - Standplatz nicht zulassen. Zwar erscheint es aus Sicht der Kammer nicht ausgeschlossen, dass straßenrechtliche Erwägungen gerade bei dem Schutz vor „Vermüllung“ (als Störung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs) im Ergebnis mit Belangen der Abfallwirtschaft kongruente Ziele aufweisen; im vorliegenden Fall hat die Beklagte solche Erwägungen aber offenbar nicht angestellt.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">dd. Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, die Sammlung und Verwertung von Alttextilien „in eine Hand“ vergeben zu haben.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Sammlung und Verwertung bereits bis Ende Juni 2022 nach eigenem Vortrag der Beklagten aus wirtschaftlichen Gründen nicht allein in der Hand der S1.               AöR gelegen hatte, sondern diese den gemeinnützigen Förderverein „B. e.V.“ sowie - über die allein gemeinnützige Institutionen bevorzugende Beschlusslage hinaus - mit der G.   GmbH ein gewerbliches Unternehmen zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung dieser Aufgaben beauftragt hatte, hat die S1.               AöR nunmehr zum 1. Juli 2022 mit einem neuen Vertragspartner eine Vereinbarung über die Sammlung und Verwertung der Alttextilien im Stadtgebiet der Beklagten getroffen. Die S1.               AöR nimmt die Aufgabe der Sammlung und Verwertung von Alttextilien (rechtlich und tatsächlich) also (weiterhin) nicht selbst wahr, sondern hat sie ihrerseits „aus der Hand“ und an einen Dritten weitergegeben.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Diese Vergabe „in eine (weitere) Hand“ kann dem Antrag der Klägerin nach wie vor nicht entgegengehalten werden. Denn sie beruht nicht auf einer Auswahl- und Verteilungsentscheidung der Beklagten als Ergebnis einer entsprechenden Ermessensausübung. Erst recht sind in diese Entscheidung nicht die Belange der Klägerin als Antragstellerin einbezogen worden. Vielmehr beruht die Weitergabe auf einer eigenverantwortlichen Entscheidung der S1.               AöR, in die die Beklagte nicht einbezogen worden ist. Im Laufe des Klageverfahrens ist deutlich geworden, dass die Beklagte die Sammlung und Verwertung von Alttextilien gänzlich derart aus ihrer Hand gegeben hat, dass sie keine Kenntnis mehr darüber hat, wie diese tatsächlich erfolgt. Dementsprechend hat die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie die nunmehr von der S1.               AöR gewählte Konstruktion nicht kenne. Der aktuell beauftragte Dritte, also das (gewerbliche oder gemeinnützige) Unternehmen, das eigenverantwortlich im öffentlichen Straßenraum der Beklagten und unter Ausnutzung der der S1.               AöR erteilten Sondernutzungserlaubnis die Sammlung der Alttextilien durchführt, ist der Beklagten nicht bekannt. Selbst dann, wenn die aktuelle Praxis mit Einverständnis der Beklagten erfolgte, kann dies eine fehlerfreie Ausübung des bei der Bescheidung eines Antrags auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis der Erlaubnisbehörde zukommenden Ermessens nicht ersetzen.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Vgl.              OVG NRW, Urteil vom 13. Mai 2019 - 11 A 2627/18 -, juris, Rn. 52.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist und bleibt es Aufgabe der Straßenbaubehörde, über einen solchen Antrag entsprechend dem Zweck des § 18 Abs. 2 StrWG NRW ermessensfehlerfrei zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass die Beklagte die (rechtliche und tatsächliche) Situation an den neun Standorten, die - ausgehend von der 48 Standorte umfassenden Standortliste des Rates - von der seitens der S1.               AöR initiierten Ausschreibung für 39 Standorte mit 46 Altkleidersammelcontainern nicht umfasst sind, im Rahmen ihrer künftigen Ermessensausübung wird aufklären müssen.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">D. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Kammer berücksichtigt dabei, dass die Klägerin im Umfang von 1/7 - hinsichtlich zwei von 14 Standorten - die Klage zurückgenommen hat und die Beklagte hinsichtlich der aufrechterhaltenen Klage unterliegt.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 1 und 2, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).</p>
346,901
vg-gelsenkirchen-2022-09-23-19-k-31722
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19 K 317/22
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:13"
"2022-10-17T11:11:01"
Urteil
ECLI:DE:VGGE:2022:0923.19K317.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Schlussbescheid des Beklagten vom 18. Dezember 2021 wird aufgehoben.</p> <p>Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p> <p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin betreibt eine Rechtsanwaltskanzlei in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Mit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie und der anlässlich dessen auch in Nordrhein-Westfalen erlassenen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Ansteckungsgeschehens (sogenannter „Harter Lockdown“) wurden die Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Betätigung und Umsatzerzielung erheblicher Teile der Bevölkerung, namentlich im Dienstleistungssektor, in massiver Weise eingeschränkt. Hiervon war auch die Klägerin betroffen.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Zur Milderung der hiermit einhergehenden wirtschaftlichen Notlage der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer legte der Bund das Hilfsprogramm „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ auf. Hierzu veröffentlichte das damalige Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zusammen mit dem Bundesministerium für Finanzen unter dem 23. März 2020 ein Eckpunktepapier und nachfolgend ein Kurzfaktenpapier vom 30. März 2020.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Auf Grundlage einer entsprechenden Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Bund und dem beklagten Land übernahm Letzteres die eigenverantwortliche Organisation, Bewilligung und Auszahlung der Soforthilfen. Dabei entschied sich das beklagte Land dazu, die Bundesmaßnahme für gewerbliche Kleinunternehmen vollständig an die Zielgruppe (Unternehmen mit bis zu 10 Beschäftigen) weiterzureichen und zugleich auf gewerbliche Kleinunternehmen bis einschließlich 50 Beschäftigte im Rahmen eines eigenen Soforthilfeprogramms auszuweiten. Beide Maßnahmen wurden in der „NRW-Soforthilfe 2020“ gebündelt. Die federführende Verantwortung für die Organisation und Ausgestaltung des Programms lag beim damaligen Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (nachfolgend: Landeswirtschaftsministerium). Eine Beantragung der NRW-Soforthilfen konnte im Zeitraum zwischen dem 27. März 2020 und dem 31. Mai 2020 erfolgen. Hierzu war auf der Internet-Seite des Landeswirtschaftsministeriums,</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">https://www.wirtschaft.nrw/nrw-soforthilfe-2020,</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">ein Antragsformular</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">„Antrag auf Gewährung einer Soforthilfe für von der Corona-Krise 03/2020 besonders geschädigte Unternehmen und Angehörige Freier Berufe einschließlich Soloselbstständige aus dem Soforthilfeprogramm des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen sowie dem Bundesprogramm „Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">abrufbar. Im Rahmen dieses Internetauftritts waren sogenannte „FAQ“ (Frequently Asked Questions) in mindestens 13 nachfolgend veröffentlichen Versionen bereitgestellt, deren Inhalt während des laufenden Bewilligungsverfahrens kontinuierlich verändert bzw. ergänzt wurde.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Auszugsweise befanden sich in den „FAQ“ u.a. folgende Aussagen (Anmerkung der Kammer: Soweit nicht gesondert darauf hingewiesen, befanden sich die Aussagen (annährend) inhaltsgleich jeweils auch in nachfolgenden FAQ-Versionen; Hervorhebungen erfolgten jeweils im Original)</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Version vom 25.03.2020</span></p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>„Wird geprüft, ob dem Antragsteller die Hilfe auch wirklich zugestanden hat und wenn nein, muss die Hilfe dann ggfls. zurückgezahlt werden?</strong></p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller versichert in dem Formular, dass er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen und wahrheitsgetreu gemacht hat. Falsche Angaben, die zu einer unberechtigten Inanspruchnahme der Leistungen führen, sind Subventionsbetrug. Die Leistung muss dann nicht nur zurückgeführt werden, es kann dann zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommen. Der Antragsteller ist gehalten, den Zuschuss in seiner Steuererklärung für 2020 aufzunehmen. Da dem Antrag die Steuernummer bzw. die Steuer-ID beizufügen ist, hat das Finanzamt die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu überprüfen.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Zuschuss wird als sogenannte Billigkeitsleistung ausgezahlt. Auch im Falle einer Überkompensation (z.B. durch Versicherungsleistungen oder andere Fördermaßnahnahmen) muss die erhaltene Soforthilfe zurückgezahlt werden.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">[…]</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>Muss nachgewiesen werden, wofür der Zuschuss eingesetzt wird?</strong></p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Nein, ein solcher Nachweis muss nicht erbracht werden.“</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Version vom 26.03.2020</span></p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>„Was wird gefördert?</strong></p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Unternehmen sollen bei Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz und Überbrückung von akuten Finanzierungsengpässen, u.a. für laufende Betriebskosten wie Mieten, Kredite für Betriebsräume, Leasingraten u.a. sowie dem Erhalt von Arbeitsplätzen durch einen Zuschuss unterstützt werden (Zur Reduzierung von Personalkosten gibt es das Kurzarbeitergeld.)</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Voraussetzung</span> erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten in Folge von Corona. Dies wird angenommen, wenn</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 1. März durch die Corona-Krise weggefallen sind</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong></p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">- sich für den Monat, in dem der Antrag gestellt wird, ein Umsatz- bzw. Honorarrückgang von mindestens 50 Prozent verglichen mit dem durchschnittlichen monatlichen Umsatz (bezogen auf den aktuellen und die zwei vorangegangenen Monate) im Vorjahr ergibt. Rechenbeispiel: Durchschnittlicher Umsatz Januar bis März 2019 10.000 Euro, aktueller Umsatz März 2020 5.000 Euro. Kann der Referenzmonat nicht herangezogen werden (z.B. bei Gründungen) gilt der Vergleich mit dem Vormonat)</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong></p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">- der Umsatz durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt wurde</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong></p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Unternehmens (bspw. Mieten, Kredite für Betriebsräume, Leasingraten) zu zahlen (=Finanzierungsengpass)</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller muss versichern, dass der Finanzierungsengpass nicht bereits vor dem 1. März bestanden hat. Der Antragsteller muss zusätzlich erklären, dass sich das Unternehmen zum Stichtag 31. Dezember 2019 nicht um ein „Unternehmen in Schwierigkeiten“ handelte.“</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">(Anmerkung: in etwas anderer Form bereits in der Version vom 25.03. enthalten; ab der Version vom 28.03. hinsichtlich der zweiten und dritten Variante wiederum mit geänderten Wortlaut, insbesondere geänderter Vergleichsgröße hinsichtlich des Umsatzrückgangs)</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">„<strong>Wie ist eine Überkompensation definiert?</strong></p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält, als erforderlich wäre, um den Finanzierungsengpass zu beseitigen.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">[…]</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><strong>Wird immer der Maximalbetrag ausgezahlt?</strong></p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Ja. Die Zuschüsse sind nach Mitarbeiterzahl gestaffelt. Innerhalb der entsprechenden Staffelung erhalten Sie den vollen Betrag. Bis zu 5 Mitarbeiter 9.000 Euro, bei bis zu 10 Mitarbeitern 15.000 Euro und bei bis zu 50 Mitarbeitern 25.000 Euro. Bei Überkompensation können Beträge zurückgefordert werden.“</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Version vom 27.03.2020</span></p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">„<strong>Wie ist eine Überkompensation definiert?</strong></p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält, als sein tatsächlich eingetretener Schaden - also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) ist. Überkompensation ist nach der dreimonatigen Förderphase zurückzuerstatten.“</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Version vom 29.03.2020</span></p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">„<strong>Wofür darf der Zuschuss genutzt werden?</strong></p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Zuschuss kann genutzt werden, um finanzielle Engpässe, wie z.B. Bankkredite, Leasingraten, Mieten usw. zu bedienen. […].</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>Soloselbständige im Haupterwerb</strong> beziehen ihren Lebensunterhalt aus ihrer selbstständigen Tätigkeit und müssen daher auch ihr eigenes Gehalt erwirtschaften, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sofern der Finanzierungsengpass beim Soloselbstständigen <span style="text-decoration:underline">im Haupterwerb</span> dazu führt, dass er sein regelmäßiges Gehalt nicht mehr erwirtschaften kann, dient die Soforthilfe auch dazu, das eigene Gehalt und damit den Lebensunterhalt zu finanzieren.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">(Anmerkung: letzter Absatz war nur in den Versionen vom 29.03. und vom 31.03. enthalten.)</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Bewilligung und Auszahlung der Hilfeleistungen erfolgte anschließend durch die örtlich zuständigen Bezirksregierungen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Am     00.00.0000 beantragte die Klägerin unter Verwendung des genannten Antragsformulars die Bewilligung einer Soforthilfe in Höhe von 9.000,- €. In dem Antragsformular heißt es unter</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">„5. Art und Umfang der Förderung:</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Soforthilfe wird als Billigkeitsleistung auf der Grundlage der Regelung zur vorübergehenden Gewährung geringfügiger Beihilfen im Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Ausbruch von COVID-19 („Bundesregelung Kleinbeihilfen 2020“) zur Überwindung der existenzbedrohlichen Wirtschaftslage bzw. des Liquiditätsengpasses gewährt.“</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">In dem Formular gab die Klägerin zudem u.a. folgende vorgegebene Erklärungen ab:</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">„6.1</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Ich versichere, dass meine wirtschaftliche Tätigkeit durch die COVID-19-Pandemie wesentlich beeinträchtigt ist, da entweder</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 1. März 2020 durch die COVID-19-Pandemie weggefallen sind oder</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">- die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind (Gründungen: Vormonat) oder</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">- die Umsatzerzielungsmöglichkeiten durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt wurden oder</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen (z.B. Mieten, Kredite für Betriebsräume, Leasingraten)</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">[…]</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">6.2</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Ich versichere, dass die in Nr. 1.1. benannten Antragsvoraussetzungen sämtlich vorliegen und ein Liquiditätsengpass nicht bereits vor dem 1. März bestanden hat.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">[…]</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">6.11</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Mir ist bekannt, dass ich den Zuschuss als Billigkeitsleistung erhalte und im Falle einer Überkompensation (Entschädigungs-, Versicherungsleistungen, andere Fördermaßnahmen) die erhaltene Soforthilfe zurückzahlen muss“.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Nachfolgend bewilligte die Bezirksregierung Arnsberg der Klägerin mit Bescheid vom selben Tag die Gewährung einer Soforthilfe in beantragter Höhe. Der Betrag wurde dem Kläger am 1. April 2020 ausgezahlt. In dem Bescheid hieß es auszugsweise:</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">„1. Bewilligung</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Auf Ihren o. g. Antrag bewillige ich gemäß § 53 LHO i. V. m. dem Pro-gramm zur</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Gewährung von Soforthilfen aus dem Bundesprogramm „Corona-Soforthilfen für</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Kleinstunternehmen und Selbständige" und dem ergänzenden Landesprogramm „NRW-Soforthilfe 2020" eine Soforthilfe i. H. v.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">9000,00 €</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">(in Worten: neuntausend Euro)</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">als einmalige Pauschale.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">[…]. Bei der Soforthilfe handelt es sich um eine Kleinbeihilfe gemäß der Regelung zur vorübergehenden Gewährung geringfügiger Beihilfen im Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Ausbruch von COVID-19 („Bundesregelung Kleinbeihilfen 2020").</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks"><strong>2. Aufrechnungsverbot</strong></p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Für die bewilligte Soforthilfe gilt ein direktes Verrechnungs- beziehungsweise</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Aufrechnungsverbot mit bereits bestehende Kreditlinien beim jeweiligen Kreditinstitut. Bei Überweisung der Soforthilfe darf es nicht zu einer zwangsläufigen Bedienung bereits bestehender Kontokorrentforderungen oder sonstiger Zins- und Tilgungsforderungen kommen. Die bewilligte Soforthilfe muss vollumfänglich zur Kompensation der unmittelbar durch die Corona-Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Engpässe genutzt werden. Ihnen als Empfänger/-in obliegt die Entscheidung, welche Forderungen mit höchster Relevanz für die Existenzsicherung ausgestattet sind (bspw. Mietforderungen, Lieferantenforderungen) und daher vorrangig durch den Zuschuss bedient werden sollen. […]</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks"><strong>II. Nebenbestimmungen</strong></p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Soforthilfe wird unter folgenden Nebenbestimmungen gewährt:</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">1. […]</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">2. Grundlage und Bestandteil des Bescheides ist Ihr Antrag vom 00.00.00.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">3. Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen,</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig)</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">das Konto der Landeskasse […] unter Angabe des</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Aktenzeichens zurückzuzahlen.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">[…].</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">4. Die Finanzhilfe ist zurückzuerstatten, wenn der Bescheid aufgrund falscher oder unvollständiger Angaben erteilt wurde oder Entschädigungsleistungen, Versicherungsleistungen und/oder andere Fördermaßnahmen einzeln und/oder zusammen zu einer Überkompensation führen. Darlehen sind von einer Anrechnung ausgenommen.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">In diesem Fall ist die gewährte Soforthilfe vom Eintritt der Überkompensation</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">an mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinsatz nach § 247 BGB jährlich</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">nach Maßgabe des § 49a Abs. 3 VwVfG NRW zu verzinsen.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">5. Ich behalte mir im Einzelfall eine Prüfung der Verwendung der Soforthilfe vor.</p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">In diesem Fall ist die Bewilligungsbehörde berech-igt, Bücher, Belege und sonstige Geschäftsunterlagen anzufordern sowie die Verwendung der Soforthilfe durch örtlich Erhebungen zu prüfen oder durch Beauftragte prüfen zu lassen. Sie haben die erforderlichen Unterlagen bereitzuhalten und die notwendigen Auskünfte zu erteilen. Die Bewilligungsbehörde, Ihr zuständiges Finanzamt, der Landesrechnungshof NRW sowie die nachgeordneten Behörden (vgl. § 91 LHO), der Bundesrechnungshof, das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und die Europäische Kommission sind ebenfalls berechtigt, Prüfungen vorzunehmen.“</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Am 31. Mai 2020, dem letzten Tag des Bewilligungszeitraums, veröffentlichte das Landeswirtschaftsministerium die „Richtlinie des Landes zur Gewährung von Soforthilfen für gewerbliche Kleinunternehmen, Selbstständige und Angehörige Freier Berufe, die infolge der Sars-CoV-2-Pandemie in ihrer Existenz gefährdet sind“ (nachfolgend: Soforthilferichtlinie) im Rahmen eines Runderlasses. Dieser gelte nach Ziffer 9. mit Wirkung vom 27. März 2020.</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Unter dem 3. Juli, dem 5. Oktober und dem 2. Dezember 2020 sowie dem 14. Juni 2021 versandte der Beklagte an sämtliche Antragsteller E-Mails, in denen er auf die Notwendigkeit zur Durchführung eines Rückmeldeverfahrens, den hierfür bereit gestellten Vordruck sowie auf aus seiner Sicht geltende Regelungen und Fristen hinwies.</p> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">In einem den Vordrucken vorangestellten Informationsschreiben ist u.a. folgendes festgehalten:</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">„3. Erfassung eines Liquiditätsengpasses</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Ein Liquiditätsengpass liegt vor, wenn im dreimonatigen Förderzeitraum die tatsächlich fortlaufenden Einnahmen aus dem Geschäftsbetrieb nicht ausgereicht haben, um die tatsächlich laufenden erwerbsmäßigen Sach- und Finanzausgaben zu bezahlen. Private und betriebliche Finanzreserven müssen nicht berücksichtigt werden.“</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Den entsprechenden Vordruck füllte die Klägerin am        00.00.0000 aus und übersandte diesen. Hierbei machte sie für den gewählten Förderzeitraum vom 1. März 2020 bis zum 31. Mai 2020 insbesondere folgende Angaben:</p> <span class="absatzRechts">96</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td></td> <td><p>1. Monat</p> </td> <td><p>2. Monat</p> </td> <td><p>3. Monat</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>bereinigte Einnahmen</strong></p> </td> <td><p>5.149</p> </td> <td><p>6.653</p> </td> <td><p>4.784</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>Ausgaben</strong></p> </td> <td><p>6.029</p> </td> <td><p>4.521</p> </td> <td><p>5.751</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>Liquiditätsengpass pro Monat</strong></p> </td> <td><p>- 880</p> </td> <td><p>2.132</p> </td> <td><p>- 967</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>Summer des betrieblichen Liquiditätsengpasses für den gesamten Förderzeitraum</strong></p> </td> <td colspan="3"><p>0</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>Fiktiver Unternehmerlohn</strong>(Pauschale i.H.v. 2.000,-; nur angesetzt, wenn Voraussetzungen unter „Fiktiver Unternehmerlohn“ erfüllt sind)</p> </td> <td colspan="3"><p>2.000</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>Gesamtergebnis Liquiditätsengpass</strong></p> </td> <td colspan="3"><p>2.000</p> </td> </tr> </tbody> </table> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von dem so ermittelten Liquiditätsengpass ergab sich ein Rückzahlungsbetrag der Klägerin von 7.000 Euro als Differenz zwischen der ausgezahlten Soforthilfe und dem Liquiditätsengpass (9.000 Euro - 2.000 Euro).</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Unter dem 18. Dezember 2021 erließ der Beklagte den dem Kläger am selben Tag per E-Mail übermittelten und mit „Schlussbescheid“ überschriebenen streitbefangenen Bescheid. In Ziffer 1. des Bescheides stellte er einen Liquiditätsengpass in Höhe von 2.000 Euro fest und setzte entsprechend in Ziffer 2. die Höhe der Soforthilfe auf diesen Betrag fest. Zugleich forderte er den Kläger in Ziffer 3. dazu auf, den überbezahlten Betrag bis zum 31. Oktober 2022 an die Landeshauptkasse zurückzuzahlen. Zur Begründung führte der Beklagte insbesondere folgendes aus:</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Die Feststellung des Liquiditätsengpasses und die Festsetzung der Soforthilfe beruhe auf § 53 LHO NRW i. V. m. der Regelung zur vorübergehenden Gewährung geringfügiger Beihilfen im Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Ausbruch von Sars-CoV-2 („Bundesregelung Kleinbeihilfen 2020“), der Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen über die „Corona-Soforthilfen insbesondere für kleine Unternehmen und Solo-Selbstständige“ vom 01.04.2020 einschließlich der dazu erlassenen Vollzugshinweise sowie den Soforthilfe-Richtlinien. Nach Ziffern 3.1, 3.2, 5.2 und 5.3 der Soforthilfe-Richtlinien werde die NRW-Soforthilfe 2020 antragsberechtigten Leistungsempfängern, die die Antragsvoraussetzungen erfüllten, zunächst in voller Höhe gewährt. Die endgültige Festsetzung erfolge nach Meldung der Berechnung der Höhe des Liquiditätsengpasses. Ergebe sich dabei, dass der vorläufig vollständig gezahlte Soforthilfebetrag nicht oder nur teilweise vom Liquiditätsengpass abgedeckt sei, werde die Soforthilfe nur in Höhe des Liquiditätsengpasses gewährt; anderenfalls sei die vorläufige Zahlung endgültig. Auf dieser Grundlage sei ein Liquiditätsengpass in Höhe von 2.000 Euro festzustellen und eine Soforthilfe in gleicher Höhe festzusetzen gewesen. Auf den Antrag der Klägerin sei ihr als antragsberechtigten Leistungsempfänger die Soforthilfe zunächst vorläufig gemäß Nr. 3 der Nebenbestimmungen des Bewilligungsbescheides über den Billigkeitszuschuss in Höhe von 9.000 Euro ausgezahlt worden. Dieser Betrag werde von dem von ihr gemeldeten Betrag des Liquiditätsengpasses in Höhe von 2.000 Euro nicht vollständig abgedeckt. Es verbleibe ein Differenzbetrag von 7.000 Euro.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Die Rückforderung des überbezahlten Differenzbetrages beruhe im Übrigen auf § 49a Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW in entsprechender Anwendung.</p> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am       00.00.0000 Klage erhoben.</p> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Sie wendet ein, der Schlussbescheid sei formell und materiell rechtswidrig. Sie sei schon nicht angehört worden. Des Weiteren fehle eine rechtliche Grundlage für den Schlussbescheid. Aus dem Bewilligungsbescheid sei nicht ersichtlich, dass es sich um einen vorläufigen Bescheid handele, welcher unter dem Vorbehalt der endgültigen Festsetzung durch einen Schlussbescheid ergangen sei. Deswegen habe sie berechtigterweise darauf vertrauen dürfen, dass es sich nicht um eine vorläufige Auszahlung gehandelt habe. Insbesondere ergebe sich eine etwaige vorläufige Auszahlung auch nicht aus Nr. 3 der Nebenbestimmungen des Bewilligungsbescheides Ihr Umsatzausfall habe allein für das Jahr 2020 in der Summe rund 50.000,00 € netto betragen, da mindestens 18 Schulungs- und Seminarveranstaltungen, die bereits im Jahr 2019 geplant gewesen seien, coronabedingt hätten abgesagt werden müssen. Soweit Umsätze ab März 2020 erzielt worden seien, resultierten diese allesamt aus einer Tätigkeit im Jahre 2019 und lägen allesamt unter dem Umsatz des Jahres 2019. Somit sei die gewährte Finanzhilfe nicht höher als der Umsatzausfall abzüglich eventueller eingesparter Kosten (z. B. Mietminderung). Die Mittel seien auch zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich des Liquiditätsengpasses benötigt worden. Eine Feststellung des Liquiditätsengpasses lediglich in Höhe von 2.000,00 € sei daher aus diesem Grunde nicht nachvollziehbar.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">den Schlussbescheid des Beklagten vom 18. Dezember 2021 aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Er macht geltend, dass der Bewilligungsbescheid nur einen vorläufigen Verwaltungsakt dargestellt habe. Daher habe erst der Schlussbescheid die Höhe der Soforthilfe endgültig bestimmt. Die Voraussetzungen für den Erlass eines vorläufigen Verwaltungsaktes lägen vor. Es habe eine Ungewissheit hinsichtlich der Höhe der zu gewährenden Soforthilfe bestanden. Diese habe sich nämlich entsprechend den Vorgaben des Bundes nach der Höhe des zum Beginn des Förderungszeitraums noch ungewissen Liquiditätsengpasses bemessen sollen.Die Vorläufigkeit der Bewilligung sei auch hinreichend bestimmt zum Ausdruck gekommen. Sie ergebe sich schon zwingend aus den Regelungen des Bewilligungsbescheides selbst. Bereits durch den in Ziffer 1. enthaltenen Begriff der „Pauschale“ habe sich die Vorläufigkeit aufdrängen müssen. Die Verwendung des Begriffes „Pauschale“ trage dem Umstand Rechnung, dass die Höhe der einem Antragsteller zustehenden Soforthilfe im Zeitpunkt der Bewilligung ungewiss gewesen sei. Die Vorläufigkeit der Bewilligung habe sich den Empfängern auch deshalb aufdrängen müssen, weil Beträge von 9.000, 15.000 und 25.000 Euro den wirtschaftlichen Verhältnissen und den pandemiebedingten Risiken in dieser Höhe schlichtweg nicht gerecht werden könnten. Jedem Verständigen müsse klar sein, dass das Land die zur Verfügung stehenden Gelder nicht unter Außerachtlassung des tatsächlich eingetretenen Bedarfs gewähren dürfe. Das Rückmeldeverfahren habe erwartungsgemäß ergeben, dass unzählige Antragsberechtigte trotz Vorliegens der formulierten Antragsvoraussetzungen ihre wirtschaftliche Tätigkeit ohne bzw. ohne gravierende Einschränkungen hätten fortführen können. Auch mit Blick auf die in Ziffern 2. und 3. enthaltenen Bestimmungen zum Zuwendungszweck und zum Bewilligungszeitraum habe sich die Vorläufigkeit der Bewilligung aufgedrängt. Wäre der Bewilligungsbescheid kein vorläufiger Verwaltungsakt, wären derartige Bestimmungen obsolet. Auch der in Ziffer II. 3 enthaltene Passus, dass zu viel gezahlte Mittel zurückzuerstatten seien, belege die Vorläufigkeit der Bewilligung.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Abgesehen davon ergebe sich auch aus dem „Eckpunkte“-Papier vom 23. März 2022 und den „Kurzfakten“ zum Bundesprogramm vom 30. März 2022 eindeutig, dass die Bewilligung vorläufiger Natur und zu viel gezahlte Beträge zurückzuerstatten seien. Ergänzend sei auf die mit Wirkung zum 27. März 2020 erlassene Soforthilferichtlinie vom 31. Mai 2020 abzustellen. Dieser sei eindeutig zu entnehmen, dass die Bewilligung der Soforthilfe nur vorläufig erfolgt sei. Ihr rückwirkender Erlass verstoße nicht gegen das Rückwirkungsverbot. Die Lesart des Beklagten werde zudem dadurch gestützt, dass über 99% der Soforthilfeempfänger diese Sichtweise geteilt und gegen die Schlussbescheide keine Klage erhoben hätten.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Die Feststellung des Liquiditätsengpasses und die damit einhergehende Festsetzung der NRW-Soforthilfe seien im Übrigen entsprechend seiner Verwaltungspraxis erfolgt. Diese habe er an den Vorgaben von Ziffer 5.3 Abs. 2 der nach aus den vorstehenden Gründen anwendbaren Soforthilferichtlinie ausgerichtet. Der hiernach maßgebliche Liquiditätsengpass der Klägerin ergebe sich nur in der festgesetzten Höhe. Irrelevant sei hingegen, ob im maßgeblichen Zeitraum ein Umsatzausfall vorgelegen habe. Ein solcher betreffe nur die Antragsvoraussetzungen, nicht aber die „Anspruchsvoraussetzungen / Höhe der Leistungen“. Es komme insoweit nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides an, sondern allein auf die durch die Soforthilferichtlinie gesteuerte Verwaltungspraxis bis zum Erlass des Schlussbescheides. Da die Bewilligung der Höhe nach nur vorläufig erfolgt sei, bestehe auch kein Vertrauensschutz hinsichtlich der endgültigen Höhe der Soforthilfe und der Berechnungsgrundlage. Aufgrund der Formulierungen in dem Antragsformular, dass die Soforthilfe zur Überwindung der „existenzbedrohlichen Wirtschaftslage bzw. des Liquiditätsengpasses“ gewährt werde, habe jedem objektiven Empfänger klar sein müssen, dass die Soforthilfe nicht dem Zweck dienen könne, den wirtschaftlichen „Status Quo“ aufrechtzuerhalten. Von Umsatzausfällen sei auch im Antragsformular nur dort die Rede, wo es um die Antragsvoraussetzungen ginge. Auch die bereits erwähnten Verlautbarungen des Bundes brächten dies klar zum Ausdruck.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></strong></p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig (dazu unter I.) und hat auch in der Sache Erfolg (dazu unter II.).</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO) statthaft. Denn die Klägerin begehrt mit der Aufhebung des streitbefangenen Schlussbescheids die Aufhebung eines Verwaltungsaktes. Dabei weist  Ziffer 1. des Schlussbescheides mit der Feststellung der Höhe des Liquiditätsengpasses gegenüber der in Ziffer 2. erfolgten Festsetzung der Höhe der Soforthilfe keinen eigenständigen Regelungsgehalt auf. Nach der erkennbaren Regelungsabsicht des Beklagten dient die Feststellung des Liquiditätsengpasses allein der Berechnung der betragsmäßig gleichlautenden Festsetzung der Höhe der Soforthilfe. Erst in der Festsetzung der Höhe der Soforthilfe kommt das eigentliche Regelungsvorhaben des Beklagten zum Ausdruck, deren Höhe endgültig zu bestimmen.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist im Hinblick auf den angegriffenen Schlussbescheid auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO). Sie kann geltend machen, durch diesen in ihren Rechten verletzt zu sein. Für die Annahme der Klagebefugnis genügt bereits die schlüssige Rechtsbehauptung, durch einen Verwaltungsakt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Ob dies hingegen tatsächlich der Fall ist, ist eine Frage der Begründetheit. Hiernach ergibt sich die Klagebefugnis bereits aus der Behauptung der Klägerin, dass es sich bei dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid nicht bloß um einen vorläufigen Bescheid handelt. Damit stellt sie nämlich die Rechtsbehauptung auf, dass der angegriffene Schlussbescheid, der die Soforthilfe geringer als der Bewilligungsbescheid vom 30. März 2020 festsetzt, eine ihr mit diesem Bescheid bereits endgültig zugewiesene Rechtsposition ohne Rechtsgrundlage verkürzt.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch begründet. Der angegriffene Schlussbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Feststellung des Liquiditätsengpasses und der Festsetzung der Höhe der Soforthilfe (<strong>dazu unter 1.)</strong> als auch der Rückforderung der vermeintlich durch die Klägerin zu viel erhaltenen Soforthilfe (<strong>dazu unter 2.).</strong></p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong></p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte stützt die Festsetzung der Höhe der Soforthilfe zu Unrecht auf die Annahme, dass er der Klägerin die Soforthilfe in Höhe von 9.000,- € zunächst nur vorläufig und vorbehaltlich einer Schlussabrechnung bewilligt habe. Vielmehr handelt es sich bei dem streitgegenständlichen Bescheid um die nachträgliche Teilaufhebung einer mit dem Bewilligungsbescheid vom 30. März 2020 ohne einen solchen Vorbehalt gewährten Zuwendung, die nicht im vorliegend verfolgten Wege eines „Schlussbescheids“ erfolgen durfte.</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Die Möglichkeit, zunächst einen sogenannten vorläufigen Verwaltungsakt (besser: einen Verwaltungsakt, der eine vorläufige Regelung trifft) zu erlassen, der zu einem späteren Zeitpunkt durch einen abschließenden Verwaltungsakt ersetzt wird, ist allgemein anerkannt. Der Regelungsgehalt eines vorläufigen Bescheides im Zusammenhang mit der Bewilligung staatlicher Förderungsleistungen beschränkt sich darauf, dem Leistungsempfänger den Förderungsbetrag bis zur abschließenden Regelung des Sachverhaltes zuzuweisen. Dieser Vorbehalt schränkt die Bindungswirkung des Verwaltungsaktes in der Form ein, dass er sich auf andere Weise i. S. d. § 43 Abs. 2 VwVfG (NRW) erledigt, wenn er durch einen endgültigen Verwaltungsakt ersetzt wird. Der Vorbehalt ist damit unselbständiger Bestandteil der Hauptregelung des Ausgangsbescheides und betrifft dessen innere Wirksamkeit. Da dem Leistungsempfänger allein eine vorläufige Rechtsposition zugewiesen ist, muss sich die Schlussentscheidung nicht an den Voraussetzungen der §§ 48 f. VwVfG (NRW) messen lassen. Einer Aufhebung des (vorläufigen) Bewilligungsbescheides bedarf es folglich nicht.</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, BVerwGE 67, 99, zitiert nach juris Rn. 23 ff und Urteil vom 19. November 2009 - 3 C 7.09 -, BVerwGE 135, 238 - 247, Rn. 15 ff,; OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVwZ 1991, 588; <em>Stelkens</em> in: Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 245f. .</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Die Vorläufigkeit eines Verwaltungsaktes ebenso wie deren Umfang muss sich aus diesem selbst ergeben. Der Vorbehalt muss dabei, schon um dem in § 37 Abs. 1 VwVfG NRW zum Ausdruck kommendem Bestimmtheitsgebot zu genügen, eindeutig gefasst sein. Dies kann ausdrücklich oder in sonstiger unmissverständlicher Weise erfolgen. Wird ein Verwaltungsakt nicht hinreichend deutlich unter Vorbehalt gestellt, ist von einer endgültigen Regelung auszugehen, auch weil bei Auslegung eines Verwaltungsaktes Unklarheiten zu Lasten der Behörde gehen.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Stelkens,</em> a. a. O, § 35 Rn. 247, u. a. unter Hinweis auf namentlich OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, a. a. O.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Insbesondere die in § 165 Abs. 1 Satz 3 AO, § 41a Abs. 2 Satz 1 SGB II und § 328 Abs. 1 Satz 2 SGB III getroffenen Regelungen bieten Anhalt für die Konkretisierung der Bestimmtheitsanforderungen. Die genannten Vorschriften betreffen spezialgesetzlich Konstellationen, in denen ein vorläufiger Verwaltungsakt ergehen darf, und verlangen, dass Umfang bzw. Grund und Umfang der Vorläufigkeit in dem entsprechenden Bescheid anzugeben sind. Diese Vorgaben lassen sich als Ausdruck von allgemein für den Erlass eines vorläufigen Verwaltungsaktes geltenden Anforderungen auffassen.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Eine vom ursprünglichen Bescheid abweichende Regelung in einem diesen ersetzenden Schlussbescheid kommt im Übrigen nur in Betracht, wenn und soweit sie aus den Gründen ergeht, wegen derer die frühere Regelung unter Vorbehalt gestellt wurde.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, a. a. O, Rn. 17 sowie OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, a. a. O., (S. 589).</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Eine Behörde darf vorbehaltlich spezialgesetzlicher Ermächtigungen eine Regelung in einem Verwaltungsakt nicht nach Belieben nur vorläufig treffen, sondern nur, wenn ihr eine bestehende Ungewissheit hierzu sachlichen Grund gibt. Das ist bei einer tatsächlichen Ungewissheit nur dann der Fall, wenn sie Umstände betrifft, die erst künftig eintreten.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, a. a. O. Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Das Vorliegen einer solchen Ungewissheit ist aber nur Voraussetzung dafür, einen vorläufigen Verwaltungsakt erlassen zu dürfen. Es besagt hingegen nicht, dass eine Regelung auch tatsächlich unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung getroffen wurde. Einer solchen Unsicherheit kann ggf. auch mit anderen Instrumenten wie z.B. einem Widerrufsvorbehalt (vgl. § 36 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG NRW) begegnet werden. Ob eine Leistungsbewilligung ggf. unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung oder einem Widerrufsvorbehalt steht, unterliegt der Würdigung des jeweiligen Einzelfalles. Für den Vorbehalt einer abschließenden Regelung kann dabei sprechen, dass der Förderbescheid die endgültige Höhe in jedem Fall variabel hält. In diesem Fall muss der Leistungsempfänger nämlich in jedem Fall mit einer späteren Festsetzung des Förderungsbetrages rechnen. Bei einer vorbehaltlosen Förderung darf er hingegen davon ausgehen, dass der Widerrufsfall nur bei atypischem Geschehensablauf eintritt und die Ausübung eines Widerrufes auch dann nicht zwingend ist.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 - 10 C 5.17 -, juris Rn. 26.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Maßgebend für die Auslegung eines Verwaltungsakts einschließlich entsprechender Nebenbestimmungen ist dabei analog der §§ 133, 157 BGB nicht der innere Wille der Behörde, sondern der im Verwaltungsakt zum Ausdruck kommende erklärte Wille, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung verstehen konnte. Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung. Maßgeblicher Auslegungszeitpunkt ist der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, juris Rn. 14; <em>Stelkens</em> in: Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 71.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Neben dem Inhalt des Bewilligungsbescheides sowie des Antragsformulars können auch weitere Erkenntnisse den auslegungsrelevanten Empfängerhorizont des Leistungsempfängers beeinflussen und damit für die Auslegung des Bescheides relevant werden. Dabei kann allerdings nur auf solche Quellen - namentlich behördliche Verlautbarungen - abgestellt werden, die zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des in Rede stehenden Bewilligungsbescheides bereits veröffentlicht waren und daher dem Leistungsempfänger bekannt oder zumindest für ihn erkennbar waren. Nicht nach außen kundgetane Vorbehalte sind unerheblich.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Zu den für den Empfängerhorizont besonders relevanten Informationsquellen zählen vorliegend die auf der Antragsplattform des Beklagten bereitgestellten „FAQ“. Denn mittels dieser Informationen hat der Beklagte als Zuwendungsgeber über das federführende Landeswirtschaftsministerium den Zuwendungsempfängern gegenüber unmittelbar Voraussetzungen und Verfahren des Soforthilfeprogramms kommuniziert. Etwaigen Verlautbarungen von Ministerien des Bundes kommt kein gleiches Gewicht zu, weil und soweit sie nicht zwischen Zuwendungsgeber und Zuwendungsempfänger kommuniziert wurden. Ein verständiger Empfänger in der Situation des Antragstellers darf auf die in den FAQs des Zuwendungsgebers bestimmten Maßgaben in aller Regel vertrauen. Er muss nicht ergänzend schwerer greifbare Bundesquellen sichten und auf etwaige Widersprüche zu den Verlautbarungen des Zuwendungsgebers überprüfen.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Völlig unerheblich für die Bestimmung des Bescheidinhaltes ist der vom Beklagten angeführte Umstand, dass sich gemessen an der Gesamtzahl der Soforthilfeleistungsempfänger nur ein verhältnismäßig geringer Teil gerichtlich gegen die Schlussbescheide zur Wehr gesetzt hat. Der objektive Empfängerhorizont wird hierdurch in keiner Weise tangiert. Es liegt im Übrigen auf der Hand, dass viele Empfänger, zumal in einer wirtschaftlichen Notlage, das mit einer Klage einhergehende Prozesskostenrisiko gescheut haben. Dies gilt umso mehr, als sie insbesondere aufgrund der vom Beklagten in den gegen die E-Mails zum eingeforderten Rückmeldeverfahren gerichteten Klageverfahren verfolgten Praxis der Beauftragung der Prozessbevollmächtigten damit rechnen mussten, dass er sich - wie zum Teil auch geschehen - erneut  verfahrenskostenintensiver anwaltlicher Hilfe bedienen würde. Entsprechendes gilt für den Einwand des Beklagten, dass im Rückmeldeverfahren über 60.000 Soforthilfeempfänger freiwillig erklärt hätten, mangels eines Liquiditätsengpasses auf die Zuwendung zu verzichten, zumal  auf der Hand liegt, dass zahlreiche Zuwendungsempfänger diese Erklärung abgegeben haben, weil sie auf ein rechtmäßiges Verhalten des an Recht und Gesetz gebundenen Beklagten vertraut haben.</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Köln, Urteil vom 16. September 2022 – 16 K 125/22 –, juris Rn. 103.</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Nach den dargelegten Maßstäben vermag die Kammer die Vorläufigkeit der ursprünglichen Bewilligung nicht festzustellen (dazu unter a). Selbst wenn man aber davon ausginge, dass der Beklagte die Bewilligung in bestimmten Umfang unter den Vorbehalt einer vorläufigen Regelung gestellt hat, wäre der Vorbehaltsfall nicht eingetreten (dazu unter b.).</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">a)</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte sieht im Einklang mit der von ihm angeführten Ziffer 5.3 der Soforthilferichtlinie eine zum Erlass eines vorläufigen Verwaltungsaktes berechtigende Ungewissheit in der Höhe des aus seiner Sicht für die abschließende Festsetzung der Höhe der Soforthilfe maßgeblichen Liquiditätsengpasses. In Anlehnung an diese Bestimmung behauptet er, die Soforthilfebewilligung vom 30. März 2020 habe unter dem Vorbehalt gestanden, dass die Höhe der Soforthilfe in jedem Fall nach Durchführung eines obligatorischen Rückmeldeverfahrens auf Grundlage der Berechnung des Liquiditätsengpasses abschließend festzusetzen gewesen sei. Für einen solchen Vorbehalt geben indes weder der Bewilligungsbescheid noch die zu dessen Auslegung aus objektiver Empfängersicht heranzuziehenden Informationsquellen etwas her.</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Dass die vom Beklagten angeführte Soforthilferichtlinie vom 31. Mai 2020 unter Ziffer 5.3 ein obligatorisches Rückmeldeverfahren einschließlich entsprechender Rückzahlungsverpflichtungen der Leistungsempfänger vorsieht und damit die Vorläufigkeit der Bewilligung offensichtlich voraussetzt, ist für die Bestimmung des Regelungsgehalts des Bewilligungsbescheids vom 30. März 2020 nicht maßgeblich. Die Soforthilferichtlinie gehört nicht zum insoweit auslegungsrelevanten Empfängerhorizont, weil sie erst mehr als zwei Monate nach Erlass des Bewilligungsbescheids veröffentlicht wurde. Die Ausführungen des Beklagten zur rückwirkenden Anwendbarkeit der Soforthilferichtlinie gehen an diesem Ansatz vorbei. Es handelt sich bei ihr im Übrigen nicht um eine unmittelbar im Außenverhältnis zum Zuwendungsempfänger relevante Rechtsnorm, sondern um eine zunächst nur nach innen wirkende Handlungsanweisung des federführenden Landeswirtschaftsministeriums gegenüber den ihm nachgeordneten Bezirksregierungen.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Allein aus dem Umstand, dass angesichts der Unklarheiten, in welcher Höhe sich ein Liquiditätsengpass bei den jeweiligen Antragsstellern ergeben würde, eine vorläufige Bewilligung der Soforthilfen hätte erfolgen können, folgt aus den vorstehenden Erwägungen nicht, dass der Beklagte die Soforthilfebewilligung auch unter einen entsprechenden Vorbehalt gestellt hat. Die Vorläufigkeit ergibt sich weder unmittelbar aus dem Bescheid selbst noch aus den weiteren den auslegungsrelevanten Empfängerhorizont bestimmenden Umständen. Entgegen der Darstellung des Beklagten bewirken diese keineswegs, dass sich die Vorläufigkeit der Bewilligung „jedem Verständigen“ „hätte aufdrängen müssen“ bzw. „hätte klar sein müssen“. Im Gegenteil fehlt es hierfür an tragfähigen Anhaltspunkten.</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Im Sprachgebrauch des Bewilligungsbescheids vom 30. März 2020 findet der vom Beklagten behauptete Vorbehalt der Vorläufigkeit nicht einmal andeutungsweise Ausdruck. Namentlich die Überschrift des Bescheides, der Bewilligungstenor unter Ziffer 1. und die übrigen (Neben-)Bestimmungen enthalten keine entsprechenden Formulierungen. Für einen vorläufigen Verwaltungsakt typische Wendungen wie „Vorläufige Bewilligung“, „Ich bewillige Ihnen folgende Leistungen vorläufig“, „Dieser Bescheid ist (teilweise) vorläufig“ etc. finden sich an keiner Stelle.</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Vgl. insoweit auch VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 - 20 K 7488/20 -, juris Rn. 104.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Das Fehlen jeglichen grammatikalischen Hinweises auf die Vorläufigkeit der Bewilligung steht der gebotenen Eindeutigkeit und Bestimmtheit eines solchen Vorbehalts entgegen. Es liegt sogar nahe, dass es sie bereits für sich gesehen ausschließt. Letztlich bedarf dies aber keiner abschließenden Entscheidung. Denn auch dem übrigen Inhalt des Bescheides und den zu dessen Auslegung heranzuziehenden Informationsquellen lässt sich nichts für die Vorläufigkeit der Bewilligung entnehmen.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Dass der Klägerin die Auszahlung einer einmaligen „<em>Pauschale“</em> in Höhe von 9.000,- € bewilligt wurde, lässt keinen Schluss darauf zu, dass die Bewilligung zunächst nur vorläufig erfolgt ist. Der allgemeine Zweck von Pauschalisierungen, exakte Berechnungen zu vermeiden, legt eher das Gegenteil nahe. Unter einer Pauschale wird im allgemeinen Sprachgebrauch ein Geldbetrag verstanden, durch den eine Leistung, die sich aus verschiedenen einzelnen Posten zusammensetzt, ohne Spezifizierung abgegolten wird,</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">vgl. nur: <span style="text-decoration:underline">https://www.duden.de/rechtschreibung/Pauschale</span>.</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Ein Vorbehalt der späteren Spezifizierung ist dem Begriff der Pauschale nicht zu eigen. Vielmehr hat die Pauschalisierung in vielen Fällen endgültigen Charakter.</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Der vom Beklagten angeführte mehrmonatige Bewilligungszeitraum ist ebenfalls kein Indiz für eine bloß vorläufige Regelung. Die Festlegung von solchen Zeiträumen gehört zum Standard von Subventionsverfahren. Sie dient zunächst nur der Definition der Zuwendung und ihres Zwecks durch Zuordnung zu dem bestimmten Zeitraum. Nach der Erfahrung der Kammer finden sich derartige Bestimmungen in einer Vielzahl eindeutig nicht vorläufiger Subventionsbewilligungen. Sie sind oftmals mit einer Pflicht zur Vorlage von Verwendungsnachweisen verknüpft, deren Nichterfüllung einen späteren Widerruf einer – endgültigen – Bewilligung ermöglicht.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig rechtfertigt die Zweckbestimmung in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheides die Annahme eines Vorbehalts der Vorläufigkeit. Entsprechende Zweckbestimmungen finden sich vor dem Hintergrund, dass die einschlägigen Haushaltsordnungen des Bundes bzw. der Länder (vgl. jeweils §§ 23, 46) Zuwendungen außerhalb der Verwaltung nur für die Erfüllung eines bestimmten Zweckes zulassen, regelmäßig in Subventionsbescheiden. Sie dienen insbesondere dazu, eine zweckentsprechende Verwendung der Mittel sicherzustellen und bei zweckwidriger Verwendung den späteren Widerruf der – endgültigen – Bewilligung nach § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwVfG NRW zu ermöglichen.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Vgl. in der Sache übereinstimmend: <em>Stelkens</em> a. a. O., § 36 Rn. 102 und <em>Tiedemann</em> in: BeckOK-VwVfG, 56. Aufl. Stand: 1.7.2022, § 36 Rn. 75</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Auch der „Nebenbestimmung“ in Ziffer 3. des Bewilligungsbescheides lässt sich die Vorläufigkeit der Bewilligung nicht entnehmen. Ziffer 3. bestimmt eine Rückzahlungspflicht, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen, also wenn kumulativ die bewilligte Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eingesparter Kosten und die Mittel nicht vollständig zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich eines Liquiditätsengpasses benötigt werden.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Dass diese „Nebenbestimmung“ Ausdruck einer Ungewissheit ist, die sachlichen Grund für einen Vorbehalt der Vorläufigkeit bieten könnte, besagt nach den oben genannten Maßstäben nicht, dass die Bewilligung tatsächlich unter einen solchen Vorbehalt gestellt wurde. Nach diesen Maßstäben stellt die fragliche Ziffer, sofern es sich überhaupt um eine Nebenbestimmung im Rechtssinne mit Regelungsgehalt und nicht um einen bloßen Hinweis etwa auf die Möglichkeit eines Widerrufs handelt, allenfalls einen Widerrufsvorbehalt dar.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin musste aufgrund des Wortlautes der Bestimmung und den übrigen für sie erkennbaren Umständen nicht damit rechnen, dass in jedem Fall ein Rückmeldeverfahren durchgeführt und die Höhe der Förderung anschließend endgültig festgesetzt würde. Vielmehr durfte sie davon ausgehen, dass die in der Bestimmung beschriebene Rückzahlungsverpflichtung nur im dort definierten (Ausnahme-)Fall zum Tragen kommt.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Die an den jeweiligen Adressaten persönlich gerichtete Bestimmung, „<em>Sollten Sie […] feststellen, dass […]“</em> beinhaltet dem Wortsinn nach zunächst nur eine von einer Feststellung des Zuwendungsempfängers abhängige Rückzahlungsverpflichtung, wobei die Anknüpfung an die Feststellung durch den Zuwendungsempfänger selbst eher einen appellativen als einen zwingenden Charakter der „Überprüfung“ andeutet. Dass eine solche Feststellung im Rahmen eines für jeden Zuwendungsempfänger obligatorischen Abrechnungsverfahrens zur erst dann vorgesehenen Bestimmung der endgültigen Höhe der Zuwendung erfolgen sollte, findet in der Formulierung der Ziffer 3 keine Stütze. Besonders deutlich wird dies im Vergleich mit den in Ziffer 5.3 der – aus den genannten Gründen nicht maßgeblichen – späteren Soforthilferichtlinie getroffenen Bestimmungen. Hiernach ist u.a. bestimmt, dass „<em>jeder Leistungsempfänger […] verpflichtet sei, […]. eine Abrechnung […] anzufertigen und ihr Ergebnis […] einzureichen</em>“ und dass hinsichtlich Soforthilfen, die „<em>nicht oder nur teilweise durch Deckung des […] Liquiditätsengpasses verwendet wurden</em>“, eine Rückzahlung zu veranlassen sei. Diesen Bestimmungen ließe sich der vom Beklagten behauptete Vorbehalt einer vorläufigen Regelung entnehmen. Die Formulierung der Ziffer 3. des Bewilligungsbescheides hat nach dem zuvor Gesagten indes mit den besagten Bestimmungen der Soforthilferichtlinie nichts gemein.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass die Bestimmung die Rückzahlungsverpflichtung grammatikalisch („Sollten Sie“) und in Würdigung des Zwecks der Soforthilfe an den Eintritt eines atypischen Geschehensablaufs knüpft, der im Verhältnis zum im Bewilligungsverfahren angenommenen Regelfall eine Ausnahme darstellt. Bei der Bewilligung der Soforthilfen wurde nämlich vorausgesetzt, dass die Antragsteller durch die pandemiebedingten Einschränkungen wesentlich in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit beeinträchtigt wurden (vgl. Ziffer 6.1 des Antragsformulars) bzw. in „wirtschaftliche Schwierigkeiten“ geraten waren (vgl. Antwort zur Frage „Was wird gefördert?“ in den „FAQ“). Es wurde aufgrund entsprechender Versicherungen der Antragsteller in den Anträgen zugrunde gelegt, dass diese Voraussetzungen die Folge von gravierenden (mindestens hälftigen) Umsatzeinbußen oder massiven Einschränkungen der Betätigung im Zusammenhang mit behördlichen Infektionsschutzmaßnahmen waren. Der die Rückzahlungsverpflichtung nach Ziffer 3 des Bewilligungsbescheids auslösende Tatbestand, dass Hilfen über die Umsatzausfälle hinausgingen und nicht zur Existenzsicherung oder Beseitigung von Liquiditätsengpassen benötigt wurden, stellt sich damit als von den regelmäßig der Bewilligung zugrunde gelegten Annahmen abweichender Geschehensablauf dar.</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Untermauert wird dieses Verständnis durch die in Ziffer 5. enthaltene Bestimmung, dass „im <span style="text-decoration:underline">Einzelfall</span> (Hervorhebung durch die Kammer) eine Überprüfung der Soforthilfen“ vorbehalten werde. Die Formulierung besagt nämlich klar und eindeutig, dass eine Überprüfung der Mittelverwendung nur in bestimmten Fällen, nicht aber generell und schon gar nicht in Gestalt eines obligatorisch durchzuführenden Rückmeldeverfahrens erfolgen werde.</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Einer vorläufigen Bewilligung unter dem Vorbehalt einer in einem solchen obligatorischen Verfahren nachzuweisenden Verwendung der Mittel, hier zur Deckung eines Liquiditätsengpasses, steht ferner durchgreifend entgegen, dass nach den „FAQ“ eine Nachweispflicht für die Verwendung der Mittel gerade ausdrücklich nicht vorgesehen war. Dort heißt es nämlich auf die Frage: <em>„Muss nachgewiesen werden wofür der Zuschuss eingesetzt wird?</em>“, „<em>Nein, ein solcher Nachweis muss nicht erfolgen.</em>“ Der vom Beklagten behauptete Vorbehalt der Vorläufigkeit läuft aber auf eben eine solche Nachweispflicht hinaus.</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Die obligatorische Durchführung eines Rückmeldeverfahrens im Nachgang zu der Bewilligung ist in den „FAQ“ auch sonst an keiner Stelle erwähnt. Die Antwort auf die Frage: <em>„Wird geprüft, ob dem Antragsteller die Hilfe auch wirklich zugestanden hat und wenn nein, muss die Hilfe dann ggfls. zurückgezahlt werden?</em>“ untermauert im Gegenteil, dass keine generelle Prüfung durch die Bezirksregierungen vorgesehen war. Denn stattdessen wird lediglich auf die an die Steuererklärung der Antragsteller anknüpfende Möglichkeit einer Plausibilitätskontrolle durch die Finanzämter verwiesen. Im Übrigen heißt es nur, dass neben Fällen der täuschungsbedingten Erwirkung der Leistung eine Rückzahlung erfolgen müsse, wenn es zu „<em>einer Überkompensation (z.B. durch Versicherungsleistungen oder andere Fördermaßnahmen)“</em> gekommen sei. Einen Hinweis auf einen generellen Überprüfungsvorbehalt beinhaltet auch diese Formulierung nicht.</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Der vom Beklagten behauptete Vorbehalt wird aus Sicht eines objektiven Empfängers zum Zeitpunkt der Bewilligung der Soforthilfe an die Klägerin am 30. März 2020 auch dadurch widerlegt, dass die „FAQ“ im Zeitraum zwischen dem 29. und 31. März einen Passus enthielten, wonach bei Soloselbständigen, die pandemiebedingt ihr „<em>regelmäßiges Gehalt nicht mehr erwirtschaften […] (können)</em>, „<em>die Soforthilfe auch dazu (diene), das eigene Gehalt und damit den Lebensunterhalt zu finanzieren“.</em> Mit diesem Zweck der Soforthilfe war nämlich der Vorbehalt eines auf Liquiditätsengpässe verengten, in jedem Fall obligatorischen Abrechnungsverfahrens im Sinne von Ziffer 5.3 der späteren Soforthilfe-Richtlinie nicht vereinbar.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Schließlich legt auch Ziffer 4. des Bewilligungsbescheides die Annahme nahe, dass Ziffer 3. eher als Hinweis auf die Möglichkeit eines Widerrufes zu verstehen ist. Die „Nebenbestimmung“ in Ziffer 4. bezieht sich in den ersten beiden Varianten auf Fälle, in denen die Bewilligung aufgrund falscher oder unvollständiger Angaben erteilt wurde. Bei verständiger Würdigung kann dies als Hinweis auf die in §§ 48 ff. VwVfG NRW vorgesehene Möglichkeit aufgefasst werden, die Bewilligung im Einzelfall aufzuheben. Daneben sieht die Bestimmung im selben Satz als dritte Variante den Fall einer „Überkompensation“ vor, der ebenfalls eine Rückerstattung zur Folge habe. Dafür, dass hiermit eine andere Konstellation gemeint sein könnte als in Ziffer 3. hinsichtlich einer Rückzahlungsverpflichtung, ist nichts ersichtlich. Im Gegenteil wird der Begriff der „Überkompensation“ in den „FAQ“ als ein Mehr an Zuwendung gegenüber dem Umsatzausfall definiert. Es widerspräche der inneren Logik der Bestimmung, im Hinblick auf die Fälle von falschen oder unvollständigen Angaben auf die Möglichkeit einer Rücknahme der Bewilligung zu verweisen, im Falle der Überkompensation hingegen einen im Verwaltungsverfahrensgesetz nicht ausdrücklich vorgesehenen Vorbehalt der Vorläufigkeit zu regeln. Vielmehr drängt es sich auf, die Bestimmung in Ziffer 4. einheitlich und damit auch bzgl. der „Überkompensation“ als Hinweis auf die in §§ 48 f. VwVfG NRW vorgesehenen Ermächtigungen zur Aufhebung endgültiger Bewilligungsbescheide zu verstehen. Erhärtet wird dies dadurch, dass die Bestimmung hinsichtlich der Verzinsung auf § 49a Abs. 3 VwVfG NRW verweist.</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">b)</p> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man aber davon ausginge, dass der Bewilligungsbescheid - im nachfolgend näher bezeichneten Umfang - unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung stand, würde dies an der Rechtswidrigkeit des streitigen Schlussbescheides nichts ändern.</p> <span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">Angesichts der bereits erwähnten strengen Anforderungen, die an die Bestimmtheit eines entsprechenden Vorbehaltes zu stellen sind, ließe sich die Unterstellung eines Vorbehalts einer vorläufigen Regelung allein an die Bestimmung in Ziffer 3. des Bewilligungsbescheides knüpfen. Im Übrigen gibt der Bewilligungsbescheid aus den zuvor bereits erwähnten Gründen für die Vorläufigkeit der Bewilligung nichts her. Aus der Anforderung, dass Grund und Umfang der Vorläufigkeit eindeutig bestimmt sein müssen, folgt zugleich, dass die Verwaltungsbehörde nur in dem Umfang zu einer ihre ursprüngliche Bewilligung ersetzenden Regelung befugt ist, in dem sie sich eine abschließende Regelung vorbehalten hat. Betrifft der Vorbehalt dabei die Höhe der Bewilligung, ist die Bewilligungsbehörde generell befugt, die Höhe der Förderung zu einem späteren Zeitpunkt abschließend festzulegen. Hat sie dabei aber im Bewilligungsbescheid bereits die für die abschließende Berechnung der Förderungshöhe maßgeblichen Parameter (zumindest grundlegend) bestimmt, muss die anschließende dem Schlussbescheid zugrunde liegende Berechnung der Förderhöhe diesen Parametern entsprechen. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Bindungswirkung eines Bewilligungsbescheides im Falle eines vorläufigen Verwaltungsakts nur im Umfang des konkreten Vorbehaltes eingeschränkt ist. Hält die Bewilligungsbehörde diesen von ihr selbst durch einen entsprechenden Vorbehalt gesteckten Rahmen nicht ein, überschreitet sie die Befugnis zum Erlass einer abschließenden Regelung.</p> <span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Düsseldorf, a. a. O, Rn. 107 ff.</p> <span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall - die Vorläufigkeit der Bewilligung unterstellt - hier. Der Beklagte hat die maßgeblichen Parameter für die abschließende Berechnung bereits im Bewilligungsbescheid festgelegt (dazu unter aa.). Die nachfolgende Schlussberechnung erfolgte indes nicht im Einklang mit diesen Parametern (dazu unter bb).</p> <span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">aa)</p> <span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Die Bestimmung in Ziffer 3. sieht ihrem Wortlaut nach die Rückzahlungsverpflichtung für den Fall vor, dass die Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten <span style="text-decoration:underline">und</span> (Hervorhebung durch die Kammer) die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich eines Liquiditätsengpasses benötigt werden. Nach diesem eindeutigen Wortlaut müssen die genannten tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Rückzahlungsverpflichtung kumulativ vorliegen. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass die Finanzhilfen höher sind als der Umsatzausfall abzüglich eingesparter Kosten.</p> <span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Diese Annahme wird auch dadurch untermauert, dass sowohl im Antragsformular (vgl. Ziffer 6.11) als auch im Bewilligungsbescheid in Ziffer 4. sowie an verschiedenen Stellen in den „FAQ“ die Rede davon ist, dass eine Rückzahlungsverpflichtung im Falle einer „Überkompensation“ bestehe. In den „FAQ“ wird eine Überkompensation ab der Version vom 27. März 2020 definiert als ein Mehr an Zuwendungen gegenüber dem „tatsächlich eingetretenen Schaden - also insbesondere dem durch die Corona-Krise eingetretenen Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) […]“. Der hier relevante Begriff des Schadens, der nicht überkompensiert werden soll, wird damit eindeutig mit Umsatzausfällen gleichgestellt.</p> <span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Die vom Beklagten angenommene Lesart, wonach die Rückzahlungsverpflichtung allein davon abhänge, ob die Finanzhilfen zur Deckung eines Liquiditätsengpasses verwendet wurden, findet hingegen in den für den Empfängerhorizont relevanten Umständen keine Stütze. Gegen diese Lesart spricht zudem, dass der Begriff „Liquiditätsengpass“ im Rahmen des Bewilligungsverfahrens keinesfalls als alleine maßgebliches Kriterium für die Höhe der Bewilligung zum Ausdruck gekommen ist.</p> <span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">So legt es die Formulierung der Zweckbestimmung in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheides, dass die Soforthilfe <em>insbesondere</em> zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen diene, nahe, dass diese auch für andere nicht näher bestimmte Zwecke verwendet werden durfte. Hierzu passt der Hinweis in den „FAQ“, dass ein Verwendungsnachweis nicht erbracht werden müsse. Dass die Soforthilfe hingegen ausschließlich zur Deckung eines Liquiditätsengpasses hätte verwendet werden dürfen, ist mit der vorgenannten Zweckbestimmung nicht in Einklang zu bringen und musste von den Leistungsempfängern auch nicht angenommen werden.</p> <span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsbehauptung des Beklagten wird ferner dadurch widerlegt, dass sowohl im Antragsformular unter Ziffer 6.1 als auch in den „FAQ“ zu der Frage: „Was wird gefördert?“ ein Liquiditätsengpass, wie er in der Formulierung <em>„[… ] - vorhandene Mittel nicht ausreichen, um kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen</em>“ zum Ausdruck kommen könnte, nur als eine von vier mit der Konjunktion „oder“ verbundenen Varianten auftaucht, in denen eine Soforthilfe bewilligt wird. Die weiteren Varianten stellten hingegen insbesondere auf gravierende Umsatzausfälle oder massive Einschränkungen der Umsatzerzielungsmöglichkeiten ab. Dass dann aber schlussendlich alleine die Höhe eines Liquiditätsengpasses für die Höhe der Soforthilfe maßgeblich sein soll, muss sich keineswegs aufdrängen, sondern setzt sich in Widerspruch zu den für die Bewilligung maßgeblichen Vorgaben.</p> <span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">Die vom Beklagten des Weiteren zur Untermauerung seiner Position angeführte Soforthilferichtlinie ist aus den zuvor bereits erläuterten Gründen ohne Belang. Soweit sich dem vom Beklagten angeführten Kurzfakten-Papier des Bundeswirtschaftsministeriums vom 30. März 2020 etwas zugunsten seiner Position entnehmen lassen könnte, tritt dies nach den oben dargelegten Maßstäben jedenfalls gegenüber dem eindeutigen Inhalt des Antragsformulars und des Bewilligungsbescheides sowie den „FAQ“ des Landeswirtschaftsministeriums zurück.</p> <span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">bb)</p> <span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Die vom Beklagten vorgenommene Schlussabrechnung entspricht nicht dem so definierten unterstellten Vorbehalt.</p> <span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat zur Berechnung der abschließenden Höhe der Soforthilfe eine Differenz aus den tatsächlichen fortlaufenden Einnahmen aus dem Geschäftsbetrieb und den tatsächlich laufenden, erwerbsmäßigen Sach- und Finanzausgaben während des Bewilligungszeitraumes gebildet. Die Höhe der Soforthilfe beläuft sich hiernach auf den negativen Betrag dieser Differenz und entspricht dem so definierten Liquiditätsengpass.</p> <span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">Damit orientiert sich die Abrechnung nicht einmal ansatzweise am maßgeblichen Parameter des Umsatzausfalls.</p> <span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Einzelnen VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022, a. a. O.</p> <span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong></p> <span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Angesichts der Rechtswidrigkeit der abschließenden Festsetzung der Soforthilfe ist auch das auf analog § 49a Abs. 1 VwVfG NRW gestützte Rückzahlungsverlangen des Beklagten hinfällig.</p> <span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p> <span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Die Kostentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, § 709 der Zivilprozessordnung. Die Zulassung der Berufung beruht auf § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, weil sich in entscheidungserheblicher Weise Tatsachenfragen stellen, die bisher in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht geklärt sind, und weil sich diese Tatsachenfragen gleichermaßen in einer Vielzahl weiterer Verfahren stellen, die an allen Verwaltungsgerichten des Landes Nordrhein-Westfalen anhängig sind.</p> <span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p> <span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.</p> <span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen und muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p> <span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Die Begründung ist, wenn sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p> <span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
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2 WF 111/22
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-08T10:04:00"
"2022-10-17T11:10:57"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <div> <p>1. Auf die sofortige Beschwerde der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Obernburg a. Main vom 20.05.2022, Az. 1 F 128/21, abgeändert und die Rechtsanwältin Y aus der Staatskasse zu zahlende Verfahrenskostenhilfevergütung auf 1.339,75 Euro festgesetzt.</p> <p>2. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p>I.</p> <p><rd nr="1"/>In dem Verfahren wegen Trennungsunterhalt und rückständigem Kindesunterhalt vor dem Amtsgericht - Familiengericht - Obernburg a. Main, Az. 1 F 128/21, wurde der Antragstellerin mit Beschluss vom 16.05.2021 Verfahrenskostenhilfe ohne Zahlungsanordnung bewilligt und Rechtsanwältin Y als Verfahrensbevollmächtigte beigeordnet.</p> <p><rd nr="2"/>1. Im Termin vor dem Amtsgericht am 07.07.2021 schlossen die Beteiligten einen Vergleich, in dem sich der Antragsgegner bei Aufhebung der Verfahrenskosten zur Zahlung von monatlichem Trennungsunterhalt in Höhe von 300,00 Euro ab dem 01.08.2021 sowie zur Zahlung von nachehelichem Ehegattenunterhalt in Höhe von monatlich 300,00 Euro für die Dauer von vier Jahren ab Rechtskraft der Scheidung der Beteiligten verpflichtete. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der verfahrensbeendigenden Vereinbarung wird auf das Terminsprotokoll Bezug genommen (Bl. 113 d.A.). Mit Beschluss vom 07.07.2021 setzte das Amtsgericht den Verfahrenswert auf 12.015,00 Euro fest und stellte einen überschießenden Vergleichswert von 3.600,00 Euro fest. Mit weiterem Beschluss vom 12.07.2021 (Bl. 29 UH VKH) erstreckte das Amtsgericht die der Antragstellerin bewilligte Verfahrenskostenhilfe antragsgemäß auch auf den Vergleich der Beteiligten vom 07.07.2021.</p> <p><rd nr="3"/>2. Mit Schriftsatz vom 03.08.2021 beantragte die Antragstellervertreterin, die aus der Staatskasse zu erstattende Verfahrenskostenhilfevergütung auf insgesamt 1.339,75 Euro festzusetzen. Sie brachte dabei folgende Gebühren im Rahmen der VKH-Vergütung in Ansatz: 1,3 Verfahrensgebühr (Wert 12.015,00 Euro): 460,20 Euro</p> <p>0,8 Differenzverfahrensgebühr (Wert: 3.600,00 Euro): 222,40 Euro Kürzung nach § 15 Abs. 3 RVG: ./. 202,90 Euro</p> <p>1,2 Terminsgebühr (Wert: 15.615,00 Euro): 442,80 Euro</p> <p>1,0 Einigungsgebühr (Wert 12.015,00 Euro): 354,00 Euro</p> <p>1,5 Einigungsgebühr (Wert 3.600,00 Euro): 417,00 Euro Kürzung nach § 15 Abs. 3 RVG: ./. 217,50 Euro Fahrtkosten PKW (Nr. 7003 VV-RVG): 17,64 Euro Abwesenheitsgeld (Nr. 7005 VV-RVG): 30,00 Euro Post- und Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV-RVG): 20,00 Euro Netto gesamt: 1.543,64 Euro</p> <p>19% Umsatzsteuer (Nr. 7008 VV-RVG): 293,29 Euro erhaltene Zahlung Landesjustizkasse: ./. 497,18 Euro</p> <p>Rechnungsbetrag: 1.339,75 Euro Mit Beschluss vom 12.08.2021 setzte die zuständige Rechtspflegerin beim Amtsgericht Obernburg a. Main die aus der Staatskasse zu zahlende Verfahrenskostenhilfevergütung auf 1.120,20 Euro fest. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass bei einem Mehrvergleich die Einigungsgebühr nur aus Nr. 1003, 1000 VV-RVG mit 1,0 aus dem zusammengerechneten Verfahrenswert von 15.615 Euro anfalle und damit 369,00 Euro betrage, während eine gesonderte 1,5 Einigungsgebühr aus dem überschießenden Verfahrenswert von 3.600,00 Euro nicht anzurechnen sei.</p> <p><rd nr="4"/>3. Gegen diesen der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin am 31.08.2021 zugestellten Beschluss legte die Verfahrensbevollmächtigte mit taggleich eingegangenem Schriftsatz vom 01.09.2021 im eigenen Namen Erinnerung ein. Nach ihrer Auffassung kommt die Ermäßigung der Einigungsgebühr auf 1,0 nach Nr. 1003 VV-RVG nicht zum Tragen, wenn eine Vereinbarung im Sinne von Nr. 1000 VV-RVG im Verfahrenskostenhilfeprüfungsverfahren geschlossen werde. Dieses sei mit der gesetzlichen Neufassung von Nr. 1003 VV-RVG und dem dortigen Verweis auf einen Vertrag nach Nr. 1000 VV-RVG klargestellt worden.</p> <p><rd nr="5"/>Das Amtsgericht hat der Erinnerung der Beschwerdeführerin mit Beschluss der Rechtspflegerin vom 02.09.2021 nicht abgeholfen und die Akten zunächst unmittelbar dem Senat als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt. Mit Beschluss des Einzelrichters beim Senat vom 13.09.2021 hat dieser die Entscheidung zur Vorlage gemäß Ziffer 2 des Beschlusses vom 02.09.2021 aufgehoben und das Verfahren zur Entscheidung über die Erinnerung an das Amtsgericht Obernburg am Main zurückverwiesen, da gemäß § 56 Abs. 1 RVG das Gericht des Rechtszuges, bei dem die angegriffene Entscheidung ergangen ist, über die Erinnerung zu befinden hat.</p> <p><rd nr="6"/>Mit Beschluss vom 17.09.2021 hat die Rechtspflegerin daraufhin die Nichtabhilfeentscheidung bestätigt und das Rechtsmittel dem zuständigen Richter am Amtsgericht vorgelegt. Mit Beschluss vom 20.05.2022 hat das Amtsgericht die Erinnerung der Beschwerdeführerin gegen den Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 12.08.2021 unter Bezugnahme auf die Gründe der angegriffenen Entscheidung zurückgewiesen.</p> <p><rd nr="7"/>Gegen diesen der Beschwerdeführerin am 23.05.2022 zugestellten Beschluss legte diese mit Schriftsatz vom 23.05.2022 unter Wiederholung der Begründung der Erinnerung Beschwerde ein. Danach sei die entgegenstehende Rechtsprechung des Senats (Beschluss v. 06.07.2018, Az. 2 WF 157/18) durch die Änderung der einschlägigen vergütungsrechtlichen Vorschriften in Übereinstimmung mit neuerer obergerichtlicher Rechtsprechung überholt. Die beantragte Verfahrenskostenhilfevergütung sei auch der Höhe nach zutreffend und zu erstatten.</p> <p><rd nr="8"/>Der zuständige Einzelrichter hat die Sache gemäß § 56 Abs. 2, § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG dem Senat zur Entscheidung übertragen.</p> <p>II.</p> <p><rd nr="9"/>Die Beschwerde der Beschwerdeführerin ist zulässig, insbesondere ist sie gemäß § 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG innerhalb der 2-Wochenfrist eingelegt worden. Der Beschwerdewert gemäß §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 Satz 1 RVG von mehr als 200,00 Euro ist erreicht, da die Beschwerdeführerin weiterhin eine Festsetzung der Vergütung in Höhe von 1.339,75 Euro begehrt, das Amtsgericht aber lediglich eine Vergütung in Höhe von 1.120,20 Euro festgesetzt hat.</p> <p><rd nr="10"/>1. Im hier vorliegenden Beschwerdeverfahren ist allein streitig, ob für die Mitwirkung am Abschluss des Mehrvergleichs eine 1,5-fache Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV-RVG entsteht, oder ob sich diese nach Nr. 1003 VV-RVG auf eine einfache Einigungsgebühr reduziert.</p> <p><rd nr="11"/>Grundsätzlich beträgt die Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV-RVG 1,5. Nach Nr. 1003 VV-RVG beträgt diese Gebühr allerdings nur 1,0, wenn über den Gegenstand ein anderes gerichtliches Verfahren als ein selbständiges Beweisverfahren anhängig ist. Dies gilt nach Abs. 1 auch dann, wenn ein Verfahren über die Prozesskostenhilfe (hier: Verfahrenskostenhilfe) anhängig ist. Dieses war vorliegend mit dem Antrag der Antragstellerin im Termin vom 07.07.2021 auf Erstreckung der Verfahrenskostenhilfe auf den im Termin abzuschließenden Vergleich, der auch die Vereinbarung zum nicht verfahrensgegenständlichen nachehelichen Unterhalt umfassen sollte, der Fall.</p> <p><rd nr="12"/>Hiermit wurde jedoch die Rückausnahme nach der Anmerkung Abs. 1, Satz 1, 2. Hs. zu Nr. 1003 VV-RVG eröffnet, nach der es unter anderem dann bei der 1,5 Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV-RVG verbleibt, wenn sich die Beiordnung auf den Abschluss eines Vertrages im Sinne der Nummer 1000 VV-RVG erstreckt (§ 48 Abs. 1 und Abs. 3 RVG). Soweit der Senat auf Grundlage der vor dem 01.01.2021 geltenden Fassung von Nr. 1003 Abs. 1 VV-RVG sowie § 48 Abs. 1 RVG die gegenteilige Auffassung vertreten hat (Beschluss v. 06.07.2018, Az. 2 WF 157/18), hält er daran nicht mehr fest.</p> <p><rd nr="13"/>2. In der vor dem 01.01.2021 geltenden Fassung der Anmerkung zu Nr. 1003 VV-RVG wurde der Nichteintritt der Gebührenreduktion für den (einzigen gesetzlichen) Fall einer Erstreckung der Prozesskostenhilfe kraft Gesetzes nach § 48 Abs. 3 RVG bestimmt. Mit der Regelung sollte vermieden werden, dass sich die Protokollierung eines oft nur schwer zu erreichenden umfassenden Scheidungsvergleichs, den § 48 Abs. 3 RVG mit der Erstreckung der Beiordnung für die Ehesache auf die Einigung über die dort aufgeführten Scheidungsfolgesachen fördern will, zum Nachteil des beigeordneten Rechtsanwalts durch Herabsetzung des Gebührensatzes von 1,5 auf 1,0 auswirkt (vgl. Mayer-Kroiß/Mayer, RVG, 8. Aufl., RVG VV 1003 Rn. 12).</p> <p><rd nr="14"/>Durch das KostRÄG vom 21.12.2020 wurde die Nichtherabsetzung des Gebührensatzes in der Anmerkung Abs. 1, Satz 1, 2. Hs. zu Nr. 1003 VV-RVG auf die Fälle der Erstreckung der Beiordnung nach § 48 Abs. 1 RVG ausgeweitet. Dieses erfolgte in ausdrücklicher kritischer Auseinandersetzung mit der von Teilen der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, dass im Umkehrschluss aus der ausdrücklichen gesetzlichen Erstreckung in Ehesachen nach § 48 Abs. 3 RVG in anderen Fällen des Mehrvergleichs in selbständigen Familienstreitsachen ein Gleichlauf des Gebührenanspruchs des beigeordneten mit demjenigen des nicht im Rahmen einer Beiordnung im Verfahren tätigen Rechtsanwalts gesetzlich nicht bestimmt sei (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs zum KostRÄG 2021, BT-Drs. 19/23484, S. 78). Die gesetzliche Neuregelung von § 48 Abs. 1 RVG sowie der Anmerkung zu Nr. 1003 VV-RVG beruhte demgegenüber auf der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss v. 17.01.2018, Az. XII ZB 248/16 -, BGHZ 217, 206-218), nach der der unbemittelte Verfahrensbeteiligte in einer selbständigen Familiensache einen Anspruch auf Erstreckung der Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten auf sämtliche im Zusammenhang mit einem Mehrvergleich ausgelöste Gebühren hat. In der Begründung des Gesetzesentwurfs wird hierzu ausgeführt:</p> <p>„Im vorgeschlagenen § 48 Absatz 1 Satz 2 RVG wird nunmehr allgemein für alle Verfahrensarten bestimmt, dass der Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse im Falle der Erstreckung der Beiordnung auf den Abschluss eines Vergleichs alle gesetzlichen Gebühren und Auslagen umfasst, die durch die Tätigkeiten entstehen, die zur Herbeiführung der Einigung erforderlich sind. Dies soll auch dann gelten, wenn sich die Beiordnung oder die Bewilligung der Prozesskostenhilfe auf den Abschluss eines Vergleichs beschränkt. Durch die Regelung ist gewährleistet, dass dies auch gilt, wenn die Bewilligung oder Beiordnung in einem PKH-Bewilligungsverfahren erfolgt.“</p> <p><rd nr="15"/>§ 48 Abs. 1 Satz 2 RVG umfasst demnach über den in § 48 Abs. 3 RVG geregelten Fall der gesetzlichen Erstreckung der Beiordnung auf bestimmte Folgesachen im Rahmen eines Scheidungsverbundverfahrens hinaus sämtliche Fälle der gerichtlichen Erstreckung der Beiordnung für die Mitwirkung am Abschluss von Verträgen nach Nr. 1000 VV-RVG. Nach der Neufassung der Anmerkung Abs. 1 Satz 1 2. Hs. zu Nr. 1003 VV-RVG gilt die Absenkung der Einigungsgebühr auf 1,0 nicht, soweit sich die Beiordnung gemäß § 48 Abs. 1 RVG auf den Abschluss eines Vertrags im Sinne der Nr. 1000 VV-RVG erstreckt.</p> <p><rd nr="16"/>3. Soweit dem in der Rechtsprechung teilweise entgegengehalten wird, dass sich aus der Neufassung von § 48 Abs. 1 RVG durch das KostRÄG 2021 nichts für die konkrete Höhe der Einigungsgebühr ergebe und es diesbezüglich weiterhin bei der Bestimmung der Nr. 1003 VV-RVG verbleibe, ist dieses zwar dem Grunde nach zutreffend (vgl. BeckOK-RVG/Sefrin, 57. Edition Stand 01.09.2022, Nr. 1003 VV-RVG Rn. 11), führt jedoch nach dem eindeutigen Wortlaut der Anmerkung Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 zu Nr. 1003 VV-RVG zu keinem anderen Ergebnis (entgegen LAG München, Beschluss v. 14.03.2022, Az. 6 Ta 8/22; Beschluss v. 23.03.2022, Az. 6 TA 275/21). Bereits die nach § 48 Abs. 1 Satz 2 RVG erfolgende gerichtliche Erstreckung der Beiordnung auf den Abschluss eines Mehrvergleichs als Vertrag im Sinne von Nr. 1000 VV-RVG führt zur Nichtanwendbarkeit der Ermäßigung nach Nr. 1003 VV-RVG, so dass es bei der 1,5 Gebühr nach Nr. 1000 VV-RVG verbleibt (so auch LAG Nürnberg, Beschluss v. 26.07.2021, Az 3 Ta 68/21; Mayer/Kroiß-Mayer, a.a.O., Nr. 1003 VV-RVG Rn. 12a).</p> <p><rd nr="17"/>4. Da somit bereits aufgrund der Erstreckung der Beiordnung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 RVG die 1,5 Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV-RVG verwirklicht ist, kann dahingestellt bleiben, ob auch ein Fall der Rückausnahme in Anmerkung Abs. 1, Satz 1, Hs. 2 zu Nr. 1003 VV-RVG „soweit nicht lediglich Prozesskostenhilfe für (…) die gerichtliche Protokollierung des Vergleichs beantragt wird“ einschlägig ist.</p> <p><rd nr="18"/>5. Die auf den Antrag der Beschwerdeführerin gemäß § 55 Abs. 1 RVG festzusetzende Vergütung beträgt 1.339,75 Euro. Hinsichtlich der Einzelheiten wird zunächst auf die beanstandungsfreie Berechnung im Festsetzungsantrag vom 03.08.2021 Bezug genommen (Bl. 32 UH VKH). Soweit die Rechtspflegerin insgesamt für einen Gesamtverfahrenswert einschließlich Vergleichsmehrwert von 15.615,00 Euro lediglich eine 1,0 Einigungsgebühr in Höhe von 369,00 Euro (vgl. § 49 RVG) angesetzt hat, ist dieses unzutreffend. Vielmehr ist neben der 1,0 Einigungsgebühr aus dem gegenständlichen Verfahrenswert von 12.015,00 Euro (354,00 Euro) noch eine 1,5 Einigungsgebühr aus dem Vergleichsmehrwert (nachehelicher Unterhalt) von 3.600,00 Euro anzusetzen (417,00 Euro). Abzüglich des Begrenzungsbetrags gemäß § 15 Abs. 3 RVG von 217,50 Euro [12.015 Euro x 1,0 (354 Euro) + 3.600 Euro x 1,5 (417 Euro) ./. 5615 Euro x 1,5 (553,5 Euro) ] ergibt sich danach zzgl. Umsatzsteuer eine über die mit Beschluss vom 12.08.2021 festgesetzte Vergütung von 1.120,20 Euro hinausgehende weitere Vergütung von 219,55 Euro.</p> <p><rd nr="19"/>6. Eine Kostenentscheidung ist gemäß § 56 Abs. 2 und Abs. 3 RVG nicht veranlasst.</p> <p><rd nr="20"/>7. Eine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof findet nicht statt, § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 3 und Abs. 4 Satz 1 und 3 RVG.</p> </div>
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lsgbw-2022-09-23-l-4-kr-376320
{ "id": 128, "name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg", "slug": "lsgbw", "city": null, "state": 3, "jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
L 4 KR 3763/20
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-08T10:03:50"
"2022-10-17T11:10:57"
Urteil
<h2>Tenor</h2> <blockquote><blockquote><p><strong>Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 22. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.</strong></p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p><strong>Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.</strong></p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p><strong>Der Streitwert wird für das Verfahren erster Instanz sowie für das Berufungsverfahren auf 5.000 EUR endgültig festgesetzt.</strong></p></blockquote></blockquote> <h2>Tatbestand</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Klägerin wendet sich als Arbeitgeberin gegen die Rücknahme einer Befreiung von der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung, die ihrem beigeladenen Arbeitnehmer von der beklagten Krankenkasse erteilt worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Klägerin betreibt in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) ein Autohaus. Der 1962 geborene Beigeladene zu 2 ist bei ihr als Kfz-Meister beschäftigt. Sein Arbeitsentgelt überschritt in den Jahren 2002 bis 2014 die jeweils gültige Jahresarbeitsentgeltgrenze. Er ist seither bei der A AG privat krankenversichert. Mit dem monatlichen Gehalt zahlte die Klägerin ihm jeweils einen „freiwilligen Arbeitgeberanteil“ zur Kranken- und Pflegeversicherung aus. Im Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis zum 31. Dezember 2017 erhielt der Beigeladene zu 2 von der Klägerin ein jährliches Bruttoentgelt in Höhe von 48.809,20 EUR.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 16. Januar 2018 führte der beigeladene Rentenversicherungsträger (Beigeladene zu 1) bei der Klägerin eine Betriebsprüfung durch. Dabei stellte er fest, dass der Beigeladene zu 2 ab dem 1. Januar 2015 infolge Unterschreitens der besonderen Jahresarbeitsentgeltgrenze (§ 6 Abs. 7 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB V –) in der Kranken- und Pflegeversicherung versicherungspflichtig geworden sei. Mit Schreiben vom 22. Februar 2018 hörte er die Klägerin deshalb zu einer Nachforderung zur Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 26.674,12 EUR für die Kalenderjahre 2015 bis 2017 an. Dabei führte er u.a. aus, im Rahmen der Betriebsprüfung habe keine Befreiung von der Krankenversicherung vorgelegt werden können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Daraufhin beantragte der Beigeladene zu 2 bei der Beklagten die Befreiung von der Versicherungspflicht rückwirkend ab dem 1. Januar 2015. Er wies darauf hin, dass er den Antrag erst jetzt stellen könne, da erst im Rahmen der durchgeführten Betriebsprüfung festgestellt worden sei, dass er seit dem 1. Januar 2015 versicherungspflichtig geworden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit an ihn und die Klägerin gerichteten Bescheiden vom 9. März 2018 befreite die Beklagte den Beigeladenen zu 2 ab dem 1. Januar 2015 von der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Klägerin legte den Befreiungsbescheid der Beigeladenen zu 1 im Rahmen der Anhörung zum Erlass des Prüfbescheides vor. Mit Schreiben vom 26. März 2018 machte diese die Beklagte darauf aufmerksam, dass die Betriebsprüfung noch nicht abgeschlossen und der Befreiungsantrag zudem auch nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von drei Monaten nach Beginn der Krankenversicherungspflicht gestellt worden sei, und forderte sie auf, den Bescheid vom 9. März 2018 deshalb nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) mit Wirkung ab dem 1. Januar 2015 zurückzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit wiederum an die Klägerin und den Beigeladenen zu 2 gerichtetem Bescheid vom 28. März 2018 nahm die Beklagte daraufhin den Bescheid vom 9. März 2018 zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Entscheidung über Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit obliege nicht mehr der Einzugsstelle, wenn durch den Träger der Rentenversicherung ein Betriebsprüfungsverfahren nach § 28p Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) bereits eingeleitet worden sei. Der Bescheid, dem die Beklagte eine Kopie des Schreibens der Beigeladenen zu 1 vom 26. März 2018 beifügte, enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Beigeladene zu 1 erließ in der Folge den angekündigten Prüfbescheid (Bescheid vom 8. Mai 2018), gegen den die Klägerin Widerspruch einlegte. Auf Antrag der Klägerin setzte die Beigeladene zu 1 den Vollzug der nacherhobenen Beitragsforderung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens aus (Bescheid vom 21. Juni 2018). In der Folge wurde das Widerspruchsverfahren ruhend gestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Am 23. Mai 2018 beantragte die Klägerin vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten bei der Beklagten die Überprüfung des Bescheids vom 28. März 2018 nach § 44 SGB X. Zur Begründung trug sie vor, der Bescheid sei rechtswidrig, weil er an sie adressiert worden sei, es aber tatsächlich um die Frage gehe, ob der Beigeladene zu 2 von der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung befreit worden sei. Außerdem nenne der Bescheid keine Rechtsgrundlage. Allein der Hinweis auf das eingeleitete Betriebsprüfungsverfahren mache die Befreiungsentscheidung auch nicht rechtswidrig. Sie (die Klägerin) sei im Übrigen durch den Befreiungsbescheid nicht begünstigt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Mit an den Beigeladenen zu 2 und die Klägerin gerichteten Bescheiden vom 24. Mai 2018 nahm die Beklagte den Bescheid vom 9. März 2018 daraufhin nochmals zurück, dieses Mal unter ausdrücklicher Nennung von § 45 SGB X als Rechtsgrundlage. Mit Schreiben vom selben Tag nahm sie zu dem Überprüfungsantrag der Klägerin Stellung und führte aus, sie könne die Rechtswidrigkeit der Bescheidrücknahme nicht erkennen. Die ursprünglichen Bescheide vom 8. März 2018 seien sowohl an die Klägerin als auch an den Beigeladenen zu 2 gegangen, sodass folgerichtig auch die Rücknahme der Bescheide an beide Adressaten erfolgt sei. Die Rücknahme beruhe auf § 45 SGB X. Der rechtswidrige Befreiungsbescheid vom 8. März 2018 stelle nicht nur gegenüber dem Beigeladenen zu 2, sondern auch gegenüber der Klägerin einen begünstigenden Verwaltungsakt dar. Sofern der Bescheid bestandskräftig bleibe, könne mit ihm gegenüber der Beigeladenen zu 1 der Nachweis über die Befreiung von der Versicherungspflicht erbracht werden und es entfalle dadurch ggf. die Nachberechnung der Beiträge für den Beigeladenen zu 2. Da in den Rücknahmebescheiden ein ausdrücklicher Hinweis auf die Rechtsgrundlage gefehlt habe, sei die Bescheidrücknahme nun gegenüber den ursprünglichen Adressaten erneut ergangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Gegen die „beiden Bescheide“ vom 24. Mai 2018 legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in deren Namen und im Namen des Beigeladenen zu 2 Widerspruch ein und führte aus, die Begründung der Beklagten für die Rücknahme der Befreiung sei nicht stichhaltig, insbesondere eine Begünstigung nicht zu erkennen. Denn sowohl die Klägerin als auch der Beigeladene zu 2 hätten Beiträge zu einer privaten Kranken- und Pflegeversicherung bezahlt und es sei völlig ungewiss, ob die private Versicherung eine Rückgewähr leisten werde. Deshalb bestehe für die Klägerin und den Beigeladenen zu 2 die Gefahr, dass sie rückwirkend belastet würden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>In der Folge meldete die Klägerin den Beigeladenen zu 2 im Wege der Datenübermittlung zum 1. Juli 2018 zur Gesetzlichen Krankenversicherung an. Entsprechend beantragte auch der Beigeladene zu 2 mit Schreiben vom 22. August 2018 bei der Beklagten die Aufnahme in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung zu diesem Datum. Den Antrag begründete er damit, dass er in diesem Jahr die gesetzliche Beitragsbemessungsgrenze nicht erreichen werde. Mit ihrem Antwortschreiben vom 6. September 2018 wies die Beklagte den Beigeladenen zu 2 darauf hin, dass eine Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung mit Wirkung zum 1. Juli 2018 aufgrund seines Lebensalters nicht möglich sei, da er zu diesem Zeitpunkt bereits das 55. Lebensjahr überschritten habe. Sie kündigte an, das Schreiben als Ergänzung zum laufenden Widerspruchsverfahren der Widerspruchsstelle vorzulegen. Mit weiterem Schreiben vom 6. September 2018 forderte sie die Klägerin zu einer Korrektur der Meldung auf.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 2018, der auch im Namen der bei der Beklagten errichteten Pflegekasse erging, wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 24. Mai 2018 zurück. Zur Begründung führte er aus, der Widerspruch richte sich gegen die Aufhebung des rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes durch den Bescheid vom 24. Mai 2018. Der Rücknahmebescheid sei rechtmäßig. Damit der Gesamtsozialversicherungsbeitrag ordnungsgemäß erhoben werden könne, bedürfe es der vorherigen Entscheidung über die Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Diese Entscheidung treffe in der Regel die Krankenkasse als Einzugsstelle. Sie entscheide jedoch dann nicht, wenn bereits ein Betriebsprüfungsverfahren durch den Träger der Rentenversicherung eingeleitet worden sei. Das Betriebsprüfungsverfahren und das Verwaltungsverfahren der Beigeladenen zu 1 hinsichtlich der zu beurteilenden Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 2 seien zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung vom 9. März 2018 noch nicht abgeschlossen gewesen, weshalb die Befreiung von der Versicherungspflicht rechtswidrig gewesen sei. Da die rechtswidrige Entscheidung sowohl für die Klägerin als auch für den Beigeladenen zu 2 einen begünstigenden Charakter gehabt habe, seien für die Rücknahmen die Regelungen des § 45 SGB X zu beachten. Bei der Prüfung der Rücknahme bedürfe es einer Abwägung der Interessen der Klägerin mit den Interessen der Solidargemeinschaft. Das Vertrauen der Klägerin sei nicht schutzwürdig. Denn die Klägerin sei durch die Anhörung vom 22. Februar 2018 über die beabsichtigte Entscheidung der Beigeladenen zu 1 zur Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 2 informiert worden und habe zum Zeitpunkt der Befreiungsentscheidung am 9. März 2018 somit bereits Kenntnis von der Sach- und Rechtslage gehabt. Das Interesse der Solidargemeinschaft an einer rechtmäßigen Durchführung der Prüfung des Versicherungsstatus des Beigeladenen zu 2 durch die Beigeladene zu 1 überwiege somit das Interesse der Klägerin am Bestand der rechtswidrigen Entscheidung. Die Entscheidung zur Rücknahme sei aufgrund der durchgeführten Interessenabwägung nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Am 21. November 2018 erhob die Klägerin hiergegen beim Sozialgericht Heilbronn (SG) Klage, mit der sie zunächst die Aufhebung des Bescheids vom 24. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Oktober 2018 begehrte. Nach einem richterlichen Hinweis des SG erweiterte sie mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 12. Oktober 2020 den Klageantrag um die Anfechtung auch des Bescheides vom 28. März 2018 und beantragte schließlich zuletzt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Oktober 2018 zu verpflichten, deren Bescheid vom 28. März 2018 zurückzunehmen. Zur Begründung der Klage machte sie geltend, die Bescheide vom 24. Mai 2018 seien rechtswidrig, da sie gegen das Wiederholungsverbot verstießen. Dieses gelte auch im Verwaltungsrecht als Grundsatz. Danach sei eine neue Entscheidung in einer Sache, die bereits unanfechtbar und unwiderruflich geregelt worden sei, inhaltlich rechtswidrig. Über die Rücknahme der Befreiung von der Versicherungspflicht habe die Beklagte bereits mit dem Bescheid vom 28. März 2018 entschieden, der unanfechtbar und unwiderrufbar geworden sei. Deshalb habe sie seine Rücknahme gemäß § 44 SGB X beantragt. Die Befreiung von der Versicherungspflicht sei für sie auch nicht begünstigend, da sie für den Beigeladenen zu 2 stets schon freiwillig Arbeitgeberbeiträge zur Pflege- und Krankenversicherung entrichtet habe. Im Übrigen führten die Hinweise des GKV-Spitzenverbandes zur Handhabung solcher Fallkonstellationen (Bezugnahme auf die Grundsätzlichen Hinweise zur Versicherungsfreiheit von Arbeitnehmern bei Überschreiten der Jahresarbeitsgrenze vom 22. März 2017) zu einer Benachteiligung von privat Krankenversicherten wie dem Beigeladenen zu 2. Denn danach werde zwar bei freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Arbeitnehmern, deren freiwillige Mitgliedschaft durch den Eintritt der Versicherungspflicht ende, aus verwaltungspraktischen Erwägungen das Versicherungsverhältnis nur zukunftsorientiert und im Rahmen von Betriebsprüfungen aufgrund von Absprachen mit den Rentenversicherungsträgern erst mit Beginn des Monats, der dem Datum des Prüfbescheids folge, umgestellt. Dies solle aber nicht gelten, wenn während der Versicherungsfreiheit - wie vorliegend - eine private Krankenversicherung bestanden habe. In diesem Fall ende die Versicherungsfreiheit mit dem Unterschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze und zwar auch dann, wenn dieses z.B. im Rahmen von Betriebsprüfungen erst nachträglich festgestellt werde. Darin liege eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und eine Belastung des Versicherten, da die private Krankenversicherung für Zeiten, in denen sie Leistungen erbracht habe, Beiträge nicht zurückerstatte. Damit entstehe letztlich eine Doppelversicherung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid entgegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Das SG lud mit Beschluss vom 21. September 2020 den Rentenversicherungsträger, der die Betriebsprüfung bei der Klägerin durchgeführt hat (Beigeladene zu 1), sowie den betroffenen Arbeitnehmer der Klägerin (Beigeladener zu 2) zum Verfahren bei. Die Beigeladenen stellten keinen Antrag und äußerten sich auch nicht zur Sache.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Mit Urteil vom 22. Oktober 2020 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Beklagte habe mit dem Bescheid vom 24. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Oktober 2018 zu Recht abgelehnt, den Bescheid vom 28. März 2018 nach § 44 SGB X aufzuheben. Für das Vorliegen eines unrichtigen Sachverhalts lägen keine Anhaltspunkte vor. Darüber hinaus habe die Beklagte beim Erlass des Rücknahmebescheides rechtmäßig gehandelt. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme hätten gemäß § 45 SGB X vorgelegen. Der Bescheid vom 9. März 2018, mit dem der Beigeladene zu 2 von der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung vom 1. Januar 2015 bis einschließlich 31. Dezember 2017 befreit worden sei, sei sowohl für diesen als auch für die Klägerin ein begünstigender Verwaltungsakt gewesen. Zwar habe er sich unmittelbar an den Beigeladenen zu 2 gerichtet, habe aber aufgrund seiner Folgewirkung im Hinblick auf die nachzuentrichtenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge auch für die Klägerin einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet. Der Bescheid sei offensichtlich rechtswidrig gewesen, da die Beklagte für die Entscheidung über die Versicherungspflicht sachlich nicht zuständig gewesen sei. Denn die Entscheidungsbefugnis der Einzugsstelle über die Versicherungspflicht und die Beitragshöhe bestehe nicht, solange die Rentenversicherung eine Betriebsprüfung durchführe. Die Klägerin habe sich hier auch nicht auf Vertrauensschutz berufen können. Die Befreiung sei einerseits noch nicht bestandkräftig gewesen. Andererseits habe die Klägerin nicht dargelegt, welche Vermögensdispositionen sie aufgrund des Befreiungsbescheids getroffen habe, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen könne. Die Beklagte habe auch das eingeräumte Rücknahmeermessen pflichtgemäß ausgeübt und sich bei Überwiegen des Interesses der Versichertengemeinschaft an einer ordnungsgemäßen Verbeitragung zu einer Rücknahme des fehlerhaften Bescheides entschlossen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 28. Oktober 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26. November 2020 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Zur Begründung trägt sie über das erstinstanzliche Vorbringen hinaus vor, der Beigeladene zu 2 wolle weiterhin privat krankenversichert bleiben. Er führe seine private Krankenversicherung auch fort. Er sei von der Beklagten nicht aufgenommen worden. Die Rücknahme der Befreiung von der Kranken- und Pflegeversicherung bedeute für sie eine erhebliche Belastung. Denn sie habe dem Beigeladenen zu 2 im streitigen Zeitraum freiwillig Beitragsanteile zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt und werde jetzt nochmals für denselben Zeitraum mit einer Nachforderung der Beklagten konfrontiert. Dabei erfolge die Nachforderung für einen Zeitraum, in welchem die Beklagte keine Leistungen erbracht habe und dem Beigeladenen zu 2 auch keinen Versicherungsschutz geboten habe. Als Nachweise hat die Klägerin Gehaltsabrechnungen des Beigeladenen zu 2 von Januar bis April 2019 vorgelegt; insoweit wird auf Bl. 87 bis 90 der Senatsakte Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>den Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Oktober 2018 aufzuheben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="23"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt und auch nicht zur Sache Stellung genommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Der frühere Berichterstatter hat am 11. Mai 2021 einen Erörterungstermin durchgeführt und die Beteiligten angehört (wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 11. Mai 2021 verwiesen, Bl. 82 f. der Senatsakte).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verfahrensakten beider Instanzen sowie auf die beigezogene Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen zu 1 verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table> <h2>Entscheidungsgründe</h2> <table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>1. Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie bedurfte nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG; denn die Klage betrifft weder eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung bzw. einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt noch eine Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>2. Streitgegenstand des Verfahrens ist die Rücknahme der Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung, welche die Beklagte dem Beigeladenen zu 2 mit Bescheid vom 9. März 2018 für die Zeit ab dem 1. Januar 2015 erteilt hat. Streitbefangen ist insoweit der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Oktober 2018 (§ 95 SGG). Der vorausgegangene Rücknahmebescheid vom 28. März 2018 ist hingegen nicht (mehr) Verfahrensgegenstand. Bei verständiger Würdigung (§ 123 SGG) macht die Klägerin im vorliegenden Verfahren keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 28. März 2018 im Wege der Überprüfung nach § 44 SGB X geltend (vgl. zur Rechtsnatur als subjektives Recht zuletzt: BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 12 R 2/20 R – juris, Rn. 19 m.w.N.). Denn der Rechtstreit betrifft entgegen der Auffassung des SG weder der Sache noch dem Inhalt der angefochtenen Bescheide nach ein solches Überprüfungsverfahren. So hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 24. Mai 2018, wie sie auch im Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 2018 klargestellt hat, keine Entscheidung im Zugunstenverfahren bzw. über den Überprüfungsantrag der Klägerin vom 23. Mai 2018 getroffen. Vielmehr nahm sie den Befreiungsbescheid vom 9. März 2018 nochmals – nunmehr unter ausdrücklicher Angabe der Rechtsgrundlage – zurück. Nach ihrem erkennbaren Reglungswillen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –) überprüfte bzw. wiederholte oder ergänzte sie dadurch nicht bloß den bereits ergangenen Rücknahmebescheid vom 28. März 2018, sondern traf die Rücknahmeentscheidung nach nochmaliger Sachprüfung erneut. Diese Regelungsabsicht ergibt sich vor allem aus ihrem an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin versandten Begleitschreiben vom 24. Mai 2018, in dem sich die Beklagte mit den Einwänden der Klägerin gegen den Bescheid im Einzelnen auseinandersetzte und explizit erklärte, dass die Bescheidrücknahme nun gegenüber den ursprünglichen Adressaten erneut ergehe, weil in den früheren Rücknahmebescheiden ein Hinweis auf die Rechtsgrundlage gefehlt habe. Die Beklagte wollte somit erklärtermaßen gegenüber der Klägerin und dem Beigeladenen zu 2 eine neue Rücknahmeentscheidung erlassen. Eine bloße Wiederholung des Verfügungssatzes des früheren Rücknahmebescheids, welcher der Regelungscharakter eines Verwaltungsaktes (§ 31 SGB X) selbst dann fehlt, wenn mit dem weiteren „Bescheid“ eine bisher fehlende Begründung nachgeholt wird (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 1991 – 1 RR 2/89 – juris, Rn. 14; Engelmann, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 31 Rn. 58), lag damit nicht vor. Ein Ergänzungsbescheid schied ebenfalls aus, weil es sich bei der Benennung der Rechtsgrundlage um ein bloßes Begründungselement des Verwaltungsakts handelt (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 11 AL 19/09 R – juris, Rn. 21) und der Verfügungssatz des ursprünglichen Rücknahmebescheides vom 28. März 2018 somit bereits vollständig und nicht ergänzungsbedürftig war.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Der (erneute) Rücknahmebescheid vom 24. Mai 2018 ging auch nicht deshalb ins Leere, weil der Bescheid vom 9. März 2018 bereits durch den Bescheid vom 28. März 2018 aufgehoben worden war. Denn der Bescheid vom 9. März 2018 hatte sich dadurch nicht nach § 39 Abs. 2 SGB X erledigt (vgl. zu dem Grundsatz, dass erledigte Verwaltungsakte, die ihre Wirksamkeit verloren haben, nicht aufgehoben werden können: Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 8. Juli 2019 – 19 K 376.17 – juris, Rn. 43 m.w.N.). Dies folgt daraus, dass der Rücknahmebescheid vom 28. März 2018 nicht bestandskräftig wurde (§ 77 SGG). Zwar hat die Klägerin nicht innerhalb eines Monats (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG) Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. März 2018 erhoben. Allerdings lief hier eine einjährige Widerspruchsfrist (§ 84 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG), da der Bescheid vom 28. März 2018 keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt. Der Antrag bzw. die Anregung der Klägerin vom 23. Mai 2018 auf Überprüfung des Bescheids 28. März 2018 war danach - bei verständiger Würdigung (§ 123 SGG) - als fristgerechter Widerspruch gegen den noch nicht bestandskräftigen Bescheid vom 28. März 2018 zu werten. Im Ergebnis hat dies die Beklagte auch getan, da sie - wie bereits dargelegt - keine Überprüfungsentscheidung nach § 44 SGB X getroffen, sondern vielmehr in der Sache erneut entschieden hat. Die erste Aufhebungsentscheidung vom 28. März 2018 wurde im Widerspruchsverfahren durch den neuen Rücknahmebescheid der Beklagten vom 24. Mai 2018 unter diesen Umständen vollumfänglich ersetzt und verlor so mit Erlass dieses Bescheides gemäß § 39 Abs. 2 SGB X ihre Wirksamkeit.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Dass die Klägerin ihre Klage auf Hinweis des SG später um einen Verpflichtungsantrag erweitert und dass das SG im angefochtenen Urteil das eigentliche Klagebegehren und den Inhalt der angefochtenen Regelung falsch interpretiert hat, hat für das weitere Verfahren keine Bedeutung. Denn in einem solchen Fall muss das LSG als Berufungsgericht den geltend gemachten Anspruch selbst ermitteln und über diesen im Berufungsverfahren entscheiden (BSG, Beschluss vom 2. April 2014 – B 3 KR 3/14 B – juris, Rn. 8 ff.; Senatsurteil vom 10. Dezember 2021 – L 4 KR 3344/17 – www.sozialgerichtsbarkeit.de). Ein Fall der Klageänderung in der Berufungsinstanz liegt nicht vor. Der Senat hat vielmehr über die von der Klägerin erhobenen Ansprüche ohne Bindung an die Fassung der Anträge zu entscheiden und den Streitfall dabei im gleichen Umfang wie das SG zu prüfen (§ 123, § 157 Satz 1 SGG).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>3. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>a) Die isolierte Anfechtungsklage der Klägerin ist zwar zulässig. Insbesondere ist die Klägerin im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG klagebefugt. Denn für die Klagebefugnis genügt bereits die Möglichkeit der Verletzung eigener Rechte (sog. formelle Beschwer; vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. November 2015 – L 11 R 1901/14 – juris, Rn. 20; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rn. 9 m.w.N.). Daran fehlt es nur, wenn dem Kläger das geltend gemachte Recht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zustehen kann (vgl. BSG, Urteil vom 11. Mai 1999 – B 11 AL 45/98 R – juris, Rn. 25; LSG Hessen, Urteil vom 14. April 2014 – L 1 KR 432/12 – juris, Rn. 20; Böttiger, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 54 Rn. 48; Groß, in: Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 54 Rn. 11). Eine Beschwer in diesem Sinne ist hingegen regelmäßig anzunehmen, wenn sich der Kläger als Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes, der ein Recht entzieht, gegen diesen mit der Anfechtungsklage wendet (LSG Hessen, a.a.O.; Keller, a.a.O., Rn. 10; Bieresborn, in: Roos/Wahrendorf/Müller, beck-online Großkommentar, Stand: August 2022, § 54 Rn. 110). Nach diesen Grundsätzen war die Klägerin berechtigt, die angefochtenen Bescheide gerichtlich anzufechten. Da mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 24. Mai 2018, der (auch) an sie adressiert und zugestellt wurde, ein ebenfalls (auch) ihr bekanntgegebener Befreiungsbescheid zurückgenommen wurde, lässt sich die von der Klägerin behauptete Verletzung eigener Rechte jedenfalls nicht von vornherein eindeutig ausschließen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>b) Die Klage ist jedoch nicht begründet. Denn die Klägerin wird durch den angefochtenen Bescheid tatsächlich nicht in eigenen Rechten verletzt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes aufgrund einer Anfechtungsklage setzt voraus, dass der Kläger durch diesen in subjektiven Rechten verletzt und damit auch materiell beschwert ist (vgl. Keller, a.a.O., Rn. 9; Bieresborn, a.a.O. Rn. 131). Dies ist nur der Fall, wenn die Rechtsphäre des Klägers durch den erlassenen Verwaltungsakt betroffen ist (Groß, a.a.O., Rn. 17). Wird mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt, der einer anderen Person erteilt wurde oder allein diese betrifft, hat die Anfechtungsklage deshalb selbst im Falle objektiver Rechtswidrigkeit des Bescheides nur dann Erfolg, wenn die angefochtene Verwaltungsentscheidung auch in eigene rechtlich geschützte Interessen des Klägers eingreift (BSG, Urteil vom 6. Februar 1992 – 12 RK 15/90 – juris, Rn 13; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. November 2015 – L 11 R 1901/14 – juris, Rn. 37 m.w.N.). Wann dies der Fall ist, lässt sich nicht generell beantworten, sondern richtet sich nach dem jeweiligen Rechtsgebiet. Dabei ist maßgebend, ob der angefochtene Verwaltungsakt gegen eine Rechtsnorm verstößt, die zumindest auch den Schutz individueller Interessen des Klägers bezweckt, m.a.W. die geltend gemachten rechtlichen Interessen vom Schutzzweck der dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Norm erfasst werden (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2001 – B 11 AL 57/01 R – juris, Rn. 20; BSG, Urteil vom 6. Februar 1992, a.a.O.; BSG, Urteil vom 18. März 1999 – 12 RK 15/90 – juris, Rn 12; BSG, Urteil vom 10. Mai 2000 – B 6 KA 20/99 R – juris, Rn. 26). Nicht ausreichend ist eine bloße Reflexwirkung in dem Sinne, dass sich aus einer im Interesse der Allgemeinheit oder eines bestimmten Personenkreises erlassenen Norm zugleich auch eine Begünstigung des Klägers als Dritter ergibt (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2001 – a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. November 2015 – a.a.O.). Ebenso wenig genügt eine Beeinträchtigung rein finanzieller, wirtschaftlicher, ideeller oder sonstiger berechtigter Interessen oder eine bloße Drittbindung infolge der Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes (BSG Urteil vom 6. Februar 1992 – a.a.O.; Bieresborn, a.a.O., Rn. 114 m.w.N.). Danach beeinträchtigen insbesondere sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen Dritte grundsätzlich nicht in deren rechtlichen Interessen, wenn es sich um persönliche Rechte des Statusinhabers handelt, über die der Dritte nicht disponieren kann (Bieresborn, a.a.O., Rn. 114; Böttiger, a.a.O., Rn. 55). Bloße aus der Statusentscheidung resultierende, mit Kosten verbundene Folgewirkungen reichen in derartigen Fällen für die Annahme einer materiellen Beschwer nicht aus (BSG, Urteil vom 24. März 2016 – B 12 KR 5/14 R – juris, Rn 21; BSG, Urteil vom 24. März 2016 – B 12 KR 6/14 R – juris, Rn 20).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist eine rechtliche Beschwer der Klägerin durch den angefochtenen Bescheid nicht festzustellen. Denn der Bescheid betraf allein die Rechtsstellung des Beigeladenen zu 2. Zwar gab die Beklagte den streitgegenständlichen Rücknahmebescheid - wie den ursprünglichen Befreiungsbescheid vom 9. März 2018 - gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB X auch der Klägerin als betroffenen Arbeitgeber bekannt (vgl. hierzu Vossen, in: Krauskopf, Soziale Kranken- und Pflegeversicherung, Stand: April 2022, § 8 SGB V Rn. 33; Simon, in: Berchtold/Huster/Rehborn, Gesundheitsrecht, 2. Aufl. 2018, § 8 Rn. 39). Für die Beurteilung der Beschwer ist jedoch nicht maßgebend, an wen die Behörde ihre Entscheidung gerichtet hat, sondern was die Entscheidung regelt (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2001 – B 11 AL 57/01 R – juris, Rn. 19). Regelungsgegenstand der Bescheide war die Befreiung des Beigeladenen zu 2 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung bzw. deren Rücknahme. Materiell-rechtlich lag den Bescheiden damit die Vorschrift des § 8 Abs. 1 SGB V zugrunde. Danach wird auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit, wer u.a. wegen Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 6 Satz 2 oder Abs. 7 SGB V versicherungspflichtig wird (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Die Befreiung von der Versicherungspflicht erfolgt nach dieser Regelung nur auf Antrag, wobei antragsberechtigt - im Unterschied zur Rechtslage in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGB VI) - lediglich der versicherungspflichtig gewordene Arbeitnehmer ist (Hampel, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, Stand; Juni 2020, § 8 Rn. 112; Moritz-Ritter, in: Hänlein/Schuler, SGB V, 6. Aufl. 2022, § 8 Rn. 15). Ihm allein räumt die Norm ein subjektives öffentliches Recht auf Erteilung einer Befreiung von der Versicherungspflicht ein (Berchtold, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl. 2021, § 8 SGB V Rn. 2). Allein von seinem Willen ist bei Vorliegen der Voraussetzungen der Eintritt der Befreiung somit abhängig (Rademacker, in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand: Oktober 2019, § 8 Rn. 98). Der Arbeitgeber hat keine rechtliche Einwirkungsmöglichkeit auf die Entschließung des Arbeitnehmers und auf das Antragsverfahren (BSG, Urteil vom 24. Juni 1981 – 12 RK 12/81 – juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 17. März 1981 – 12 RK 33/80 – juris, Rn. 15; Hampel, a.a.O.). Der Befreiungstatbestand bei infolge der Erhöhung der Jahresarbeitsentgeltgrenze eingetretener Versicherungspflicht hat nach seinem Sinn und Zweck insoweit ausschließlich die Interessen von Arbeitnehmern im Blick, die vorher nicht dem sozialen Sicherungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung angehörten, indem er ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich gegen den Versicherungsschutz in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu entscheiden und an der bisherigen Absicherung durch eine private Krankenversicherung festzuhalten (Vossen, a.a.O., Rn. 2; Peters, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: März 2022, § 8 SGB V Rn. 2). Ein Rechtssatz, der zumindest auch den Individualinteressen des Arbeitgebers zu dienen bestimmt ist, ist der Vorschrift nicht zu entnehmen. Dies schließt eine Anfechtung der Erteilung, Verweigerung oder Rücknahme der Befreiungsentscheidung der Krankenkasse durch den Arbeitgeber aus.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Der Senat verkennt nicht, dass die auf einen Antrag des Arbeitnehmers ergehende Befreiungsentscheidung der Krankenkasse – wie hier der Befreiungsbescheid der Beklagten vom 9. März 2018 – als rechtsgestaltender Verwaltungsakt auch den Arbeitgeber begünstigt, weil sie ihn von der Pflicht zur Beitragsentrichtung freistellt, weshalb der Arbeitgeber in einem Rechtstreit zwischen dem Arbeitnehmer und der Krankenkasse um die Befreiung von der Versicherungspflicht auch regelmäßig notwendig beizuladen ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1981 – a.a.O.; BSG, Urteil vom 17. März 1981 – a.a.O.). Hierbei handelt es sich jedoch um eine bloße Reflexwirkung der in § 8 SGB V vorgesehenen Befreiungsentscheidung zugunsten des Arbeitnehmers. Denn die Vorschrift dient - wie dargelegt - nicht dem Schutz der Interessen des Arbeitgebers oder gar dessen Entlastung von Beitragszahlungen. In Fällen wie dem vorliegenden bildet - aufgrund der auch allein angefochtenen Bescheide der beklagten Krankenkasse - insoweit auch ausschließlich der versicherungsrechtliche Status des Arbeitnehmers den Streitgegenstand des Rechtsstreits, wobei es sich bei dessen Befreiungsmöglichkeit - wie dargestellt - um ein persönliches Recht handelt. Über die sich daran mittelbar anschließenden Fragen einer Beitragserhebung, insbesondere welche Person bei einer Ablehnung oder Rücknahme der Befreiung die Krankenversicherungsbeiträge für die Pflichtmitgliedschaft zu entrichten und zu tragen hat, ist in dem Rechtstreit nicht zu befinden. Dementsprechend ist vorliegend auch nicht darüber zu entscheiden, ob eine Beitragsnacherhebung für den Beigeladenen zu 2 - wie die Klägerin geltend macht - gegen das versicherungsrechtliche Äquivalenzprinzip verstoßen (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. März 2012 – L 11 KR 4952/10 – juris, Rn. 42 ff.) oder eine unangemessene Belastung bedeuten würde. All diese Fragen betreffen bloße aus der streitbefangenen persönlichen Statusentscheidung des Beigeladenen zu 2 resultierende finanzielle Folgewirkungen, welche nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24. März 2016 – a.a.O.; BSG, Urteil vom 24. März 2016 – a.a.O.) für die Annahme einer materiellen Beschwer nicht ausreichen. Übereinstimmend hiermit erfolgt in Rechtsstreitigkeiten zwischen dem antragsberechtigten Arbeitnehmer und der Krankenkasse über die Befreiung eine notwendige Beiladung des Arbeitgebers prozessual auch nicht deshalb, weil durch die erstrebte gerichtliche Entscheidung über die Befreiung von der Versicherungspflicht gemäß § 8 SGB V in eine (eigene) Rechtsposition des Arbeitgebers eingegriffen wird, sondern weil diese unmittelbar auch die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber betrifft und die Entscheidung nur einheitlich ergehen kann, was für eine echte notwendige Beiladung gemäß § 75 Abs. 2 Satz 1 SGG ausreicht.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Nach allem war die Anfechtungsklage abzuweisen, da die Klägerin durch die Rücknahme der dem Beigeladenen zu 2 erteilten Befreiung von der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung rechtlich nicht beschwert ist. Die angefochtene Entscheidung des SG stellt sich aus diesem Grund im Ergebnis als richtig dar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 3 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Nachdem sich die Beigeladenen am Verfahren auch in der Berufungsinstanz nicht beteiligt haben, entsprach es nicht der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten der Klägerin aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>5. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 2 und § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) und die Korrektur der Streitwertfestsetzung für die erste Instanz auf § 63 Abs. 3 Nr. 2 GKG (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 197a Rn. 5 m.w.N.). Als Grundlage für die Streitwertbemessung ist vorliegend nicht die zu erwartende Höhe der nachzuentrichtenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge heranzuziehen. Denn Anknüpfungspunkt für die Bemessung des Streitwerts ist gemäß § 52 Abs. 1 GKG allein der Antrag der Klägerin. Umstände, die über den konkreten Antrag hinausgehen, haben bei der Streitwertfestsetzung außer Betracht zu bleiben (vgl. Senatsbeschluss vom 10. November 2020 - L 4 BA 1107/20 B – juris, Rn. 6 m.w.N.). Die vorliegende Klage gegen die Rücknahme einer Befreiung von der Versicherungspflicht gemäß § 8 SGB V betrifft ebenso wie eine Klage auf Erteilung eines solchen Befreiungsbescheides weder eine bezifferte Geldleistung noch einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt im Sinne von § 52 Abs. 3 GKG (für die Befreiung vom Lastenausgleich: BSG, Urteil vom 8. Dezember 2021 – B 2 U 12/20 R – juris, Rn. 21). Die mit der Rücknahme der Befreiungsentscheidung mittelbar verknüpfte Beitragsnacherhebung der Beigeladenen zu 1 als Prüfstelle (§ 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV) gehört zu den Umständen, die über den Klageantrag hinausgehen. Der Streitwert für das Verfahren ist deshalb in beiden Rechtszügen nach dem Regelstreitwert in Höhe von 5.000 EUR zu bemessen (§ 52 Abs. 2 GKG).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>6. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.</td></tr></table> </td></tr></table> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>1. Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie bedurfte nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG; denn die Klage betrifft weder eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung bzw. einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt noch eine Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>2. Streitgegenstand des Verfahrens ist die Rücknahme der Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung, welche die Beklagte dem Beigeladenen zu 2 mit Bescheid vom 9. März 2018 für die Zeit ab dem 1. Januar 2015 erteilt hat. Streitbefangen ist insoweit der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Oktober 2018 (§ 95 SGG). Der vorausgegangene Rücknahmebescheid vom 28. März 2018 ist hingegen nicht (mehr) Verfahrensgegenstand. Bei verständiger Würdigung (§ 123 SGG) macht die Klägerin im vorliegenden Verfahren keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 28. März 2018 im Wege der Überprüfung nach § 44 SGB X geltend (vgl. zur Rechtsnatur als subjektives Recht zuletzt: BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 12 R 2/20 R – juris, Rn. 19 m.w.N.). Denn der Rechtstreit betrifft entgegen der Auffassung des SG weder der Sache noch dem Inhalt der angefochtenen Bescheide nach ein solches Überprüfungsverfahren. So hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 24. Mai 2018, wie sie auch im Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 2018 klargestellt hat, keine Entscheidung im Zugunstenverfahren bzw. über den Überprüfungsantrag der Klägerin vom 23. Mai 2018 getroffen. Vielmehr nahm sie den Befreiungsbescheid vom 9. März 2018 nochmals – nunmehr unter ausdrücklicher Angabe der Rechtsgrundlage – zurück. Nach ihrem erkennbaren Reglungswillen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –) überprüfte bzw. wiederholte oder ergänzte sie dadurch nicht bloß den bereits ergangenen Rücknahmebescheid vom 28. März 2018, sondern traf die Rücknahmeentscheidung nach nochmaliger Sachprüfung erneut. Diese Regelungsabsicht ergibt sich vor allem aus ihrem an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin versandten Begleitschreiben vom 24. Mai 2018, in dem sich die Beklagte mit den Einwänden der Klägerin gegen den Bescheid im Einzelnen auseinandersetzte und explizit erklärte, dass die Bescheidrücknahme nun gegenüber den ursprünglichen Adressaten erneut ergehe, weil in den früheren Rücknahmebescheiden ein Hinweis auf die Rechtsgrundlage gefehlt habe. Die Beklagte wollte somit erklärtermaßen gegenüber der Klägerin und dem Beigeladenen zu 2 eine neue Rücknahmeentscheidung erlassen. Eine bloße Wiederholung des Verfügungssatzes des früheren Rücknahmebescheids, welcher der Regelungscharakter eines Verwaltungsaktes (§ 31 SGB X) selbst dann fehlt, wenn mit dem weiteren „Bescheid“ eine bisher fehlende Begründung nachgeholt wird (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 1991 – 1 RR 2/89 – juris, Rn. 14; Engelmann, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 31 Rn. 58), lag damit nicht vor. Ein Ergänzungsbescheid schied ebenfalls aus, weil es sich bei der Benennung der Rechtsgrundlage um ein bloßes Begründungselement des Verwaltungsakts handelt (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 11 AL 19/09 R – juris, Rn. 21) und der Verfügungssatz des ursprünglichen Rücknahmebescheides vom 28. März 2018 somit bereits vollständig und nicht ergänzungsbedürftig war.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Der (erneute) Rücknahmebescheid vom 24. Mai 2018 ging auch nicht deshalb ins Leere, weil der Bescheid vom 9. März 2018 bereits durch den Bescheid vom 28. März 2018 aufgehoben worden war. Denn der Bescheid vom 9. März 2018 hatte sich dadurch nicht nach § 39 Abs. 2 SGB X erledigt (vgl. zu dem Grundsatz, dass erledigte Verwaltungsakte, die ihre Wirksamkeit verloren haben, nicht aufgehoben werden können: Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 8. Juli 2019 – 19 K 376.17 – juris, Rn. 43 m.w.N.). Dies folgt daraus, dass der Rücknahmebescheid vom 28. März 2018 nicht bestandskräftig wurde (§ 77 SGG). Zwar hat die Klägerin nicht innerhalb eines Monats (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG) Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. März 2018 erhoben. Allerdings lief hier eine einjährige Widerspruchsfrist (§ 84 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG), da der Bescheid vom 28. März 2018 keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt. Der Antrag bzw. die Anregung der Klägerin vom 23. Mai 2018 auf Überprüfung des Bescheids 28. März 2018 war danach - bei verständiger Würdigung (§ 123 SGG) - als fristgerechter Widerspruch gegen den noch nicht bestandskräftigen Bescheid vom 28. März 2018 zu werten. Im Ergebnis hat dies die Beklagte auch getan, da sie - wie bereits dargelegt - keine Überprüfungsentscheidung nach § 44 SGB X getroffen, sondern vielmehr in der Sache erneut entschieden hat. Die erste Aufhebungsentscheidung vom 28. März 2018 wurde im Widerspruchsverfahren durch den neuen Rücknahmebescheid der Beklagten vom 24. Mai 2018 unter diesen Umständen vollumfänglich ersetzt und verlor so mit Erlass dieses Bescheides gemäß § 39 Abs. 2 SGB X ihre Wirksamkeit.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Dass die Klägerin ihre Klage auf Hinweis des SG später um einen Verpflichtungsantrag erweitert und dass das SG im angefochtenen Urteil das eigentliche Klagebegehren und den Inhalt der angefochtenen Regelung falsch interpretiert hat, hat für das weitere Verfahren keine Bedeutung. Denn in einem solchen Fall muss das LSG als Berufungsgericht den geltend gemachten Anspruch selbst ermitteln und über diesen im Berufungsverfahren entscheiden (BSG, Beschluss vom 2. April 2014 – B 3 KR 3/14 B – juris, Rn. 8 ff.; Senatsurteil vom 10. Dezember 2021 – L 4 KR 3344/17 – www.sozialgerichtsbarkeit.de). Ein Fall der Klageänderung in der Berufungsinstanz liegt nicht vor. Der Senat hat vielmehr über die von der Klägerin erhobenen Ansprüche ohne Bindung an die Fassung der Anträge zu entscheiden und den Streitfall dabei im gleichen Umfang wie das SG zu prüfen (§ 123, § 157 Satz 1 SGG).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>3. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>a) Die isolierte Anfechtungsklage der Klägerin ist zwar zulässig. Insbesondere ist die Klägerin im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG klagebefugt. Denn für die Klagebefugnis genügt bereits die Möglichkeit der Verletzung eigener Rechte (sog. formelle Beschwer; vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. November 2015 – L 11 R 1901/14 – juris, Rn. 20; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rn. 9 m.w.N.). Daran fehlt es nur, wenn dem Kläger das geltend gemachte Recht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zustehen kann (vgl. BSG, Urteil vom 11. Mai 1999 – B 11 AL 45/98 R – juris, Rn. 25; LSG Hessen, Urteil vom 14. April 2014 – L 1 KR 432/12 – juris, Rn. 20; Böttiger, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 54 Rn. 48; Groß, in: Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 54 Rn. 11). Eine Beschwer in diesem Sinne ist hingegen regelmäßig anzunehmen, wenn sich der Kläger als Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes, der ein Recht entzieht, gegen diesen mit der Anfechtungsklage wendet (LSG Hessen, a.a.O.; Keller, a.a.O., Rn. 10; Bieresborn, in: Roos/Wahrendorf/Müller, beck-online Großkommentar, Stand: August 2022, § 54 Rn. 110). Nach diesen Grundsätzen war die Klägerin berechtigt, die angefochtenen Bescheide gerichtlich anzufechten. Da mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 24. Mai 2018, der (auch) an sie adressiert und zugestellt wurde, ein ebenfalls (auch) ihr bekanntgegebener Befreiungsbescheid zurückgenommen wurde, lässt sich die von der Klägerin behauptete Verletzung eigener Rechte jedenfalls nicht von vornherein eindeutig ausschließen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>b) Die Klage ist jedoch nicht begründet. Denn die Klägerin wird durch den angefochtenen Bescheid tatsächlich nicht in eigenen Rechten verletzt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes aufgrund einer Anfechtungsklage setzt voraus, dass der Kläger durch diesen in subjektiven Rechten verletzt und damit auch materiell beschwert ist (vgl. Keller, a.a.O., Rn. 9; Bieresborn, a.a.O. Rn. 131). Dies ist nur der Fall, wenn die Rechtsphäre des Klägers durch den erlassenen Verwaltungsakt betroffen ist (Groß, a.a.O., Rn. 17). Wird mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt, der einer anderen Person erteilt wurde oder allein diese betrifft, hat die Anfechtungsklage deshalb selbst im Falle objektiver Rechtswidrigkeit des Bescheides nur dann Erfolg, wenn die angefochtene Verwaltungsentscheidung auch in eigene rechtlich geschützte Interessen des Klägers eingreift (BSG, Urteil vom 6. Februar 1992 – 12 RK 15/90 – juris, Rn 13; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. November 2015 – L 11 R 1901/14 – juris, Rn. 37 m.w.N.). Wann dies der Fall ist, lässt sich nicht generell beantworten, sondern richtet sich nach dem jeweiligen Rechtsgebiet. Dabei ist maßgebend, ob der angefochtene Verwaltungsakt gegen eine Rechtsnorm verstößt, die zumindest auch den Schutz individueller Interessen des Klägers bezweckt, m.a.W. die geltend gemachten rechtlichen Interessen vom Schutzzweck der dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Norm erfasst werden (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2001 – B 11 AL 57/01 R – juris, Rn. 20; BSG, Urteil vom 6. Februar 1992, a.a.O.; BSG, Urteil vom 18. März 1999 – 12 RK 15/90 – juris, Rn 12; BSG, Urteil vom 10. Mai 2000 – B 6 KA 20/99 R – juris, Rn. 26). Nicht ausreichend ist eine bloße Reflexwirkung in dem Sinne, dass sich aus einer im Interesse der Allgemeinheit oder eines bestimmten Personenkreises erlassenen Norm zugleich auch eine Begünstigung des Klägers als Dritter ergibt (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2001 – a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. November 2015 – a.a.O.). Ebenso wenig genügt eine Beeinträchtigung rein finanzieller, wirtschaftlicher, ideeller oder sonstiger berechtigter Interessen oder eine bloße Drittbindung infolge der Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes (BSG Urteil vom 6. Februar 1992 – a.a.O.; Bieresborn, a.a.O., Rn. 114 m.w.N.). Danach beeinträchtigen insbesondere sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen Dritte grundsätzlich nicht in deren rechtlichen Interessen, wenn es sich um persönliche Rechte des Statusinhabers handelt, über die der Dritte nicht disponieren kann (Bieresborn, a.a.O., Rn. 114; Böttiger, a.a.O., Rn. 55). Bloße aus der Statusentscheidung resultierende, mit Kosten verbundene Folgewirkungen reichen in derartigen Fällen für die Annahme einer materiellen Beschwer nicht aus (BSG, Urteil vom 24. März 2016 – B 12 KR 5/14 R – juris, Rn 21; BSG, Urteil vom 24. März 2016 – B 12 KR 6/14 R – juris, Rn 20).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist eine rechtliche Beschwer der Klägerin durch den angefochtenen Bescheid nicht festzustellen. Denn der Bescheid betraf allein die Rechtsstellung des Beigeladenen zu 2. Zwar gab die Beklagte den streitgegenständlichen Rücknahmebescheid - wie den ursprünglichen Befreiungsbescheid vom 9. März 2018 - gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB X auch der Klägerin als betroffenen Arbeitgeber bekannt (vgl. hierzu Vossen, in: Krauskopf, Soziale Kranken- und Pflegeversicherung, Stand: April 2022, § 8 SGB V Rn. 33; Simon, in: Berchtold/Huster/Rehborn, Gesundheitsrecht, 2. Aufl. 2018, § 8 Rn. 39). Für die Beurteilung der Beschwer ist jedoch nicht maßgebend, an wen die Behörde ihre Entscheidung gerichtet hat, sondern was die Entscheidung regelt (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2001 – B 11 AL 57/01 R – juris, Rn. 19). Regelungsgegenstand der Bescheide war die Befreiung des Beigeladenen zu 2 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung bzw. deren Rücknahme. Materiell-rechtlich lag den Bescheiden damit die Vorschrift des § 8 Abs. 1 SGB V zugrunde. Danach wird auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit, wer u.a. wegen Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 6 Satz 2 oder Abs. 7 SGB V versicherungspflichtig wird (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Die Befreiung von der Versicherungspflicht erfolgt nach dieser Regelung nur auf Antrag, wobei antragsberechtigt - im Unterschied zur Rechtslage in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGB VI) - lediglich der versicherungspflichtig gewordene Arbeitnehmer ist (Hampel, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, Stand; Juni 2020, § 8 Rn. 112; Moritz-Ritter, in: Hänlein/Schuler, SGB V, 6. Aufl. 2022, § 8 Rn. 15). Ihm allein räumt die Norm ein subjektives öffentliches Recht auf Erteilung einer Befreiung von der Versicherungspflicht ein (Berchtold, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl. 2021, § 8 SGB V Rn. 2). Allein von seinem Willen ist bei Vorliegen der Voraussetzungen der Eintritt der Befreiung somit abhängig (Rademacker, in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand: Oktober 2019, § 8 Rn. 98). Der Arbeitgeber hat keine rechtliche Einwirkungsmöglichkeit auf die Entschließung des Arbeitnehmers und auf das Antragsverfahren (BSG, Urteil vom 24. Juni 1981 – 12 RK 12/81 – juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 17. März 1981 – 12 RK 33/80 – juris, Rn. 15; Hampel, a.a.O.). Der Befreiungstatbestand bei infolge der Erhöhung der Jahresarbeitsentgeltgrenze eingetretener Versicherungspflicht hat nach seinem Sinn und Zweck insoweit ausschließlich die Interessen von Arbeitnehmern im Blick, die vorher nicht dem sozialen Sicherungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung angehörten, indem er ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich gegen den Versicherungsschutz in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu entscheiden und an der bisherigen Absicherung durch eine private Krankenversicherung festzuhalten (Vossen, a.a.O., Rn. 2; Peters, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: März 2022, § 8 SGB V Rn. 2). Ein Rechtssatz, der zumindest auch den Individualinteressen des Arbeitgebers zu dienen bestimmt ist, ist der Vorschrift nicht zu entnehmen. Dies schließt eine Anfechtung der Erteilung, Verweigerung oder Rücknahme der Befreiungsentscheidung der Krankenkasse durch den Arbeitgeber aus.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Der Senat verkennt nicht, dass die auf einen Antrag des Arbeitnehmers ergehende Befreiungsentscheidung der Krankenkasse – wie hier der Befreiungsbescheid der Beklagten vom 9. März 2018 – als rechtsgestaltender Verwaltungsakt auch den Arbeitgeber begünstigt, weil sie ihn von der Pflicht zur Beitragsentrichtung freistellt, weshalb der Arbeitgeber in einem Rechtstreit zwischen dem Arbeitnehmer und der Krankenkasse um die Befreiung von der Versicherungspflicht auch regelmäßig notwendig beizuladen ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1981 – a.a.O.; BSG, Urteil vom 17. März 1981 – a.a.O.). Hierbei handelt es sich jedoch um eine bloße Reflexwirkung der in § 8 SGB V vorgesehenen Befreiungsentscheidung zugunsten des Arbeitnehmers. Denn die Vorschrift dient - wie dargelegt - nicht dem Schutz der Interessen des Arbeitgebers oder gar dessen Entlastung von Beitragszahlungen. In Fällen wie dem vorliegenden bildet - aufgrund der auch allein angefochtenen Bescheide der beklagten Krankenkasse - insoweit auch ausschließlich der versicherungsrechtliche Status des Arbeitnehmers den Streitgegenstand des Rechtsstreits, wobei es sich bei dessen Befreiungsmöglichkeit - wie dargestellt - um ein persönliches Recht handelt. Über die sich daran mittelbar anschließenden Fragen einer Beitragserhebung, insbesondere welche Person bei einer Ablehnung oder Rücknahme der Befreiung die Krankenversicherungsbeiträge für die Pflichtmitgliedschaft zu entrichten und zu tragen hat, ist in dem Rechtstreit nicht zu befinden. Dementsprechend ist vorliegend auch nicht darüber zu entscheiden, ob eine Beitragsnacherhebung für den Beigeladenen zu 2 - wie die Klägerin geltend macht - gegen das versicherungsrechtliche Äquivalenzprinzip verstoßen (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. März 2012 – L 11 KR 4952/10 – juris, Rn. 42 ff.) oder eine unangemessene Belastung bedeuten würde. All diese Fragen betreffen bloße aus der streitbefangenen persönlichen Statusentscheidung des Beigeladenen zu 2 resultierende finanzielle Folgewirkungen, welche nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24. März 2016 – a.a.O.; BSG, Urteil vom 24. März 2016 – a.a.O.) für die Annahme einer materiellen Beschwer nicht ausreichen. Übereinstimmend hiermit erfolgt in Rechtsstreitigkeiten zwischen dem antragsberechtigten Arbeitnehmer und der Krankenkasse über die Befreiung eine notwendige Beiladung des Arbeitgebers prozessual auch nicht deshalb, weil durch die erstrebte gerichtliche Entscheidung über die Befreiung von der Versicherungspflicht gemäß § 8 SGB V in eine (eigene) Rechtsposition des Arbeitgebers eingegriffen wird, sondern weil diese unmittelbar auch die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber betrifft und die Entscheidung nur einheitlich ergehen kann, was für eine echte notwendige Beiladung gemäß § 75 Abs. 2 Satz 1 SGG ausreicht.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Nach allem war die Anfechtungsklage abzuweisen, da die Klägerin durch die Rücknahme der dem Beigeladenen zu 2 erteilten Befreiung von der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung rechtlich nicht beschwert ist. Die angefochtene Entscheidung des SG stellt sich aus diesem Grund im Ergebnis als richtig dar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 3 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Nachdem sich die Beigeladenen am Verfahren auch in der Berufungsinstanz nicht beteiligt haben, entsprach es nicht der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten der Klägerin aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>5. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 2 und § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) und die Korrektur der Streitwertfestsetzung für die erste Instanz auf § 63 Abs. 3 Nr. 2 GKG (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 197a Rn. 5 m.w.N.). Als Grundlage für die Streitwertbemessung ist vorliegend nicht die zu erwartende Höhe der nachzuentrichtenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge heranzuziehen. Denn Anknüpfungspunkt für die Bemessung des Streitwerts ist gemäß § 52 Abs. 1 GKG allein der Antrag der Klägerin. Umstände, die über den konkreten Antrag hinausgehen, haben bei der Streitwertfestsetzung außer Betracht zu bleiben (vgl. Senatsbeschluss vom 10. November 2020 - L 4 BA 1107/20 B – juris, Rn. 6 m.w.N.). Die vorliegende Klage gegen die Rücknahme einer Befreiung von der Versicherungspflicht gemäß § 8 SGB V betrifft ebenso wie eine Klage auf Erteilung eines solchen Befreiungsbescheides weder eine bezifferte Geldleistung noch einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt im Sinne von § 52 Abs. 3 GKG (für die Befreiung vom Lastenausgleich: BSG, Urteil vom 8. Dezember 2021 – B 2 U 12/20 R – juris, Rn. 21). Die mit der Rücknahme der Befreiungsentscheidung mittelbar verknüpfte Beitragsnacherhebung der Beigeladenen zu 1 als Prüfstelle (§ 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV) gehört zu den Umständen, die über den Klageantrag hinausgehen. Der Streitwert für das Verfahren ist deshalb in beiden Rechtszügen nach dem Regelstreitwert in Höhe von 5.000 EUR zu bemessen (§ 52 Abs. 2 GKG).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>6. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.</td></tr></table> </td></tr></table>
346,842
olgmuen-2022-09-23-13-u-361422
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13 U 3614/22
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-06T10:01:47"
"2022-10-17T11:10:51"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <div> <p>I. Der Senat beabsichtigt, das Berufungsverfahren im Hinblick auf den am 16.03.2022 im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlichten Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/ 22 KapMuG, gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Kap-MuG auszusetzen.</p> <p>II. Es ist ferner beabsichtigt, die Höhe des Anspruchs, soweit er von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist (§ 8 Abs. 4 KapMuG), auf 14.912,85 € festzusetzen.</p> <p>III. Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme bis 30.09.2022. Die Stellungnahmen des Beklagtenvertreters in den Schriftsätzen vom 29.04. und 29.06.2022 wurde bei diesem Hinweis bereits berücksichtigt.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p><rd nr="1"/>I. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen des Kaufs einer auf die Aktie der W. AG bezogenen Anleihe in Anspruch.</p> <p><rd nr="2"/>Sie behauptet, am 28.01.2020 Aktienanleihen „LB.H.-T. GZ … WDI“ (ISIN: …Q3) zum Preis von 15.000,00 € erworben und diese am 22.01.2021 zum Preis von 87,15 € wieder verkauft zu haben. Hieraus errechne sich ein Schaden in Höhe von 14.912,85 €. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Ausführungen auf S. 3 der Klageschrift vom „02.02.2020“ (= Bl. 3 d.A.) und auf das Anlagenkonvolut K 1 Bezug genommen.</p> <p><rd nr="3"/>Die Beklagte hat als Abschlussprüferin die Jahresabschlüsse der W. AG für die Geschäftsjahre 2015 bis 2018 uneingeschränkt testiert. Ihr oblag auch die Prüfung der Konzernabschlüsse. Am 27.04.2020 wurde die für den 29.04.2020 geplante Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 verschoben. Am 28.04.2020 wurde der KPMG-Sonderbericht veröffentlicht. Mit Ad-hoc-Mitteilung vom 18.06.2020 gab die W. AG bekannt, dass die Beklagte sie informiert habe, dass für Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden € noch keine ausreichenden Prüfnachweise vorhanden sind und die Abschlussprüfung daher nicht, wie geplant, bis 18.06.2020 abgeschlossen werden kann. Die W. AG teilte am 22.06.2020 ad-hoc mit, dass die genannten Bankguthaben auf Treuhandkonten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen, und am 25.06.2020, dass sie entschieden habe, Insolvenzantrag zu stellen. Die Beklagte versagte den Bestätigungsvermerk für den Jahresabschluss 2019. In der Zeit nach dem 18.06.2020 fiel der Kurs der W.-Aktie stark.</p> <p><rd nr="4"/>Die Klagepartei wirft der Beklagten unter Auswertung des KPMG-Sonderprüfungsberichts vom 27.04.2020 (Anlagen K3 und K3a), des 1. Sachstandsberichts des Insolvenzverwalters der W. AG vom 19.05.2021 (Anlage K 25) und des W.-Berichts vom 16.04.2021 (Anlage K 29) vor, schuldhaft die Konzernabschlüsse der W. AG für die Jahre 2016 bis 2018 testiert zu haben, obwohl das Unternehmen seinen Cash-Bestand jeweils um mehr als 1 Milliarde € überhöht ausgewiesen habe. Der Klägerin zufolge hätte die Beklagte unabhängig davon in den Bestätigungsvermerken auch darauf hinweisen müssen, dass die von der W.AG gewählte Bilanzierungsart für 1 Milliarde € (angebliche) Zahlungsmitteläquivalente nicht zulässig sei. Die Beklagte habe derart nachlässig geprüft, dass sie den Anlegern unter anderem aus § 826 BGB hafte; sie habe insbesondere bewusst eine einfache Prüfungshandlung, nämlich die Einholung von Saldenbestätigungen für zwei Treuhandkonten bei zwei Kreditinstituten, nicht durchgeführt, sondern sich mit Bestätigungen des Treuhänders begnügt. Den Eintritt eines Vermögensschadens bei den Anlegern habe die Beklagte zumindest billigend in Kauf genommen. Ohne die zu beanstandenden Bestätigungsvermerke der Beklagten hätte die W. AG nach Behauptung der Klägerin ihre Geschäfte nicht fortsetzen können; durch die Testatsverweigerung wäre es bereits vor der Investitionsentscheidung der Klägerin zu einem Zusammenbruch des Konzerns gekommen, der offensichtlich seit Jahren nur Verluste erwirtschaftet habe und nur aufgrund der Bilanzmanipulationen habe fortbestehen können. Dann hätte sich die Klägerin überhaupt nicht mehr an dem Unternehmen beteiligen können (S. 42 f. der Klageschrift = Bl. 42 f. d.A.). Des Weiteren berief sich die Klagepartei für die Frage der Kausalität auf die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens und auf eine positive Anlagestimmung (S. 11 ff. des Schriftsatzes vom 29.04.2022 = Bl. 603 ff. d.A.).</p> <p><rd nr="5"/>Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Urteil des Landgerichts München I vom 17.05.2022 Bezug genommen.</p> <p><rd nr="6"/>In der Berufungsinstanz vertiefte die Klägerin ihren Vortrag unter Heranziehung des 2. Sachstandsberichts des Insolvenzverwalters vom 26.11.2021 (Anlage K 35).</p> <p><rd nr="7"/>Am 14.03.2022 erließ das Landgericht München I im Verfahren 3 OH 2767/22 KapMuG einen Vorlagebeschluss gemäß § 6 Abs. 1 KapMuG. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf diesen Beschluss, veröffentlicht im Bundesanzeiger am 16.03.2022, Bezug genommen. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt (Az. 101 Kap 1/22).</p> <p><rd nr="8"/>III. Der Senat beabsichtigt, das vorliegende Verfahren im Hinblick auf den vorgenannten Vorlagebeschluss gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 KapMuG auszusetzen.</p> <p><rd nr="9"/>1. Das Berufungsgericht ist Prozessgericht im Sinne des § 8 KapMuG (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG, § 8 Rn. 6 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 16.06.2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 14, juris).</p> <p><rd nr="10"/>2. Ob die Vorlagevoraussetzungen der §§ 1 ff. KapMuG für die streitgegenständlichen Klageansprüche vorliegen, ist im Aussetzungsverfahren gemäß § 8 KapMuG nicht zu prüfen; im Übrigen ist dies auch der Fall. Insofern wird auf die Ausführungen im Hinweisbeschluss des Senats vom 20.05.2022 in dem Parallelverfahren 13 U 9056/21 (veröffentlicht in juris, dort Rn. 12 ff.) Bezug genommen.</p> <p><rd nr="11"/>3. Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen ab.</p> <p><rd nr="12"/>Der vorliegende Rechtsstreit ist nicht unabhängig von diesen Zielen entscheidungsreif und eine etwa erforderliche weitere Beweisaufnahme setzt jedenfalls eine Entscheidung über die Feststellungsziele voraus.</p> <p><rd nr="13"/>a) Die Klage ist schlüssig.</p> <p><rd nr="14"/>aa) Der geltend gemachte Anspruch aus § 826 BGB setzt voraus, dass der Wirtschaftsprüfer seine Aufgabe qualifiziert nachlässig erledigt, zum Beispiel durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein, und dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 20.01.2022 - III ZR 194/19 -, Rn. 18, juris m.w.N.).</p> <p><rd nr="15"/>Dies hat die Klagepartei wie oben ausgeführt substantiiert vorgetragen.</p> <p><rd nr="16"/>bb) Sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist auch von einem Vorsatz der für die Beklagte handelnden Organe auszugehen.</p> <p><rd nr="17"/>Der Vorsatz muss die gesamten Schadensfolgen sowie Richtung und Art des Schadens umfassen, braucht sich aber nicht auf den genauen Kausalverlauf und den Umfang des Schadens zu erstrecken (BGH, Urteil vom 11.11.2003 - VI ZR 371/02 -, Rn. 26, juris). Ausreichend ist daher das Wissen, dass zu den Geschädigten auch Derivateanleger gehören, die auf steigende Kurse setzen. Eine genaue Kenntnis der Anzahl und Konstruktion der Derivate ist dagegen nicht erforderlich.</p> <p><rd nr="18"/>Dass Drittemittenten Derivate auflegen, welche sich auf die Aktien von im DAX notierten Unternehmen wie der W. AG als Basiswert beziehen, ist gängig und auf dem Kapitalmarkt allgemein bekannt. Dass die Organe der beklagten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft dies nicht gewusst hätten, ist weder vorgetragen noch anzunehmen. Es kommt auch nicht darauf an, dass andere Anleger, die auf sinkende Kurse gesetzt haben, Gewinne realisieren konnten. Entscheidend ist nicht ein Gewinn oder Verlust des gesamten Derivatemarktes, sondern die Situation des einzelnen Anlegers. Soweit ein Anleger sowohl auf steigende als auch auf sinkende Kurse gesetzt hat, betrifft dies die Berechnung des Schadens.</p> <p><rd nr="19"/>cc) Der streitgegenständliche Erwerb einer Anleihe auf die Aktie der W. AG ist vom Schutzzweck des § 826 BGB umfasst.</p> <p><rd nr="20"/>Auch im Rahmen dieser Vorschrift gilt, dass die Ersatzpflicht auf solche Schäden beschränkt ist, die in den Schutzbereich des verletzten Ge- oder Verbots fallen. Auf eine derartige Eingrenzung der Haftung kann, um das Haftungsrisiko in angemessenen und zumutbaren Grenzen zu halten, auch im Rahmen des § 826 BGB nicht verzichtet werden. Ein Verhalten kann hinsichtlich der Herbeiführung bestimmter Schäden, insbesondere auch hinsichtlich der Schädigung bestimmter Personen, als sittlich anstößig zu werten sein, während ihm diese Qualifikation hinsichtlich anderer, wenn auch ebenfalls adäquat verursachter Schadensfolgen nicht zukommt. Die Ersatzpflicht beschränkt sich in einem solchen Fall auf diejenigen Schäden, die dem in sittlich anstößiger Weise geschaffenen Gefahrenbereich entstammen (BGH, Urteil vom 11.11.1985 - II ZR 109/84, NJW 1986, 837, beck-online).</p> <p><rd nr="21"/>Ein qualifiziert nachlässiges unrichtiges Testat eines Wirtschaftsprüfers ist auch im Verhältnis zu Derivateanlegern als sittenwidrig einzustufen; der streitgegenständliche Erwerb einer Aktienanleihe durch die Klagepartei ist nicht nur reflexartig von der behaupteten schädigenden Handlung erfasst.</p> <p><rd nr="22"/>Der Handel mit sogenannten Derivaten macht einen nicht unerheblichen, vom Gesetzgeber anerkannten Teil des Kapitalmarktes aus. Der Gesetzgeber hat das Geschäft mit derartigen Finanzinstrumenten reguliert und diese zum Beispiel in § 2 Abs. 3 WpHG und § 1 Abs. 11 KWG legal definiert. Auch wenn eine Investition auf dem sehr vielgestaltigen Derivatemarkt spekulativen Charakter hat, handelt es sich um ein erlaubtes, in bestimmten Situationen wirtschaftlich sinnvolles Instrument. Es gibt keinen Grund, den Erwerber eines derartigen Derivates von vornherein als weniger schutzbedürftig oder -würdig anzusehen als den unmittelbaren - im Übrigen möglicherweise auch spekulativ tätigen - Aktienerwerber.</p> <p><rd nr="23"/>Beide benötigen zur Beurteilung der Erfolgsaussichten ihres Investments Informationen über das Zielunternehmen. Eine wichtige Informationsquelle stellen die von einem Wirtschaftsprüfer bestätigten Jahresabschlüsse des betreffenden Unternehmens dar. Wie der Senat bereits im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität ausgeführt hat (OLG München, Hinweisbeschluss vom 20.05.2022 - 13 U 9056/21 -, Rn. 37, juris), wird der Wirtschaftsprüfer auch im öffentlichen Interesse tätig. Er beglaubigt gegenüber der Allgemeinheit, dass der Abschluss mit den Rechnungslegungsvorschriften und den gesellschaftsvertraglichen Vorschriften übereinstimmt (siehe BeckOGK/Bormann, 15.11.2020, HGB § 316 Rn. 5; BGH, Urteil vom 10.12.2009 - VII ZR 42/08, BGHZ 183, 323-340, Rn. 29; Röhl/Hidding WM 2021, 1729, 1730). Mit der Erteilung eines vorsätzlich sittenwidrigen Bestätigungsvermerkes verletzt der Abschlussprüfer daher auch ihm der Allgemeinheit gegenüber obliegende Pflichten.</p> <p><rd nr="24"/>Damit hat auch der Derivaterwerber ein berechtigtes Interesse daran, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens vermittelt, was der Wirtschaftsprüfer durch seinen Bestätigungsvermerk testiert.</p> <p><rd nr="25"/>Ob etwas anderes für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen des Vorstands einer Aktiengesellschaft gilt - diese sind an Aktionäre und potentielle Aktienerwerber gerichtet, sollen auf deren Entscheidung unmittelbar Einfluss nehmen und erfolgen nicht im allgemeinen öffentlichen Interesse - (so W. H., R.M. K., Schadensersatz wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformation für Investoren in Aktienderiv…, BB 2013, 2186 ff.), kann offenbleiben.</p> <p><rd nr="26"/>dd) Die Klagepartei hat zur haftungsbegründenden Kausalität schlüssig vorgetragen, dass es zu der streitgegenständlichen Investition nicht gekommen wäre, wenn die Beklagte die Bestätigung der Jahresabschlüsse bereits zu einem früheren Zeitpunkt verweigert hätte.</p> <p><rd nr="27"/>Die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens gilt - entgegen OLG München, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21 -, Rn. 16, juris - für Derivateanleger in gleichem Umfang wie für Erwerber von Aktien. Sie setzt voraus, dass es nur eine bestimmte Möglichkeit „aufklärungsrichtigen“ Verhaltens gibt und ist daher nicht begründet, wenn eine gehörige Aufklärung beim Vertragspartner einen Entscheidungskonflikt ausgelöst hätte, weil es vernünftigerweise nicht nur eine, sondern mehrere Möglichkeiten aufklärungsrichtigen Verhaltens gab. Dies hat der Bundesgerichtshof in einem Fall fehlender Aufklärung über den spekulativen Charakter des Erwerbs von Aktien des „Neuen Marktes“ verneint, da diese Anlagen zwar mit hohen Risiken behaftet waren, aber auch entsprechende Gewinnchancen boten (BGH, Urteil vom 13.07.2004 - XI ZR 178/03, BGHZ 160, 58-67, Rn. 28-29). Vorliegend hätte es bei Kenntnis der von der Klagepartei behaupteten Umstände, dass erhebliche in den Bilanzen ausgewiesene Summen - zuletzt 1,9 Milliarden € - fehlen und der Vorstand an der unzutreffenden Darstellung beteiligt ist, um die seit Jahren ausschließlich eingefahrene Verluste zu verschleiern, keinen Entscheidungskonflikt gegeben.</p> <p><rd nr="28"/>Es kommt auch nicht darauf an, ob die Klagepartei vor ihrer Investitionsentscheidung die Bestätigungsvermerke der Beklagten tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, denn eine „individuelle“ Kausalität ist nicht erforderlich. Die vom Bundesgerichtshof zur Informationsdeliktshaftung entwickelte Rechtsprechung ist entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Urteil vom 29.09.2009 - 12 U 147/05 -, Rn. 64, juris) auf fehlerhaft erteilte Bestätigungsvermerke eines Abschlussprüfers nicht übertragbar (vgl. hierzu die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 20.05.2022 - 13 U 9056/21 -, Rn. 30 ff., juris).</p> <p><rd nr="29"/>ee) Schließlich hat die Klägerin die Höhe des Schadens nachvollziehbar und schlüssig dargetan.</p> <p><rd nr="30"/>b) Die Begründetheit der Klage hängt ausschließlich von den Feststellungszielen des Musterverfahrens ab. Insofern gelten die Ausführungen im vorgenannten Senatsbeschluss vom 20.05.2022, Rn. 38 ff., juris, entsprechend.</p> </div>
346,811
vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-23-11-b-7922
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11 B 79/22
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-10-05T10:00:36"
"2022-10-17T11:10:47"
Beschluss
ECLI:DE:VGSH:2022:0923.11B79.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Dem Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller vorläufig eine Duldung gemäß § 60c Abs. 1 AufenthG zum Zwecke der Ausbildung als Koch bei der ..., ..., ... Str. x, ... zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller begehrt die vorläufige Erteilung einer Ausbildungsduldung zum Zwecke der Durchführung einer Ausbildung als Koch.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der nach eigenen Angaben im Jahr 1996 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste am 04.12.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 08.08.2016 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20.11.2017 wurde der Asylantrag vollumfänglich abgelehnt. Die Klage hiergegen wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts vom 03.04.2019 – Az.: 7 A 783/17 – abgewiesen. Die Entscheidung ist seit dem 07.05.2019 rechtskräftig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Am 10.08.2017 erteilte der Antragsgegner dem Antragsteller die Zustimmung zur Ausbildung als Koch, die der Antragsteller wegen sprachlicher Probleme abbrach.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>In einem Beratungsgespräch am 17.05.2019 legte der Antragsteller, der nicht über Identitätspapiere verfügte, einen Nachweis darüber vor, dass er am 10.12.2019 einen Termin bei der afghanischen Botschaft hat. Seit dem 17.05.2019 ist der Antragsteller fortlaufend im Besitz einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Am 10.01.2020 legte der Antragsteller beim Antragsgegner eine Bescheinigung der afghanischen Botschaft vom 11.12.2019 vor. Danach konnte diese keinen Antrag für einen neuen afghanischen Reisepass entgegennehmen, da der Antragsteller keine genügenden Dokumente (Tazkira, National ID) vorlegen konnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 19.05.2020, 19.08.2020 und 17.11.2020 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, einen Nachweis über seine Passbemühungen, zuletzt mit Fristsetzung bis zum 17.11.2020 vorzulegen. Mit Schreiben vom 18.02.2021 bat der Antragsteller um einen Termin für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis. Mit Schreiben vom 03.03.2021 wies der Antragsgegner den Antragsteller erneut auf seine Mitwirkungspflicht hin und setzte eine weitere Frist bis zum 03.06.2021 zur Vorlage entsprechender Nachweise bei der Passbeschaffung. Erst dann komme die Prüfung einer Beschäftigungsgenehmigung in Betracht. Sollte der Antragsteller weiterhin keine Nachweise vorlegen können, würde ihm die Beschäftigungserlaubnis entzogen werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Nachdem keine weiteren Nachweise vorgelegt worden waren, entzog der Antragsgegner dem Antragsteller mit Bescheid vom 07.06.2021 die Erlaubnis für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Zur Begründung führte er aus, dass der Antragsteller aufgrund der Passlosigkeit die Ausreisehindernisse zu vertreten habe und ihm gemäß § 60a Abs. 6 Nr. 2 AufenthG die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht gestattet sei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 09.09.2021 beantragte der Antragsteller erneut die Erteilung einer Arbeitserlaubnis. In dem Schreiben fügte er das Schreiben der ... über eine mögliche Beschäftigung als Küchenhilfe ab dem 13.09.2021 bei Vorlage einer Arbeitserlaubnis bei.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Unter Verweis auf die fehlende Mitwirkungs- und Passpflicht lehnte der Antragsgegner den Antrag mit Schreiben vom 29.09.2021 ab und forderte den Antragsteller erneut auf, den Reisepass oder andere Identitätsdokumente einzureichen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Gegen die Verweigerung der Beschäftigungserlaubnis legte der Antragsteller mit anwaltlichem Schreiben vom 06.10.2021 Widerspruch ein. Die Verweigerung der Beschäftigungserlaubnis durch den Antragsgegner sei sachwidrig und stehe nicht in Verbindung mit der gewünschten Arbeitsaufnahme und Beschäftigungsbewilligung. Zudem wies er darauf hin, dass er bereits vor mehr als einem Jahr einen Antrag auf Erteilung eines Reisepasses bei der afghanischen Botschaft in Berlin gestellt habe, jedoch noch keinen Termin erhalten habe. Auf Anfrage sei dem Antragsteller mitgeteilt worden, dass mit Änderung der politischen Lage und der Zweifel an der völkerrechtlichen Anerkennung der derzeitigen Regierung in Kabul Bedenken bestünden, ob oder zumindest ob zeitnah den sich in Deutschland befindlichen Flüchtlingen durch eine Vertretung des Staates Afghanistan innerhalb Deutschlands Hilfestellung zuteil werden könne. Darüber hinaus sei die Entscheidung des Antragsgegners nicht verhältnismäßig, zumal die Nichterteilung des Ausweises nicht in seiner Sphäre liege und im Übrigen eine Ausweisung nach Afghanistan nicht erfolgen könne.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Am 18.10.2021 legte der Antragsteller beim Antragsgegner eine Bescheinigung von der afghanischen Botschaft in Berlin vom 22.09.2021 vor, wonach diese unter den derzeitigen Umständen aus technischen Gründen nicht in der Lage sei, afghanische Pässe für die in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Afghanen auszustellen. Beigefügt war zudem eine Geburtsurkunde, ausgestellt auf den Namen des Antragstellers mit dem Geburtsdatum 1993 und ein Personalbogen des Zentralamtes für Personenstandswesen, übersetzt mit dem Geburtsjahr 1993.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 27.01.2022 teilte der Antragsteller dem Antragsgegner mit, dass der Betrieb ... weiterhin bereit sei, seine Ausbildung in dem Betrieb zu Ende zu führen. Aus der beigefügten Bescheinigung des ... ging hervor, dass der Antragsteller, vorausgesetzt eine Arbeitsgenehmigung liege vor, seine Ausbildung zum Koch dort beenden könne.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Der Antragsgegner teilte dem Antragsteller daraufhin mit, dass dem vorgenannten Schreiben entnommen werden könne, dass nunmehr offenbar die Erteilung einer Ausbildungsduldung begehrt werde. Es werde daher um Übersendung entsprechender Unterlagen gebeten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 02.03.2022 reichte der Antragsteller den ihm angebotenen Berufsausbildungsvertrag als Koch über einen Zeitraum von 36 Monaten, beginnend zum 01.03.2022 bis zum 31.08.2023 (wegen anrechnungsfähiger Zeiten), unterzeichnet am 23.02.2022, ein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Am 15.03.2022 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Erteilung einer Ausbildungsduldung aufgrund der Passlosigkeit des Antragstellers gemäß § 60c Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 60a Abs. 6 Nr. 2 AufenthG ab mit dem Hinweis, gegebenenfalls würde der von dem Antragsteller mittlerweile gestellte Asylfolgeantrag zu einem Statuswechsel führen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller stellte am 31.05.2022 einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Zur Begründung führt er aus, er habe sich fruchtlos um die Beschaffung eines Passes in der Botschaft in Berlin bemüht. Außerdem werde nicht berücksichtigt, dass die Nichtausstellung eines afghanischen Passes nicht in seiner Sphäre liege. Angesichts des Erlasses des Ministeriums für Inneres vom 02.05.22 (UV 31861/2022) müsse der Antragsgegner positive Kenntnis von der faktischen Unmöglichkeit der Passbeschaffung haben, aufgrund dessen sogar geraten werde, in begründeten Einzelfällen den afghanischen Schutzsuchenden Reiseausweise für Ausländer zu erteilen. Außerdem würde afghanischen Staatsangehörigen aktuell vom Bundesamt zumindest ein Bleiberecht wegen Vorliegens von Abschiebehindernissen eingeräumt, welches mit einer Arbeitsgenehmigung verbunden sei. Zudem würden auch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine eine Arbeitserlaubnis erhalten, ohne vorher ein Verfahren durchzulaufen, welches den Schutzstatus feststellt. Im Zuge des Gleichheitsgrundsatzes könne das Privileg einer Ausbildung und/oder einer Arbeit nachgehen zu dürfen, nicht von der Herkunft des Schutzsuchenden abhängig sein. Vielmehr müssten Flüchtlinge, gleich aus welchem Land sie vor ihrer Flucht nach Deutschland kämen, als wesentlich Gleiche – nämlich Schutzsuchende - wesentlich gleich behandelt werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Soweit der Antragsgegner auf Unstimmigkeiten beim Geburtsjahr hingewiesen habe, sei dieser Umstand unbekannt. Vorstellbar sei ein Umrechnungs- oder Übertragungsfehler. Der Antragsteller sei 1996 geboren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Zur Eilbedürftigkeit führt der Antragsteller aus, dass das Ausbildungsangebot nicht dauerhaft erhalten bleiben könne, da der Arbeitgeber Fachkräfte benötige und daher ausbilden wolle. Ein Abwarten auf eine Hauptsacheentscheidung würde womöglich erst nach Wegfall der Ausbildungsmöglichkeit ergehen. Dies sei nicht zumutbar. Der Arbeitgeber ... habe zudem das Ausbildungsverhältnis mit Schreiben vom 30.07.2022 mangels Vorlage einer Arbeitsgenehmigung zunächst ruhend gestellt. Bei Vorlage einer Arbeitsgenehmigung könne die Ausbildung, die zum 01.03.2022 begonnen worden sei, beendet werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Als Nachweis reichte der Antragsteller eine weitere Bescheinigung der afghanischen Botschaft vom 11.04.2022 ein, wonach weiterhin die Ausstellung von Reisepässen aus technischen Gründen nicht möglich ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller zur Durchführung der Ausbildung als Koch in der Firma ..., ..., ... eine Arbeits- und Ausbildungserlaubnis zu erteilen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>den Antrag abzulehnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Zur Begründung bezieht er sich erneut auf die fehlende Mitwirkung des Antragstellers und weist darauf hin, dass die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingereichten Dokumente als Identitätsnachweis nur eingeschränkt geeignet seien. Auffällig sei, dass das Geburtsjahr nicht wie vom Antragsteller angegeben 1996 lautete, sondern 1993.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zulässig und begründet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>Der Verpflichtung des Antragsgegners im einstweiligen Rechtsschutzverfahren stehen zunächst nicht die Regelungen über die Unzulässigkeit einer Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Anordnungsverfahren entgegen. Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt dann vor, wenn die Entscheidung und ihre Folgen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auch nach der Hauptsacheentscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung jedoch nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>So liegt der Fall hier. Der Antragsteller hat hinreichend dargelegt, dass ein weiteres Zuwarten zu unumkehrbaren Rechtsnachteilen auf seiner Seite, insbesondere dem möglichen Verlust seines Berufsausbildungsplatzes, führen würde.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Der Antrag ist auch begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V. mit § 920 Abs. 2 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>Dem Antragsteller steht ein Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung nach § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu. Danach ist eine Duldung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen, wenn der Ausländer in Deutschland im Besitz einer Duldung nach § 60a AufenthG ist und eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf aufgenommen hat. Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller. Insbesondere stellt die beabsichtigte Ausbildung zum Koch mit 36 Monaten Ausbildungsdauer eine qualifizierte Ausbildung i.S.d. § 2 Abs. 12a AufenthG dar. Dabei kann unterstellt werden, dass ihm die Wiederaufnahme der Ausbildung trotz des Ausbildungsbeginns am 01.03.2022 weiterhin möglich ist, da diese unstreitig trotz fehlender Ausbildungsduldung zum 01.03.2022 begonnen wurde und derzeit nur wegen der weiterhin fehlenden Ausbildungsduldung ruhend gestellt ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Der Erteilung der Ausbildungsduldung steht entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht der Versagungsgrund des § 60c Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG entgegen. Gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG darf einem Ausländer die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Der Ausländer hat das Abschiebungshindernis zu vertreten, wenn die Gründe, die der Vollziehung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entgegenstehen, in den Verantwortungsbereich des Ausländers fallen (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 11.12.2002 – 4 LB 471/02 –, juris, Rn. 25). Dazu gehören insbesondere die Fälle der vorwerfbaren Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung, Identitätsklärung oder der Beschaffung von Identitätspapieren (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 18.01.2006 – 18 B 1772/05 –, juris, Rn. 43, 44 m.w.N.). Mangelnde Mitwirkung als Versagungsgrund für die Beschäftigungserlaubnis muss ein gewisses Gewicht erreichen, so dass es gerechtfertigt erscheint, sie aktivem Handeln gleichzustellen (vgl. VGH München, Beschluss vom 09.05.2018 – 10 CE 18.738 –, juris, Rn. 6). Das Verhalten des Ausländers muss kausal dafür sein, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 08.11.2005 – 12 ME 397/05 –, juris, Rn. 13). Nach dem Wortlaut des § 60a Abs. 6 AufenthG führen nur solche Gründe zum Verbot der Erwerbstätigkeit, die im Zeitpunkt der Entscheidung über das Erwerbstätigkeitsverbot die Abschiebung hindern. Es muss mithin ein aktueller Gegenwartsbezug bestehen, d.h. die konkrete Verhaltensweise muss auch heute noch kausal für die Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung sein (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 10.07.2017 – 11 S 695/17 –, juris, Rn. 33).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Gemessen an diesen Maßstäben hat der Antragsteller im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht zu vertreten, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Sofern der Antragsgegner auf vergangenes Handeln und das Verletzen der Mitwirkungspflichten des Antragstellers abstellt, ist dies zunächst im Rahmen des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht zu berücksichtigen. Dem steht bereits der eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen („aufenthaltsbeendende Maßnahmen… nicht vollzogen werden können“). Aber auch soweit sich der Antragsgegner auf die derzeit fehlenden Passbeschaffungsbemühungen des Antragstellers bezieht, ist nicht von einem Vertretenmüssen i. S. d. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auszugehen. Denn ausweislich der von dem Antragsteller vorgelegten Bescheinigungen der afghanischen Botschaft in Berlin vom 21.09.2021 und vom 22.04.2022 ist diese derzeit und auch weiterhin nicht in der Lage, afghanischen Staatsangehörigen Reisepässe auszustellen. Dies wird bestätigt durch die Verbalnote der afghanischen Botschaft vom 26.07.2022 an das Auswärtige Amt, mit welcher die Botschaft darüber informiert, dass sie keine neuen Passanträge annimmt und nur in Ausnahmefällen neue Pässe ausstellen kann (so zu finden beispielsweise unter: https://bimf.thueringen.de/media/tmmjv_migrationsbeauftragte/th10/bimf/FREMDE_DATEIEN/Dateien_FREMD/Verbalnote_Botschaft_Passbeschaffung_Afghanistan.pdf). Es ist nicht erkennbar und auch nicht dargelegt, dass dem Antragsteller, auch wenn dieser ausweislich eines handschriftlichen Aktenvermerks vom 08.10.2021 (Bl. 119R VV) mittlerweile im Besitz einer Tazkira ist, eine Passbeschaffung gelingen könnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Der Erteilung einer Ausbildungsduldung steht auch nicht § 60c Abs. 2 Nr. 3 b) AufenthG entgegen. Danach wird eine Ausbildungsduldung nicht erteilt, wenn die Identität bis zur Beantragung der Ausbildungsduldung nicht geklärt ist. Zwar ist das Geburtsdatum des Antragstellers weiterhin als nicht abschließend geklärt anzusehen, da er im Asylverfahren als Geburtsjahr das Jahr 1996 angegeben hat, während die von ihm eingereichten Unterlagen, welche die vergeblichen Versuche der Passbeschaffung belegen sollen, bei gleichen Personalien auf das Geburtsjahr 1993 lauten und diesbezüglich die Angaben des Antragstellers auch auf Nachfrage vage und wenig nachvollziehbar blieben. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass die Angabe falscher Personalien im Asyl- oder in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren auch nach der Aufdeckung der wahren Identität nicht bedeuten müssen, dass die Identität als ungeklärt anzusehen ist (vgl. BeckOK AuslR/Maor, 34. Ed. 1.7.2022, AufenthG § 5 Rn. 6). Dies gilt insbesondere, wenn die fehlerhaften Angaben insbesondere die Identifizierung, die Bestätigung der Staatsangehörigkeit und die Rückreiseberechtigung im völkerrechtlichen Verkehr, nicht erkennbar beeinträchtigt werden und keine Verwechslungsgefahr besteht (vgl. bei falschen oder zweifelhaften Angaben im Nationalpass: VGH München, Beschluss vom 03.11.2009 – 19 ZB 08.2144 – BeckRS 2011, 46036). Dies ist hier vor dem Hintergrund der übereinstimmenden Lichtbilder in den Verwaltungsakten und den mit einem Lichtbild des Antragstellers eingereichten Dokumenten der Botschaft anzunehmen. Darüber hinaus geht aus dem vom Bundesamt übersandten Original des Personalblattes des Zentralamtes für Personenstandswesen als Geburtsjahr lediglich das Jahr „1400“ hervor und zudem geht auch der Antragsgegner trotz der zuletzt vorgelegten Unterlagen offensichtlich weiterhin von einer geklärten Identität aus, was sich darin manifestiert, dass der Antragsteller bis zuletzt weiterhin im Besitz einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG und nicht im Besitz einer Duldung gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG wegen ungeklärter Identität gewesen ist. Es ist weder dargelegt noch sonst erkennbar, dass der Unstimmigkeit in Bezug auf das Geburtsdatum eine zukünftige Verwechslungsgefahr innewohnen könnte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Der Antragsteller verwirklicht auch nicht den Versagungsgrund des § 60c Abs. 2 Nr. 5 d) AufenthG, da konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung insbesondere auch wegen des gestellten Asylfolgeantrages derzeit nicht ersichtlich sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Ein Anordnungsgrund liegt aufgrund der weiterhin zu befürchtenden Möglichkeit der Ausbildungsbeendigung und der Unzumutbarkeit des Zuwartens auf eine Hauptsacheentscheidung ebenfalls vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,755
vg-munster-2022-09-23-1-l-70122
{ "id": 846, "name": "Verwaltungsgericht Münster", "slug": "vg-munster", "city": 471, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
1 L 701/22
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:25"
"2022-10-17T11:10:39"
Beschluss
ECLI:DE:VGMS:2022:0923.1L701.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auf 15.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">A. Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 6. September 2022 - 1 K 2520/22 - gegen den Bescheid der Bezirksregierung Münster vom 25. August 2022 wiederherzustellen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2. VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO statthaft und auch sonst zulässig, aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">I. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Aufhebung der Genehmigung zum Betrieb der vom Antragsteller getragenen „G.      X.             S.      “ ist formell ordnungsgemäß.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Es ist zunächst – entgegen der Auffassung des Antragstellers – unschädlich, dass die Bezirksregierung Münster als die den Verwaltungsakt erlassende und damit (auch) für die Anordnung der sofortigen Vollziehung zuständige Behörde (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) davon abgesehen hat, ihn vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung anzuhören. Zumindest wenn diese – wie hier – mit dem Erlass des Verwaltungsaktes verbunden wird, bedarf es insoweit keiner vorangehenden Anhörung des Betroffenen.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur Buchheister, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 80 Rn. 23 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Anordnung der sofortigen Vollziehung entspricht auch dem formalen Erfordernis der Begründung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt jede schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die Behörde aus Gründen des zu entscheidenden Einzelfalles eine sofortige Vollziehung ausnahmsweise für geboten hält. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die zur Begründung der Vollziehungsanordnung angeführten Gründe den Sofortvollzug tatsächlich rechtfertigen und ob die für die sofortige Vollziehung angeführten Gründe erschöpfend und zutreffend dargelegt sind.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 17. Januar 2020 - 13 B 1282/19 -, juris, Rn. 5 m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Diesen formellen Anforderungen werden die diesbezüglichen Ausführungen der Bezirksregierung Münster ohne Weiteres gerecht. Sie hat in der Begründung der Vollziehungsanordnung auf Seite 50 f. ihres Bescheids vom 25. August 2022 hinreichend erkennen lassen, dass sie sich des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst war. Die Begründung weist auch einen ausreichenden Bezug zu dem vorliegenden Einzelfall auf, indem sie ausführlich auf konkret benannte Gefahren abstellt, die hier aus ihrer Sicht aus einem weiteren Abwarten bis zur Bestandskraft des Bescheides resultieren.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">II. Die vom Gericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers, von Vollzugsmaßnahmen einstweilen verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug des Bescheids vom 25. August 2022 fällt zu Lasten des Antragstellers aus.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die getroffene Regelung erweist sich nach der in diesem vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein vorzunehmenden summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache – unbeschadet eines etwaigen, hier für den Erfolg in der Hauptsache jedenfalls unbeachtlichen Anhörungsmangels – als offensichtlich rechtmäßig – 1. – und es besteht ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung – 2. –.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">1. Die in dem Bescheid der Bezirksregierung Münster vom 25. August 2022 auf der Grundlage von § 101 Abs. 6 SchulG NRW mit Wirkung vom 30. September 2022 geregelte Aufhebung der dem Antragsteller zuvor erteilten Genehmigung, die „G.     X.             S.      “ als Ersatzschule eigener Art zu errichten und zu betreiben, ist in materieller Hinsicht offensichtlich rechtmäßig – b) –. Unter formellen Gesichtspunkten begegnet der Bescheid jedenfalls keinen durchgreifenden Bedenken – a) –.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">a) Der Bescheid der Bezirksregierung Münster vom 25. August 2022 begegnet in formeller Hinsicht zumindest keinen durchgreifenden Bedenken.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob der Antragsgegner den Antragsteller vor Erlass des – im Übrigen formell rechtmäßigen – Bescheids wie erforderlich im Sinne des § 28 Abs. 1 VwVfG NRW angehört hat, insbesondere ob die entsprechenden Hinweise in der Mängelfeststellung vom 17. Juni 2022 (Bl. 201 ff., BA Heft 4) den an eine ordnungsgemäße Anhörung zu stellenden Anforderungen genügen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Denn ein etwaiger Anhörungsmangel begründete keine in diesem Verfahren zu Gunsten des Antragstellers berücksichtigungsfähigen Erfolgsaussichten in der Hauptsache, weil die Anhörung noch gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG NRW bis zum Abschluss der ersten Instanz des verwaltungsgerichtlichen Klageverfahrens nachgeholt werden kann.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu sowie zum Folgenden OVG NRW, Beschluss vom 28. Juni 2022 - 9 B 485/22 -, juris, Rn. 3 ff.; siehe auch OVG NRW, Beschluss vom 30. Juni 2016 - 20 B 1408/15 -, juris, Rn. 7.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon könnte der Antragsteller im Hauptsacheverfahren die Aufhebung des ihn belastenden Verwaltungsakts auch dann nicht beanspruchen, wenn die etwaig unterbliebene Anhörung nicht ordnungsgemäß nachgeholt werden würde. Dieser mögliche Verfahrensfehler wäre nämlich nach § 46 VwVfG NRW unbeachtlich, weil es angesichts der Ausgestaltung der Aufhebung der Schulgenehmigung nach § 101 Abs. 6 SchulG NRW als gebundene Entscheidung („Die Genehmigung ist aufzuheben, wenn […]“) offensichtlich ist, dass er die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hätte.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">b) Die Aufhebung der Genehmigung zum Betrieb der Schule des Antragstellers ist in materieller Hinsicht offensichtlich rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Nach § 101 Abs. 6 SchulG NRW ist die Genehmigung (einer Ersatzschule) aufzuheben, wenn die Voraussetzungen für die Genehmigung im Zeitpunkt der Erteilung nicht vorlagen oder später weggefallen sind und dem Mangel trotz Aufforderung der oberen Schulaufsichtsbehörde innerhalb einer bestimmten Frist nicht abgeholfen worden ist. Voraussetzung für die Erteilung der Genehmigung einer Ersatzschule ist gemäß Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG, § 101 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW u.a., dass die private Schule in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurücksteht. Ferner darf eine Ersatzschule nur errichten, betreiben oder leiten, wer die Gewähr dafür bietet, dass sie oder er nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt und die persönliche Zuverlässigkeit besitzt (§ 101 Abs. 5 Satz 1 SchulG NRW). Errichtung und Betrieb einer Ersatzschule erfordern darüber hinaus die wirtschaftliche Zuverlässigkeit des Trägers; bei Personenvereinigungen und juristischen Personen gilt dies entsprechend für die vertretungsberechtigten Personen (§ 101 Abs. 5 Satz 2 SchulG NRW).</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Hiernach war die dem Antragsteller mit Bescheid vom 12. Juli 2017 erteilte und mit Bestätigung vom 5. August 2019 erweiterte Genehmigung, die „G.     X.             S.      “ als Ersatzschule eigener Art im Sinne des § 100 Abs. 6 SchulG NRW zu errichten und zu betreiben, aufzuheben. Ungeachtet der Frage, ob die Genehmigungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Erteilung vorgelegen haben, sind sie jedenfalls nachträglich weggefallen. Es fehlt insoweit bereits an der persönlichen Zuverlässigkeit der handelnden Personen im Sinne des § 101 Abs. 5 SchulG NRW – (1) –. Darüber hinaus ist auch nicht (mehr) von einer Gleichwertigkeit der „G.      X.             S.      “ in Bezug auf öffentliche Schulen im Sinne von Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG, § 101 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW auszugehen – (2) –. Diesen Mängeln bzw. den ihnen zu Grunde liegenden Umständen hat der Antragsteller trotz diesbezüglicher Aufforderungen des Antragsgegners im Sinne des § 101 Abs. 6 SchulG NRW nicht abgeholfen. Dies führt auf Rechtsfolgenseite zwingend zur Aufhebung der Genehmigung, ohne dass Raum für Ermessenserwägungen des Antragsgegners einschließlich der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bliebe – (3) –.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">(1) Die vertretungsberechtigten Personen des die Schule als Schulträger betreibenden Antragstellers – dies sind nach Aktenlage Herr C.      , Frau C1.     sowie Frau H.     , die zugleich zuvor kommissarische Schulleiterin war – sowie der aktuelle kommissarische Schulleiter Herr P.      besitzen nicht die persönliche Zuverlässigkeit.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Persönlich zuverlässig ist, wer nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens die Gewähr dafür bietet, dass er seine Schule in Zukunft ordnungsgemäß betreibt bzw. leitet. Dies setzt u.a. die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, sich an schulrechtliche oder sonst in diesem Zusammenhang relevante Vorschriften zu halten, geeignetes und zuverlässiges Personal einzusetzen sowie Fehlverhalten des Lehr- und Erziehungspersonals entgegenzuwirken und in geeigneter Form unmittelbar und nachhaltig zum Schutze der Schülerinnen und Schüler einzuschreiten. Die Gewährleistung des Art. 7 Abs. 4 GG erfordert es dabei, strenge Anforderungen an die Feststellung mangelnder persönlicher Zuverlässigkeit zu stellen, wobei im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch Art, Umfang, Dauer und Anzahl der Verstöße zu berücksichtigen sind.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. umfassend Bülter, in: SchulG NRW, Gesamtkommentar, § 101 Anm. 5.3 (20. Ergänzungslieferung, Stand: September 2017) m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Hieran gemessen fehlt es den vertretungsberechtigten Personen des die Schule als Schulträger betreibenden Antragstellers sowie dem Schulleiter an der erforderlichen persönlichen Zuverlässigkeit. Sie bieten nach dem Gesamteindruck ihres Verhaltens nicht die Gewähr dafür, dass sie die „G.     X.             S.      “ in Zukunft ordnungsgemäß betreiben bzw. leiten werden.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Diese Einschätzung ergibt sich exemplarisch und je für sich tragend jedenfalls aus den nachfolgend beschriebenen Verfehlungen – (aa) bis (cc) –. Deshalb bedarf es keines zusätzlichen Rückgriffs auf die zahlreichen weiteren aus dem Verwaltungsvorgang ersichtlichen Umstände und Vorkommnisse – etwa zu regelmäßigen Verletzungen der Aufsichtspflicht, gehäuft auftretenden sicherheitsrelevanten Mängeln auf dem Schulgelände sowie dem Einsatz von Lehrkräften unter Verletzung der Anzeigepflicht bzw. ohne die nach § 102 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW erforderliche Unterrichtsgenehmigung oder über deren Inhalt hinaus –, die der Sache nach die Prognose der persönlichen Unzuverlässigkeit der handelnden Personen ebenfalls begründen dürften.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">(aa) Die vorgenannten Personen bieten nicht die Gewähr für einen ordnungsgemäßen Betrieb bzw. die ordnungsgemäße Leitung der Schule, weil sie nach Aktenlage im schulischen Zusammenhang teilweise selbst gegen die auch an Ersatzschulen unmittelbar geltenden Coronaschutzregeln verstoßen haben und insgesamt gegen entsprechendes Fehlverhalten des Lehr- und Erziehungspersonals nicht bzw. nicht mit anhaltendem Erfolg eingeschritten sind.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nach Aktenlage haben Frau H.     , Herr C.      und Herr P.      in verschiedenen „Konferenz- oder Bürosituationen“, etwa am 11. März 2021 und 22. April 2021, nicht den vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz getragen (vgl. Bl. 152, BA Heft 1b). Darüber hinaus haben die handelnden Personen im Sinne des § 101 Abs. 5 SchulG NRW insgesamt nicht bzw. nicht hinreichend und nicht nachhaltig dem Fehlverhalten verschiedener Lehrkräfte entgegengewirkt, die ihrerseits in einer Vielzahl von Fällen gegen Vorschriften zum Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 verstoßen haben und die Schülerinnen und Schüler nicht nur nicht zum Einhalten der Regeln angehalten, sondern teilweise sogar zu deren Nichteinhaltung veranlasst haben. So trugen beispielsweise verschiedene Lehrkräfte sowie ganze Schulklassen nicht den vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz, Hygienevorgaben zur Reinigung und Lüftung der Klassenräume wurden nur unzureichend eingehalten, die tatsächliche Sitzordnung stimmte nicht mit den ausgehängten Sitzplänen überein, verpflichtend vorgesehene Coronaselbsttests wurden nicht bzw. nicht ordnungsgemäß durchgeführt und Testdokumentationen fehlten (vgl. zusammenfassend Bl. 202 ff., 364 f., BA Heft 1a, Bl. 124 ff., 131 ff., 314 ff., 365 ff., 400, BA Heft 1b, Bl. 1, BA Heft 1c). Eine Lehrkraft vereinbarte mit ihrer Klasse geheime Klopfzeichen, um sicherzustellen, dass die Schülerinnen und Schüler schnell die Masken hochziehen, wenn die Bezirksregierung oder das Gesundheitsamt vor der Tür stehen, und ließ die Klasse über eine selbst gebaute Vorrichtung aus dem Klassenzimmer klettern, um das Tragen einer Maske im Gebäude zu umgehen (Bl. 122, 126, BA Heft 1c). Dieser tatsächlichen Grundlage, die sich aus der Schilderung unterschiedlicher, voneinander unabhängiger Personen über einen längeren Zeitraum hinweg, sowie eigenen Feststellungen des Antragsgegners bei mehreren Ortsterminen ergibt, ist der Antragsteller nicht nur nicht substantiiert entgegengetreten, sondern hat diese größtenteils, jedenfalls aber in ihrem wesentlichen Kern ausdrücklich selbst eingeräumt (vgl. Bl. 223 f., BA Heft 1a, Bl. 169, 182 ff., 349 ff., 365 ff., BA Heft 1b, Bl. 20 f., BA Heft 1c).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dabei waren die vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers trotz zahlreicher Hinweise und mehrerer konkreter „Mängelbeseitigungsaufforderungen“ des Antragsgegners mit Schreiben vom 16. Dezember 2020 (Bl. 209 ff., BA Heft 1a), vom 20. Mai 2021 (Bl. 122 ff., BA Heft 1b) und vom 27. September 2021 (Bl. 398 ff., BA Heft 1b, Bl. 1 f., BA Heft 1c) nicht willens oder nicht in der Lage, die über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr immer wieder auftretenden Verstöße gegen die Coronaschutzvorschriften nachhaltig zu verhindern. Im Gegenteil missachtete die seinerzeit als Schulleitung tätige Frau H.     zusammen mit Frau C1.     und Herrn C.      als weiteren Angehörigen des „Schulleitungsteams“ sogar noch im November 2021 ausdrückliche Vorgaben des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, indem sie – wie Frau H.     selbst in ihrer Stellungnahme vom 1. Dezember 2021 (Bl. 91 f., BA Heft 1c) einräumt – die Umsetzung der neuen „3G-Regel“ am Arbeitsplatz nicht selbst in die Hand nahm(en), sondern zunächst in die „Eigenverantwortung der Mitarbeiter“ gab(en). Dies führte dazu, dass mehrere nicht geimpfte und nicht genesene Lehrkräfte unter Verstoß gegen die einschlägigen Vorschriften gänzlich ungetestet bzw. ohne den erforderlichen Test, der in der Schule unter der Aufsicht eines Dritten durchzuführen gewesen wäre, unterrichteten (vgl. Bl. 93, BA Heft 1c). Hierdurch begünstigten sie zudem, dass eine später positiv getestete Lehrkraft unter Verstoß gegen die „3G-Regelung“ ohne den erforderlichen Testnachweis an zwei Tagen trotz deutlicher Corona-Symptome ohne Maske bei geschlossenem Fenster in verschiedenen Klassen Unterricht erteilte, mit anderen Lehrkräften in der Mensa zusammenkam und an einer Konferenz sowie einer Probe für ein „Christgeburtsspiel“ teilnahm; in der Folge erkrankten etwa 25 Personen, die zuvor zu der Lehrkraft im schulischen Umfeld Kontakt hatten, an Corona (vgl. Bl. 77, 80, 120, 122, 125, 159, BA Heft 1c). Dabei gibt es sogar Hinweise darauf, dass die Lehrkraft offen im Kollegenkreis über ihre aktuellen Symptome wie Husten, Fieber und Halsschmerzen gesprochen hat, ohne dass dies insbesondere von Frau H.     zum Anlass genommen worden wäre, den Testnachweis der Lehrperson zu kontrollieren und diese nach Hause zu schicken (vgl. Bl. 122, BA Heft 1c; siehe auch ihre Stellungnahme vom 1. Dezember 2021 [Bl. 92, BA Heft 1c]: „Er wirkte etwas angeschlagen, aber nicht krank.“).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Obwohl damit offenkundig zugleich sogar Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit der erkrankten Personen im Raum standen (vgl. nur § 223 StGB), sah sich der Antragsteller erst auf Drängen der Bezirksregierung Münster dazu veranlasst, arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen die vorgenannte Lehrkraft zu ergreifen (vgl. Bl. 120, 173, 176, BA Heft 1c). Trotz der in der Folge vollzogenen Kündigung und obwohl die Bezirksregierung mit vollziehbarem Bescheid vom 31. Januar 2022 die Unterrichtsgenehmigung der Lehrkraft zurückgenommen hatte, schritten die vorstehend genannten Personen nicht dagegen ein, dass die Lehrkraft Anfang Februar 2022 noch in die Erstellung von AO-SF-Gutachten eingebunden wurde (vgl. Bl. 146 ff., BA Heft 4) und am 3. Juni 2022 in den Klassen 7 und 8 Sportunterricht erteilte (vgl. Bl. 284, BA Heft 1c, Bl. 46, BA Heft 4). Ebenso wandten sie sich (zumindest zunächst) nicht gegen die beabsichtigte Teilnahme der Lehrkraft an einer Klassenfahrt am 19. Mai 2022 (vgl. Bl. 284 ff., BA Heft 1c, Bl. 46 ff., BA Heft 4). Herr P.      stellte es den Eltern mit E-Mail vom 17. Mai 2022 sogar noch mit der Absage der Durchführung der Fahrt als Schulveranstaltung ausdrücklich (mindestens) frei, trotz bestehender Schulpflicht an der jetzt als privat apostrophierten Fahrt teilzunehmen („Daher kann die Reise nicht als Schulveranstaltung gewertet werden und ist damit nicht über die Gemeindeunfallversicherung abgesichert. Ich teile Ihnen das mit, damit Sie sich dessen bewusst sind und selber entscheiden können. Ich wünsche Ihnen eine erlebnisreiche Fahrt.“, Bl. 345, BA Heft 1c, Bl. 116, BA Heft 4).</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Hiernach bieten die vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers und der Schulleiter keine Gewähr dafür, dass sie die „G.     X.             S.      “  in Zukunft ordnungsgemäß betreiben bzw. leiten werden. Sie haben teilweise selbst gegen Coronaschutzregeln verstoßen und sind insgesamt nicht bzw. nicht mit anhaltendem Erfolg gegen entsprechendes Fehlverhalten verschiedener Lehrkräfte eingeschritten. Damit haben sie nicht nur geltendes Recht missachtet, sondern zugleich trotz wiederholter Aufforderungen der Schulaufsichtsbehörde über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr billigend in Kauf genommen, dass die ihnen anvertrauten Kinder, deren Angehörige sowie die sonstigen Mitarbeiter der Schule einer erheblichen Gesundheitsgefahr ausgesetzt wurden. Der hiergegen gerichtete Einwand des Antragstellers, der Sachverhalt liege in der Vergangenheit und spiele für den zukünftigen Betrieb der Schule keine wesentliche Rolle, trifft nicht zu. Das von den vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers und dem Schulleiter in der Vergangenheit gezeigte Verhalten begründet die für § 101 Abs. 6 SchulG NRW erforderliche Prognose, dass von ihnen auch in Zukunft kein ordnungsgemäßer Betrieb bzw. keine ordnungsgemäße Leitung der Schule zu erwarten ist. Die Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit der Verstöße und das darin zum Ausdruck kommende Fehlen eines hinreichenden Normbefolgungswillens weist dabei auch über die konkrete Nichteinhaltung von Coronaschutzvorschriften hinaus und belegt insgesamt ihre persönliche Unzuverlässigkeit. Vor diesem Hintergrund geht auch das weitere Vorbringen des Antragstellers, die aktuellen Lehrkräfte und sonstigen Mitarbeiter würden die verbindlichen Regelungen zum Gesundheitsschutz umsetzen, am maßgeblichen Punkt vorbei.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">(bb) Unabhängig vom Vorstehenden ergibt sich die persönliche Unzuverlässigkeit der vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers auch daraus, dass sie mit der Wahrnehmung der Aufgaben der Schulleitung Personen betraut haben, die nicht über die nach § 5 der Verordnung über die Ersatzschulen (EschVO) erforderliche Genehmigung verfügten.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Schulleitung der „G.      X.             S.      “ gemäß dem Genehmigungsbescheid vom 12. Juli 2017 zunächst durch Frau L.       -F.         wahrgenommen wurde (Bl. 114, BA Heft 7), genehmigte der Antragsgegner Frau H.     mit Bescheid vom 31. August 2018 in der Fassung der Verlängerung vom 23. Juli 2019 die Übernahme der kommissarischen Schulleitung befristet bis zum 31. Juli 2021 (vgl. Bl. 138, BA Heft 1c). In einer längeren Abwesenheitsphase von Frau H.     wurden die Aufgaben der Schulleitung allerdings, wie der Antragsteller selbst einräumt (vgl. etwa Bl. 31, 224, BA Heft 1a), ohne jegliche Absprache mit der Schulaufsichtsbehörde von anderen Personen wahrgenommen, die über keine entsprechende Genehmigung verfügten. Den auf die Sicherung einer qualifizierten Schulleitung auch für den Fall der Abwesenheit von Frau H.     gerichteten Mängelbeseitigungsaufforderungen des Antragsgegners vom 16. Dezember 2020 (Bl. 209 ff., BA Heft 1a) und vom 20. Mai 2021 (Bl. 122 ff., BA Heft 1b) ist der Antragsteller nicht binnen der ihm gesetzten Frist, zuletzt bis zum Schuljahresende 2020/2021 nachgekommen. Im Gegenteil unterließen es die vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers bzw. Frau H.     sogar, einen Antrag auf Verlängerung der letzterer erteilten Genehmigung zu stellen. Dies hatte zur Folge, dass die Schule ab dem 1. August 2021 für einen Zeitraum von einem halben Jahr von einer (oder faktisch mehreren) Personen geleitet wurde, die nicht über die dazu erforderliche Genehmigung verfügte(n).</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">An diesen Sachverhalt kann für die hier zu treffende Prognose angeknüpft werden, obwohl die Schule des Antragstellers seit dem 1. Februar 2022 durch Herrn P.      geleitet wird, der über eine bis zum 31. Juli 2023 befristete Genehmigung zur Ausübung der Tätigkeit als kommissarischer Schulleiter verfügt (vgl. Bl. 186, BA Heft 4). Denn bereits der klare Wortlaut von § 101 Abs. 6 SchulG NRW („[…] dem Mangel trotz Aufforderung der oberen Schulaufsichtsbehörde innerhalb einer bestimmten Frist nicht abgeholfen worden ist.“) zeigt, dass es insoweit allein darauf ankommt, ob dem Mangel zum Zeitpunkt des Fristablaufs abgeholfen worden ist.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 20. Januar 2011 - 2 M 3/11 -, juris, Rn. 6, zu dem gleichlautenden § 121 Abs. 1 SchulG M-V.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon bieten die vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers aber auch unter Berücksichtigung der vorbeschriebenen weiteren Entwicklung keine Gewähr für den ordnungsgemäßen Betrieb der Schule in der Zukunft, weil sie durch das fruchtlose Verstreichenlassen der Abhilfefrist (sowie erst recht den unterlassenen Verlängerungsantrag bezüglich der Genehmigung von Frau H.     ) gezeigt haben, dass sie nicht willens oder nicht in der Lage sind, behördlichen Aufforderungen in einem für einen ordnungsgemäßen Schulbetrieb wesentlichen Punkt nachzukommen, ohne dass ein späterer nachhaltiger „Reifeprozess“ erkennbar wäre.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">(cc) Losgelöst vom Vorstehenden belegt auch das Verhalten der vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers sowie des Schulleiters im Zusammenhang mit der der Bezirksregierung Münster unter dem 13. Juni 2022 mitgeteilten „Auflösung“ der Jahrgangsstufe 7 der „G.      X.             S.      “ durch eine Lehrkraft, dass sie nicht die Gewähr für einen ordnungsgemäßen Betrieb bzw. die ordnungsgemäße Leitung der Schule bieten.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Unter dem 13. Juni 2022 informierte der seinerzeitige Verfahrensbevollmächtigte der Antragsteller die Bezirksregierung Münster darüber, dass eine Lehrkraft im Zusammenhang mit ihrem Weggang von der Schule zum nächsten Schuljahr ohne seine Kenntnis „praktisch ihre [bisherige] 7. Klasse dadurch aufgelöst [habe], dass sie für alle noch vorhandenen Schülerinnen und Schüler neue Schulplätze besorgt [habe]“ (Bl. 139, BA Heft 4). Daraufhin rügte die Bezirksregierung Münster mit Schreiben vom 17. Juni 2022 (Bl. 182 ff., BA Heft 4) die „‘Auflösung’ ohne Kenntnis der Schulleitung bzw. des Schulträgers“ und gab dem Antragsteller (auch) insoweit bis zum 31. Juli 2022 „letztmalig Gelegenheit“, den Mangel abzustellen. Diese Frist wurde in einer Besprechung am 29. Juli 2022 bis zum 12. August 2022 verlängert. Zugleich äußerten die Vertreter der Bezirksregierung in dem Gespräch Zweifel an der darin mitgeteilten Absicht des Antragstellers, aufgrund fehlender Lehrkräfte im neuen Schuljahr nur noch die Klassen 1-5 weiter beschulen zu wollen, d.h. die zukünftigen Jahrgangsstufen 6 bis 8 aufzulösen. Sie gaben dem Antragsteller für den Fall seines Festhaltens an dem Plan einer Reduzierung oder Zusammenfassung von Jahrgangsstufen auf, bei der Bezirksregierung unter Vorlage eines tragfähigen Konzepts einen entsprechenden Antrag zu stellen (Bl. 105, BA Heft 5). Hiermit zeigte die Bezirksregierung dem Antragsteller hinreichend klar im Sinne von § 101 Abs. 6 SchulG NRW auf, dass er entweder die Jahrgangsstufen 6 bis 8 fortzuführen oder aber sich (mindestens) mit ihr über das weitere Vorgehen abzustimmen habe. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass der Antragsgegner sich im März 2022 lediglich „ausnahmsweise“ mit der vom Antragsteller an ihn herangetragenen „Auflösung“ der – bezogen auf das Schuljahr 2022/2023 – 9. Jahrgangsstufe einverstanden erklärte hatte, um diesem die Sicherung des künftigen Unterrichtsbetriebs zu ermöglichen.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Dieser vorgenannten Aufforderung ist der Antragsteller jedoch nicht nachgekommen. Vielmehr verkündete Herr P.      bereits wenige Tage später am 4. August 2022 ohne Absprache mit der Bezirksregierung in einer Elternversammlung, dass die Jahrgangsstufen 6 und 7 des Schuljahres 2022/2023 nicht fortgeführt würden. Zugleich kündigte Herr P.      dort auch die Auflösung der Jahrgangsstufe 5 des Schuljahres 2022/2023 für den Fall an, dass die Bezirksregierung die Unterrichtsgenehmigung einer insoweit eingeplanten Lehrkraft nicht verlängere (vgl. Bl. 294, BA Heft 4; siehe auch die unwidersprochen gebliebenen Angaben des Antragsgegners in diesem Verfahren mit Schriftsatz vom 12. September 2022, S. 4 f.). Daneben wirkte Herr P.      nach den eigenen Angaben des Antragstellers (vgl. Bl. 267, BA Heft 4) auch bei der „faktischen Umsetzung“ der Auflösung der Jahrgangsstufe 8 des Schuljahres 2022/2023 mit, indem er „Kontakt zur X.             Münster aufgenommen, bei der Vermittlung der SuS geholfen, einzelne Eltern in besonderen Fällen beraten und sofort die Vermittlung eines Schülers mit Förderbedarf an eine geeignete Schule veranlasst“ habe.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Auch dieses Verhalten belegt nachdrücklich die fehlende persönliche Zuverlässigkeit der vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers sowie des Schulleiters. Dabei bedarf es in diesem Verfahren keiner Entscheidung, ob die „Auflösung“ (sogar mehrerer) vollständiger Jahrgangsstufen einer – wie hier – im Aufbau befindlichen und nach der Genehmigung im Endausbau mit den Klassen 1 bis 12 betriebenen X.             (vgl. Bl. 114, BA Heft 7) als wesentliche Änderung der Voraussetzungen für die Genehmigung nach § 104 Abs. 2 SchulG NRW oder vergleichbar einer vorübergehenden Schließung entsprechend § 104 Abs. 4 SchulG NRW der Genehmigung der oberen Schulaufsichtsbehörde bedarf. Ebenso kann offen bleiben, ob dieser Vorgang wie eine (Teil-)Auflösung einer Ersatzschule entsprechend § 104 Abs. 3 SchulG NRW zu behandeln ist, die nur zum Ende eines Schuljahres zulässig und spätestens sechs Monate zuvor der oberen Schulaufsichtsbehörde anzuzeigen ist. Denn jedenfalls wäre es hier im Interesse der von der „Auflösung“ der Jahrgangsstufen betroffenen Schülerinnen und Schüler, ihre schulische Ausbildung möglichst ohne Nachteile fortsetzen zu können, zwingend erforderlich gewesen, die weitere Vorgehensweise eng mit der Schulaufsichtsbehörde abzustimmen. Dies entgegen der ausdrücklichen Aufforderung der Bezirksregierung missachtet zu haben, zeigt eindrücklich, dass auch in Zukunft kein ordnungsgemäßer Betrieb bzw. keine ordnungsgemäße Leitung einer Schule von den hier handelnden Personen zu erwarten ist.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">(2) Darüber hinaus ist auch nicht (mehr) von einer Gleichwertigkeit der „G.      X.             S.      “ in Bezug auf öffentliche Schulen im Sinne von Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG, § 101 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW auszugehen.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Nach den vorgenannten Vorschriften setzt die Erteilung einer Genehmigung u.a. voraus, dass die private Schule in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurücksteht. Das bedeutet nicht, dass Ersatzschulen mit öffentlichen Schulen gleichartig sein müssen. Vielmehr stehen Ersatzschulen (schon) dann nicht hinter öffentlichen Schulen zurück, wenn sie diesen gleichwertig sind. Denn ein eigenverantwortlich geprägter und gestalteter Unterricht mit entsprechenden Lehrmethoden und Lerninhalten sowie ihre sonstige pädagogische Eigenart entsprechen gerade der Besonderheit der Ersatzschule und führen zu der Vielfalt im Bildungswesen, die das Grundgesetz ermöglichen will.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bülter, in: SchulG NRW, Gesamtkommentar, § 101 Anm. 1.6 (23. Ergänzungslieferung, Stand: August 2019) m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzung erfüllt die „G.     X.             S.      “ nicht mehr. Dabei kann offen bleiben, ob sie in ihren Lehrzielen – (aa) – und in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte – (cc) – hinter den öffentlichen Schulen zurücksteht, weil dies jedenfalls für ihre Einrichtungen gilt – (bb) –.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">(aa) Es kann offen bleiben, ob die „G.     X.             S.      “ in ihren Lehrzielen deshalb hinter den öffentlichen Schulen zurücksteht, weil bei ihr im Kern bezogen auf das Ende des Bildungsgangs keine gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Hierfür bestehen zwar nach Aktenlage erhebliche Anhaltspunkte. So ist es an der „G.      X.             S.      “ in der Vergangenheit – wie auch der Antragsteller zumindest im Ansatz einräumt (vgl. Bl. 341, BA Heft 1c, Bl. 260 f., 264 f., BA Heft 4) – zu erheblichen Unterrichtsausfällen gekommen und wurde darüber hinaus vielfach kein geregelter Unterricht erteilt (vgl. etwa Bl. 266, 267 f., 270 f., 273, BA Heft 1c, Bl. 182 ff., 240, BA Heft 4). Zudem berichtet das Jugendamt der Stadt S.      , deren Mitarbeiter unabhängig von den hier in Rede stehenden Vorgängen im Rahmen eines Verfahrens auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in der Schule hospitierten, von katastrophalen Unterrichtszuständen, die die eigentlich beabsichtigte sozialpädagogische Fachdiagnostik nicht zuließen: Am 18. März 2022 (vgl. Bl. 159, 297, BA Heft 4) sei die Hospitation von einer stetigen Unruhe gekennzeichnet gewesen, so dass eine Wissensvermittlung nur begrenzt möglich gewesen sei. Es sei die schlimmste Hospitation gewesen, die die Mitarbeiterin des Jugendamtes je erlebt habe. Es sei in der Klasse unzumutbar und Unterricht nicht möglich gewesen. Niemand habe der Lehrkraft zugehört, aufgrund der Lautstärke habe man kein Wort verstehen können. Kinder seien einfach aufgestanden. Ein Junge sei mit seiner Schere nach vorne gelaufen und habe die Landkarte zerschneiden wollen. Am 29. April 2022 (vgl. Bl. 159 f., BA Heft 4) habe die Hospitation ebenfalls nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden können, weil die Zeit „von einer enormen Lautstärke (Geschrei der SchülerInnen, Beleidigungen und Respektlosigkeit gegenüber der Lehrerin, Verweigerungshaltung der SchülerInnen)“ geprägt gewesen sei, so dass keine Vermittlung von Lerninhalten stattgefunden habe. Auch am 12. Mai 2022 (vgl. Bl. 169, 174, BA Heft 4) habe eine dauerhafte und starke Unruhe in der Klasse geherrscht. Der Großteil der SchülerInnen habe nicht auf Anweisungen der Lehrkraft reagiert. Ein adäquater Unterricht sei nicht möglich gewesen. Lerninhalte hätten nur sehr begrenzt vermittelt werden können. Grenzüberschreitungen innerhalb der Klasse seien kaum bis gar nicht thematisiert worden. Mit dem Vorstehenden gehen zudem Hinweise einher, wonach es bei Schülerinnen und Schülern der Schule zu erheblichen Lernrückständen – auch im Vergleich mit anderen X       schulen – gekommen sei, etwa Kinder in der 5. Klasse noch nicht einmal ihr Namensschild beschriften können (vgl. nur Bl. 266, 267 f., 270 f., BA Heft 1c, Bl. 240, BA Heft 4, Bl. 41, 51, BA Heft 6; siehe auch die unwidersprochen gebliebenen zusammenfassenden Angaben des Antragsgegners im laufenden gerichtlichen Verfahren mit Schriftsatz vom 12. September 2022, dort S. 7 ff.). Schließlich kommt hinzu, dass der Antragsteller zum Schuljahr 2022/2023 die Jahrgangsstufen 6 bis 9 der sich ohnehin erst im Aufbau befindlichen und auf einen Betrieb mit den Klassen 1 bis 12 ausgerichteten Schule faktisch „aufgelöst“ hat, demnach derzeit lediglich eine Rumpfschule mit den Klassen 1 bis 5 mit insgesamt deutlich unter 100 Schülerinnen und Schülern ohne entsprechendes Konzept betrieben wird, so dass derzeit zweifelhaft ist, ob der angestrebte Abschluss an der Schule letztlich überhaupt erreicht werden kann. Letztlich kann die Frage in diesem Verfahren jedoch offen bleiben.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">(bb) Denn jedenfalls bleibt die „G.     X.             S.      “ in ihren Einrichtungen hinter den öffentlichen Schulen zurück.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Begriff der Einrichtungen im Sinne des § 101 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW betrifft die gesamte sächlich-organisatorische Ausstattung der Ersatzschule, u.a. auch die Ausstattung der Schule mit Lehrern. Die so verstandene Ausstattung muss einen vergleichbar qualifizierten Unterricht wie an öffentlichen Schulen gewährleisten.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bülter, in: SchulG NRW, Gesamtkommentar, § 101 Anm. 1.8 (10. Ergänzungslieferung, Stand: März 2013) m.w.N.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Hieran fehlt es bei der „G.      X.             S.      “, weil nicht ausreichend Lehrpersonal zur Verfügung steht, um im Schuljahr 2022/2023 einen geordneten Schulbetrieb sicherzustellen. Dies räumt der Antragsteller bezogen auf einen Betrieb mit sieben (der eigentlich vorgesehenen acht bzw. neun) Jahrgangsstufen ausdrücklich selbst ein (vgl. nur Bl. 294, BA Heft 4; siehe auch Bl. 261, BA Heft 4), gilt aber auch für den Betrieb mit den derzeit tatsächlich nur noch vorhandenen fünf Jahrgangsstufen.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat binnen der ihm mit Schreiben der Bezirksregierung Münster vom 17. Juni 2022 (Bl. 182 ff., BA Heft 4) bis zum 31. Juli 2022 gesetzten und später bis zum 12. August 2022 verlängerten Frist, deren Dauer in Anbetracht der zahlreichen früheren Hinweise (vgl. nur das unmittelbar vorangegangene Schreiben vom 1. Juni 2022 [Bl. 272 ff., BA Heft 1c]) sowie mit Blick auf den nahenden Beginn des neuen Schuljahres nicht zu beanstanden ist, keine Lehrersituation dargelegt, mit der ein geordneter Schulbetrieb selbst in diesem reduzierten Umfang möglich ist. So sind in der mit Schreiben vom 8. August 2022 (Bl. 260 ff., BA Heft 4) bei der Bezirksregierung vorgelegten Lehrerliste für fünf Klassen lediglich vier Klassenlehrerinnen vorgesehen. Zwar beabsichtigt(e) der Antragsteller ausweislich der Liste, die Klassen 1 und 2 als jahrgangsübergreifende Klassen zu führen. Allerdings fehlt es insoweit – trotz der entsprechenden Aufforderung der Bezirksregierung (Bl. 105, BA Heft 5) – an einem mit der Schulaufsichtsbehörde abgestimmten Konzept. Unabhängig davon verfügten zwei der eingeplanten Klassenlehrerinnen weder zum maßgeblichen Zeitpunkt des Fristablaufs noch verfügen sie derzeit über die erforderliche Unterrichtsgenehmigung, nachdem die Bezirksregierung Münster die entsprechenden Anträge mit – soweit ersichtlich bislang nicht zur gerichtlichen Überprüfung gestellten – Bescheiden vom 25. August 2022 (Bl. 82 ff., BA Heft 2 und Bl. 132 ff., BA Heft 3) abgelehnt hat. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist es dabei auch unerheblich, ob diese Bescheide rechtswidrig sind. Aus Gründen der Rechtssicherheit sowie mit Blick auf den mit dem Genehmigungserfordernis des § 101 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW verfolgten Zweck, sicherzustellen, dass die Schülerinnen und Schüler einen Unterricht erhalten, der demjenigen an vergleichbaren öffentlichen Schulen gleichwertig ist, und sie so vor einem ungleichwertigen Schulerfolg zu schützen, kommt es hier insoweit allein auf die „formelle Rechtslage“ an. Losgelöst davon ist auch nicht offensichtlich, dass die Genehmigungsvoraussetzungen für beide Lehrkräfte vorlagen bzw. ‑liegen. Weiterhin ist als einzige Fachlehrerin für Französisch eine Lehrkraft vorgesehen, die ebenfalls über keine Unterrichtsgenehmigung verfügt und bei der Zweifel an hinreichenden Deutschkenntnissen bestehen. Darüber hinaus ist das Fach Sport völlig unbesetzt. Zudem ist nicht ersichtlich, wie angesichts des mangelnden Lehrerbestands Krankheitsausfälle aufgefangen werden könnten. Das ebenfalls vorgelegte Vertretungskonzept trifft keine verbindlichen Aussagen zum Personaleinsatz und sichert den Unterrichtsausfall auch in fachlicher Sicht nicht ab. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen der Bezirksregierung Münster in dem angegriffenen Bescheid vom 25. August 2022 (dort: S. 40 letzter Absatz bis S. 41 mittig [Punkt „Ordnungsgemäßer Schulbetrieb nicht möglich“]) Bezug genommen, denen der Antragsteller in der Sache nicht weiter entgegengetreten ist.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller mit Schriftsatz vom 15. September 2022 einen ab dem 1. Oktober 2022 beabsichtigten veränderten Einsatz der Lehrkräfte mitteilt, geht das am hier maßgeblichen Zeitpunkt des Ablaufs der Frist zur Mängelbeseitigung vorbei. Unabhängig davon hat sich der Lehrerbestand nach den Angaben des Antragstellers noch weiter verschlechtert, da die ursprünglich als einzige (über eine Unterrichtsgenehmigung verfügende) Fachlehrerin für Englisch, Deutsch, Kunst und Sachkunde eingeplante Lehrkraft das Arbeitsverhältnis zum 30. September 2022 gekündigt hat. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diese weitere Reduzierung des Lehrpersonals durch die verbliebenen Lehrkräfte pädagogisch angemessen aufgefangen werden kann. So geht der Antragsteller selbst davon aus, dass nun auch der Religionsunterricht fachfremd unterrichtet werden muss.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(cc) Hiernach bedarf es keiner Entscheidung mehr, ob die „G.     X.             S.      “ auch in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte – wie die Bezirksregierung Münster in dem angegriffenen Bescheid (dort: S. 41 mittig bis S. 44 mittig [Punkt: „Gleichwertigkeit der wissenschaftlichen Ausbildung der Lehrkräfte“]) angenommen hat – hinter den öffentlichen Schulen zurücksteht.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">(3) Liegen danach die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 101 Abs. 6 SchulG vor, führt dies zwingend zur Aufhebung der Genehmigung, ohne dass Raum für Ermessenserwägungen des Antragsgegners einschließlich der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (auf Rechtsfolgenseite) bleiben. Das beschließende Gericht versteht die Entscheidung des Antragsgegners, die Genehmigung mit Wirkung vom 30. September 2022, des letzten Schultages vor Beginn der Herbstferien, aufzuheben, dahin, dass ein Betrieb der Schule erst mit Ablauf dieses Tages nicht mehr genehmigt ist, d.h. die Schülerinnen und Schüler die Schule am 30. September 2022 noch besuchen dürfen und müssen. Dieser dem Antragsteller gewährte zeitliche Spielraum zur Schulschließung dient einem geordneten Übergang der Schülerinnen und Schüler auf andere Schulen und ist nicht zu beanstanden.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">2. Es besteht ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Aufhebung der Genehmigung zum Betrieb der Schule des Antragstellers. Dieses ergibt sich aus der konkreten Gefahr für die Rechte und schutzwürdigen Interessen der Schülerinnen und Schüler der Ersatzschule sowie deren Eltern, die – wie sich exemplarisch aus dem Vorstehenden ergibt – von dem Betrieb bzw. der Leitung der „G.      X.             S.      “ durch die persönlich unzuverlässigen vertretungsberechtigten Personen des Antragstellers sowie den Schulleiter ausgeht. Hinzu kommt, dass im laufenden Schuljahr 2022/2023 mangels ausreichenden Lehrpersonals ein geordneter Schulbetrieb nicht gesichert und damit unmittelbar die ordnungsgemäße schulische Bildung, Erziehung und Förderung der Kinder gefährdet ist. Diesen Gefahren könnte ohne die sofortige Vollziehung bis zum Zeitpunkt einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache nicht wirksam begegnet werden. Hierhinter hat das private Interesse des Antragstellers an der Fortführung des Betriebes der Schule bis zu einer Klärung im Hauptsacheverfahren zurückzutreten.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG und orientiert sich an der Empfehlung in Ziffer 38.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, wonach in Hauptsacheverfahren für die Genehmigung zum Betrieb einer Ersatzschule und damit auch für deren Aufhebung ein Streitwert in Höhe von 30.000,- Euro vorgesehen ist. Diesen Wert halbiert das beschließende Gericht in Anlehnung an Ziffer 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs mit Blick auf die Vorläufigkeit dieser Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. Februar 2012 - 19 E 61/11 -, n.v., bezüglich der Erteilung einer Schulgenehmigung im Wege der einstweiligen Anordnung; siehe allgemein zu den Grundsätzen der aktuellen Streitwertpraxis des zuständigen Senats nur OVG NRW, Beschluss vom 27. Mai 2021 - 19 E 428/21 -, juris, Rn. 5 ff. m.w.N.</p>
346,754
ovgnrw-2022-09-23-19-b-97022
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
19 B 970/22
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:24"
"2022-10-17T11:10:39"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0923.19B970.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Antragsteller haben die Beschwerde formwirksam eingelegt. Dass sie diese mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 23. August 2022 entgegen § 55d Satz 1 VwGO nur mittels Telefax und nicht als elektronisches Dokument übermittelt haben, steht der Zulässigkeit der Beschwerde im vorliegenden Fall ausnahmsweise nicht entgegen. Nach dieser am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Vorschrift unterliegen schriftlich durch Rechtsanwälte einzureichende Anträge und Erklärungen der Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs. Der Übermittlungsweg per Telefax verstößt grundsätzlich gegen diese Nutzungspflicht.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 31. Mai 2022 ‑ 19 B 459/22 ‑, juris, Rn. 1, und vom 27. April 2022 ‑ 19 B 2003/21 -, juris, Rn. 17 ff.; Müller, in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl., 1. Überarbeitung (Stand: 18. Mai 2022), § 55a VwGO, Rn. 183.2.; Biallaß, in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 2, 2. Aufl., § 8 ERVV, Rn. 5.1 (Stand: 7. September 2022).</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Doch ist die Faxübermittlung vorliegend ausnahmsweise als Ersatzeinreichung nach § 55d Satz 3 VwGO zulässig. Auf einen entsprechenden Hinweis des Senats hat der Prozessbevollmächtigte gemäß § 55d Satz 4 Halbsatz 1 VwGO durch Vorlage der Prüfprotokolle von drei erfolglos gebliebenen Übermittlungsversuchen an das Verwaltungsgericht unverzüglich glaubhaft gemacht, dass ihm eine Übermittlung als elektronisches Dokument wegen eines am Tag des Fristablaufs aufgetretenen technischen Fehlers im Postausgang seines beA-Postfachs vorübergehend unmöglich war.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Zu dieser Glaubhaftmachung OVG NRW, Beschlüsse vom 6. Juli 2022 ‑ 16 B 413/22 ‑, juris, Rn. 6, vom 27. April 2022, a. a. O., Rn. 17, vom 31. März 2022 ‑ 19 A 448/22.A ‑, juris, Rn. 4, und vom 10. März 2022 ‑ 19 E 147/22 -, juris, Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die hiernach formwirksam eingelegte Beschwerde ist jedoch unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO nur die fristgerecht dargelegten Gründe. Diese rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO aufzugeben, den Antragsteller zu 1., Sohn der gemeinsam sorgeberechtigten Antragsteller zu 2. und zu 3., im Schuljahr 2022/2023 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache die Klasse 6 des Städtischen Gymnasiums „O.     H.         C.      “ nach § 12 Abs. 3 Satz 1 APO-S I wiederholen zu lassen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit ihrer Beschwerdebegründung machen die Antragsteller zunächst ohne Erfolg geltend, die Beschlussfassung der Versetzungskonferenz vom 14. Juni 2022 sei schon formell unwirksam, weil keine Einzelfallentscheidung getroffen worden sei. Als Indiz hierfür sei die Zeugniskonferenz vom 25. Januar 2022 heranzuziehen, deren Beschluss im Rahmen der Konferenz am 14. Juni 2022 lediglich bestätigt worden sei. Die Schule habe sich schon im Vorfeld darauf verständigt, den Antragsteller nicht zu versetzen. Ausweislich des Protokolls habe ausschließlich eine Abstimmung stattgefunden und sei keine Prognoseentscheidung getroffen worden.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Diese Einwände rechtfertigen keine andere Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat bereits zutreffend festgestellt, dass das Protokoll der Zeugniskonferenz vom 25. Januar 2022 das vorhergehende erste Schulhalbjahr erfasst, sich aber nicht auf die angefochtene Entscheidung aus der Versetzungskonferenz vom 14. Juni 2022 bezieht. In den zuletzt vorgelegten Verwaltungsvorgängen ist das vollständige und ungeschwärzte Protokoll der Zeugniskonferenz (= Versetzungskonferenz) vom 14. Juni 2022 enthalten, das sich unter anderem ausdrücklich auf den Antragsteller zu 1. bezieht. Dem Protokoll ist einleitend zu entnehmen, dass die Konferenz die „Leistungen der einzelnen Schüler/innen“ erörtert und hierbei die Erforderlichkeit von „Lern- und Förderempfehlungen“ festgestellt hat. Den Antragsteller zu 1. betreffend sind die Fächer Deutsch (Note 5), Englisch (Note 5) und Geschichte (Note 4) sowie das Beratungsergebnis „Schulformwechsel: einstimmig“ aufgeführt. Die zweite Seite dieses Protokolls ist fehlerhaft mit dem Datum „25. Januar 2022“ versehen. Sowohl die Reihenfolge der Dokumente im Verwaltungsvorgang (vgl. Beiakte Heft 3, Bl. 14 f.) als auch die dort (an anderer Stelle, vgl. Beiakte Heft 3, Bl. 11) bereits vorhandene zweite Seite des Protokolls vom 25. Januar 2022 und zudem der Aufdruck „gedruckt am 13. Juni 2022 …“ auf der fraglichen Seite lassen erkennen, dass es sich tatsächlich um die Fortsetzung des Protokolls der Versetzungskonferenz vom 14. Juni 2022 handelt. Handschriftlich findet sich dort die folgende Erläuterung, die nach dem Vermerk „für alle nicht versetzten Schülerinnen und Schüler“ ‑ also neben zwei weiteren auch den Antragsteller zu 1. ‑ gelten soll: „Erörterung des Leistungsstandes in den Fächern, die zur Nicht-Versetzung geführt haben. Feststellung, dass sich keine entscheidende positive Leitungsentwicklung eingestellt hat. Formulierung starker Zweifel, dass der Übergang und die gymnasiale Schullaufbahn erfolgreich sein werden. Feststellung einer geringen Lernbereitschaft trotz angebotener Hilfen.“</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit diesen Erläuterungen hat die Versetzungskonferenz ‑ anders als das Beschwerdevorbringen annimmt ‑ ihre Entscheidung nach allgemeinen prüfungsrechtlichen Grundsätzen vorläufig hinreichend begründet. Insbesondere hat die Versetzungskonferenz nach Auseinandersetzung mit der bisherigen Entwicklung des Antragstellers zu 1. sehr wohl eine eigene, in die Zukunft gerichtete Prognoseentscheidung getroffen. Die von dem Beschwerdevorbringen gerügten geschwärzten Stellen in den ersten Abschriften betrafen im Übrigen lediglich andere Schüler, deren Namen aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht wurden.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Insofern ist es auch unter Berücksichtigung der insbesondere in § 50 Abs. 3 und 4 SchulG NRW normierten Informationsrechte und ‑pflichten des Schülers und seiner Eltern zur Wahrung des individuellen Rechtsschutzes nicht geboten, bei schulischen Leistungsbewertungen in jedem Fall eine schriftliche oder auch nur mündliche Begründung der Bewertung zu geben ohne Rücksicht darauf, ob der jeweilige Schüler oder seine Eltern überhaupt erwägen, Einwände zu erheben. Deshalb hängt der konkrete Begründungsanspruch des Schülers und der Eltern davon ab, ob sie eine Begründung verlangen, wann sie dies tun, welches Begehren sie damit verfolgen und mit welcher Begründung dies geschieht. Erst durch eine solche Spezifizierung wird aus dem allgemeinen Begründungsanspruch ein konkreter Anspruch.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. April 2002 - 19 B 575/02 -, juris, Rn. 20 m. w. N., zu berufsbezogenen Prüfungen vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. April 2019 ‑ 19 A 1154/18 ‑, juris, Rn. 8 m. w. N. (Lehramtsprüfung).</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Nach Maßgabe dieser Grundsätze genügt es vorliegend, dass das Protokoll der Versetzungskonferenz vom 14. Juni 2022 allgemeine Ausführungen zu dem unzureichenden Leistungsstand und zu der unzureichenden Prognose für die weitere gymnasiale Schullaufbahn enthielt, wenn diese auch in ihrer Abstraktheit gleichzeitig für eine Mehrzahl von betroffenen Schülerinnen und Schülern dokumentiert wurden. Auf die Rüge der unzureichenden Begründung und zudem materiell-rechtlichen Unbegründetheit dieser Entscheidung durch die Antragsteller haben die betroffenen Fachlehrer jeweils umfangreiche Stellungnahmen zu den Leistungen des Antragstellers zu 1. und den daraus getroffenen Schlussfolgerungen für seine weitere schulische Laufbahn vorgelegt, die in dem Verwaltungsvorgang (vgl. Beiakte Heft 3, Bl. 74 ff. und Bl. 125 ff.) enthalten sind.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Auf die von den Antragstellern aufgeworfene Frage, ob ein etwaiger (formeller) Mangel der Versetzungskonferenz vom 14. Juni 2022 durch die Widerspruchskonferenz vom 24. Juni 2022 geheilt werden könne und welche Besetzung derselben hierfür erforderlich wäre, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand der Antragsteller, sie hätten die Mitteilungsschreiben der Schule vom 25. Januar 2022 und 6. April 2022 offensichtlich nicht erhalten, weshalb ein Verstoß gegen die fristgebundene Mitteilungspflicht aus § 12 Abs. 1 Satz 2 APO-S I vorliege, greift nicht durch. Der Senat hat nach gegenwärtiger Aktenlage die vorläufige Überzeugung gewonnen, dass diese Schreiben zugegangen sind. Dass die im Verwaltungsvorgang enthaltenen Bescheinigungen am unteren Rand der Mitteilungsschreiben über deren Empfang nicht ausgefüllt wurden, hat keine dahingehende Aussage- oder Beweiskraft, die Antragsteller hätten die Mitteilungen nicht erhalten. Im Gegenteil sprechen die Gesamtumstände dafür, dass die Antragsteller mindestens eines der Schreiben erreicht hat, was sie im Beschwerdevorbringen – außer durch den Verweis auf die nicht ausgefüllten Empfangsbekenntnisse – auch nicht explizit bestreiten. Ungeachtet dessen, dass der Verlust von mehreren Schreiben bei der Übermittlung unwahrscheinlich ist, ist anzunehmen, dass ihr Mitteilungszweck gegenüber den gemeinsam sorgeberechtigten Eltern vorliegend erfüllt wurde. Dies belegen die Äußerungen und die darin zum Ausdruck gebrachten Vorkenntnisse der Antragstellerin zu 3. in dem durchgeführten Beratungstermin vom 28. April 2022. Dessen Durchführung hatten die Antragsteller in ihrer Antragsschrift erster Instanz ebenfalls noch bestritten und behauptet, vor dem 14. Juni 2022 keine Information über den anstehenden Schulformwechsel erhalten zu haben. Dass diese Behauptung unzutreffend war, lässt sich jedoch bereits den im Verwaltungsvorgang dokumentierten Informationen betreffend ein Telefonat der Klassenlehrerin mit der Antragstellerin zu 3. am 17. Februar 2022 (vgl. Beiakte Heft 3, Bl. 58) sowie dem Protokoll des genannten Beratungstermins vom 28. April 2022 (vgl. Beiakte Heft 3, Bl. 59 f.) entnehmen. Außerdem hat die Schule an die Eltern des Antragstellers zu 1. auch schon unter dem 12. November 2021 sowie nochmals unter dem 25. Mai 2022 weitere Schreiben mit vergleichbarem Inhalt übersandt, zuletzt an die Adresse der Antragstellerin zu 3.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dass der Antragsteller zu 2. als Vater und Elternteil des Antragstellers zu 1. im Sinn des § 123 Abs. 1 Nr. 1 SchulG NRW nicht in das Verfahren einbezogen gewesen wäre, wie es die Antragsteller in der Beschwerdebegründung behaupten, trifft ebenfalls nicht zu. Zu dem Beratungstermin am 28. April 2022 wurde der Antragsteller zu 2. ebenfalls eingeladen. Da er hieran nicht teilnehmen konnte, wurde ihm durch die Klassenlehrerin per E-Mail (vgl. Beiakte Heft 3, Bl. 45) ein anderer Termin oder ein Telefonat angeboten – auf diesen Vorschlag hat er allerdings nicht reagiert. Veranlassung, einen (weiteren) Beratungstermin durchzuführen, auch wenn die von der Schule eingeräumten Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, bestand demzufolge nicht. Dies entspricht nicht zuletzt dem Wortlaut von § 12 Abs. 1 Satz 2 APO-S I, dass ein Beratungstermin lediglich „anzubieten“, nicht aber zwingend durchzuführen ist. Darüber hinaus hat die Schule jedenfalls die Mitteilung nach § 12 Abs. 1 Satz 2 APO‑S I vom 6. April 2022 ausweislich der Empfängerangaben in dem Schreiben an die „Familie C1.        “, also beide Elternteile unter der Anschrift des Antragstellers zu 1. adressiert.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Ferner trifft auch die Annahme der Antragsteller nicht zu, die Bewertung durch die Versetzungskonferenz vom 14. Juni 2022 sei ermessenfehlerhaft. Wie bereits dargelegt, hat die Konferenz in dem Termin entgegen der Auffassung der Antragsteller eine Prognoseentscheidung betreffend den Antragsteller zu 1. getroffen. Dass die Fachlehrer in ihren anschließenden umfangreichen Stellungnahmen konkrete Empfehlungen gegeben haben, wie der Antragsteller zu 1. und seine Eltern den Lerndefiziten begegnen können, ist für die Entscheidung nicht ausschlaggebend. Denn sie haben auch übereinstimmend formuliert, dass ein Schulformwechsel im Fall des Antragstellers zu 1. im Ergebnis notwendig sei. Unter Berücksichtigung dessen mag die im Beschwerdevorbringen angenommene Schlussfolgerung, der Antragsteller zu 1. müsse die Inhalte wiederholen, zwar in der Sache (unter anderem) zutreffen, sie greift aber hinsichtlich der Frage der richtigen Schulform zu kurz und gibt die Stellungnahmen nur unvollständig wieder.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Mit der Annahme, die Versetzung des Antragstellers zu 1. sei zu erwarten, wenn „zukünftig der zu gleichen Teilen erziehungsberechtigte Vater einbezogen wird, Hilfsangebote wie die Rechtschreib-AG nicht nur freiwillig erfolgen, ein Nachteilsausgleich für sämtliche Störungen angeboten wird und die Inhalte der Klasse 6 wiederholt werden“, setzen die Antragsteller lediglich eine eigene Bewertung an die Stelle der Entscheidung der Versetzungskonferenz, ohne einen Ermessensfehler derselben aufzuzeigen. Der Senat muss seine Prognose wegen des gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Bewertungsspielraums der Versetzungskonferenz jedoch hierauf beschränken und darf keine eigenen Prognoseerwägungen vornehmen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Anwendung der allgemeinen prüfungsrechtlichen Grundsätze des prüfungsspezifischen Bewertungsspielraums OVG NRW, Beschlüsse vom 15. März 2022 - 19 B 1649/21 -, juris, Rn. 7, und vom 22. Oktober 2014 - 19 B 971/14 -, juris, Rn. 2 ff., jeweils m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Schließlich dringen die Antragsteller auch mit ihrem Einwand nicht durch, dem Antragsteller zu 1. hätte auch für seine Lesestörung ein Nachteilsausgleich gewährt werden müssen. Ungeachtet dessen, dass sie diesen Einwand nicht vor dem Ablauf des Schuljahres und der betroffenen Prüfungsleistungen formuliert haben, nachdem ihm seit Dezember 2021 bereits ein Nachteilsausgleich gewährt wurde,</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">zu der grundsätzlichen Pflicht einer vorherigen Geltendmachung im Schul- und Prüfungsrecht vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. September 2015 - 19 A 2068/13 -, juris, Rn. 4 m. w. N.,</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">legt das Beschwerdevorbringen nicht dar, in welcher Form ein weiterer Nachteilsaugleich hätte gewährt werden müssen. Auch die weiteren Ausführungen der Antragsteller, dass die Nichtteilnahme an einer freiwilligen Arbeitsgemeinschaft keine Schlussfolgerungen auf die Bereitschaft und Hilfsbedürftigkeit zuließe, überzeugen nicht. Das Beschwerdevorbringen lässt es insoweit ebenfalls vermissen, zu begründen, wie eine Förderung des einzelnen Schülers ohne dessen Mitwirkung und Lernbereitschaft gestaltet werden soll. Nach der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Prognose der Versetzungskonferenz entspricht dem von ihnen zitierten Anspruch auf individuelle Förderung gemäß § 1 Abs. 1 SchulG NRW gerade der beschlossene Wechsel in eine andere Schulform, da hierbei die prognostisch und individuell besten Bildungschancen für den Antragsteller zu 1. zum Maßstab genommen werden.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
346,753
ovgnrw-2022-09-23-5-b-30321
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
5 B 303/21
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:22"
"2022-10-17T11:10:39"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0923.5B303.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Soweit die Beteiligten das Verfahren in Bezug auf den Hilfsantrag des Antragstellers übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.</p> <p>Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 17. Februar 2021 zurückgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller zu 5/6 und der Antragsgegner zu 1/6.</p> <p>Der Streitwert wird – in Abänderung des erstinstanzlichen Streitwertbeschlusses – für beide Instanzen auf jeweils 2.500 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Verfahrensbeteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der offenen Videoüberwachung der Münsterstraße im Bereich der Hausnummern 50 bis 99 in Dortmund. Aufgrund der Anordnung des Polizeipräsidenten von Dortmund vom 21. Januar 2020 sind an acht Punkten an der Münsterstraße insgesamt 18 Videokameras (12 statische Kameras und sechs Kameras mit Schwenk-, Neige- und Zoomfunktion [sog. „PTZ-Kameras“]) angebracht worden. Die Anordnung sah eine Aufnahme der Maßnahme zum nächstmöglichen Zeitpunkt, spätestens aber zum 1. Juni 2020 vor. Sie war auf ein Jahr befristet. Die Videoüberwachung wurde durch den Antragsgegner am 31. Mai 2021 aufgenommen. Unter dem Datum des 24. Februar 2022 ordnete der Polizeipräsident von Dortmund unter Bezugnahme auf eine bereits ergangene mündliche Anordnung die Videoüberwachung für den Zeitraum 31. Mai 2021 bis zum 30. Mai 2022 an. Zusätzlich zeichnete der Polizeipräsident am gleichen Tag das Papier „Datenerhebung durch technische Mittel – Konzeption zur Einrichtung einer Videobeobachtung gemäß § 15a PolG NRW an der ‘Münsterstraße‘ 50-99“ mit Ausführungen zur Erfüllung der rechtlichen Voraussetzungen, zum Datenschutz und zur Umsetzung der Videobeobachtung; dem Konzept waren mehrere Anlagen beigefügt. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 15a PolG NRW führt das Konzept zusammenfassend aus, dass der Bereich eine belebte Geschäftsstraße sei und durch überörtliche Besucher aufgesucht werde. Der gesamte erfasste Bereich stelle einen Drogenumschlagplatz dar; die wahrnehmbare Intensität dieser Vorgänge hänge insbesondere von polizeilichen Maßnahmen und der damit einhergehenden Aufdeckung ab. Auch die Eigentumskriminalität habe einen wesentlichen Anteil. Aufgrund der sehr schmalen Bauweise der Straße und der damit einhergehenden verkehrlichen Situation sowie aufgrund der Sackgassensituation am nördlichen Ende stelle sich die Gesamtsituation als schwer einsehbar dar und mache auch eine Nacheile mit Streifenwagen kaum möglich. Die Vielzahl von Zuwegungen, welche sich auch als Fluchtmöglichkeiten nutzen ließen, führe zu einem attraktiven Tätigkeitsfeld für Straftäter. Auch hätten sich die in diesem Teil ansässigen Bars und Cafés als Rückzugsorte für Straftäter herausgestellt. Unter Aufschlüsselung in einzelne Deliktsgruppen weist das Konzept für den Bereich Münsterstraße 50-99 für das Jahr 2018 428, für das Jahr 2019 398 und für das Jahr 2020 330 Straftaten der „typischen Straßenkriminalität“ auf. Mit Anordnung vom 24. Mai 2022 ordnete der Polizeipräsident die Fortsetzung der Maßnahme für den in Rede stehenden Bereich vom 31. Mai 2022 bis zum 30. Mai 2023 an; dabei wurde bestimmt, die Zeiten der Videoüberwachung „gemäß der Bilanz zu d)“ anzupassen. Die Anordnung nahm in seinem Vorspann Bezug auf den „Erlass des IM NRW vom 08.05.2019 -412-57.03.45/25.09.09-“ (Buchstabe a), die „Konzeption zur Einrichtung einer Videobeobachtung gem. § 15a PolG NRW an der Münsterstraße 50-99, -57.03.43- (in der jeweils gültigen Fassung)“ (Buchstabe b), die „Dienstanweisung ‚xxx‘ (bitte Namen ergänzen) des PP Dortmund vom 20.10.2021, -57.03.43-“ (Buchstabe c) und die „Jahresbilanz Videobeobachtung Münsterstraße 50-99 für den Zeitraum 31.05.2021 – 07.05.2022 vom 16.05.2022, -57.03.43-“ (Buchstabe d). Im Verwaltungsvorgang befindet sich die Dienstanweisung Videobeobachtung des Polizeipräsidiums Dortmund vom 20. Oktober 2021 mit dem Aktenzeichen DirGE/FüSt-57.03.43/59.05-ZA15-58.02.08. Ausweislich des Vermerks zur Jahresbilanz für die Videoüberwachung betrug die Gesamtzahl der Einsätze im Videobereich im Jahr 2020 502, im Berichtszeitraum 31. Mai 2021 bis 7. Mai 2022 210. In letzterem Zeitraum wurden 69 Einsätze durch die Videobeobachter veranlasst; die Zeit bis zum ersten Eintreffen am Einsatzort betrug dabei im Durchschnitt 15 Minuten 18 Sekunden. Die Auswertung führt für das Jahr 2020 bezogen auf den maßgeblichen Bereich 399 Delikte der „typischen Straßenkriminalität“ an (wobei die Summe der Einzelposten 318 ergibt), für das Jahr 2021 290 derartige Delikte und für den Zeitraum 31. Mai 2021 bis 7. Mai 2022 273. Auf der Grundlage einer Betrachtung von verschiedenen Acht-Stunden-Zeiträumen über den Tag wies die Zeit von 12 bis 20 Uhr die höchste Deliktsbelastung auf. Gegenüber den anderen Wochentagen fiel die Deliktsbelastung am Samstag deutlich ab. Hinsichtlich der Verteilung auf einzelne Tagesstunden und Wochentage wird auf die Ausführungen in dem Verwaltungsvorgang (Beiakte 1c, Bl. 352 ff.) Bezug genommen. In der Folge wurde die Empfehlung ausgesprochen, die Videoüberwachungszeiten auf Sonntag bis Freitag in der Zeit von 12 bis 20 Uhr anzupassen. Der Antragsteller macht geltend, die Videoüberwachung greife rechtwidrig in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15a PolG NRW nicht erfüllt seien.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im Verfahren erster Instanz hat der Antragsteller beantragt,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Klageverfahren 17 K 2626/20 zu untersagen, die Münsterstraße in Dortmund entsprechend der Entscheidung des Polizeipräsidenten des Polizeipräsidiums Dortmund vom 21. Januar 2020 durch den Einsatz optisch-technischer Mittel zu überwachen,</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">hilfsweise dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Klageverfahren 17 K 2626/20 zu untersagen, die Münsterstraße in Dortmund entsprechend der Entscheidung des Polizeipräsidenten des Polizeipräsidiums Dortmund vom 21. Januar 2020 durch den Einsatz optisch-technischer Mittel zu überwachen, soweit diese das Kulturzentrum „Nordpol“, Münsterstraße 99, erfasst.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Haupt- und den Hilfsantrag abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Haupt- und Hilfsantrag seien zulässig; insbesondere seien diese nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft, weil sie sich auf ein schlicht-hoheitliches Handeln des Antragsgegners beziehen. Der Behördenleiteranordnung zur Videobeobachtung und -aufzeichnung komme keine Verwaltungsaktqualität zu, so dass vorläufiger Rechtsschutz nicht vorrangig nach § 123 Abs. 5, § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren sei. Der Antragsteller habe auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Er habe über die Betroffenheit in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hinaus dargelegt, dass er sich regelmäßig in dem Café und Kulturzentrum Nordpol aufhalte und dort an politischen Aktivitäten und Versammlungen teilnehme. Da Versammlungen in geschlossenen Räumen keiner Anmeldepflicht unterlägen, könne der Antragsgegner die Videoüberwachung nicht entsprechend deaktivieren; dies wiederum lasse einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff in Art. 8 GG zumindest möglich erscheinen. Haupt- und Hilfsantrag seien aber unbegründet. Ein öffentlich-rechtlicher, sich aus den Grundrechten des Antragstellers ableitender Unterlassungsanspruch – insbesondere auf der Grundlage des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG – bestehe voraussichtlich nicht. Die Ermächtigungsgrundlage des § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW sei voraussichtlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch seien die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift als erfüllt anzusehen. Der fragliche Abschnitt der Münsterstraße stelle einen Schwerpunkt der Straßenkriminalität dar, was durch einen Vergleich mit dem übrigen Stadtgebiet festzustellen sei. Dies könne sich zum einen aus der Belastung in absoluten Zahlen ergeben, aber auch aus einem Vergleich mit anderen städtebaulich und sozial vergleichbaren Bereichen im Stadtgebiet. In ersterer Hinsicht sprächen die in der Behördenleiteranordnung vom 27. August 2020 in Bezug genommenen Deliktshäufigkeiten sowie in der Antragserwiderung angegebenen 355 Delikte auf einem nur ungefähr 300 Meter langen Straßenabschnitt für eine solche Annahme. Auch ein Vergleich mit den Bereichen Schützenstraße 22 bis 68 und Mallinckrodtstraße 31 bis 120 ergebe für den hier in Rede stehenden Bereich eine vielfache bzw. annähernd doppelt so hohe Kriminalitätsbelastung. Keine anderen Ergebnisse folgten aus einem Vergleich mit dem Bereich der Nordstadt bzw. dem gesamten Dortmunder Stadtgebiet auf der Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik. Im Vergleich zu letzterer habe der Anteil der Straßenkriminalität in der nördlichen Münsterstraße bei 2,71 % im Jahr 2018 und 2,91 % im Jahr 2019 gelegen. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 15a PolG NRW lägen vor. Ein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ergebe sich schließlich auch nicht in Bezug auf die Überwachung des Kulturzentrums „Nordpol“ an der Münsterstraße 99. Der Antragsgegner habe vorgetragen, dass dessen Eingangsbereich einschließlich Fensterfront ohne die Möglichkeit einer nachträglichen Sichtbarmachung geschwärzt werde. Aus Sicht eines verständigen Dritten sei mithin keine abschreckende Wirkung anzunehmen, zumal es lebensfremd erscheine, dass die eingesetzten Polizeibeamten nachhielten, wer den geschwärzten Bereich betrete und nicht sogleich wieder verlasse. Letztlich stelle sich diese Situation als nicht vermeidbare Nebenfolge der Überwachung dar, welche in Abwägung mit den Interessen der Allgemeinheit hinzunehmen sei.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit seiner Beschwerde begehrt der Antragsteller die Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Bei der videoüberwachten Fläche handele es sich schon nicht um einen einzelnen Ort im Sinne der Vorschrift. Unklar bleibe, ob die zur Berechnung der Kriminalitätsdichte herangezogenen Taten tatsächlich solche der Straßenkriminalität seien. Schließlich habe der Antragsgegner auch keine Maßnahmen vorgesehen, um die Erforderlichkeit der Maßnahme zu evaluieren; es bestehe somit das Risiko, dass diese nicht beendet werde, obwohl ihre rechtlichen Voraussetzungen nicht mehr vorlägen. Zudem habe eine Überprüfung in der Örtlichkeit ergeben, dass die Kameras auch außerhalb der festgelegten Betriebszeiten nicht weggedreht bzw. mit einem Rollo (sog. Shutter) verschlossen gewesen seien.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Er beantragt insoweit,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17. Februar 2021 zu ändern und dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Klageverfahren 17 K 2626/20 zu untersagen, die Münsterstraße in Dortmund entsprechend der Anordnung des Polizeipräsidenten Dortmund vom 21. Januar 2020 in der Fassung der Anordnung vom 24. Mai 2022 durch den Einsatz optisch-technischer Mittel zu überwachen.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen und vertieft hierzu sein erstinstanzliches Vorbringen. Soweit der Antragsteller in dem videoüberwachten Bereich keinen einheitlichen Ort im Sinne des § 15a Abs. 1 PolG NRW sehe, sei dies schon angesichts der verhältnismäßig geringen Größe von etwas über 0,5 ha nicht überzeugend. Einer hausnummernscharfen Betrachtung der Deliktsbelastung bedürfe es bei der Festlegung des überwachten Bereichs nicht; eine derart kleinteilige Betrachtung würde in der Folge ggf. zu einem Flickenteppich führen und die Erkennbarkeit von Straftaten letztlich dem Zufall überlassen.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">A. Die Beschwerde des Antragstellers hat, soweit sich das Verfahren nicht erledigt hat, keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat keinen Anspruch darauf, dem Antragsgegner durch einstweilige Anordnung die Videoüberwachung (Videobeobachtung und Videoaufzeichnung) der Münsterstraße im Abschnitt zwischen den Hausnummern 50 und 99 (sowie des einbezogenen Teils der Nebenstraßen) in Dortmund zu untersagen. Er hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, erforderlich ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dabei sind sowohl die tatsächlichen Voraussetzungen des zugrunde liegenden materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) als auch die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Hierbei ist dem jeweils betroffenen Grundrecht und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 27. Oktober 1995 – 2 BvR 384/95 –, Rn. 52 ff., m. w. N., und vom 25. Oktober 1988 – 2 BvR 745/88 –, juris, Rn. 17; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 123 Rn. 94; vgl. insoweit auch: OVG NRW, Beschlüsse vom 20. September 2019 – 5 B 603/19 –, juris, Rn. 8, und vom 26. April 2019 – 5 B 543/19 –, juris, Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch dahingehend, dass die Videoüberwachung durch den Antragsgegner im Bereich der Münsterstraße im Abschnitt zwischen den Hausnummern 50 und 99 einschließlich des einbezogenen Teils der Nebenstraßen unterlassen wird. Insoweit sind seine (Grund-)Rechte voraussichtlich nicht verletzt.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Grundrechte schützen den Bürger vor ihnen zuwider laufenden Beeinträchtigungen jeder Art. Dies erfasst auch durch schlichtes Verwaltungshandeln (Verwaltungsrealakt) entstehende Beschränkungen. Infolgedessen kann der Bürger, wenn ihm eine derartige Rechtsverletzung droht, unmittelbar gestützt auf das jeweils beeinträchtigte Grundrecht Unterlassung verlangen, sofern ihm nicht bereits das einfache Gesetzesrecht einen Anspruch vermittelt.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Januar 2012 – 6 C9/11 –, juris, Rn. 22, vom 18. April 1985 – 3 C 34/84 –, juris, Rn. 41, und vom 21. September 1984 – 4 C 51/80 –, juris, Rn. 12.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dem Antragsteller kommt ein Unterlassungsanspruch nicht zu. Der Anspruch ergibt sich weder aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG – dazu 1.) noch aus der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG – dazu 2.).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">1. Ein Anspruch ergibt sich zunächst nicht aus dem in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG wurzelnden Recht des Antragstellers auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Recht umfasst die Befugnis des Einzelnen, in aller Regel selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden, und daher grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2007– 1 BvR 2368/06 –, juris, Rn. 37, und Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 u. a. –, juris, Rn. 149.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">In den Schutzbereich dieses Rechts wird im Fall der offenen Videoüberwachung des öffentlichen Raums durch die Polizei eingegriffen. Das durch die Videoüberwachung gewonnene Bildmaterial kann und soll dazu genutzt werden, belastende hoheitliche Maßnahmen gegen Personen vorzubereiten, die in dem von der Überwachung erfassten Bereich bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen zeigen. Die offene Videoüberwachung eines öffentlichen Ortes kann und soll zugleich abschreckend wirken und insofern das Verhalten der Betroffenen lenken.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2007– 1 BvR 2368/06 –, juris, Rn. 38; BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2012 – 6 C 9/11 –, juris, Rn. 23 f.; OVG Nds., Urteil vom 6. Oktober 2020 – 11 LC 149/16 –, juris, Rn. 33 f.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Dies gilt schon für die bloße Videobeobachtung („Kamera-Monitor-Prinzip“), weil diese gegenüber dem menschlichen Auge eine weit großflächigere und intensivere Beobachtung – auch über große Entfernungen und bei schwierigen Lichtverhältnissen – ermöglicht.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">So auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 35; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 2. Juli 2020 – 15 B 950/20 –, juris, Rn. 6 ff., m. w. N. zur Eingriffstiefe bei Versammlungen.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Durch die zusätzliche, hier durchgeführte Aufzeichnung des gewonnenen Bildmaterials werden die beobachteten Lebensvorgänge zudem technisch fixiert und können in der Folge abgerufen, aufbereitet und ausgewertet werden. So besteht die Gefahr, dass eine Vielzahl von Informationen über bestimmte identifizierbare Betroffene gewonnen wird, die sich jedenfalls theoretisch zu Profilen des Verhaltens der betroffenen Personen in dem überwachten Raum verdichten lassen könnten. Der Eingriff in das Grundrecht entfällt nicht dadurch, dass lediglich Verhaltensweisen im öffentlichen Raum beobachtet werden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet nicht allein den Schutz der Privat- und Intimsphäre, sondern trägt in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auch den informationellen Schutzinteressen des Einzelnen Rechnung, der sich in die Öffentlichkeit begibt.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2007– 1 BvR 2368/06 –, juris, Rn. 38 f., und Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 u. a. –, juris, Rn. 153; BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2012 – 6 C 9/11 –, juris, Rn. 25; OVG Nds., Urteil vom 6. Oktober 2020 – 11 LC 149/16 –, juris, Rn. 33.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Am Maßstab des einstweiligen Rechtsschutzes gemessen ist es hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller durch den Betrieb der Videoüberwachung in dem Abschnitt der Münsterstraße in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nachteilig betroffen ist. Es ist zu erwarten, dass er den überwachten Bereich in absehbarer Zeit betreten wird.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Zusammenhang: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 18; Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, 2002, Seite 246.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller, der in Dortmund wohnt, macht geltend, dass er die Münsterstraße regelmäßig auf dem Weg zu seiner primär für Nebentätigkeiten genutzten Arbeitsstätte in der Leuthardstraße 10 und auf dem Rückweg von dieser mit dem Fahrrad passiere, wobei für diese Route insbesondere das im Vergleich zu Hauptstraßen geringere Verkehrsaufkommen spreche. Diese schlüssige, anhand von Straßenkarten nachvollziehbare Darlegung genügt, um die vorgenannten Zulässigkeitsanforderungen gerade auch mit Blick auf den Betrieb der Videoüberwachung im frei zugänglichen öffentlichen Raum als gegeben anzusehen. Dass damit der Antragsbefugnis in Abgrenzung zur Popularklage nur eine begrenzte Funktion zukommt, ist der Art der polizeilichen Maßnahme mit letztlich schwer bestimmbarem Adressatenkreis immanent.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, 2002, Seite 246.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erweist sich aber als rechtmäßig. Er beruht mit § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 PolG NRW auf einer verfassungsgemäßen Rechtsgrundlage (dazu a.) und ist formell (dazu b.) sowie materiell (dazu c.) rechtmäßig.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">a. Nach § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW kann die Polizei zur Verhütung von Straftaten einzelne öffentlich zugängliche Orte mittels Bildübertragung beobachten und die übertragenen Bilder aufzeichnen, wenn an diesem Ort wiederholt Straftaten begangen wurden, die Beschaffenheit des Ortes die Begehung von Straftaten begünstigt und ein unverzügliches Eingreifen der Polizei möglich ist. Die Videoüberwachung kann erfolgen, solange Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an diesem Ort weitere Straftaten begangen werden.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Diese Regelung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen in seinen Beschlüssen vom 16. Mai 2022 zur Videoüberwachung an drei verschiedenen Orten in der Kölner Innenstadt.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 26 ff.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">b. Die Videoüberwachung des streitgegenständlichen Abschnitts der Münsterstraße erweist sich als formell rechtmäßig. Die notwendige Behördenleiteranordnung liegt vor (dazu aa.). Ein Dokumentationsmangel ist nicht erkennbar (dazu bb.).</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">aa. Ob die nach § 15a Abs. 3 PolG NRW zwingend erforderliche Behördenleiteranordnung zu jedem Zeitpunkt, an dem die Videoüberwachung bisher betrieben worden ist, vorlag, kann offen bleiben. Dies erscheint insoweit zweifelhaft, als die Anordnung des Polizeipräsidenten vom 21. Januar 2020 die Aufnahme der Maßnahme zum nächstmöglichen Zeitpunkt, spätestens aber zum 1. Juni 2020 vorsah und auf ein Jahr befristet war. Mithin dürfte die Behördenleiteranordnung am 31. Mai 2021, an welchem die Videoüberwachung erstmalig aufgenommen worden ist, abgelaufen sein. In der unter dem Datum des 24. Februar 2022 gezeichneten Anordnung des Polizeipräsidenten von Dortmund für den Zeitraum 31. Mai 2021 bis zum 30. Mai 2022 wurde auf eine bereits ergangene mündliche Anordnung Bezug genommen, welche in dem Verwaltungsvorgang ansonsten keinen Niederschlag gefunden hat. Insoweit wäre jedenfalls die Frage zu klären, welche formalen Anforderungen sich aus dem Dokumentationserfordernis des § 15a Abs. 4 Satz 1 PolG NRW für die Entscheidung des Behördenleiters nach Abs. 3 ergeben.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Für den hier geltend gemachten Anspruch auf (zukünftige) Unterlassung der Videoüberwachung der Münsterstraße kann dies aber im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats dahinstehen, weil der Polizeipräsident von Dortmund am 24. Mai 2022 die Verlängerung der Videoüberwachung für den Zeitraum vom 31. Mai 2022 bis zum 30. Mai 2023 schriftlich verfügt hat.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller rügt, die Videokameras seien außerhalb der festgelegten Zeiträume in Betrieb, führt dies nicht zur formellen Rechtswidrigkeit der Maßnahme.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Verlängerung der Videoüberwachung durch die schriftliche Anordnung des Polizeipräsidenten vom 24. Mai 2022 erfolgte mit der Maßgabe, dass die Zeiten der Videoüberwachung „gemäß der Bilanz zu d)“ angepasst werden. Das unter d) angeführte Papier „Jahresbilanz Videobeobachtung Münsterstraße 50-99 für den Zeitraum 31.05.2021 – 07.05.2022 vom 16.05.2022, -57.03.43-“ enthält unter Ziffer 7 die Feststellung, dass eine Anpassung der Videobeobachtungszeiten auf Montag bis Freitag und Sonntag jeweils in der Zeit von 12:00 bis 20:00 Uhr sinnvoll erscheine. Mithin erfasst die Behördenleiteranordnung vom 24. Mai 2022 die Videoüberwachung (nur) an den genannten Tagen und in den aufgeführten Zeiträumen.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller verweist zur Begründung seiner Annahme u.a. auf eine Dokumentation des Westdeutschen Rundfunks,</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v= nbe1Tvhf5xc, zuletzt abgerufen am 9. August 2022,</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">in der die Frage der Erkennbarkeit der Kamerafunktion für Dritte thematisiert wird. Zudem hat er mehrere Lichtbilder übersandt, die nach seinen Angaben verschiedene Kameras an der Münsterstraße zeigen, die außerhalb der Betriebszeiten nicht mit einer Blende verschlossen bzw. (bei den PTZ-Kameras) von der Straße weggedreht seien, und auf einen entsprechenden Artikel auf der Internetseite „Nordstadtblogger“ vom 20. Juni 2021 verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Abrufbar unter https://www.nordstadtblogger.de/ laeuft-die-videoueberwachung-entlang-der-muenster strasse-auch-nach-24-uhr-die-polizei-dortmund-dem entiert-das/, zuletzt abgerufen am 9. August 2022.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat hierzu mit Schriftsatz vom 19. August 2022 mitgeteilt, dass durch verschiedene Maßnahmen sichergestellt sei, dass die Videoüberwachung nicht außerhalb der festgelegten Betriebszeiten genutzt werde. Bisher seien die Kameras nur bei Versammlungslagen mit einem Rollo verschlossen bzw. gegen die Wand gedreht worden. Durch eine Ergänzung der Dienstanweisung vom gleichen Tag sei verfügt worden, dass dies nunmehr außerhalb der Betriebszeiten immer der Fall sein müsse. Auf dieser Grundlage bestehen keine Bedenken dahingehend, dass die Videoüberwachung nicht in vollem Umfang durch die Behördenleiteranordnung gedeckt ist.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">bb. Ein Verstoß gegen das Dokumentationserfordernis aus § 15a Abs. 4 Satz 1 PolG NRW ist nicht erkennbar. Nach der Verwaltungsvorschrift zum Polizeigesetz, Ziffer 15a.41,</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_ anzeigen?v_id=10000000000000000353, zuletzt abgerufen am 11. August 2022,</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">dient die Dokumentation als Grundlage für die Entscheidung über die Aufrechterhaltung und Verlängerung der Maßnahme. Sie soll dazu folgende Angaben enthalten: Ort, soziale Umstände, Kriminalität, Gesamtkonzept, Veränderungen während und ggf. nach der Maßnahme. Den Abschluss der Dokumentation bildet eine Bewertung über Geeignetheit und Erfolg der Maßnahme. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Hiernach soll eine Maßnahme nach Absatz 1 angesichts des damit einhergehenden Grundrechtseingriffs nur dann angeordnet und nur solange aufrechterhalten werden, wie die dort festgelegten Voraussetzungen auch tatsächlich vorliegen. Zu diesem Zweck ist der Entwurf der Landesregierung im Gesetzgebungsverfahren nach der Anhörung von Experten im zuständigen Landtags-Ausschuss abgeändert und u. a. Absatz 4 eingefügt worden.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Innere Verwaltung und Verwaltungsstrukturreform zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung (LT-Drs. 13/2854), LT-Drs. 13/4073, Seite 26 ff.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt der seitens des Antraggegners vorgelegte Verwaltungsvorgang. Daraus ist zu entnehmen, dass der Antragsgegner die besonderen örtlichen Gegebenheiten einschließlich der die Begehung von Straftaten beeinflussenden Faktoren, das bestehende Kriminalitätsgeschehen und die Frage einer möglichen Verdrängung erörtert und wiederholt auf einen aktuellen Stand gebracht hat. Auch die Bereitstellung eines Einsatzmittels zur schnellen Reaktion ist in den vorlaufenden Konzeptüberlegungen aufgegriffen worden. Die Videoüberwachung soll dabei Teil des Gesamtkonzepts „Sicher leben in der Nordstadt – Bekämpfung krimineller Strukturen inklusive Clankriminalität“ sein. Im Vorfeld der Verlängerung der Behördenleiteranordnung im Mai 2022 hat der Antragsgegner eine Jahresbilanz für den abgelaufenen Zeitraum unter Auswertung u.a. der Kriminalitätsentwicklung und der veranlassten längerfristigen Videospeicherungen erstellt. Aufgrund der Auswertung wurde eine Anpassung der Beobachtungszeiten veranlasst.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die weitere Frage, ob das Dokumentationserfordernis in § 15a Abs. 4 Satz 1 PolG NRW überhaupt zum Schutz subjektiver Rechte dient oder es unmittelbar nur die der Polizei obliegende Beweisführungspflicht für das Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale sichern soll,</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu ausführlich: OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 66 ff.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">c. Der Eingriff in das Recht des Antragstellers auf informationelle Selbstbestimmung durch die Videoüberwachung in der Münsterstraße im Bereich der Hausnummern 50 bis 99 in Dortmund dürfte auch materiell rechtmäßig sein. Der Tatbestand der Vorschrift ist voraussichtlich erfüllt (dazu aa.). Die Videoüberwachung ist nicht durchgehend offensichtlich. Ob sie durchgehend hinreichend erkennbar ist, unterliegt Zweifeln. Der Antragsteller kann sich darauf aber nicht mit Erfolg berufen (dazu bb.). Die Maßnahme ist verhältnismäßig und weist auch im Übrigen keine Ermessensfehler auf (dazu cc.).</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">aa. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW liegen voraussichtlich vor. Bei der in der Münsterstraße videoüberwachten Fläche zwischen den Hausnummern 50 und 99 handelt es sich um einen einzelnen öffentlich zugänglichen Ort (dazu aaa.), an dem wiederholt Straftaten begangen wurden (dazu bbb.), dessen Beschaffenheit die Begehung von Straftaten begünstigt (dazu ccc.) und bei dem die Annahme gerechtfertigt ist, dass dort weitere Straftaten begangen werden (dazu ddd.). Die Möglichkeit eines unverzüglichen Eingreifens der Polizei ist jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ebenfalls anzunehmen (dazu eee.).</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">aaa. Die Münsterstraße im Abschnitt zwischen den Hausnummern 50 bis 99 nebst der mitüberwachten Bereiche der angrenzenden Straßen, so namentlich der Mallinckrodtstraße, der Heckenstraße, der Priorstraße, der Heroldstraße, der Lambachstraße und der Westhoffstraße, ist ein öffentlich zugänglicher Ort. Als solche sind allgemein Örtlichkeiten zu verstehen, die von jedermann betreten werden dürfen oder für die der Kreis der Zutrittsberechtigten nach allgemeinen, von jedermann erfüllbaren Merkmalen festgelegt wurde, ohne dass hierin eine Begrenzung auf spezifische Personengruppen liegt. Eine Beschränkung der Öffnung auf bestimmte Zeiten steht der Zugänglichkeit ebenso wenig entgegen wie etwa privates Eigentum an einer solchen Fläche. Erfasst werden beispielsweise Straßen, Wege und Plätze sowie Parks und vergleichbare Grünanlagen, aber auch U-Bahnhöfe und andere Verkehrseinrichtungen.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 8; Tegtmeyer, in: Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Auflage 2018, § 15a Rn. 2; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, PolG NRW, 1. Auflage 2012, § 15a Rn. 17; Meier, NWVBl. 2019, 315; vgl. zu der identischen Formulierung in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. PolG: OVG Nds., Urteil vom 6. Oktober 2020 – 11 LC 149/16 –, juris, Rn. 47.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die in der Dortmunder Nordstadt liegende Münsterstraße (Abschnitt zwischen den Hausnummern 50 und 99) ist der Öffentlichkeit ohne Beschränkungen zugänglich. Gleiches gilt auch für die an sie angrenzenden Straßen.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Der in Rede stehende Abschnitt der Münsterstraße stellt entgegen der Auffassung des Antragstellers auch einen einheitlichen (einzelnen) Ort im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW dar. Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich das Motiv, die Videoüberwachung lokal eng zu begrenzen und insbesondere eine generelle (großräumige) Videoüberwachung der Innenstadtlagen zu verhindern; hierzu hat der Gesetzgeber den Begriff des Ortes durch die Voranstellung des Wortes „einzelne“ weiter präzisiert. Der Begriff des Ortes ist aber nicht, wie der Antragsteller meint, so eingeengt zu verstehen, dass dieser etwa nur einen (Vor-)Platz bzw. Park oder ausschließlich einen U-Bahnhof erfassen könnte. Vielmehr ergibt sich aus der Bestimmung insoweit nur, dass es sich bei einer Mehrzahl von Plätzen, Straßen und Wegen regelmäßig um eine zusammenhängende Fläche handeln muss.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 82.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Dies gilt für § 15a Abs. 1 PolG NRW ebenso wie für die Vorschrift des § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW betreffend die Verweisung einer Person von einem Ort, weil polizeilich relevante Gefahrenlagen, die die gesetzliche Vorschrift durch diese Formulierung erfassen will, auch einen deutlich über einen Platz oder eine (kleine) Straße hinausgehenden Bereich erfassen können.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. insoweit zu letzterer Vorschrift in Abgrenzung zu dem Begriff des „örtlichen Bereichs“ als Gemeindegebiet oder Gebietsteil: OVG NRW, Urteil vom 27. September 2021 – 5 A 2807/19 –, juris Rn. 69, m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Soweit – wie vorstehend ersichtlich – durch den Senat wie auch durch die Kommentarliteratur eine entsprechende Aufzählung erfolgt, beschreibt dies im Kontext des § 15a Abs. 1 PolG NRW nicht, wie der Antragsteller meint, eine maximale örtliche Radizierung, sondern knüpft an das Merkmal der Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit an. Eine derartige Angabe wäre im Übrigen – etwa im Hinblick auf die Größe mancher Grünanlagen wie etwa des Westfalenparks in Dortmund oder der Länge einzelner Straßen – auch nicht geeignet, eine enge örtliche Begrenzung allgemeingültig zu beschreiben.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt begegnet die Einordnung des ungefähr 270 Meter langen Abschnitts der Münsterstraße zwischen der Mallinckrodtstraße im Norden und dem zur Münsterstraße gehörenden Platz vor der Sankt-Josephs-Kirche im Süden unter Einschluss der Einmündungsbereiche der dazwischen auf die Münsterstraße treffenden Seitenstraßen als einem Ort im Sinn der Vorschrift keinen Bedenken. Weder ist die räumliche Ausdehnung dieses Bereiches nicht mehr mit dem so verstandenen Begriff des Ortes in Einklang zu bringen noch ist die Fläche – etwa aufgrund baulicher Hindernisse o.ä. – als unterbrochen anzusehen. Insbesondere ist die Verkehrsführung auf dem Vorplatz der Sankt-Joseph-Kirche nicht geeignet, eine solche trennende Wirkung zu begründen.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">bbb. Im Abschnitt Hausnummern 50 bis 99 der Münsterstraße nebst den Einmündungen zu den Seitenstraßen sind wiederholt Straftaten begangen worden. Allein die mehrfache Begehung von Straftaten gleich welcher Art an einem öffentlich zugänglichen Ort genügt indes für die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW nicht. Vielmehr ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien sowie aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Videoüberwachung auf Schwerpunkte der Straßenkriminalität zu begrenzen ist.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Nach dem Wortlaut der Vorschrift sind Straftaten alle Zuwiderhandlungen gegen Strafgesetze. Eine frühere Einschränkung durch die ursprünglich in § 15a Abs. 4 PolG NRW in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Datenschutzgesetzes Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 2000 (GV. NRW. 452) vorgenommene Legaldefinition ist durch das Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und des Ordnungsbehördengesetzes vom 8. Juli 2003 (GV. NRW. 410) aufgehoben worden.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Allerdings ginge dieses weite Verständnis ersichtlich über den Gesetzeszweck hinaus. Neben der Reduzierung der Kriminalitätshäufigkeit und der Steigerung der Aufklärung von Straftaten bezweckt die Vorschrift auch die Verbesserung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung. So soll diese Maßnahme „angstfreie Räume“ gewährleisten. Dabei ging der Gesetzgeber davon aus, dass das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nicht schon durch jeden Rechtsverstoß beeinträchtigt wird. Ebenso wenig wollte er eine flächendeckende Videoüberwachung aller belebten Plätze, sondern eine Beschränkung auf Kriminalitätsschwerpunkte.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Innere Verwaltung zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung (LT-Drs. 12/4476), LT-Drs. 12/4780, Seite 65; vgl. ebenfalls den Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 13/2854, Seiten 51 f. und 54, zur Neufassung des § 15a PolG.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Deshalb sind nur Verstöße gegen Normen des Strafrechts zu berücksichtigen, deren Begehung in der Öffentlichkeit – und damit auch durch die die übertragenen Videobilder beobachtenden Kräfte der Polizei – typischerweise optisch wahrgenommen bzw. im Rahmen der Aufzeichnung reproduziert werden können. Zudem müssen sie das Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit regelmäßig beeinträchtigen. Ein solches einschränkendes Verständnis des Tatbestandsmerkmals „Straftat“ ist zudem aufgrund der nicht unerheblichen Tiefe des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aller Personen, die in den Erfassungsbereich der Videobeobachtung und-aufzeichnung gelangen, angezeigt.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 89 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 78; OVG Hamburg, Urteil vom 22. Juni 2010 – 4 Bf 276/07 –, juris, Rn. 79; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, PolG NRW, 1. Auflage 2012, § 15a Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend sind in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich etwa Diebstähle, Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen als typisch benannt worden.</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. den Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 13/2854, Seite 52, 54; vergleichbar, aber schwerpunktmäßig auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung abstellend: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 67 f., insbesondere Rn. 71.</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Zudem ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Weiteren, dass eine Videoüberwachung nur an Kriminalitätsschwerpunkten zulässig ist.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. den Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 13/2854, Seite 51 f.</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Zur Ermittlung eines Kriminalitätsschwerpunktes ist regelmäßig eine vergleichende Betrachtung der Straßenkriminalitätsbelastung an dem überwachten bzw. zu überwachenden Ort mit derjenigen im gesamten Gebiet einer Stadt bzw. Gemeinde vorzunehmen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts genügt (nur) der Vergleich solcher Bereiche miteinander, die sich strukturell, insbesondere in der Sozialstruktur und im Aufkommen des Fußgängerverkehrs zumindest ähnlich sind, diesen Anforderungen nicht. Zum einen könnte eine solch beschränkte Betrachtung dazu führen, dass ein Kriminalitätsschwerpunkt nur deshalb nicht als solcher ausgemacht werden kann, weil in der so gewählten Vergleichsgruppe die Belastung mit Straftaten überall (besonders) hoch ist – möglicherweise gerade wegen der Ähnlichkeit der Bereiche – oder weil ein strukturell vergleichbarer Ort in einer Gemeinde nicht existiert.</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 95 f.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Zudem kann sich die sinnvolle Abgrenzung anhand verschiedener Kriterien unter Einbeziehung der Sozialstruktur als diffizil darstellen und somit die Unsicherheit bei der Anwendung der Norm maßgeblich vergrößern. Insoweit hat auch das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag des Antragsgegners zwar zahlreiche einzelne Aspekte benannt (belebte, auch durch überörtliche Besucher frequentierte Geschäftsstraßen innerhalb gemischter Wohngebiete mit kleinen Gewerbebetrieben im Niedrigpreissegment, Geschäfte des täglichen Lebensbedarfs, Wettspielbüros, Schank- und Speisewirtschaften sowie Imbisse oder Sisha-Bars mit Außengastronomie und Gesamtlänge der Straßenabschnitte), erläutert aber den zentralen Begriff der Sozialstruktur ebenfalls nicht näher.</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">An die Annahme eines Kriminalitätsschwerpunktes sind vor dem Hintergrund der Grundrechtsrelevanz der Videoüberwachung strenge Maßstäbe anzulegen. Dies setzt voraus, dass sich die maßgebliche Kriminalitätsbelastung dort signifikant höher darstellt als im Vergleichsgebiet.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 10; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, PolG NRW, 1. Auflage 2012, § 15a Rn. 18; Müller/Schwabenbauer, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Abschnitt G, Rn. 671; Meier, NWVBl. 2019, 315, 316.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Bei diesen Maßgaben ist bei summarischer Prüfung davon auszugehen, dass es sich bei der Münsterstraße im Abschnitt der Hausnummern 50 bis 99 einschließlich Einmündungen der Nebenstraßen um einen Ort handelt, an dem wiederholt Straftaten im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW begangen worden sind, weil dort ein Schwerpunkt der Straßenkriminalität liegt.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Zur Ausfüllung des Begriffs der Straßenkriminalität legt der Senat im Ausgangspunkt die Definition zugrunde, die auch bei der Erstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik angewendet wird. Diese weicht von dem Deliktsschlüssel in Anlage 2 zu dem Erlass des Ministeriums des Inneren des Landes Nordrhein-Westfalen vom 8. Mai 2019 (Az. 412-57.03.45/25.09.09) zum Teil ab.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 101 ff.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Zusammengefasst sind bei der Beurteilung, ob an einem öffentlich zugänglichen Ort wiederholt Straftaten im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW begangen worden sind bzw. es sich bei diesem Ort um einen Schwerpunkt der Straßenkriminalität handelt, im Wesentlichen folgende, an der polizeilichen Datenerfassung orientierte Deliktsgruppen zu berücksichtigen:</p> <span class="absatzRechts">84</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Sexuelle Belästigung, Straftaten aus Gruppen, exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses</p> </li> <li><span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung</p> </li> <li><span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Diebstahl an/aus Kraftfahrzeugen insgesamt, Taschendiebstahl, Diebstahl von Kraftwagen, Diebstahl von Mopeds u. Krafträdern, Diebstahl von Fahrrädern, Diebstahl von/aus Automaten</p> </li> <li><span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Raubüberfälle auf Geld- und Werttransporte, Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, Handtaschenraub, Sonstige Raubüberfälle auf Straßen, Wegen oder Plätzen</p> </li> <li><span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Erpresserischer Menschenraub i. V. m. Raubüberfall auf Geld- und Werttransporte, Geiselnahme i. V. m. Raubüberfall auf Geld- und Werttransporte</p> </li> <li><span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vorsätzliche (einfache) Körperverletzung</p> </li> <li><span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Gefährliche und schwere Körperverletzung</p> </li> <li><span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Sachbeschädigung an Kraftfahrzeugen, sonstige Sachbeschädigung auf Straßen, Wegen oder Plätzen</p> </li> <li><span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Landfriedensbruch</p> </li> <li><span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Illegaler Handel von BtM gemäß § 29 BtMG, allgemeine Verstöße gegen § 29 BtMG</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der vollständigen Aufschlüsselung der berücksichtigten Delikte wird auf die von dem Antragsgegner auf die Aufklärungsverfügung des Senats überreichte Übersicht (Anlage zum Schriftsatz vom 25. Februar 2022, Blatt 111, 113 der Beschwerdeakte) ergänzend Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Bei der Ermittlung des Kriminalitätsaufkommens an einem bestimmten Ort kann sinnvollerweise nicht auf das Zahlenmaterial der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) abgestellt werden, weil diese eine Ausgangsstatistik – erfasst wird nicht das Datum einer Straftat, sondern der Zeitpunkt des Bearbeitungsendes bei der Polizei – darstellt und damit die Zahl der in einem bestimmten Zeitabschnitt begangenen Straftaten schon aufgrund der unterschiedlichen Bearbeitungsdauer nicht hinreichend genau abbilden kann. Zudem lässt die Polizeiliche Kriminalstatistik, wie der Senat aus vergleichbaren Verfahren weiß, eine Betrachtung derart kleinteiliger Räume wie der Münsterstraße nicht zu; eine Aufschlüsselung der Taten ist nur bis zur Ebene der Polizeiinspektionen möglich. Ebenso wenig kann auch die Anzahl der polizeilichen Einsätze an einem videoüberwachten Ort Grundlage der Entscheidung sein, ob ein Schwerpunkt der Straßenkriminalität vorliegt; die Zahl der Einsätze lässt keinen unmittelbaren Rückschluss auf die Art und Anzahl der begangenen Straftaten zu.</p> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 116; vgl. zur Ungeeignetheit dieser statistischen Grundlagen zur Ermittlung eines Schwerpunkts der Straßenkriminalität auch: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 70.</p> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber sieht der Senat die von dem Antragsgegner vorgelegten Daten aus dem polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem (polizeilich erfasste Straftaten auf der Basis des Tatzeitpunkts) als hinreichende Datengrundlage für die Ermittlung eines Schwerpunkts der Straßenkriminalität an, auch wenn sich im Einzelfall im späteren Verlauf des polizeilichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens oder der gerichtlichen Hauptverhandlung ergeben kann, dass eine dort zunächst polizeilich registrierte Tat den entsprechenden Straftatbestand doch nicht erfüllt. Gewisse (Rand-)Unschärfen bei der statistischen Erfassung relevanter Delikte sind hinzunehmen, soweit sie quantitativ und qualitativ vernachlässigt werden können.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 118; vgl. insoweit auch zur „nur näherungsweisen Abbildung des Kriminalitätsaufkommens“: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 71.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">In der Folge ergeben sich auf der Grundlage der von dem Antragsgegner ermittelten Reichweite der Videokameras, der adressscharfen Ermittlung der Tatorte und der möglichst umfassenden Begrenzung auf solche Taten, die unter freiem Himmel begangen worden sind, für den Videoüberwachungsbereich Münsterstraße 50 bis 99 nebst einmündender Straßen einerseits sowie für das gesamte Stadtgebiet Dortmund andererseits folgende Deliktsanzahlen bzw. Deliktsbelastungen (bezogen auf die Straßenkriminalität) je Hektar Fläche:</p> <span class="absatzRechts">101</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td rowspan="2"></td> <td colspan="2"><p><strong>Münsterstraße 50-99 nebst einmündender Straßen(Fläche 0,50809 ha)</strong></p> </td> <td colspan="2"><p><strong>Stadt Dortmund(Fläche 28.700 ha)</strong></p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>Anzahl Delikte</strong></p> </td> <td><p><strong>Deliktsbelastung je ha</strong></p> </td> <td><p><strong>Anzahl Delikte</strong></p> </td> <td><p><strong>Deliktsbelastung je ha</strong></p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>2017</strong></p> </td> <td><p>335</p> </td> <td><p>659,332</p> </td> <td><p>23.116</p> </td> <td><p>0,805</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>2018</strong></p> </td> <td><p>252</p> </td> <td><p>495,975</p> </td> <td><p>21.861</p> </td> <td><p>0,762</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>2019</strong></p> </td> <td><p>186</p> </td> <td><p>366,077</p> </td> <td><p>20.233</p> </td> <td><p>0,705</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>2020</strong></p> </td> <td><p>123</p> </td> <td><p>242,083</p> </td> <td><p>20.155</p> </td> <td><p>0,702</p> </td> </tr> <tr><td><p><strong>2021</strong></p> </td> <td><p>142</p> </td> <td><p>279,478</p> </td> <td><p>17.595</p> </td> <td><p>0,613</p> </td> </tr> </tbody> </table> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Mithin war die maßgebliche Deliktsbelastung im Bereich Münsterstraße 50 bis 99 pro Hektar gegenüber dem gesamten Stadtgebiet von Dortmund (pro Hektar) insgesamt im Jahr 2017 um den Faktor 818,60, im Jahr 2018 um den Faktor 651,14 im Jahr 2019 um den Faktor 519,27 im Jahr 2020 um den Faktor 344,72 und im Jahr 2021 um den Faktor 455,87 erhöht.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Sowohl die absolut hohe Zahl an Straftaten im Bereich der Münsterstraße 50 bis 99 als auch insbesondere die oben dargestellte relative Zahl der Delikte im Vergleich zum gesamten Stadtgebiet rechtfertigen die Annahme, dass es sich bei diesem Videoüberwachungsbereich um einen Schwerpunkt der Straßenkriminalität handelt. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Deliktsbelastung fast kontinuierlich zurückgegangen ist. Abgesehen davon, dass auch im Jahr 2021 die Deliktsbelastung in dem hier maßgeblichen Abschnitt der Münsterstraße noch mehr als vierhundertmal höher als im Stadtgebiet Dortmund war, ist in den Jahren 2020 und 2021 die Sondersituation des sog. „Corona-Lockdown“ zu berücksichtigen. In dieser Zeit dürften das zeitweise geringere Mobilitätsverhalten sowie die Kontaktbeschränkungen zu einer Verringerung der Straftaten beigetragen haben. Dieser Effekt dürfte nur vorübergehend sein. Zudem ist in den Blick zu nehmen, dass die Videoüberwachung in der Münsterstraße seit Ende Mai 2021 erfolgt und sich der Effekt dieser Maßnahme in diesem Jahr in der von dem Senat angeforderten Statistik zum Teil auswirken konnte. Bei der Frage der Deliktsbelastung eines Ortes ist im Ausgangspunkt aber auf eine Situation ohne Videoüberwachung zu rekurrieren. Ansonsten würde dies dazu führen, dass die Videoüberwachung gerade bei einem Erfolg einzustellen und sodann (nach einem erneuten Anstieg der Kriminalität) wieder einzuführen wäre.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 123; zu der vorzunehmenden hypothetischen Betrachtung vgl. auch: Tegtmeyer, in: Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Auflage 2018, § 15a Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist – anders als der Antragsteller meint – nicht ersichtlich, dass unter den erfassten Taten eine nennenswerte Anzahl von Vorfällen ist, bei denen ein Straftatbestand objektiv nicht verwirklicht worden ist. Auf die Zahl der zur Ahndung gelangten Straftaten kommt es in diesem Zusammenhang von vorneherein nicht an.</p> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">ccc. Die Beschaffenheit des videoüberwachten Ortes begünstigt auch die Begehung von Straftaten. Hiervon ist insbesondere auszugehen, wenn der zu überwachende Bereich etwa aufgrund von Topographie, Fußgängeraufkommen oder baulichen Gegebenheiten unübersichtlich ist und Straftäter sich so dort unauffällig bewegen bzw. aufhalten können, der Ort aufgrund der vorgenannten Merkmale oder wegen seiner verkehrsgünstigen Lage gute Fluchtmöglichkeiten bietet und/oder sich durch die Eigenart des Platzes eine besondere Zahl von Tatgelegenheiten bietet, die sich an anderer Stelle so nicht in gleichem Maße bieten würden.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 126; Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 8; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, PolG NRW, 1. Auflage 2012, § 15a Rn. 19; Tegtmeyer, in: Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Auflage 2018, § 15a Rn. 1; Maier, NWVBl. 2019, 315, 316; vgl. zur Verlagerung von Tatgeschehen auch: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 51.</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Mit dieser tatbestandlichen Voraussetzung soll insbesondere verhindert werden, dass es durch die Videoüberwachung allein zu einem Verdrängungseffekt kommt, d. h. dass sich die Begehung von Straftaten in einer Gesamtbetrachtung nicht reduziert, sondern lediglich an andere Örtlichkeiten verlagert, an denen keine Videotechnik eingesetzt wird.</p> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">So der Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 13/2854, Seite 54, zur Neufassung des § 15a PolG.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Münsterstraße zwischen den Hausnummern 50 und 99 liegt in der Dortmunder Nordstadt und ist durch die enge Bauweise und die vielen, auf beiden Seiten der Straße liegenden preiswerten gastronomischen Betriebe geprägt. Die geringe Breite wird durch die vorhandene Außengastronomie und am Straßenrand (vielfach falsch) parkende Kraftfahrzeuge noch verstärkt. Die Straße dient vielen Menschen, gerade auch aus dem sie umgebenden Viertel als Treffpunkt, wird aber auch zum Einkaufen genutzt, so dass sich jedenfalls zu manchen Tageszeiten eine erhebliche Anzahl Passanten feststellen lässt. Hieraus ergeben sich zum einen Tatgelegenheiten etwa für die Begehung von Diebstählen und Raubdelikten, zum anderen bietet die sich aus dem Vorstehenden ergebende Unübersichtlichkeit des Bereichs im Zusammenspiel mit der Passantenfrequenz gute Möglichkeiten, nach der Tatbegehung unerkannt zu entkommen. Dabei ist, wie der Antragsgegner dargelegt hat, die Vielzahl der angrenzenden Straßen und die damit einhergehende mögliche Fluchtwegvarianz ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass durch die Poller am nördlichen Ende der Münsterstraße und die damit dort für mehrspurige Kraftfahrzeuge bestehende Sackgassensituation eine Nacheile mit Streifenwagen in Richtung Mallinckrodtstraße unmöglich ist. Auch soweit sich in diesem Bereich der Münsterstraße der Verkauf von Betäubungsmitteln etabliert hat, hat der Antragsgegner nachvollziehbar dargelegt, dass die vorgenannten Umstände diesen besonders begünstigen, so dass eine gänzliche Verlagerung der Straftaten an einen anderen Ort nicht zu erwarten ist.</p> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">ddd. Die vorstehenden Tatsachen tragen zugleich die Annahme, dass an diesem Ort weitere Straftaten begangen werden. Die örtlichen Gegebenheiten, auf denen die überdurchschnittlich hohe Kriminalitätshäufigkeit im Wesentlichen beruht, bestehen unverändert fort. Diese Prognose wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass seit der Einführung der offenen Videoüberwachung – trotz eines Rückgangs – weiterhin eine erhebliche Anzahl an Straftaten begangen worden ist. Dies ergibt sich aus der von dem Antragsgegner für die Maßnahmenverlängerung angefertigten Statistik für den Zeitraum 31. Mai 2021 bis 7. Mai 2022; dass diese nicht gänzlich den Anforderungen an die Definition des Begriffs der Straßenkriminalität in § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW entspricht, ist insoweit erkennbar zu vernachlässigen.</p> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">eee. Die Möglichkeit eines unverzüglichen Eingreifens der Polizei ist für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes jedenfalls für die Zukunft anzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Dieses Tatbestandmerkmal ist durch das Gesetz zur Stärkung der Sicherheit in Nordrhein-Westfalen – Sechstes Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (GV. NRW. 2018, S. 684) in § 15a PolG NRW eingefügt worden. Ziel des Gesetzgebers war es, hierdurch den Charakter der Videoüberwachung als präventive Maßnahme der Verhütung von Straftaten zu unterstreichen.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">So ausdrücklich der Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 17/2351, Seite 36; vgl. auch von Coelln/Pernice-Warnke/Pützer/Reisch, NWVBl. 2019, 89, 92.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Nach der auch für andere Rechtsbereiche allgemein heranzuziehenden Definition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB ist ein Handeln unverzüglich, wenn es ohne schuldhaftes Zögern, also ohne unnötige, nicht durch die Sachlage begründete Verzögerungen erfolgt; an eine bestimmte Zeitspanne, die keinesfalls überschritten werden darf, ist dies nicht gekoppelt.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Anwendbarkeit der Definition im öffentlichen Recht und zu dem Begriff: BVerwG, Urteile vom 21. November 2006 – 1 C 10/06 –, juris, Rn. 26, m. w. N., und vom 13. Mai 1998 – 6 C 12/98 –, juris, Rn. 20.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Danach besteht die Möglichkeit eines unverzüglichen Eingreifens im Sinne von § 15a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW jedenfalls dann, wenn die Polizei in der Lage ist, strafbare Handlungen aus dem Bereich der Straßenkriminalität im Begehungszeitpunkt zu erkennen und so zeitnah polizeiliche Maßnahmen zu ergreifen, dass die Ziele der Videoüberwachung – also neben der Verhinderung noch laufender Taten insbesondere die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und der damit einhergehende abschreckende Effekt – noch erreicht werden können. Das Erfordernis des unverzüglichen Eingreifens setzt nicht voraus, dass die Begehung bzw. Vollendung einer Straftat aus dem Bereich der Straßenkriminalität in jedem Fall noch zu verhindern sein muss.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu: OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 139 ff.</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass die Videoüberwachung nicht primär der Aufzeichnung der Daten für eine spätere Sichtung im Rahmen von Strafverfahren dient, sondern die Videobilder auch tatsächlich „live“ beobachtet und zur Kenntnis genommen werden (sog. „Kamera-Monitor-Prinzip“).</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 17.</p> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzung ist hier als erfüllt anzusehen. Der Antragsgegner überträgt die Videobilder auf einen zentralen Arbeitsplatz in der Leitstelle, wo diese auf mehreren Monitoren angezeigt werden. In der Zeit zwischen dem 31. Mai 2021 und 7. Mai 2022 sind laut Antragsgegner für die Überwachung der Bilder in der Leitstelle 2.271,15 Stunden aufgewendet worden. Bezogen auf eine Betriebszeit von acht Stunden an sechs Tagen in der Woche und der angegebenen Ausfallzeiten von 10 Stunden 45 Minuten bedeutet dies, dass fast durchgängig (ca. 97,6 %) eine Arbeitskraft für die Beobachtung zur Verfügung stand. Dies dürfte – unter Berücksichtigung nie ganz zu vermeidender kurzfristiger Personalausfälle – den Anforderungen an die Überwachung der Videobilder Genüge tun.</p> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls für die Zukunft ist auf der Grundlage der derzeitigen Sachlage davon auszugehen, dass Polizeivollzugsbeamte hinreichend zeitnah im videoüberwachten Bereich eintreffen werden, um die vorgenannten Ziele der Videoüberwachung erreichen zu können. Der Antragsgegner hat in seiner Evaluation für den Zeitraum 31. Mai 2021 und 7. Mai 2022 festgestellt, dass die Interventionszeit, also die Zeit bis zum ersten Eintreffen am Einsatzort, im Durchschnitt 15:18 Minuten betragen hat. Ob diese durchschnittliche Einsatzreaktionszeit vor dem Hintergrund des gesetzgeberischen Ziels als ausreichend anzusehen ist oder ob dies auf grundlegende organisatorische Mängel hindeutet, die die Möglichkeit unverzüglichen Eingreifens im Sinne der Vorschrift entfallen lassen könnten, kann hier jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, das sich ausschließlich auf den zukünftigen Betrieb der Videoüberwachung bzw. dessen Untersagung bezieht, dahinstehen.</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat in seiner Evaluation vom 16. Mai 2022 selbst festgestellt, die Einsatzreaktionszeit sei mit 15:18 Minuten als unzureichend zu bewerten. Zugleich hat er festgehalten, dass für diesen Parameter nunmehr ein Zielwert von 10:00 Minuten festgelegt und zur Verbesserung eine klare Zielvorgabe für die Interventionskräfte erteilt worden sei. Der Antragsgegner hatte schon in seinem Konzept für die Ausgestaltung der Videoüberwachung die Bedeutung dieser Frage erkannt und festgelegt, dass sich jedenfalls zu den Betriebszeiten ein Interventionsteam in der räumlichen Nähe aufhalten soll. Aufgrund der nun erstmaligen Evaluation, der von ihm dabei erkannten Sachlage und der daraufhin ergriffenen Maßnahmen ist für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes jedenfalls derzeit davon auszugehen, dass die durchschnittliche Einsatzreaktionszeit deutlich zurückgehen wird.</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 139; diesbezüglich zu eng und durch die in Bezug genommene Gesetzesbegründung so nicht getragen: Meier, NWVBl. 2019, 315, 317.</p> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen kann die durchschnittliche Einsatzreaktionszeit allein der ersten Einschätzung der Wahrung des unverzüglichen Eingreifens nach § 15a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW dienen. Soweit die Einsatzreaktionszeiten bei bestimmten Einsatzarten oder z. B. Einsätzen mit dem Stichwort „Täter vor Ort“ unter dem Durchschnitt liegen, kann dies mit Blick auf die vorgenannten Ziele gegebenenfalls auch eine differenzierte Betrachtung rechtfertigen.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">bb. Ob die Videoüberwachung der Münsterstraße im Bereich der Hausnummern 50 bis 99 dem Erfordernis der Offenkundigkeit bzw. ausreichenden Kenntlichmachung im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 2 PolG NRW objektiv genügt, unterliegt mit Blick auf die Wahrnehmbarkeit in einzelnen Randzonen des überwachten Bereichs durchgreifenden Zweifeln. Der Antragsteller kann sich aber darauf nicht mit Erfolg berufen.</p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Die Videoüberwachung ist nicht offenkundig. Offenkundigkeit ist anzunehmen, wenn Personen, die den entsprechenden Ort betreten, die eingesetzten Videokameras mit einem beiläufigen Blick erfassen und als solche einschließlich der Zweckbestimmung erkennen können. Dabei ist wegen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ein strenger Maßstab anzulegen. Erst die offene Datenerhebung bewirkt nämlich, dass der Betroffene von der Datenerhebung Kenntnis erhält und sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmen kann.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 146; vgl. auch: Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 18; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, PolG NRW, 1. Auflage 2012, § 15a Rn. 14; Tegtmeyer, in: Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Auflage 2018, § 15a Rn. 5; vgl. zu diesem Begriff auch: OVG Nds., Urteil vom 6. Oktober 2020 – 11 LC 149/16 –, juris, Rn. 48; VG Hannover, Urteil vom 14. Juli 2011 – 10 A 5452/10 –, juris, Rn. 37.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die in dem maßgeblichen Abschnitt der Münsterstraße an acht Standorten angebrachten 18 Videokameras sind zwar nicht verdeckt angebracht, dennoch ist – zumal unter Zugrundelegung eines strengen Maßstabs – eine beiläufige Erkennbarkeit nicht überall gegeben. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Kamera-Standorte so gewählt sind, dass die Sichtachsen auch in die angrenzenden Straßen hineinragen, von wo aus eine Wahrnehmbarkeit im Straßenbild nicht vorausgesetzt werden kann. Zudem sind die Kameras teilweise weit oben an den Gebäuden angebracht, so dass ein beiläufiger Blick nicht dazu genügt, um die Kameras zu erkennen.</p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Die bei einer fehlenden Offenkundigkeit der Videoüberwachung gebotene anderweitige Kenntlichmachung der Beobachtung dürfte in einzelnen Randbereichen unzureichend sein.</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Die Kenntlichmachung durch geeignete Maßnahmen tritt nach der Systematik des § 15a Abs. 1 Satz 2 PolG NRW an die Stelle der Offenkundigkeit der Videoüberwachung. Mithin sind an die Kenntlichmachung vergleichbare Anforderungen zu stellen; auch sie muss mit einem beiläufigen Blick erfasst werden können. Diese Anforderungen sind in der Regel schon dann erfüllt, wenn durch gut sichtbar angebrachte Hinweisschilder, auf denen etwa ein Videokamerapiktogramm abgebildet ist, darauf aufmerksam gemacht wird, dass man sich in einen überwachten Bereich begibt.</p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 150; vgl. auch: OVG Nds., Urteil vom 6. Oktober 2020 – 11 LC 149/16 –, juris, Rn. 51 und 71; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 79 f.; vgl. auch: OVG Hamburg, Urteil vom 22. Juni 2010 – 4 Bf 276/07 –, juris, Rn. 67; Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 18; Tegtmeyer, in: Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Auflage 2018, § 15a Rn. 5; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, PolG NRW, 1. Auflage 2012, § 15a Rn. 14; Müller/Schwabenbauer, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Abschnitt G, Rn. 660; vgl. zur Gesetzesbegründung die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Innere Verwaltung zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung (LT-Drs. 12/4476), LT-Drs. 12/4780, Seite 65.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Die von dem Antragsgegner aktuell genutzten Hinweisschilder sind dem Grunde nach zu einer solchen Information geeignet. Sie weisen mittels zweier Piktogramme sowie textlich auf die Videoüberwachung einschließlich der Bildaufzeichnung sowie deren Aussetzung bei Versammlungen hin. Dabei müssen die Schilder nicht zwingend den Anforderungen der DIN 1450:2013-04 zur Gestaltung von Texten im öffentlichen Raum genügen. Auch bei Anbringung über Kopfhöhe ist nach Einschätzung des Senats davon auszugehen, dass das Kamera-Piktogramm einem Passanten dieselben Informationen zu vermitteln geeignet ist, die mit einer offenkundigen Videoüberwachung einhergehen.</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Um ihrer Funktion insbesondere auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht gerecht werden zu können, müssen die Hinweisschilder so aufgestellt sein, dass jeder, der sich dem videoüberwachten Bereich nähert, diesen bereits vor dem Betreten als solchen erkennen kann.</p> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 155; vgl. zu diesem Erfordernis weiterhin: Tegtmeyer, in: Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Auflage 2018, § 15a Rn. 5; zu der Regelung in Nds. vgl.: VG Hannover, Urteil vom 14. Juli 2011 – 10 A 5452/10 –, juris, Rn. 38; in diesem Sinne auch: OVG Nds., Urteil vom 6. Oktober 2020 – 11 LC 149/16 –, juris, Rn. 51; die Notwendigkeit einer „konturenscharfen“ Kennzeichnung verneinend: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 80.</p> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Auf der Grundlage des von dem Antragsgegner vorgelegten Plans zur Reichweite der Videoüberwachung (Anlage 1 zum Schriftsatz vom 25. Februar 2022, Bl. 88 der Beschwerdeakte), auf dem auch die Standorte der Hinweisschilder und deren jeweilige Ausrichtung angegeben sind, dürfte eine Erkennbarkeit des von der Videoüberwachung betroffenen Bereichs nicht überall gegeben sein. Dies gilt zunächst für die Münsterstraße selbst. An deren nördlichen Ende stehen die beiden Schilder deutlich in dem bereits videoüberwachten Bereich, in dem der Antragsgegner selbst von einer Identifizierbarkeit von Personen bei guten Bedingungen ausgeht. Auch der miterfasste Bereich der Mallinckrodtstraße ist nicht so gekennzeichnet, dass ein Passant schon vor dem Betreten des videoüberwachten Bereichs dies erkennen kann. Gleiches gilt nach dem vorgelegten Plan jedenfalls auch für die östlich an die Münsterstraße anschließende Lambachstraße.</p> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Werden durch die Videoüberwachung darüber hinaus Flächen erfasst, die dem fließenden Verkehr insbesondere mit Kraftfahrzeugen gewidmet sind, sind an die Erkennbarkeit für einen durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer entsprechend gesteigerte, die jeweilige Verkehrssituation berücksichtigende Anforderungen zu Grunde zu legen. Zwar gelten etwa die an Verkehrsschilder zu stellenden, sich aus den Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrsordnung (vgl. Ziffer III.3 der VwV zu den §§ 39 bis 43 StVO) ergebenden Anforderungen nicht unmittelbar. Werden diese insbesondere in Hinblick auf die Größe der Beschilderung aber eingehalten, ist jedenfalls von einer beiläufigen Erkennbarkeit auszugehen.</p> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 158; zur Erkennbarkeit der Beschilderung bei einer automatischen Kennzeichenerfassung vgl. weiter: OVG Nds., Urteile vom 6. Oktober 2020 – 11 LC 149/16 –, juris, Rn. 51, und vom 13. November 2019 – 12 LC 79/19 –, juris, Rn. 46.</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Auf einen solchen Mangel kann sich der Antragsteller– unbeschadet der Frage, ob im Hauptsacheverfahren ein nachträgliches Feststellungsinteresse bestehen könnte – nach Vorlage des von dem Antragsgegner erstellten Plans betreffend die Reichweite der Videoüberwachung aber ebenso wie auf eine möglicherweise mangelnde Erkennbarkeit für Teilnehmer am fließenden Verkehr nicht mit Erfolg berufen. Aufgrund der ihm nunmehr durch Übersendung des Plans vermittelten Kenntnis fehlt es für ihn an einem rechtswidrigen Eingriff in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil er erkennen kann, in welchem örtlichen Bereich er von der Videoüberwachung erfasst wird. Zu einer weitergehenden Durchsetzung objektiven Rechts ist der Antragsteller nicht berufen.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 160; vgl. weiterhin: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 –, juris, Rn. 80; OVG Hamburg, Urteil vom 22. Juni 2010 – 4 Bf 276/07 –, juris, Rn. 129.</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich für die Frage, ob die Beschilderung mit Blick auf ihre Funktion auch die eingeschränkten Betriebszeiten (Sonntag bis Freitag jeweils von 12 bis 20 Uhr) aufführen muss. Der Antragsgegner verschließt die Kameras nunmehr entsprechend der Ergänzung der Dienstanweisung vom 19. August 2022 zwar in der übrigen Zeit mit einem Rollo bzw. dreht diese weg, die Kameras sind aber – wie ausgeführt – nicht überall auf den ersten Blick zu erkennen; insoweit tritt die Beschilderung im Hinblick auf die Offensichtlichkeit gerade an die Stelle der nicht sofort erkennbaren Kameras. Mithin dürfte vieles für eine verpflichtende Angabe auf den nach § 15a Abs. 1 Satz 2 PolG NRW anzubringenden Schildern sprechen. Auch insoweit kann sich der Antragsteller aber in Kenntnis der Betriebszeiten jedenfalls nicht mehr erfolgreich auf die Verletzung eigener Rechte berufen.</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">cc. Die Anordnung der Videoüberwachung der Münsterstraße im Bereich der Hausnummern 50 bis 99 einschließlich der Einmündungsbereiche der anliegenden Straßen erweist sich – soweit sich der Antragsteller auf eigene Rechte berufen kann – auch nicht als ermessensfehlerhaft; insbesondere wahrt sie insoweit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Die Maßnahme dient einem legitimen Zweck (dazu aaa.) und ist geeignet (dazu bbb.), erforderlich (dazu ccc.) sowie angemessen (dazu ddd.). Auch im Übrigen sind Ermessensfehler nicht zu erkennen (dazu eee.).</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">aaa. Die konkrete Videoüberwachungsmaßnahme dient ausweislich der „Konzeption zur Einrichtung einer Videobeobachtung gemäß § 15a PolG NRW an der ‚Münsterstraße‘ 50-99“ des Antragsgegners in der derzeit aktuellen Fassung vom 24. Februar 2022 dazu, Straftaten frühzeitig zu erkennen und zu verhüten, ihre Aufklärung durch Personalisierung der Tatverdächtigen zu verbessern und damit das Sicherheitsgefühl der Bürger zu erhöhen. Das Konzept und damit die Zielsetzung ist durch die Anordnung des Polizeipräsidenten vom 24. Mai 2022 ausdrücklich in Bezug genommen worden. Diese Zielsetzung entspricht den gesetzlichen, sich aus § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG NRW ergebenden Anforderungen.</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">bbb. Die Videoüberwachung ist geeignet, diese Ziele zumindest zu fördern. Wie der Senat in seinen Beschlüssen vom 16 Mai 2022 betreffend die Videoüberwachung an drei Plätzen in Köln ausgeführt hat,</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">siehe nur OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 41 ff.,</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">ist die Wirksamkeit von Videoüberwachungsmaßnahmen differenziert zu betrachten. Im vorliegenden Fall ist die Videobeobachtung aber geeignet, auf dem maßgeblichen Abschnitt der Münsterstraße und den Einmündungsbereichen der angrenzenden Straßen einen Teil der Straftaten durch die abschreckende Wirkung der Beobachtung von vornherein zu verhindern und andere schon im Begehungsstadium zu entdecken und schneller im Sinne der Gefahrenabwehr polizeilich tätig zu werden. Trotz der bisher nur ein volles Jahr umfassenden polizeilichen Erkenntnisse betreffend die Videoüberwachung an dieser Stelle kann jedenfalls gegenüber dem Jahr 2019 – und damit einem Zeitpunkt vor Beginn der Corona-Pandemie – in einigen Kriminalitätsbereichen (z. B. gefährliche und schwere Körperverletzungen, einbezogene Diebstahls- und Raubtaten) ein erheblicher Rückgang verzeichnet werden. So waren in diesen Deliktsgruppen im Jahr 2019 noch 131 Taten zu verzeichnen, im Jahr 2021 nur noch 75. Dies stellt einen Rückgang von 42,7 % dar. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der entsprechenden Delikte in der Stadt Dortmund nur um 13,3 % gesunken. Schließlich kann der Eignung der Maßnahme auch nicht ein etwaiger Verdrängungseffekt entgegen gehalten werden. Schon wegen der Vielzahl der sich gerade aufgrund der Eigenart des Platzes hier ergebenden Tatbegehungsmöglichkeiten (welche sich auch in der immer noch beträchtlichen Anzahl an Delikten äußert) ist ein umfassender Verdrängungseffekt fernliegend.</p> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Zudem trägt die Speicherung der Videobilder für einen Zeitraum von 14 Tagen zur Eignung der Maßnahme bei. Die Reproduzierbarkeit der Videoaufnahmen im Sinne einer Vorsorge für die spätere Strafverfolgung ist geeignet, Personen von der Begehung von Straftaten abzuhalten, weil sie selbst bei zeitlich verzögerter Kenntniserlangung durch die Polizei mit ihrer Identifizierung rechnen müssen.</p> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">ccc. Die Videoüberwachung der Münsterstraße in dem Bereich der Hausnummern 50 bis 99 ist auch erforderlich. Ein gleich wirksames, die Grundrechtsträger aber weniger beeinträchtigendes Mittel steht dem Antragsgegner nicht zur Verfügung. Die Erforderlichkeit der Videoüberwachung im konkreten Fall entfällt insbesondere nicht deshalb, weil der Einsatz von Polizeikräften vor Ort ebenso wirksam wäre. Die Videobeobachtung bietet gerade wegen der Kameratechnik, die dem menschlichen Auge überlegen ist und zudem von erhöhten Punkten eingesetzt werden kann, weitergehende Möglichkeiten, die Begehung von optisch wahrnehmbaren Straftaten zu entdecken und entsprechend zu handeln. Abgesehen davon spricht vieles dafür, dass eine vergleichbare Wirkung durch Polizeikräfte vor Ort unverhältnismäßig viele personelle Ressourcen erfordern würde.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 168; vgl. auch: Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 24.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Die Videobeobachtung ist auch in dem aktuellen zeitlichen Umfang (Betrieb in der Zeit von 12 bis 20 Uhr von Sonntag bis Freitag) erforderlich. Aus der von dem Antragsgegner erstellten Auswertung betreffend die Kriminalitätsverteilung nach Wochentagen und Tagesstunden lässt sich ohne Weiteres folgern, dass die von dem Antragsgegner festgelegten Nutzungszeiten gerade die Tage bzw. Stunden mit dem im Vergleich höchsten Kriminalitätsniveau erfassen. Jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes legt der Senat die so aufbereiteten Zahlen zu Grunde, obwohl die in die Erhebung aufgenommenen Straftaten nicht exakt mit der Definition der Straßenkriminalität des Senats übereinstimmen.</p> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Auch die vorübergehende Speicherung der Videobilder ist erforderlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Inaugenscheinnahme von Videobildern im Ermittlungs-oder Strafverfahren verlässlichere Informationen vermitteln kann als dies durch Zeugenaussagen geschehen könnte. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes ist auch von der Erforderlichkeit einer Speicherung für einen Zeitraum von 14 Tagen auszugehen. Zwar ist diese in dem maximal durch § 15a Abs. 2 PolG NRW erlaubten Umfang nicht per se anzunehmen. Jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes berücksichtigt der Senat aber, dass ihm aus den Verfahren betreffend die Videoüberwachung in Köln bekannt ist, dass dort eine erhebliche Anzahl an Strafanzeigen erst zeitlich verzögert eingeht, wobei auf die Kenntnis der intern für die Anordnung einer längeren Speicherung zuständigen Dienststelle abzustellen ist.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">ddd. Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG durch die Videoüberwachung der Münsterstraße im Abschnitt zwischen den Hausnummern 50 bis 99 ist angemessen; sie bringt die Gemeinwohlinteressen – namentlich die Verhütung von Straftaten und die Vorsorge für die Strafverfolgung – sowie die Rechtspositionen der Betroffenen zu einem möglichst schonenden Ausgleich.</p> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aller Bürger, die den betroffenen Bereich betreten, erheblich ist. Jede Passantin und jeder Passant wird ohne Verdachtsmoment von den Videokameras erfasst; Menschen, die in der Straße wohnen, dort arbeiten oder aus sonstigen Gründen darauf angewiesen sind, Orte in dem videoüberwachten Bereich aufzusuchen, können der Videoüberwachung nicht entgehen. Andere Personen müssen, wenn sie den videoüberwachten Bereich nicht betreten möchten, jedenfalls einen Umweg in Kauf nehmen.</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Dem stehen aber gewichtige Rechtsgüter der Allgemeinheit sowie einzelner Bürger entgegen. Bei der überwachten Fläche handelt es sich – wie vorstehend dargelegt – um einen Schwerpunkt der sog. Straßenkriminalität. Die einschlägige Deliktsbelastung liegt bei einem Flächenvergleich ganz erheblich über der an anderen Orten in der Stadt Dortmund. Die Vorsorge gegen die Begehung von Straftaten und deren Verhinderung betrifft besonders schützenswerte Rechtsgüter – so insbesondere körperliche Unversehrtheit und Eigentum. Vor diesem Hintergrund ist der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch einer Vielzahl von Personen verhältnismäßig. Dabei kann auch nicht darauf verwiesen werden, dass die Zahl der Tatverdächtigen im Vergleich zur Gesamtzahl der erfassten Personen relativ gering ist. Der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Rechtsgütern und Gefahren für diese entzieht sich einer solchen rein zahlenmäßigen Abwägung.</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 178.</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt für die Erstreckung der Videoüberwachung auf einen Zeitraum von acht Stunden (12 bis 20 Uhr) von Sonntag bis Freitag. Das von dem Antragsgegner für die Evaluation seiner Maßnahme nach etwa einem Jahr genutzte Zahlenmaterial zeigt auf, dass dieser Zeitraum des Tages und die benannten Wochentage jeweils den deutlichen zeitlichen Schwerpunkt der (im Vergleich zum übrigen Stadtgebiet je bereits insgesamt deutlich überdurchschnittlichen) Straßenkriminalitätsbelastung darstellt. Die Frage, ob angesichts der Kriminalitätswerte auch eine zeitlich umfangreichere Videoüberwachung in Betracht kommen würde, bedarf keiner Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Die Videobeobachtung ist auch nicht deshalb unangemessen, weil der Antragsgegner über die Fläche der Münsterstraße hinaus angrenzende Straßen und Plätze einbezogen hat. Die von dem Antragsgegner vorgelegten Daten zur Deliktshäufigkeit im Erfassungsbereich der Kameras tragen die Feststellung, dass der gesamte Bereich einen Kriminalitätsschwerpunkt bildet. Mithin kommt es auf die Frage, wie weit eine Videoüberwachung – etwa um eine Aufzeichnung des gesamten Platz sinnvoll durchführen zu können – über die eigentlich betroffene Fläche hinausreichen darf, nicht an.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Bedenken gegen die Angemessenheit der Maßnahme bestehen auch nicht in Bezug auf die in ihrer Eingriffsintensität über die bloße Videobeobachtung hinausgehende Speicherung der Videobilder. Die Reproduzierbarkeit der Videobilder schafft sowohl für die polizeilichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, aber gerade auch für das gerichtliche Strafverfahren eine Möglichkeit, objektive Beweise zu führen. Die sich hieraus ergebende erhöhte Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Strafverfolgung und die damit einhergehende erhöhte Abschreckung für potentielle Täter rechtfertigen die Aufzeichnung. Zwar ist naheliegend, dass diese Abschreckungswirkung jedenfalls bei Affekttaten nicht in gleichem Maße zu erzielen ist; dies stellt die Angemessenheit aber nicht in Frage, weil bei einem ganz erheblichen Teil der Delikte (z. B. Diebstahl und Raub, BtM-Handel, Sachbeschädigung) ein Handeln im Affekt nicht ins Gewicht fällt.</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 – juris, Rn. 183.</p> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Aus dem Vorgesagten ergibt sich zugleich, dass eine generelle Speicherdauer von 14 Tagen voraussichtlich nicht unangemessen ist. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes ist davon auszugehen, dass bei einer Löschung zu einem früheren Zeitpunkt in deutlich weniger Fällen auf die Videobilder als Beweismittel zurückgegriffen werden könnte. Mit Blick darauf besteht jedenfalls bei summarischer Prüfung kein Zweifel an der Angemessenheit der generellen Speicherdauer. Dafür, dass der Antragsgegner seiner Verpflichtung zur Löschung nach Ablauf dieser Frist (unter Berücksichtigung der zulässigen Ausnahmen) nicht nachkommt, bestehen jedenfalls keine Anhaltspunkte. Soweit § 15a Abs. 2 PolG NRW eine Speicherung über die Frist von 14 Tagen hinaus zum Zweck der Strafverfolgung oder betreffend Personen gestattet, von denen anzunehmen ist, dass diese künftig Straftaten begehen werden, wird die generelle Speicherfrist hierdurch nicht in Frage gestellt. Dies gilt auch dann, wenn auf den für diese Zwecke länger gesicherten Videoaufnahmen unbeteiligte Dritte zu erkennen sind. Zwar stellt auch diese Speicherung einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, welcher aber durch die definierten Zwecke der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung gerechtfertigt ist.</p> <span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">Eine Unangemessenheit der Videoüberwachung folgt nicht aus einer nach dem Verwaltungsvorgang (vgl. die Ausschreibungsunterlagen, Bl. 338 des Verwaltungsvorgangs, Beiakte 1b) zunächst möglich erscheinenden Nutzung künstlicher Intelligenz auf der Ebene der einzelnen Kamerasysteme oder des Videoarbeitsplatzes. Unabhängig von der Frage, ob eine solche Verarbeitung auf der Grundlage des § 15a PolG NRW überhaupt zulässig wäre,</p> <span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1. Juni 2022, § 15a PolG Rn. 24.1; Schenke, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Auflage 2019, § 27 BPolG Rn. 18; Roggan, NVwZ 2019, 344, 346,</p> <span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">hat der Antragsgegner auf Nachfrage des Gerichts ausdrücklich erklärt, solche Technologie nicht zu nutzen. Der Senat hat keinen Anlass, an der Glaubhaftigkeit dieser Erklärung zu zweifeln.</p> <span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Für ein engeres Verständnis der Angemessenheit der Maßnahme besteht auch in Bezug auf die mitaufgezeichneten Kraftfahrzeug-Kennzeichen kein Anlass. Die unverpixelte Wiedergabe von Kennzeichen auf den Monitoren in der Leitstelle sowie deren ebenfalls unverpixelte Aufzeichnung stellen zwar einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, weil der Halter des Fahrzeugs jedenfalls mittels Abfrage aus dem Fahrzeugregister ermittelbar ist.</p> <span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2014 – 6 C 7/13 –, juris, Rn. 23 ff.</p> <span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Er wiegt angesichts der Pflicht aus § 10 Abs. 5 FZV, § 23 Abs. 1 Satz 3 StVO, ein Kraftfahrzeug mit einem generell gut wahrnehmbaren Kennzeichen zu versehen, aber nicht schwerer als die Aufzeichnung von Personen und ist dementsprechend ebenfalls nicht zu beanstanden. Zwar ermöglicht eine Registerabfrage eine individuelle Zuordnung zu dem Fahrzeughalter. Dies setzt ohne automatisierte Erfassung einen zusätzlichen Zwischenschritt eines Bearbeiters voraus und kann nur auf der Grundlage des § 35 StVG (hier insbesondere nach Abs. 1 Nr. 4 zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung) erfolgen. Zudem ist die Übertragung und Speicherung von Bildern, die auch Kraftfahrzeug-Kennzeichen enthalten, auch nicht als (automatisierte) Kennzeichenerfassung zu verstehen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn Kennzeichen durch weitergehende technische Maßnahmen als solche erkannt und ihr Inhalt, also die Buchstaben- und Ziffernfolge, ausgelesen würde, um in der Folge etwa durch den Abgleich mit Datenbanken weiter ausgewertet zu werden.</p> <span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 190 f.; zum Begriff der Kennzeichenerfassung vgl.: BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 – 1 BvR 2074/05 u. a. –, juris, Rn. 2, 62; BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2014 – 6 C 7/13 –, juris, Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">Dass eine solche automatisierte Erfassung einschließlich Abgleich mit einer Datenbank erfolgen würde, ist hier aber gerade nicht erkennbar.</p> <span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen nimmt der Senat hinsichtlich der Videoüberwachung nicht öffentlich zugänglicher Orte, selbst wenn sie als solche gar nicht primär beabsichtigt ist („Beifang“) auf die diesbezüglichen Ausführungen in dem Beschluss des Senats vom 16. Mai 2022 betreffend den Ebertplatz in Köln,</p> <span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">– 5 B 1289/21 –, juris, Rn. 219 ff.,</p> <span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Bezug. Unabhängig von der Frage, ob vorliegend mit den eingesetzten Kameras und unter Berücksichtigung der technisch unkenntlich gemachten Bereiche der Aufnahmen (vgl. hierzu die Bilder im Verwaltungsvorgang, Beiakte 1b, Bl. 176 ff.) eine solche Überwachung nicht öffentlicher Orte vorliegt, hat der Antragsteller eine Betroffenheit in eigenen Rechten nicht dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">eee. Eine fehlerhafte Ausübung (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) des dem Antragsgegner zukommenden Ermessens ist auch im Weiteren nicht zu erkennen.</p> <span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Dies gilt auch, soweit der Antragsteller der Ansicht ist, die Motivation des Antragsgegners habe sich nicht in den Kriminalitätszahlen begründet, sondern in der auf diesem Wege möglichen Überwachung des Kulturzentrums Nordpol am nördlichen Ende der Münsterstraße als Treff der linken Szene. Die von dem Antragsteller in Bezug genommene Passage in dem Entwurf der „Konzeption zur Errichtung einer Videobeobachtung gemäß § 15a PolG NRW an der ‚Münsterstraße‘ 50-99“ (Beiakte 1a, Bl. 76 ff., dort Punkt 1.1.1 Tatörtlichkeit) bezieht sich maßgeblich darauf, dass polizeiliche Kontrollen von Personen, die des Handels mit Betäubungsmitteln verdächtigt werden, wiederholt von Besuchern des Kulturzentrums Nordpol gestört worden seien. Zudem wird angenommen, dass das Lokal bei größeren Versammlungslagen als Anlaufpunkt überörtlicher linksgerichteter Gewalttäter genutzt werde. Die entsprechende Passage ist aber in der finalen Konzeptversion vom 24. Februar 2022 (Beiakte 1b, Bl. 259 ff.) nicht mehr enthalten. Nur diese, nicht aber ihr Entwurf ist in der aktuell geltenden Anordnung des Polizeipräsidenten vom 24. Mai 2022 in Bezug genommen worden. Schon daher ist nicht erkennbar, dass die früher niedergelegte Beschreibung der Örtlichkeit Einfluss auf die aktuelle Ermessensausübung des Behördenleiters hatte, zumal das Kulturzentrum Nordpol, wie vom Antragssteller selbst vorgetragen, seit Ende April 2022 nicht mehr an der Münsterstraße betrieben wird. Im Übrigen stellt – ohne dass es nach dem Vorstehenden noch darauf ankommt – die im Entwurf niedergelegte polizeiliche Einschätzung der Störung polizeilicher Kontrollen auf für den Drogenhandel besonders förderliche Umstände ab, was vor dem Hintergrund der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15a Abs.1 Satz 1 PolG NRW keine sachfremde Erwägung darstellt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die von dem Antragsgegner vorgelegte Auswertung der Straßenkriminalität gerade im Nahbereich des Kulturzentrums Nordpol eine erhebliche Anzahl von Verstößen gegen das BtMG ergeben hat. Dass die Aussage zu „überörtlichen linksgerichteten Gewalttätern“ angesichts der nunmehrigen Unkenntlichmachung der Fassade und des Eingangs des (früheren) Kulturzentrums Nordpol irgendeinen Einfluss auf die Entscheidung über den Betrieb der Videoüberwachung gehabt haben sollte, drängt sich dem Senat nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">2. Ein Unterlassungsanspruch des Antragstellers ergibt sich nicht aus einer zu erwartenden Verletzung der Versammlungsfreiheit des Antragstellers aus Art. 8 Abs. 1 GG. Der Antragsteller hat vorgetragen, er nehme – auch nach dem Wegzug des Kulturzentrums Nordpol – an öffentlichen „Veranstaltungen“ des Bezent e. V. (Münsterstraße 56) und (sporadisch) des Train of Hope e. V. (Münsterstraße 54) teil. Dass es sich hierbei um Versammlungen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG handelt, ergibt sich weder aus dem Beschwerdevortrag noch aus den von dem Kläger benannten Internetseiten der Vereine.</p> <span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">B. Soweit die Beteiligten das Verfahren hinsichtlich des vom Antragsteller mit Schriftsatz vom 17. März 2021 gestellten Hilfsantrags,</p> <span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17. Februar 2021 aufzuheben und dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Klageverfahren 17 K 2626/20 zu untersagen, die Münsterstraße in Dortmund entsprechend der Entscheidung des Polizeipräsidenten des Polizeipräsidiums Dortmund vom 21. Januar 2020 durch den Einsatz optisch-technischer Mittel zu überwachen, soweit diese das Kulturzentrum „Nordpol“, Münsterstraße 99, erfasst,</p> <span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">im Hinblick auf den Umzug des Kulturzentrums Nordpol übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren aus Gründen der Klarstellung in entsprechender Anwendung der §§ 87a Abs. 1 und 3, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und nach Maßgabe des § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO über die Verfahrenskosten zu entscheiden.</p> <span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht im Falle der Erledigung über die Kosten des Rechtsstreits nach billigem Ermessen und unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands. Es entspricht dabei regelmäßig billigem Ermessen, demjenigen die Verfahrenskosten aufzuerlegen, der ohne den Eintritt des erledigenden Ereignisses voraussichtlich unterlegen wäre. Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei die Sach- und Rechtslage unmittelbar vor Eintritt des erledigenden Ereignisses. Allerdings bedarf es wegen des Vereinfachungszwecks des § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO im Rahmen der nur noch zu treffenden Kostenentscheidung keiner Klärung schwieriger Rechtsfragen.</p> <span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe entspricht es der Billigkeit, die Kosten des Verfahrens hinsichtlich des Hilfsantrags beiden Beteiligten jeweils zur Hälfte aufzuerlegen. Ob der Antragsteller unmittelbar vor dem erledigenden Ereignis – der Aufgabe des Kulturzentrums Nordpol an der Münsterstraße 99 – einen Anspruch aus Art. 8 Abs. 1 GG auf Unterlassung der Videoüberwachung dieser Liegenschaft hatte, stellt eine schwierige Rechtsfrage dar, deren Klärung nach Erledigung des Verfahrens nicht mehr zu erfolgen hat. Wie bereits das Verwaltungsgericht geht auch der Senat davon aus, dass die in dem Kulturzentrum durchgeführten Veranstaltungen zumindest teilweise Versammlungen in geschlossenen Räumen dargestellt haben, die dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG unterfielen und die im Gegensatz zu Versammlungen unter freiem Himmel nicht anmeldepflichtig waren, so dass der Antragsgegner nicht in der Lage gewesen wäre, die Videoüberwachung abzuschalten.</p> <span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller geltend gemacht hat, er habe sich selbst als Teilnehmer von Versammlungen durch die Videoüberwachung überwacht gesehen, dürfte sich hieraus kein Unterlassungsanspruch (mehr) ergeben haben. Der Antragsgegner hatte zuvor im Verfahren erklärt, durch technisch nicht reversible Maßnahmen sicherzustellen, dass der gesamte, im Erdgeschoss liegende Bereich des Kulturzentrums Nordpol einschließlich des Eingangs und der Fensterflächen durch eine schwarze Fläche unkenntlich ist. Dies hat er durch Vorlage von durch die Kameras aufgenommenen Bildern belegt. Dem Antragsteller selbst musste die Tatsache der Schwärzung damit jedenfalls aus diesem Verfahren bekannt sein.</p> <span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Maßgeblichkeit des eigenen Wissens des Antragstellers vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 160 f., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller vorgetragen hat, durch Beobachtung der Bilder könne festgestellt werden, welche Personen den geschwärzten Bereich betreten, aber nicht wieder zeitnah verlassen hätten und daher das Kulturzentrum aufgesucht haben müssten, erscheint dies schon angesichts der Vielzahl der an einem Arbeitsplatz auflaufenden Videobilder als eine rein theoretische Möglichkeit. Allein die von dem Antragsteller angeführte Möglichkeit eines solchen Vorgehens ohne weitere Anhaltspunkte rechtfertigt eine derartige Annahme nicht.</p> <span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">Ob die Videoüberwachung bei fehlender Erkennbarkeit der Unkenntlichmachung der Gebäudefassade einschließlich Fenster und Eingangstüre für Dritte einen unzulässigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG des Antragstellers dargestellt hat, erweist sich hingegen als schwierige Rechtsfrage.</p> <span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit kann auch durch faktische Maßnahmen beeinträchtigt werden, wenn diese in ihrer Intensität imperativen Maßnahmen gleichstehen und eine abschreckende oder einschüchternde Wirkung entfalten bzw. geeignet sind, die freie Willensbildung und die Entschließungsfreiheit derjenigen Personen zu beeinflussen, die an Versammlungen teilnehmen (wollen). Ob dies der Fall ist, kann nur aufgrund einer Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls anhand eines objektiven Beurteilungsmaßstabs festgestellt werden. Dabei ist etwa die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen von einer Versammlung mit Foto- und/oder Videotechnik ebenso wie bloße Bildübertragungen nach dem heutigen Stand der Technik für die Aufgezeichneten immer ein Grundrechtseingriff, weil die Einzelpersonen in der Regel individualisierbar sind.</p> <span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 200; vom 2. Juli 2020 – 15 B 950/20 –, juris, Rn. 6 ff., m. w. N.</p> <span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">In der Folge ist das beschließende Gericht davon ausgegangen, dass im Fall der Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen die Videokameras bei Versammlungen entweder zu verhüllen oder sonst erkennbar außer Betrieb zu nehmen sind (etwa durch ein Verschlussrollo oder Wegdrehen des Objektivs), worauf hinzuweisen ist.</p> <span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 203, vom 2. Juli 2020 – 15 B 950/20 –, juris, Rn. 18 ff., und vom 13. März 2020 – 15 B 332/20 –, juris, Rn. 2 f., 12 ff.</p> <span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Durch polizeiliche Maßnahmen kann dabei auch der Veranstalter einer Versammlung durch Maßnahmen, die (potentielle) Teilnehmer von der Wahrnehmung ihres Versammlungsgrundrechts abhalten, in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG beeinträchtigt sein.</p> <span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu: Sächs. OVG, Urteil vom 17. August 2016 – 3 A 64/14 –, juris, Rn. 35; zur Grundrechtsrelevanz des Verzichts auf die Ausübung des Grundrechts aus Art. 8 GG wegen behördlicher Informationserhebung vgl. auch BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 – juris, Rn. 148.</p> <span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">In bestimmten Konstellationen kann eine solche Beeinträchtigung auch für andere Versammlungsteilnehmer gelten, soweit sich dies für sie selbst in der Wahrnehmung ihres Versammlungsgrundrechts mehr als nur unerheblich und nicht als bloßer Reflex auswirkt.</p> <span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu OVG Nds., Urteil vom 2. Dezember 2021 – 11 LC 84/20 –, juris, Rn. 33 ff.</p> <span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat insoweit vorgetragen, dass er sowohl als Teilnehmer als auch als Mitorganisator bei Versammlungen in dem Kulturzentrum Nordpol zugegen gewesen ist.</p> <span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">Ob und inwieweit die vorgenannten Maßstäbe auf die (für Dritte, die keine Kenntnis von der Schwärzung haben, zu unterstellende) Beobachtung einer Hausfassade einschließlich der Eingangstür und Fenster eines Versammlungsortes zu übertragen sind – insbesondere wenn die Polizei in der Vorbereitung der Videoüberwachung die politische Einstellung der Besucher erkennbar thematisiert hat – und was hieraus für die zu Zwecken der präventiven, zur Verhinderung von Straßenkriminalität eingerichteten Videoüberwachung folgt, ist bisher ungeklärt und bedürfte der umfassenden (verfassungs-)rechtlichen Würdigung.</p> <span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung im Übrigen folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">D. Der Streitwert ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG, wobei der Senat für den (erledigten) Hilfsantrag 1/3 des Gesamtstreitwertes ansetzt.</p> <span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">Anders als das Verwaltungsgericht hält der Senat wegen der Vorläufigkeit der betroffenen Regelung die Halbierung des Auffangstreitwerts für angemessen.</p> <span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Vgl. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31. Mai/1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen, abzurufen unter https://www. bverwg.de/user/data/media/streitwertkatalog.pdf.</p> <span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">Allein die Tatsache, dass für den Zeitraum der vorläufigen Regelung, also bis zu Entscheidung in der Hauptsache, eine Sachlage geschaffen wird, die später wegen Zeitablaufs für diesen Zeitraum faktisch nicht mehr rückgängig zu machen ist, führt nicht zu einer Vorwegnahme der Hauptsache im Rechtssinne.</p> <span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">So – ohne zusätzliche Begründung – auch: OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 – 5 B 137/21 –, juris, Rn. 221 f.</p> <span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Entsprechend war der Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts von Amts wegen zu ändern, § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
346,902
lg-dusseldorf-2022-09-22-4b-o-5422
{ "id": 808, "name": "Landgericht Düsseldorf", "slug": "lg-dusseldorf", "city": 413, "state": 12, "jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit", "level_of_appeal": "Landgericht" }
4b O 54/22
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:14"
"2022-10-17T11:11:01"
Urteil
ECLI:DE:LGD:2022:0922.4B.O54.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 29. Juli 2022 wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens trägt die Verfügungsklägerin.</p> <p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Verfügungsklägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Verfügungsbeklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsklägerin macht als im Register eingetragene Inhaberin des europäischen Patents A (im Folgenden: Verfügungspatent) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Verfügungsbeklagte auf die Verletzung des Verfügungspatents gestützte Unterlassungsansprüche geltend.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das am 07. Februar 2008 in englischer Verfahrenssprache angemeldete Verfügungspatent mit der Bezeichnung „Zusammensetzungen und deren Verwendung zur Behandlung von Multipler Sklerose“ nimmt eine Priorität vom 08. Februar 2007 (B) in Anspruch. Die Veröffentlichung des Hinweises auf die Patenterteilung datiert vom 20. Juli 2022. Die Erteilung des Verfügungspatents erfolgte nach mündlicher Verhandlung unter Berücksichtigung Einwendungen Dritter (diese vorgelegt als Anlagenkonvolut rop12; deutsche Übersetzung: Anlagenkonvolut rop12a).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die hier maßgeblichen selbstständigen Verfügungspatentansprüche 1 und 5 lauten in der englischen Originalfassung (Verfügungspatentschrift liegt als Anlage rop1 vor; deutsche Übersetzung: Anlage rop1a) wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">„1.               A pharmaceutical composition for use in treating multiple sclerosis, the composition comprising:</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">(a)               dimethyl fumarate or monomethyl fumarate, and</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">(b)               one or more pharmaceutically acceptable excipients,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">wherein the composition is to be administered orally to a subject in need of treatment for multiple sclerosis, and wherein the dose of dimethyl fumarate or monomethyl fumarate to be administered is 480 mg per day.“,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">„5. Dimethyl fumarate or monomethyl fumarate for use in treating multiple sclerosis, wherein the dimethyl fumarate or monomethyl fumarate is to be orally administered to a subject in need of treatment for multiple sclerosis at a dose of 480 mg per day.“</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Eine deutsche Übersetzung der Ansprüche 1 und 5 lautet wie folgt:</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">„1.               Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst:</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">(a)               Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">(b)              einen oder mehrere pharmazeutische unbedenkliche Arzneimittelträger,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.“,</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">„5.              Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.“</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsbeklagte erhob mit Schriftsatz vom 20. Juli 2022 (Anlage AG2; deutsche Übersetzung: Anlage AG2a) Einspruch gegen das Verfügungspatent. Eine Entscheidung liegt noch nicht vor. Neben der hiesigen Verfügungsbeklagten legten unter anderem auch die C und die D Einspruch gegen die Erteilung des Verfügungspatents ein. Die Verfügungsklägerin begehrt in vor der hiesigen Kammer anhängigen einstweiligen Verfügungsverfahren auch Unterlassungsgebote gegen die genannten Einsprechenden. Die Verfahren sind hier unter den Aktenzeichen 4b O 50/22 (C) und 4b O 55/22 (D) anhängig.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das Verfügungspatent steht in Kraft.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Verfügungspatent ist aus einer Teilanmeldung zu dem europäischen Patent E (im Folgenden: Stammpatent) hervorgegangen. Die internationale Anmeldeschrift zum Stammpatent, veröffentlicht als WO F, ist als Anlage rop11 Aktenbestandteil.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der erteilte Anspruch 1 des Stammpatents lautet in deutscher Übersetzung wie folgt (Abweichungen gegenüber dem Wortlaut des Anspruchs 1 des Verfügungspatents sind unterstrichen):</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">„              Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung <span style="text-decoration:underline">aus Folgendem besteht:</span></p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">(a)               Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">(b)              einen oder mehrere pharmazeutische unbedenkliche Arzneimittelträger,</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.“,</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der erteilte Anspruch 7 des Stammpatents lautet wie folgt (Abweichungen gegenüber dem Wortlaut des Anspruchs 5 des Verfügungspatents sind unterstrichen):</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">„              Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, <span style="text-decoration:underline">wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester der einzige zu verabreichende, neuroprotektive Bestandteil ist</span>, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.“</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Das Stammpatent wurde im Rahmen eines von 10 Einsprechenden geführten Einspruchsverfahrens in erster Instanz mit Entscheidung vom 13. Juni 2022 wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit widerrufen (Entscheidung liegt als Anlage rop 14 vor; deutsche Übersetzung: Anlage rop14a). In dem nachfolgenden Beschwerdeverfahren wies die Technische Beschwerdekammer die Beschwerde mit Entscheidung vom 20. Januar 2022 aufgrund einer unzulässigen Erweiterung zurück (die Entscheidung mit dem Aktenzeichen O liegt als Anlage rop10 vor; deutsche Übersetzung: Anlage rop10a).</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsbeklagte, ein Generikaunternehmen, vertreibt seit dem Tag der Erteilung der Zulassung am 15. Juni 2022 das Arzneimittel „G“ (im Folgenden: angegriffene Ausführungsform), das ebenfalls gegen Multiple Sklerose zum Einsatz gelangt. Die angegriffene Ausführungsform wird in magensaftresistenten Hartkapseln mit einem Inhalt von 120 mg oder 240 mg angeboten. Ausweislich der Gebrauchsinformation (Anlage rop3) ist die reguläre Tagesdosis 240 mg zweimal täglich.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsklägerin ist der Auffassung, ihr Interesse an dem Erlass einer einstweiligen Verfügung überwiege dasjenige der Verfügungsbeklagten an einer Fortsetzung des Vertriebs der angegriffenen Ausführungsform.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Das Verfügungspatent erweise sich insbesondere auch als rechtsbeständig.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Da es sich vorliegend um einen Generikafall handele, bestehe aufgrund des Erteilungsaktes des Verfügungspatents eine Vermutung für den Rechtsbestand desselben. Diese werde auch durch die das Stammpatent betreffenden Rechtsbestandsentscheidungen nicht erschüttert.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Begründung der Einspruchsabteilung, mit der diese das Stammpatent wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit widerrufen habe, sei offensichtlich falsch.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Anders als von der Einspruchsabteilung in dem Einspruchsverfahren zu dem Stammpatent angenommen, sei die Dosis von 480 mg/ Tag bereits per se, das heißt ohne Berücksichtigung nachveröffentlichter Daten, nicht naheliegend. Selbst wenn man – mit der Einspruchsabteilung – das zu lösende technische Problem „lediglich“ in der Zurverfügungstellung einer alternativen Dosis zu der im Stand der Technik (= nach den Ergebnissen der Phase 2b klinischen Studie zu N eine Dosierung von 720 mg/Tag) formulierten Dosis sehen wolle, sei für den Fachmann eine Dosierung von 480 mg/Tag nicht naheliegend gewesen.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Denn aus der Präsentation von J et al. mit dem Titel „Efficacy of a novel oral single-agent fumarate, N, in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: results of a phase II study“ (nachfolgend auch bezeichnet als „J“, vorgelegt mit Anlagenkonvolut AG2_TM6), vorgestellt auf dem 16. Treffen der European Neurological Society am 30. Mai 2006, gewinne der Fachmann die Erkenntnis, dass lediglich eine Dosierung von 720 mg/Tag wirksam sei. Eine Dosierung von 360 mg/Tag stelle sich ihm demgegenüber als unwirksam dar. Auch erkenne der Fachmann aus der Präsentation kein dosisabhängiges Nebenwirkungsprofil.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Auch ausgehend von der Schrift von K et al. mit dem Titel „Oral fumaric acid esters for the treatment of active multiple sclerosis: an open-label, baseline-controlled pilot study“ (im Folgenden auch bezeichnet als „K“, vorgelegt mit Anlage rop17_D1), die am 06. Juni 2006 in der 13. Ausgabe des European Journal of Neurology erschien, stelle sich die Lehre des Verfügungspatents auch nach der Aufgabenformulierung des EPA als erfinderisch dar. Der Fachmann ziehe die genannte Schrift in Kenntnis von J schon nicht (mehr) zurate.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Tatsächlich sei aber auch als das zu lösende Problem die Bereitstellung einer verbesserten oralen Therapie zur Behandlung von MS zu qualifizieren. Denn die beanspruchte Dosierung von 480 mg/Tag sei nicht nur wirksam, sondern – wie sich aus nachveröffentlichten Daten, insbesondere aus den veröffentlichten Ergebnissen der Phase-3-Studie zur Zulassung von H überraschenderweise ergebe – ähnlich wirksam wie die höhere, vorbekannte Dosis von 720 mg/Tag. Gleichzeitig verringere sie das Risiko von Langzeitwirkungen auf die Nieren und andere Organe.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsklägerin beantragt mit am 29. Juli 2022 eingegangenem Antrag,</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">I.               der Verfügungsbeklagten im Wege der einstweiligen Verfügung zu untersagen,</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">1.              pharmazeutische Zusammensetzungen zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst: (a) Fumarsäuredimethylester und (b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger, wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester 480 mg pro Tag beträgt,</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">– EP A – Patentanspruch 1 –,</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">2.              Fumarsäuredimethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist,</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">              – EP A – Patentanspruch 5 –,</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">nämlich</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">G 120 mg magensaftresistente Hartkapseln (Zulassungsnummern: X1, X2, X3),</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">G 240 mg magensaftresistente Hartkapseln (Zulassungsnummern: X4, X5, X6, X7, X8),</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen;</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">II.               der Verfügungsbeklagten für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen das gerichtliche Verbot gemäß Ziffer I. als Zwangsvollstreckungsmaßnahme Ordnungsgeld bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder eine Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Falle mehrfacher Zuwiderhandlung bis zu insgesamt 2 Jahren, jeweils zu vollziehen an ihrem Vorstand, anzudrohen.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsbeklagte beantragt,</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">              den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von dem Verständnis der Verfügungsklägerin verletze die angegriffene Ausführungsform schon nicht die Lehre des Verfügungspatents, weil nämlich das angegriffene Produkt – insoweit unstreitig – innerhalb der ersten sieben Tage zunächst in einer Anfangsdosis von zweimal 120 mg (= 240 mg) zur Anwendung gelange, so dass nicht ausschließlich eine Dosierung von 480 mg verwendet werde.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsbeklagte ist weiter der Auffassung, es fehle an einem Verfügungsgrund.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Das Verfügungspatent werde sich im Rahmen des eingeleiteten Einspruchsverfahrens als nicht rechtsbeständig erweisen.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die durch das Verfügungspatent geschützte Lehre sei nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Insbesondere sei zum Prioritätszeitpunkt weder aus der Anmeldung des Verfügungspatents noch aus dem allgemeinen Fachwissen plausibel gewesen, dass eine Dosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF zur effektiven Behandlung von MS eingesetzt werden könne. Die teilweise sehr breiten Bereichsangaben seien nicht durch experimentelle Daten unterfüttert.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Zudem würden die in der Entscheidung der Einspruchsabteilung gegen das Stammpatent getroffenen Erwägungen zur fehlenden erfinderischen Tätigkeit erst Recht für das gegenüber dem Stammpatent breitere Verfügungspatent gelten.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Daneben fehle es dem Verfügungspatent auch ausgehend von K an einer erfinderischen Tätigkeit. Denn die Druckschrift offenbare bereits die Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag und einer solchen von 720 mg/Tag.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls im Einklang zum Stammpatent sei das Verfügungspatent zudem wegen einer unzulässigen Erweiterung nicht rechtsbeständig. Auch stelle es sich als nicht neu dar.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Des Weiteren sei im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass ein zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Hinweises auf die Erteilung des Verfügungspatents durch den Launch der angegriffenen Ausführungsform bereits eingetretener Preisverfall keinen Umstand darstelle, der es der Verfügungsklägerin unzumutbar mache, im Wege einer Hauptsacheklage vorzugehen. Ein nicht wiedergutzumachender Schaden drohe der Verfügungsklägerin auch deshalb nicht, weil mit einer Festlegung eines Festpreises erst in ein bis zwei Jahren zu rechnen sei. Schließlich habe sich die Verfügungsklägerin auch dringlichkeitsschädlich verhalten, weil sie das Erteilungsverfahren für das Verfügungspatent verzögert habe.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung war zurückzuweisen. Zwar hat die Verfügungsklägerin auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Verfügungsbeklagten einen Verfügungsanspruch glaubhaft gemacht (dazu unter A.), nicht jedoch einen Verfügungsgrund (dazu unter B.), §§ 936, 920 Abs. 2 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks"><strong>A.</strong></p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Ein Verfügungsanspruch in Form eines Unterlassungsanspruchs liegt gem. Art. 64 Abs. 1 EPÜ i. V. m. § 139 Abs. 1 PatG vor.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Das Verfügungspatent beschreibt einleitend bestimmte Verbindungen zur Behandlung von Multipler Sklerose als vorbekannt (Abs. [0001] des Verfügungspatents; Abschnitte ohne Bezeichnung sind nachfolgend solche des Verfügungspatents).</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Erkrankung „Multiple Sklerose“ (MS) beschreibt das Verfügungspatent als eine Autoimmunerkrankung, bei der die Autoimmunaktivität gegen Antigene des zentralen Nervensystems (ZNS) gerichtet sei (Abs. [0002]). Die Krankheit sei durch Entzündungen in Teilen des ZNS gekennzeichnet, die zum Verlust der Myelinscheide um die Nervenfasern (Demyelinisierung), zum Verlust von Nervenfasern und schließlich zum Tod von Neuronen, Oligodenrozyten und Gliazellen, führen würden (Abs. [0002]). Bei der chronischen, fortschreitenden, behindernden Krankheit handele sich um eine der häufigsten Erkrankungen des ZNS bei jungen Erwachsenen, weltweit würden schätzungsweise 2.500.000 Menschen daran leiden (Abs. [0003]). Die Diagnose werde regelmäßig im Alter zwischen 20 und 40 Jahren gestellt, der Beginn könne aber auch früher erfolgen (Abs. [0003]). Obwohl genetische Anfälligkeiten eine Rolle bei der Entwicklung spielen würden, sei die Krankheit nicht direkt vererbbar (Abs. [0003]). Die schubförmige remittierende MS äußere sich in Form wiederkehrender Schübe mit fokalen oder multifokalen neurologischen Störungen (Abs. [0003]). Die Schübe könnten über einen Zeitraum von vielen Jahren scheinbar zufällig auftreten, remittieren oder wiederkehren (Abs. [0003]). Die Remission sei oft unvollständig, wenn eine Attacke auf die nächste folge, komme es zu einer schrittweisen Verschlechterung mit zunehmenden permanenten neurologischen Defiziten (Abs. [0003]).</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die vorbekannten immuntherapeutischen Medikamente könnten zwar das Leiden der MS-Patienten lindern, nicht aber den Fortschritt der Krankheit aufhalten (Abs. [0004]). Mit einigen Präparaten seien zudem schwerwiegende unerwünschte Wirkungen verbunden (Abs. [0004]). Die meisten Therapien nach dem Stand der Technik würden an eine Verringerung der Entzündung  und die Unterdrückung oder Modulation des zentralen Nervensystems anknüpfen (Abs. [0004]). Klinische Studien hätten indes gezeigt, dass die Verringerung der Entzündung durch die verfügbaren MS-Behandlungen nur selten die Akkumulation von Behinderungen durch ein anhaltendes Fortschreiten der Krankheit begrenze (Abs. [0004]). Dies sei als Hinweis darauf zu deuten, dass es sich bei den Entzündungen und den neuronalen Schäden um unabhängige Pathologien handele (Abs. [0004]). Die Förderung von Remyelinisierung des ZNS als Reparaturmechanismus und die Verhinderung von axonalem Verlust und neuronalem Absterben, seien einige der wichtigsten Ziele für die Behandlung von MS (Abs. [0004]).</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Sog. „Phase-2-Enzyme“ dienen nach den einführenden Worten des Verfügungspatents als Schutzmechanismus in Säugetierzellen gegen Sauerstoff-/Stickstoffspezies (ROS/RNS), Elektrophile und Xenobiotika (Abs. [0005]). ROS/RNS seien am schädlichsten im Gehirn und im neuronalen Gewebe, wo sie post-mitotische (d.h. sich nicht teilende) Zellen wie Gliazellen, Oligodendozyten und Neuronen angreifen würden (Abs. [0006]), was wiederum zu neuronalen Schäden führe. Die Phase-2-Enzyme würden normalerweise nicht in ihrem maximalen Umfang exprimiert, ihre Expression könne durch eine Vielzahl natürlicher und synthetischer Stoffe induziert werden. Der Nuklearfaktor E2-verwandte Faktor 2 (Nrf2) sei ein Transkriptionsfaktor, der für die Induktion einer Vielzahl wichtiger oxidationshemmender und entgiftender Enzyme verantwortlich sei, die eine schützende zelluläre Reaktion auf metabolischen und toxischen Stress koordinieren würden (Abs. [0005]). Dabei würden Veröffentlichungen im Stand der Technik darauf hin deuten, dass der Nrf2-Signalweg bei neurodegenerativen und neuroinflammatorischen Erkrankungen als körpereigener Schutzmechanismus aktiviert werden könne (Abs. [0006]).</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Des Weiteren würden viele Veröffentlichungen die neuroprotektiven Wirkungen von Verbindungen in natürlichen pflanzlichen Stoffen offenlegen (Abs. [0007]). Die Wirkung dieser Verbindungen sei ursprünglich auf ihre antioxidative Wirkung zurückgeführt worden (Abs. [0007]). Die meisten Antioxidantien seien jedoch nur bei hohen Konzentrationen wirksam, während zumindest einige der in Bezug genommenen Verbindungen bereits bei einer viel niedrigeren Dosis eine neuroprotektive Wirkung ausüben würden (Abs. [0007]). Der genaue Wirkmechanismus sei zwar noch nicht verstanden, es gebe jedoch Hinweise darauf, dass die Verbindungen ihre neuroprotektive Wirkung durch die Aktivierung zellulärer Stressreaktionswege, einschließlich des Nrf2-Signalwegs, ausüben würde (Abs. [0007]).</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Im Stand der Technik seien mehr als zehn verschiedene chemische Klassen von Induktoren des Nrf2-Signalwegs identifiziert worden (Abs. [0008]).</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Das Verfügungspatent nimmt sodann Bezug auf J et. al., „N, ein neuartiges orales Fumarat ist wirksam bei Patienten mit schubweiser remittierender Multipler Sklerose“, SAGE JOURNALS: MULTIPLE SCLEROSIS, September 2006, Vol. 12, Seite 585, P325 (Abs. [0009]). Dort werde über die Ergebnisse einer 2b-Studie berichtet, in der die Wirksamkeit von Dosierungen von N in einer Dosierung von 720 mg/Tag (240 mg tid) die Aktivität der im MRT nachweisbaren Hirnläsionen bei RRMS-Patienten signifikant reduziere (Abs. [0009]).</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Eine konkrete Aufgabe wird in der Verfügungspatentschrift nicht formuliert, kann vor dem Hintergrund der Offenbarung des Verfügungspatents jedoch jedenfalls darin gesehen werden, DMF oder MMF in einer alternativen Form zur oralen Behandlung von MS zu verwenden. Im Einzelnen ist die Aufgabe vor dem Hintergrund des Streits über den Rechtsbestand zwischen den Parteien streitig.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend schützt das Verfügungspatent die Verabreichung von DMF oder MMF zur Behandlung von MS entsprechend der Ansprüche 1 und 5 (Abs. [0010]), die wie folgt gegliedert werden können:</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Anspruch 1:</span></p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">1.               Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst:</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">1.1              Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">1.2              einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">2.              wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">3.              wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Anspruch 5:</span></p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose,</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">2.              wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">3.              mit einer Dosis von 480 mg pro Tag.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die angegriffene Ausführungsform macht von der Lehre des Verfügungspatents, insbesondere den hier geltend gemachten Ansprüchen 1 und 5, unmittelbar wortsinngemäß Gebrauch.</p> <span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Soweit die Verwirklichung der Merkmale zwischen den Parteien zu Recht unstreitig ist, unterbleiben weitere Ausführungen zu diesen. Die angegriffene Ausführungsform macht darüber hinaus auch von Merkmal 3 (Anspruch 1 und Anspruch 5) unmittelbar wortsinngemäß Gebrauch.</p> <span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Die geschützte Lehre ist nicht auf die Verwendung einer pharmazeutischen Zusammensetzung gerichtet, die ausschließlich DMF enthält und mit einer Tagesdosis von 480 mg verabreicht wird. Die Zusammensetzung kann weitere Wirkstoffe enthalten und der Anspruch schließt auch nicht aus, dass derselbe Wirkstoff zu einem anderen Zeitpunkt – davor oder danach – in einer anderen Dosierung zum Einsatz gelangt. Maßgeblich ist nach der geschützten Lehre „lediglich“, dass die Dosierung von 480 mg/Tag jedenfalls auch einen Beitrag zur Behandlung von MS leistet.</p> <span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">So ist es vorliegend mit Blick auf die angegriffene Ausführungsform.</p> <span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Denn ausweislich der Gebrauchsinformation (Anlage rop3) ist die reguläre Tagesdosis 240 mg zweimal täglich, mithin 480 mg/Tag. Dass der Erkrankte zuvor mit einer geringeren Dosis von 240 mg/Tag behandelt wird, ist unerheblich.</p> <span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Daraus folgt gem. Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 139 Abs. 1 PatG, dass die Verfügungsbeklagte, die zur Benutzung der geschützten Lehre nicht berechtigt ist, die ihr vorgeworfenen Benutzungshandlungen, die sie seit dem 15. Juni 2022 vornimmt, zu unterlassen hat.</p> <span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks"><strong>B.</strong></p> <span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Ein Verfügungsgrund im Sinne von §§ 935, 940 ZPO liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Ein Verfügungsgrund besteht, wenn es dem Verfügungskläger nicht zugemutet werden kann, ein Hauptsacheverfahren durchzuführen und in diesem auf den Erlass eines Vollstreckungstitels zu warten. Dies ist zu bejahen, wenn sein Begehren dringlich ist, der Rechtsbestand des Verfügungspatents hinreichend gesichert ist und die Abwägung der (übrigen) schutzwürdigen Interessen der Parteien unter Berücksichtigung aller Umstände zugunsten des Verfügungsklägers ausfällt (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2017, 477, Rn. 13 – Vakuumgestütztes Behandlungssystem).</p> <span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">In diesem Sinne überwiegt das Interesse der Verfügungsklägerin, den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform zu unterbinden, vorliegend nicht das Interesse der Verfügungsbeklagten an einer Fortsetzung desselben. Denn der Rechtsbestand des Verfügungspatents ist nicht in dem für den Erlass der begehrten Unterlassungsverfügung erforderlichen Umfang gesichert.</p> <h1><strong>I.</strong></h1> <span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Für den Erlass einer einstweiligen Verfügung muss der Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts so gesichert sein, dass eine fehlerhafte, in einem etwa nachfolgenden Hauptsachverfahren zu revidierende Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist (OLG Düsseldorf Urt. v. 29.04.2010, Az.: 2 U 126/09, Seite 4 – Harnkatheter, zitiert nach BeckRS).</p> <span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Haben sich bereits mehrere sachkundige, gleich- oder höherrangige Stellen mit den fraglichen Entgegenhaltungen und ihrer Bedeutung für die Beurteilung von Neuheit und Erfindungshöhe des Verfügungspatents befasst und sind sie dabei mit jeweils nachvollziehbaren Gründen zu entgegengesetzten Resultaten gelangt, ist in der Regel nicht von einem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung hinreichend gesicherten Rechtsbestand auszugehen (OLG Düsseldorf , GRUR-RS 2021, 1830, Rn. 36 – MS-Therapie II; ebd., Urt. v. 31.08.2017, Az.: 2 U 11/17, Rn. 53, zitiert nach BeckRS 2017, 125974). Voraussetzung für diese Würdigung ist, dass die einander widersprechenden Rechtsbestandsentscheidungen denselben Sachverhalt zum Gegenstand haben, das heißt sich mit derselben technischen Lehre und denselben Entgegenhaltungen aus dem Stand der Technik befassen, so dass die Argumentation der einen Stelle in unauflöslichem Widerspruch zu der gegenläufigen Argumentation der anderen Stelle steht (a.a.O.). Weiter ist erforderlich, dass die gegenläufige Erkenntnis von einem Entscheider herrührt, der Zugriff auf das Verfügungsschutzrecht hat, weil er in den für die Beurteilung seines Rechtsbestandes maßgeblichen Instanzenzug eingebunden ist (OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2019, 33227, Rn. 44 – MS-Therapie), wobei hiervon auch Entscheider umfasst sind, die über ein paralleles Stammpatent befinden (a.a.O.). Denn auch diese gehören dem Amt oder dem Gericht an, die für die Beurteilung des Rechtsbestandes im Instanzenzug zur Entscheidung berufen sind. Damit liegt jedenfalls eine grundsätzlich andere Konstellation vor, als wenn „lediglich“ eine gegensätzliche Entscheidung eines anderen nationalen Gerichts existiert (OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2021, 1830, Rn. 38 – MS-Therapie II).</p> <span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Für einen sog. Generikafall, den die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zuvorderst dadurch gekennzeichnet sieht, dass der Schaden des Originators im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach enorm und mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträgen verursachten Preisverfall nicht wieder gut zu machen sei (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236 (240) – Flupirtin-Maleat), ist jedoch bereits entschieden worden, dass der Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht schon allein unter Verweis auf die sich widersprechenden Entscheidungen unterbleiben kann. Vielmehr ist dann die Sachlage mit derjenigen ohne eine das Verfügungspatent bestätigende Erkenntnis vergleichbar (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 1830, Rn. 48 – MS-Therapie II), woraus folgt, dass das Verletzungsgericht gehalten ist, sich selbst ein Bild über den Rechtsbestand zu machen, wobei Hinweise in einem Vorbescheid der Rechtsmittelinstanz gewichtige Bedeutung haben (a.a.O.).</p> <span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Eine für den Erlass einer einstweiligen Verfügung hinreichende Überzeugung im Hinblick auf den Rechtsbestand des Verfügungspatents besteht dabei dann, wenn das Verletzungsgericht aufgrund der ihm angesichts der betroffenen technischen Materie möglichen eigenen Einschätzung für sich die Überzeugung (im Sinne hinreichender Glaubhaftmachung) davon gewinnen kann, dass das Verfügungsschutzrecht rechtsbeständig ist, weil sich die mangelnde Patentfähigkeit seines Erfindungsgegenstandes nicht feststellen lassen wird (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 249, Rn. 22 – Cinacalcet II). Das ist wiederum der Fall, wenn aus Sicht des Verletzungsgerichts entweder mehr für als gegen die Patentfähigkeit spricht oder (mit Rücksicht auf die im Rechtsbestandsverfahren geltende Beweislastverteilung) gleichermaßen viel gegen wie für sie streitet, so dass das Vorliegen eines Widerrufs- oder Nichtigkeitsgrundes letztlich unaufgeklärt bleibt (a.a.O.) mit der Folge, dass das Verletzungsgericht, wenn es anstelle des Patentamtes oder des BPatG in der Sache selbst zu befinden hätte, dessen Rechtsbestand zu bejahen hätte (OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.01.2018, Az.: 15 U 66/17, Rn. 57, zitiert nach BeckRS 2018, 1291).</p> <h1><strong>II.</strong></h1> <span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe kann die Kammer keine hinreichende Überzeugung von dem Rechtsbestand des Verfügungspatents gewinnen. Vielmehr spricht aus ihrer Sicht mehr gegen als für dessen Rechtsbeständigkeit.</p> <h2><strong>1.</strong></h2> <span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Der zuvor (unter Ziff. I.) aufgezeigten Maßstab ist im Ausgangspunkt auch für die Beurteilung des Rechtsbestands im hier zur Entscheidung stehenden Fall heranzuziehen, weshalb die Kammer im Ergebnis eine eigene Bewertung des Rechtsbestandes vornimmt.</p> <h3><strong>a)</strong></h3> <span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Hier liegen im Sinne der obigen Rechtsprechung relevante Entscheidungen von Fachinstanzen vor, die in einem unauflösbaren Widerspruch zueinander stehen.</p> <span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Insbesondere die das Stammpatent betreffende Entscheidung der Einspruchsabteilung aus Juni 2016, der die Kammer keine offensichtliche Fehlerhaftigkeit entnimmt (dazu nachfolgend unter Ziff. 2., b), aa)), steht in einem Widerspruch zu der ihr nachfolgenden Erteilung des Verfügungspatents im Jahre 2022. Die das Stammpatent betreffenden Ausführungen der Einspruchsabteilung lassen sich aufgrund der im Verfügungspatent fehlenden Beschränkung auf DMF/MMF als einzige Wirkstoffe zwar nicht vollumfänglich, aber doch unter Berücksichtigung des genannten Unterschieds zwischen den beiden Schutzrechten in ihren wesentlichen Gedanken auf das Verfügungspatent übertragen.</p> <span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Die zu dem Stammpatent ergangene Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer entfaltet demgegenüber lediglich eine geringere Relevanz, obgleich sie in die hier gebotene Betrachtung miteinzubeziehen ist. Denn die dort angenommene unzulässige Erweiterung stützt sich im Wesentlichen darauf, dass der Fachmann ausgehend von den ursprünglichen Anmeldeunterlagen zwei in diesen nicht als bevorzugt offenbarte Ausführungsformen zu der beanspruchten Zusammensetzung zusammenführen müsse, nämlich zum einen eine solche mit einer Dosierung von 480 mg/Tag (Anlage rop10, Pkt. 4.2) – insoweit sind die Ausführungen grundsätzlich auch für das Verfügungspatent relevant – und zum anderen eine solche, die die Behandlung von MS ausschließlich mit dem Wirkstoff DMF/MMFvorsieht (Anlage rop10, Pkt. 4.1). Der zuletzt genannte Gesichtspunkt ist auf das Verfügungspatent nicht übertragbar, weil dieses seinem Anspruchswortlaut nach („umfasst“) auch solche Zusammensetzungen schützt, die weitere Wirkstoffe neben den im Anspruchswortlaut ausdrücklich genannten enthalten. Die von der Technischen Beschwerdekammer als problematisch erachtete Auswahl mit einem einzelnen Wirkstoff ist mithin bei dem Verfügungspatent nicht vorzunehmen.</p> <h3><strong>b)</strong></h3> <span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Ob – worüber zwischen den Parteien Streit besteht – hier ein Generikafall im Sinne der genannten oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung vorliegt, der nach den obigen Ausführungen (unter Ziff. I.) den Erlass einer einstweiligen Verfügung dann gebietet, wenn sich die Kammer selbst eine hinreichende Überzeugung von dem Rechtsbestand gebildet hat, kann hier dahinstehen. Denn die Kammer kann sich auch bei Ansatz dieses für die Verfügungsklägerin günstigen Maßstabs eine solche Überzeugung nicht verschaffen.</p> <h3><strong>c)</strong></h3> <span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Die Kammer vermag aber jedenfalls nicht zu Gunsten der Verfügungsklägerin davon ausgehen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents schon allein aufgrund des Erteilungsakts oder wegen des unter Beteiligung Dritter durchgeführten Erteilungsverfahrens indiziert ist.</p> <span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Mit der Erteilung des Verfügungspatents als solcher – noch ohne Berücksichtigung des Umstandes, dass Gegenstand des Prüfungsverfahrens Einwendungen Dritter waren – ist keine Vermutungswirkung für den Rechtsbestand des Verfügungspatents verbunden. Selbst dann, wenn man die Ausführungen des EuGH in seiner Entscheidung L, wonach für europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit bestehe (EuGH, GRUR 2022, 811, Rn. 41), derart begreifen möchte, dass damit eine Vermutung im rechtlichen Sinne gemeint ist – woran die Kammer Zweifel hat –, ist eine solche vorliegend jedenfalls dadurch widerlegt, dass die Verfügungsbeklagte Einspruch gegen die Erteilung eingelegt hat und Einwendungen gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents erhebt, die noch dazu, jedenfalls teilweise, zum Widerruf des Stammpatents geführt haben.</p> <span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Ein größeres Gewicht kommt dem Erteilungsakt auch nicht deshalb zu, weil im Rahmen des Prüfungsverfahrens Einwendungen Dritter Berücksichtigung gefunden haben. Zwar kann ein so durchgeführtes Erteilungsverfahren einer Entscheidung in einem zweiseitigen Einspruchsverfahren gleichstehen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.01.2018, Az.: 15 U 66/17, Rn. 45, zitiert nach BeckRS 2018, 1291 – Rasierklingen; ebd., GRUR-RR 2021, 249, Rn. 21 – Cinacalcet II), und insoweit ein für die Beurteilung des Rechtsbestandes durch das Verletzungsgericht vergleichbares Gewicht erlangen, so dass ein Unterlassungsgebot regelmäßig auszusprechen ist. Im vorliegenden Fall bleibt es aber dabei, dass eine dem Erteilungsakt entgegenstehende Einspruchsentscheidung zum Stammpatent vorliegt, die auch nicht offensichtlich fehlerhaft ist. Allein aus dem zeitlichen Ablauf, wonach der Erteilungsakt der Rechtsbestandsentscheidung folgt, kann nichts anderes hergeleitet werden. Vielmehr ist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den sich unterscheidenden Fachvoten geboten.</p> <h2><strong>2.</strong></h2> <span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat  dem Erlass der einstweiligen Verfügung entgegenstehende Zweifel, dass das Verfügungspatent auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, so dass ein Widerruf des Schutzrechts gem. Artt. 101 Abs., 100 lit. a), 56 Satz 1 EPÜ wahrscheinlich ist.</p> <h3><strong>a)</strong></h3> <span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Gem. Art. 56 Satz 1 EPÜ gilt eine Erfindung als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt.</p> <span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Nach der Spruchpraxis des Europäischen Patentamtes ist für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit von demjenigen am Prioritätstag vorbekannten Kenntnisstand auszugehen, der der technischen Lehre und dem technischen Fortschritt, den das Verfügungspatent bereitstellt, am nächsten kommt (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 249, Rn 54 – Cinacalcet II). Die Aufgabe und die damit zusammenhängende Wirkung, die sich aus der Verwendung der beanspruchten Erfindung ergibt, stellen nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA einen wesentlichen Aspekt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dar (m. w. Nachw. OLG Düsseldorf, Urt. v. 07.11.2013, Az.: 2 U 94/12, S. 4, oben, zitiert nach BeckRS 2014, 4902). Es kommt nicht auf die vom Erfinder in der Patentbeschreibung mitgeteilten Ziele und Vorstellungen, sondern darauf an, was der in den Patentansprüchen festgelegte Gegenstand der Erfindung objektiv zum Stand der Technik beiträgt (a.a.O.). Ausgehend von der ermittelten Aufgabe ist dann zu prüfen, ob die beanspruchten technischen Merkmale, mit denen die erfindungsgemäßen Ergebnisse erzielt werden, angesichts des Stands der Technik und der objektiven technischen Aufgabe für den Fachmann naheliegend gewesen wären (Krober, in: Singer, Stauder, Luginbühl, Europäisches Patentübereinkommen, 8. Auflage, 2019, Art. 56, Rn. 63).</p> <span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Dabei kann eine Maßnahme als „naheliegend“ angesehen werden, wenn der Fachmann sie in der Erwartung einer gewissen Verbesserung oder eines Vorteils vorgenommen hätte. Maßgeblich ist eine angemessene (= realistische) Erfolgserwartung, so dass es nicht auf eine absolute Gewissheit im Hinblick auf das Eintreten vorteilhafter Effekte ankommt, andererseits aber auch nicht genügt, dass auf Seiten des Fachmanns die bloße Hoffnung auf ein gutes Gelingen besteht. Die angemessene Erfolgserwartung erfordert über den bloßen Wunsch nach Verbesserung hinaus eine vernünftige wissenschaftliche Bewertung der vorliegenden Tatsachen (m. w. Nachw.: OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.12.2007, Az.: 2 U 17/17, Rn. 28, zitiert nach BeckRS 2017, 150889).</p> <h3><strong>b)</strong></h3> <span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Orientiert an diesem Maßstab hält es die Kammer vorliegend für wahrscheinlicher, dass das Verfügungspatent mangels erfinderischer Tätigkeit widerrufen wird, als dass es dem Rechtsbestandsangriff standhält.</p> <span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Als für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit maßgeblichen Fachmann ist im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen von einem Team aus Fachleuten (zur Möglichkeit, auf ein Team von Fachleuten abzustellen: vgl. Krober, in: Singer, Stauder, Luginbühl, Europäisches Patentübereinkommen, 8. Auflage, 2019, Art. 56, Rn. 22) bestehend aus einem medizinischen Chemiker mit langjähriger Berufserfahrung auf dem Gebiet der immunsuppressiven Wirkstoffe und deren Verwendung in pharmazeutischen Zubereitungen, welcher von einem Mediziner mit Spezialisierung in der Behandlung von MS und/ oder einem Pharmakologen mit langjähriger Erfahrung in der Erforschung und Aufklärung von Wirkmechanismen gegen MS und einem Galeniker unterstützt wird, auszugehen.</p> <h4><strong>aa)</strong></h4> <span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hält es für wahrscheinlich, dass sich die geschützte Lehre ausgehend von J für den Fachmann in naheliegender Art und Weise ergibt. Zu dieser Bewertung gelangt die Kammer vor dem Hintergrund der Ausführungen der Einspruchsabteilung in der Entscheidung zu dem Stammpatent, die sich jedenfalls nicht als unvertretbar darstellt, sowie unter Berücksichtigung des hier präsentierten Sach- und Streitstandes aufgrund eigener, weitergehender Erwägungen.</p> <h5><strong>(1)</strong></h5> <span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Die zu lösende Aufgabe kann vorliegend als das Auffinden einer alternativen oralen, wirksamen Behandlungsmöglichkeit für MS mit DMF formuliert werden. Denn der Stand der Technik in Form von J offenbart eine wirksame orale Therapie zur Behandlung von MS mit DMF mit einer Dosierung von720 mg/Tag, wohingegen die Lehre des Verfügungspatents eine Dosierung von 480 mg/Tag vorschlägt.</p> <span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Diese Aufgabenformulierung entspricht im Wesentlichen derjenigen, die die Einspruchsabteilung im Verfahren zu dem Stammpatent vorgenommen hat und wonach die Aufgabe in der Bereitstellung einer alternativen Tagesdosis von DMF für die wirksame orale Behandlung von MS besteht (Anlage rop14, Pkt. 8.6.1). Die durch die Kammer vorgenommene Aufgabenformulierung weicht hiervon lediglich insoweit ab, als die Alternative nicht zwingend im Bereich der Dosierung zu suchen ist. Daraus ergeben sich aber für die nachfolgenden Überlegungen keine Unterschiede, weil der hier maßgebliche Stand der Technik alternative Behandlungsmöglichkeiten jenseits einer abweichenden Dosierung, etwa in Form der Veränderung der Pharmakokinetik oder der Zugabe weiterer Wirkstoffe, nicht nahelegt.</p> <span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Dass die Einspruchsabteilung die Aufgabe offensichtlich fehlerhaft bestimmt hat, kann die Kammer nicht erkennen.</p> <span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsklägerin macht insoweit geltend, das die Aufgabe unter Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel, namentlich der Ergebnisse der Phase-3-Studie zu H, anspruchsvoller dahingehend formuliert werden müsse, dass eine verbesserte orale Therapie zur Behandlung von MS angestrebt werde (dazu nachfolgend weiter auch unter Ziff. (8)). Denn eine Dosierung von 480 mg/Tag erweise sich im Vergleich zur vorbekannt wirksamen Dosierung von 720 mg/Tag vor dem Hintergrund als verbessert, dass sie gleich wirksam wie die Dosis von 720 mg/Tag sei, jedoch weniger Nebenwirkungen mit sich bringe.</p> <span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Dem folgt die Kammer nicht.</p> <span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit besteht insbesondere nicht insofern, als die Einspruchsabteilung vermutlich (ausdrücklich wird dies in den Entscheidungsgründen, insbesondere unter Pkt. 8.5.f. nicht gesagt) den sog. „ab initito Plausibilitäts-Standard“ zur Anwendung gebracht hat, wonach die Plausibilität jedenfalls in gewissem Umfang bereits auf der Grundlage der Offenbarung in der Anmeldung bzw. auf der Grundlage des vorbekannten Technikstands hervorgehen muss. Wie sich aus der Vorlage an die Große Beschwerdekammer mit dem Aktenzeichen M (Anlage rop15; deutsche Übersetzung: Anlage rop15a) ergibt und auch die Verfügungsklägerin selbst ausführt, handelt es sich dabei jedenfalls um einen in der Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern vertretenen Ansatz, weshalb sich dieser nicht als unvertretbar darstellt.</p> <span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die Kammer kann auch nicht erkennen, dass die Einspruchsabteilung bei der Wertung, dass eine verbesserte Dosierung durch die ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht plausibel gemacht sei und nachveröffentlichte Daten deshalb nicht heranzuziehen seien, zu einer unvertretbaren Einschätzung gelangt ist.</p> <span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Die Einspruchsabteilung hat sich insoweit insbesondere auf den Offenbarungsgehalt bezogen, wie er sich aus Abs. [0116] der ursprünglichen Anmeldeunterlagen (Anlage rop11/ Anlage rop11a) ergibt, und ausgeführt, dass darin eine Liste potenziell wirksamer Dosen zur Verabreichung am Menschen gelehrt werde (Anlage rop14, Pkt. 8.5., 5. Abs.). Ausgehend von der genannten Passage hätte jeder der aufgeführten Werte als wirksame Dosis angesehen werden können (Anlage rop14, Pkt. 8.5., vorletzter Abs.). Auch auf die Beispiele, die den Effekt des Wirkstoffs für die Nrf2-Aktivierung in vitro und in vivo zeigen, hat sich die Einspruchsabteilung bezogen und insoweit nachvollziehbar begründet, dass aus diesen ein Wert von 480 mg/Tag für die orale Dosis zur wirksamen Behandlung von MS nicht hervorgehe (Anlage rop14, Pkt. 8.5., 1. – 3. Abs.).</p> <span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Diese Begründung hält die Kammer für belastbar und entnimmt ihr keine Unvertretbarkeit.</p> <h5><strong>(2)</strong></h5> <span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Die Kammer nimmt weiter an, dass der Fachmann aus J eine Motivation, in Richtung einer niedrigeren Dosierung als 720 mg/Tag zu forschen, erhielt, weil er damit die realistische Erwartung verknüpfte, dass geringere Nebenwirkungen ausgelöst werden.</p> <h6><strong>(a)</strong></h6> <span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Die Einspruchsabteilung ging davon aus, dass der Fachmann Folie 18 von J (nachfolgend wiedergegeben):</p> <span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks"><img height="397" width="531" src="4b_O_54_22_Urteil_20220922_0.png" alt="Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik." />,</p> <span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">entnehme, dass mit der als wirksam offenbarten Tagesdosis von 720 mg/Tag Nebenwirkungen im Magen-Darm Trakt und Kopfschmerzen verbunden seien (Anlage rop14, Pkt. 8.7.1, 2. Abs. am Anfang und 3. Abs.). Die Kammer vollzieht in diesem Zusammenhang die Kritik der Verfügungsklägerin nach, dass die Einspruchsabteilung dabei nicht zu erkennen gegeben hat, dass sie insoweit auch in den Blick genommen hat, wie sich die Nebenwirkungen im Vergleich zu den anderen Untersuchungsgruppen (mit anderen Dosierungen) darstellen. Dieser fehlende Gesamtblick findet insbesondere darin einen Ausdruck, dass eine der von der Einspruchsabteilung in Bezug genommenen Nebenwirkungen, nämlich „Nausea“ (= Übelkeit), gar keinen Unterschied zwischen einer Dosierung von 360 mg/Tag (entspricht der auf den Folien genannten Dosierung „120 mg tid“) und von 720 mg/Tag (entspricht der auf den Folien genannten Dosierung „240 mg tid“) ausweist. Denn im Hinblick auf beide Dosierungen wird bei der genannten Nebenwirkung ein Wert von 14% ausgewiesen.</p> <h6><strong>(b)</strong></h6> <span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Gleichwohl lässt aber die in Bezug genommene Folie 18, auch wenn man den gebotenen Wechselblick zwischen den einzelnen Dosierungen einnimmt, eine dosisabhängige Beziehung jedenfalls teilweise erkennen.</p> <span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks"><strong>(aa)</strong></p> <span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">So ist etwa zu erkennen, dass andere der dort genannten Nebenwirkungen bei einer Dosierung von 720 mg/Tag vermehrt auftreten, während sie in Richtung niedrigerer Dosierungen (untersucht wurden neben der Placebo-Gruppe die Dosierungen: 120 mg/Tag, 360 mg/Tag und 720 mg/Tag) abnehmen. So stellt es sich etwa für die Nebenwirkung „Abdo Pain“ (0% - 3% - 3% und 10%) dar. Im Hinblick auf andere Nebenwirkungen lässt sich zwar keine Dosisabhängigkeit über die gesamte Breite der behandelten Patientengruppen feststellen, wohl aber bei einem Vergleich zwischen einer Dosis von 360 mg/Tag und einer solchen von 720 mg/Tag, so etwa im Hinblick auf die – ebenfalls von der Einspruchsabteilung in Bezug genommenen – Nebenwirkungen „Abdo Pain Upper“ (6% - 14%) und „Headache“ (17% - 21%), aber auch hinsichtlich der Nebenwirkungen „Vomitting“ (2% - 8%), „Abdo Pain“ (3% - 10%), Diarrhea (8% - 11%) sowie „Hot Flush“ (2% - 10%). Lediglich die Nebenwirkung „Flushing“ ist bei den niedrigeren Dosierungen von 120 mg/Tag und 360 mg/Tag im Vergleich zu der höheren Dosierung von 720 mg/Tag vermehrt aufgetreten.</p> <span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die sich danach ergebende Aussagekraft der Daten sieht die Kammer nicht dadurch minimiert, dass die Folie 17 mit der Überschrift „Serious Adverse Events“ unter dem Punkt „Total SAE“ keine Unterschiede zwischen den Dosierungen von 360 mg/Tag und 720 mg/Tag (jeweils 7(11)) ausweist und solche in der Placebo-Gruppe sogar höher liegen (8 (12)). Insoweit hat die Verfügungsbeklagte ausgeführt, dass in die Auflistung auch solche ernsthaften Vorfälle einfließen, die in keinem Zusammenhang mit dem jeweils verabreichten Medikament stehen, wofür auch der auf der Folie genannte Vorfall „Injury“ spricht.</p> <span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks"><strong>(bb)</strong></p> <span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Dass die Nebenwirkungen, die der Folie 18 entnommen werden können, lediglich zu Beginn der Behandlung festzustellen waren und ausschließlich auf einen noch fehlenden Gewöhnungseffekt des Körpers an das Präparat zurückführbar sind, geht aus den Folien nicht hervor. Auch die vorprioritär veröffentlichten weiteren Erklärungen in Form der Pressemitteilung der Verfügungsklägerin vom 30. Mai 2006 (Anlage rop20; deutsche Übersetzung: Anlage rop20a) sowie des „abstracts“ von J et al. (Anlage rop18; deutsche Übersetzung: Anlage rop18a) gehen insoweit über den Aussagegehalt der Präsentationsfolien nicht hinaus. Sofern sich der Veröffentlichung von J et al. mit dem Titel „Efficacy and Safety of oral fumarate in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: a multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled phase II2b study“ vom 25. Oktober 2008 entnehmen lässt, dass darin zu Nebenwirkungen (bspw. Kopfschmerzen, Erröten, gastrointestinale Beschwerden) beschrieben wird, dass diese über den Behandlungszeitraum abnehmend gewesen seien (Anlage AG19, S. 1469, re. Sp., vorletzter Abs.), liegt diese nach dem hier maßgeblichen Prioritätszeitpunkt und enthält noch dazu weitergehende (Roh)daten, die dem Fachmann im Präsentationszeitpunkt nicht bekannt waren. Unbeschadet dessen beschreibt aber auch die Veröffentlichung, dass Nebenwirkungen in Relation zur Dosis in Form von „headache“, „fatigue“ und „feeling hot“ beobachtet worden seien (Anlage AG19, S. 1469, li. Sp., 1. Abs).</p> <span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks"><strong>(cc)</strong></p> <span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsklägerin macht – unter Verweis auf die eidesstattliche Versicherung des Prof. Dr. J (vorgelegt als Anlage rop25; das Original liegt der Akte bei) – weiter geltend, die veröffentlichten Zahlen würden jedenfalls aus Sicht des Fachmannes keine statistisch relevanten Unterschiede aufzeigen (Anlage rop25, Pkt. 2.1, Pkt. 2.8 – Pkt. 2.11 und Pkt. 8.2). Da es sich um eine verhältnismäßig kleine Behandlungsgruppe handele, würden die nominalen Unterschiede in der zufälligen Variabilität begründet liegen (Anlage rop25, Pkt. 2.6). Dies steht in Einklang mit dem Inhalt von Folie 19 „Safety Conclusions“, 1. Bulletpoint, wonach sich das Präparat („N“) als im Allgemeinen gut verträglich erweist.</p> <span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Gleichwohl erscheint der Kammer eine Betrachtungsweise, wonach der Fachmann sich in seinem Verständnis vom Stand der Technik im Wesentlichen von statistisch relevanten Daten leiten lässt, zu eng. Die Kammer hält es vielmehr für nahliegend, dass sich der Fachmann bei Betrachtung des Stands der Technik nicht nur an solchen – ggf. bereits sehr auf das arzneimittelrechtliche Zulassungsverfahren geprägten – Erwägungen orientiert, sondern er in gewissem Umfang auch aus nominalen Unterschieden jedenfalls eine realistische Erfolgserwartung – einer Gewissheit bedarf es insoweit nicht – zieht. Bei dieser Würdigung verkennt die Kammer nicht, dass es sich bei dem Erklärenden Prof. Dr. J um einen der die in Rede stehende Studie leitenden Wissenschaftler handelt, dessen Bewertung grundsätzlich geeignet sein kann, einen Anhaltspunkt für das Verständnis des Fachmannes im Prioritätszeitpunkt zu geben. Gleichwohl können seine Ausführungen hier nicht ausschlaggebend für das fachmännische Verständnis sein, weil sich der bereits dargelegte Aussagegehalt der Folien damit nicht ohne weiteres in Übereinstimmung bringen lässt und weil dies auch gegen die Einschätzung der Einspruchsabteilung steht. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Verständnis des Herrn J jedenfalls auch durch die Rohdaten geprägt wird, die aber gerade der Öffentlichkeit im Prioritätszeitpunkt nicht vorlagen. Schließlich kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass den Erklärungen des Prof. Dr. J als Privatgutachter der Verfügungsklägerin keine mit den Ausführungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen oder einer Fachinstanz vergleichbarer Aussagegehalt beigemessen werden kann (hierzu auch: OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 249, Rn. 60 – Cinacalcet II).</p> <span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von den vorherigen Erwägungen ergibt sich für die Kammer auch aus der mit Anlage rop17_D11 vorgelegten Erklärung des Herrn Prof. Dr. J vom 19.10.2006 (dort insbesondere Ziffer 4 – 12) nichts anderes, in der die Verfügungsklägerin den Grund für den Meinungswechsel der Prüfungsabteilung hin zur Erteilung des Verfügungspatents verortet.</p> <h5><strong>(3)</strong></h5> <span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Der Fachmann erhält ausgehend von J auch einen weiteren Anreiz, niedrigere Dosierungen zu betrachten, weil die Präsentation die Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag offenlässt, sie mithin nicht verneint.</p> <h6><strong>(a)</strong></h6> <span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Dieses Verständnis des Fachmannes steht zunächst im Einklang mit demjenigen, das die Einspruchsabteilung angenommen hat. Denn in den Entscheidungsgründen heißt es insoweit, dass sich aus der Präsentation nur für eine Tagesdosis von 720 mg/Tag eine eindeutig nachgewiesene Wirksamkeit ergebe (Anlage rop14, Pkt. 8.7.1, 2. Abs., 1. Satz). Die Einspruchsabteilung verhält sich allerdings darüber hinaus nicht dazu, welchen Aussagegehalt der Fachmann J zur Wirksamkeit/ Unwirksamkeit der anderen untersuchten Dosierungen entnimmt und inwiefern sich daraus für ihn Anlass zu weiteren Überlegungen ergibt.</p> <h6><strong>(b)</strong></h6> <span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Das Verständnis, wonach sich zur Wirksamkeit der getesteten Dosierungen (positiv) nur etwas zur Dosierung von 720 mg/Tag sagen lässt, gründet sich auf den Inhalt der Folie 12. In den dort abgebildeten Säulendiagrammen ist eine Reduzierung von Gd+-Läsionen in den Wochen 12 bis 24 überhaupt nur für eine Dosierung von 720 mg/Tag prozentual ausgewiesen, wobei eine höhere Anzahl der Läsionen eine stärkere Erkrankung an MS zeigt. Die „Säulen“ der übrigen Dosierungen bewegen sich hingegen schon bei reiner Betrachtung der Größenverhältnisse eher in der Nähe der „Placebo-Gruppe“, woraus der Fachmann entnimmt, dass ein Rückgang der Gd+-Läsionen in diesen Behandlungsgruppen entweder gar nicht oder nur in deutlich geringerem Umfang als bei der Patientenauswahl mit einer Dosierung von 720 mg/Tag erfolgt ist.</p> <h6><strong>(c)</strong></h6> <span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Der Fachmann geht gleichwohl nicht davon aus, dass ausgehend von dem dargestellten Inhalt der Folie 12 die Unwirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag belegt ist. Vielmehr lässt J weder zur Wirksamkeit noch zur Unwirksamkeit dieser Dosis eine verlässliche Aussage zu.</p> <span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist erheblich, dass aus Folie 10 mit der Überschrift „Baseline Patient Characteristics“ unterschiedliche mittlere Werte der Gd+-Läsionen zu Behandlungsbeginn zwischen der Behandlungsgruppe von 360 mg/Tag und derjenigen von 720 mg/Tag hervorgehen. Bei der Gruppe, die mit der Dosierung von 360 mg/Tag behandelt wurde, ist der Basiswert gegenüber dem mit 120 mg/Tag und 720 mg/Tag behandelten Patientenstämmen um mehr als das Doppelte erhöht (2,5 gegenüber 1,2), was bedeutet, dass diese Gruppe zu Behandlungsbeginn in größerem Maße erkrankt war.</p> <span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Zwar erscheint es der Kammer in diesem Zusammenhang zu weitgehend, anzunehmen, dass der Fachmann nun deshalb positiv auf die Wirksamkeit einer Dosierung auch von 360 mg/Tag schließt, weil auch bei dieser stärker erkrankten Gruppe wenigstens in geringem Umfang eine Reduzierung der Läsionen beobachtet werden konnte. Zu dieser Annahme gelangt die Kammer insbesondere nicht auf der Grundlage der Erklärung des Privatgutachters der Verfügungsbeklagten, Herrn Dr. P (Anlage AG2_TM10), der ausführt, dass eine weitergehende Analyse der Studienergebnisse erforderlich sei (Anlage AG2_TM10, Rn. 19) und eine solche dann beispielhaft mit nachfolgend wiedergegebener Figur 1 (Anlage AG2_TM10, Rn. 17) vornimmt:</p> <span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks"><img height="212" width="315" src="4b_O_54_22_Urteil_20220922_1.png" alt="Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik." /> .</p> <span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend zweige ich, wenn man die unterschiedlichen Basiswerte vernachlässige, und den relativen Anstieg der Gd+-Läsionen bemesse, dass in den Dosisgruppen von 360 mg/Tag und 720 mg/Tag ein vergleichbar geringer Anstieg der Läsionen zu verzeichnen sei (vgl. Anlagenkonvolut AG2_TM10, Rn. 21). Außerdem, so Dr. P weiter, erkenne der Fachmann den verhältnismäßig hohen Anstieg an neuen Gd+-Läsionen in der „Placebo-Gruppe“ im Vergleich zu demjenigen in der Behandlungsgruppe mit einer Dosierung von 360 mg/Tag (vgl. Anlagenkonvolut AG2_TM10, Rn. 23).</p> <span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Dass aber der Fachmann sich den Studiendaten im Prioritätszeitpunkt auf diese Art und Weise genähert hätte und daraus noch dazu positiv auf die Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag geschlossen hätte, vermag die Kammer nicht allein aufgrund des Erklärungsinhalts anzunehmen.</p> <span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Gleichwohl traut die Kammer dem Fachmann aber zu, dass er in dem unterschiedlichen Ausgangswert für die Gd+-Läsionen eine Schwäche der Studie von J erblickt und insoweit weitere Untersuchungen im Hinblick auf diese Dosierung veranlasst sieht. Dafür spricht einerseits, dass Prof. Dr. J selbst in seiner Veröffentlichung aus Oktober 2008 in den unterschiedlichen Basislinien eine mögliche Ursache für den nur geringeren Rückgang an Gd+-Läsionen verortete. Denn darin (Anlage AG19, S. 1470, li. Sp., 1. Abs. unter dem Punkt „Discussion“)  heißt es:</p> <span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">„Die Patienten in der N Studie, die dreimal täglich 120 mg erhielten, hatten im Vergleich zu den anderen Behandlungsgruppen in der Basislinie eine höhere Anzahl von GdE Läsionen, wodurch sich die Abwesenheit einer stärker ausgeprägten Verringerung der neuen GdE Läsionen in dieser Gruppe erklärt.“</p> <span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Andererseits hat auch die European Medicines Agency (= EMA) ausweislich des „Assessment Reports“ zu H vom 26. November 2013 in den unterschiedlichen Basiswerten einen Anlass gesehen, sich die Daten genauer anzuschauen und weitere Untersuchungen anzustrengen (Anlage AG2_TM7, S. 34, letzter Abs.).</p> <span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Dass die in Bezug genommenen Äußerungen einem nachprioritären Zeitpunkt entstammen, macht sie für die hier in Rede stehende Würdigung auch nicht unbrauchbar. Denn es geht nicht darum, welches konkrete Verständnis der Fachmann aus der erhöhten Krankheitsaktivität zu Behandlungsbeginn im Hinblick auf die Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag gewinnt. Vielmehr steht sein grundsätzlicher Umgang mit statistisch aufbereiteten Studienergebnissen in Rede. Dass sich insoweit ein Unterschied zwischen dem für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit maßgeblichen vorprioritären Zeitpunkt und dem nachprioritären Zeitraum ergibt, ist nicht ersichtlich, selbst wenn man berücksichtigt, dass Prof. Dr. J oder der EMA die Rohdaten für eine nähere Analyse der unterschiedlichen Ausgangswerte der Gd+-Läsionen und ihrer Auswirkungen auf das Studienergebnis vorlagen und diese Anlass für die zitierten Aussagen waren.</p> <h6><strong>(d)</strong></h6> <span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">In seinem Verständnis, dass eine Dosierung von 360 mg/Tag durchaus wirksam sein kann, wird der Fachmann schließlich auch dadurch gestärkt, dass ihm auf Folie 20 mitgeteilt wird, dass die Gehirnläsionen dosisabhängig reduziert werden. Zwar liefern die präsentierten Daten keinen hinreichenden Nachweis dafür, sie stehen einer solchen Erwartung aber eben auch nicht entgegen.</p> <h5><strong>(4)</strong></h5> <span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Die Kammer sieht einen Anlass des Fachmannes in Richtung einer niedrigeren Dosierung zu recherchieren, hingegen – anders als die Einspruchsabteilung – nicht darin, dass J lehrt, dass bei einer Dosierung von 720 mg/Tag bereits ein Aktivitätsplateau erreicht sei. Darauf kommt es aber letztlich nicht mehr an, weil die Kammer die Bestrebungen des Fachmannes in Richtung einer niedrigeren Dosierung bereits aufgrund der vorherigen Erwägungen unter Ziffer (2) und (3) für gegeben erachtet.</p> <span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Zwar ist anzuerkennen, dass es zum allgemeinen Fachwissen des auf dem Gebiet des Verfügungspatents Gelehrten gehört, dass eine Dosis-Wirkungskurve regelmäßig derart ausgestaltet ist, dass sich eine Minimaldosis bestimmen lässt, unterhalb derer eine Wirkung nicht festgestellt werden kann, und dass weiter eine Maximaldosis ermittelbar ist, oberhalb derer ein Anstieg der Wirksamkeit nicht zu verzeichnen ist (dazu weiter auch unter Ziff. (6)). Dies aber erfordert, dass die Wirksamkeit nicht nur einer Dosis punktuell festgestellt wird, sondern ein Spektrum unterschiedlicher Dosierungen in den Blick genommen wird. Die höchste von J untersuchte Dosierung lag bei 720 mg/Tag, über die Wirksamkeit anderer, höherer oder niedrigerer, Dosierungen entnimmt der Fachmann der Präsentation keine Informationen.</p> <span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Die Kammer verkennt nicht, dass die Einspruchsabteilung zu der Würdigung gelangte, J zeige ein Aktivitätsplateau bei einer Dosis von 720 mg/Tag (Anlage rop14, Pkt.  8.7.1, 3. Abs.). Den diesbezüglichen Ausführungen ist indes nicht zu entnehmen, welchen konkreten Folien der Präsentation dieser Aussagegehalt beigemessen werden kann. Ein solcher erschließt sich der Kammer auch bei eigener Anschauung nicht.</p> <h5><strong>(5)</strong></h5> <span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Daran, dass für den Fachmann, der Anlass hat, in Richtung einer gegenüber 720 mg/Tag niedrigeren Dosierung von DMF zur oralen Behandlung von MS zu ermitteln, auch eine Dosierung von 480 mg/Tag auf der Hand liegt, hat die Kammer keinen Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Insoweit hat die Einspruchsabteilung nachvollziehbar ausgeführt, dass die in J getesteten Dosierungen auf einem Vielfachen von 120 mg/Tag basieren und die unterschiedlichen Dosierungen dadurch erzielt werden, dass der jeweiligen Patientengruppe unterschiedliche Tablettenmengen dieser niedrigsten Dosierung von 120 mg/Tag verabreicht werden, so dass sich für den Fachmann unweigerlich auch eine Dosierung von 4 x 120 mg/Tag (= 480 mg/Tag) aufdrängt (vgl. auch Anlage rop14, Pkt. 8.7.3).</p> <h5><strong>(6)</strong></h5> <span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Die Kammer teilt schließlich auch die Einschätzung der Einspruchsabteilung, wonach der Fachmann jedenfalls bei einer zusammenschauenden Betrachtung von J und den als Anlage rop17_D12 vorgelegten „ICH-Guidelines“, Topic E4, „Dose Response Information to Support Drug Registration“ der EMA aus dem Jahre 1994 im Rahmen von Routineexperimenten zu einer Dosierung von 480 mg/Tag gelangt (Anlage rop14, Pkt. 8.7.2).</p> <span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Die Richtlinien (vorgelegt als Anlage rop17_D12) spiegeln, so die Einspruchsabteilung, die Standardschritte bei der Dosisoptimierung wider, die bei der Entwicklung von Arzneimitteln routinemäßig in Versuchen zur Anwendung gelangen (a.a.O.). Danach ist der Fachmann – was auch die Verfügungsklägerin im Grundsatz zugesteht – grundsätzlich bestrebt, die Dosis mit dem optimalen Risiko-Nutzen-Verhältnis zu bestimmen. Ein solches ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass versucht wird, die geringste Dosis zu finden, die einen erkennbaren Nutzen hat bzw. eine Maximaldosis, oberhalb derer kein weitergehender Effekt bei der Behandlung einer Erkrankung zu erwarten ist (vgl. Anlage rop17_D12, Ziff. 1. „Introduction“, 2. Abs.).</p> <span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Soweit die Verfügungsklägerin meint, der Fachmann nehme hiervon bei der Behandlung von MS Abstand, weil die Richtlinien für die Methoden des „try and see“ angeben würden, dass sich solche Ansätze für schwere Erkrankungen, wozu auch MS gehöre, verbiete, sieht die Kammer die Überlegungen des Fachmannes im Prioritätszeitpunkt dadurch hier nicht beschränkt. Zutreffend ist, dass unter Ziffer 2. der Richtlinien (Anlage rop17_D12) unter der Überschrift „Studies in Life-Threatening Diseases“ (1. Abs.) ausgeführt wird, dass bestimmte Studiendesigns, etwa parallele Dosis-Wirkungs-Studiendesigns mit Placebo oder placebokontrollierten Titrationsstudiendesigns bei einigen Erkrankungen wie lebensbedrohlichen Infektionen oder potenziell heilbaren Tumoren, nicht akzeptabel seien. Unbeschadet der Frage, ob MS in diese Kategorie einzuordnen ist, gesteht die Richtlinie aber auch in derartigen Fällen einen Ermessensspielraum zu und rät von Dosisfindungsstudien auch in diesen Fällen nicht kategorisch ab, wenn es darin heißt (Anlage rop17_D12, Ziff. 2., „Studies in Life-Threatening Diseases“, 2. Abs.):</p> <span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">„Nonetheless, even for life-threatening diseases, drug developers should always be weighing the gains and disadvantages of varying regimes and considering how best to choose dose, dose-interval and dose-escalation steps.“</p> <span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Dass der Fachmann bei der danach gebotenen Abwägung dazu gelangt, dass die Wirksamkeit einer unterhalb einer Dosierung von 720 mg/Tag liegenden Dosierung weiter erforscht werden kann, hält die Kammer für wahrscheinlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Erkrankung an MS typischerweise nicht unmittelbar zum Tod führt, wenngleich sie bedauerlicherweise für den jeweiligen Betroffenen starke gesundheitliche, irreversible Beeinträchtigungen mit sich bringt. Auch musste der Fachmann nicht davon ausgehen, den Erkrankten deshalb einem größeren Risiko auszusetzen, weil er diesen mit einer unwirksamen Dosierung behandelt. Denn eine Dosierung von 360 mg/Tag hatte sich nach J jedenfalls nicht als unwirksam erwiesen, vielmehr bestand durchaus die Möglichkeit, dass bereits mit dieser ein Behandlungseffekt erzielt werden könnte. Zudem stand der Behandlung mit einer geringeren Dosierung auch die Chance auf weniger Nebenwirkungen gegenüber. Dieser mögliche Nutzen schmälert sich auch nicht unter Verweis darauf, dass die nach J beobachteten Nebenwirkungen ohnehin als gering und für den Erkrankten letztlich deshalb hinnehmbar seien, weil er sich andernfalls – ohne die Einnahme einer relativ hohen Dosis – einem schwerwiegenderen Krankheitsverlauf mit (im Vergleich zu den zu befürchtenden Nebenwirkungen) deutlich stärkeren körperlichen Einschränkungen gegenübersieht. Die Kammer vermag eine solche Denkweise auf Seiten des Erkrankten nicht als zwingend anzunehmen. Jedenfalls ebenso möglich erscheint es, dass eine erkrankte Person, die einer lebenslangen Einnahme eines Arzneimittels bedarf, ein großes Interesse daran hat, damit in einem Zusammenhang stehende Nebenwirkungen, auch wenn diese – als einmaliges Ereignis betrachtet – als gering einzustufen sein mögen, zu minimieren. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass eine Reduzierung der Nebenwirkungen ggf. auch dadurch bewirkt werden kann, dass der Patient Arzneimittel gegen eben diese Nebenwirkungen einnimmt. Denn dies läuft auf eine Argumentation hinaus, wonach sich die Einnahme einer relativ hohen Dosis von DMF als hinnehmbar erweist, weil zusätzlich ein weiteres Präparat eingenommen wird, was wiederum dem hier bereits ausgemachten Anspruch des Fachmannes, ein ausgewogenes Dosierungsverhältnis zu finden, zuwiderläuft.</p> <span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Die vorherigen Erwägungen treffen gleichermaßen auch auf die übrigen von der Verfügungsklägerin angeführten Passagen aus den ICH-Guidelines zu. Insbesondere deuten auch diese stets eine Abwägungsmöglichkeit für den Fachmann bei seinen Studien zur Dosisfindung an (so auf S. 5, 1. Abs. a. E., auf S. 5, Ziff. 3. 1. Abs., auf S. 8, Ziff. 3.2). Besonders hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang Seite 10, Ziff. 4.4, wo es heißt, dass das Einrichten einer „Placebo-Gruppe“ erfolgen kann („one of which may be zero (placebo)“), mithin optional ist. Der Fachmann ist somit auch nicht zwingend vor das Problem gestellt, eine valide Studie nur mit dem Risiko durchführen zu können, erkrankte Patienten von der Gabe eines Präparats auszuschließen. Vielmehr kann er sich auch dazu entschließen, das Arzneimittel an jede Gruppe zu vergeben, aber eben in unterschiedlichen Dosen.</p> <span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Schließlich macht die Verfügungsklägerin geltend, dass auch J sich bei seiner Studie an den in Rede stehenden Richtlinien orientiert habe (insbesondere wie an dem Studiendesign unter Ziff. 4.4 beschrieben), worin die Kammer bei der gebotenen Gesamtschau jedenfalls ein weiteres Indiz dafür erblickt, dass die anleitenden Hinweise aus der Richtlinie bei MS nicht per se ausgeschlossen sind.</p> <h5><strong>(7)</strong></h5> <span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Die Kammer entnimmt schließlich auch weder der Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer zu dem Stammpatent noch dem Erteilungsverfahren betreffend das Verfügungspatent etwas, das Anlass zu einer von den vorherigen Ausführungen abweichenden Bewertung geben müsste.</p> <span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer hat sich zur Frage der erfinderischen Tätigkeit nicht verhalten, weil sie das Stammpatent bereits aufgrund einer unzulässigen Erweiterung als nicht rechtsbeständig erachtete. Von einer Erörterung weiterer gegen den Rechtsbestand vorgebrachter Argumente hat sie ausdrücklich abgesehen (Anlage rop10, Pkt. 4.3). Die Kammer vermag auch aus dem Umstand, dass die Technische Beschwerdekammer – in Abweichung zur Entscheidung der Einspruchsabteilung – bereits eine unzulässige Erweiterung angenommen hat, nichts dafür herzuleiten, dass die Einspruchsabteilung die erfinderische Tätigkeit unrichtig oder gar unvertretbar bewertet hat. Bei der unzulässigen Erweiterung handelt es sich um einen von der erfinderischen Tätigkeit separat zu würdigenden Einspruchsgrund (im Sinne von Artt. 101 Satz 1, 100 lit. c) EPÜ). Dass die Technische Beschwerdekammer im Hinblick auf diesen zu einer anderen Würdigung als die Einspruchsabteilung gelangte, lässt einen Rückschluss darauf, ob die Erwägungen der Einspruchsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit sich als zutreffend erweisen, nicht zu.</p> <span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">Soweit sich aus der Erteilung des Verfügungspatents ergibt, dass die Prüfungsabteilung, die in Kenntnis der Entscheidung der Einspruchsabteilung war, eine erfinderische Tätigkeit gerade nicht angenommen hat, steht auch dies der hier vorgenommenen Bewertung durch die Kammer nicht entgegen. Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass auch die Prüfungsabteilung – wie diese im Rahmen des Erteilungsverfahrens zu erkennen gegeben hat – zunächst der Annahme war, dass das Verfügungspatent nicht rechtsbeständig sei. Erst in einer Mitteilung aus Juni 2022 (Anlage rop13) hat sie dann zum Ausdruck gebracht, dass die Erteilung des Verfügungspatents erfolgen soll und hier zur erfinderischen Tätigkeit ausgeführt:</p> <span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">  „The arguments provided in the TIPAs in relation to Art. 56 EPC relate to the parent application. The present divisional application is a new application, independent from the parent. The arguments provided by the OD in relation to the parent have been considered and found that are not applicable to the present divisional.“</p> <span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Diese Ausführungen stellen sich für die Kammer aber als pauschal dar und sind – jedenfalls in ihrer Kürze – nicht nachvollziehbar (zur grundsätzlichen Relevanz, wie ausführlich die Begründung der Rechtsbestandsentscheidung ist: OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2019, 33227, Rn. 38ff.; für einen Vorbescheid: OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 249, Rn. 23 – Cinacalcet und ebd., GRUR-RS 2021, 4506, Rn. 11 – Cinacalcet III). Denn die Unterschiede zwischen Stamm- und Verfügungspatent kommen bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von J nicht erkennbar zum Tragen. Dies wird auch im Rahmen des hiesigen Verfahrens zwischen den Parteien nicht im Schwerpunkt diskutiert. J stellt sich danach vielmehr gleichermaßen auch für das Verfügungspatent als relevanter Stand der Technik dar. Zwar besteht die Lösung des Verfügungspatents – anders als bei dem Stammpatent – nicht darin, ausschließlich DMF/MMF in einer Dosierung von 480 mg/Tag zur Behandlung gegen MS vorzusehen, vielmehr sind auch Zusammensetzungen erfasst, die DMF/MMF lediglich als einen Wirkstoff enthalten. Dieser Unterschied aber schlägt sich im Zusammenhang mit J nicht nieder.</p> <h5><strong>(8)</strong></h5> <span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Zu einem anderen Ergebnis führt auch eine Formulierung der objektiven Aufgabe dahingehend, dass eine verbesserte Dosierung gegenüber der vorbekannten Dosis von 720 mg/Tag angestrebt wird, nicht. Auch dann ergibt sich – mit den vorherigen Erwägungen (unter Ziff. (2) – Ziff. (6)), auf die im Wesentlichen Bezug genommen wird – die geschützte Lehre für den Fachmann im Prioritätszeitpunkt ausgehend von J in naheliegender Art und Weise.</p> <span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Denn aufgrund des sich ihm in J offenbarten Nebenwirkungsprofils stellt sich für den Fachmann eine Verbesserung insoweit als realistisch dar, dass mit einer (im Vergleich zur Dosis von 720 mg/Tag) geringeren Dosierung weniger Nebenwirkungen einhergehen. Dabei wird der Fachmann insbesondere solche Dosierungen in den Blick nehmen, die zwischen 360 mg/Tag und 720 mg/Tag liegen und dabei insbesondere diejenigen, die sich als ein Vielfaches einer Dosis von 120 mg/Tag darstellen, d.h. auch eine Dosierung von 480 mg/Tag. Denn für eine Dosierung von 360 mg/Tag lässt J offen, ob diese wirksam ist, so dass der Fachmann insoweit Anlass zur Prüfung der Wirksamkeit hat.</p> <h4><strong>bb)</strong></h4> <span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Durchgreifende Zweifel im Hinblick darauf, dass das Verfügungspatent auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, ergeben sich für die Kammer bei eigener Würdigung des Rechtsbestands weiter auch ausgehend von K.</p> <h5><strong>(1)</strong></h5> <span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">K stellt sich gleichermaßen als erfolgversprechendes „Sprungbrett zur Erfindung“ dar.</p> <span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Europäischen Patentamtes ist es nicht ausgeschlossen, dass mehrere Dokumente mit der gleichen Plausibilität Ausgangspunkt sein können, so dass die erfinderische Tätigkeit im Hinblick auf jedes einzelne dieser Dokumente zu prüfen ist (m. w. Nachw. Krober, in: Singer, Stauder, Luginbühl, Europäisches Patentübereinkommen, 8. Auflage, 2019, Art. 56, Rn. 63).</p> <span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">So ist es vorliegend.</p> <span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Für K als Ausgangspunkt spricht zunächst die Tatsache, dass J selbst darauf als „Pilotstudie“ in seiner nachprioritären Veröffentlichung aus Oktober 2008 Bezug nimmt (Anlage AG19, S. 1472, Fn. 15).</p> <span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Die Kammer sieht auch K und J nicht in einem derartigen Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander, dass mit J – im Vergleich zu K – bereits weitergehende und aussagekräftigere Dosisfindungsstudien stattgefunden haben, weshalb der Fachmann auf K nicht (mehr) zurückgreift.</p> <span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsklägerin, die von dem beschriebenen Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen den genannten Schriften ausgeht, begründet ihre Auffassung im Wesentlichen damit, dass es sich bei J um eine Phase-2b-Studie handele, die insbesondere deshalb einem gesteigerten wissenschaftlichen Anspruch nachkomme, weil sie mit einer größeren Anzahl an Probanden (über 200 im Vergleich zu 10 Personen bei K) und in der Form einer doppelblinden, randomisierten Studie mit Placebo (K war eine explorative, prospektive, offene Studie) durchgeführt worden sei. Eine solch aufwändige Studie strenge der Fachmann nicht ein weiteres Mal an, wenn er bereits auf die Ergebnisse von J zurückgreifen könne. Das gelte insbesondere dann, wenn man berücksichtige, dass der Fachmann damit hinnehme, schwer erkrankte Patienten mit einer weniger oder gar unwirksamen Dosierung zu behandeln.</p> <span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">Die Kammer sieht den beschriebenen Unterschied im Studiendesign zwar grundsätzlich, was auch die Annahme trägt, dass J auf K aufbaut. Gleichwohl machen die dem Fachmann mit J präsentierten Ergebnisse K aus seiner Sicht nicht obsolet. Denn, wie bereits (unter lit. aa), (3)) ausgeführt, entnimmt der Fachmann J nichts zur Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag, diese bleibt für ihn gerade offen, während K eine solche zeigt (dazu nachfolgend unter Ziff. (3)).  Schließlich handelt es sich bei J auch lediglich um die zusammenfassende Wiedergabe der Studienergebnisse, der Fachmann erhält insbesondere außer der Informationen auf den Präsentationsfolien keine weitergehenden Rohdaten, die ihm ein tiefergehendes Verständnis ermöglichen.</p> <span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend nimmt die Kammer auch nicht an, dass sich der Fachmann aus  anderen Gründen von der Erforschung weiterer Dosierungen zwischen 360 mg/Tag und 720 mg/Tag abhalten lässt. Die Verfügungsklägerin stellt in diesem Zusammenhang im Wesentlichen darauf ab, dass der Fachmann aus „ethisch-moralischen“ oder wirtschaftlichen Gründen davon absehen würde, neben J eine weitere Phase-2b-Studie, das heißt eine placebokontrollierte Doppelblindstudie der gleichen Art (über 200 Patienten an 10 Standorten) anzustrengen. Diese Sichtweise aber stellt sich für die Kammer als zu eng dar. Eine erneute Phase-2b-Studie scheint nicht das einzig denkbare Vorgehen des Fachmannes im Rahmen seiner Routineversuche zu sein, denn auch andere Studiendesigns scheinen möglich, wie etwa das Austesten weiterer Dosierungen im Rahmen einer Phase-3-Studie. Es ist auch (unter lit. aa), (6)) bereits dazu ausgeführt worden, dass dem Fachmann nach den sog. „ICH-Guidelines“ zur Dosisfindung ein gewisses Ermessen eingeräumt ist. Diese Erwägungen kommen hier entsprechend zum Tragen. Im Übrigen wird auf die nachfolgenden Ausführungen unter Ziff. (4), (b) Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">Nach alledem hält es die Kammer weiter sogar für plausibel, dass der Fachmann J und K gemeinsam betrachtet. Denn J hat aufgrund des beschriebenen Studiendesigns eine größere Aussagekraft, verhält sich aber zur Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag nicht zuverlässig, während K für letzteres erfolgversprechende Anknüpfungspunkte bietet.</p> <h5><strong>(2)</strong></h5> <span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Die objektive Aufgabe kann ausgehend von K dahingehend formuliert werden, dass eine hochwirksame orale Behandlung für MS mit DMF mit geringeren Nebenwirkungen angestrebt wird. Denn K trifft – anders als J – bereits eine Aussage zur Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag (und einer solchen von 720 mg/Tag), lässt indes unklar, wie die Wirksamkeit quantitativ einzuordnen ist und inwiefern dabei eine Veränderung der Nebenwirkungen eintritt.</p> <h5><strong>(3)</strong></h5> <span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Die Kammer geht davon aus, dass K sowohl die Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg/Tag als auch von 720 mg/Tag des Wirkstoffs DMF für die Behandlung von MS im Prioritätszeitpunkt zeigt.</p> <h6><strong>(a)</strong></h6> <span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Zwischen den Parteien besteht im Ausgangspunkt insoweit noch kein Streit, als K die Behandlung einer Teilnehmergruppe von 10 an MS erkrankten Patienten in vier Phasen beschreibt (Anlage rop17_D1, S. 605, li. Sp., 2. Abs.). Die Behandlung erfolgt mit Fumarsäureestern wie sie im Arzneimittel Q enthalten sind. Das genannte Präparat ist in zwei Tablettendosierungen verfügbar, nämlich in einer Dosierung mit 30 mg DMF und in einer solchen mit 120 mg DMF pro Tablette (vgl. zur Zusammensetzung im Einzelnen: Anlage rop17_D1, S. 605, re. Sp., 2. Abs.). In einer sechswöchigen Phase zu Beginn der Studie („Basisphase“) erfolgte noch keine Medikamentengabe. In einer ersten Behandlungsphase (insgesamt 18 Wochen) erhielten die Patienten das Präparat in einer Dosierung von 720 mg/Tag, wobei diese hohe Dosierung erst ab Woche 9 verabreicht wurde. Zuvor erhielten die Patienten eine geringere Dosierung, um den Körper an das Präparat zu gewöhnen (Anlage rop17_D1, S. 605, re. Sp., vorletzter Abs.). An diese Phase schloss sich eine vierwöchige Auswaschphase an, was das Pausieren der Behandlung bedeutete und in einer zweiten Behandlungsphase von 48 Wochen wurde den Patienten das Präparat mit einer Dosierung von 360 mg/Tag verabreicht (vgl. zu der Einteilung in vier Phasen Anlage rop17_D1, S. 605, li. Sp., vorletzter und letzter Abs.).</p> <span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Die Autoren berichten von einer signifikanten Reduktion der Anzahl von Gd+-Läsionen nach bereits 18 Wochen und beschreiben eine weitere Reduktion nach der Beendigung der zweiten Behandlungsphase nach 70 Wochen (Anlage rop17_D1, S. 607, li. Sp., 2. Abs. und S. 608, re. Sp., letzter Abs.).</p> <span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Daraus wird für den Fachmann deutlich, dass sowohl eine Dosierung von 720 mg/Tag als auch eine solche von 360 mg/Tag eine Minimierung der Läsionen bewirken können.</p> <h6><strong>(b)</strong></h6> <span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Die Verfügungsklägerin wendet ein, dass der Fachmann aus K deshalb keine Aussage über die Wirksamkeit einer Dosis von 360 mg/Tag erhalte, weil der Behandlungsphase mit eben dieser Dosis eine Behandlungsphase mit einer Dosis von 720 mg/Tag vorausgegangen ist. Der Fachmann könne deshalb nicht ausschließen, dass die Reduktion der Gd+-Läsionen auch in den Wochen 23 – 70 auf diese Vorbehandlung zurückgehe. Auch die Auswaschphase von vier Wochen erweise sich insoweit als zu kurz.</p> <span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">Es ist (unter Punkt A., Ziff. II.) bereits dazu ausgeführt worden, dass die geschützte Lehre nicht auf die Verwendung einer pharmazeutischen Zusammensetzung gerichtet ist, die ausschließlich DMF enthält und mit einer Tagesdosis von 480 mg verabreicht wird. Auf die diesbezüglichen Ausführungen wird Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">Dies berücksichtigend ist nicht ersichtlich, weshalb allein die Behandlungsphase von 720 mg/Tag bei K die Reduzierung der Gd+-Läsionen herbeigeführt haben soll. Die Behandlungsphase mit einer Dosierung von 360 mg/Tag betrug fast ein Jahr, dass die anfängliche Behandlung mit einer Dosierung von 720 mg/Tag bis in die Endphase der Behandlung „hineinwirkte“ und der Dosierung von 480 mg/Tag einen Beitrag zur Behandlung nicht beigemessen werden kann, ist der Kammer nicht ohne weiteres plausibel.</p> <h5><strong>(4)</strong></h5> <span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon, dass der Fachmann aus K eine Information über eine dosisabhängige Wirksamkeitsspanne – nämlich 360 mg/Tag einerseits und 720 mg/Tag andererseits – erhält, ergab sich für ihn auch eine Erfolgserwartung dahingehend, innerhalb dieser Wirksamkeitsspanne liegende Dosierungen weiter zu erforschen. Das gilt insbesondere für solche Dosierungen, die auf einfache Art und Weise durch eine Erhöhung der Anzahl der verabreichten Tabletten erzielt werden konnten, was insbesondere auch auf eine Dosierung von 480 mg/Tag (= 4 x 120mg/Tag) zutraf.</p> <h6><strong>(a)</strong></h6> <span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">Diese Erfolgserwartung wird zuvorderst dadurch hervorgerufen, dass K selbst angibt, dass weitere Untersuchungen im Hinblick auf die Wirksamkeit veranlasst sind (Anlage rop17_D1, S. 604, „abstract“, letzter Satz).</p> <h6><strong>(b)</strong></h6> <span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Die Erfolgserwartung des Fachmannes wird weiter im Wesentlichen durch die ICH-Guidelines zur Dosisoptimierung geprägt, die die Kammer – in Übereinstimmung mit der Einspruchsabteilung – bereits im  Zusammenhang mit J als zu berücksichtigenden Stand der Technik gewertet hat (vgl. dazu zuvor unter lit. aa), (6)).</p> <span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Bedenken, dass der Fachmann ausgehend von K durch die Leitlinien weiter veranlasst wird, ein – im Sinne der Richtlinien – angemessenes Dosierungsprofil zu erforschen, greifen im Zusammenhang mit der hier in Rede stehenden Druckschrift umso weniger, als der Fachmann ihr eine erfolgversprechende Erwartung dahingehend entnahm, dass sich jedenfalls auch eine Dosierung von 360 mg/Tag als zur Behandlung von MS geeignet erweist. Insoweit waren die Risiken, die auf eine erkrankte Person zukamen, wenn diese mit einer zwischen oberhalb dieser Dosierung liegenden Dosis behandelt würde, aus seiner Sicht als hinnehmbar einzustufen. Denn der Fachmann konnte davon ausgehen, den Patienten jedenfalls mit einer wirksamen Dosis zu behandeln. Es fehlten ihm lediglich Informationen dazu, in welchem Maße die Dosierung wirksam ist und inwiefern er den Erkrankten weitergehenden Nebenwirkungen aussetzt.</p> <h6><strong>(c)</strong></h6> <span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Zur angemessenen Erfolgserwartung des Fachmannes trägt weiter bei, dass das von K betrachtete Präparat, Q, bereits vor dem Prioritätstag zur Behandlung von Psoriasis eingesetzt wurde und dem Fachmann in diesem Zusammenhang ein etablierte Dosierungs- und Nebenwirkungsprofil aus der „S3-Leitlinie zur Therapie der Psoriasis vulgaris“ (Anlage AG16) bekannt war.</p> <span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">Ein Rückgriff des Fachmannes auf die genannten Leitlinien liegt nahe. Denn K selbst weist auf die Behandlung von Psoriasis mit Q hin (Anlage rop17_D1, S. 605, li. Sp., 1. Abs.). Er schildert dabei insbesondere auch die bei der Behandlung von MS mit Q beobachteten Nebenwirkungen als denjenigen ähnlich, die bei der Behandlung von Psoriasis mit dem Präparat aufgetreten sind (Anlage rop17_D1, S. 608, re. Sp. unter „Discussion“, 1. Abs. a. E.).</p> <span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend entnimmt der Fachmann, der aus den bereits (zuvor unter lit. (b)) dargelegten Gründen ohnehin bestrebt ist, das beste Dosis-Wirkungs-Verhältnis zu erzielen, der Leitlinie Anhaltspunkte dafür, dass eine geringere Dosis auch zu einer Reduzierung von Nebenwirkungen führen kann insoweit, als darin für die Beeinträchtigung der Nierenfunktion (Proteinurie) beschrieben wird, dass sich diese nach einer Dosisreduzierung bzw. nach Absetzen des Präparats zurückbilden (Anlage AG16, S. 53, li. Sp., 2. Abs.). Weiter wird darin beim Auftreten von Nebenwirkungen allgemein zunächst eine Dosisreduktion empfohlen (Anlage AG16, S. 54, li. Sp., 3. Abs.).</p> <span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">Von der sich daraus ergebenden Erwartungshaltung eines jedenfalls in gewissem Umfang dosisabhängigen Auftretens von Nebenwirkungen wird der Fachmann auch nicht deshalb weggeführt, weil die Leitlinie für sehr häufig auftretenden gastrointestinalen Beschwerden und „Flush“ angibt, dass diese vor allem in den ersten Behandlungswochen auftreten (Anlage AG16, S. 53, mittige Spalte, 1. Abs. unter „Unerwünschte Arzneimittelwirkungen/ Sicherheit“ und S. 53, re. Sp., Tabelle 36). Die Verfügungsklägerin hat in diesem Zusammenhang vorgebracht, dieses beschriebene zeitliche Erscheinungsbild könne vielmehr als Anzeichen dafür gewertet werden, dass der Körper sich an das Präparat zunächst gewöhnen müsse. Sie hat insofern weiter auch auf den Offenbarungsgehalt von K hingewiesen, aus dem sich ergibt, dass ein Abklingen der gastrointestinalen Nebenwirkungen auch bereits zu einem Zeitpunkt habe beobachtet werden können, zu dem noch eine hohe Dosierung (= 720 mg/Tag) verabreicht worden sei (vgl. Anlage rop17_D1, S. 606, re. Sp., letzter Abs. – S. 607, li. Sp., 1. Abs.). Die Leitlinie selbst macht indes keine Angaben dazu, dass die zu Behandlungsbeginn beobachteten Nebenwirkungen überhaupt bzw. ausschließlich auf eine Gewöhnung des Körpers an das Präparat zurückführbar sind. Danach ist die anfängliche Behandlungszeit – eine konkretere Angabe des Zeitraums, in den die Nebenwirkungen fallen und wann diese abklingen gibt die Leitlinie nicht an – vielmehr auch dadurch gekennzeichnet, dass eine hohe Dosis verabreicht wird (Anlage AG16, S. 53, Tabelle 35). Selbst dann aber, wenn man die gastrointestinalen Beschwerden zuvorderst auf eine noch fehlende Gewöhnung des Körpers zurückführt, bleibt der eingangs geschilderte Aussagegehalt im Hinblick auf die Nebenwirkung „Proteinurie“ sowie hinsichtlich der allgemeinen Empfehlung, bei Nebenwirkungen die Dosis zu reduzieren, hiervon unberührt.</p> <h5><strong>(5)</strong></h5> <span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">Der hier vorgenommenen Bewertung stehen auch weder konkrete Inhalte des Rechtsbestandsverfahrens zu dem Stammpatent noch aus dem Prüfungsverfahren des Verfügungspatents entgegen.</p> <span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">Die hier in Rede stehende Druckschrift konnte in den Rechtsbestandsverfahren erkennbar keine größere Rolle spielen, weil sie hinsichtlich der Lehre des Stammpatents als gegenüber J et al. als fernliegenderer Stand der Technik zu werten ist. Ihr Offenbarungsgehalt erstreckt sich nämlich auf Zusammensetzungen, die – anders als der Gegenstand des Stammpatents – nicht ausschließlich auf DMF/MMF als Wirkstoff beschränkt sind, sondern sich auch auf eine Kombination von DMF mit anderen Fumaratverbindungen (verschiedene Salze von Monoestern der Fumarsäure) beziehen.</p> <span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">Aus der Erteilung des Verfügungspatents ergibt sich zwar, dass eine erfinderische Tätigkeit im Hinblick auf die geschützte Lehre bejaht worden ist. Auch ist nicht davon auszugehen, dass die hier in Rede stehende Druckschrift von der Prüfungsabteilung schlicht übersehen worden ist. Denn diese ist nicht nur auf dem Deckblatt der Verfügungspatentschrift unter „Refernces cited“ und in Abschnitt [0030] der ursprünglichen Anmeldung des Stammpatents (Anlage rop11/ rop11a) sowie in dem gleichen Abschnitt der Teilanmeldung (Anlage rop21/rop21a) genannt, sondern wurde im Erteilungsverfahren auch vorgelegt (vgl. Anlage rop17_D1). Darüber hinaus kann die Kammer aber eine inhaltliche Auseinandersetzung der Prüfungsabteilung mit der in Rede stehenden Schrift nicht erkennen, die die Kammer im Rahmen ihrer Überzeugungsbildung berücksichtigen könnte.  Gegenstand der in diesem Verfahren mit dem Anlagenkonvolut rop12 vorgelegten Einwendungen Dritter ist die Druckschrift jedenfalls nicht gewesen.</p> <span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks"><strong>C.</strong></p> <span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 6, 711 ZPO.</p> <span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks"><strong>D.</strong></p> <span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird gem. § 51 Abs. 1 GKG auf EUR 5.000.000,- festgesetzt.</p> <span class="absatzRechts">202</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Dr. Voß</p> </td> <td><p>Dr. Gräwe</p> </td> <td><p>Dr. Gruneberg</p> </td> </tr> </tbody> </table>
346,883
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M 9 SE 21.5305
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-10-11T10:01:38"
"2022-10-17T11:10:58"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <div> <p>I. Die Anträge werden abgelehnt.</p> <p>II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) gesamtschuldnerisch. Die Beigeladene zu 2) trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.</p> <p>III. Der Streitwert wird auf EUR 3.750,00 festgesetzt.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p>I.</p> <p><rd nr="1"/>Die Antragsteller wenden sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine der Beigeladenen zu 1) erteilte Baugenehmigung für den Neubau zweier Einfamilienhäuser und eines Zweifamilienhauses mit Tiefgarage auf der Fl.Nr. ... der Gemarkung … (iF: Vorhabengrundstück).</p> <p><rd nr="2"/>Die Antragsteller sind Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. .../8 der Gemarkung …, welches mit einem von ihnen selbst bewohnten Einfamilienwohnhaus mit ausgebautem Dachgeschoss bebaut ist. Das Grundstück grenzt im Nordwesten und Osten an die u.a. im Miteigentum der Antragstellerin zu 1) stehenden Fl.Nrn. ... und .../11 der Gemarkung …, die R … straße, über die es erschlossen ist. Der Antragsteller zu 2) ist ebenfalls Miteigentümer der Fl.Nr. ... Knapp 8,5m nördlich vom Wohnhaus der Antragsteller, getrennt durch die R. … straße, liegt das im Eigentum der Beigeladenen zu 1) stehende Vorhabengrundstück mit einer Fläche von ca. 2.160m<sup>2</sup>. Ein Bebauungsplan besteht für das Gebiet nicht.</p> <p><rd nr="3"/>Die Beigeladene zu 1) beantragte unter dem … Januar 2021 die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau zweier Einfamilienhäuser (Haus 1 und Haus 2) und eines Zweifamilienhauses (Haus 3) mit Tiefgarage. Die Häuser sollen jeweils freistehend - Haus 1 im östlichen, Haus 2 im mittleren und Haus 3 im westlichen Drittel des Vorhabengrundstücks - errichtet werden. Die Einfahrt zur Tiefgarage soll von der Fl.Nr. ... (R. … straße) erfolgen und im Süden des Vorhabengrundstücks, parallel zur Fl.Nr. .../11, errichtet werden. Eine Beteiligung der Antragsteller im Genehmigungsverfahren erfolgte nicht.</p> <p><rd nr="4"/>Das gemeindliche Einvernehmen zu dem Vorhaben wurde mit Beschluss des Ausschusses für Ortsplanung, Ortsgestaltung und Umweltfragen der Beigeladenen zu 2) vom … Februar 2021 erteilt (Bl. 12 f Behördenakte - BA).</p> <p><rd nr="5"/>Mit Bescheid vom … Juni 2021 erteilte das Landratsamt M. (iF: Landratsamt) die beantragte Baugenehmigung unter verschiedenen Auflagen und eine Abweichung hinsichtlich der Rettungswegführung über Treppen ohne Treppenraum aus der Tiefgarage zu den Einfamilienhäusern. Insbesondere wurde beauflagt, dass für das Bauvorhaben 13 KFZ-Stellplätze nachzuweisen seien, die bis zur Bezugsfertigkeit benutzbar sowie auf Dauer zu erhalten und zu unterhalten seien müssten (Auflage Nr. 23). Der Bescheid wurde den Antragstellern am … Juni 2021 zugestellt.</p> <p><rd nr="6"/>Die Antragsteller ließen mit Schriftsatz vom 26. Juli 2021, beim Verwaltungsgericht München am gleichen Tag eingegangen, Anfechtungsklage gegen den Baugenehmigungsbescheid vom … Juni 2021 erheben (M 9 K 21.3974). Mit Schriftsatz vom 05. Oktober 2021 beantragten die Antragsteller die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen, die Vollziehung der Baugenehmigung auszusetzen und dem Antragsgegner aufzugeben, die Bauarbeiten mit einer für sofort vollziehbar erklärten Verfügung stillzulegen.</p> <p><rd nr="7"/>Mit Bescheid vom … Dezember 2021 erteilte das Landratsamt der Beigeladenen zu 1) zudem einen Tekturbescheid bezüglich der Nutzungsänderung des Hauses 2 von einem Einfamilienhaus zu einem Zweifamilienhaus, der Vergrößerung der Tiefgarage nach Süden sowie Grundriss- und Fassadenänderungen in allen Häusern. Es wurde u.a. beauflagt, dass für das Bauvorhaben 16 KFZ-Stellplätze nachzuweisen seien, die bis zur Bezugsfertigkeit benutzbar sowie auf Dauer zu erhalten und zu unterhalten seien müssten (Auflage Nr. 23). Der Bescheid wurde den Antragstellern am … Dezember 2021 zugestellt.</p> <p><rd nr="8"/>Mit Schriftsätzen vom 30. Dezember 2021, beim Verwaltungsgericht München am gleichen Tag eingegangen, hat der Bevollmächtigte der Antragsteller die Änderungsgenehmigung vom … Dezember 2021 in die Klage einbezogen und beantragte ferner:</p> <p><rd nr="9"/>1. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 26. Juli 2021 in der geänderten Fassung vom 30. Dezember 2021 gegen die der Beigeladenen zu 1) unter dem … Juni 2021 in der Fassung vom … Dezember 2021 erteilten Baugenehmigung wird angeordnet.</p> <p><rd nr="10"/>2. Die Vollziehung der der Beigeladenen zu 1) durch das Landratsamt M. unter dem … Juni 2021 in der Fassung des Tekturbescheides vom … Dezember 2021 erteilten Baugenehmigung wird ausgesetzt.</p> <p><rd nr="11"/>3. Dem Antragsgegner wird aufgegeben, die von der Beigeladenen zu 1) begonnenen Bauarbeiten mit einer für sofort vollziehbar erklärten Verfügung stillzulegen.</p> <p><rd nr="12"/>Zur Begründung tragen die Antragsteller im Wesentlichen vor: Die Baugenehmigung sei rechtswidrig und verletze die Antragsteller in ihren Rechten. Das streitgegenständliche Bauvorhaben füge sich nicht in die Umgebungsbebauung i.S.v. § 34 BauGB ein, verletze den Gebietsprägungserhaltungsanspruch der Antragsteller und verstoße gegen das Rücksichtnahmegebot. Das Vorhaben stehe in einem krassen Missverhältnis zu dem inneren als auch äußeren Erscheinungsbild des im Zusammenhang bebauten Ortsteils, so dass der Gebietscharakter aufgesprengt werde. Das Gebiet sei einheitlich durch eine großzügige, intendiert lockere als auch mit großen Grünflächen versehene Bebauung geprägt. Die Bebauung bestehe durchgehend aus Einfamilienhäusern in einer gehobenen Wohngegend, denen jeweils überdurchschnittlich große Gärten zur Verfügung stünden. Die Umgebungsbebauung stehe unter dem Leitbild der Förderung sowie des Erhalts der großzügigen Privatsphäre, Ruhe und „Einheits-Individualität“. Sie gebe einen einheitlichen Rahmen für das Vorhabengrundstück vor, welches das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht einhalte. Als singuläre und verdichtete Mehrfamilienwohnanlage stelle sich dieses insbesondere in Ansehung des Maßes der Bebauung als gebietsunverträglich und als Fremdkörper dar. Es liege eine unzulässige Übernutzung der Flächen vor, da es sich nicht um ein verdichtetes Wohngebiet handle. Auch in personeller Hinsicht ergebe sich durch das Vorhaben eine schädliche Bodenübernutzung, da auf der Fläche des Bauvorhabens in dem Gebiet typischerweise nur eine Familie statt vier voneinander unabhängige Familien leben würden. Hierdurch werde ein für das Gebiet untypisches Konfliktpotential ausgelöst. In Ansehung der überbauten Grundstücksflächen weise die streitgegenständliche Bebauung eine wesentlich höhere Dichte von ca. 35% (ohne Wege und Nebenanlagen) bzw. 50% (Miteinbeziehung aller planmäßigen Flächen) auf, während das Grundstück der Antragsteller nur eine Dichte von ca. 24% und die unmittelbar umgebende Bebauung durchschnittlich eine Dichte von höchstens 20% aufweise. Hiervon gehe eine erdrückende Wirkung nicht nur für die Antragsteller, sondern auch für das gesamte Gebiet aus. In der näheren als auch weiteren Umgebung gebe es bisher keine Tiefgaragen. Allein das Neuentstehen einer solchen sei für das Gebiet untypisch. Eine Tiefgarage sei vorliegend nicht unerlässlich, um das Vorhabengrundstück baulich nutzen zu können. Der Bedarf nach einer solchen folge vorliegend vielmehr aus der Überdimensionierung des Vorhabens zur Gewinnmaximierung. Die Tiefgaragenrampe grenze unmittelbar an das Grundstück der Antragsteller. Insbesondere beim Ein- und Ausfahren aus der steilen Rampe würden gegenüber den Antragstellern unzumutbare Lärm-, Geruchs- und Feinstaub-Immissionen erzeugt. Es sei zu erwarten, dass die Werte der TA-Lärm bei 14 Fahrzeugen nicht eingehalten werden können. Weiter würden unzumutbare Geräusch- und Geruchsimmissionen der übermäßig vorhandenen Bewohner hinzutreten. Die Tekturgenehmigung würde die angegriffene Baugenehmigung weiter zum Nachteil der Antragsteller verändern. Die Beigeladene zu 1) habe bereits mit der Bauausführung begonnen.</p> <p><rd nr="13"/>Der Antragsgegner beantragt,</p> <p><rd nr="14"/>die Anträge abzulehnen.</p> <p><rd nr="15"/>Er führt im Wesentlichen aus, dass die Baugenehmigung formell sowie materiell rechtmäßig sei und keine drittschützenden Vorschriften verletze. Das Vorhaben befinde sich im unbeplanten Innenbereich nach § 34 BauGB. Der Einwand der Antragsteller, das Vorhaben würde sich im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen, könne von vornherein keine Rechtsverletzung der Antragsteller begründen, da dem Maß der baulichen Nutzung keine drittschützende Funktion zukomme. Die Anzahl der Wohnungen in einem Gebäude sei kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung präge (Verweis auf BVerwG, B.v. 24.4.1989 - 4 B 72.89 - juris Rn. 7). Vorliegend sei auch keine Verletzung von immissionsschutzrechtlichen Belangen ersichtlich. Die Tiefgarage diene dem Stellplatzbedarf der Wohnnutzung; ein Verstoß gegen § 12 Abs. 2 BauNVO sei nicht ersichtlich. Es sei nicht substantiiert vorgetragen worden, weshalb aufgrund der Tiefgarage mehr Lärm erzeugt werden sollte, als durch oberirdische Stellplätze. Auch die Ein- und Ausfahrt zu einer Tiefgarage für die Hausbewohner sei nicht als so störend anzusehen, dass der Rahmen des Zumutbaren überschritten werde, da im Gegensatz zu einem öffentlichen Parkhaus kein ständiger An- und Abfahrtsverkehr stattfinde.</p> <p><rd nr="16"/>Die Beigeladene zu 1) beantragt,</p> <p><rd nr="17"/>die Anträge abzulehnen.</p> <p><rd nr="18"/>Der Beigeladene zu 1) trägt im Wesentlichen vor: Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sei zwar zulässig, aber unbegründet. Das gerügte Maß der baulichen Nutzung bzw. die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, sei bereits keine drittschützende Rechtsposition. Dessen ungeachtet füge sich das Bauvorhaben auch in die maßgebliche nähere Umgebung ein. Die genehmigten Wandhöhen von 5,0m bzw. 6,0m fänden sich bei vergleichbaren Grundflächen der Baukörper mehrfach in der näheren Umgebung. Die Wandhöhe des Wohngebäudes der Antragsteller betrage z.B. 6,6m. Die überbaute Fläche auf den Grundstücken Fl.Nrn. .../2, .../14, .../10, .../9 und .../8 sei im Verhältnis zur Grundstücksgröße umfangreicher als auf dem Baugrundstück; auf den Grundstücken Fl.Nrn. .../2 und .../14 sei auch die Unterbringung von Stellplätzen in einer Tiefgarage vorgesehen. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot liege offensichtlich nicht vor. Es seien keine Anhaltspunkte gegeben, dass sich aus dem streitgegenständlichen Vorhaben besonders außergewöhnliche, über in Innerortslagen übliche hinausgehende Belastungen für den Nachbarn ergeben. Die mit den Fahrzeugen einhergehenden Immissionen seien nach § 12 BauNVO hinzunehmen. Es sei unrealistisch, dass hier die einschlägigen Immissionsrichtwerte überschritten werden und es fehle diesbezüglich an schlüssigem Vortrag. Die Unterbringung von Stellplätzen in Tiefgaragen sei städtebaulich ausdrücklich erwünscht, da so die oberirdischen Frei- und Grünflächen besser erhalten werden können (Verweis auf VG München, U.v. 12.9.2018 - M 9 K 17.5791). Die weiteren Anträge seien bereits unzulässig. Dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung fehle das Rechtsschutzbedürfnis; der auf bauaufsichtliches Einschreiten gerichtete Antrag sei nach § 123 Abs. 5 VwGO unzulässig. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Beigeladene zu 1) die Bauarbeiten auch im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage fortsetzen würde und dem dringend präventiv begegnet werden müsse. Im Übrigen seien die Anträge auch unbegründet.</p> <p><rd nr="19"/>Die Beigeladene zu 2) hat bislang keine Anträge gestellt und sich weder zur Klage noch zum Eilverfahren inhaltlich geäußert.</p> <p><rd nr="20"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Behördenakte und die Gerichtsakte in diesem Verfahren sowie in dem Verfahren M 9 K 21.3974 Bezug genommen.</p> <p>II.</p> <p><rd nr="21"/>Die Anträge haben keinen Erfolg.</p> <p><rd nr="22"/>1. Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragsteller gemäß §§ 80a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. 80a Abs. 1 Nr. 2, §§ 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist unbegründet.</p> <p><rd nr="23"/>Nach § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Nachbarn gegen die bauaufsichtliche Genehmigung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gem. §§ 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Nachbarn, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen, an. Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch den Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung der Klage ergibt, dass diese sachlich nicht gerechtfertigt ist und letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber der Rechtsbehelf offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich schon jetzt so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei.</p> <p><rd nr="24"/>Im vorliegenden Fall der Anfechtung einer Baugenehmigung durch einen Nachbarn besteht zudem die Besonderheit, dass die Klage in der Hauptsache nur auf die Verletzung solcher Normen gestützt werden kann, die den Nachbarn schützen, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <p><rd nr="25"/>Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage wird die Hauptsacheklage der Antragsteller voraussichtlich keinen Erfolg haben, da die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung des Tekturbescheids die Antragsteller aller Voraussicht nach nicht in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Interesse der Beigeladenen zu 1), von der Baugenehmigung vorläufig Gebrauch machen zu können, ist daher höher zu bewerten als das Interesse der Antragsteller an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage.</p> <p><rd nr="26"/>a) Die von den Antragstellern erhobenen Einwendungen hinsichtlich des Einfügens des Bauvorhabens greifen nach summarischer Prüfung nicht durch.</p> <p><rd nr="27"/>aa) Die Antragsteller werden durch das Vorhaben nicht in ihrem Gebietserhaltungsanspruch verletzt.</p> <p><rd nr="28"/>Der allgemeine bauplanungsrechtliche Gebietserhaltungsanspruch gewährt dem Eigentümer eines Grundstücks hinsichtlich der durch einen Bebauungsplan festgesetzten Nutzungsart einen Abwehranspruch gegen die Genehmigung eines Bauvorhabens im Plangebiet, das von der zulässigen Nutzungsart abweicht und zwar unabhängig davon, ob die zugelassene gebietswidrige Nutzung des Nachbarn ihn selbst unzumutbar beeinträchtigt oder nicht (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.7.2012 - 2 B 12.1211 - juris Rn. 27). Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen (BVerwG, U.v. 11.5.1989 - 4 C 1.88 - juris Rn. 43).</p> <p><rd nr="29"/>Ein Gebietserhaltungsanspruch ist auch außerhalb eines mittels Bebauungsplans festgesetzten Gebiets denkbar. Die zugrundeliegende Annahme, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist, trifft auch im Falle eines typisierten, faktischen Baugebiets nach § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB i.V.m. der Baunutzungsverordnung zu. Aus der Gleichstellung beplanter und faktischer Baugebiete entsprechend der Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung durch § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB ergibt sich, dass ein identischer Nachbarschutz schon vom Bundesgesetzgeber festgelegt worden ist (BVerwG, B.v. 22.12.2011 - 4 B 32.11 - juris Rn. 5). Dies bedeutet, dass auch innerhalb von faktischen Baugebieten über § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB eine nachbarschützende Wirkung entsteht. Der Grundsatz, dass sich ein Nachbar im Plangebiet auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird, lässt sich daher auf den Nachbarschutz im faktischen Baugebiet übertragen.</p> <p><rd nr="30"/>Ausgehend davon liegt keine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs vor. Das Vorhabengrundstück und die Grundstücke der Antragsteller liegen - insoweit sind sich auch die Beteiligten einig - im unbeplanten Innenbereich. Vorliegend spricht - auch unter Zugrundelegung der in den Akten befindlichen Lagepläne und der vorliegenden Luftbilder (abgerufen über B. und G. M.) - einiges dafür, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Gebiet um ein faktisches reines oder faktisches allgemeines Wohngebiet, §§ 3, 4 BauNVO, handelt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Gebiet nicht oder nicht vorwiegend dem Wohnen dient. Durch die streitgegenständliche Baugenehmigung wird eine Wohnnutzung auf dem Vorhabengrundstück genehmigt. Das als Wohnnutzung genehmigte Vorhaben der Beigeladenen zu 1) fügt sich daher nach seiner Art der Nutzung in die nähere Umgebung ein.</p> <p><rd nr="31"/>bb) Im vorliegenden Fall vermögen sich die Antragsteller auch nicht auf einen Anspruch auf Erhaltung der Gebietsprägung zu berufen.</p> <p><rd nr="32"/>Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind die in den §§ 2 bis 14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Aus den Ausführungen im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Mai 2002 (BVerwG, B.v. 13.5.2002 - 4 B 86/01 - juris Rn. 4 f) zu § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist teilweise der Schluss gezogen worden, das Bauplanungsrecht beinhalte neben dem Gebietserhaltungsanspruch, dem Abwehranspruch wegen Verletzung einer (sonstigen) drittschützenden Festsetzung des Bebauungsplans und dem Abwehranspruch wegen Verletzung des Rücksichtnahmegebots auch einen hiervon unabhängigen „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“, wonach ein Vorhaben, das im konkreten Baugebiet hinsichtlich der Nutzungsart an sich entweder allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, gleichwohl als gebietsunverträglich vom Nachbarn im (auch faktischen) Plangebiet abgewehrt werden können soll, wenn es der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspreche, wenn es also - bezogen auf den Gebietscharakter des Baugebietes, in dem es verwirklicht werden soll - aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirke und deswegen gebietsunverträglich sei. Von anderer Seite wird demgegenüber die rechtliche Existenz eines eigenständigen bauplanungsrechtlichen „Gebietsprägungserhaltungsanspruchs“ angezweifelt und die vom Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2002 entwickelten Grundsätze als Maßgaben für die Anwendung des (nachbarschützenden) Rücksichtnahmegebots - etwa im Anwendungsbereich von § 31 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB - verstanden (vgl. zum Streitstand BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 15 ZB 19.1221 - juris Rn. 9).</p> <p><rd nr="33"/>Unabhängig von dieser Streitfrage kann ein „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO (i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB) - sei es als eigenständiger Anspruch, sei es als Bestandteil des Rücksichtnahmegebots (mit dann zu fordernder „fühlbarer“ Beeinträchtigung des Nachbarn) - von vornherein nur einschlägig sein, wenn das den Vorgaben gem. §§ 2 - 14 BauNVO (hier i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB) an sich entsprechende Bauvorhaben bei typisierender Betrachtung gleichwohl als gebietsunverträglich zu bewerten ist, weil es der allgemeinen Zweckbestimmung des Baugebiets widerspricht. Für ein von den Antragstellern behauptetes (nachbar-) rechtswidriges Umschlagen von Quantität in Qualität in diesem Sinne müsste das Bauvorhaben die Art der baulichen Nutzung derart erfassen oder berühren, dass bei typisierender Betrachtung im Ergebnis ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets angenommen werden müsste (vgl. BVerwG, U.v. 16.03.1995 - 4 C 3.94 - juris Rn. 17). Da es sich bei § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO um eine Ausnahmevorschrift zur Art der baulichen Nutzung handelt, ist ein solcher Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets aber nur unter strengen Voraussetzungen anzunehmen. Der Widerspruch der hinzukommenden baulichen Anlage oder deren Nutzung muss sich daher bei objektiver Betrachtungsweise offensichtlich aufdrängen; dass das Neubauvorhaben oder die neue Nutzung nicht in jeder Hinsicht mit der vorhandenen Bebauung im Einklang steht, genügt dafür nicht (BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 15 ZB 19.1221 - juris Rn. 10).</p> <p><rd nr="34"/>Diese strengen Voraussetzungen sind hier aller Voraussicht nach nicht erfüllt. Der von der Beigeladenen zu 1) beantragte und in der Fassung des Tekturbescheids genehmigte Nutzungsumfang führt nicht zu einer Veränderung des Gebietscharakters. Durch das streitgegenständliche Vorhaben entstehen letztlich, auch wenn die drei Häuser im Vergleich zur Umgebungsbebauung möglicherweise dichter nebeneinander realisiert werden, „nur“ zwei freistehende zweigeschossige Zweifamilienhäuser und ein freistehendes zweigeschossiges Einfamilienhaus. Selbst wenn man zugunsten der Antragsteller davon ausgeht, dass die nähere Umgebung vorliegend durch freistehende Einfamilienhäuser geprägt ist, und durch das Vorhaben insgesamt betrachtet die übliche Bewohnerzahl im Gebiet überschritten wird, läge hierin keine Überschreitung vor, die eine Veränderung des Gebietscharakters besorgen ließe. Die Zahl der Wohnungen - jedenfalls im hier vorliegenden Anwendungsbereich des § 34 BauGB - ist kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung prägt (BayVGH, B.v. 22.6.2021 - 9 ZB 21.466 - juris Rn. 8). Zwar trifft es zu, dass nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB in Bebauungsplänen die höchstzulässige Zahl der Wohnungen in Wohngebäuden festgesetzt werden kann und damit der Charakter eines Wohngebiets durch die Anzahl der Wohnungen in den Häusern (mit-)bestimmt sein kann (vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 - 4 C 5.87 - juris Rn. 45). Gleichwohl kennen das Baugesetzbuch und die Baunutzungsverordnung keine Unterscheidung zwischen Wohnen in Einfamilienhäusern und Wohnen in Mehrfamilienhäusern. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen ein Wohnen in Mehrfamilienhäusern gegenüber einem Wohnen in Einfamilienhäusern negativ zu beurteilen sein könnte (BayVGH, B.v. 4.3.2021 - 15 ZB 20.3151 - juris Rn. 16). Ausgehend davon ist im Falle des streitgegenständlichen Vorhabens erst recht nicht ersichtlich, warum ein Wohnen in Zweifamilienhäusern gegenüber einem Wohnen in Einfamilienhäusern negativ zu beurteilen wäre. Es ist vorliegend auch nicht zu erkennen, dass aufgrund der Dimensionierung des Bauvorhabens und der Bebauungsdichte eine neue Art der baulichen Nutzung in das reine oder allgemeine Wohngebiet hineingetragen wird. Ebenso wenig steht zu erwarten, dass das Vorhaben bei insgesamt nur fünf Wohneinheiten signifikant aus dem Rahmen fallende Folgewirkungen zeitigen wird.</p> <p><rd nr="35"/>cc) Die Antragsteller können sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sich das Vorhaben dem Maß nach und im Hinblick auf die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Umgebung einfüge. Das Maß der baulichen Nutzung, die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und die Bauweise (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) sind nicht drittschützend (BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 3 m.w.N.), weshalb sich die Antragsteller auf eine subjektive Rechtsverletzung diesbezüglich nicht berufen können.</p> <p><rd nr="36"/>b) Das Bauvorhaben verstößt nach summarischer Prüfung auch nicht zu Lasten der Antragsteller gegen das Gebot der Rücksichtnahme, § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO.</p> <p><rd nr="37"/>Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1.04 - juris Rn. 22; U.v. 29.11.2012 - 4 C 8.11 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 - 4 B 215.96 - juris Rn. 9). Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot kann etwa in Betracht kommen, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens das Wohngebäude des Nachbarn „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von der konkreten Situation im Einzelfall ab. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt den Nachbarn aber nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 - 15 CS 11.1101 - juris Rn. 17). Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, ist regelmäßig als zumutbar hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 6).</p> <p><rd nr="38"/>Unter Anwendung dieser Grundsätze ist das Vorhaben voraussichtlich nicht rücksichtlos.</p> <p><rd nr="39"/>aa) Dem streitgegenständlichen Bauvorhaben kommt insbesondere aller Voraussicht nach eine einmauernde bzw. verschattende oder erdrückende Wirkung nicht zu.</p> <p><rd nr="40"/>In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 - juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 - 9 CS 14.2441 - juris Rn. 31; B.v. 23.4.2014 - 9 CS 14.222 - juris Rn. 12 m.w.N.). Für die Annahme der „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 - 2 CS 10.454 - juris Rn. 5).</p> <p><rd nr="41"/>Das streitgegenständliche Vorhaben stellt keinen übergroßen Baukörper dar. Ausweislich der genehmigten Eingabeplanung liegt die Wandhöhe der drei Häuser traufseitig bei 5,00m (Haus 1 und Haus 3) bzw. 6,00m (Haus 2), die Firsthöhe soll 6,77m (Haus 1) bzw. 7,92m (Haus 2) bzw. 7,40m (Haus 3) betragen. Selbst wenn das Wohngebäude der Antragsteller, welches nach deren Vortrag über ein ausgebautes Dachgeschoss verfügt, eine geringere Höhe aufweisen sollte, dürfte ein etwaiger Höhenunterschied - wenn überhaupt - minimal sein. Nach der zitierten Rechtsprechung müsste es sich jedoch um massiv unterschiedliche Höhenentwicklungen handeln, um sich als rücksichtslos darzustellen. Die Annahme einer Rücksichtslosigkeit scheidet vorliegend offensichtlich aus. Auch im Hinblick auf das Volumen stellt das streitgegenständliche Vorhaben keinen übergroßen Baukörper dar. Die Fassaden der drei Häuser treten gegenüber dem Anwesen der Antragsteller nicht als durchgehend geschlossene Außenwand in Erscheinung, sondern als drei freistehende Häuser mit jeweils einer Wandlänge von 14,00m (Haus 1 und Haus 2) bzw. 16,00m (Haus 3). Die Distanz zwischen Haus 1 und Haus 2 beträgt 16,80m sowie zwischen Haus 2 und Haus 3 13,74m; im Vergleich dazu beträgt ausweislich des Kartenmaterials des Geodatenportals B. die Distanz zwischen dem Wohnhaus der Antragsteller und dem westlich angrenzenden Nachbarwohnhaus auf Fl.Nr. .../10 ca. 14,00m; die Distanzen bewegen sich mithin in einem vergleichbaren Rahmen. Im Übrigen hält das Bauvorhaben nach summarischer Prüfung die erforderlichen Abstandsflächen gegenüber den Antragstellern ein, die eine Belichtung, Belüftung und Besonnung sicherstellen sollen. Auch wurden von Antragstellerseite insoweit keine Einwendungen vorgebracht. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass bei Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächen zumindest aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt sein kann (BVerwG, B.v. 11.1.1999 - 4 B 128.98 - juris Rn.3). Vorliegend ist nichts ersichtlich, was gegen die Annahme eines solchen Regelfalls spricht.</p> <p><rd nr="42"/>bb) Für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die Tiefgaragenzufahrt an der südlichen Grundstücksgrenze zum - getrennt durch die Fl.Nr. .../11 (R. … straße) - Wohngrundstück der Antragsteller sind keine hinreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Wegen der generellen Zulässigkeit von Stellplätzen und Garagen selbst in reinen Wohngebieten (§ 12 Abs. 2 BauNVO) müssen die (unmittelbaren) Nachbarn die von der im Zusammenhang mit einer zulässigen Wohnbebauung stehenden Nutzung von Stellplätzen und Garagen ausgehenden Emissionen im Regelfall hinnehmen (vgl. BayVGH, B. v. 9.9.2009 - 2 CS 09.1977 - juris Rn. 2; B. v. 2.9.2013 - 14 ZB 13.1193 - juris Rn. 14). Nur das Vorliegen besonderer Umstände rechtfertigt im Einzelfall die Annahme, dass die Nutzung der Stellplätze und Garagen zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung für die Nachbarschaft führt. Die Antragsteller haben vorliegend weder substantiiert dargelegt noch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass von der Tiefgaragenzufahrt Belastungen ausgehen, die das übliche Maß und die von der genehmigten Wohnnutzung üblicherweise ausgehende Beeinträchtigung des Nachbarn überschreiten. Mit 16 Stellplätzen für insgesamt fünf Wohneinheiten entspricht das Vorhaben dem Stellplatzbedarf nach der Gestaltungssatzung der Beigeladenen zu 2) (vgl. Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayBO i.V.m. Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 BayBO i.V.m. § 5.2, 5.3 der Gestaltungssatzung der Beigeladenen zu 2)). Weiter spricht die örtliche Situation gegen eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots. Wie sich aus der Eingabeplanung ergibt, ist das Wohnhaus der Antragsteller ca. 8,5m von der Tiefgaragenrampe entfernt. Die Fahrzeuge dürften sich in diesem Bereich jedoch bereits unterhalb der Grundstücksoberfläche befinden. Hinzu kommt, dass auch die Antragsteller auf ihrem Grundstück über eine an der nördlichen Grundstücksgrenze befindliche Garage verfügen. Auch dürften durch diese Garage die auf das Wohnhaus der Antragsteller einwirkenden Immissionen zumindest teilweise abgeschirmt werden. Die Immissionen dürften sich daher insgesamt in Grenzen halten. Im Übrigen erscheint die Anlage der Tiefgarage mit der Zufahrt hinsichtlich der von Fahrzeugen ausgehenden Emissionen und der auf das Grundstück der Antragsteller einwirkenden Immissionen rücksichtsvoller zu sein als die Anlage von Stellplätzen und das damit zusammenhängende Befahren des Vorhabengrundstücks entlang der Grenze zu den Antragstellern (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2013 - 14 CE 13.50 - juris Rn. 6).</p> <p><rd nr="43"/>cc) Auch soweit die Antragsteller vorbringen, dass sie durch ein zunehmendes Verkehrsaufkommen in der näheren Umgebung in ihren Rechten verletzt seien, kann diesbezüglich nach summarischer Prüfung keine abwehrfähige Rücksichtslosigkeit durch das streitgegenständliche Bauvorhaben erkannt werden.</p> <p><rd nr="44"/>Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann zwar grundsätzlich in Betracht kommen, wenn sich die Erschließungssituation eines Grundstücks etwa durch eine vorhabenbedingte Überlastung einer das Grundstück des Betroffenen erschließenden Straße oder durch unkontrollierten Parksuchverkehr erheblich verschlechtert. Auch kann eine unzureichende Stellplatzzahl eines Bauvorhabens gegenüber den Eigentümern der vom Verkehr betroffenen Grundstücke im Einzelfall ausnahmsweise im bauplanungsrechtlichen Sinne rücksichtslos sein (BayVGH, B.v. 8.1.2019 - 9 CS 17.2482 - juris Rn. 20). Hierfür bestehen im vorliegenden Fall jedoch nach summarischer Prüfung keine Anhaltspunkte. Insbesondere entspricht das Vorhaben - wie oben ausgeführt - dem Stellplatzbedarf nach der Gestaltungssatzung der Beigeladenen zu 2). Auch ist vorliegend mit einem erheblichen - über die Wohnnutzung hinausgehenden - Fußgänger- bzw. Fahrzeugverkehr nicht zu rechnen. Die mit einem Wohnbauvorhaben üblicherweise verbundenen Verkehrsbelastungen sind grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 20.3.2018 - 15 CS 17.2523 - juris Rn. 43). Individuelles Fehlverhalten ist städtebaulich nicht relevant; dem ist gegebenenfalls mit Mitteln des Ordnungsrechts zu begegnen (BVerwG, B.v. 6.12.2011 - 4 BN 20.11 - juris Rn. 5). Das den Antragstellern durch das Eigentum vermittelte Recht zur bestimmungsgemäßen Nutzung ihres Grundstücks begründet auch kein Recht darauf, dass eine bisher gegebene Verkehrslage aufrechterhalten bleibt (VG München, U.v. 26.2.2018 - M 8 K 16.2434 - juris Rn. 136 m.w.N.). Im Übrigen wird das Vorhabengrundstück von der Fl.Nr. ... erschlossen, während die Zufahrt zum Wohngrundstück der Antragsteller von der Fl.Nr. .../11 erfolgt. Besonders beengte Verhältnisse sind vorliegend ebenfalls nicht ersichtlich.</p> <p><rd nr="45"/>dd) Auch die von den künftigen Bewohnern des Bauvorhabens verursachten Geräusche sind von den Antragstellern als sozialadäquat hinzunehmen. Bei den diesbezüglichen Geräuschimmissionen handelt es sich in der vorliegenden bauplanungsrechtlichen Situation um grundsätzlich hinzunehmende Wohngeräusche (vgl. BVerwG, U.v. 23.8.1996 - 4 C 13/94 - juris Rn. 70, 72; BayVGH, U.v. 13.9.2012 - 2 B 12.109 - juris Rn. 38; B.v. 5.12.2012 - 2 CS 12.2290 - juris Rn. 7; B.v. 14.4.2014 - 15 ZB 13.205 - juris Rn. 6). (Lärm- und Geräusch-) Immissionen, die aus den Lebensäußerungen resultieren, die mit dem im Wohngebiet vorgesehenen Wohnen einhergehen, sind daher nicht geeignet, eine Rücksichtslosigkeit der Wohnnutzung zu begründen.</p> <p><rd nr="46"/>c) Dass andere Rechtsvorschriften, auf die sich die Antragsteller als Drittbetroffene erfolgreich stützen könnten, durch die Baugenehmigung verletzt sein könnten, ist nicht ersichtlich.</p> <p><rd nr="47"/>2. Nach alledem wird die Klage der Antragsteller voraussichtlich keinen Erfolg haben. Das Interesse an der Vollziehung der Baugenehmigung überwiegt. Die Anträge im einstweiligen Rechtsschutz waren insgesamt abzulehnen.</p> <p><rd nr="48"/>3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, Abs. 3 Hs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, den Antragstellern die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) aufzuerlegen, da diese sich durch die Antragstellung einem Kostenrisiko ausgesetzt hat. Die Beigeladene zu 2) trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst, da sie keine Anträge gestellt und sich daher nicht dem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat.</p> <p><rd nr="49"/>4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nummern 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht der Hälfte des voraussichtlich im Hauptsacheverfahren anzusetzenden Streitwerts.</p> </div>
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M 9 SE 21.5307
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-10-10T10:02:08"
"2022-10-17T11:10:57"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <div> <p>I. Die Anträge werden abgelehnt.</p> <p>II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.</p> <p>III. Der Streitwert wird auf EUR 3.750,00 festgesetzt.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p>I.</p> <p><rd nr="1"/>Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine der Beigeladenen zu 1) erteilte Baugenehmigung für den Neubau zweier Einfamilienhäuser und eines Zweifamilienhauses mit Tiefgarage auf der Fl.Nr. 225 der Gemarkung … (iF: Vorhabengrundstück).</p> <p><rd nr="2"/>Der Antragsteller ist Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. 233/10 der Gemarkung … welches mit einem von ihm selbst bewohnten Einfamilienwohnhaus bebaut ist. Im Norden grenzt unmittelbar das im Eigentum der Beigeladenen zu 1) stehende Vorhabengrundstück mit einer Fläche von ca. 2.160m<sup>2</sup>. Im Osten grenzt das Grundstück des Antragstellers an die u.a. in seinem Miteigentum stehende Fl.Nr. 233/11 der Gemarkung …, die R* … straße, über die es erschlossen ist. Die Fl.Nr. 233/11 mündet östlich im weiteren Verlauf in die Fl.Nr. 233 der Gemarkung … (R* … straße), welche ebenfalls im Miteigentum des Antragstellers steht. Ein Bebauungsplan besteht für das Gebiet nicht.</p> <p><rd nr="3"/>Die Beigeladene zu 1) beantragte unter dem … Januar 2021 die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau zweier Einfamilienhäuser (Haus 1 und Haus 2) und eines Zweifamilienhauses (Haus 3) mit Tiefgarage. Die Häuser sollen jeweils freistehend - Haus 1 im östlichen, Haus 2 im mittleren und Haus 3 im westlichen Drittel des Vorhabengrundstücks - errichtet werden. Die Einfahrt zur Tiefgarage soll von der Fl.Nr. 233 (R* … straße) erfolgen und im Süden des Vorhabengrundstücks, parallel zur Fl.Nr. 233/11, errichtet werden. Eine Beteiligung des Antragstellers im Genehmigungsverfahren erfolgte nicht.</p> <p><rd nr="4"/>Das gemeindliche Einvernehmen zu dem Vorhaben wurde mit Beschluss des Ausschusses für Ortsplanung, Ortsgestaltung und Umweltfragen der Beigeladenen zu 2) vom … Februar 2021 erteilt (Bl. 12 f Behördenakte - BA).</p> <p><rd nr="5"/>Mit Bescheid vom … Juni 2021 erteilte das Landratsamt Miesbach (iF: Landratsamt) die beantragte Baugenehmigung unter verschiedenen Auflagen und eine Abweichung hinsichtlich der Rettungswegführung über Treppen ohne Treppenraum aus der Tiefgarage zu den Einfamilienhäusern. Insbesondere wurde beauflagt, dass für das Bauvorhaben 13 KFZ-Stellplätze nachzuweisen seien, die bis zur Bezugsfertigkeit benutzbar sowie auf Dauer zu erhalten und zu unterhalten seien müssten (Auflage Nr. 23). Der Bescheid wurde dem Antragsteller am … Juni 2021 zugestellt.</p> <p><rd nr="6"/>Der Antragsteller ließ mit Schriftsatz vom 10. Juli 2021, beim Verwaltungsgericht München am gleichen Tag eingegangen, Anfechtungsklage gegen den Baugenehmigungsbescheid vom … Juni 2021 erheben (M 9 K 21.3634). Mit Schriftsatz vom 05. Oktober 2021 beantragte der Antragsteller die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen, die Vollziehung der Baugenehmigung auszusetzen und dem Antragsgegner aufzugeben, die Bauarbeiten mit einer für sofort vollziehbar erklärten Verfügung stillzulegen.</p> <p><rd nr="7"/>Mit Bescheid vom … Dezember 2021 erteilte das Landratsamt der Beigeladenen zu 1) zudem einen Tekturbescheid bezüglich der Nutzungsänderung des Hauses 2 von einem Einfamilienhaus zu einem Zweifamilienhaus, der Vergrößerung der Tiefgarage nach Süden sowie Grundriss- und Fassadenänderungen in allen Häusern. Es wurde u.a. beauflagt, dass für das Bauvorhaben 16 KFZ-Stellplätze nachzuweisen seien, die bis zur Bezugsfertigkeit benutzbar sowie auf Dauer zu erhalten und zu unterhalten seien müssten (Auflage Nr. 23). Der Bescheid wurde dem Antragsteller am … Dezember 2021 zugestellt.</p> <p><rd nr="8"/>Mit Schriftsätzen vom 30. Dezember 2021, beim Verwaltungsgericht München am gleichen Tag eingegangen, hat der Bevollmächtigte des Antragstellers die Änderungsgenehmigung vom … Dezember 2021 in die Klage einbezogen und beantragte ferner:</p> <p><rd nr="9"/>1. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 26. Juli 2021 [sic!] in der geänderten Fassung vom 30. Dezember 2021 gegen die der Beigeladenen zu 1) unter dem … Juni 2021 in der Fassung vom … Dezember 2021 erteilten Baugenehmigung wird angeordnet.</p> <p><rd nr="10"/>2. Die Vollziehung der der Beigeladenen zu 1) durch das Landratsamt Miesbach unter dem … Juni 2021 in der Fassung des Tekturbescheides vom … Dezember 2021 erteilten Baugenehmigung wird ausgesetzt.</p> <p><rd nr="11"/>3. Dem Antragsgegner wird aufgegeben, die von der Beigeladenen zu 1) begonnenen Bauarbeiten mit einer für sofort vollziehbar erklärten Verfügung stillzulegen.</p> <p><rd nr="12"/>Zur Begründung trägt der Antragsteller im Wesentlichen vor: Die Baugenehmigung sei rechtswidrig und verletze den Antragsteller in seinen Rechten. Das streitgegenständliche Bauvorhaben füge sich nicht in die Umgebungsbebauung i.S.v. § 34 BauGB ein, verletze den Gebietsprägungserhaltungsanspruch des Antragstellers und verstoße gegen das Rücksichtnahmegebot. Das Vorhaben stehe in einem krassen Missverhältnis zu dem inneren als auch äußeren Erscheinungsbild des im Zusammenhang bebauten Ortsteils, so dass der Gebietscharakter aufgesprengt werde. Das Gebiet sei einheitlich durch eine großzügige, intendiert lockere als auch mit großen Grünflächen versehene Bebauung geprägt. Die Bebauung bestehe durchgehend aus Einfamilienhäusern in einer gehobenen Wohngegend, denen jeweils überdurchschnittlich große Gärten zur Verfügung stünden. Die Umgebungsbebauung stehe unter dem Leitbild der Förderung sowie des Erhalts der großzügigen Privatsphäre, Ruhe und „Einheits-Individualität“. Sie gebe einen einheitlichen Rahmen für das Vorhabengrundstück vor, welches das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht einhalte. Als singuläre und verdichtete Mehrfamilienwohnanlage stelle sich dieses insbesondere in Ansehung des Maßes der Bebauung als gebietsunverträglich und als Fremdkörper dar. Es liege eine unzulässige Übernutzung der Flächen vor, da es sich nicht um ein verdichtetes Wohngebiet handle. Auch in personeller Hinsicht ergebe sich durch das Vorhaben eine schädliche Bodenübernutzung, da auf der Fläche des Bauvorhabens in dem Gebiet typischerweise nur eine Familie statt vier voneinander unabhängige Familien leben würden. Hierdurch werde ein für das Gebiet untypisches Konfliktpotential ausgelöst. In Ansehung der überbauten Grundstücksflächen weise die streitgegenständliche Bebauung eine wesentlich höhere Dichte von ca. 35% (ohne Wege und Nebenanlagen) bzw. 50% (Miteinbeziehung aller planmäßigen Flächen) auf, während das Grundstück des Antragstellers nur eine Dichte von ca. 13,5% und die unmittelbar umgebende Bebauung durchschnittlich eine Dichte von höchstens 20% aufweise. Hiervon gehe eine erdrückende Wirkung nicht nur für den Antragsteller, sondern auch für das gesamte Gebiet aus. In der näheren als auch weiteren Umgebung gebe es bisher keine Tiefgaragen. Allein das Neuentstehen einer solchen sei für das Gebiet untypisch. Eine Tiefgarage sei vorliegend nicht unerlässlich, um das Vorhabengrundstück baulich nutzen zu können. Der Bedarf nach einer solchen folge vorliegend vielmehr aus der Überdimensionierung des Vorhabens zur Gewinnmaximierung. Die Tiefgaragenrampe grenze unmittelbar an das Grundstück des Antragstellers. Insbesondere beim Ein- und Ausfahren aus der steilen Rampe würden gegenüber dem Antragsteller unzumutbare Lärm-, Geruchs- und Feinstaub-Immissionen erzeugt. Es sei zu erwarten, dass die Werte der TA-Lärm bei 14 Fahrzeugen nicht eingehalten werden können. Weiter würden unzumutbare Geräusch- und Geruchsimmissionen der übermäßig vorhandenen Bewohner hinzutreten. Die Tekturgenehmigung würde die angegriffene Baugenehmigung weiter zum Nachteil des Antragstellers verändern. Die Beigeladene zu 1) habe bereits mit der Bauausführung begonnen.</p> <p><rd nr="13"/>Der Antragsgegner beantragt,</p> <p><rd nr="14"/>die Anträge abzulehnen.</p> <p><rd nr="15"/>Er führt im Wesentlichen aus, dass die Baugenehmigung formell sowie materiell rechtmäßig sei und keine drittschützenden Vorschriften verletze. Das Vorhaben befinde sich im unbeplanten Innenbereich nach § 34 BauGB. Der Einwand des Antragstellers, das Vorhaben würde sich im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen, könne von vornherein keine Rechtsverletzung des Antragstellers begründen, da dem Maß der baulichen Nutzung keine drittschützende Funktion zukomme. Die Anzahl der Wohnungen in einem Gebäude sei kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung präge (Verweis auf BVerwG, B.v. 24.4.1989 - 4 B 72.89 - juris Rn. 7). Vorliegend sei auch keine Verletzung von immissionsschutzrechtlichen Belangen ersichtlich. Die Tiefgarage diene dem Stellplatzbedarf der Wohnnutzung; ein Verstoß gegen § 12 Abs. 2 BauNVO sei nicht ersichtlich. Es sei nicht substantiiert vorgetragen worden, weshalb aufgrund der Tiefgarage mehr Lärm erzeugt werden sollte, als durch oberirdische Stellplätze. Auch die Ein- und Ausfahrt zu einer Tiefgarage für die Hausbewohner sei nicht als so störend anzusehen, dass der Rahmen des Zumutbaren überschritten werde, da im Gegensatz zu einem öffentlichen Parkhaus kein ständiger An- und Abfahrtsverkehr stattfinde.</p> <p><rd nr="16"/>Die Beigeladenen haben bislang im Eilverfahren weder Anträge gestellt noch sich inhaltlich geäußert.</p> <p><rd nr="17"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Behördenakte und die Gerichtsakte in diesem Verfahren sowie in dem Verfahren M 9 K 21.3634 Bezug genommen.</p> <p>II.</p> <p><rd nr="18"/>Die Anträge haben keinen Erfolg.</p> <p><rd nr="19"/>1. Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gemäß §§ 80a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. 80a Abs. 1 Nr. 2, §§ 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist unbegründet.</p> <p><rd nr="20"/>Nach § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Nachbarn gegen die bauaufsichtliche Genehmigung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gem. §§ 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Nachbarn, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen, an. Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch den Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung der Klage ergibt, dass diese sachlich nicht gerechtfertigt ist und letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber der Rechtsbehelf offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich schon jetzt so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei.</p> <p><rd nr="21"/>Im vorliegenden Fall der Anfechtung einer Baugenehmigung durch einen Nachbarn besteht zudem die Besonderheit, dass die Klage in der Hauptsache nur auf die Verletzung solcher Normen gestützt werden kann, die den Nachbarn schützen, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p> <p><rd nr="22"/>Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage wird die Hauptsacheklage des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg haben, da die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung des Tekturbescheids den Antragsteller aller Voraussicht nach nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Interesse der Beigeladenen zu 1), von der Baugenehmigung vorläufig Gebrauch machen zu können, ist daher höher zu bewerten als das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.</p> <p><rd nr="23"/>a) Die von dem Antragsteller erhobenen Einwendungen hinsichtlich des Einfügens des Bauvorhabens greifen nach summarischer Prüfung nicht durch.</p> <p><rd nr="24"/>aa) Der Antragsteller wird durch das Vorhaben nicht in seinem Gebietserhaltungsanspruch verletzt.</p> <p><rd nr="25"/>Der allgemeine bauplanungsrechtliche Gebietserhaltungsanspruch gewährt dem Eigentümer eines Grundstücks hinsichtlich der durch einen Bebauungsplan festgesetzten Nutzungsart einen Abwehranspruch gegen die Genehmigung eines Bauvorhabens im Plangebiet, das von der zulässigen Nutzungsart abweicht und zwar unabhängig davon, ob die zugelassene gebietswidrige Nutzung des Nachbarn ihn selbst unzumutbar beeinträchtigt oder nicht (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.7.2012 - 2 B 12.1211 - juris Rn. 27). Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen (BVerwG, U.v. 11.5.1989 - 4 C 1.88 - juris Rn. 43).</p> <p><rd nr="26"/>Ein Gebietserhaltungsanspruch ist auch außerhalb eines mittels Bebauungsplans festgesetzten Gebiets denkbar. Die zugrundeliegende Annahme, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist, trifft auch im Falle eines typisierten, faktischen Baugebiets nach § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB i.V.m. der Baunutzungsverordnung zu. Aus der Gleichstellung beplanter und faktischer Baugebiete entsprechend der Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung durch § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB ergibt sich, dass ein identischer Nachbarschutz schon vom Bundesgesetzgeber festgelegt worden ist (BVerwG, B.v. 22.12.2011 - 4 B 32.11 - juris Rn. 5). Dies bedeutet, dass auch innerhalb von faktischen Baugebieten über § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB eine nachbarschützende Wirkung entsteht. Der Grundsatz, dass sich ein Nachbar im Plangebiet auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird, lässt sich daher auf den Nachbarschutz im faktischen Baugebiet übertragen.</p> <p><rd nr="27"/>Ausgehend davon liegt keine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs vor. Das Vorhabengrundstück und die Grundstücke des Antragstellers liegen - insoweit sind sich auch die Beteiligten einig - im unbeplanten Innenbereich. Vorliegend spricht - auch unter Zugrundelegung der in den Akten befindlichen Lagepläne und der vorliegenden Luftbilder (abgerufen über BayernAtlas und Google Maps) - einiges dafür, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Gebiet um ein faktisches reines oder faktisches allgemeines Wohngebiet, §§ 3, 4 BauNVO, handelt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Gebiet nicht oder nicht vorwiegend dem Wohnen dient. Durch die streitgegenständliche Baugenehmigung wird eine Wohnnutzung auf dem Vorhabengrundstück genehmigt. Das als Wohnnutzung genehmigte Vorhaben der Beigeladenen zu 1) fügt sich daher nach seiner Art der Nutzung in die nähere Umgebung ein.</p> <p><rd nr="28"/>bb) Im vorliegenden Fall vermag sich der Antragsteller auch nicht auf einen Anspruch auf Erhaltung der Gebietsprägung zu berufen.</p> <p><rd nr="29"/>Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind die in den §§ 2 bis 14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Aus den Ausführungen im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Mai 2002 (BVerwG, B.v. 13.5.2002 - 4 B 86/01 - juris Rn. 4 f) zu § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist teilweise der Schluss gezogen worden, das Bauplanungsrecht beinhalte neben dem Gebietserhaltungsanspruch, dem Abwehranspruch wegen Verletzung einer (sonstigen) drittschützenden Festsetzung des Bebauungsplans und dem Abwehranspruch wegen Verletzung des Rücksichtnahmegebots auch einen hiervon unabhängigen „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“, wonach ein Vorhaben, das im konkreten Baugebiet hinsichtlich der Nutzungsart an sich entweder allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, gleichwohl als gebietsunverträglich vom Nachbarn im (auch faktischen) Plangebiet abgewehrt werden können soll, wenn es der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspreche, wenn es also - bezogen auf den Gebietscharakter des Baugebietes, in dem es verwirklicht werden soll - aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirke und deswegen gebietsunverträglich sei. Von anderer Seite wird demgegenüber die rechtliche Existenz eines eigenständigen bauplanungsrechtlichen „Gebietsprägungserhaltungsanspruchs“ angezweifelt und die vom Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2002 entwickelten Grundsätze als Maßgaben für die Anwendung des (nachbarschützenden) Rücksichtnahmegebots - etwa im Anwendungsbereich von § 31 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB - verstanden (vgl. zum Streitstand BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 15 ZB 19.1221 - juris Rn. 9).</p> <p><rd nr="30"/>Unabhängig von dieser Streitfrage kann ein „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO (i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB) - sei es als eigenständiger Anspruch, sei es als Bestandteil des Rücksichtnahmegebots (mit dann zu fordernder „fühlbarer“ Beeinträchtigung des Nachbarn) - von vornherein nur einschlägig sein, wenn das den Vorgaben gem. §§ 2 - 14 BauNVO (hier i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB) an sich entsprechende Bauvorhaben bei typisierender Betrachtung gleichwohl als gebietsunverträglich zu bewerten ist, weil es der allgemeinen Zweckbestimmung des Baugebiets widerspricht. Für ein von dem Antragsteller behauptetes (nachbar-) rechtswidriges Umschlagen von Quantität in Qualität in diesem Sinne müsste das Bauvorhaben die Art der baulichen Nutzung derart erfassen oder berühren, dass bei typisierender Betrachtung im Ergebnis ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets angenommen werden müsste (vgl. BVerwG, U.v. 16.03.1995 - 4 C 3.94 - juris Rn. 17). Da es sich bei § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO um eine Ausnahmevorschrift zur Art der baulichen Nutzung handelt, ist ein solcher Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets aber nur unter strengen Voraussetzungen anzunehmen. Der Widerspruch der hinzukommenden baulichen Anlage oder deren Nutzung muss sich daher bei objektiver Betrachtungsweise offensichtlich aufdrängen; dass das Neubauvorhaben oder die neue Nutzung nicht in jeder Hinsicht mit der vorhandenen Bebauung im Einklang steht, genügt dafür nicht (BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 15 ZB 19.1221 - juris Rn. 10).</p> <p><rd nr="31"/>Diese strengen Voraussetzungen sind hier aller Voraussicht nach nicht erfüllt. Der von der Beigeladenen zu 1) beantragte und in der Fassung des Tekturbescheids genehmigte Nutzungsumfang führt nicht zu einer Veränderung des Gebietscharakters. Durch das streitgegenständliche Vorhaben entstehen letztlich, auch wenn die drei Häuser im Vergleich zur Umgebungsbebauung möglicherweise dichter nebeneinander realisiert werden, „nur“ zwei freistehende zweigeschossige Zweifamilienhäuser und ein freistehendes zweigeschossiges Einfamilienhaus. Selbst wenn man zugunsten des Antragstellers davon ausgeht, dass die nähere Umgebung vorliegend durch freistehende Einfamilienhäuser geprägt ist, und durch das Vorhaben insgesamt betrachtet die übliche Bewohnerzahl im Gebiet überschritten wird, läge hierin keine Überschreitung vor, die eine Veränderung des Gebietscharakters besorgen ließe. Die Zahl der Wohnungen - jedenfalls im hier vorliegenden Anwendungsbereich des § 34 BauGB - ist kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung prägt (BayVGH, B.v. 22.6.2021 - 9 ZB 21.466 - juris Rn. 8). Zwar trifft es zu, dass nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB in Bebauungsplänen die höchstzulässige Zahl der Wohnungen in Wohngebäuden festgesetzt werden kann und damit der Charakter eines Wohngebiets durch die Anzahl der Wohnungen in den Häusern (mit-)bestimmt sein kann (vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 - 4 C 5.87 - juris Rn. 45). Gleichwohl kennen das Baugesetzbuch und die Baunutzungsverordnung keine Unterscheidung zwischen Wohnen in Einfamilienhäusern und Wohnen in Mehrfamilienhäusern. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen ein Wohnen in Mehrfamilienhäusern gegenüber einem Wohnen in Einfamilienhäusern negativ zu beurteilen sein könnte (BayVGH, B.v. 4.3.2021 - 15 ZB 20.3151 - juris Rn. 16). Ausgehend davon ist im Falle des streitgegenständlichen Vorhabens erst recht nicht ersichtlich, warum ein Wohnen in Zweifamilienhäusern gegenüber einem Wohnen in Einfamilienhäusern negativ zu beurteilen wäre. Es ist vorliegend auch nicht zu erkennen, dass aufgrund der Dimensionierung des Bauvorhabens und der Bebauungsdichte eine neue Art der baulichen Nutzung in das reine oder allgemeine Wohngebiet hineingetragen wird. Ebenso wenig steht zu erwarten, dass das Vorhaben bei insgesamt nur fünf Wohneinheiten signifikant aus dem Rahmen fallende Folgewirkungen zeitigen wird.</p> <p><rd nr="32"/>cc) Der Antragsteller kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sich das Vorhaben dem Maß nach und im Hinblick auf die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Umgebung einfüge. Das Maß der baulichen Nutzung, die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und die Bauweise (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) sind nicht drittschützend (BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 3 m.w.N.), weshalb sich der Antragsteller auf eine subjektive Rechtsverletzung diesbezüglich nicht berufen kann.</p> <p><rd nr="33"/>b) Das Bauvorhaben verstößt nach summarischer Prüfung auch nicht zu Lasten des Antragstellers gegen das Gebot der Rücksichtnahme, § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO.</p> <p><rd nr="34"/>Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1.04 - juris Rn. 22; U.v. 29.11.2012 - 4 C 8.11 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 - 4 B 215.96 - juris Rn. 9). Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot kann etwa in Betracht kommen, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens das Wohngebäude des Nachbarn „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von der konkreten Situation im Einzelfall ab. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt den Nachbarn aber nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 - 15 CS 11.1101 - juris Rn. 17). Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, ist regelmäßig als zumutbar hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 6).</p> <p><rd nr="35"/>Unter Anwendung dieser Grundsätze ist das Vorhaben voraussichtlich nicht rücksichtlos.</p> <p><rd nr="36"/>aa) Dem streitgegenständlichen Bauvorhaben kommt insbesondere aller Voraussicht nach eine einmauernde bzw. verschattende oder erdrückende Wirkung nicht zu.</p> <p><rd nr="37"/>In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 - juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 - 9 CS 14.2441 - juris Rn. 31; B.v. 23.4.2014 - 9 CS 14.222 - juris Rn. 12 m.w.N.). Für die Annahme der „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 - 2 CS 10.454 - juris Rn. 5).</p> <p><rd nr="38"/>Das streitgegenständliche Vorhaben stellt keinen übergroßen Baukörper dar. Ausweislich der genehmigten Eingabeplanung liegt die Wandhöhe der drei Häuser traufseitig bei 5,00m (Haus 1 und Haus 3) bzw. 6,00m (Haus 2), die Firsthöhe soll 6,77m (Haus 1) bzw. 7,92m (Haus 2) bzw. 7,40m (Haus 3) betragen. Selbst wenn das Wohngebäude des Antragstellers eine geringere Höhe aufweisen sollte, dürfte ein etwaiger Höhenunterschied - wenn überhaupt - minimal sein. Nach der zitierten Rechtsprechung müsste es sich jedoch um massiv unterschiedliche Höhenentwicklungen handeln, um sich als rücksichtslos darzustellen. Die Annahme einer Rücksichtslosigkeit scheidet vorliegend offensichtlich aus. Auch im Hinblick auf das Volumen stellt das streitgegenständliche Vorhaben keinen übergroßen Baukörper dar. Die Fassaden der drei Häuser treten gegenüber dem Anwesen des Antragstellers nicht als durchgehend geschlossene Außenwand in Erscheinung, sondern als drei freistehende Häuser mit jeweils einer Wandlänge von 14,00m (Haus 1 und Haus 2) bzw. 16,00m (Haus 3). Die Distanz zwischen Haus 1 und Haus 2 beträgt 16,80m sowie zwischen Haus 2 und Haus 3 13,74m; im Vergleich dazu beträgt ausweislich des Kartenmaterials des Geodatenportals BayernAtlas die Distanz zwischen dem Wohnhaus des Antragstellers und dem östlich angrenzenden Nachbarwohnhaus auf Fl.Nr. 233/8 ca. 14,00m; die Distanzen bewegen sich mithin in einem vergleichbaren Rahmen. Im Übrigen hält das Bauvorhaben nach summarischer Prüfung die erforderlichen Abstandsflächen gegenüber dem Antragsteller ein, die eine Belichtung, Belüftung und Besonnung sicherstellen sollen. Auch wurden von Antragstellerseite insoweit keine Einwendungen vorgebracht. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass bei Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächen zumindest aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt sein kann (BVerwG, B.v. 11.1.1999 - 4 B 128.98 - juris Rn.3). Vorliegend ist nichts ersichtlich, was gegen die Annahme eines solchen Regelfalls spricht.</p> <p><rd nr="39"/>bb) Für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die Tiefgaragenzufahrt an der südlichen Grundstücksgrenze zur Fl.Nr. 233/11 (R* …traße) sind keine hinreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Wegen der generellen Zulässigkeit von Stellplätzen und Garagen selbst in reinen Wohngebieten (§ 12 Abs. 2 BauNVO) müssen die (unmittelbaren) Nachbarn die von der im Zusammenhang mit einer zulässigen Wohnbebauung stehenden Nutzung von Stellplätzen und Garagen ausgehenden Emissionen im Regelfall hinnehmen (vgl. BayVGH, B. v. 9.9.2009 - 2 CS 09.1977 - juris Rn. 2; B. v. 2.9.2013 - 14 ZB 13.1193 - juris Rn. 14). Nur das Vorliegen besonderer Umstände rechtfertigt im Einzelfall die Annahme, dass die Nutzung der Stellplätze und Garagen zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung für die Nachbarschaft führt. Der Antragsteller hat vorliegend weder substantiiert dargelegt noch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass von der Tiefgaragenzufahrt Belastungen ausgehen, die das übliche Maß und die von der genehmigten Wohnnutzung üblicherweise ausgehende Beeinträchtigung des Nachbarn überschreiten. Mit 16 Stellplätzen für insgesamt fünf Wohneinheiten entspricht das Vorhaben dem Stellplatzbedarf nach der Gestaltungssatzung der Beigeladenen zu 2) (vgl. Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayBO i.V.m. Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 BayBO i.V.m. § 5.2, 5.3 der Gestaltungssatzung der Beigeladenen zu 2)). Weiter spricht die örtliche Situation gegen eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots. Wie sich aus der Eingabeplanung ergibt, soll die Tiefgaragenzufahrt zwar an der südlichen Grundstücksgrenze des Vorhabengrundstücks errichtet werden, jedoch nicht in dem Bereich, in dem das Wohngrundstück des Antragstellers angrenzt. Die Tiefgaragenrampe soll vielmehr bereits auf Höhe des östlich angrenzenden Nachbarwohnhauses auf Fl.Nr. 233/8 enden. Die Tiefgaragenrampe ist mithin an der nähesten Stelle ca. 11,00m zur Wohngrundstücksgrenze des Antragstellers und ca. 21,00m zu dessen Wohnhaus entfernt. Hinzu kommt, dass sich die Fahrzeuge in diesem Bereich bereits unterhalb der Grundstücksoberfläche befinden dürften. Die auf das Wohngrundstück des Antragstellers einwirkenden Immissionen dürften sich daher insgesamt in Grenzen halten. Im Übrigen erscheint die Anlage der Tiefgarage mit der Zufahrt hinsichtlich der von Fahrzeugen ausgehenden Emissionen und der auf das Grundstück des Antragstellers einwirkenden Immissionen rücksichtsvoller zu sein als die Anlage von oberirdischen Stellplätzen und das damit zusammenhängende Befahren des Vorhabengrundstücks (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2013 - 14 CE 13.50 - juris Rn. 6). </p> <p><rd nr="40"/>cc) Auch soweit der Antragsteller vorbringt, dass er durch ein zunehmendes Verkehrsaufkommen in der näheren Umgebung in seinen Rechten verletzt sei, kann diesbezüglich nach summarischer Prüfung keine abwehrfähige Rücksichtslosigkeit durch das streitgegenständliche Bauvorhaben erkannt werden.</p> <p><rd nr="41"/>Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann zwar grundsätzlich in Betracht kommen, wenn sich die Erschließungssituation eines Grundstücks etwa durch eine vorhabenbedingte Überlastung einer das Grundstück des Betroffenen erschließenden Straße oder durch unkontrollierten Parksuchverkehr erheblich verschlechtert. Auch kann eine unzureichende Stellplatzzahl eines Bauvorhabens gegenüber den Eigentümern der vom Verkehr betroffenen Grundstücke im Einzelfall ausnahmsweise im bauplanungsrechtlichen Sinne rücksichtslos sein (BayVGH, B.v. 8.1.2019 - 9 CS 17.2482 - juris Rn. 20). Hierfür bestehen im vorliegenden Fall jedoch nach summarischer Prüfung keine Anhaltspunkte. Insbesondere entspricht das Vorhaben - wie oben ausgeführt - dem Stellplatzbedarf nach der Gestaltungssatzung der Beigeladenen zu 2). Auch ist vorliegend mit einem erheblichen - über die Wohnnutzung hinausgehenden - Fußgänger- bzw. Fahrzeugverkehr nicht zu rechnen. Die mit einem Wohnbauvorhaben üblicherweise verbundenen Verkehrsbelastungen sind grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 20.3.2018 - 15 CS 17.2523 - juris Rn. 43). Individuelles Fehlverhalten ist städtebaulich nicht relevant; dem ist gegebenenfalls mit Mitteln des Ordnungsrechts zu begegnen (BVerwG, B.v. 6.12.2011 - 4 BN 20.11 - juris Rn. 5). Das dem Antragsteller durch das Eigentum vermittelte Recht zur bestimmungsgemäßen Nutzung seines Grundstücks begründet auch kein Recht darauf, dass eine bisher gegebene Verkehrslage aufrechterhalten bleibt (VG München, U.v. 26.2.2018 - M 8 K 16.2434 - juris Rn. 136 m.w.N.). Im Übrigen wird das Vorhabengrundstück von der Fl.Nr. 233 erschlossen, während die Zufahrt zum Wohngrundstück des Antragstellers von der Fl.Nr. 233/11 erfolgt. Besonders beengte Verhältnisse sind vorliegend ebenfalls nicht ersichtlich.</p> <p><rd nr="42"/>dd) Auch die von den künftigen Bewohnern des Bauvorhabens verursachten Geräusche sind von dem Antragsteller als sozialadäquat hinzunehmen. Bei den diesbezüglichen Geräuschimmissionen handelt es sich in der vorliegenden bauplanungsrechtlichen Situation um grundsätzlich hinzunehmende Wohngeräusche (vgl. BVerwG, U.v. 23.8.1996 - 4 C 13/94 - juris Rn. 70, 72; BayVGH, U.v. 13.9.2012 - 2 B 12.109 - juris Rn. 38; B.v. 5.12.2012 - 2 CS 12.2290 - juris Rn. 7; B.v. 14.4.2014 - 15 ZB 13.205 - juris Rn. 6). (Lärm- und Geräusch-) Immissionen, die aus den Lebensäußerungen resultieren, die mit dem im Wohngebiet vorgesehenen Wohnen einhergehen, sind daher nicht geeignet, eine Rücksichtslosigkeit der Wohnnutzung zu begründen.</p> <p><rd nr="43"/>c) Dass andere Rechtsvorschriften, auf die sich der Antragsteller als Drittbetroffener erfolgreich stützen könnte, durch die Baugenehmigung verletzt sein könnten, ist nicht ersichtlich.</p> <p><rd nr="44"/>2. Nach alledem wird die Klage des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg haben. Das Interesse an der Vollziehung der Baugenehmigung überwiegt. Die im einstweiligen Rechtsschutz gestellten Anträge sind insgesamt abzulehnen.</p> <p><rd nr="45"/>3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, Abs. 3 Hs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst, da sie keine Anträge gestellt und sich daher nicht dem Prozesskostenrisiko ausgesetzt haben.</p> <p><rd nr="46"/>4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nummern 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht der Hälfte des voraussichtlich im Hauptsacheverfahren anzusetzenden Streitwerts.</p> </div>
346,837
olgce-2022-09-22-8-u-33621
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8 U 336/21
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-10-06T10:01:17"
"2022-10-17T11:10:50"
Urteil
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten wird das Urteil der 18. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 8. November 2021 unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">1. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Vermeidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, die Ordnungshaft zu vollziehen an ihren gesetzlichen Vertretern, zu unterlassen, in Bezug auf Verträge über Rechtsschutzversicherungen die nachfolgende oder eine mit dieser inhaltsgleiche Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, ausgenommen gegenüber einer Person, die in ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt (Unternehmer), zu verwenden sowie sich auf die Klausel bei der Abwicklung derartiger Verträge zu berufen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">„Mit der Mitteilung über die Rechtsschutzablehnung ist der Versicherungsnehmer darauf hinzuweisen, dass er, soweit er der Auffassung des Versicherers nicht zustimmt und seinen Anspruch auf Rechtsschutz aufrechterhält, innerhalb eines Monates die Einleitung eines Schiedsgutachterverfahrens vom Versicherer verlangen kann.“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 260,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 8. Juni 2021 zu zahlen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">4. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz und des Berufungsverfahrens haben der Kläger zu ¾ und die Beklagte zu ¼ zu tragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">5. Dieses Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung des jeweiligen Vollstreckungsgläubigers gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des insgesamt vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">6. Die Revision wird zugelassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">7. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird – endgültig – auf 10.000,00 € festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>A.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Kläger macht als Verbraucherverband gegen die Beklagte Unterlassungsansprüche gemäß § 1 UKlaG hinsichtlich der Verwendung von Klauseln in Rechtsschutzversicherungsbedingungen geltend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Kläger ist der Dachverband ... in Deutschland. Die Arbeit des Klägers wird aus Mitteln des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, aus Projektmitteln und durch Mitgliedsbeiträge finanziert. Gemäß § 2 seiner Satzung bezweckt der Kläger, Verbraucherinteressen wahrzunehmen und den Verbraucherschutz zu fördern, die Stellung des Verbrauchers in der sozialen Marktwirtschaft zu stärken und zur Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Die Beklagte ist eine Versicherungsgesellschaft, die unter anderem Rechtsschutzversicherungen anbietet. Im Rahmen der von ihr angebotenen Rechtsschutzversicherungen verwendet die Beklagte die als Anlage K 2 vorgelegten Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung – M. ARB 2019 (im Folgenden: ARB).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Darin enthalten sind folgende Klauseln:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<strong><em>§ 3 a Ablehnung des Rechtsschutzes wegen mangelnder Erfolgsaussichten oder wegen Mutwilligkeit – Schiedsgutachterverfahren</em></strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>(1) […]</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>(2) Mit der Mitteilung über die Rechtsschutzablehnung ist der Versicherungsnehmer darauf hinzuweisen, dass er, soweit er der Auffassung des Versicherers nicht zustimmt und seinen Anspruch auf Rechtsschutz aufrechterhält, innerhalb eines Monates die Einleitung eines Schiedsgutachterverfahrens vom Versicherer verlangen kann. Mit diesem Hinweis ist der Versicherungsnehmer aufzufordern, alle nach seiner Auffassung für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens wesentlichen Mitteilungen und Unterlagen innerhalb der Monatsfrist dem Versicherer zuzusenden. Außerdem ist er über die Kostenfolgen des Schiedsgutachter-Verfahrens gemäß Absatz 5 und über die voraussichtliche Höhe dieser Kosten zu unterrichten.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>(3) […]</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>(4) Schiedsgutachter ist ein seit mindestens fünf Jahren zur Rechtsanwaltschaft zugelassener Rechtsanwalt, der von dem Präsidenten der für den Wohnsitz des Versicherungsnehmers zuständigen Rechtsanwaltskammer benannt wird. Dem Schiedsgutachter sind vom Versicherer alle ihm vorliegenden Mitteilungen und Unterlagen, die für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens wesentlich sind, zur Verfügung zu stellen. Er entscheidet im schriftlichen Verfahren; seine Entscheidung ist für den Versicherer bindend.</em>“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Der Kläger hat gemeint, Teile der in § 3a ARB enthaltenen Klauseln seien infolge einer Abweichung von der Regelung in § 128 Satz 1 VVG gemäß § 129 VVG unwirksam. Jedenfalls stellten sie eine unangemessene Benachteiligung gemäß § 307 BGB dar und seien daher nichtig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Der Kläger hat beantragt, wie folgt zu erkennen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">1. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Vermeidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, die Ordnungshaft zu vollziehen an ihren gesetzlichen Vertretern, zu unterlassen, in Bezug auf Verträge über Rechtsschutzversicherungen nachfolgende oder mit diesen inhaltsgleiche Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, ausgenommen gegenüber einer Person, die in ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt (Unternehmer), zu verwenden sowie sich auf die Klauseln bei der Abwicklung derartiger Verträge zu berufen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">a) Mit der Mitteilung über die Rechtsschutzablehnung ist der Versicherungsnehmer darauf hinzuweisen, dass er, soweit er der Auffassung des Versicherers nicht zustimmt und seinen Anspruch auf Rechtsschutz aufrechterhält, innerhalb eines Monates die Einleitung eines Schiedsgutachterverfahrens vom Versicherer verlangen kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">b) Mit diesem Hinweis ist der Versicherungsnehmer aufzufordern, alle nach seiner Auffassung für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens wesentlichen Mitteilungen und Unterlagen innerhalb der Monatsfrist dem Versicherer zuzusenden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">c) Schiedsgutachter ist ein seit mindestens fünf Jahren zur Rechtsanwaltschaft zugelassener Rechtsanwalt, der von dem Präsidenten der für den Wohnsitz des Versicherungsnehmers zuständigen Rechtsanwaltskammer benannt wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">d) Dem Schiedsgutachter sind vom Versicherer alle ihm vorliegenden Mitteilungen und Unterlagen, die für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens wesentlich sind, zur Verfügung zu stellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 260,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Beklagte hat beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Klage abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Beklagte hat gemeint, die angegriffenen Klauseln seien jeweils wirksam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Das Landgericht hat mit Urteil vom 8. November 2021 (Bl. 107 ff. d. A.), auf das wegen der getroffenen Feststellungen, des Tenors und den einzelnen Entscheidungsgründen Bezug genommen wird, die Beklagte verurteilt, es zu unterlassen, die in den Klageanträgen zu 1 b), c) und d) genannten Klauseln zu verwenden, und im Übrigen die Klage abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Hiergegen richten sich die Berufungen des Klägers und der Beklagten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Der Kläger ist der Ansicht, die Regelungen in §§ 128, 129 VVG seien so zu verstehen, dass Nachteile, die darin nicht ausdrücklich vorgesehen seien, unzulässig seien. Die Monatsfrist in § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB stelle eine nachteilige Abweichung in diesem Sinne dar. Der Weg, sich entgegen einer Klage gegen den Versicherer für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens zu entscheiden, werde hierdurch verkürzt. Insoweit müsse der Versicherer auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit für einen kürzeren Zeitraum als der Verjährungsfrist geschützt werden. Die Abkürzung der Möglichkeit zur Durchführung eines Schiedsgutachterverfahrens stelle eine Abkürzung der Verjährungsfrist dar. Das Landgericht habe nicht berücksichtigt, dass die Regelung nach der kundenfeindlichsten Auslegung zu verstehen sei. Die Regelung sei zudem gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB intransparent. Es sei unklar, wann die Monatsfrist zu laufen beginne und wann sie ende. Entgegen der Auffassung des Landgerichts sei die Verwendung der Regelung in § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB uneingeschränkt zu untersagen. Soweit das Landgericht in der Tenorierung eine Formulierung aufgenommen habe, durch deren Berücksichtigung in der Verwendung die Zulässigkeit der Klausel hergestellt werden solle, sei das Landgericht hierzu nicht berechtigt gewesen. Aus denselben Gründen sei die Verwendung der Regelung in § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB uneingeschränkt zu untersagen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts Hannover die Beklagte über die erstinstanzlich zuerkannten Ansprüche hinaus weiter zu verurteilen,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">es bei Vermeidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, die Ordnungshaft zu vollziehen an ihren gesetzlichen Vertretern, zu unterlassen, in Bezug auf Verträge über Rechtsschutzversicherungen nachfolgende oder mit diesen inhaltsgleiche Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, ausgenommen gegenüber einer Person, die in ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt (Unternehmer), zu verwenden sowie sich auf die Klauseln bei der Abwicklung derartiger Verträge zu berufen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">a) Mit der Mitteilung über die Rechtsschutzablehnung ist der Versicherungsnehmer darauf hinzuweisen, dass er, soweit er der Auffassung des Versicherers nicht zustimmt und seinen Anspruch auf Rechtsschutz aufrechterhält, innerhalb eines Monates die Einleitung eines Schiedsgutachterverfahrens vom Versicherer verlangen kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">b) Schiedsgutachter ist ein seit mindestens fünf Jahren zur Rechtsanwaltschaft zugelassener Rechtsanwalt, der von dem Präsidenten der für den Wohnsitz des Versicherungsnehmers zuständigen Rechtsanwaltskammer benannt wird.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">c) Dem Schiedsgutachter sind vom Versicherer alle ihm vorliegenden Mitteilungen und Unterlagen, die für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens wesentlich sind, zur Verfügung zu stellen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Berufung des Klägers zurückzuweisen und</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">unter Abänderung des Urteils des Landgerichts die Klage insgesamt abzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>Die Beklagte ist der Ansicht, das Landgericht habe zu Unrecht die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB als unwirksam angesehen. Die Regelung enthalte keine Ausschlussfrist zu Lasten des Versicherungsnehmers. Der Versicherungsnehmer sei, bis auf die Regelung zur Kostentragungspflicht, nicht Adressat der Regelung. § 3a Abs. 2 und 3 ARB regelten ausschließlich die Pflichten des Versicherers. Dass dem Versicherer die Pflicht zur Setzung der Monatsfrist auferlegt werde, besage nichts über die Folgen der Fristversäumung durch den Versicherungsnehmer. Insofern werde die Fristversäumung nicht sanktioniert. Die Regelung sei auch nicht unbestimmt. Darin werde nicht definiert, welches die objektiv maßgeblichen Unterlagen seien. Vielmehr werde dem Versicherungsnehmer lediglich die Möglichkeit gegeben, die nach seiner subjektiven Einschätzung maßgeblichen Unterlagen vorzulegen. Zu Unrecht habe das Landgericht die Regelung in § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB als unwirksam erachtet. Darin werde lediglich die Benennung des Gutachters geregelt. Durch das Fehlen einer Regelung zur Ablehnung könne das Benennungsverfahren nicht unwirksam werden. Entgegen der Ansicht des Landgerichts sei die Möglichkeit der Ablehnung ausdrücklich geregelt. Aus Ziffer I. 6. der Grundsätze der Bundesrechtsanwaltskammer und des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungsgesellschaft e. V. für das Schiedsverfahren der Rechtsschutzversicherung gelte das Ablehnungsrecht ohne zeitliche Einschränkung. In der Klausel liege auch keine strukturelle Benachteiligung des Versicherungsnehmers, weil eine Parteilichkeit des Gutachters in gleicher Weise den Versicherer treffen könne. Schließlich habe das Landgericht die Regelung in § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB zu Unrecht als unwirksam erachtet. Auch insoweit werde ausschließlich eine Pflicht des Versicherers geregelt. Rechte des Versicherungsnehmers würden hierdurch nicht geregelt, insbesondere nicht beschränkt. Hieraus ergebe sich nicht, dass der Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit habe, Unterlagen einreichen zu können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>B.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Die zulässigen Berufungen des Klägers und der Beklagten sind jeweils teilweise begründet. Die nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung, § 513 Abs. 1 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Die Klausel in § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB ist unwirksam; im Übrigen sind die streitgegenständlichen Klauseln wirksam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>I. zu § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>1. Der Kläger kann gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG, § 307 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB von der Beklagten Unterlassung verlangen. Die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB ist wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, 2 BGB unwirksam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>a. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, ist § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB dahingehend auszulegen, dass es sich bei der Monatsfrist um eine Ausschlussfrist handelt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>aa. Vor der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB ist die Klausel zunächst auszulegen, um Klarheit über ihren zu kontrollierenden Inhalt zu schaffen (BGH, Urteil vom 23. Juni 2004 – IV ZR 130/03 –, Rn. 16, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom 26. Januar 2022 – IV ZR 144/21 –, Rn. 10, juris). Sind mehrere Auslegungsmöglichkeiten rechtlich vertretbar, kommt die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zur Anwendung. Unklar gemäß § 305c Abs. 2 BGB sind Klauseln, bei denen nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel verbleibt und mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen vertretbar sind (BGH, Urteil vom 14. Juni 2017 – IV ZR 161/16 –, Rn. 12, juris). Danach ist die scheinbar kundenfeindlichste Auslegung im Ergebnis regelmäßig die dem Kunden günstigste, da sie häufig erst die Inhaltskontrolle eröffnet bzw. zu einer unangemessenen Benachteiligung und damit zur Unwirksamkeit führt (BGH, Urteil vom 05. Juni 2018 – XI ZR 790/16 –, Rn. 37, juris; Basedow, in: Münchener Kommentar, BGB, 8. Aufl. (2019), § 305c BGB, Rn. 49). Außer Betracht zu bleiben haben dabei solche Verständnismöglichkeiten, die zwar theoretisch denkbar, praktisch aber fernliegend und nicht ernstlich in Erwägung zu ziehen sind (BGH, Urteil vom 05. Juni 2018, a. a. O.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>bb. Gemessen hieran ist die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB zu Lasten der Beklagten aufgrund mehrerer Deutungsmöglichkeiten so zu verstehen, dass nach Ablauf der Monatsfrist die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens vom Versicherungsnehmer nicht mehr verlangt werden kann. Denn hierbei handelt es sich um die kundenfeindlichere Auslegungsmöglichkeit von zwei möglichen Auslegungsvarianten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>(1) Die Klausel kann nämlich einerseits als Ausschlussfrist verstanden werden (so Piontek, in: Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl. (2021), ARB 2010, § 3a, Rn. 22;<br>Obarowski, in: Beckmann/Beckmann-Matusche, Versicherungsrechts-Handbuch, § 37, Rn. 552). Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird aus dem Wortlaut der Regelung zunächst entnehmen, dass sie eine Verpflichtung ausschließlich gegenüber dem Versicherer enthält, den Versicherungsnehmer auf die Möglichkeit, die Durchführung eines Schiedsgutachterverfahrens innerhalb eines Monats zu verlangen, hinzuweisen. Entgegen der Auffassung der Beklagten wird ein Versicherungsnehmer hieraus jedoch nicht entnehmen, dass die Regelung ausschließlich Rechtsfolgen für den Versicherer enthält. Denn die Hinweispflicht des Versicherers enthält eine konkrete Monatsfrist für die Einleitung des Schiedsgutachterverfahren. Der Versicherungsnehmer wird hieraus entnehmen, dass die Hinweispflicht sich inhaltlich auch auf die Fristsetzung der Monatsfrist bezieht. Der Versicherer ist demnach verpflichtet, dem Versicherungsnehmer die Frist zu setzen und hierbei keine andere als die Monatsfrist zugrunde zu legen. Der Versicherungsnehmer wird aus der Verpflichtung zur Setzung dieser konkreten Frist zugleich entnehmen, dass es sich hierbei auch um eine für seine Rechte und Pflichten wesentliche Frist handelt. Denn die Verpflichtung des Versicherers, den Versicherungsnehmer auf eine konkrete – nicht disponible – Frist hinzuweisen, kann aus Sicht eines verständigen Versicherungsnehmers nur die Bedeutung haben, dass der Versicherungsnehmer vor der Versäumung der Frist geschützt werden soll. Ein solcher durch einen verpflichtenden Hinweis gewährleisteter Schutz hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn an die Versäumung der Frist Nachteile des Versicherungsnehmers geknüpft sind, vor denen er durch die Hinweispflicht geschützt werden soll. Aus Sicht des Versicherungsnehmers machte die Regelung inhaltlich keinen Sinn, wenn die Versäumung der Frist keine Folgen hätte und eine etwaige Frist auch nicht einen Monat betrüge. Dann wäre ein Hinweis auf eine ohne Folgen bleibende konkrete Frist nicht nur überflüssig, sondern auch irreführend.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>(2) Demgegenüber ist nicht ausgeschlossen, dass der Regelung auch ein anderer Inhalt zugrunde gelegt werden kann. So wird zum Teil vertreten, dass auch bei Fristversäumung sich der Rechtsschutzversicherer auf die Fristversäumung nicht berufen könne, so dass die Überschreitung der Monatsfrist folgenlos sei (Schmitt, in: Harbauer, ARB, 9. Aufl. (2018), ARB 2010 § 3a, Rn. 32; Münkel, in: Rüffer/<br>Halbach/Schimikowski, VVG, 4. Aufl. (2020), ARB 2010, § 3a, Rn. 7; Richter, in: Lanheid/Wandt, Münchener Kommentar zum VVG, 2. Aufl. (2017), § 128 VVG, Rn. 42). Denn § 3a ARB sehe keine Sanktion der Fristversäumung vor und mit einer solchen Sanktion würde die Regelung wegen eines Abweichens zum Nachteil des Versicherungsnehmers von § 128 VVG gemäß § 129 VVG unwirksam sein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>b. Die demnach nach § 305c Abs. 2 BGB zugrunde zu legende kundenfeindlichere Auslegung ist gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, 2 BGB unwirksam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>aa. Danach sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn sie den Vertragspartner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass die Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben, dass die Klausel die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen soweit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann. Dem Versicherungsnehmer soll bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vor Augen geführt werden, in welchem Umfang er Versicherungsschutz erlangt und welche Umstände seinen Versicherungsschutz gefährden. Nur dann kann er die Entscheidung treffen, ob er den angebotenen Versicherungsschutz nimmt oder nicht (BGH, Urteil vom 26. Januar 2022 – IV ZR 144/21 –, Rn. 29, juris). Der Versicherer muss einerseits die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau beschreiben, dass für ihn keine ungerechtfertigten Beurteilungsspielräume entstehen. Der Vertragspartner soll andererseits ohne fremde Hilfe möglichst klar und einfach seine Rechte und Pflichten feststellen können, damit er die rechtliche Tragweite der Vertragsbedingungen bei Vertragsschluss hinreichend erfassen kann und nicht von der Durchsetzung seiner Rechte abgehalten wird (BGH, Urteil vom 01. Oktober 2019 – VI ZR 156/18 –, Rn. 23, juris)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>bb. Nach diesen Maßstäben ist die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB nicht klar und verständlich. Wie oben bereits ausgeführt wird dem Versicherungsnehmer zunächst nur eine Hinweispflicht des Versicherers aufgezeigt. Gleichzeitig beinhaltet die Hinweispflicht jedoch eine dem Versicherungsnehmer zu setzende Monatsfrist. Dem Versicherungsnehmer erschließt sich weder unmittelbar aus der Klausel noch im Zusammenhang mit anderen Regelungen oder gesetzlichen Bestimmungen – die es ohnehin nicht gibt –, woher die konkrete Monatsfrist entnommen wurde und aus welchem Grund ihm – dem Versicherungsnehmer – überhaupt eine Frist zu setzen ist. Auch nachdem der Versicherungsnehmer nach einer etwaigen Durchsicht der gesamten ARB und gegebenenfalls des VVG zu dem Ergebnis gelangt, dass es weder eine Frist zur Einleitung des Sachverständigen- bzw. Schiedsgutachterverfahrens noch eine Frist von einem Monat gibt, wird der Versicherungsnehmer selbst unter Einschaltung juristischer Beratung nicht mit Sicherheit sagen können, welche Rechtsfolgen an eine Fristversäumung geknüpft werden würden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>Sollte, wie die Beklagte meint, die Fristversäumung zu keinem Ausschluss führen, ergäbe sich die Unklarheit der Regelung daraus, dass für den Versicherungsnehmer nicht nachvollziehbar ist, wieso ihm eine Frist zu setzen ist. Denn dann wäre die Frist weder für den Versicherungsnehmer noch für den Versicherer in irgendeiner Weise von Bedeutung. Auch der Versicherer könnte, vor dem Hintergrund des Arguments, alsbald Rechtssicherheit über die Durchführung eines Schiedsgutachterverfahrens zu erhalten, aus dem Verstreichen der Monatsfrist nichts für sich herleiten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>Sollte die Regelung jedoch als Ausschlussfrist für den Versicherungsnehmer verstanden werden, so genügt sie den Anforderungen an eine klare und verständliche Regelung schon deshalb nicht, weil sich für den Versicherungsnehmer weder aus dieser Regelung noch aus einer anderen – vertraglichen oder gesetzlichen – Bestimmung ergibt, dass die – unverschuldete – Fristversäumung zum Ausschluss von der Möglichkeit zur Durchführung eines Schiedsgutachterverfahrens führt. Denn, wie die Beklagte selbst zum Verständnis der Regelung vorgetragen hat, richtet sich der Wortlaut von § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB ausschließlich an den Versicherer. Es ist für den Versicherungsnehmer daher gerade nicht hieraus zu entnehmen, dass darin eine für ihn nachteilige Regelung enthalten ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>cc. Soweit neben dem Merkmal der Intransparenz auch eine Benachteiligung des Vertragspartners als erforderlich angesehen wird (vgl. Übersicht zum Meinungsstand H. Schmidt, in: Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 307 BGB, Rn. 46; Wurmnest, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 307 BGB, Rn. 58), ändert jedenfalls entgegen der Auffassung des Landgerichts hieran nichts, dass, was zunächst dem Grunde nach zutrifft, in § 128 VVG das Schiedsgutachterverfahren inhaltlich nicht ausgestaltet wird, sondern dem Versicherer ein nicht unerheblicher Ausgestaltungsspielraum zugesprochen wird (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Mai 2018 – 4 U 257/17 –, Rn. 34 ff., juris; Bruns in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. (2018), § 128 VVG; Rn. 2). Hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass es zu keiner Benachteiligung des Versicherungsnehmers kommen könne, weil die Bestimmung einer Ausschlussfrist von dem Gestaltungsspielraum von § 128 VVG umfasst sei. Denn die Intransparenz einer Klausel kann bereits als solche den Vertragspartner des Verwenders sachlich benachteiligen (Staudinger/Wendland, BGB (2019), § 307, Rn. 174; Roloff/Looschelders, in: Erman, BGB, 16. Aufl. (2020), § 307 BGB, Rn. 22; Fuchs in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 13. Aufl. (2022), § 307 BGB, Rn. 11). Eine eigenständige Benachteiligungswirkung von Intransparenz wird sogar im Regelfall zu unterstellen sein (Staudinger/Wendland, a. a. O.; Fuchs in: Ulmer/Brandner/Hensen, a. a. O., Rn. 331). Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn Geschäftsbedingungen, die unklar sind oder gar eine andere als die bestehende Rechtslage suggerieren, die Gefahr begründen, dass der Vertragspartner im Konfliktfall seine Rechte nicht erkennt, sie nicht richtig einschätzt oder sonst nicht sachgerecht durchsetzt (Staudinger/Wendland, a. a. O., Rn. 178; Fuchs in: Ulmer/Brandner/Hensen, a. a. O., Rn. 334). Entsprechendes gilt für die Beurteilung der Rechte des Verwenders und die darauf abgestimmte Rechtswahrungsstrategie des Vertragspartners: Vor Schein-Rechten des Verwenders wird kapituliert, wirklich bestehende Eigenrechte werden nicht geltend gemacht (Staudinger/Wendland, a. a. O., Rn. 178).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Im vorliegenden Fall liegt eine materielle Benachteiligung des Versicherungsnehmers aufgrund der formalen Intransparenz vor. Die Benachteiligung des Versicherungsnehmers liegt nicht – wie vom Landgericht zugrunde gelegt – darin, dass dem Versicherungsnehmer eine Ausschlussfrist von einem Monat gesetzt wird, sondern darin, dass der Versicherungsnehmer anhand von § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB nicht erkennen kann, ob für ihn tatsächlich eine Ausschlussfrist existiert oder nicht. Ausgehend hiervon wird der Versicherungsnehmer bei der Ausübung seines gesetzlich verankerten Anspruchs gemäß § 128 VVG nicht klar erkennen können, ob und unter welchen Voraussetzungen er das Gutachterverfahren durchführen kann. So wird der Versicherungsnehmer nach Ablauf der Monatsfrist nicht klar erkennen können, ob er trotz Fristablaufs die Durchführung eines Gutachterverfahrens verlangen kann, insbesondere wird ihm die Durchsetzung dann erschwert, wenn der Versicherer sich auf den Ablauf der Monatsfrist beruft und hieran dem Versicherungsnehmer nicht bekannte Folgen knüpfen sollte. Des Weiteren wird dem Versicherungsnehmer nicht klar sein, welche Folgen es für seinen Anspruch auf Durchführung eines Gutachterverfahrens hat, wenn die Beklagte in der Mitteilung nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB die Fristsetzung unterlässt. Soweit vertreten wird (s. o.), dass die Versäumung der Frist mangels ausdrücklicher Regelung keine nachteiligen Folgen für den Versicherungsnehmer hat, wird sich diese Auffassung ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer, der sich in Kenntnis von § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB in einem Mitteilungsschreiben der Beklagten ausdrücklich einer Fristsetzung ausgesetzt sieht, nicht ohne Weiteres erschließen können.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>2. Der Kläger kann hingegen nicht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG, § 128, § 129 VVG; § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB von der Beklagten Unterlassung verlangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung des Klägers stellt § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB keine dem Versicherungsnehmer nachteilige Abweichung im Sinne von § 128 VVG dar. Insoweit fehlt es selbst unter Zugrundelegung der kundenfeindlichsten Auslegung gemäß § 305c Abs. 2 BGB als Ausschlussfrist an einer Abweichung von § 128 Satz 1 VVG. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, sieht § 128 VVG gerade keine inhaltliche Ausgestaltung des Schiedsgutachterverfahrens vor.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>a. Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 128 VVG hat der Versicherungsvertrag lediglich ein Gutachterverfahren oder ein anderes Verfahren mit vergleichbaren Garantien für die Unparteilichkeit vorzusehen, in dem Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsparteien über die Erfolgsaussichten oder die Mutwilligkeit einer Rechtsverfolgung entschieden werden. Entgegen der Ansicht des Klägers ergibt sich aus dem Wortlaut nicht, dass darin ein zeitlich unbegrenzt mögliches Gutachterverfahren vorgesehen wird. § 128 VVG drückt jedenfalls nicht positiv aus, dass dem Versicherungsnehmer zeitlich unbegrenzt das Gutachterverfahren zu ermöglichen ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umkehrschluss, dass § 128 VVG die Möglichkeit einer zeitlichen Begrenzung nicht vorsieht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass § 128 VVG ausdrücklich vorschreibt, dass der Versicherungsvertrag ein Gutachterverfahren oder ein anderes Verfahren mit vergleichbaren Garantien vorzusehen hat. Hieraus ergibt sich, dass die versicherungsvertraglichen Bestimmungen das Gutachterverfahren gerade inhaltlich zu konkretisieren haben (vgl. Bruns, in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. (2018), § 128 VVG, Rn. 4 f.; Obarowski, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 37, Rn. 552). Denn auch für den Versicherungsnehmer muss jedenfalls aus den Versicherungsbedingungen nachvollziehbar ersichtlich sein, wie das Gutachterverfahren oder das „andere Verfahren“ konkret ausgestaltet ist. Ansonsten wäre eine rasche und endgültige Entscheidung, der dieses Verfahren gegenüber der gerichtlichen Auseinandersetzung dienen soll (vgl. Piontek, in: Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl. (2021), § 128 VVG, Rn. 4), nicht möglich, wenn sich die Parteien erst noch auf ein Verfahren verständigen müssten. Des Weiteren stellte, der Auffassung des Klägers folgend, jede versicherungsvertragliche Regelung zum Gutachterverfahren eine Einschränkung von § 128 VVG dar, weil § 128 VVG selbst überhaupt keine verfahrensrechtliche Regelung vorsieht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>b. Aus der Historie dieser Norm ergibt sich ebenfalls, dass die konkrete Ausgestaltung des Gutachterverfahrens dem Versicherungsvertrag überlassen bleiben sollte und von Gesetzes wegen lediglich die grundlegenden Garantien der Unparteilichkeit gewährleistet werden sollten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>Ausweislich der Entwurfsbegründung zu § 128 VVG (BT-Drs. 16/3945, Seite 91) sollte durch die Norm keine weitergehende Vorgabe hinsichtlich der Ausgestaltung erfolgen:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<em>Die Vorschrift übernimmt inhaltlich unverändert den bisherigen § 158n VVG.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>Andere Verfahren wie z. B. der in den Allgemeinen Rechtsschutzbedingungen (ARB) vorgesehene Stichentscheid bleiben zulässig, sofern die Regelung für den Versicherungsnehmer von Vorteil ist.</em>“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_60">60</a></dt> <dd><p>Hinsichtlich der Vorgängerregelung hat der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt (BT-Drs. 11/6341, Seite 37):</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_61">61</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<em>§ 158 n setzt Artikel 6 der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie um, ohne die Art des nach Artikel 6 der Richtlinie vorzuhaltenden Schiedsverfahrens gesetzlich näher vorzuschreiben. Ein mögliches Verfahren, das die geltenden Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB) vorsehen, ist die Einholung einer begründeten Entscheidung eines vom Versicherungsnehmer beauftragten Rechtsanwalts, die für beide Teile bindend ist, sofern sie nicht offenbar von der wirklichen Sach- und Rechtslage erheblich abweicht. Die vorgeschlagene Bestimmung verzichtet darauf, dieses mögliche Verfahren als alleiniges gesetzlich vorzuschreiben, weil auch andere Regelungen möglich sind und zulässig bleiben sollen.</em>“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_62">62</a></dt> <dd><p>Artikel 6 der Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22. Juni 1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung lautet wiederum:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_63">63</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<em>Die Mitgliedstaaten treffen alle zweckdienlichen Vorkehrungen, damit unbeschadet eines durch die einzelstaatlichen Vorschriften gegebenenfalls vorgesehenen Rechts auf die Einlegung von Rechtsmitteln ein Schiedsverfahren oder ein anderes Verfahren vorgesehen wird, das vergleichbare Garantien für die Objektivität bietet, nach dem die Haltung, die bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Rechtsschutzversicherer und seinem Versicherten hinsichtlich des Vorgehens zur Beilegung des Streitfalls einzunehmen ist, entschieden wird.</em>“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_64">64</a></dt> <dd><p>Ebenso sieht Artikel 203 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) lediglich vor:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_65">65</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„<em>(1) Die Mitgliedstaaten sehen zur Regelung etwaiger Streitfälle zwischen dem Rechtsschutzversicherer und dem Versicherten unbeschadet eines durch die einzelstaatlichen Vorschriften gegebenenfalls vorgesehenen Rechts auf die Einlegung von Rechtsmitteln ein Schiedsverfahren oder ein anderes Verfahren vor, das vergleichbare Garantien für die Objektivität bietet.</em></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_66">66</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><em>(2) In dem Versicherungsvertrag wird dem Versicherten das Recht eingeräumt, ein solches Verfahren in Anspruch zu nehmen.</em>“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_67">67</a></dt> <dd><p>Auch hieraus ergibt sich, dass jedenfalls durch den Gesetzgeber weitere Garantien, mit Ausnahme der Objektivität, nicht zu gewährleisten sind, sondern der vertraglichen Ausgestaltung überlassen bleiben. Dem ist der nationale Gesetzgeber in § 128 Satz 1 VVG nachgekommen und auch nicht über diesen Mindeststandard hinausgegangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_68">68</a></dt> <dd><p>Ob ein Gutachterverfahren in diesem Sinne auch dann gewährleistet ist, wenn die Frist zur Einleitung des Gutachterverfahrens vom Versicherer unzumutbar kurz gewählt wird, braucht hier nicht entschieden zu werden. Jedenfalls die Frist von einem Monat gemäß § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB erscheint nicht unzumutbar kurz und wird vom Kläger auch nicht in dieser Weise bewertet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_69">69</a></dt> <dd><p>c. Da § 128 VVG keine Vorgaben zur verfahrensrechtlichen Ausgestaltung des Gutachterverfahrens enthält, stellt § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB auch keine unzulässige Abweichung im Sinne von § 129 VVG dar. Nach § 129 VVG kann von – unter anderem - § 128 VVG nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers abgewichen werden. § 128 VVG schreibt jedoch lediglich vor, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit eines Gutachterverfahrens eröffnet werden muss. Dies ist der Regelungsgehalt von § 128 VVG, von dem nicht zu Lasten des Versicherungsnehmers abgewichen werden darf. Diese Auslegung ergibt sich insbesondere aus der Historie von § 129 VVG. Ausweislich der Entwurfsbegründung zur Vorgängerregelung in § 158o VVG, sollte hierdurch sichergestellt werden, dass nicht zu Lasten des Versicherungsnehmers die Vorschriften – unter anderem – zum Gutachterverfahren „abbedungen werden können“ (BT-Drs. 11/6341, Seite 37). Ein „Abbedingen“ kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn grundsätzlich die Möglichkeit der Durchführung eines Gutachterverfahrens ausgeschlossen wird. Die Durchführung eines Gutachterverfahrens ist jedoch nicht bereits dann „abbedungen“, wenn dem Versicherungsnehmer auferlegt wird, das Gutachterverfahren innerhalb eines Monats nach Fristsetzung durch den Versicherer einzuleiten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_70">70</a></dt> <dd><p>II. zu § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_71">71</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann der Kläger nicht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG, § 307 Abs. 1 Satz 1, 2 BGB von der Beklagten Unterlassung verlangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_72">72</a></dt> <dd><p>1. Die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB ist nicht wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, 2 BGB unwirksam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_73">73</a></dt> <dd><p>a. Vor der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB ist die Klausel zunächst auszulegen, um Klarheit über ihren zu kontrollierenden Inhalt zu schaffen (BGH, Urteil vom 23. Juni 2004 – IV ZR 130/03 –, Rn. 16, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_74">74</a></dt> <dd><p>Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom 26. Januar 2022 – IV ZR 144/21 –, Rn. 10, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_75">75</a></dt> <dd><p>b. Gemessen hieran ist die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB so zu verstehen, dass nach Ablauf der Monatsfrist die Vorlage von Mitteilungen und Unterlagen durch den Versicherungsnehmer nicht ausgeschlossen ist. Nach dieser Regelung ist der Versicherungsnehmer mit dem Hinweis nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB aufzufordern, alle nach seiner Auffassung für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens wesentlichen Mitteilungen und Unterlagen innerhalb der Monatsfrist (des § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB) dem Versicherer zuzusenden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_76">76</a></dt> <dd><p>aa. Entgegen der Auffassung der Beklagten wird ein Versicherungsnehmer zunächst aus § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB wie auch bei § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB (s. o.) nicht entnehmen, dass die Regelung ausschließlich Rechtspflichten und -folgen für den Versicherer enthält. Denn die Hinweispflicht des Versicherers enthält eine konkrete Monatsfrist für die Zusendung der Unterlagen. Der Versicherungsnehmer wird hieraus entnehmen, dass die Hinweispflicht sich inhaltlich auch auf die Fristsetzung der Monatsfrist bezieht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_77">77</a></dt> <dd><p>bb. Anders als bei §3a Abs. 2 Satz 1 ARB lässt sich § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB jedoch keine Ausschlusswirkung der Monatsfrist entnehmen. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird der Regelung in Satz 2 entnehmen, dass er, wenn er sich einmal über das „Ob“ der Einleitung eines Schiedsverfahrens entschieden hat, im Interesse einer zügigen Verfahrensdurchführung durch den Versicherer aufzufordern sein wird, binnen einer erst noch vom Versicherer zu setzenden Frist sämtliche Unterlagen einzureichen. Dass es sich hierbei nicht um eine Ausschlussfrist handelt, ergibt sich für den Versicherungsnehmer aus der subjektiven Einschränkung auf die nach seiner Auffassung wesentlichen Unterlagen. Aus dieser subjektiven Einschränkung wird ein Versicherungsnehmer schließen, dass wenn sich seine Auffassung über die Wesentlichkeit einer Mitteilung oder Unterlage ändern sollte, eine Vorlage auch nach Ablauf der Frist möglich bleibt. Nichts anderes wird aus Sicht des Versicherungsnehmers für Unterlagen gelten können, die er erst nach Ablauf der Monatsfrist zur Kenntnis erhalten hat oder die er übersehen hat. Ein Versicherungsnehmer, dem durch den Versicherer die Monatsfrist in dem Hinweisschreiben gesetzt wird, wird weder aus der bloßen Fristsetzung in dem Hinweisschreiben des Versicherers noch unmittelbar aus § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB entnehmen, dass er Unterlagen, die er selbst erst nach Ablauf der Monatsfrist erhalten hat (z. B. Gutachten, Rechnungen etc.), nicht mehr vorlegen kann. Denn anders als § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB, der eine vom Versicherungsnehmer zu verlangende endgültige Entscheidung über das „Ob“ der Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens suggeriert, wird ein verständiger Versicherungsnehmer § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB lediglich entnehmen, dass es hinsichtlich der Mitteilung und Unterlagen nur um die Schaffung einer Tatsachengrundlage für den Schiedsgutachter geht, die aber nicht innerhalb der Monatsfrist endgültig feststehen muss und kann. Vielmehr wird der Versicherungsnehmer die Regelung dahingehend verstehen, dass der Versicherer mit § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB möglichst bald Gewissheit darüber begehrt, ob ein Schiedsverfahren durchgeführt werden wird, hingegen ein solches Bedürfnis für den Versicherer hinsichtlich der Tatsachengrundlage zu diesem Zeitpunkt nicht besteht, weil zu diesem Zeitpunkt unter Umständen noch gar nicht alle Unterlagen vorliegen (z. B. Gutachten, Rechnungen etc.) und die objektive Wesentlichkeit der Unterlagen erst noch vom Schiedsgutachter beurteilt werden wird. Insoweit handelt es sich bei der Vorlage sämtlicher nach seiner Auffassung wesentlichen Unterlagen um eine Obliegenheit des Versicherungsnehmers, den aus seiner Sicht für ihn sprechenden Tatsachenstoff für das Schiedsgutachterverfahren darzulegen. Für die Schaffung einer endgültigen Tatsachengrundlage binnen der Monatsfrist wird aus Sicht des Versicherungsnehmers auch deswegen kein Bedürfnis bestehen, weil gemäß § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB binnen eines Monats das Schiedsverfahren erst einzuleiten hat und gemäß § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB danach dem Schiedsgutachter vom Versicherer sämtliche Mitteilungen und Unterlagen erst noch zu übersenden sind. Aus Sicht des Versicherungsnehmers wird sich hieraus kein Grund entnehmen lassen, nach Ablauf der Monatsfrist weitere Unterlagen nicht mehr einreichen zu können, insbesondere so lange der Schiedsgutachter sich inhaltlich mit der Sache noch nicht befasst hat. Schließlich schließen weder § 128 VVG noch die ARB aus, dass der Schiedsgutachter von sich aus etwaige aus seiner Sicht wesentliche Mitteilungen und Unterlagen von den Parteien anfordert. Auch stellt das Schiedsgutachterverfahren für den Versicherungsnehmer keine bindende Entscheidung dar; vielmehr bleibt ihm auch nach Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens der ordentliche Rechtsweg für eine Deckungsklage eröffnet. Daraus ergibt sich für den Versicherungsnehmer, dass kein Erfordernis für eine Präklusion besteht, weil auch nach Ablauf der Monatsfrist weiterhin die Möglichkeit der Vorlage von Unterlagen besteht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_78">78</a></dt> <dd><p>Etwas anderes ergibt sich für den Versicherungsnehmer – entgegen der Auffassung des Landgerichts – auch nicht aus § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB, wonach dem Schiedsgutachter vom Versicherer alle ihm vorliegenden Mitteilungen und Unterlagen, die für die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens wesentlich sind, zur Verfügung zu stellen sind. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut enthält die Regelung lediglich die Verpflichtung des Versicherers, die wesentlichen Unterlagen vorzulegen. Hingegen schließt sie nicht auch die Möglichkeit aus, dass der Versicherungsnehmer noch weitere Unterlagen einreichen kann (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Mai 2018 – 4 U 257/17 –, Rn. 48, juris). Vielmehr stellt sich die Regelung aus Sicht des Versicherungsnehmers als insoweit konsequente Regelung dar, als dass nunmehr dem Versicherer, nachdem ihm sämtliche Unterlagen des Versicherungsnehmers gemäß § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB vorgelegt wurden, die Pflicht obliegt, sämtliche bei ihm gesammelten Unterlagen dem Schiedsgutachter vorzulegen. Die Regelung entbindet insoweit lediglich den Versicherungsnehmer davon, seine Unterlagen - erneut - dem Schiedsgutachter vorzulegen. Ein Ausschluss von der Vorlage weiterer Unterlagen lässt sich weder dem Wortlaut entnehmen noch ergibt er sich sonst aus den ARB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_79">79</a></dt> <dd><p>c. Auf die Auslegungsregel nach § 305 Abs. 2 BGB kommt es aufgrund des eindeutigen Inhalts der Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB nicht an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_80">80</a></dt> <dd><p>d. Da der Wortlaut des § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB eindeutig und verständlich ist, kommt eine unangemessene Benachteiligung gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht in Betracht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_81">81</a></dt> <dd><p>2. Die Regelung ist nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Danach sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn sie mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_82">82</a></dt> <dd><p>§ 3a Abs. 2 Satz 2 ARB beinhaltet bereits keine Abweichung von einer gesetzlichen Regelung. Weder § 128 VVG noch eine andere gesetzliche Regelung sieht konkrete Verfahrensvorschriften für die Durchführung des Gutachterverfahrens vor. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (s. o.) sollte in § 128 VVG nicht einmal die Durchführung eines Schiedsgutachterverfahrens als einzige Möglichkeit zur Streitbeilegung zum Ausdruck gebracht werden. Soweit § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB vorsieht, dass der Versicherer dem Versicherungsnehmer eine Frist zur Vorlage nach Auffassung des Versicherungsnehmers wesentlicher Unterlagen vorsieht, kann darin bereits nach der Normstruktur des § 128 Satz 1 VVG keine Abweichung hiervon angenommen werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_83">83</a></dt> <dd><p>3. Die Regelung ist nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam. Danach sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn sie wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränken, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_84">84</a></dt> <dd><p>a. In der Rechtsschutzversicherung verpflichtet sich der Versicherer, die für die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers oder Versicherten erforderlichen Leistungen im vereinbarten Umfang zu erbringen (§ 125 VVG). Auch wenn das Versicherungsvertragsgesetz den Vertragsparteien hinsichtlich des Umfangs des Leistungsversprechens keine Vorgaben macht, besteht das Wesen des Vertrages im Versprechen einer Unterstützung der Interessenwahrnehmung des Versicherungsnehmers, der daran zu Recht eine Solidaritätserwartung knüpft (BGH, Urteil vom 31. März 2021 – IV ZR 221/19 –, Rn. 40, juris). Der durchschnittliche Versicherungsnehmer entnimmt diesem Leistungsversprechen, dass der Rechtsschutzversicherer es gegen Prämienzahlung übernimmt, die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen zu unterstützen. Dieser Unterstützung ist es immanent, dass der Rechtsschutzversicherer bei der Bestimmung des Versicherungsfalles die Tatsachen zugrunde legt, mit denen der Versicherungsnehmer sein Rechtsschutzbegehren begründet, denn nur so wird diesem die erwartete Unterstützung seines Rechtsschutzversicherers zuteil (BGH, Urteil vom 31. März 2021 – IV ZR 221/19 –, Rn. 41, juris).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_85">85</a></dt> <dd><p>b. Dem steht die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB nicht einschränkend entgegen. Denn, wie oben ausgeführt, sieht die Regelung in § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB selbst unter Zugrundelegung der kundenfeindlichsten Auslegung, dass darin nicht nur eine Pflicht des Versicherers zur Fristsetzung, sondern zugleich eine Fristenregelung für den Versicherungsnehmer zu sehen ist, jedenfalls keine Ausschlussfrist zu Lasten des Versicherungsnehmers vor. Dem Versicherungsnehmer bleibt es bis zur Entscheidung des Schiedsgutachters unbenommen, die nach seiner Auffassung wesentlichen Unterlagen vorzulegen. Der Versicherungsnehmer kann diese Unterlagen sowohl dem Versicherer vorlegen, um eine erneute Prüfung und Entscheidung des Versicherers zu erreichen, als auch dem Schiedsgutachter, um ihm alle aus seiner Sicht wesentlichen Tatsachen mitzuteilen. Vor diesem Hintergrund liegt in der Verpflichtung des Versicherers, dem Versicherungsnehmer eine Monatsfrist zur Vorlage der wesentlichen Unterlagen zu setzen, keine Beschränkung des Versicherungsnehmers in dessen Vertrauen, dass die Prüfung seines Rechtsschutzbegehrens auf der von ihm mitgeteilten Tatsachengrundlage erfolgt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_86">86</a></dt> <dd><p>c. Aus den zuvor genannten Gründen ist § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB auch nicht wegen einer nach § 129 VVG unzulässigen Abweichung von § 128 VVG unwirksam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_87">87</a></dt> <dd><p>III. zu § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_88">88</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann der Kläger nicht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG, § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB von der Beklagten Unterlassung verlangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_89">89</a></dt> <dd><p>Die Regelung ist nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB, §§ 128, 129 VVG unwirksam. § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB stellt keine inhaltliche Abweichung von § 128 VVG dar. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist diese Klausel uneingeschränkt wirksam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_90">90</a></dt> <dd><p>1. Nach § 128 Satz 1 VVG hat der Versicherungsvertrag ein Gutachterverfahren oder ein anderes Verfahren mit vergleichbaren Garantien für die Unparteilichkeit vorzusehen, in dem Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsparteien über die Erfolgsaussichten oder die Mutwilligkeit einer Rechtsverfolgung entschieden werden, für den Fall, dass der Versicherer seine Leistungspflicht verneint, weil die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete oder mutwillig sei. Die Regelung in § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB, wonach Schiedsgutachter ein seit mindestens fünf Jahren zur Rechtsanwaltschaft zugelassener Rechtsanwalt, der von dem Präsidenten der für den Wohnsitz des Versicherungsnehmers zuständigen Rechtsanwaltskammer benannt wird, ist, weicht von § 128 Satz 1 VVG nicht ab.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_91">91</a></dt> <dd><p>2. Eine Abweichung von § 128 Satz 1 VVG ergibt sich, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht daraus, dass § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB bestimmte Kriterien an die Auswahl des Gutachters postuliert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_92">92</a></dt> <dd><p>Der Wortlaut von § 128 Satz 1 VVG sieht, wie bereits ausgeführt, selbst keine Regeln hinsichtlich der Art des Gutachterverfahrens und schon gar nicht hinsichtlich dessen verfahrensrechtlicher Ausgestaltung vor. Nach § 128 Satz 1 VVG ist lediglich ein Schiedsverfahren oder ein anderes Verfahren mit vergleichbaren Garantien für die Unparteilichkeit vorzusehen. Die einzelnen Kriterien, nämlich, dass es ein seit mindestens fünf Jahren zur Rechtsanwaltschaft zugelassener und vom Präsidenten der für den Wohnsitz des Versicherungsnehmers zuständigen Rechtsanwaltskammer zu benennender Rechtsanwalt ist, berührt nicht die Unparteilichkeit des zu benennenden Gutachters.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_93">93</a></dt> <dd><p>3. Eine Abweichung von § 128 Satz 1 VVG ergibt sich bei gebotener Auslegung der Klausel auch nicht wegen der nicht ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeit der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_94">94</a></dt> <dd><p>a. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Hiernach ergibt sich aus § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB nicht, dass die Ablehnung des Gutachters wegen der Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_95">95</a></dt> <dd><p>b. Der Wortlaut von § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB schließt nicht zu Lasten des Versicherungsnehmers die Möglichkeit der Ablehnung des Gutachters wegen der Besorgnis der Befangenheit aus (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Mai 2018 – 4 U 257/17 –, Rn. 47, juris). Auch aus den anderen Regelungen der ARB und des VVG lässt sich nicht erkennen, dass § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB die Möglichkeit der Ablehnung des Gutachters nicht zulässt. Allein der Umstand, dass die ARB diese Möglichkeit nicht ausdrücklich vorsehen, lässt nicht zwingend den Umkehrschluss zu, dass die Ablehnung ausgeschlossen ist. Ein Versicherungsnehmer wird sich vielmehr aufgrund des – im Übrigen für beide Vertragsparteien geltenden – dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Grundsatzes von Treu und Glauben darauf verlassen, dass die Schiedsentscheidung auf einer objektiven und unparteilichen Stellung des Gutachters beruht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass ein etwaiges Ablehnungsrecht auch für den Versicherer nicht ausdrücklich vorgesehen ist, so dass ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB nicht dahin verstehen wird, dass er sich auf eine zu seinen Gunsten ergehende Schiedsentscheidung verlassen dürfte, der die Besorgnis der Befangenheit des Gutachters entgegensteht. Insoweit wäre das Verfahren für den Versicherer von noch nachteiliger Auswirkung, weil der Versicherer bei einem solchen Verständnis von § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB an die Entscheidung des Schiedsgutachters – anders als der Versicherungsnehmer – gebunden wäre, obwohl – unter Umständen offensichtlich – eine Parteilichkeit oder Besorgnis der Befangenheit des Gutachters gegeben wäre. Dass der Versicherer sich an eine solche Entscheidung binden wollte, wird ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer § 3a Abs. 4 Satz 1 ARB nicht entnehmen. Vielmehr wird ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer davon ausgehen, dass – ohne die einzelnen Regelungen zu kennen – für beide Parteien des Gutachterverfahrens dieselben Möglichkeiten der Ablehnung des Gutachters wie im Rahmen des vergleichbaren Sachverständigenbeweisverfahrens nach § 406 ZPO bestehen (vgl. Schmitt, in: Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl. (2018), § 3a ARB 2010, Rn. 38). Auf die „Grundsätze der Bundesrechtsanwaltskammer und des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. für das Schiedsverfahren nach § 18 der Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 94)“, die dem Versicherungsnehmer ohnehin mangels Einbeziehung in die ARB in der Regel nicht bekannt sein dürften, kommt es daher nicht an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_96">96</a></dt> <dd><p>IV. zu § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_97">97</a></dt> <dd><p>Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann der Kläger nicht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG, § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB von der Beklagten Unterlassung verlangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_98">98</a></dt> <dd><p>Die Regelung ist nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB, §§ 128, 129 VVG unwirksam. § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB stellt keine inhaltliche Abweichung von § 128 VVG dar. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist diese Klausel uneingeschränkt wirksam. § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB schließt nicht die Möglichkeit aus, dass der Versicherungsnehmer – weitere – Mitteilungen und Unterlagen dem Schiedsgutachter vorlegen kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_99">99</a></dt> <dd><p>1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Hiernach ergibt sich aus § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB nicht, dass die Vorlage von Mitteilungen und Unterlagen durch den Versicherungsnehmer an den Schiedsgutachter ausgeschlossen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_100">100</a></dt> <dd><p>2. Der Wortlaut von § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB schließt diese Möglichkeit nicht ausdrücklich aus (vgl. OLG Düsseldorf, a. a. O., Rn. 48 f., juris). Auch aus dem Zusammenhang der weiteren Regelungen in § 3a ARB wird ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer einen solchen Ausschluss nicht entnehmen. Zunächst wird der Versicherungsnehmer § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB lediglich die Verpflichtung des Versicherers entnehmen, sämtliche ihm vorliegende Unterlagen und Mitteilungen dem Schiedsgutachter vorzulegen. Aus der in § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB vorgesehenen Möglichkeit des Versicherungsnehmers, sämtliche nach seiner Auffassung wesentlichen Mitteilungen und Unterlagen vorzulegen, wird der Versicherungsnehmer entnehmen, dass die nunmehr beim Versicherer gesammelten und vorhandenen Unterlagen insgesamt dem Schiedsgutachter übersandt werden. Hieraus wird der Versicherungsnehmer entnehmen, dass mit seinem einmal geäußerten Verlangen nach Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens und der Übersendung sämtlicher nach seiner Auffassung wesentlichen Unterlagen, ihn keine weiteren Pflichten und Obliegenheiten für das weitere Verfahren treffen. Da, wie bereits oben ausgeführt, aus seiner Sicht keine Gründe bestehen, dass er mit erst später zur Kenntnis gelangten oder als wesentlich erscheinenden Unterlagen präkludiert sein könnte, wird er einen Ausschluss aus der Verpflichtung des Versicherers, sämtliche Unterlagen dem Schiedsgutachter vorzulegen, nicht entnehmen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_101">101</a></dt> <dd><p>Ebenso wenig wird der Versicherungsnehmer § 3a Abs. 4 Satz 2 ARB entnehmen, dass ausschließlich der Versicherer Zugang zum Schiedsgutachter hat. Vielmehr wird der Versicherungsnehmer aus der vorherigen Regelung, wonach er alle nach seiner Auffassung wesentlichen Unterlagen dem Versicherer zuzusenden hat, lediglich entnehmen, dass dieser aufgrund der bei ihm gesammelten Tatsachengrundlage und zur Vermeidung doppelter Übersendungen, zur Übersendung des bis dahin vorliegenden Tatsachenmaterials verpflichtet ist. Dass diese Verpflichtung ausschließlich den Versicherer trifft, bei dem sich dann sämtliche – die des Versicherungsnehmers und des Versicherers – wesentlichen Unterlagen befinden, wird aus Sicht des Versicherungsnehmers ausschließlich den Grund der Verfahrensökonomie haben. Weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zusammenhang der anderen Regelungen wird ein Versicherungsnehmer auch nur die Möglichkeit entnehmen, vom direkten Zugang zum Schiedsgutachter ausgeschlossen zu sein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_102">102</a></dt> <dd><p>V. zum Zahlungsanspruch</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_103">103</a></dt> <dd><p>Das Landgericht hat dem Kläger zu Recht einen Zahlungsanspruch in Höhe von 260,00 € nebst Zinsen zugesprochen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_104">104</a></dt> <dd><p>Abgesehen davon, dass es insoweit einer ausreichenden Berufungsbegründung gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO mangelt, hat das Landgericht mit zutreffender Begründung den Anspruch zugesprochen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>C. I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_105">105</a></dt> <dd><p>Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr.10, § 711 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_106">106</a></dt> <dd><p>Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>III.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_107">107</a></dt> <dd><p>Bei der Bemessung des Streitwerts hat der Senat je beanstandeter Klausel einen Wert von 2.500,00 € zugrunde gelegt (Walker, Unterlassungsklagengesetz, 1. Aufl. (2016), § 5, Rn. 10).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE270892022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
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ovgnrw-2022-09-22-10-a-287921
{ "id": 823, "name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen", "slug": "ovgnrw", "city": null, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
10 A 2879/21
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:44"
"2022-10-17T11:10:40"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0922.10A2879.21.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Aus den innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegten Gründen ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder deren grundsätzliche Bedeutung (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art, die er mit seinem Antrag angreifen will, bezeichnen und mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellen und damit zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses begründen. Daran fehlt es hier.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Erteilung der von ihm begehrten denkmalrechtlichen Erlaubnis für die Anlegung eines Stellplatzes für ein Kraftfahrzeug im Vorgarten seines Hauses X. 35 in E. (im Folgenden: Vorhaben beziehungsweise Vorhabengrundstück) habe, weil dem Vorhaben Gründe des Denkmalschutzes entgegenstünden und es kein überwiegendes öffentliches Interesse gebe, das die Anlegung des Stellplatzes verlange. Das Vorhabengrundstück liege im Geltungsbereich der wirksamen Denkmalbereichssatzung "X1." vom 30. September 1999. Das Vorhaben würde im Falle seiner Verwirklichung die Gliederung der X1. und ihr Erscheinungsbild maßgeblich beeinträchtigen. Das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Denkmalbereichs in unveränderter Form überwiege das private Interesse des Klägers, ein Elektroautomobil, das er anschaffen wolle, auf dem eigenen Grundstück abzustellen, um dessen Batterie dort aufladen zu können. Ein auf Umweltgründe gestütztes überwiegendes öffentliches Interesse an der Anlegung des Stellplatzes bestehe nicht.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Kläger meint, die Erhaltung der Vorgärten und Einfriedungen innerhalb des Denkmalbereichs sei kein wesentliches Ziel der Denkmalbereichssatzung. Das ist falsch. Der mit der Denkmalbereichssatzung bezweckte Schutz bezieht sich nach deren § 3 auf das äußere Erscheinungsbild und den Grundriss der X1. (Absatz 1) und die Architekturdetails, die für das äußere Erscheinungsbild der Siedlung typisch sind (Absatz 2). § 3 Absatz 1 legt darüber hinaus unter 1.1 bis 1.6 im Einzelnen fest, wodurch das äußere Erscheinungsbild und der Grundriss der X1. bestimmt werden. Dazu gehören nach 1.5 auch die Vorgärten einschließlich der Einfriedungen (ehemals Staketenzäune, heute Hecken), die Hausgärten und die Freiflächen. Die Annahme des Klägers, der Satzungsgeber habe mit der Reihenfolge der Bestimmungsmerkmale 1.1 bis 1.6 auch eine Rangfolge im Hinblick auf die Wertigkeit des jeweiligen Bestimmungsmerkmals festlegen wollen, teilt der Senat nicht. Tatsächlich sind alle Bestimmungsmerkmale auf derselben Gliederungsebene aufgelistet. Soweit der Kläger überdies bemängelt, dass weder die Begründung unter § 5 der Denkmalbereichssatzung noch das Gutachten des M. S., das der Satzung nachrichtlich als Anlage 3 beigefügt ist, detaillierte Ausführungen zu den Vorgärten und den Einfriedungen enthalten, ergibt sich daraus nichts für seine These, die Erhaltung dieser Elemente sei kein wesentliches Ziel der Denkmalbereichssatzung. Da es dem Satzungsgeber insoweit nur um die Erhaltung des äußeren Erscheinungsbildes und des Grundrisses der X1. ging, brauchte er lediglich die Erhaltung der Vorgärten und Einfriedungen als solche festzulegen. Welche Details der Satzungsgeber im Hinblick auf die Vorgärten und die Einfriedungen hätte regeln sollen, um ihnen auch nach dem Verständnis des Klägers Gewicht für die Erhaltung des äußeren Erscheinungsbildes und des Grundrisses der X1. beizugeben, erschließt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger meint, dass angesichts der "riesigen" Ausdehnung der Vorgärten auf seinem und den unmittelbar benachbarten Grundstücken die Anlegung eines Stellplatzes, zumal wenn er wie hier mit Rasengittersteinen befestigt werden solle, optisch kaum wahrnehmbar sein und die Prägung des Straßenzuges durch die Vorgärten nicht maßgeblich beeinträchtigen würde. Dem ist nicht so.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Abstellflächen für Kraftfahrzeuge nebst ihren Zufahrten gehören grundsätzlich nicht in einen Vorgarten und waren bei Entstehung der X1. auch nicht vorgesehen. Würde ein Stellplatz im Vorgarten des Klägers angelegt, wäre er zweifellos optisch als solcher wahrnehmbar. Der Stellplatz selbst und seine Zufahrt wären, anders als bei einer Vorgartenfläche üblich, nicht gärtnerisch gestaltet. Bereits die zur Befestigung des Stellplatzes und seiner Zufahrt verlegten Rasengittersteine würden die gartenfremde Nutzung der beanspruchten Fläche für jedermann auf den ersten Blick ebenso deutlich machen wie die breite Lücke in der Einfriedung, die erforderlich wäre, um mit dem Kraftfahrzeug von der Straße aus auf den Stellplatz zu fahren. Unübersehbar wäre der Nutzungs- und Funktionswechsel im Bereich des Vorgartens vor allem aber immer dann, wenn auf dem Stellplatz ein Kraftfahrzeug abgestellt wäre. Wenn der Kläger vorträgt, dass allein das Abstellen eines Elektroautomobils im Vorgarten zum Aufladen seiner Batterie weder die Funktion der Fläche als Vorgarten aufheben, noch die Wahrnehmbarkeit der Gestaltung der Straßenzüge, ihrer Auflockerung durch in der Tiefe versetzte Hausgruppen und der Aufweitungen durch Vorgärten und Plätze beeinträchtigen würde, irrt er. Er suggeriert mit diesem Vortrag, dass auf dem von ihm geplanten Stellplatz ausschließlich ein Elektroautomobil abgestellt würde und dies auch nur für die Dauer des Ladevorgangs. Auf eine solch eingeschränkte Nutzung ist sein Antrag auf Erteilung einer denkmalrechtlichen Erlaubnis jedoch nicht gerichtet. Ungeachtet dessen, dass sich eine Erlaubnis kaum entsprechend eingrenzen und kontrollieren ließe, ist der Stellplatz für eine derart begrenzte Nutzung in Wahrheit auch nicht gedacht. Soweit der Kläger auf die "riesige" Ausdehnung der Vorgärten verweist, um zu belegen, dass der von ihm geplante Stellplatz darin quasi optisch "verschwinde", spricht er offenbar die Vorgärten an, die der Hausgruppe, zu der sein eigenes Haus gehört, und den beiden nördlich davon gelegenen Hausgruppen vorgelagert sind. Die zu den einzelnen Häusern innerhalb dieser Hausgruppen gehörenden Vorgärten – insbesondere die, die vor den beiden nördlichen Hausgruppen liegen – haben zwar jeweils eine ansehnliche Tiefe, doch würde ein dort angelegter Stellplatz einen erheblichen Teil ihrer jeweiligen Breite beanspruchen. Dass ein Stellplatz in seinem Vorgarten, wie der Kläger behauptet, völlig untergeordnet wäre, trifft nicht zu. Davon abgesehen, hätte eine dem Kläger erteilte Erlaubnis für die Anlegung eines Stellplatzes im Vorgarten seines Hauses eine nicht einzugrenzende Vorbildwirkung. Würde dem Kläger die Erlaubnis erteilt, könnte jedenfalls den anderen Eigentümern der Häuser innerhalb der angesprochenen Hausgruppen die Erteilung entsprechender Erlaubnisse kaum verweigert werden. Ein Szenario, wonach in jedem der besagten Vorgärten zumindest ein Kraftfahrzeug über längere Zeit abgestellt wird, ist angesichts der in der X1. bekanntermaßen herrschenden Parkplatznot nicht unrealistisch. Soweit der Kläger meint, dass bei der Abwägung der für und gegen die Erteilung einer denkmalrechtlichen Erlaubnis sprechenden Gründe immer auf den Einzelfall abzustellen sei, sodass für die Berücksichtigung einer Vorbildwirkung kein Raum sei, übersieht er, dass es hier nicht um die Veränderung eines einzelnen Denkmals geht, sondern um die Erhaltung unter anderem des Erscheinungsbildes einer ganzen Siedlung oder zumindest eines Teils davon. Vor diesem Hintergrund ist die mögliche Vorbildwirkung eines Vorhabens bei der Beantwortung der Frage, ob Gründe des Denkmalschutzes diesem Vorhaben entgegenstehen, von wesentlicher Bedeutung.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beklagt, dass das Verwaltungsgericht bei der Abwägung der für und gegen die Erteilung der beantragten denkmalrechtlichen Erlaubnis sprechenden Gründe außer Acht gelassen habe, dass er mit dem Vorhaben über seine persönlichen Interessen hinaus auch allgemeine Interessen verfolge, denen der Gesetzgeber in jüngster Zeit deutliches Gewicht beigemessen habe. Seine privaten Interessen erlangten dadurch im Widerstreit mit den durch das Vorhaben negativ berührten denkmalrechtlichen Belangen ein größeres Gewicht. Dass bei der besagten Abwägung die Belange des Klimaschutzes angemessen zu berücksichtigen sind, ergibt sich aus § 9 Abs. 3 Satz 2 DSchG NRW. Auch wenn der Ausbau einer Ladeinfrastruktur zur Förderung der Elektromobilität – wie der Kläger ausführt – der Wille des Bundes- und des Landesgesetzgebers sein mag, um neben der heimischen Automobilindustrie auch den Klimaschutz zu fördern, vermag der Senat nicht zu erkennen, dass es dazu im konkreten Fall der Hintanstellung der mit der Erhaltung der Vorgärten und Einfriedungen in ihrer ursprünglichen Form verbundenen denkmalrechtlichen Belange bedürfte. In Ansehung des erheblichen Gewichtes, das den Vorgärten und Einfriedungen für das Erscheinungsbild der X1. zukommt, ist es dem Kläger durchaus zuzumuten, dass er sich für das Aufladen der Batterie eines Elektroautomobils, das er sich anschaffen will, einer öffentlich zugänglichen Ladestation bedient, statt, letztlich aus Gründen der Bequemlichkeit, mit der Anlegung eines Stellplatzes, auf dem er die Batterie eines Elektroautomobils über sein hauseigenes Stromnetz aufladen könnte, ein Vorbild für eine nicht überschaubare Zahl gleichartiger Vorhaben innerhalb der Siedlung zu schaffen, die deren Erscheinungsbild nach den vorstehenden Erwägungen erheblich beeinträchtigen würden.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Angriffe des Klägers gegen die Tatsachenfeststellungen oder die rechtlichen Würdigungen, auf denen das angefochtene Urteil beruht, begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung gäben, die sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren klären ließen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern würden.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dass der Ausgang des Rechtsstreits in diesem Sinne offen ist, lässt sich auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht feststellen, denn der Kläger stellt – wie oben ausgeführt – die Richtigkeit des Urteils nicht ernsthaft in Frage.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt auch nicht dar, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substanziiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon zeigt der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der von ihm aufgeworfenen Frage,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">inwieweit konkrete, bereits vollzogene oder beabsichtigte gesetzgeberische Maßnahmen wie die zitierten Änderungen in BGB, WEG, BauGB und DSchG NRW zur Förderung der Elektromobilität und des Klimaschutzes bei der Beurteilung der für ein der Erlaubnispflicht des § 9 Abs. 1 DSchG NRW unterliegendes Vorhaben streitenden privaten Interessen zu berücksichtigen sind,</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">nicht auf. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, wie die Tatbestandsmerkmale des § 9 Abs. 3 Satz 1 DSchG NRW (§ 9 Abs. 2 DSchG NRW a.F.) auszulegen sind. Dass bei der Entscheidung über die Erlaubnisfähigkeit einer nach § 9 Abs. 1 und 2 DSchG NRW erlaubnispflichtigen Handlung auch die Belange des Wohnungsbaus, des Klimas, des Einsatzes erneuerbarer Energien sowie die Barrierefreiheit angemessen zu berücksichtigen sind, bestimmt bereits § 9 Abs. 3 Satz 2 DSchG NRW, sodass insoweit kein Bedarf für eine grundsätzliche Klärung in einem möglichen Berufungsverfahren besteht. Was in diesem Zusammenhang unter "angemessen" zu verstehen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und ist einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Sätze 1 und 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
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10 A 2942/20.A
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:43"
"2022-10-17T11:10:40"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0922.10A2942.20A.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine bisher obergerichtlich nicht geklärte tatsächliche Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer obergerichtlichen Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer entsprechenden Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf deren Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit sowie auf ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2018 – 4 A 3232/18.A –, juris, Rn. 2 f., mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Februar 2017       – 4 A 685/14.A –, juris, Rn. 5 f., mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Danach legt der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der von ihm formulierten Fragen,</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">ob homosexuellen Flüchtlingen aus Pakistan im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland wegen ihrer sexuellen Orientierung flüchtlings- oder abschiebungsrechtlich relevante Gefahren drohen (Frage 1)</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">beziehungsweise</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">ob speziell homosexuellen Flüchtlingen aus Pakistan, die ihre Homosexualität in Deutschland offen ausleben und dies auch weiterhin im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland tun möchten, ein öffentliches Ausleben in Pakistan möglich ist und wegen ihrer sexuellen Orientierung flüchtlings- oder abschiebungsrechtlich relevante Gefahren drohen (Frage 2)</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">und</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">ob in Bezug auf die Feststellung einer Gruppenverfolgung von Homosexuellen in Pakistan auf eine anhand von bekannt gewordenen Verurteilungen errechnete Verfolgungsdichte abgestellt werden kann oder vielmehr in Betracht gezogen werden muss, dass der Großteil der homosexuellen Bevölkerung aufgrund der rechtlichen und gesellschaftlichen Umstände seine Homosexualität nicht offen lebt und die Anzahl der Verurteilungen daher keine aussagekräftige Größe darstellt (Frage 3),</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">nicht dar.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass die Frage 1 in dieser Allgemeinheit klärungsbedürftig sein könnte. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Auffassung, die Verfolgungsdichte betreffend die Verfolgung homosexueller Männer in Pakistan sei zu gering, um insoweit eine an die sexuelle Orientierung anknüpfende Gruppenverfolgung annehmen zu können, auf die entsprechenden Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 8. Juli 2020 – 13 A 10174/20 –, juris, Rn. 47 ff., das eine Vielzahl von einschlägigen Erkenntnissen ausgewertet hat, Bezug genommen. Ungeachtet dessen, dass der Kläger selbst in der Begründung seines Zulassungsantrags unterscheidet zwischen der Gefahr einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung in Pakistan, die homosexuellen Männern drohe, denen es ein inneres Bedürfnis sei, ihre Homosexualität auch öffentlich zu leben, und einer solchen, die für homosexuelle Männer bestehe, die ihre Homosexualität nicht öffentlich leben wollten, legt er nicht dar, dass die Erkenntnisse, die den von ihm genannten Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte zugrunde gelegt worden sind, entgegen den in der angefochtenen Entscheidung in Bezug genommenen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz die Annahme stützen könnten, homosexuelle Männer müssten in Pakistan allein wegen ihrer sexuellen Orientierung unterschiedslos eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung befürchten. Er setzt sich insbesondere nicht hinreichend mit den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz zu der insoweit gegebenen Verfolgungsdichte auseinander, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht ausreiche (juris, Rn. 57).</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die grundsätzliche Bedeutung der Frage 2 zeigt der Kläger ebenfalls nicht auf. Er legt nicht dar, dass sich diese Frage, deren Beantwortung für das Verwaltungsgericht nicht erheblich war und die es daher folgerichtig nicht beantwortet hat, in einem Berufungsverfahren entscheidungserheblich stellen würde.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29. August 2018 – A 11 S 1911/18 –, juris, Rn. 3.   Siehe auch Sächs. OVG, Beschluss vom 12. Juli 2019 – 5 A 156/17.A –, juris, Rn. 5 f.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat nicht festgestellt, dass der Kläger jemand sei, der seine Homosexualität in Pakistan öffentlich ausleben wolle. Dass das Verwaltungsgericht diese Feststellung nicht getroffen hat, ist – wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt – kein Verfahrensfehler, den der Kläger mit Erfolg geltend gemacht hätte. Er behauptet erstmals mit dem Zulassungsantrag, dass er seine Homosexualität in Pakistan offen leben wolle. Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich im Zulassungsverfahren, in dem es ausschließlich darum geht, ob der jeweilige Kläger zumindest einen der gesetzlichen Zulassungsgründe dargelegt hat, nicht überprüfen. Ist mithin ungeklärt, ob der Kläger jemand ist, der seine Homosexualität in Pakistan offen leben will, ist offen, ob die Beantwortung der Frage 2 in einem möglichen Berufungsverfahren überhaupt entscheidungserheblich wäre.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Klärungsbedürftigkeit der Frage 3 legt der Kläger ebenfalls nicht dar. Die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Dies gilt auch für das Erfordernis einer ausreichenden Verfolgungsdichte als Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung. Verfolgungsdichte bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und im Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich quantitativ und qualitativ so ausweiten und wiederholen, dass es nicht nur möglich ist, dass jeder Gruppenangehörige davon betroffen sein kann, sondern dass ohne weiteres die aktuelle Gefahr besteht, dass jeder in eigener Person betroffen sein wird. Ob diese Voraussetzungen bezogen auf eine bestimmte Gruppe von Menschen in einem bestimmten Herkunftsstaat vorliegen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller ermittelten Umstände und ihrer Bedeutung festzustellen. Dabei müssen die Zahl und die Intensität der Verfolgungsmaßnahmen auch zur Größe der Gruppe, die diesen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist, in Beziehung gesetzt werden. Sowohl die Feststellung der Größe der jeweiligen Gruppe als auch die Feststellung der Quantität und der Qualität der auf sie abzielenden Verfolgungsmaßnahmen sind Teil der Sachverhaltsermittlung und der Würdigung des Sachverhalts durch die Tatsacheninstanzen im Einzelfall.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 23. Dezember 2002 – 1 B 42.02 –, juris, Rn. 5, und Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 –, juris, Rn. 18 ff.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Einen darüber hinausgehenden weitergehenden rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die von dem Kläger geltend gemachte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG in Verbindung mit § 138 Nr. 3 VwGO) führt nicht zur Zulassung der Berufung.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Das in Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verankerte Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das jeweilige Gericht im Rahmen seiner Rechtsprechung diesen Anforderungen genügt. Das Gericht ist allerdings nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu behandeln. Deshalb müssen, soll ein Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs festgestellt werden, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 17. August 2017    – 4 A 1904/17.A –, juris, Rn. 2 ff., mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, begründet grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Eine gerichtliche Hinweispflicht besteht ausnahmsweise nur dann, wenn auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht mit einer bestimmten Bewertung seines Sachvortrags durch das Gericht zu rechnen braucht.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. April 2011 – 4 BN 4.11 –, juris, Rn. 5; OVG NRW, Beschlüsse vom 15. Mai 2013 – 10 A 255/12 –, juris, Rn. 36 f., und vom 18. August 2008 – 5 A 1054/08.A –, jeweils mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon zeigt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zur Kenntnis genommen, dass der Kläger mit seinem Schriftsatz vom 26. März 2019 in einem nach Erfolglosigkeit eines ersten Eilverfahrens (8 L 633/18.A) bei dem Verwaltungsgericht anhängig gemachten weiteren Eilverfahren (4 L 366/19.A) erstmals vorgetragen hat, er sei sich bereits in Pakistan bewusst geworden, dass er homosexuell sei, denn es hat diesen Vortrag im Tatbestand des angefochtenen Urteils wiedergegeben (Seite 4 des Urteilsabdrucks). Das Verwaltungsgericht ist jedoch auch in Ansehung dieses Vorbringens zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger unverfolgt aus Pakistan ausgereist sei (Seite 9 des Urteilsabdrucks). Insbesondere habe es keine Vorverfolgung wegen seiner Homosexualität gegeben (Seite 10 des Urteilsabdrucks). Mit einer solchen Bewertung seines Vortrags durch das Verwaltungsgericht musste er im Übrigen rechnen, da er auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht etwa erklärt hat, er sei in Pakistan vor seiner Ausreise verfolgt worden, weil er homosexuell sei. Er behauptet ein solches Verfolgungsschicksal erstmals mit seiner Zulassungsschrift vom 15. Oktober 2020. Dass er, anwaltlich vertreten, in der mündlichen keine Gelegenheit gehabt hätte, zu seinem Verfolgungsschicksal, wie er es nunmehr im Zulassungsverfahren darstellt, vorzutragen, ist nicht ersichtlich. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist zu verneinen, wenn ein Beteiligter es unterlässt, im Prozess Gebrauch von den ihm verfahrensrechtlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu machen, sich rechtliches Gehör zu verschaffen.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. September 2020    – 4 A 2461/19 –, juris, Rn. 21 f., mit weiteren Nachweisen.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat außerdem festgestellt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe homosexueller Männer keine Verfolgung drohe (Seite 10 des Urteilsabdrucks), und hat damit sein diesbezügliches Vorbringen in Erwägung gezogen. Soweit der Kläger beklagt, dass das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt habe, dass er seine Homosexualität in Pakistan offen ausleben wolle und werde, zeigt er eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht auf, denn er hat diesen Aspekt seiner Homosexualität gegenüber dem Verwaltungsgericht nicht vorgetragen. Allein aus der in seinem Schriftsatz vom 26. März 2019 enthaltenen pauschalen Aussage, „das Ausleben dieser Sexualität war ihm dort [in Pakistan] nicht möglich, weil es mit Gefängnisstrafe sanktioniert wird“, war für das Verwaltungsgericht nicht konkret zu entnehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan seine Homosexualität dort offen ausleben wolle und werde. Auch die im Eilverfahren 4 L 366/19.A vorgelegte Bescheinigung einer Mitarbeiterin des Projekts queer refugee support C. vom 1. Februar 2019 verhält sich zu einer solchen Absicht nicht. Ebenso wenig hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vorgebracht, es sei ihm ein inneres Bedürfnis, seine Homosexualität in Pakistan offen zu leben. Allein der von dem Kläger in seiner ergänzenden Zulassungsbegründung vom 16. Februar 2022 betonte Umstand, dass er seine Homosexualität in Deutschland offen auslebe, rechtfertigt diesen Schluss nicht. Das Verwaltungsgericht war auch nicht verpflichtet, den anwaltlich vertretenen Kläger darauf hinzuweisen, dass er ein entsprechendes Bedürfnis nicht formuliert habe, oder von Amts wegen aufzuklären, ob er ein solches Bedürfnis empfinde.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör ergibt sich auch nicht aus der Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe sich nicht zu der in dem Eilverfahren 4 L 366/19.A eingereichten Stellungnahme des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) vom 8. März 2019 verhalten. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Auffassung, einem Asylantragsteller wie dem Kläger drohe nicht allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe homosexueller Männer im Fall der Rückkehr nach Pakistan flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung, auf die diesbezüglichen ausführlichen, auf der Auswertung einer Vielzahl von einschlägigen Erkenntnissen beruhenden Ausführungen in dem oben genannten Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz Bezug genommen. Inwieweit darüber hinaus eine ausdrückliche Befassung mit der Stellungnahme des LSVD und den darin aufgeführten Erkenntnissen unter dem Aspekt der Gewährung rechtlichen Gehörs erforderlich gewesen sein könnte, zeigt der Kläger nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen vorträgt, ihm stünde ein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes zu, und dies begründet, macht er der Sache nach ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils geltend, legt aber eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht dar.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.</p>
346,759
ovgnrw-2022-09-22-9-b-92322
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9 B 923/22
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:42"
"2022-10-17T11:10:40"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0922.9B923.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin mit dem (sinngemäßen) Antrag,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 18. Juli 2022 zu ändern, soweit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt worden ist, und der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu untersagen, die bei der amtlichen Kontrolle am 28. März 2022 in der Betriebsstätte der Antragstellerin (V.              2, L.    ) festgestellten Mängel entsprechend der Ankündigung im Schreiben vom 26. April 2022 im Internet auf der Seite www.lebensmitteltransparenz.nrw.de zu veröffentlichen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">ist unbegründet. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin wendet sich allein gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass (auch) die tatbestandliche Voraussetzung des § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB vorliege, wonach die Verhängung eines Bußgeldes von mindestens dreihundertfünfzig Euro zu erwarten ist oder eine Sanktionierung wegen einer Straftat zu erwarten ist und deswegen gemäß § 41 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten eine Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt ist. Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass vorliegend wegen der festgestellten hygienischen Mängel die Sanktionierung wegen einer Straftat zu erwarten sei. Die Antragsgegnerin habe das Verfahren nach § 41 OWiG wegen des Verdachts einer Straftat an die Staatsanwaltschaft L.    abgegeben. Mittlerweile sei das Hauptverfahren gegen den Geschäftsführer der Antragstellerin vor dem Amtsgericht L.    eröffnet worden.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Hiergegen wendet die Beschwerde ein, inzwischen habe die Verhandlung vor dem Amtsgericht L.    stattgefunden und das Amtsgericht habe das Verfahren nach § 153a StPO gegen Auflagenzahlung eingestellt. Aus diesem Grund fehle es an der Voraussetzung, dass eine Sanktionierung wegen einer Straftat bzw. die Verhängung eines Bußgeldes zu erwarten sei. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass Voraussetzung für eine Veröffentlichung sei, dass der Antragstellerin bzw. deren Geschäftsführer ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorzuwerfen sei. Ein Verstoß gegen § 12 LFGB liege vor dem Hintergrund der Einstellung des Strafverfahrens nicht vor. Dieser Einwand der Antragstellerin greift nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass wegen der bei der Betriebskontrolle am 28. März 2022 festgestellten hygienischen Mängel (Mäusebefall im Lager und im Produktionsbereich, Mäusekot auf Regalen und Ablagen, Mäusekot und Fraßspuren von Schadnagern an und in Pizzakartons) eine Sanktionierung wegen einer Straftat zu erwarten war. Der Einwand der Antragstellerin, strafrechtlich relevant sei nicht das reine Vorhandensein von Mäusen, sondern erst das Inverkehrbringen für den Verzehr durch den Menschen ungeeigneter Lebensmittel, ist zwar zutreffend. Insoweit hat allerdings bereits das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass ein Inverkehrbringen ‑ anders als die Antragstellerin offenbar meint ‑ nicht erst bei einer Abgabe derartiger Lebensmittel an Verbraucher anzunehmen ist, sondern „Inverkehrbringen“ nach der Legaldefinition in § 3 Abs. 3 LFGB, Art. 3 Nr. 8 der VO (EU) Nr. 178/2002 bereits das Bereithalten von Lebensmitteln für Verkaufszwecke oder jede andere Form der Weitergabe ist.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dafür, dass die Sanktionierung wegen einer Straftat zu erwarten war, spricht neben der Art der Verstöße zudem der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft L.    Anklage erhoben und das Amtsgericht L.    das Hauptverfahren eröffnet hat, sowohl Staatsanwaltschaft als auch Amtsgericht mithin einen hinreichenden Tatverdacht gesehen haben.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dass das Strafverfahren letztlich nach § 153a StPO eingestellt worden ist, steht der Annahme, dass die Sanktionierung wegen einer Straftat zu erwarten war, nicht entgegen. Die Einstellung des Verfahrens nach der genannten Vorschrift bedeutet weder, dass objektiv keine Straftat vorliegt, noch dass dem Geschäftsführer der Antragstellerin kein schuldhaftes Verhalten,</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">vgl. zu dieser Voraussetzung OVG NRW, Beschluss vom 31. März 2022 ‑ 9 B 159/22 ‑, juris Rn. 30 f.,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">vorzuwerfen ist. Vielmehr ist bei der Einstellung nach § 153a StPO gerade von der Erfüllung eines Straftatbestandes auszugehen. Die Einstellung nach dieser Vorschrift ist ein zweckmäßiges vereinfachtes Erledigungsverfahren im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität mit Beschleunigungs- und Entlastungseffekt. Es geht um eine verurteilungslose Friedensstiftung ohne Verzicht auf Sanktionen, aber ohne Strafe und Vorbestraftsein.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu insgesamt Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 153a Rn. 2.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Eine strafrechtliche Verurteilung ist im Übrigen auch nach dem Wortlaut des § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB nicht Voraussetzungen für eine Veröffentlichung. Danach kommt es allein darauf an, dass die Sanktionierung wegen einer Straftat „zu erwarten ist“. Erforderlich ist also eine diesbezügliche Prognose, nicht dagegen eine strafrechtliche Verurteilung. Damit wird ersichtlich dem Umstand Rechnung getragen, dass die zuständige Behörde die Öffentlichkeit „unverzüglich“ zu informieren hat, die Veröffentlichung also regelmäßig vor der Beendigung eines etwaigen Strafverfahrens erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und Abs. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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ovgnrw-2022-09-22-18-a-115422
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18 A 1154/22
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:28"
"2022-10-17T11:10:40"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0922.18A1154.22.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Antragsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Antragsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Gründe:</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die mit dem Zulassungsbegehren vorgebrachten, für die Prüfung maßgeblichen Einwände (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) begründen nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und führen auch nicht auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit mit Blick auf das Zulassungsvorbringen von Relevanz - ausgeführt, die Niederlassungserlaubnis der Klägerin sei gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG anlässlich ihrer Ausreise am 5. August 2015 in die Türkei erloschen. Dem Erlöschen stehe § 51 Abs. 2 AufenthG nicht entgegen. Die Beklagte sei bei ihrer internen Berechnung zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, der Lebensunterhalt der Klägerin sei zum Zeitpunkt der Verlagerung des Lebensmittelpunkts in die Türkei im August 2015 nicht gesichert gewesen. In der Bedarfsgemeinschaft habe eine Unterdeckung i. H. v. 354,64 Euro bestanden. Renteneinkünfte der Mutter der Klägerin seien zutreffend nicht berücksichtigt worden. Die mit Schreiben vom 30. September 2015 erfolgte Bewilligung sei erst zum 26. September 2015 und damit nach der Verlagerung des Lebensmittelpunkts erfolgt. Es sei im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass Erwerbseinkommen der Klägerin nicht mit in die Berechnung eingeflossen sei. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass die Frage des Lebensunterhalts nicht punktuell betrachtet werden dürfe. Vielmehr sei insoweit eine Prognoseentscheidung für die Zeit nach der Wiedereinreise zu treffen, bei der auch die Erwerbsbiographie des betreffenden Ausländers zu berücksichtigen sei. Zu unterscheiden sei zwischen dem Zeitpunkt der prognostischen Beurteilung und dem Prognosezeitraum. Bei der Prognose gingen Zweifel zu Lasten des ausgereisten Ausländers. Vor diesem Hintergrund erscheine es zwar nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin, die zum Zweck eines Studiums ausgereist sei, mit einem akademischen Abschluss nach Deutschland zurückkehre und damit höhere Erwerbschancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt habe als vor dem Studium. Eine solche Prognose lasse sich aber nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit treffen. Die insoweit verbleibenden Zweifel gingen zu Lasten der Klägerin. Entsprechendes gelte für das Erlöschen des Daueraufenthaltsrechts nach § 4 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 7 ARB 1/80. Nach den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht der Klägerin wegen der Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Türkei erloschen.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die hiergegen vorgebrachten Einwände begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Zur Darlegung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bedarf es einer auf schlüssige Gegenargumente gestützten Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts. Dabei ist in substantiierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. April 2013- 18 A 886/12 -.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel im Sinne der Vorschrift liegen dann vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 16. April 2020 - 1 BvR 2705/16 -, juris, Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Vortrag, der Lebensunterhalt sei schon im August 2015 gesichert gewesen, das Verwaltungsgericht habe die Renteneinkünfte der Mutter zu Unrecht nicht berücksichtigt, ein Rentenanspruch sei nicht erst dann begründet, wenn der Rentenbescheid vorliege, bereits Tage oder Wochen vor Erlass des Rentenbescheids sei ausrechenbar, wie hoch die Rente sein werde, der Rentenbescheid gebe zum Zeitpunkt seiner Zustellung an den Rentenempfänger nur wieder, was durch die Erwerbstätigkeit während des Lebens an Rentenanwartschaft erworben und in Folge dessen durch Bescheid festzustellen sei, verfängt jedenfalls im Ergebnis nicht. Das Zulassungsvorbringen setzt sich zunächst nicht in der erforderlichen Weise mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den Anforderungen an eine Prognoseentscheidung und den dabei zu berücksichtigenden Umständen auseinander. Maßgeblich ist jedoch, dass das Zulassungsvorbringen der zutreffenden Argumentation der Beklagten in der Zulassungserwiderung vom 21. Juni 2022 nichts entgegensetzt. Danach habe die Klägerin bereits ca. acht Monate nach ihrer Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland ihr 25. Lebensjahr vollendet. Selbst wenn also - wie von der Klägerin begehrt - bei der Prognoseentscheidung die Rente ihrer Mutter berücksichtigt worden wäre, hätte eine positive Prognose hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung nicht getroffen werden können. Denn mit Vollendung des 25. Lebensjahres gehörte die Klägerin gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II nicht mehr zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund ist auch nicht ersichtlich, wieso - wie die Klägerin meint - das Gebot der Rechtssicherheit es „mindestens erforderlich gemacht“ hätte, vor der Feststellung einer Unterdeckung in Höhe der behaupteten Rente eine Auskunft des Rententrägers einzuholen, ob im August 2015 bereits eine Rente in gleicher Höhe zu erwarten gewesen wäre, wie sie dann im September 2015 beschieden worden sei.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO führt nicht zur Zulassung der Berufung. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat eine Rechtssache nur dann, wenn mit ihr eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht (hinreichend) geklärte Frage aufgeworfen wird, die im Interesse der Einheitlichkeit der Recht-sprechung oder einer bedeutsamen Fortentwicklung des Rechts der Klärung bedarf und die für die Entscheidung erheblich sein wird, oder wenn die in der Be-rufungsentscheidung zu erwartende Klärung von Tatsachenfragen verallge-meinerungsfähige, d.h. einer unbestimmten Vielzahl von Fällen dienende Aus-wirkungen entfaltet. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Frage sich aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegung und auf der Grundlage der bereits vorliegenden Rechtsprechung ohne weiteres beantworten lässt oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Revisionsrecht BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 -, juris, Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Dabei ist zur Darlegung des Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird. Zudem verlangt die Begründungspflicht, dass sich das Vorbringen mit den Erwägungen der angefochtenen Entscheidung, auf die sich die Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt. Soweit sich die Vorinstanz mit der Frage beschäftigt hat, gehört zu der erforderlichen Aufarbeitung des Prozessstoffs die Erörterung sämtlicher Gesichtspunkte, die im Einzelfall für die Zulassung der Berufung rechtliche Bedeutung haben.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Revisionsrecht BVerwG, Beschluss vom 11. August 2015 - 1 B 37.15 -, juris, Rn. 3.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger für grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">„Ist eine türkische Staatsangehörige, die nach Erfüllung der Voraussetzung des § 35 AufenthG auf Antrag eine Niederlassungserlaubnis erhalten hatte und zugleich kraft Gesetzes das Daueraufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 aufgrund der im Bundesgebiet erworbenen schulischen Ausbildung erhielt, vergleichbar mit einem Drittstaater-Daueraufenthaltsberechtigten, der auf Antrag die Erlaubnis nach § 9a AufenthG erhielt?“,</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">ist - soweit sie grundsätzlich klärungsfähig ist - bereits geklärt.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union können aus Art. 7 ARB 1/80 erwachsene Rechte nur unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 19.14 -, juris, Rn. 14, m. w. N. zur Rspr. des EuGH.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Das gilt unabhängig davon, ob der konkrete Sachverhalt unter den ersten oder den zweiten Satz von Art. 7 ARB 1/80 fällt.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 - C-325/05 -, juris, Rn. 45.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Im Falle eines längeren Auslandsaufenthalts des assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kommt es bei der Bewertung aller Umstände des Einzelfalles, ob er das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat, maßgeblich darauf an, ob er seinen Lebensmittelpunkt aus Deutschland wegverlagert hat. Dabei stehen das zeitliche Moment und die Gründe für das Verlassen des Bundesgebiets nicht isoliert nebeneinander; vielmehr besteht zwischen ihnen ein Zusammenhang: Je länger der Betroffene sich im Ausland aufhält, desto eher spricht das dafür, dass er seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben hat. Ab einem Auslandsaufenthalt von ungefähr einem Jahr müssen gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sein Lebensmittelpunkt noch im Bundesgebiet ist.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 19.14 -, juris, Rn. 18.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Dabei kommt Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nicht die Aufgabe zu, den „nicht unerheblichen Zeitraum" im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union exakt zu fixieren. Nach dieser Vorschrift ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr berechtigt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, wenn er sich während eines Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten nicht im Gebiet der Gemeinschaft aufgehalten hat. Da diese Vorschrift nicht nach den Gründen für den Aufenthalt außerhalb des Gebiets der Europäischen Union differenziert, erscheint sie als abschließende Regelung zur Konkretisierung des hier maßgeblichen Erlöschensgrundes ungeeignet. Dennoch liegt es mit Blick auf die Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Ziebell-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 -, juris, Rn. 75 ff.) nahe, bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen die jeweiligen Maßstäbe der Daueraufenthaltsrichtlinie als unionsrechtlichen Bezugsrahmen nicht nur für die Bestimmung des Abschiebungsschutzes heranzuziehen, sondern sie auch für den hier maßgeblichen Verlustgrund assoziationsrechtlicher Rechte als Orientierung fruchtbar zu machen. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, der Zwölfmonatsfrist des Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109/EG jedenfalls eine gewichtige Indizwirkung dafür zu entnehmen, ab wann ein Assoziationsberechtigter - wenn keine berechtigten Gründe vorliegen - seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben und dadurch seine assoziationsrechtliche Rechtsstellung verloren hat.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 19.14 -, juris, Rn. 21.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Daraus folgt jedoch nicht, dass ein erheblicher Zeitraum, der zum Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts führt, immer nur dann vorliegt, wenn sich der betreffende Ausländer länger als zwölf aufeinanderfolgende Monate im Ausland aufgehalten hat.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 8. Juli 2022- 10 ZB 22.1379 -, juris, Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Ob der Betroffene nach diesen Maßstäben das Hoheitsgebiet des jeweiligen Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat, ist eine Frage des konkreten Einzelfalles und keiner (darüber hinausgehenden) grundsätzlichen Klärung zugänglich. Daher trifft die Annahme der Klägerin, „auch nur wenige Tage Aufenthalts innerhalb eines Jahres“ in der Bundesrepublik Deutschland verhinderten das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts, in dieser Allgemeinheit nicht zu.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerin schließlich im vorgenannten Zusammenhang (wohl) meint, § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG könnten nicht Grundlage für eine Verlustfeststellung eines Daueraufenthaltsrechts aus „Art. 7 Abs. 2 zweiter Spiegelstrich“ sein, übersieht sie, dass das Verwaltungsgericht nicht annimmt, das Erlöschen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts bestimme sich nach den genannten Regelungen im Aufenthaltsgesetz.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar.</p>
346,757
ovgnrw-2022-09-22-4-b-105722ne
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4 B 1057/22.NE
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:27"
"2022-10-17T11:10:40"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0922.4B1057.22NE.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag wird abgelehnt.</p> <p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat versteht den Antrag,</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">§ 1 der Ordnungsbehördlichen Verordnung über einen verkaufsoffenen Sonntag anlässlich der Veranstaltung „Michaeliswoche“ in der Stadt Gütersloh vom 2.9.2022 im Wege der einstweiligen Anordnung außer Vollzug zu setzen,</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin im Eilverfahren entsprechend ausschließlich bezogen auf den unmittelbar bevorstehenden verkaufsoffenen Sonntag am 25.9.2022. Dieser Antrag ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen nicht vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Hieran fehlt es. Die von der Antragstellerin angegriffene Freigabe der Ladenöffnung am 25.9.2022 ist gemessen an dem für eine normspezifische einstweilige Anordnung allgemein anerkannten besonders strengen Maßstab nicht offensichtlich rechtswidrig.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vielmehr spricht viel dafür, dass die umstrittene Verordnungsregelung von der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 LÖG NRW gedeckt ist, insbesondere dem in dieser gesetzlichen Regelung konkretisierten verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleistet und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert, gerecht wird.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die angegriffene Bestimmung aus der Ordnungsbehördlichen Verordnung vom 2.9.2022 betreffend die streitgegenständliche Ladenöffnungsfreigabe am 25.9.2022 ist ausweislich der Beschlussvorlage (Drucksachen-Nr. 299/2022) zur Ratssitzung am 2.9.2022 gestützt auf § 6 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 LÖG NRW. Hiernach ist die zuständige örtliche Ordnungsbehörde ermächtigt, die Tage nach § 6 Abs. 1 LÖG NRW durch Verordnung freizugeben. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 LÖG NRW dürfen Verkaufsstellen an jährlich höchstens acht, nicht unmittelbar aufeinanderfolgenden Sonn- oder Feiertagen im öffentlichen Interesse ab 13 Uhr bis zur Dauer von fünf Stunden geöffnet sein. Gemäß Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift liegt ein öffentliches Interesse unter anderem insbesondere vor, wenn die Öffnung im Zusammenhang mit örtlichen Festen, Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen erfolgt (Nr. 1). Nach § 6 Abs. 1 Satz 3 LÖG NRW wird das Vorliegen eines solchen Zusammenhangs vermutet, wenn die Ladenöffnung in räumlicher Nähe zur örtlichen Veranstaltung sowie am selben Tag erfolgt.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Bei Ladenöffnungen im Zusammenhang mit örtlichen Veranstaltungen nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LÖG NRW muss nach höchstrichterlicher Rechtsprechung gewährleistet sein, dass die Veranstaltung ‒ und nicht die Ladenöffnung ‒ das öffentliche Bild des betreffenden Sonntags prägt. Um das verfassungsrechtlich geforderte Regel-Ausnahme-Verhältnis zu wahren, muss die im Zusammenhang mit der Ladenöffnung stehende Veranstaltung selbst einen beträchtlichen Besucherstrom auslösen. Ferner müssen Sonntagsöffnungen wegen einer Veranstaltung in der Regel auf deren räumliches Umfeld beschränkt werden, nämlich auf den Bereich, der von der Ausstrahlungswirkung der jeweiligen Veranstaltung erfasst wird und in dem die Veranstaltung das öffentliche Bild des betreffenden Sonntags prägt. Die prägende Wirkung muss dabei von der Veranstaltung selbst ausgehen. Die damit verbundene Ladenöffnung entfaltet nur dann eine lediglich geringe prägende Wirkung, wenn sie nach den gesamten Umständen als bloßer Annex zur anlassgebenden Veranstaltung erscheint. Das kann für den Fall angenommen werden, dass die Ladenöffnung innerhalb der zeitlichen Grenzen der Veranstaltung ‒ also während eines gleichen oder innerhalb dieser Grenzen gelegenen kürzeren Zeitraums ‒ stattfindet und sich räumlich auf das unmittelbare Umfeld der Veranstaltung beschränkt. Von einem Annexcharakter kann nur die Rede sein, wenn die für die Prägekraft entscheidende öffentliche Wirkung der Veranstaltung größer ist als die der Ladenöffnung. Je größer die Ausstrahlungswirkung des Marktes wegen seines Umfangs oder seiner besonderen Attraktivität ist, desto weiter reicht der räumliche Bereich, in dem die Verkaufsstellenöffnung noch in Verbindung zum Marktgeschehen gebracht wird. Die öffentliche Wirkung hängt wiederum maßgeblich von der jeweiligen Anziehungskraft ab. Die jeweils angezogenen Besucherströme bestimmen den Umfang und die öffentliche Wahrnehmbarkeit der Veranstaltung einerseits und der durch die Ladenöffnung ausgelösten werktäglichen Geschäftigkeit andererseits. Daher lässt sich der Annexcharakter einer Ladenöffnung kaum anders als durch einen prognostischen Besucherzahlenvergleich beurteilen. Erforderlich ist dabei, dass die dem zuständigen Organ bei der Entscheidung über die Sonntagsöffnung vorliegenden Informationen und die ihm sonst bekannten Umstände die schlüssige und nachvollziehbare Prognose erlauben, die Zahl der von der Veranstaltung selbst angezogenen Besucher werde größer sein als die Zahl derjenigen, die allein wegen einer Ladenöffnung am selben Tag ‒ ohne die Veranstaltung ‒ kämen. § 6 Abs. 1 Satz 3 LÖG NRW entbindet von einer auf die jeweiligen Besucherzahlen bezogenen Prognose im Einklang mit Verfassungsrecht aber dann, wenn gewährleistet ist, dass atypische Sachverhaltsgestaltungen nicht in die Nachweiserleichterung einbezogen werden.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3.9.2021 – 4 B 1427/21.NE –, juris, Rn. 8 f., unter Hinweis auf BVerwG, Urteile vom 11.11.2015 – 8 CN 2.14 –, BVerwGE 153, 183 = juris, Rn. 24 f., und vom 22.6.2020 – 8 CN 3.19 –, BVerwGE 168, 356 = juris, Rn. 15 ff., 17 ff., 21, 23, 25 f.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Diesen Maßstäben wird die angegriffene Freigaberegelung aller Voraussicht nach gerecht. Sie soll ausweislich der Beschlussvorlage (Drucksachen-Nr. 299/2022) im Zusammenhang mit und im räumlichen Umfeld der Veranstaltungsflächen der traditionellen „Michaeliskirmes“ und des Straßenkünstler-Festivals stehen. Die Beschlussfassung nimmt an, die Sonntagsöffnung stehe im zeitlichen Zusammenhang mit der Veranstaltung und sei ihr räumlich nahe angesiedelt. Das sich auf den gesamten Innenstadtbereich erstreckende Straßenkünstler-Festival, begleitet durch verschiedene Stände, Kinderaktionen und gastronomische Angebote sowie die auf und um den Marktplatz stattfindende Michaeliskirmes mit rund 100 Fahr- und Unterhaltungsgeschäften sowie sonstigen Schaustellerbuden erfreuten sich sowohl in der städtischen Bevölkerung als auch bei auswärtigen Besuchern großer Beliebtheit. Der verkaufsoffene Sonntag anlässlich der letzten Michaeliswoche vor der Pandemie habe eine Frequenz von 35.000 Besuchern gehabt. Es seien keine Anzeichen zu erkennen, dass diese Besucherzahl massiv einbrechen werde. Mit dieser Besucherzahl werde die Besucherzahl an einem durchschnittlichen Samstag von rund 11.500 Besuchern um ein Vielfaches übertroffen. Die Öffnung von Verkaufsstellen solle auf den Innenstadtbereich einschließlich unmittelbar angrenzender Randbereiche mit zentralen Parkangeboten begrenzt werden. Bei Beschlussfassung war ausweislich des Anhörungsschreibens in Anlage III der Beschlussvorlage ebenfalls bekannt, dass das vom Innenstadtbereich nur durch eine gleisbedingte Unterführung getrennte Parkplatzgelände des Porta-Möbelmarkts nicht ausschließlich als Parkfläche für mit dem Auto anreisende Veranstaltungsbesucher dienen werde, sondern auf diesem Gelände immer wechselnde, neue Aktionen angeboten werden sollen. Diese beschreibt die Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung dahingehend, passend zum Straßenkünstlerfestival „Gütersloher Straßenfiffi“ gebe es auf dem großen Parkplatz vom Porta-Möbelmarkt ein Familienfest für Groß und Klein. Bereits bei der Ankunft würden „die Besucher*innen des Festes von einem Stelzenläufer begrüßt und auf die verschiedenen Mitmachaktionen vor Ort eingestimmt“.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Diese Annahmen sind ausweislich der Verwaltungsvorgänge nicht offensichtlich unschlüssig und damit rechtlich voraussichtlich nicht zu beanstanden. Die Sonntagsöffnung findet innerhalb des Zeitraums statt, in dem die Anlassveranstaltungen durchgeführt werden. Die von der Antragsgegnerin angestellte Besucherprognose lässt vertretbar auf ein deutliches Überwiegen der Anzahl von Veranstaltungsbesuchern gegenüber ausschließlich von einer Ladenöffnung angezogenen Besuchern schließen. Die von ihr gegenüber gestellten Besucherzahlen für den verkaufsoffenen Sonntag von rund 35.000 Besuchern und für einen „normalen“ Samstag von rund 11.500 Besuchern sind weder angegriffen noch für die Prognose ungeeignet.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Ladenöffnung ist zudem auf Flächen beschränkt, die im Wesentlichen im unmittelbaren Umfeld der einzelnen Veranstaltungsorte liegen und bezüglich derer die Antragsgegnerin eine Ausstrahlung der besonders attraktiven Innenstadtveranstaltung angenommen hat. Es spricht insbesondere viel dafür, dass ein räumlicher Bezug zwischen der Veranstaltung und dem Bereich der Ladenöffnung nicht deshalb fehlt, weil die Antragsgegnerin den räumlichen Bereich auf die Flächen um die Möbelhäuser porta Möbel und SB Möbel Boss sowie um das Gartencenter Brockmeyer (Friedrich-Ebert-Straße/Holzstraße) erstreckt hat.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu: OVG NRW, Beschluss vom 22.3.2019 ‒ 4 B 398/19 ‒, juris, Rn. 16 ff.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ihre Annahme, dass die Bedeutung der Parkflächen beim Porta-Möbelmarkt besonders hoch sei, weil der Marktplatz selbst Veranstaltungsfläche sei und nicht zum Parken zur Verfügung stehe, erscheint zur Begründung schlüssig. Hierdurch wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich aus Sicht der Antragsgegnerin nicht um eine beliebige Parkmöglichkeit handelt, sondern um das zentrale Parkangebot zur Bewältigung des außergewöhnlich großen veranstaltungsbedingten Besucherstroms, für das eine von der Veranstaltung selbst ausgehende Ausstrahlungswirkung angenommen worden ist. Sie hat zur Begründung insbesondere darauf verwiesen, dass diese Parkflächen ‒ ebenso wie die oberirdischen Parkplätze an den Straßen der Innenstadt ‒ stark frequentiert würden und zwingend erforderlich seien. Es sei daher sachgerecht, vereinzelt liegenden Geschäften im Umfeld dieser Parkplatzflächen außerhalb der unmittelbaren innerstädtischen Kernzone zur Versorgung der Besucher die Möglichkeit einer sonntäglichen Geschäftsöffnung zu eröffnen. Dass die sich auf die gesamte Innenstadt verteilende Veranstaltung auch noch Ausstrahlungswirkung auf die freigegebenen Flächen um die genannten Parkplatzflächen aufweist, erscheint angesichts der Nähe dieser Parkplatzflächen, die ausschließlich durch die Gleisanlagen des Güterloher Bahnhofs von der Innenstadt abgetrennt sind, und von denen aus die Innenstadt in wenigen hundert Metern erreichbar ist sowie die vertretbar angenommene Notwendigkeit der Schaffung von nahe gelegenem Parkraum für die Veranstaltung nicht unschlüssig. Bestärkt wird dieser Eindruck durch die den Ratsmitgliedern bekannte Absicht, auch auf dem Parkplatzgelände des Porta-Möbelmarktes immer wechselnde, neue Aktionen anzubieten. Damit kann den den Parkplatz nutzenden Besuchern der Eindruck vermittelt werden, das Straßenkunst- und Volksfestgeschehen beginne bereits auf dem Parkplatz und dehne sich sodann auf die Innenstadt aus.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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ovgnrw-2022-09-22-8-a-100520
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8 A 1005/20
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:26"
"2022-10-17T11:10:39"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0922.8A1005.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27. Januar 2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf die Wertstufe bis 1.000,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Das ist hier nicht der Fall. Es bestehen weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (dazu I.) noch ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hinreichend dargelegt (dazu II.).</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">I. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO daran, dass das Verwaltungsgericht die Fortsetzungsfeststellungsklage im Ergebnis zu Recht abgewiesen hat.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. Dabei geht der Senat davon aus, dass die Klägerin bei sachgerechter Auslegung ihres Klagebegehrens, abweichend von dem in der mündlichen Verhandlung protokollierten Antrag, sinngemäß die Feststellung begehrt hat,</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">dass der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 21. August 2017 rechtswidrig war und sie bis zu ihrem Wegzug aus B.      zum 1. Februar 2019 einen Anspruch auf Erteilung eines Bewohnerparkausweises für die Parkzone „O“ hatte,</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">hilfsweise,</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">dass der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 21. August 2017 rechtswidrig war und sie einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung ihres Antrags auf Erteilung eines Bewohnerparkausweises für die Parkzone „O“ hatte.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ferner geht der Senat davon aus, dass das Verwaltungsgericht die so verstandene Klage nicht entscheidungstragend als unzulässig und auch nicht sowohl als unzulässig als auch als unbegründet abweisen wollte, was wegen der Verschiedenheit der Rechtskraftwirkung einer Prozess- und einer Sachabweisung bedenklich wäre.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2000 - 7 C 3.00 -, juris Rn. 17 m. w. N.; zum Darlegungserfordernis bei Vorliegen einer sog. Mehrfachbegründung vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 100.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Diese Auslegung des Klageantrags und der Urteilsgründe beruht auf Folgendem:</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach Ablehnung des Antrags auf Erteilung eines Bewohnerparkausweises für die Parkzone „O“ durch Bescheid vom 21. August 2017 hatte die Klägerin zunächst am 24. August 2017 Verpflichtungsklage erhoben; den angekündigten Verpflichtungsantrag ergänzte sie sodann mit Schriftsatz vom 19. Januar 2018 um einen hilfsweise zu stellenden Bescheidungsantrag. Nach ihrem Umzug von B.      nach M.       zum 1. Februar 2019 stellte sie ihr Klagebegehren mit Schriftsatz vom 18. Juni 2019 auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag um. Zu dessen Begründung trug sie, zugleich in Auseinandersetzung mit dem im vorangegangenen Eilbeschwerdeverfahren ergangenen Beschluss des Senats vom 8. November 2018 - 8 B 1012/18 -, vor, dass die Verpflichtungsklage zum Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses begründet gewesen sei. Die Auffassung des Senats, dass ihr ein Bewohnerparkausweis auch dann nicht zwingend zu erteilen wäre, wenn die Ermessenspraxis der Beklagten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstieße, treffe nicht zu, denn eine andere Möglichkeit der Heilung der unterstellten Ungleichbehandlung als die Aufnahme der Klägerin in den Kreis der Anspruchsberechtigten bestehe nicht. Damit hat die Klägerin deutlich gemacht, dass sie mit ihrem Feststellungsbegehren nicht lediglich die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids, sondern das Bestehen eines Anspruchs auf Erteilung des Bewohnerparkausweises festgestellt wissen wollte. So hat das Verwaltungsgericht das Klagebegehren der Sache nach ausweislich der Ausführungen auf den Seiten 10 f. des Urteils ersichtlich auch verstanden. Dort heißt es ausdrücklich, die Klägerin habe weder einen Anspruch auf Erteilung des Bewohnerparkausweises noch einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gehabt.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die so verstandene Fortsetzungsfeststellungsklage hat das Verwaltungsgericht wohl letztlich ersichtlich nicht als unzulässig angesehen. Es hat hierzu ausgeführt, dass die beabsichtigte Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs ein Feststellungsinteresse i. S. d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO begründe. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei der beabsichtigte Amtshaftungsprozess nicht offensichtlich aussichtslos. Zwar sei von einer schuldhaften Amtspflichtverletzung nicht auszugehen, wenn ein Kollegialgericht das Verhalten des Beamten als rechtmäßig gewertet habe; dafür reiche die lediglich in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangene Entscheidung des Senats aber nicht aus. Ob die Klägerin ihren mit der beabsichtigten Schadenersatzklage geltend zu machenden Anspruch der Höhe nach hinreichend konkretisiert habe, sei zweifelhaft, da ihr mit der Erteilung des Parkausweises gar kein Anspruch auf die Nutzung eines öffentlichen Parkplatzes zugestanden hätte und die Klägerin auch nicht etwa die in dem betreffenden Zeitraum tatsächlich entrichteten Parkgebühren geltend mache. Das könne aber offen bleiben, weil die Klage „zudem“ unbegründet sei. Diesen Ausführungen ist jedenfalls nicht hinreichend deutlich zu entnehmen, dass das Verwaltungsgericht die Klage in entscheidungserheblicher Weise insgesamt als unzulässig angesehen hätte, was im Übrigen - wie aus den nachfolgenden Ausführungen folgt - auch nicht zuträfe.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">2. Ausgehend von der vorstehenden Auslegung ergeben sich aus der Antragsbegründung keine ernstlichen Zweifel daran, dass das Verwaltungsgericht die Klage sowohl in Bezug auf den Hauptantrag (dazu a) als auch in Bezug auf den Hilfsantrag (dazu b) im Ergebnis zu Recht abgewiesen hat.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">a) Der Antrag auf Feststellung, dass die Klägerin bis zu ihrem Wegzug aus B.      zum 1. Februar 2019 einen Anspruch auf Erteilung eines Bewohnerparkausweises für die Parkzone „O“ hatte, ist zulässig (dazu aa), aber unbegründet (dazu bb).</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">aa) Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist das Feststellungsinteresse bei einer - hier in analoger Anwendung von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaften - Fortsetzungsfeststellungsklage, die der Vorbereitung eines Amtshaftungsverfahrens vor dem Zivilgericht dienen soll, nur zu bejahen, wenn ein solcher Prozess bereits anhängig, mit Sicherheit zu erwarten oder ernsthaft beabsichtigt ist, sowie, wenn die begehrte Feststellung in diesem Verfahren erheblich und die Rechtsverfolgung nicht offensichtlich aussichtslos ist. Die substantiierte Darlegung des Feststellungsinteresses setzt nach der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts auch annähernd konkrete Angaben zur Höhe des Schadens voraus.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. April 2018 - 2 A 1387/15 -, juris Rn. 47, Beschluss vom 23. Januar 2003 - 13 A 4859/00 -, juris Rn. 14 ff.; vgl. auch Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 113 Rn. 278.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Diesem Erfordernis hat die Klägerin genügt, indem sie den ihr entstandenen Schaden in der mündlichen Verhandlung dahin konkretisiert hat, dass sie für die Dauer eines Jahres einen Stellplatz für monatlich 85,- Euro habe anmieten müssen. Davon, dass der sich daraus ergebende Betrag um einen gewissen Anteil zu mindern wäre, weil ein privater Stellplatz gegenüber der bloßen, tatsächlich aber nicht gesicherten Möglichkeit, in einer Bewohnerparkzone einen freien Parkplatz zu nutzen, Vorteile bietet, geht auch die Klägerin in der Antragsbegründung, in der sie einen abzuziehenden Anteil von 25 % schätzt, aus. Ob der Schadenersatzanspruch mit Blick auf die so zunächst einmal bezifferte Schadenshöhe in voller Höhe begründet oder um welchen Betrag er zu reduzieren wäre, ist nicht im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, sondern - gegebenenfalls auch in Anwendung von § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO - vom Zivilgericht zu beurteilen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">bb) Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Erledigung ihres ursprünglichen Klagebegehrens durch ihren Umzug von B.      nach M.       keinen Anspruch auf Erteilung des beantragten Bewohnerparkausweises hatte.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Als Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin kam nur § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 2a StVO i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG a. F. (nunmehr: § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 15 Buchst. b) StVG) in Betracht. Danach treffen die Straßenverkehrsbehörden auch die notwendigen Anordnungen im Zusammenhang mit der Kennzeichnung von Parkmöglichkeiten für Bewohner städtischer Quartiere mit erheblichem Parkraummangel durch vollständige oder zeitlich beschränkte Reservierung des Parkraums für die Berechtigten oder durch Anordnung der Freistellung von angeordneten Parkraumbewirtschaftungsmaßnahmen. Gemäß § 45 Abs. 1b Satz 2 StVO erfolgt auch die Anordnung der Parkmöglichkeiten für Bewohner im Einvernehmen mit der Gemeinde. Die Vorschrift enthält neben der Ermächtigung zur Einrichtung von Bewohnerparkzonen auch die Rechtsgrundlage für die in diesem Zusammenhang erfolgende Erteilung von Bewohnerparkausweisen.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, enthält § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 2a StVO somit in doppelter Hinsicht eine Ermessensermächtigung, nämlich neben der Ermächtigung zur Einrichtung von Bewohnerparkzonen - deren Wirksamkeit die Klägerin hier nicht bezweifelt - auch die Rechtsgrundlage für die in diesem Zusammenhang erfolgende Erteilung von Bewohnerparkausweisen. Hat die Straßenverkehrsbehörde in einem ersten Schritt von ihrem Ermessen und der Ermächtigung zur Kennzeichnung bzw. Einrichtung einer Bewohnerparkzone Gebrauch gemacht, so folgt auf einer zweiten Stufe die Ermessensentscheidung zur Erteilung von Bewohnerparkausweisen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. März 1996 - 25 A 3355/95 -, juris Rn. 12 f., 23 f.; Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Aufl. 2020, Rn. 1241.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesem in § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 2a StVO vorgesehenen doppelten Ermessen stand der Klägerin ein Anspruch auf Erteilung des Bewohnerparkausweises für die Parkzone „O“, in der sie seinerzeit wohnte, nicht schon deshalb zu, weil sie Bewohnerin dieser Parkzone war. Soweit es in Abschnitt X Nr. 7 (Rz. 35) der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 45 Abs. 1 bis 1e StVO (VwV-StVO) heißt, dass einen Anspruch auf Erteilung habe, wer in dem Bereich meldebehördlich registriert sei und dort tatsächlich wohne, gibt die Verwaltungsvorschrift - wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat - eine notwendige, aber nicht alleinige Voraussetzung für den Anspruch auf Erteilung eines Bewohnerparkausweises wieder.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. März 1996 - 25 A 3355/95 -, juris Rn. 25.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Ermessensausübung der Beklagten setzt bei diesem Normverständnis entgegen der Annahme der Klägerin keinen atypischen, ein Abweichen von der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift rechtfertigenden Fall voraus. Vielmehr handelt es sich um eine Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde - hier der Beklagten -, die vom Gericht nur nach Maßgabe von § 114 Satz 1 VwGO eingeschränkt zu überprüfen ist. Dabei war die Beklagte mit Blick auf den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) an ihre eigenen Ermessensrichtlinien gebunden, soweit diese ihrerseits die gesetzlichen Vorgaben beachteten und frei von Ermessensfehlern waren.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Dass die Klägerin die tatbestandlichen Voraussetzungen der seinerzeit geltenden Ermessensrichtlinien der Beklagten nicht erfüllte, steht zwischen den Beteiligten nicht in Streit.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Darauf, ob die aufgrund der damaligen Ermessensrichtlinien geübte Ermessenspraxis der Beklagten wegen einer - wie die Klägerin meint - willkürlichen Ungleichbehandlung von Auszubildenden und Studierenden gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstieß, kommt es in Bezug auf die ursprünglich erhobene Verpflichtungsklage, die das Bestehen eines Anspruchs voraussetzte, nicht an, weil ein Ermessensfehler nicht zur Folge gehabt hätte, dass der Klägerin zwingend ein Bewohnerparkausweis hätte erteilt werden müssen. Hierzu hat der Senat bereits in dem vorangegangenen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in dem Eilbeschwerdebeschluss vom 8. November 2018 - 8 B 1012/18 - Folgendes ausgeführt:</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">„Angesichts des Überhangs ausgegebener Bewohnerparkausweise gegenüber vorhandenen Stellplätzen (vgl. Aufstellung der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 8. Juni 2018) in der in Rede stehenden Bewohnerparkzone müsste die Antragsgegnerin einer Ungleichbehandlung von Auszubildenden nicht dadurch begegnen, auch diese in die ‚Vergaberegelung‘ für B1.        Studenten mit Hauptwohnsitz, die nicht über ein auf sie zugelassenes Fahrzeug verfügen, einzubeziehen.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Wenn die Ermessenspraxis der Antragsgegnerin wegen einer ungerechtfertigten Benachteiligung der Personengruppe der Auszubildenden Art. 3 Abs. 1 GG verletzen würde, könnte das Gericht wegen des Ermessensspielraums der Verwaltung grundsätzlich die Gleichheit nicht dadurch herstellen, dass es selbst die zu Unrecht nicht begünstigte Gruppe an der Begünstigung teilhaben lässt.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Juli 2007 - 3 C 10.06 -, BVerwGE 129, 116 = juris Rn. 30 f. (zu Gleichheitsverstößen durch den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber).</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Bei einer gleichheitswidrigen Ermessenspraxis kommt die Einbeziehung der nicht begünstigten Gruppe in den begünstigten Personenkreis durch eine gerichtliche Verpflichtung nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Gleichheitsverstoß nur auf diese Weise geheilt werden könnte, eine andere rechtmäßige Ermessensentscheidung also nicht möglich wäre.</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Juli 2007 - 3 C 10.06 -, BVerwGE 129, 116 = juris Rn. 31, und vom 21. August 2003 - 3 C 49.02 -, BVerwGE 118, 379 = juris Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Der Antragsgegnerin stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, den - unterstellten - Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu beseitigen. Neben einer Erweiterung der bisherigen Regelung kommt auch eine weitere Einschränkung für ‚Hauptwohnsitzler‘ in Betracht. Die Antragsgegnerin ist nicht von vornherein gehindert, auch Studenten als die hier maßgeblich in den Blick genommene Vergleichsgruppe aus dem Kreis der Begünstigten auszuschließen.“</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Bewertung, die sich das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil zu Eigen gemacht hat, legt die Antragsbegründung nicht dar. Die Klägerin zeigt mit ihrem umfangreichen Vortrag keine Aspekte auf, die es aus Rechtsgründen ausgeschlossen erscheinen lassen, dass die Beklagte einer etwaigen - hier zugunsten der Klägerin unterstellten - unzulässigen Ungleichbehandlung von Auszubildenden und Studierenden, die jeweils kein auf sie selbst zugelassenes Fahrzeug nutzen, dadurch hätte Rechnung tragen dürfen, dass auch Studierenden in einem solchen Fall kein Bewohnerparkausweis erteilt worden wäre. Das liegt auch nicht ohne weiteres auf der Hand. Es drängt sich nicht auf, dass eine solche, durchaus restriktive Ermessenspraxis mit Blick auf den mit der Schaffung von Anwohnerparkzonen verfolgten Zweck, die Parkraumsituation der Bewohner innerstädtischer Wohnstraßen zu verbessern, um diese wieder attraktiver zu machen,</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">vgl. BT-Drucks. 8/3150, S. 9,</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">unverhältnismäßig wäre. Das gilt zunächst in Bezug auf die grundsätzliche Bindung der Bewohnerparkberechtigung an das Vorhandensein eines auf den Bewohner oder die Bewohnerin zugelassenen Fahrzeugs. Aus den Ausführungen der Klägerin dazu, dass eine Überbelegung der Parkmöglichkeiten nicht drohe, folgt nichts anderes. In diesem Zusammenhang ist nicht nur die Zahl der vorhandenen Parkplätze (753) zu der Zahl der nach Maßgabe der damaligen Ermessenspraxis ausgegebenen Parkausweise (949) in Verhältnis zu setzen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass sich die Beklagte nicht für eine strikte Sperrung der Parkzone für Nutzer ohne Parkausweis, sondern für eine sog. Mischregelung,</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Aufl. 2020, Rn. 1253,</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">entschieden hatte. Danach galten die Parkbeschränkungen ohnehin nur montags bis freitags von 9 Uhr bis 19 Uhr sowie samstags von 9 Uhr bis 14 Uhr; zudem konnten die Parkplätze innerhalb der Parkzone während der genannten Zeiten ohne Höchstparkdauer mit Parkschein genutzt werden. Die hier gewählte Regelung stellt damit innerhalb der Bandbreite der denkbaren Parkbeschränkungen einen eher geringen Eingriff dar, weil der Bereich der Parkzone auch für Bewohner wie die Klägerin erreichbar blieb.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet der Frage, ob sich nach den vorstehenden Grundsätzen ein Anspruch hätte ergeben können, ist die Vorgehensweise der Beklagten, den Kreis der berechtigten Personen zunächst eher eng zu fassen und in Abhängigkeit von der weiteren tatsächlichen Entwicklung des Parkdrucks nach und nach eine Ausweitung der berechtigten Personenkreise vorzunehmen, wie es hier in Bezug auf Mitglieder von Car-Sharing-Organisationen und letztlich auch die Personengruppe der Auszubildenden mit von Familienangehörigen zur Verfügung gestellten Fahrzeugen und „ÖV Azubi-Abo“ geschehen ist, unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit ebenfalls nicht zu beanstanden. Denn es liegt auf der Hand, dass die nachträgliche Begrenzung eines zunächst zu großzügig bemessenen Kreises von Berechtigten nicht nur verwaltungspraktische, sondern auch rechtliche Komplikationen ausgelöst hätte. Nicht zuletzt wäre zu befürchten gewesen, dass die Erteilung des Bewohnerparkausweises gerade keine realistische Aussicht auf einen freien Parkplatz begründet hätte, was - wie die Klägerin selbst ausführt - rechtlich angreifbar wäre.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">b) Es bestehen im Ergebnis auch keine ernstlichen Zweifel, dass das Verwaltungsgericht den hilfsweise gestellten Klageantrag auf Feststellung, dass der Ablehnungsbescheid rechtswidrig gewesen ist, zu Recht abgewiesen hat. Der diesbezügliche Klageantrag ist - aus Gründen, auf die das Verwaltungsgericht so nicht abgestellt hat - unzulässig (dazu aa) und im Übrigen - wie das Verwaltungsgericht letztlich zu Recht angenommen hat - auch unbegründet (dazu bb).</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">aa) Hinsichtlich der hilfsweise beantragten Feststellung, dass der Ablehnungsbescheid vom 21. August 2017 rechtwidrig gewesen ist, und der auch insoweit geltend gemachten Absicht, Amtshaftungsklage zu erheben, besteht kein berechtigtes Interesse i. S. d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO. Denn ein Schaden der vorstehend geltend gemachten Art und Höhe wäre durch die Ablehnung des Antrags nur dann verursacht, wenn die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung eines Parkausweises gehabt hätte, was - wie ausgeführt - nicht der Fall war. Bei einem bloßen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung, bei der auch die Möglichkeit einer erneuten, dann aber ermessensfehlerfrei begründeten Ablehnung bestanden hätte, würde ihr eine diesbezügliche Feststellung durch das Verwaltungsgericht mit Blick auf den beabsichtigten Schadenersatzanspruch voraussichtlich nichts nützen. Eine Haftung gemäß § 839 BGB kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn feststeht, dass der Schaden bei rechtsfehlerfreier Ermessensausübung vermieden worden wäre.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 -, juris Rn. 52, und vom 20. Juni 2013 - 8 C 39.12 -, juris Rn. 47 f.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Der Senat sieht davon ab, die Ablehnung des Zulassungsantrags insoweit allein auf diesen, vom Verwaltungsgericht und von den Beteiligten bislang nicht erörterten Gesichtspunkt zu stützen, weil die Zulassungsbegründung die Richtigkeit des angefochtenen Urteils auch ungeachtet dessen nicht durchgreifend in Frage stellt.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">bb) Aus der Zulassungsbegründung ergibt sich nicht, dass die Ablehnung des Antrags auf Erteilung eines Parkausweises rechtswidrig war. Die Klägerin zeigt nicht auf, dass die durch die damals maßgebliche Richtlinie der Beklagten vorgegebene Ermessensentscheidung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts fehlerhaft gewesen wäre.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von § 114 Satz 1 VwGO hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass die Ermessenspraxis der Beklagten dem Sinn und Zweck der Ermächtigungsnorm nicht widersprochen und auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten habe. Hierzu hat es ausgeführt, dass der Umstand, dass nach dieser Ermessenspraxis Studierende, aber nicht Auszubildende erfasst wurden, nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Eine Differenzierung sei selbst bei Annahme einer Vergleichbarkeit beider Personengruppen durch sachliche Gründe gerechtfertigt und nicht willkürlich.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Diesem rechtlichen Maßstab setzt die Antragsbegründung nichts Substantielles entgegen. Daher gibt der vorliegende Fall keinen Anlass, der Frage vertieft nachzugehen, ob und unter welchen Voraussetzungen die maßgebliche Ermessensrichtlinie der Beklagten unabhängig von der hier angegriffenen Einzelentscheidung generell gegen den Gleichheitssatz in dem hier vorliegenden straßenverkehrsrechtlichen Zusammenhang verstoßen haben könnte.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Zur zulässigen Differenzierung zwischen Anwohnern und sonstigen Teilnehmern bei Erteilung von Anwohnerparkausweisen und zur grundsätzlichen „Privilegienfeindlichkeit“ des Straßenverkehrsrechts vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 1998 - 3 C 11.97 -, juris Rn. 22 bzw. Rn. 35; vgl. zudem BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 37.09 -, juris Rn. 49.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Festzuhalten ist allerdings, dass eine Beeinträchtigung des Gleichheitssatzes eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte voraussetzt, und zwar ohne hinreichend gewichtigen Grund. Dabei ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Bei der Ungleichbehandlung von Personengruppen unterliegt der Gesetzgeber regelmäßig einer strengen Bindung.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. <a href="https://www.juris.testa-de.net/r3/document/KVRE364920601/format/xsl/part/K?oi=UMNCfxuMCf&${__hash__}38;sourceP=%7B%22source%22%3A%22Link%22%7D">BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 - 1 BvR 1160/03</a> -, juris Rn. 87 ff.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">In seiner Ausprägung als Willkürverbot verlangt Art. 3 Abs. 1 GG nicht, dass die öffentliche Gewalt unter mehreren möglichen Lösungen die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen hat.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 23. März 2021 - 2 C 17.19 ‑, juris Rn. 21 (zum Besoldungsrecht), und vom 10. Oktober 2012 - 7 C 10.10 -, juris Rn. 72 (zur Zuteilung von Emissionsberechtigungen).</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht ersichtlich und schon gar nicht dargelegt, dass hinsichtlich der hier zu überprüfenden Ermessensentscheidung strengere Anforderungen gelten könnten.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Dass eine Differenzierung zwischen Bewohnern, auf die ein Fahrzeug zugelassen ist, und solchen, bei denen dies - wie bei der Klägerin - nicht der Fall war, zu einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz führte, macht die Klägerin nicht geltend und drängt sich, wie oben bereits ausgeführt, nicht auf.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Antragsbegründung wendet sich allein dagegen, dass die Beklagte in ihrer damaligen Ermessenspraxis zwischen Auszubildenden und Studierenden, die jeweils ein von Familienangehörigen zur Verfügung gestelltes, auf diese zugelassenes Fahrzeug nutzen, unterschieden hat. Die Klägerin meint, dass die Gleichbehandlung von Auszubildenden und Studierenden rechtlich und gesellschaftlich von großer Bedeutung sei.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Mit ihren den Schwerpunkt des Zulassungsvorbringens darstellenden Ausführungen dazu, dass die Personengruppe der Studierenden entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts gegenüber den Auszubildenden bei ansonsten vergleichbaren Lebenssachverhalten sachwidrig bevorzugt würden, zeigt die Klägerin jedoch keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG auf.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Schon die Darlegungen der Klägerin dazu, dass Auszubildende und Studierende im Sinne der Maßstäbe des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Wesentlichen gleiche Personengruppen seien, weil von „absolut gleichen Lebensverhältnissen“ auszugehen sei, sind nicht zielführend. Personen, die - wie die Klägerin - eine betriebliche Ausbildung absolvieren, haben einen Anspruch auf Ausbildungsvergütung, auch wenn diese, wie die Klägerin selbst detailliert darlegt, je nach Ausbildungsgang durchaus niedrig sein mag. Studierende hingegen erhalten entgegen den Ausführungen der Klägerin nicht allein deshalb, weil sie studieren, staatliche Leistungen. Der Vortrag der Klägerin zur Höhe der Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz, wobei sie ersichtlich jeweils auf den Höchstbetrag bei auswärtiger Unterbringung abstellt, trägt die von ihr daraus gezogenen Schlussfolgerungen insgesamt nicht, weil sie gänzlich unberücksichtigt lässt, dass diese Leistungen einkommens- und vermögensabhängig sind. Leistungen erhält nach dem in § 1 BAföG geregelten Grundsatz nur, wem die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Einkommen und Vermögen des Auszubildenden sowie Einkommen seines Ehegatten oder Lebenspartners und seiner Eltern sind nach § 11 Abs. 2 BAföG grundsätzlich anzurechnen.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus ergibt sich weder aus dem Antragsvorbringen noch drängt sich sonst auf, dass es an einer sachlichen Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung fehlte. Dabei bedarf hier in Ermangelung jeglicher diesbezüglicher Darlegungen der Klägerin keiner Erörterung, ob der vom Verwaltungsgericht der Sache nach zugrunde gelegte Grundsatz der Typengerechtigkeit,</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">vgl. zu Sozialversicherungsbeiträgen: BVerfG, Beschluss vom 7. April 2022 - 1 BvL 3/18 u.a. -, juris Rn. 316; zum Gebührenrecht: BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2015 - 9 B 17.15 -, juris Rn. 6,</p> <span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">die vorliegende Ausgestaltung der Erteilung von Bewohnerparkplätzen rechtfertigen kann, bei der es nicht um eine (geringfügige) Mehrbelastung Einzelner, sondern darum geht, ob ihnen überhaupt ein Parkausweis erteilt wird.</p> <span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat die Einbeziehung der in B.      immatrikulierten Studierenden unter anderem damit gerechtfertigt, dass diese sich bereits über den von ihnen zu leistenden Semesterbeitrag und den darin enthaltenen Anteil für das sog. Semesterticket an den Kosten des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) beteiligen müssen. Die Klägerin meint, dass hierin tatsächlich keine Belastung, sondern ein Privileg zu sehen sei. Dabei lässt sie unberücksichtigt, dass die Verpflichtung von eingeschriebenen Studierenden, mit dem Semesterbeitrag zugleich den ÖPNV mitzufinanzieren, unabhängig von individuellen Nutzungsgewohnheiten und -vorteilen besteht und die Regelung eines beitragsfinanzierten Semestertickets daher zumindest einen Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit der Studierenden darstellt, der seinerseits darauf zu überprüfen ist, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheitssatz gewahrt sind.</p> <span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Mai 1999 - 6 C 14.98 -, juris Rn. 25 ff., 44 ff.</p> <span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Bei rechtlicher Betrachtung und unter Berücksichtigung des weiten Ermessensspielraums der Beklagten erscheint es daher bei der Festlegung des Personenkreises, der einen Parkausweis beanspruchen kann, obwohl er nur Nutzer, nicht aber Halter eines Fahrzeugs ist, nicht sachwidrig, auf diesen Unterschied abzustellen.</p> <span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. schon OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2011 - 8 A 2468/09 -, n. v.</p> <span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Darauf, ob sich die Klägerin, wie sie vorträgt, der Ungleichbehandlung durch ein paralleles Studium entziehen könnte, kommt es nach alldem nicht an.</p> <span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Der weitere Vortrag der Klägerin, sie sei in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) betroffen, entspricht jedenfalls nicht dem Darlegungserfordernis, zumal sie selbst einräumt, dass nach herrschender Auffassung mangels Berufsbezogenheit der Parkregelung kein Eingriff vorliege. Dafür, dass die Ausübung ihres Ausbildungsberufs im Vergleich zu einem Studium wegen eines erschwerten physischen Zugangs zur Ausbildungsstätte beeinträchtigt werde, ist nichts ersichtlich. Im konkreten Fall der Klägerin kann davon im Übrigen keine Rede sein, weil sie das Fahrzeug nach ihrem eigenen Vortrag gerade nicht für den Weg von ihrer Wohnung zum Arbeitsplatz genutzt hat.</p> <span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Bei dieser Sachlage fehlt es an objektiven Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Ermessenspraxis der Beklagten der Sache nach den Zuzug von Personen in betrieblicher Ausbildung in innerstädtische Wohnquartiere als unerwünscht ansähe, was selbstverständlich ermessensfehlerhaft wäre.</p> <span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">II. Die Berufung ist ferner nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p> <span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache setzt voraus, dass eine bestimmte, obergerichtlich oder höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärte und für die Berufungsentscheidung erhebliche Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art herausgearbeitet und formuliert wird; außerdem muss angegeben werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll. Darzulegen sind also die konkrete Frage, ihre Klärungsbedürftigkeit, ihre Klärungsfähigkeit und ihre allgemeine Bedeutung. Im Hinblick auf die Klärungsfähigkeit sind unter anderem Angaben zur Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage in einem Berufungsverfahren erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2021 ‑ 8 A 3518/19 -, juris Rn. 70.</p> <span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">An diesen Voraussetzungen fehlt es vorliegend.</p> <span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Frage,</p> <span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">ob die Art des Ausbildungsgangs, den junge Menschen absolvieren, eine unterschiedliche Behandlung trotz ansonsten absolut gleicher Lebensverhältnisse rechtfertigt,</p> <span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">ist - ungeachtet dessen, dass sich die Frage so allenfalls im Rahmen des wie ausgeführt ohnehin unzulässigen Hilfsantrags stellen würde - nicht entscheidungserheblich. Sie unterstellt einen Sachverhalt, von dem das Verwaltungsgericht nicht ausgegangen ist und von dem auch in einem Berufungsverfahren nicht auszugehen wäre. Da Auszubildende eine Ausbildungsvergütung, Studierende aber - anders als die Frage unterstellen will - eine vergleichbare, insbesondere einkommens- und vermögensunabhängige Vergütung dafür, dass sie studieren, eben nicht erhalten, kann von (absolut) gleichen Lebensverhältnissen gerade nicht ausgegangen werden.</p> <span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Mit den weiteren Fragen,</p> <span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">ob ein Privileg, das einer Gruppe der Betroffenen durch staatlich bzw. von der öffentlichen Hand gewährte Subventionen gewährt wird, im Lichte des Art. 3 GG eine Behördenentscheidung rechtfertigen kann, den Angehörigen der (bereits bevorzugten) Gruppe aufgrund des Privilegs darüber hinausgehende weitere Vorteile zuzuerkennen,</p> <span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">konkret,</p> <span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">ob der Umstand, dass Studenten mit der Zahlung des Semesterbeitrags untrennbar verbunden ein Halbjahres-Ticket erwerben müssen, das sie dazu berechtigt, den gesamten öffentlichen Personennahverkehr im gesamten Regionalverband der Beklagten ohne weitere Zusatzkosten zu nutzen, eine Privilegierung bei der Zuerkennung von Anwohnerparkausweisen gegenüber Auszubildenden rechtfertigt, für die im hier maßgeblichen Zeitraum keinerlei Möglichkeit bestand, den ÖPNV zu deutlich reduzierten Gebühren zu nutzen, mit der Begründung, dass Studenten durch die „Verpflichtung“ zum Erwerb eines Semestertickets bereits einen (Zwangs-)Beitrag zum ÖPNV leisten,</p> <span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">ist eine zur Zulassung der Berufung führende grundsätzliche Bedeutung ebenfalls nicht aufgezeigt. Ob die zwangsweise Heranziehung zur Finanzierung der Kosten des ÖPNV im Rahmen des Semesterbeitrags im Einzelfall ein Privileg oder eine Belastung darstellt, hängt - wie ausgeführt - von den jeweiligen Nutzungsinteressen und Verkehrsbedürfnissen ab. Jedenfalls handelt es sich hierbei um einen objektiv feststellbaren Unterschied zwischen den Vergleichsgruppen, so dass ein Gleichheitsverstoß nicht vorliegt.</p> <span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Ob die von der Klägerin hier beanstandete - und von der Beklagten inzwischen aufgegebene - Ungleichbehandlung gesellschafts- und sozialpolitisch sinnvoll war, entzieht sich der rechtlichen Beurteilung durch die Gerichte.</p> <span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG und orientiert sich an der Höhe der im zweitinstanzlichen Verfahren nur noch in den Blick zu nehmenden Schadenersatzforderung für die Anmietung eines Parkplatzes für ein Jahr (12 x 85,- Euro), wobei die Klägerin selbst davon ausgeht, dass in einem etwaigen Schadenersatzprozess nicht der volle Betrag geltend zu machen gewesen wäre, weil der ursprünglich beantragte Bewohnerparkausweis keinen Anspruch auf einen freien Parkplatz gesichert hätte.</p> <span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 6 Satz 3 GKG).</p>
346,745
vg-stuttgart-2022-09-22-1-k-367522
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1 K 3675/22
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-29T10:01:41"
"2022-10-17T11:10:38"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, es zu unterlassen, sich auf dem Kurznachrichtendienst Twitter oder sonst öffentlich wie in den auf dem Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlichten Tweets des Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus vom ... .</p> <blockquote> <blockquote> <p>„BeauftragtggAntisemitismusBW @beauftragtgg: Dr. B. begrüßte die Entscheidung von @..., nach, Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten.,Auch der @ZentralratJuden, meine Familie & ich sind über dieses Portal oft persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden. Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen. Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.‘, dankte Dr. B. in S. für die Entscheidung.“</p> </blockquote> </blockquote> <p>zu äußern, soweit darin die Aussagen „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ getroffen werden.</p> <p>Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin und der Antragsgegner je zur Hälfte.</p> <p>Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> <table style="margin-left:14pt"><tr><td>I.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragstellerin wendet sich gegen sie betreffende Äußerungen des Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, die dieser auf dem Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlicht hat.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Die Antragstellerin betreibt unter der Internetseite „….com“ den politischen Blog „…“, über den sie kostenlose journalistische Beiträge von eigenen Angaben zufolge derzeit rund 60 Stamm- sowie über 220 Gastautoren veröffentlicht. Zu den Gastautoren gehört unter anderem Prof. Dr. H., Professor für Öffentliche Finanzen an der Universität H. im Ruhestand, der sich in mehreren auf der Internetseite der Antragstellerin publizierten Artikeln kritisch zu den staatlichen Corona-Infektionsschutzmaßnahmen äußerte. Die Antragstellerin finanziert ihr Geschäftsmodell neben der Einwerbung von Spenden und Patenschaften durch die Vermarktung von Werbeplätzen auf ihrer Internetseite. Hierzu bediente sie sich bislang des Werbetechnologieunternehmens T., das Werbung auf den Internetseiten von journalistischen Anbietern (Publisher) ausspielt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Der Antragsgegner hat in der Sitzung des Ministerrats vom 13.03.2018 das Amt eines Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus (im Folgenden: Antisemitismusbeauftragter) geschaffen, das beim Staatsministerium angesiedelt ist und seit dem 19.03.2018 von Dr. B. bekleidet wird. Der Antisemitismusbeauftragte unterhält auf dem Kurznachrichtendienst Twitter den offiziellen Account „BeauftragtggAntisemitismusBW @beauftragtgg“.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Am … erschien auf dem Kurznachrichtendienst Twitter folgender Tweet:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="5"/>„WahnSager @WahnSager: Auweia @...! Seid ihr sicher, dass ihr auf … (schlimm genug!) im Umfeld des Lügners, Impfgegners und Coronaverharmlosers #H. mit eurer Werbung gut vertreten seid?? (Screenshot von heute) @...“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Die A. reagierte hierauf am … mit dem Tweet:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="7"/>„…@...: Antwort an @WahnSager und @...: Vielen Dank für diesen Hinweis! Derartige Anzeigen werden automatisiert ausgespielt und wir haben keinen Einfluss auf die Platzierung. Wir werden den Fall jedoch prüfen und unsere Blacklist entsprechend überarbeiten.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>Auf eine E-Mail-Anfrage der Antragstellerin vom 14.06.2022, nach welchen Kriterien die A. ihre Blacklist erstelle, antwortete die Social-Media-Abteilung der A. am 16.06.2022:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="9"/>„Sie verstehen sicherlich, dass wir jegliche Hinweise überprüfen, die uns erreichen. Und genau das behalten wir uns auch in diesem Fall vor: Eine Prüfung des Mediums auf dem Anzeigen für unser Unternehmen ausgespielt werden. Und die stetige Überarbeitung unserer Inklusions- und Exklusionslisten für Werbeanzeigen.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>Der weitere Verlauf wird in dem von den Gesellschaftern der Antragstellerin am 29.06.2022 um 06:05 Uhr auf deren Internetseite veröffentlichten Artikel „...“ zusammenfassend wie folgt dargestellt:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="11"/>„Wie viele Affären, so kommt auch diese mit einer scheinbaren Petitesse ins Rollen. Ein kleiner Denunziant verspritzt auf Twitter anonym sein Gift gegen … Die Firma A. ignoriert dies nicht etwa, sondern verspricht servil, den Fall zu prüfen. Einige Tage später cancelt unser Anzeigen-Mediapartner sämtliche Anzeigen auf … auf Veranlassung eines in Deckung bleibenden ,Premiumkunden‘. Das gefährdet unsere Existenz. Die ... soll plattgemacht werden. Und die Meinungsfreiheit gleich mit. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt dabei der … und die dazugehörige Firma A.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="12"/>In dem Text des Artikels heißt es unter anderem:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="13"/>„Wir stellten am Donnerstag den 23.06.2022 fest, dass über unsere Anzeigen Agentur T., mit der wir seit Jahren vertrauensvoll zusammenarbeiten, keinerlei Werbung mehr ausgespielt wurde.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Der Antisemitismusbeauftragte äußerte sich am … auf dem Kurznachrichtendienst Twitter in zwei um … Uhr und … Uhr veröffentlichten Tweets wie folgt:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="15"/>„BeauftragtggAntisemitismusBW @beauftragtgg: Dr. B. begrüßte die Entscheidung von @..., nach ,Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten.,Auch der @ZentralratJuden, meine Familie & ich sind über dieses Portal oft persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden. Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen. Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.‘, dankte Dr. B. in Stuttgart für die Entscheidung.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>Mit Schreiben vom 30.06.2022 forderte die Antragstellerin das Staatsministerium zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung unter Fristsetzung bis zum 05.07.2022 auf, auf die dieses am 06.07.2022 antworten ließ, dass es dem nicht nachkommen werde.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>Der Antisemitismusbeauftragte äußerte sich hierzu am ... auf dem Kurznachrichtendienst Twitter in mehreren Tweets unter anderem wie folgt:</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="18"/>„BeauftragtggAntisemitismusBW @beauftragtgg: ,Wieder versucht ein szenebekannter Rechts-Anwalt einer GmbH mich mit einer schlampig zusammengeleimten, hastig an die Mailadresse der Pressestelle übersandten SLAPP-Erklärung zum Schweigen zu bringen.“, erklärte Dr. B. in S., Selbstverständlich werden wir uns nicht einschüchtern und nicht einmal von unserer Arbeit ablenken lassen, sondern auch Öffentlichkeit und Parlament über den andauernden Rechtsmissbrauch durch SLAPP-Methoden informieren.“, bekräftige der Beauftragte.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>Am 08.07.2022 hat die Antragstellerin bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Sie vertritt die Auffassung, dass sie durch die streitgegenständliche Veröffentlichung in ihren Grundrechten auf Pressefreiheit, Chancengleichheit und Berufsausübungsfreiheit sowie ihrem Unternehmenspersönlichkeitsrecht verletzt werde. Die vergleichbar einer Pressemitteilung verfasste Veröffentlichung stelle eine offizielle staatliche Verlautbarung dar, die als Aufruf zum wirtschaftlichen Boykott und als schwerwiegende Diffamierung des von ihr betriebenen Mediums zu bewerten sei. Die Aussage, es habe eine Entscheidung der A. gegeben, „nach ,Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten“, sei eine unbelegte Behauptung, während es dem Antisemitismusbeauftragten mit der Zuschreibung „Verschwörungsmythologe“ sowie der Verwendung des Wortes „Gastbeiträge“ in Anführungszeichen um eine diffamierende Abwertung nicht nur von Prof. Dr. H., sondern des Mediums insgesamt gehe. Den auf der Internetseite der Antragstellerin publizierten Artikeln von Prof. Dr. H. sei nicht im Ansatz irgendeine „Verschwörungsmythologie“ oder gar Antisemitismus zu entnehmen. Bei der abschließenden Äußerung „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ wiederum handle es sich um eine direkte Aufforderung, das Medium der Antragstellerin nicht durch die Schaltung von Werbeanzeigen zu finanzieren. Dieser Aufruf verletze in tiefgreifender Weise ihre grundrechtlich geschützten wirtschaftlichen Grundlagen und verstoße offenkundig gegen das Neutralitätsgebot staatlicher Amtsträger, das auch Presseunternehmen gegenüber zur Anwendung kommen müsse. Auch die weiteren Aussagen „Auch der @ZentralratJuden, meine Familie & ich sind über dieses Portal oft persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden.“ und „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ ließen jeden sachlichen Bezug vermissen, entbehrten jeder Grundlage und seien allein auf die Diskreditierung der Antragstellerin gerichtet. Der Antisemitismusbeauftragte habe, indem er legitime Kritik an dem Zentralrat der Juden und seiner Person zum Gegenstand staatlicher Äußerungen gemacht sowie unbelegt der Plattform rassistische und demokratiefeindliche Positionen unterstelle, nicht nur die erforderliche Ausgewogenheit und rechtsstaatliche Distanz vermissen lassen, sondern auch das für jedes staatliche Handeln geltende Sachlichkeitsverbot verletzt. Die besondere Eilbedürftigkeit ergebe sich aus der fortdauernden Rechtsbeeinträchtigung, da der Tweet weiterhin abrufbar sei und der Antragsgegner sein Verhalten als zulässig erachte. In der Antragsschrift ist das „Staatsministerium“ als Antragsgegner bezeichnet worden.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>Die Antragstellerin beantragt – sachdienlich gefasst –,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="21"/>den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, es zu unterlassen, sich auf dem Kurznachrichtendienst Twitter oder sonst öffentlich wie in den auf dem Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlichten Tweets des Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus vom ...</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="22"/>„BeauftragtggAntisemitismusBW @beauftragtgg: Dr. B. begrüßte die Entscheidung von @..., nach ,Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten.,Auch der @ZentralratJuden, meine Familie & ich sind über dieses Portal oft persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden. Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen. Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.‘, dankte Dr. B. in S. für die Entscheidung.“</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="23"/>zu äußern.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>Der Antragsgegner beantragt,</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="25"/>den Antrag abzulehnen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="26"/>Er macht geltend, dass dem Antrag der Antragstellerin der Anordnungsanspruch fehle, da dieser der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nicht zustehe. Die streitgegenständlichen Äußerungen griffen nicht rechtswidrig in Rechte der Antragstellerin ein, sondern seien durch den dem Antisemitismusbeauftragten erteilten parlamentarischen Auftrag gedeckt. Zentrale Aufgabe des Antisemitismusbeauftragten sei die Bekämpfung des Antisemitismus und von antisemitischen Verschwörungsmythen. Dazu gehöre auch, die Finanzströme hinter antisemitischen Äußerungen und Verschwörungserzählungen und -mythen aufzudecken und durch entsprechende Hinweise die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, dies auch in den elektronischen Medien. Dabei sei der Antisemitismusbeauftragte nicht zur Neutralität verpflichtet, sondern müsse qua Amt gegen alle antisemitistischen Tendenzen Stellung nehmen, was lobende oder tadelnde Kommentare zu Maßnahmen Dritter einschließe; auch das grundsätzlich geltende Sachlichkeitsgebot sei insoweit eingeschränkt. Der Blog der Antragstellerin werde seit einigen Jahren häufig als rechtspopulistisch, antisemitisch und islamophob eingeordnet, wie sich aus verschiedenen – von dem Antragsgegner vorgelegten – Beiträgen in anderen Print- und Onlinemedien ergebe. Prof. Dr. H., der der Querdenker-Szene zugerechnet werden könne, habe sich in dem auf der Internetseite der Antragstellerin publizierten Beitrag „...“ nicht nur sachlich mit den staatlichen Corona-Infektionsschutzmaßnahmen auseinandergesetzt, sondern unter anderem eine Umgestaltung unserer Gesellschaftsordnung in Richtung eines wahrhaften Hygienestaats unterstellt. Zudem habe sich die Leitung der Universität H. von ihm aufgrund verschiedener anderweitiger Äußerungen, vor allem aber wegen der Gleichsetzung der derzeitigen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland mit denen im Deutschen Reich des Jahres 1933 distanziert, und habe der Antisemitismusbeauftragte bereits im Juni 2021 über die Internetseite „....de“ öffentlich darauf hingewiesen, dass und auf welche Weise Prof. Dr. H. antisemitische Verschwörungsmythen verbreite. Der Antisemitismusbeauftragte selbst sei in verschiedenen – von dem Antragsgegner namentlich benannten und vorgelegten – Beiträgen auf der Internetseite der Antragstellerin wiederholt verunglimpft worden, während dem Zentralrat der Juden regelmäßig vorgeworfen werde, er sei „Ersatzjudentum“, das von der Bundesregierung bezahlt und gelenkt werde. Diese Äußerungen enthielten Verschwörungsmythen und seien geeignet, Vorurteile und Hass zu befördern. Die Twitter-Äußerungen des Antisemitismusbeauftragten enthielten auch keine unwahren Tatsachenbehauptungen. Dass es eine Entscheidung der A. gebe, nicht länger Werbeanzeigen auf der Internetseite der Antragstellerin zu schalten, hätten deren Gesellschafter in dem am 29.06.2022 veröffentlichten Artikel selbst mitgeteilt. Im Übrigen handele es sich bei dem Inhalt der streitgegenständlichen Tweets um Meinungsäußerungen, denen jeweils ein wahrer Tatsachenkern zugrunde liege, wohingegen ein zielgerichteter Boykottaufruf gegen die Antragstellerin nicht gegeben sei. Die Äußerung „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ richte sich gegen die Finanzierung von Verschwörungsmythen überhaupt, gleichviel wer der Verbreiter solchen Gedankenguts sei. Sie betreffe die Antragstellerin allenfalls reflexhaft und sei im Übrigen im Hinblick auf das legitime Ziel, Finanzierungsquellen von Verschwörungsmythen öffentlich zu machen und zu kritisieren, verhältnismäßig. Schließlich stehe der begehrten einstweiligen Anordnung auch das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache entgegen.</td></tr></table> <table style="margin-left:14pt"><tr><td>II.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="27"/>Der Antrag hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist er unbegründet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="28"/>Für den Antrag ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Dieser ist nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="29"/>Es handelt sich insbesondere um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Öffentlich-rechtlicher Natur sind Klagen beziehungsweise Anträge auf Widerruf oder Unterlassen einer Äußerung, die von einem Träger der öffentlichen Verwaltung bei Erfüllung öffentlicher Aufgaben gestützt auf vorhandene oder vermeintliche öffentlich-rechtliche Befugnisse gegenüber einem außerhalb der Verwaltung stehenden Bürger abgegeben wird. Die Äußerung muss in einem – nicht durch Beziehungen bürgerlich-rechtlicher Gleichordnung geprägten – hoheitlichen Bereich gefallen sein. Dagegen ist der ordentliche Rechtsweg gegeben, wenn die beanstandete Äußerung nicht in amtlicher Eigenschaft, sondern nur gelegentlich einer nach öffentlichem Recht zu beurteilenden Tätigkeit gemacht wird, insbesondere wenn sie allein Ausdruck einer persönlichen Meinung oder Einstellung des Trägers öffentlicher Verwaltung ist. Ob ein Amtsträger sich im Zusammenhang mit seiner Amtsführung geäußert hat, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu bestimmen. (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.12.2001 – 1 S 2410/01 -, juris Rn. 3; OVG Bln.-Bbg., Beschl. v. 25.05.2020 - 10 L 49.17 -, juris Rn. 10, jeweils m.w.N.). Amtsautorität wird insbesondere dann in Anspruch genommen, wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche Verlautbarungen in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen sowie auf der offiziellen Internetseite seines Geschäftsbereichs erklärt oder wenn Staatssymbole und Hoheitszeichen eingesetzt werden (vgl. BVerfG, Urt. v. 27.02.2018 - 2 BvE 1/16 -, juris Rn. 66, und Urt. v. 09.06.2020 - 2 BvE 1/19 -, juris Rn. 59). Für die Grenzziehung, ob sich jemand als Funktionsträger oder privat äußert, ist auch maßgeblich, wie die Äußerung für den Empfänger zu verstehen war (vgl. OVG Bln.-Bbg., Beschl. v. 25.05.2020, a.a.O. Rn. 14).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="30"/>Die von der Antragstellerin beanstandeten Tweets des Antisemitismusbeauftragten haben bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles in Ausübung von dessen öffentlichen Aufgaben stattgefunden, mit der Folge, dass der mit dem Antrag geltend gemachte Unterlassungsanspruch öffentlich-rechtlicher Natur ist. Es handelt sich trotz der namentlichen Nennung des Amtswalters „Dr. B.“ nicht um dessen private Meinungsäußerung. Die Aussagen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter erfolgten vielmehr unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität des Amts des Antisemitismusbeauftragten und der mit ihm verbundenen Ressourcen. Dies folgt bereits daraus, dass die Tweets unter Nutzung des offiziellen Twitter-Accounts des Antisemitismusbeauftragten – und nicht des privaten Twitter-Accounts des Amtswalters – veröffentlicht wurden. Der Charakter einer amtlichen Verlautbarung wird zudem durch das äußere Erscheinungsbild der Veröffentlichung unterstrichen, die in ihrer Form und ihrem Duktus einer Pressemitteilung entspricht. Auch die von der Antragstellerin konkret beanstandeten Aussagen sind jedenfalls im Schwerpunkt – nämlich soweit sie die vermeintliche Verbreitung von Verschwörungsmythen durch die Antragstellerin und deren Finanzierung durch Werbeanzeigen thematisieren – nicht als persönliche Meinungsäußerung des Amtswalters, sondern als Äußerung des Antisemitismusbeauftragten im Zusammenhang mit seiner Amtsführung zu verstehen. Da nach den Umständen des Einzelfalls die Tweets als einheitlicher Lebenssachverhalt zu bewerten sind, kommt es auch nicht in Betracht, die Aussagen Stück für Stück darauf zu unterteilen, ob sie in Ausübung des Amts des Antisemitismusbeauftragten oder als Privatperson geäußert wurden, solange nicht in einem Teil der Äußerung der Äußernde selbst hervorhebt, dass sie persönlich und damit jenseits der Amtstätigkeit erfolgten (vgl. OVG Bln.-Bbg., Beschl. v. 25.05.2020, a.a.O. Rn. 15).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="31"/>Der Antrag ist zulässig und begründet, soweit er sich auf die Aussagen in den am ... veröffentlichten Tweets des Antisemitismusbeauftragten „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ bezieht. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung sind insoweit erfüllt. Hingegen fehlt es hinsichtlich der weiteren Aussagen „Dr. B. begrüßte die Entscheidung von @..., nach,Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten“ und „Auch der @ZentralratJuden, meine Familie & ich sind über dieses Portal oft persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden“ an einem Anordnungsanspruch.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="32"/>Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um unter anderem wesentliche Nachteile abzuwenden. Hierzu hat der Antragsteller nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO das Vorliegen sowohl eines Anordnungsanspruchs, also die Berechtigung seines Begehrens in der Sache, als auch eines Anordnungsgrundes, und damit die besondere Dringlichkeit der Angelegenheit, glaubhaft zu machen. Hinreichend glaubhaft gemacht bedeutet, dass die tatsächlichen Voraussetzungen zwar nicht zur Überzeugung des Gerichts feststehen, aber hinreichend wahrscheinlich („glaubhaft“) sein müssen. Ist der Antrag – wie hier – auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet, sind an Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch erhöhte Anforderungen zu stellen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt dann grundsätzlich nur in Betracht, wenn ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache bei summarischer Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Antragsteller ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare Nachteile entstünden, die auch bei einem späteren Erfolg in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 123 Rn. 14 m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="33"/>Anspruchsgrundlage für die begehrte Unterlassung einer Wiederholung der genannten Äußerungen ist der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch. Greift der Staat durch schlichtes Verwaltungshandeln rechtswidrig in verfassungsrechtlich geschützte Positionen ein und besteht die Gefahr einer Wiederholung des rechtswidrigen Eingriffs, kann der Betroffene gestützt auf das berührte Recht Unterlassung verlangen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.2005 - 7 C 20.04 -, juris Rn. 10 m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="34"/>Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Aussagen in den am 29.06.2022 veröffentlichten Tweets des Antisemitismusbeauftragten „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ gegeben.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="35"/>Allerdings ist hinsichtlich des Unterlassungsanspruchs das Land Baden-Württemberg und nicht – wie in der Antragsschrift bezeichnet – das Staatsministerium passivlegitimiert. Wird – wie hier – ein Anspruch auf Unterlassen von Äußerungen, die im Zusammenhang mit der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben stehen, geltend gemacht, ist nach einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum aufgrund des im öffentlichen Recht geltenden Rechtsträgerprinzips Anspruchsgegner und daher auch gerichtlich in Anspruch zu nehmen grundsätzlich der Hoheitsträger, dem die Äußerungen seines Amtswalters zugerechnet werden. Grund hierfür ist, dass Äußerungen eines Amtsträgers im Grundsatz rechtlich als solche der Anstellungskörperschaft gelten, dessen Organ er ist. Mit amtlichen Äußerungen wird damit die Auffassung der Anstellungskörperschaft rechtlich festgelegt, so dass auch nur diese selbst auf deren Korrektur in Anspruch genommen werden kann (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 17.12.2009 - 2 ME 313/09 -, juris Rn. 9; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 02.11.1998 - 9 S 2434/98 -, juris Rn. 5 f., jeweils m.w.N.). Anstellungskörperschaft des Antisemitismusbeauftragten ist das Land Baden-Württemberg, nicht das Staatsministerium als oberste Landesbehörde.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="36"/>Die Kammer konnte indes das Passivrubrum von Amts wegen berichtigen, da die in der Antragsschrift enthaltene Angabe des Antragsgegners auf einer irrtümlichen Falschbezeichnung beruht. Auch die Parteibezeichnung in einer Antragsschrift ist grundsätzlich auslegungsfähig, wobei es darauf ankommt, wie die Bezeichnung bei objektiver Würdigung aus der Sicht der Empfänger (Gericht und Gegenpartei) zu verstehen ist. Bei einer unrichtigen oder mehrdeutigen Bezeichnung gilt diejenige Person oder Behörde als Verfahrensbeteiligte, die erkennbar durch den Antragsgegenstand betroffen wird. Dies ist durch Auslegung des Rubrums unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Antragsschrift zu ermitteln. Dabei kann als Auslegungshilfe der Gesichtspunkt dienen, dass der Antrag im Zweifel nicht gegen den falschen, sondern gegen den nach dem Inhalt des Antrags richtigen Antragsgegner gerichtet sein soll (vgl. OVG Meckl.-Vorp., Beschl. v. 02.07.2020 - 2 LZ 472/19 -, juris Rn. 12; BayVGH, Beschl. v. 01.10.2018 - 4 ZB 18.512 -, jeweils m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="37"/>Ausgehend hiervon war vorliegend das Passivrubrum von Amts wegen zu berichtigen. Die Antragsschrift lässt eindeutig erkennen, dass als Anspruchsgegner nicht der Beamte persönlich, sondern der Hoheitsträger, dem dessen Äußerungen zugerechnet werden, in Anspruch genommen werden soll. Bei der Nennung des Staatsministeriums als der obersten Landesbehörde, bei der der Antisemitismusbeauftragte organisatorisch angesiedelt ist, statt des Landes Baden-Württemberg als dessen Anstellungskörperschaft handelt es sich mithin um eine offensichtliche Falschbezeichnung. Im Übrigen ist auf den in § 78 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 VwGO enthaltenen Rechtsgedanken zu verweisen. Danach genügt zur Bezeichnung des Beklagten die Angabe der Behörde. Benennt in einem Rechtsstreit auf Unterlassen von Äußerungen, die im Zusammenhang mit der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben stehen, der Antragsteller statt der Anstellungskörperschaft eine für diese handelnde Behörde, so kann dies – wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen – die Annahme rechtfertigen, als Verfahrensgegner sei die Körperschaft gemeint (vgl. BayVGH, Beschl. v. 18.07.1989 - 4 CE 89.2120 -, NVwZ-RR 1990, 99).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="38"/>Die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs liegen hinsichtlich der Aussagen des Antisemitismusbeauftragten in den Tweets vom ... „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ vor. Insoweit ist die Antragstellerin im Schutzbereich eines Grundrechts durch hoheitliches Handeln des Antragsgegners rechtswidrig beeinträchtigt worden und hat eine Wiederholung der Beeinträchtigung zu besorgen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="39"/>Als subjektive Rechte der Antragstellerin sind die Grundrechte der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie das ihr als Personenmehrheit zustehende allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 GG durch die streitgegenständlichen Äußerungen des Antisemitismusbeauftragten berührt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="40"/>Die Antragstellerin unterfällt als Unternehmen, das den politischen Blog „...“ betreibt, dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Dem steht nicht entgegen, dass das Online-Portal „....com“ im Rahmen der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Bundes- und Landesrechts weder „Presse“ noch „Rundfunk“, sondern ein „Telemedium“ im Sinne des § 1 Abs. 1 TMG und § 2 Abs. 1 MStV darstellt (vgl. BayVGH, Beschl. v. 27.01.2017 - 7 CE 16.1994 -, juris Rn. 20; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 25.03.2014 - 1 S 169/14 -, juris Rn. 20). Denn diese einfachgesetzliche Begriffsbestimmung schließt die Antragstellerin nicht vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG aus. Die Begriffe des Grundgesetzes sind insoweit entwicklungsoffen und können auch die sogenannten „neuen Medien“ umfassen. Daher sind jedenfalls Onlineangebote mit – wie hier – journalistisch-redaktionellem Inhalt, die der öffentlichen Meinungsbildung dienen, vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst (vgl. VG München, Beschl. v. 28.07.2020 - M 10 E 20.2750 -, juris Rn. 43 m.w.N.). Die Pressefreiheit umfasst auch das Schalten von Werbeanzeigen, weil es sich dabei im Ergebnis um die Weiterverbreitung von Nachrichten handelt (vgl. BVerfG, Urt. v. 04.04.1967 - 1 BvR 414/64 -, juris Rn. 30 ff., und Urt. v. 12.12.2000 - 1 BvR 1762/95 u.a. -, juris Rn. 39). Art. 12 Abs. 1 GG wiederum schützt die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung und damit die gesamte berufliche und Erwerbszwecken dienende Tätigkeit. Die Antragstellerin als inländische juristische Person kann sich nach Art. 19 Abs. 3 GG auf dieses Grundrecht berufen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.09.2005 - 2 BvF 2/03 -, juris Rn. 229 m.w.N.). Darüber hinaus tangieren die streitgegenständlichen Aussagen auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Antragstellerin als Medienunternehmen (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 GG). Denn in seinen Tweets vom ... hat sich der Antisemitismusbeauftragte negativ über die Antragstellerin geäußert und damit eine Erklärung abgegeben, die geeignet sein kann, deren Ansehen in der Öffentlichkeit herabzusetzen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="41"/>Der Antragsgegner hat durch hoheitliches Handeln in die genannten Rechtspositionen der Antragstellerin eingegriffen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="42"/>Die Aussagen des Antisemitismusbeauftragten in den Tweets vom ... sind – wie bereits dargelegt – dem Antragsgegner als hoheitliches Handeln zuzurechnen. Der Umstand, dass es sich um amtliche Äußerungen handelt, steht dem Eingriffscharakter nicht entgegen. Zwar ist nicht jedes staatliche Informationsverhalten und nicht jede Teilhabe des Staates am Prozess öffentlicher Meinungsbildung als Grundrechtseingriff zu bewerten. Maßgebend ist vielmehr, ob der Schutzbereich des Grundrechts berührt wird und ob die Beeinträchtigung jedenfalls eine eingriffsgleiche Maßnahme darstellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.05.2005 - 1 BvR 1072/01 -, juris Rn. 50, 58). Dafür reicht eine mittelbar faktische Wirkung aus (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.06.2002 - 1 BvR 670/91 -, juris Rn. 70). Die beanstandeten amtlichen Äußerungen des Antisemitismusbeauftragten entfalten zumindest eine solche mittelbar faktische Wirkung mit Eingriffsqualität. Denn mit ihnen wird ausdrücklich erklärt, die Antragstellerin veröffentliche Beiträge mit rassistischen und demokratiefeindlichen Inhalten, sowie darüber hinaus suggeriert, sie verbreite Verschwörungsmythen. Diese Aussagen sind nicht nur geeignet, sich abträglich auf das Ansehen der Antragstellerin in der Öffentlichkeit auszuwirken, sondern können auch dazu führen, dass potentielle Werbekunden davon abgehalten werden, Werbeanzeigen auf der Internetseite der Antragstellerin zu schalten. Angesichts der Bedeutung der amtlichen Äußerung erscheint auch eine spürbare Wirkung in den genannten Schutzbereichen möglich. Wie die Antragstellerin vorgetragen hat und durch den im Artikel ihrer Gesellschafter vom 29.06.2022 mitgeteilten E-Mail-Verkehr mit dem Werbetechnologieunternehmen T. glaubhaft gemacht worden ist, beabsichtigt T., die Geschäftsbeziehung mit der Antragstellerin zu beenden, und wurde von dem Unternehmen im Zuge dessen seit dem 23.06.2022 keinerlei Werbung mehr auf der Internetseite der Antragstellerin ausgespielt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="43"/>Das hoheitliche Handeln des Antragsgegners war rechtswidrig, soweit die Aussagen des Antisemitismusbeauftragten „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ betroffen sind.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="44"/>Für die Aussage in den am ... veröffentlichten Tweets „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ fehlt bereits die Ermächtigungsgrundlage. Der Antragsgegner kann sich insoweit nicht auf seine verfassungsunmittelbare Aufgabe der Staatsleitung stützen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="45"/>Diese Aufgabe ermächtigt die Regierung zwar auch, die Öffentlichkeit über wichtige Vorgänge außerhalb oder weit im Vorfeld ihrer eigenen gestaltenden politischen Tätigkeit zu unterrichten. Die Staatsleitung in diesem Sinne umfasst die Aufgabe, durch rechtzeitige öffentliche Information die Bewältigung von Konflikten in Staat und Gesellschaft zu erleichtern und auf diese Weise neuen, oft kurzfristig auftretenden Herausforderungen entgegenzutreten, auf Krisen schnell und sachgerecht zu reagieren sowie den Bürgern auch mit Warnungen oder Empfehlungen zu Orientierungen zu verhelfen. Soweit die Informationstätigkeit zu lediglich mittelbar-faktischen Beeinträchtigungen von Grundrechten führt, verlangt der Vorbehalt des Gesetzes hierfür keine über die Aufgabe der Staatsleitung hinausgehende besondere Ermächtigung durch den Gesetzgeber (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.2005 - 7 C 20.04 -, juris Rn. 27 m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="46"/>Das ist aber anders dann, wenn das hoheitliche Handeln sich nach seiner Zielsetzung und seinen Wirkungen als Ersatz für eine staatliche Maßnahme darstellt, die als Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinne zu qualifizieren ist. Durch Wahl eines solchen funktionalen Äquivalents eines Eingriffs kann das Erfordernis einer besonderen gesetzlichen Grundlage nicht umgangen werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.06.2002 - 1 BvR 558/91 -, juris Rn. 62; BVerwG, Urt. v. 15.12.2005, a.a.O. Rn. 28).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="47"/>Die Aussage des Antisemitismusbeauftragten in den am ... veröffentlichten Tweets „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ ist ein solches funktionales Äquivalent für eine staatliche Maßnahme, die als Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinne zu qualifizieren ist. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass der Staat zielgerichtet zu Lasten bestimmter Betroffener einen im öffentlichen Interesse erwünschten Erfolg herbeiführen will. Seine Maßnahme muss eindeutig auf einen nachteiligen Effekt abzielen, der bei dem Betroffenen eintreten soll, und darf diesen Effekt nicht lediglich als Begleiterscheinung mit sich bringen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.2005, a.a.O. Rn. 29 m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="48"/>Mit der Aussage in den am ... veröffentlichten Tweets „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ begnügt sich der Antisemitismusbeauftragte nicht mehr damit, die Öffentlichkeit allgemein für aktuelle Formen des Antisemitismus und Verschwörungsglauben im Internet zu sensibilisieren sowie auf die Finanzströme hinter vermeintlichen antisemitischen Äußerungen und Verschwörungserzählungen hinzuweisen. Vielmehr geht er bei der gebotenen Auslegung der amtlichen Äußerung nach dem objektiven Empfängerhorizont (vgl. BVerfG, Urt. v. 15.06.2022 - 2 BvE 4/20 u.a. -, juris Rn. 138; BVerwG, Beschl. v. 16.07.1993 - 7 B 10.93 -, juris Rn. 3, jeweils m.w.N.) dazu über, die von ihm allgemein angenommenen Gefahren mit Blick auf den Einzelfall der Antragstellerin zu bekämpfen, indem er Wirtschaftsunternehmen dazu aufruft, auf deren Internetseite keinerlei Werbeanzeigen mehr zu schalten. Dieser Bedeutungsgehalt kommt der Aussage „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ vorliegend zu, auch wenn in der Textpassage für sich genommen die Antragstellerin nicht namentlich genannt wird. Denn der Bezug zur Antragstellerin wird hinreichend klar durch das Eingangsstatement in den am ... veröffentlichten Tweets „Dr. B. begrüßte die Entscheidung von @..., nach,Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten.“ hergestellt, mit der die Aussage „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ offensichtlich inhaltlich zusammenhängt. Aus Sicht eines verständigen Bürgers zielt der Antisemitismusbeauftragte mit letztgenannter Aussage darauf ab, dass potentielle Werbekunden davon absehen, Werbeanzeigen auf der Internetseite der Antragstellerin zu schalten. Er ermöglicht und fördert damit unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität seines Amts konkrete Schritte gegen die Antragstellerin. Dass Wirtschaftsunternehmen ihre Geschäftsbeziehungen zu der Antragstellerin abgebrochen haben oder zukünftig abbrechen werden, ist mithin kein Nachteil, der nur mehr oder weniger zufällig oder nebenbei als Folge allgemeiner Informationstätigkeit des Antragsgegners eingetreten ist beziehungsweise eintreten wird. Dieser Nachteil ist vielmehr die zwangsläufige Folge der streitigen Aussage „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“; diese ist auf dieses Ergebnis gerichtet. Nach ihrem Inhalt und Zweck stellt sie sich als typisches auf den Einzelfall bezogenes Verwaltungshandeln dar, das dem Rechtsgüterschutz durch Bekämpfung angenommener Gefahren dient (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.06.2002 - 1 BvR 558/91 -, juris Rn. 68).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="49"/>Unerheblich ist, dass die nachteiligen Wirkungen der Aussage in den am ... veröffentlichten Tweets „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ die Antragstellerin erst über das Verhalten von Dritten, nämlich bisheriger oder potentieller Werbepartner, erreicht haben beziehungsweise erreichen werden. Das von dem Antragsgegner mit Aussage verfolgte Handlungsziel fasst den gesamten Geschehensablauf zu einer einheitlichen grundrechtsbeeinträchtigenden Handlung zusammen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.2005, a.a.O. Rn. 31 m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="50"/>Ebenso wenig kommt es darauf an, ob ein Unternehmen berechtigt ist, die Beziehungen zu der Antragstellerin wegen des tatsächlichen oder vermeintlichen Inhalts von auf ihrer Internetseite veröffentlichten Beiträgen abzubrechen. Die grundrechtlich geschützte Privatautonomie hat regelmäßig andere (weiter gezogene) Schranken, als sie die Grundrechte der Pressefreiheit und Berufsfreiheit sowie das allgemeine (Unternehmens-)Persönlichkeitsrecht staatlichem Handeln setzt. Dass der Antragsgegner erst in Verbindung mit dem privatautonomen Handeln eines Dritten in einen grundrechtlich geschützten Lebensbereich eingreift, entbindet ihn nicht von den Schranken staatlichen Handelns (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.2005, a.a.O. Rn. 32).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="51"/>Mit der weiteren Aussage in den am ... veröffentlichten Tweets „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ hat der Antisemitismusbeauftragte ebenfalls einen rechtswidrigen Zustand geschaffen. Denn mit dieser Äußerung hat er gegen das Sachlichkeitsgebot verstoßen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="52"/>Anders als in der Rolle als Privatperson, in der er das uneingeschränkte Recht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG hat und sich insoweit im politischen Meinungskampf äußern und für seine Ansichten werben darf, unterliegt der Antisemitismusbeauftragte des Antragsgegners bei Äußerungen in dieser Eigenschaft gewissen Beschränkungen: Während Tatsachenbehauptungen in der Regel zulässig sind, wenn sie bei objektiver Überprüfung zutreffen, müssen sich Werturteile von Hoheitsträgern an allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen, vor allem an dem Willkürverbot und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, messen lassen. Werturteile und Meinungsäußerungen von Hoheitsträgern unterliegen danach insbesondere dem Sachlichkeitsgebot, das verlangt, dass die getätigte Äußerung in einem konkreten Bezug zur Erfüllung der hoheitlichen Aufgaben des Äußernden steht, auf einem im Wesentlichen zutreffenden oder zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruht und den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreitet (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.08.1989 - 1 BvR 881/89 -, juris Rn. 15; BVerwG, Beschl. v. 11.11.2010 - 7 B 54.10 -, juris Rn. 14). Für die Verhältnismäßigkeit staatlicher Äußerungen spielt es eine erhebliche Rolle, in welchem Kontext die Äußerungen fallen und auf genau welche Fragstellungen sie reagieren. So wäre beispielsweise bei einer Äußerung in einem sozialen Medium, das auf starke Vereinfachung und Verkürzung zielt, eine pointiertere und gröbere Zuspitzung zulässig als in einem ausstellungsbegleitenden wissenschaftlich kuratierten Katalog (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 08.09.2020 - 1 BvR 987/20 -, juris Rn. 12). Hingegen steht eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit politischer Parteien vorliegend nicht in Rede, weshalb der Antisemitismusbeauftragte – entgegen der Auffassung der Antragstellerin – nicht an das aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitete Neutralitätsgebot (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 13.09.2017 - 10 C 6/16 -, juris Rn. 24 m.w.N.) gebunden ist.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="53"/>Ausgehend von diesen Maßstäben überschreitet die Aussage in den am ... veröffentlichten Tweets „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ den Rahmen des sachlich Gebotenen. Dabei kann dahinstehen, ob die Äußerung noch in einem konkreten Bezug zur Erfüllung der hoheitlichen Aufgaben des Antisemitismusbeauftragten steht, die in dem Landtagsbeschluss vom 07.03.2018 schwerpunktmäßig dahingehend beschrieben werden, dass er ressortübergreifend die Maßnahmen der Landesregierung zur Bekämpfung des Antisemitismus koordiniert, Ansprechpartner für Belange jüdischer Gruppen und gesellschaftlicher Organisationen sowie Ansprechpartner und Vermittler für Antisemitismusbekämpfung durch Bund, Länder und Zivilgesellschaft ist, in einer ständigen Bund-Länder-Kommission mit Vertretern der zuständigen Stellen mitwirkt und die Gesellschaft für aktuelle und historische Formen des Antisemitismus durch Öffentlichkeitsarbeit sowie politische und kulturelle Bildung sensibilisiert (vgl. LT-Drs. 16/4754, S. 1, 4 f.). Denn jedenfalls vermag die Kammer, gemessen an den Erkenntnismöglichkeiten des gerichtlichen Eilverfahrens, nicht festzustellen, dass die Werturteile, Autoren, die Beiträge auf der Internetseite der Antragstellerin veröffentlichen, würden „rassistische“ oder „demokratiefeindliche“ Positionen vertreten, auf einem im Wesentlichen zutreffenden oder zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="54"/>Bei beiden Zuschreibungen handelt es sich um Werturteile beziehungsweise Meinungsäußerungen, nicht hingegen um Tatsachenbehauptungen, denn es ist nicht durch eine Beweiserhebung festzustellen, wann ein Beitrag „rassistisch“ oder „demokratiefeindlich“ ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.09.2012 - 1 BvR 2979/10 -, juris Rn. 27). Das Erfordernis des Vorliegens sachlicher Anhaltspunkte bedeutet, dass bloße Vermutungen oder ein bloßer Verdacht nicht ausreichen, sondern konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorliegen müssen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 25.10.2017 - 5 ZB 17.340 -, juris Rn. 29). Vorliegend fehlt es an ausreichenden sachlichen Anhaltspunkten dafür, dass der Antisemitismusbeauftragte die Meinung vertreten und äußern darf, dass Autoren, die Beiträge auf der Internetseite der Antragstellerin veröffentlichen, „rassistische“ oder „demokratiefeindliche“ Positionen vertreten. Der Antragsgegner hat keine derartigen Anhaltspunkte benannt. Insbesondere gehen sie nicht aus den von ihm im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Beiträgen hervor, die ausweislich der Antragserwiderungsschrift vom 25.07.2022 (lediglich) belegen sollen, dass die Antragstellerin häufig als rechtspopulistisch, antisemitisch und islamophob eingeordnet werde, dass Prof. Dr. H. Verschwörungsmythen und antisemitisches Gedankengut verbreite, dass die Antragstellerin in verschiedenen Beiträgen den Antisemitismusbeauftragten wiederholt verunglimpft habe, und dass Autoren der Antragstellerin sich regelmäßig mit dem Zentralrat der Juden beschäftigten und in diesem Zusammenhang Verschwörungsmythen verbreiteten. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass Autoren, die Beiträge auf der Internetseite der Antragstellerin veröffentlichen, „rassistische“ oder „demokratiefeindliche“ Positionen vertreten, sind auch nicht aus öffentlich zugänglichen Quellen allgemeinkundig (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 31.01.1992 - 8 C 78/89 -, juris Rn. 27 m.w.N.).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="55"/>Die Antragstellerin hat auch die Gefahr einer Wiederholung der rechtswidrigen Aussagen des Antisemitismusbeauftragten „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ zu besorgen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="56"/>Dass weitere Eingriffe drohen, kann regelmäßig angenommen werden, wenn bereits eine Beeinträchtigung stattgefunden hat. Denn im Regelfall wird die Behörde ihre Maßnahmen für rechtmäßig halten und keinen Anlass sehen, von diesen Abstand zu nehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.2005, a.a.O. Rn. 34). Vorliegend hat der Antragsgegner in der Antragserwiderungsschrift vom 25.07.2022 ausdrücklich erklärt, dass er nicht bereit sei, dem Unterlassungsbegehren auch nur für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens nachzukommen, da hierdurch die Arbeit des Antisemitismusbeauftragten beeinträchtigt werde. Der Antisemitismusbeauftragte selbst erklärte bereits am ... auf dem Kurznachrichtendienst Twitter in mehreren Tweets, dass er sich von dem rechtlichen Vorgehen der Antragstellerin gegen seine Aussagen in den Tweets vom ... „nicht einschüchtern und nicht einmal von [seiner] Arbeit ablenken lassen, sondern auch Öffentlichkeit und Parlament über den andauernden Rechtsmissbrauch durch SLAPP-Methoden informieren“ werde. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Antisemitismusbeauftragte die beanstandeten Äußerungen wiederholen wird.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="57"/>Die Antragstellerin hat, soweit hinsichtlich der Aussagen des Antisemitismusbeauftragten in den Tweets vom ... „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ ein Anordnungsanspruch besteht, auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Die Entscheidung ist eilbedürftig, weil der Antragsgegner nicht bereit ist, die streitgegenständlichen Äußerungen (einstweilen) zu unterlassen. Die Antragstellerin hätte daher ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang die Rechtsverletzung bis auf Weiteres hinzunehmen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="58"/>Dem aufgrund des Vorliegens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund hinsichtlich der Aussagen des Antisemitismusbeauftragten in den Tweets vom ... „Viele Autoren vertreten rassistische & demokratiefeindliche Positionen.“ und „Die Finanzierung von Verschwörungsmythen durch die Wirtschaft muss dringend ein Ende haben.“ gebotenen Erlass einer einstweiligen Anordnung kann der Antragsgegner schließlich nicht mit Erfolg entgegenhalten, dem Erlass stehe das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache entgegen. Denn ohne einstweilige Anordnung wäre dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (Art. 19 Abs. 4 GG), nicht genügt. Ohne eine entsprechende gerichtliche Anordnung würde der Unterlassungsanspruch der Antragstellerin nämlich vereitelt, weil ein späterer Erfolg im Hauptsacheverfahren die in der Zwischenzeit erfolgte Rechtsverletzung nicht mehr ausgleichen könnte.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="59"/>Hingegen fehlt es hinsichtlich der weiteren Aussagen in den am ... veröffentlichten Tweets des Antisemitismusbeauftragten „Dr. B. begrüßte die Entscheidung von @..., nach,Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten“ und „Auch der @ZentralratJuden, meine Familie & ich sind über dieses Portal oft persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden“ mangels Vorliegens der Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs an einem Anordnungsanspruch, weshalb der Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit ausscheidet. Beide Äußerungen weisen ohne Weiteres einen konkreten Bezug zur Erfüllung der hoheitlichen Aufgabe des Antisemitismusbeauftragten, die Gesellschaft für aktuelle Formen des Antisemitismus durch Öffentlichkeitsarbeit zu sensibilisieren, auf und verletzen weder das Sachlichkeitsgebot noch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="60"/>Die Aussage „Auch der @ZentralratJuden, meine Familie & ich sind über dieses Portal oft persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden“ enthält mehrere Meinungsäußerungen des Antisemitismusbeauftragten, die auf einem im Wesentlichen zutreffenden Tatsachenkern beruhen und sich infolgedessen im Rahmen des sachlich Gebotenen halten. Der Antragsgegner hat insoweit verschiedene auf der Internetseite der Antragstellerin veröffentlichte Beiträge vorgelegt, in denen der Zentralrat der Juden und das Amt des Antisemitismusbeauftragten beziehungsweise dessen Amtswalter diskreditiert werden. So heißt es zum einen in den Beiträgen „...“, „...“ und „...“, dass „die Machthabenden im wiedervereinigten Deutschland ein Ersatzjudentum, [das heißt] ein staatlich finanziertes und der Politik unterstelltes Attrappe-Judentum ohne Religion und praktisch ohne Juden [aufgebaut]“ hätten, dass „[d]as von der Bundesregierung gezahlte Geld (…) der Zentralrat für sich und seine Selbstdarstellung, für den Unterhalt seines Apparats und seiner Funktionäre [verbrauche]“, und dass „J. S. und Kompagnons nicht die Sprecher der Juden in Deutschland [sind], sondern von der Bundesregierung bezahlte Funktionäre zum Vortäuschen eines aktiven jüdischen Lebens, das sie selbst unterdrücken“. Zum anderen werden der Antisemitismusbeauftragte beziehungsweise der Amtswalter Dr. B. bereits in den Überschriften mehrerer Beiträge abwertend als „...“ oder „...“ bezeichnet und wird ihm in dem Beitrag „...“ dezidiert die Kompetenz zur Amtsausübung abgesprochen („B. hat sich einiges Wissen angelesen, trotzdem hat er vom Antisemitismus keine oder gerade so viel Ahnung, wie ein Biologe haben muss, um eine Pusteblume von einer Orchidee zu unterscheiden. Er ist ein dilettierender, wichtigtuerischer Amateur, der sich selbst bewundert.“). Es sind daher ausreichende sachliche Anhaltspunkten dafür vorhanden, dass der Antisemitismusbeauftragte die Meinung vertreten und äußern darf, dass der Zentralrat der Juden und er selbst in Beiträgen auf der Internetseite der Antragstellerin „persönlich verhöhnt, ja angegriffen worden“ sind. Die als Reaktion im Rahmen eines politischen Meinungskampfes anzusehende Aussage ist zudem in ihrer Wortwahl nicht polemisch oder diffamierend, sondern beschränkt sich auf die Mitteilung einer Bewertung des Antisemitismusbeauftragten, die dieser auf der Grundlage der von dem Antragsgegner vorgelegten Beiträge getroffen hat. Auch für einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist daher insoweit nichts erkennbar.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="61"/>Was die Aussage „Dr. B. begrüßte die Entscheidung von @..., nach, Gastbeiträgen‘ des Verschwörungsmythologen #H. nicht länger Werbeanzeigen auf #... zu schalten“ angeht, trifft die darin enthaltene Tatsachenbehauptung, die A. habe entschieden, keine Werbeanzeigen mehr auf der Internetseite der Antragstellerin zu schalten, nach dem Erkenntnisstand der Kammer im Zeitpunkt ihrer Entscheidung sachlich zu. Die Gesellschafter der Antragstellerin haben in dem von dem Antragsgegner vorgelegten, am 29.06.2022 um 06:05 Uhr auf der Internetseite der Antragstellerin veröffentlichten Artikel „...“ selbst mitgeteilt, dass seit dem 23.06.2022 über T. keinerlei Werbung, also auch keine Werbeanzeigen von A. mehr ausgespielt wurden. Dass dem eine bewusste Entscheidung der A. zugrunde lag, geht hinreichend deutlich aus dem in dem Artikel mitgeteilten E-Mail-Verkehr der Antragstellerin mit der A. und T. hervor. Darin wird einerseits mitgeteilt, dass sich die A. „[e]ine Prüfung des Mediums [,] auf dem Anzeigen für unser Unternehmen ausgespielt werden, [vorbehalte]“ (E-Mail der Social-Media-Abteilung der A. v. 16.06.2022), andererseits, dass T. „von unserem Premium-Advertiser (…) starke Beschwerden zur Polarität und Kontroversität der Inhalte von ... erhalten“ habe und nach einer Prüfung „zu dem Schluss [kam], dass die auf ... veröffentlichten Inhalte des Publisher-Richtlinien von T. nicht entsprechen“ und „[i]nfolgedessen die Partnerschaft zwischen ... und T. beendet werden [müsse]“ (E-Mail v. 23.06.2022). Hieraus kann hinreichend sicher der Rückschluss gezogen werden, dass die A. entschieden hat, keine Werbeanzeigen mehr auf der Internetseite der Antragstellerin zu schalten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="62"/>Die weitere in der Aussage enthaltene Tatsachenbehauptung, dass der Entscheidung der A. Gastbeiträge von Prof. Dr. H. auf der Internetseite der Antragstellerin zeitlich vorauslagen, ist ebenfalls sachlich zutreffend. Denn nach dem eigenen Sachvortrag der Antragstellerin im Schriftsatz vom 01.08.2022 hat Prof. Dr. H. zwischen dem 22.04.2020 und 09.06.2022 insgesamt fünf Artikel auf ihrer Internetseite veröffentlicht. Dass der Antisemitismusbeauftragte in seinem Tweet vom ... das Wort „Gastbeitrag“ in Anführungszeichen gesetzt hat, stellt insoweit lediglich eine pointierte Hervorhebung der Stellung von Prof. Dr. H. als Gastautor der Antragstellerin dar, die bei Nutzung eines sozialen Mediums wie des auf starke Vereinfachung und Verkürzung zielenden Kurznachrichtendienstes Twitter die Ebene eines sachlichen, rationalen Diskurses nicht verlässt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="63"/>Des Weiteren hält sich das dem Gastautor der Antragstellerin Prof. Dr. H. in dem Tweet des Antisemitismusbeauftragten vom ... zugeschriebene Werturteil „Verschwörungsmythologe“ im Rahmen des sachlich Gebotenen. Denn es beruht auf einem im Wesentlichen zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern. Der Antragsgegner hat mit dem Antragserwiderungsschriftsatz vom 25.07.2022 unter anderem den auf der Internetseite „....de“ veröffentlichten Beitrag vom 23.06.2021 „Antisemitismusbeauftragter B.: H. verbreitet antisemitischen Verschwörungsmythos“ vorgelegt, in dem der Antisemitismusbeauftragte ausführlich darlegt, dass und weshalb nach seinem Dafürhalten Prof. Dr. H. auf dem Kurznachrichtendienst Twitter Verschwörungsmythen verbreitet. Unter anderem habe Prof. Dr. H. getwittert, dass alle Twitter-Nutzer, die mithilfe eines roten Bildes für eine No-Covid-Strategie werben würden, einer Ideologie des Transhumanismus angehörten, für eine „Corona- und Ökodiktatur“ seien und von superreichen Eliten, darunter WEF-Gründer Klaus Schwab, Bill Gates und der jüdische Milliardär George Soros, bezahlt würden; dies sei die Blaupause einer antisemitischen Verschwörungserzählung. Diesen Ausführungen ist die Antragstellerin nicht entgegengetreten. Damit liegen ausreichende sachliche Anhaltspunkten dafür vor, dass der Antisemitismusbeauftragte die Meinung vertreten und auf dem Kurznachrichtendienst Twitter pointiert und zugespitzt äußern darf, Prof. Dr. H. sei ein „Verschwörungsmythologe“.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="64"/>Schließlich ist es mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar, dass der Antisemitismusbeauftragte in seinem Tweet vom ... die Entscheidung der A., keine Werbeanzeigen mehr auf der Internetseite der Antragstellerin zu schalten, „begrüßt“. Mit der legitimen Aufgabenwahrnehmung durch den Antisemitismusbeauftragten des Antragsgegners kann im Einzelfall auch die Befugnis verbunden sein, dass der Öffentlichkeitsarbeit zugrundeliegende Konzept, für aktuelle Formen des Antisemitismus zu sensibilisieren und Verschwörungsglauben im Internet und in den sozialen Medien sichtbar zu machen, durch Äußerungen, die auch Dritte betreffen, zu bestätigen oder zu verteidigen. Dazu kann auch das Recht gehören, zu einzelnen Verhaltensweisen Dritter urteilend Stellung zu nehmen, wenn und soweit der Aufgabenbereich des Antisemitismusbeauftragten betroffen ist; eine Bindung an ein irgendwie geartetes Neutralitätsgebot besteht insoweit nicht (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 17.08.2010 - 1 BVR 2585/06 -, juris Rn. 23 f.). Der Antisemitismusbeauftragte darf sich daher auch lobend zu den Werbeaktivitäten eines Wirtschaftsunternehmens äußern, wenn dies – wie hier – auf hinreichender Tatsachenbasis sachbezogen mit dem legitimen Ziel erfolgt, die Finanzierung der Verbreitung von Verschwörungsmythen auf der Internetseite eines Medienunternehmens aufzudecken und die Ebene eines sachlichen, rationalen Diskurses – auch in der Wortwahl – nicht verlassen wird.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="65"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="66"/>Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Wegen der zumindest teilweisen Vorwegnahme der Hauptsache sieht die Kammer in Orientierung an Nummer 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 von einer Reduzierung des Auffangwerts ab (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 22.01.2020 - 9 S 2797/19 -, juris Rn. 29).</td></tr></table> <table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table> </td></tr></table>
346,732
olgce-2022-09-22-1-ws-5122
{ "id": 603, "name": "Oberlandesgericht Celle", "slug": "olgce", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 Ws 51/22
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-28T10:01:00"
"2022-10-17T11:10:36"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong> Der Beschluss des Landgerichts Stade vom 12. August 2022 wird aufgehoben.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Dem Beschwerdeführer sind über die mit Entscheidung der Kostenbeamtin vom 21. April 2022 festgesetzte Vergütung von insgesamt 5.883,36 EUR hinaus weitere 739,47 EUR aus der Landeskasse zu erstatten.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</strong></p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong> I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Höhe der Festsetzung seiner Vergütung als Nebenkläger durch das Landgericht Stade.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>In Rahmen eines gegen den Angeklagten u.a. wegen des Verdachts der Begehung eines versuchten Tötungsdeliktes zum Nachteil des Geschädigten G. B. von der Staatsanwaltschaft Stade geführten Ermittlungsverfahrens legitimierte sich der Beschwerdeführer gegenüber der Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 14. Dezember 2020 für den Geschädigten und beantragte zunächst Akteneinsicht. Die vom Geschädigten unterzeichnete schriftliche Vollmacht datiert vom 16. Dezember 2020 und ermächtigte den Beschwerdeführer zur außergerichtlichen und gerichtlichen Erledigung für alle Instanzen, insbesondere die Verteidigung in einem Strafverfahren einschließlich der Vorverfahren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Im weiteren Verfahrensgang wurde der Beschwerdeführer noch im Ermittlungsverfahren mit Beschluss 23. Februar 2021 als Beistand des Geschädigten nach §§ 397a Abs. 1, 406h Abs. 3 StPO bestellt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Unter dem 29. März 2021 erhob die Staatsanwaltschaft Stade sodann Anklage zum Landgericht Stade (Schwurgericht). Die Anklage wurde mit Beschluss vom 6. Mai 2021 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Mit selben Beschluss ließ das Landgericht den Geschädigten als Nebenkläger unter Beiordnung des Beschwerdeführers zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Mit Urteil vom 22. September 2021 wurde der Angeklagte vom Landgericht Stade zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde; darüber hinaus wurden ihm u.a. die dem Nebenkläger erwachsenen notwendigen Auslagen auferlegt. Der Beschwerdeführer nahm an mehreren Hauptverhandlungsterminen teil und legte nachfolgend Revision gegen das am 22. September 2021 verkündete Urteil des Schwurgerichts ein.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Nach Verfahrensbeendigung beantragte der Beschwerdeführer gegenüber der Staatskasse mit Schreiben vom 19. Januar 2022 die Festsetzung seiner im Ermittlungsverfahren, erstinstanzlichen Verfahren sowie Revisionsverfahren entstandenen Gebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 6.657,34 EUR. Er legte dabei für sämtliche Verfahrensabschnitte die Gebührensätze in der ab dem 1. Januar 2021 geltenden Fassung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) zugrunde. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle brachte hingegen unter Verweis auf die Vorschrift des § 60 Abs. 1 S. 1 RVG die Gebührensätze für sämtliche Verfahrensabschnitte in der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung in Ansatz und setzte die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen lediglich auf 5.883,36 EUR fest.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Die hiergegen eingelegte Erinnerung des Beschwerdeführers wies das Landgericht mit Beschluss vom 12. August 2022 als unbegründet zurück. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass bereits im Jahr 2020 ein unbedingter Auftrag sowohl für das Ermittlungsverfahren als auch das gerichtliche Verfahren vorgelegen hätte und daher für die gesamte Vergütung des Beschwerdeführers nach § 60 Abs. 1 Satz 1 RVG das bisherige Recht anzuwenden sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorbezeichneten Beschluss des Landgerichts verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Gegen diesen Beschluss wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde vom 22. August 2022 nur noch insoweit, als auch für das gerichtliche Verfahren die Gebührensätze in der vor dem 1. Januar 2021 geltenden Fassung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) zugrunde gelegt worden sind. Das Landgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass zum Zeitpunkt der Auftragserteilung im Jahr 2020 noch kein unbedingter Auftrag für ein gerichtliches Verfahren erteilt werden konnte. Vielmehr sei zu diesem Zeitpunkt noch unklar gewesen, ob es überhaupt zu einem gerichtlichen Verfahren komme, sodass die Beauftragung unter der Bedingung einer späteren Anklageerhebung gestanden habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Die gemäß §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 RVG statthafte Beschwerde hat in der Sache Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>1. Der Senat ist als Kollegialgericht zur Entscheidung über die Beschwerde gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 8 S. 1 2. HS RVG berufen, weil die Strafkammer die angefochtene Entscheidung in entsprechender Besetzung erlassen hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>2. In der Sache kann der angefochtene Beschluss – soweit dieser noch mit der Beschwerde angefochten wird – keinen Bestand haben. Denn dem Beschwerdeführer steht über den zuerkannten Betrag von 5.883,36 EUR hinaus noch ein Vergütungsanspruch in Höhe von 739,47 EUR zu.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p><span style="text-decoration:underline">Im Einzelnen:</span></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>a) Gegenstand des Beschwerdeverfahren sind allein die für das gerichtliche sowie Revisionsverfahren festgesetzten Kosten, da der Beschwerdeführer die erfolgte Kostenfestsetzung für die im Ermittlungsverfahren angefallenen Gebühren mit seiner Beschwerde nicht weiter angegriffen hat und der Senat diesbezüglich mithin auch nicht zu einer Entscheidung berufen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>b) Für die Beurteilung der Frage, ob für das gerichtliche Strafverfahren altes oder neues Gebührenrecht anzuwenden ist, sind zwar sowohl die Urkundsbeamtin als auch das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass sich dies maßgeblich danach richtet, ob dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nach § 60 Abs. 1 S. 1 RVG ein unbedingter Auftrag zur Durchführung vor oder nach dem 1. Januar 2021 (Inkrafttreten des Kostenrechtsänderungsgesetzes 2021 – KostRÄG 2021) erteilt worden war. Bei der Beurteilung ist jedoch unberücksichtigt geblieben, dass es sich nach § 17 Nr. 10 a RVG bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und dem nachfolgenden gerichtlichen Verfahren um verschiedene Angelegenheiten handelt (vgl. Volpert, StraFo 2021, 188, 189; Burhoff in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, Angelegenheiten §§ 15 ff. Rn. 105, 142).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>So geht das Landgericht zwar zu Recht davon aus, dass bereits im Jahr 2020 eine umfassende Vertretung des Geschädigten im Ermittlungsverfahren sowie in einem nachfolgenden gerichtlichen Verfahren durch den Geschädigten beauftragt worden war. Denn hierfür sprachen schon die Gesichtspunkte, dass gegen den Angeklagten ein Haftbefehl ergangen war und eine zeitnahe Anklageerhebung zu erwarten war. Auch hat der Beschwerdeführer bereits mit Schriftsatz vom 4. Januar 2021 die Bestellung als Beistand nach § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO und die Zulassung als Nebenkläger im Namen des Geschädigten beantragt, was belegt, dass er mit einem nachfolgenden gerichtlichen Verfahren in absehbarer Zeit rechnete.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Trotz dieser umfassenden Beauftragung durch den Geschädigten sowohl für das Ermittlungsverfahren als auch ein nachfolgendes gerichtliches Verfahren handelt es sich vorliegend ungeachtet der zeitgleichen Beauftragung nach § 17 Nr. 10 a RVG gebührenrechtlich um verschiedene Aufträge und nicht um einen Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit (Gerold/Schmidt, RVG § 60 Rn. 6, beck-online).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>c) Ein unbedingter Auftrag zur Erledigung der Vertretung des Geschädigten in einem gerichtlichen Verfahren vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung zum 1. Januar 2021 lag hingegen gerade nicht vor, sodass die Vorschrift des § 60 Abs. 1 S. 1 RVG vorliegend nicht zum Tragen kam.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Zum Zeitpunkt der Auftragsannahme durch den Beschwerdeführer Ende des Jahres 2020 lagen vielmehr gleichzeitig ein unbedingter Auftrag für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und ein bedingter Auftrag für ein nachfolgendes Strafverfahren vor. Letzteres stand unter der Bedingung einer Anklageerhebung durch die Strafverfolgungsbehörde, sodass für die gebührenrechtliche Betrachtung nach § 60 Abs. 1 S. 1 RVG der spätere Zeitpunkt des Bedingungseintritts maßgeblich war (vgl. Volpert in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, §§ 60 f. Übergangsvorschriften Rn. 13; Toussaint/Toussaint, 52. Aufl. 2022, RVG § 60 Rn. 9).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Die Anklageerhebung und damit die Überleitung in ein gerichtliches Strafverfahren erfolgte am 29. März 2021, sodass für die Kostenfestsetzung für das gerichtliche Verfahren das ab dem 1. Januar 2021 geltende Rechtsanwaltsvergütungsgesetz zugrunde zu legen war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>d) Demgemäß steht dem Beschwerdeführer ein Vergütungsanspruch zu, der sich wie folgt berechnet:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><table class="Rsp"> <tr><th colspan="2" rowspan="1"></th></tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Grundgebühr Nr. 4100 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">160,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">132,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Post- und Telekommunikationspauschale Nr. 7002 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">20,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Auslagen Aktenübersendung</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">5,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom">        </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Verfahrensgebühr Nr. 4118 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">348,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Terminsgebühr Nr. 4120 VV (18.06.21)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">466,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Fahrtkosten Nr. 7003 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">88,20 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Abwesenheitsgeld Nr. 7005 (Ziff. 2)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">50,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Terminsgebühr Nr. 4120 VV (22.06.21)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">466,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Fahrtkosten Nr. 7003 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">88,20 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Abwesenheitsgeld Nr. 7005 (Ziff. 3)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">80,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Terminsgebühr Nr. 4120 VV (06.07.21)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">466,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Fahrtkosten Nr. 7003 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">88,20 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Abwesenheitsgeld Nr. 7005 (Ziff. 3)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">80,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Terminsgebühr Nr. 4120 VV (13.07.21)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">466,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Fahrtkosten Nr. 7003 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">88,20 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Abwesenheitsgeld Nr. 7005 (Ziff. 3)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">80,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Terminsgebühr Nr. 4120 VV (19.08.21)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">466,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Fahrtkosten Nr. 7003 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">88,20 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Abwesenheitsgeld Nr. 7005 (Ziff. 2)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">50,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Terminsgebühr Nr. 4120 VV (03.09.21)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">466,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Fahrtkosten Nr. 7003 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">88,20 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Abwesenheitsgeld Nr. 7005 (Ziff. 2)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">50,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Terminsgebühr Nr. 4120 VV (22.09.21)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">466,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Fahrtkosten Nr. 7003 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">88,20 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Abwesenheitsgeld Nr. 7005 (Ziff. 2)</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">50,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Post- und Telekommunikationspauschale Nr. 7002 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">20,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom">        </td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Verfahrensgebühr Nr. 4130VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">541,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Post- und Telekommunikationspauschale Nr. 7002 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">20,00 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">5.565,40 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">Umsatzsteuer Nr. 7008 VV</p></td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">1.057,43 €</p></td> </tr> <tr> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom">        </td> <td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom"><p style="text-align:justify">6.622,83 €</p></td> </tr> </table></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Von den 6.622,83 EUR abzusetzen war der bereits zuerkannte Betrag von 5.883,36 EUR, sodass ein weiterer Vergütungsanspruch von 739,47 EUR zuzusprechen war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>III.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 Satz 2, 3 RVG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Gegen diese Entscheidung ist keine weitere Beschwerde gegeben (§ 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 4 S. 3, Abs. 6 RVG).</p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE270332022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,729
ovgni-2022-09-22-1-me-9022
{ "id": 601, "name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht", "slug": "ovgni", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": null }
1 ME 90/22
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-28T10:00:58"
"2022-10-17T11:10:35"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer - vom 22. Juli 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 12.500 EUR festgesetzt; die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts wird dementsprechend geändert.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für ein sozialtherapeutisches Zentrum; sie befürchtet insbesondere unzumutbare Belästigungen durch psychisch kranke Bewohner.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Antragstellerin ist Eigentümerin des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks A-Straße in A-Stadt. Südwestlich grenzt das Grundstück F. der Beigeladenen an, auf dem diese seit vielen Jahren ein Seniorenpflegeheim betreibt. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans Nr. 2 A „Am Harrl“ der Gemeinde A-Stadt in der Fassung der 1. Änderung aus dem Jahr 2012, der für beide Grundstücke ein allgemeines Wohngebiet festsetzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Mit Bauschein vom 2. Mai 2019 genehmigte der Antragsgegner eine Änderung der Nutzung des Pflegeheims in ein sozialtherapeutisches Zentrum. Eingeschlossen waren kleinere bauliche Veränderungen der Bestandsgebäude, die Umzäunung eines rückwärtig an die Gebäude angrenzenden Bereichs mit einem 3 m hohen Zaun und die Aufstellung von zwei Containern zur Aufnahme eines Beschäftigungsraums. In der grüngestempelten Betriebsbeschreibung heißt es:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">„Das sozialtherapeutische Zentrum am Harrel besteht aus 2 Bereichen mit insgesamt 41 Wohnheimplätzen. Davon sind 17 Wohnheimplätze dem beschützenden Bereich und 24 Wohnheimplätze dem allgemeinen Betreuungsbereich zugeordnet. (…) Die Bewohner werden 24 h täglich betreut. (…)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Bei den Bewohnern der Einrichtung handelt es sich meist um Menschen, die aufgrund ihrer krankheitsbedingten Einschränkungen einen Anspruch auf Betreuungsleistungen im Sinne des § 53 SGB XII haben. Bei den Bewohnern des beschützenden Bereichs bestehen regelmäßig psychiatrische Störungen, verbunden mit krankheitsbedingten Verhaltensauffälligkeiten und Desorientierung. Die Bewohner des beschützenden Bereichs weisen ein ausgeprägtes Krankheitsbild auf, das zu einer Eigengefährdung führen kann. Diese Gefahr der Eigengefährdung führt zu einem besonderen Bedarf an Betreuung und Kontrolle. Die Aufnahme in den beschützenden Bereich bedingt regelmäßig einen gerichtlichen Beschluss gem. § 1906 BGB. (…)</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Im beschützenden Bereich im 2. OG, sowie im zugehörigen Außenbereich in Containern, stehen ausreichend Räume zu Therapiezwecken zur Verfügung, hier finden kreative und therapeutische Tätigkeiten, sowie Gruppenbeschäftigungen statt. Im beschützenden Außenbereich werden die Bewohner an der Gartenarbeit und der Grundstückspflege beteiligt, weiterhin steht hier eine Fläche zum Gemüseanbau zur Verfügung. (…)“</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Wann und in welchem Umfang im Einzelnen die Beigeladene von der Baugenehmigung Gebrauch gemacht hat, ist zwischen den Beteiligten streitig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Mit Schreiben vom 24. August 2021 legte die Antragstellerin Widerspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung; beides blieb unbeschieden. Den daraufhin erhobenen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht Hannover mit dem angegriffenen Beschluss vom 22. Juli 2022 abgelehnt. Dabei könne offenbleiben, ob der Antrag unzulässig sei, weil die Antragstellerin zu spät Widerspruch erhoben habe. Denn er sei jedenfalls unbegründet. Das sozialtherapeutische Zentrum sei als Anlage für soziale oder gesundheitliche Zwecke in einem allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig. Um eine geschlossene psychiatrische Einrichtung handele es sich nicht. Die Nutzung sei angesichts ihrer geringen Größe gebietsverträglich; unzumutbare Lärmbelästigungen seien nicht zu erwarten. Gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoße das Vorhaben ebenfalls nicht; es entfalte weder erdrückende Wirkung, noch bestehe eine unzumutbare Gefahr von fremdgefährdendem Verhalten der Bewohner.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Die Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Gebietserhaltungsanspruchs verneint. Das sozialtherapeutische Zentrum der Beigeladenen ist als Anlage für soziale Zwecke im allgemeinen Wohngebiet als Regelnutzung zulässig (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO). Anlagen für soziale Zwecke dienen in einem weiten Sinn der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt. Es handelt sich um Nutzungen, die auf Hilfe, Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen ausgerichtet sind. Als typische Beispiele werden Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, alte Menschen sowie andere Personengruppen angesehen, die (bzw. deren Eltern) ein besonderes soziales Angebot wahrnehmen wollen. Sie sollen - in der Formulierung des § 3 Abs. 3 BauNVO - den Bedürfnissen der die Einrichtung in Anspruch nehmenden Personen dienen (BVerwG, Beschl. v. 26.7.2005 - 4 B 33.05 -, NVwZ 2005, 1186 = BRS 69 Nr. 63 = juris Rn. 5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Diesen Anforderungen entspricht das zur Genehmigung gestellte Vorhaben. Ausweislich der Betriebsbeschreibung dient das Zentrum der Betreuung von und der Fürsorge für Menschen mit Behinderungen (vgl. § 53 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Dabei stehen ein allgemeiner und ein beschützender, i.E. geschlossener Bereich zur Verfügung. Im beschützenden Bereich weisen die Bewohner regelmäßig seelische/geistige Behinderungen auf, die mit einer Eigengefährdung verbunden sein können. Ihre Aufnahme in den beschützenden Bereich erfolgt nach der Betriebsbeschreibung regelmäßig auf der Grundlage eines betreuungsgerichtlichen Beschlusses gemäß § 1906 BGB.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Das Vorhaben der Beigeladenen dient damit der sozialen Fürsorge für Menschen mit besonderem Unterstützungs- und Betreuungsbedarf und erfüllt die Anforderungen des § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO. Im Vordergrund stehen das Wohl der Bewohner und ihre individuellen Bedürfnisse. Das gilt auch und gerade für diejenigen Bewohner, die sich auf der Grundlage eines betreuungsgerichtlichen Beschlusses im beschützenden Bereich aufhalten. Denn eine solche Unterbringung auf der Grundlage von § 1906 BGB dient ebenso wie die Betreuung selbst (vgl. §§ 1896, 1901 BGB) ausschließlich dem Wohl des Betreuten; sie ist nur im Fall einer Selbstgefährdung zulässig (§ 1906 Abs. 1 BGB) und dient gerade nicht dem Schutz vor Fremdgefährdungen. Der Antragstellerin ist zwar Recht zu geben, dass es sich bei einer Unterbringung - jedenfalls nach Maßgabe der Betriebsbeschreibung - um eine Form der Freiheitsentziehung handelt. Ihre rechtliche Schlussfolgerung, dass Einrichtungen, die einen unfreiwilligen Aufenthalt vorsehen oder ermöglichen, in einem allgemeinen Wohngebiet unzulässig sind, ist indes falsch. Erst dann, wenn nicht das individuelle Wohl des Betroffenen, sondern - wie bei einer Einrichtung des Justiz- oder Maßregelvollzugs oder zur Unterbringung psychisch erkrankter Menschen auf der Grundlage des Niedersächsischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) - öffentliche Zwecke der Gefahrenabwehr im weitesten Sinne in den Vordergrund treten, wird der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO verlassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.7.2005 - 4 B 33.05 -, NVwZ 2005, 1186 = BRS 69 Nr. 63 = juris Rn. 6 f.). Auf die Freiwilligkeit des Aufenthaltes kommt es insofern nicht an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Zu Recht hat das Verwaltungsgericht auch die Gebietsverträglichkeit des Vorhabens bejaht. Die Gebietsverträglichkeit ist ungeschriebenes Erfordernis jeder nach dem Wortlaut der Absätze 2 und 3 der §§ 2 ff. BauNVO zulässigen Nutzung. Sie muss mit dem Charakter zu vereinbaren sein, welchen der Gesetzgeber im jeweiligen Absatz 1 der genannten Vorschriften einem Baugebiet mit dem Ziel vorgegeben hat, dort ein verträgliches Nebeneinander der - wie es beim ersten Eindruck scheinen mag - zufällig nebeneinander statthaften Nutzungen zu ermöglichen. Der dort beschriebenen typischen Funktion des jeweiligen Baugebiets muss sich jede Regelnutzung, erst recht jede Ausnahmenutzung zu- und unterordnen. Ihre Zulassung hängt dementsprechend in besonderem Maße von deren Immissionsverträglichkeit ab. Zu würdigen ist mithin in jedem Fall, ob die typischerweise mit dem in Rede stehenden Vorhaben verbundenen Auswirkungen nach dessen räumlichem Umfang, der Größe seines (betrieblichen) Einzugsbereichs, der Art und Weise der Betriebsvorgänge, dem damit verbundenen Zu- und Abgangsverkehr sowie der Dauer all dieser Auswirkungen einschließlich ihrer Verteilung auf die Tages- und Nachtzeiten mit dem in Absatz 1 definierten Gebietscharakter zu vereinbaren sind (Senatsbeschl. v. 3.11.2021 - 1 ME 42/21 -, juris Rn. 7, unter Verweis auf BVerwG, Beschl. v. 28.2.2008 - 4 B 60.07 -, BRS 73 Nr. 70 = NVwZ 2008, 786 = juris Rn. 6 f. und 11 f. m.w.N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Gemessen daran steht die Gebietsverträglichkeit hier nicht in Frage. Das Vorhaben weist lediglich 41 Wohnplätze auf, von denen wiederum 17 dem beschützenden Bereich zugeordnet sind. Dementsprechend ist nur mit einem geringen Verkehrsaufkommen zu rechnen, worauf auch die geringe, die Richtzahlen aber gleichwohl bereits überschreitende Anzahl von nur zehn Einstellplätzen hinweist. Darüber hinaus ähnelt das Vorhaben in hohem Maße einer klassischen Wohnnutzung. Soweit mit Lebensäußerungen, etwa Rufen, der psychisch erkrankten Bewohner zu rechnen ist, sind diese grundsätzlich - und so auch hier - in einem allgemeinen Wohngebiet hinzunehmen. Dass sie - insbesondere in der Nachtzeit - ein unerträgliches Ausmaß annehmen könnten, ist schon angesichts der geringen Zahl von nur 17 Personen im beschützenden Bereich und der Weitläufigkeit des Grundstücks nicht zu erwarten; die Antragstellerin trägt mit ihrer Beschwerde auch keine substantiierten Befürchtungen vor. Ihre weitere Überlegung, das Vorhaben passe nicht in eine Umgebung, die „durch eine Einfamilienhausbebauung mit teilweise unter Denkmalschutz stehenden Villen der 1920iger Jahre geprägt“ sei, vermag ebenfalls keine Gebietsunverträglichkeit zu begründen. Wie schon das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, kann und will das Bauplanungsrecht keinen „Milieuschutz“ gewährleisten (vgl. Senatsbeschl. v. 18.9.2015 - 1 ME 126/15 -, NVwZ-RR 2016, 25 = BRS 83 Nr. 102 = juris Rn. 11).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme (§ 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO) liegt ebenfalls nicht vor. Dass das Vorhaben keine erdrückende Wirkung entfaltet, liegt angesichts der Größe der Baukörper und der Abstände auf der Hand; auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (BA S. 18) nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Soweit sich die Antragstellerin durch die von der Grundstücksgrenze deutlich entfernte Einzäunung des beschützenden Bereichs an eine „Gefängniseinzäunung“ und das dahinterliegende „Gefährdungs- oder Belästigungspotenzial“ erinnert sieht, begründet auch dies keine erdrückende Wirkung, sondern es handelt sich um eine individuelle Befindlichkeit; erforderlichenfalls ist Selbsthilfe durch eine geeignete Bepflanzung des eigenen Grundstücks das Mittel der Wahl. Hinzunehmen sind schließlich die Lebensäußerungen der Bewohner; auf seine obigen Ausführungen nimmt der Senat Bezug.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Dem Verwaltungsgericht ist auch darin beizupflichten, dass keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, die Bewohner des sozialtherapeutischen Zentrums könnten typischerweise ein fremdgefährdendes Verhalten an den Tag legen. Auf den ohnehin unsubstantiierten und spekulativen Vortrag zu angeblichen Defiziten der personellen Ausstattung mit der Folge eines unkontrollierten bzw. unbeaufsichtigten Verlassens des Zentrums durch dort untergebrachte Bewohner kommt es demzufolge nicht an.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>Soweit die Antragstellerin dagegen vorbringt, es sei nicht entscheidend, ob von den Bewohnern eine echte Fremdgefährdung ausgehe; es reiche aus, „dass diese sich mangels hinreichender Aufenthaltsräume gemäß der Betriebsgenehmigung vor dem Haus und in der Nähe des benachbarten Hauses der Antragstellerin aufhalten könnten“, die Präsenz von überwiegend suchtkranken oder drogenabhängigen Männern löse bei älteren Anwohnern wie der Antragstellerin Angstgefühle aus und führe zu Belastungssituationen durch Polizeieinsätze, beruht dies offenbar auf der Annahme, schon der bloße Aufenthalt von Menschen mit seelischen oder geistigen Behinderungen in Sichtweite ihres Grundstücks sei rücksichtslos. Dem öffentlichen Baurecht, das gemäß Art. 1 GG dem Gedanken der Menschenwürde, und zwar aller Menschen gleichermaßen, verpflichtet ist, entspricht diese Annahme nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>3.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat orientiert sich im Ausgangspunkt ebenso wie das Verwaltungsgericht an Nr. 17 b), 7a) der seit dem 1. Juni 2021 geltenden Streitwertannahmen (NdsVBl. 2021, 247). Allerdings sieht der Senat allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Schwere der geltend gemachten Beeinträchtigungen gegenüber dem Durchschnitt signifikant geringer ausfällt. Mithin ist ein Hauptsachestreitwert von 25.000 EUR anzusetzen (Nr. 7 am Ende i.V.m. Nr. 1 a) der Streitwertannahmen), der im Eilverfahren zu halbieren ist. Die Änderung der verwaltungsgerichtlichen Festsetzung folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007172&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,715
vg-dusseldorf-2022-09-22-26-l-202522
{ "id": 842, "name": "Verwaltungsgericht Düsseldorf", "slug": "vg-dusseldorf", "city": 413, "state": 12, "jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit", "level_of_appeal": null }
26 L 2025/22
"2022-09-22T00:00:00"
"2022-09-27T10:01:32"
"2022-10-17T11:10:33"
Beschluss
ECLI:DE:VGD:2022:0922.26L2025.22.00
<h2>Tenor</h2> <p><strong>Der Antrag wird abgelehnt.</strong></p> <p><strong>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p> <p><strong>Der Wert des Streitgegenstandes wird auf die Wertstufe bis 10.000 Euro festgesetzt.</strong></p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der am 19. September 2022 bei Gericht eingegangene Antrag,</p> <span class="absatzRechts">3</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>1.</strong><span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller für die Klausuren der Studienabschnitte S1 und S2 im Studienjahr 2021/2022 und des Studienabschnitts S3 im Studienjahr 2022/2023 unverzüglich bis spätestens zum 27. September 2022 im Wege des weiteren Nachteilsausgleichs eine einstündige Schreibzeitverlängerung zu gewähren,</p> </li> <li><strong>2.</strong><span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller für die mündlichen Prüfungen der Studienabschnitte S1 und S2 im Studienjahr 2021/2022 und des Studienabschnitts S3 im Studienjahr 2022/2023 unverzüglich bis spätestens zum 27. September 2022 im Wege des weiteren Nachteilsausgleichs eine Erleichterung durch Bewilligung einer Einzelprüfung, durch kurze, prägnante und direkte (statt offene) Fragestellungen sowie durch angemessene vorherige Bekanntgabe mündlicher Prüfungsfragen zu gewähren,</p> </li> <li><strong>3.</strong><span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">hilfsweise, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, unverzüglich bis spätestens zum 27. September 2022 über den Antrag des Antragstellers vom 3. August 2022 auf Gewährung eines weiteren Nachteilsausgleichs unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden,</p> </li> </ul> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">hat insgesamt keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Obwohl der Antragsteller nach Aktenlage lernortübergreifend seinem Studium am Studienort L.    der I.    NRW nachgeht, ist für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit nach § 52 Nr. 4 Satz 1 VwGO der durch die Stammdienststelle begründete dienstliche Wohnsitz maßgeblich, weil weder die Dauer einer Abordnung oder sonstigen Zuweisung noch der Zweck der Zuständigkeitsvorschrift für eine Verlagerung sprechen. Führt die duale Ausbildung nur zu kurzzeitigen Abordnungen (oder sonstigen Zuweisungen), ändert dies den dienstlichen Wohnsitz des Grundverhältnisses nicht.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Wiesbaden, Beschluss vom 18. Juni 2013 – 3 K 314/13.WI –, für eine auf ein Jahr beschränkte Abordnung und VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juni 2009 – 13 K 2159/09 –, mit dem der Rechtsstreit bei einer Abordnung von drei Jahren verwiesen worden ist, weil das Merkmal der Kurzfristigkeit verneint worden ist; beide Entscheidung sind in juris dokumentiert.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Auch der Zweck der Zuständigkeitsregelung, es dem Beamten zu ermöglichen, sein Rechtsgesuch bei einem Gericht anzubringen, das für ihn leicht zu erreichen ist,</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 3 m.w.N.,</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">erlaubt es hier, auf das L2.         S.             O.           mit Sitz in L3.    -M.        als Stammdienststelle abzustellen, das im Zuständigkeitsbereich des angerufenen Gerichts liegt.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der zulässige Antrag ist unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines Rechts des Antragstellers nur getroffen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung dieses Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis unter anderem dann zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Hierbei sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 und § 294 ZPO die tatsächlichen Voraussetzungen für das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Erstrebt der Antragsteller – wie hier – eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache, so ist ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache erforderlich.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Kopp/Schenke, VwGO, 28. Auflage 2022, § 123 Rn. 14.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Diese gesteigerten Anforderungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Für den nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beurteilenden Antrag fehlt es an einem Anordnungsanspruch, weil der über einen GdB von 50 verfügende Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung und unter Berücksichtigung eines nur summarischen Prüfungsmaßstabes keinen Anspruch auf einen weiteren Nachteilsausgleich hat. Rechtsgrundlage für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs sind § 10b Ausbildungs- und Prüfungsverordnung erstes Einstiegsamt Laufbahngruppe 2 allgemeiner Verwaltungsdienst Land – VAP2.1 – in Verbindung mit § 21 Studienordnung-Bachelor – StudO-BA –, die die Prüfungsbedingungen für Menschen mit Behinderungen regelt. Nach § 21 Satz 1 StudO-BA werden Menschen mit Behinderungen auf Antrag vom Prüfungsausschuss die ihrer Behinderung angemessenen Prüfungsbedingungen eingeräumt; die Prüfungsanforderungen bleiben davon unberührt. § 10b Satz 4 VAP2.1 präzisiert insoweit, als danach der Nachteilsausgleich nicht zu einer qualitativen Herabsetzung der Prüfungsanforderungen insgesamt führen darf.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Soweit sich der Antragsteller in seiner Replik auf einen Verstoß gegen § 10b Satz 3 VAP2.1 beruft, wonach Art und Umfang des Nachteilsausgleichs mit den (antragstellenden) Prüflingen zu erörtern sind, ist darauf hinzuweisen, dass hier der Antragsteller selbst mit seinem Antrag vom 3. August 2022 einen konkreten Katalog von Prüfungserleichterungen dem Antragsgegner zur Entscheidung vorgelegt hat. Insoweit war der Zweck einer Erörterung bereits erreicht. Zudem musste der Antragsgegner den Antrag in zeitlicher Nähe zur ersten bevorstehenden Klausur bescheiden, weil das zu Recht geforderte aktuelle Attest frühestens am 14. September 2022 dort vorgelegen hat. Ein etwaiger noch angenommener Verfahrensfehler wäre gemäß § 46 VwVfG NRW unbeachtlich, weil er die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst haben dürfte. Denn Entscheidungsspielräume gibt es weder auf der Tatbestandsseite der Rechtsgrundlage über die Gewährung eines Nachteilsausgleiches (Beurteilungsspielraum) – darauf weist die Replik zu Recht hin – noch auf der Rechtsfolgenseite (Ermessen).</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Mit der Unterscheidung von Prüfungsbedingungen und Prüfungsanforderungen in der Rechtsgrundlage wird auf die Grundkonstellation beim Nachteilsausgleich Bezug genommen. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche (Leistungs-)Fähigkeit des Prüflings durch die Prüfung festgestellt werden soll und ob diese (Leistungs-)Fähigkeit – und damit die Eignung für den angestrebten Beruf – durch das Dauerleiden berührt wird oder nicht. Ein Nachteilsausgleich kommt danach nicht bei Leiden und anderen Eigenschaften des Prüflings in Betracht, welche die abzuprüfende Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Behinderungen und Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die geistige Leistungsfähigkeit des Prüflings prägen, sind nicht ausgleichsfähig.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. Fischer/Jeremias/Diedrich, Prüfungsrecht, 8. Auflage 2022, Rn. 301d und Rn. 301c mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen in Fn. 537 und Fn. 541.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Handelt es sich dagegen um Behinderungen, die nicht die aktuell geprüften Befähigungen betreffen, sondern nur den Nachweis der vorhandenen Befähigung erschweren wie etwa Sehstörungen, Legasthenie oder Behinderungen beim Schreiben und die in der Prüfung sowie – und das ist das Entscheidende – auch in dem angestrebten Beruf ohne weiteres durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können, ist dies in der Prüfung in Form eines Nachteilsausgleichs angemessen zu berücksichtigen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. Fischer/Jeremias/Diedrich, a.a.O, Rn. 301g mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen in Fn. 537.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von dieser Differenzierung, der auch die Beteiligten folgen, hält die ablehnende Entscheidung der I.    NRW vom 16. September 2022 einer gerichtlichen Kontrolle stand. Dem Antragsteller können weder bei den anstehenden Wiederholungsprüfungen am 28. September 2022 (4.3 Grundlagen der Programmierung), am 30. September 2022 (5.2.2 Kosten- und Leistungsrechnung) und am 4. Oktober 2022 (6.3 IT-Beschaffung) die beantragte Schreibzeitverlängerung von jeweils einer Stunde noch die begehrten Erleichterungen bei den nächsten mündlichen Prüfungen ab Januar 2023, geprägt durch eine jeweils durchzuführende Einzelprüfung, bei der nur kurze, prägnante und direkte (statt offene) Fragestellungen zulässig sein sollen, wobei die mündlichen Prüfungsfragen eine angemessene Zeit vorher dem Antragsteller bekanntgegeben werden sollen, im Wege des Nachteilsausgleichs gewährt werden. Der Vortrag der Beteiligten – einschließlich Antragserwiderung und Replik – enthält insoweit Tatfragen, die der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegen.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">In dem Bewusstsein, dass eine scharfe Trennung nicht möglich erscheint, betrifft der Schwerpunkt der beim Antragsteller mit dem diagnostizierten Asperger-Syndrom verbundenen und in den vorgelegten ärztlichen Attesten aufgezeigten Defizite nach Auffassung der Kammer den mit der Eignung für den angestrebten Beruf verbundenen Bereich der (Leistungs-)Fähigkeit. Wenn in dem Attest der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin M1.        vom 6. Juni 2016 (zur Vorlage in der Schule) die Rede davon ist,</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">-          dass mit dem Asperger-Syndrom eine tiefgreifende Entwicklungsstörung verbunden sei, welches insbesondere erhebliche Schwächen in der Informationsverarbeitung umfasse und vor allem Einschränkungen in der verbalen Kommunikationsfähigkeit zur Folge habe,</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">-          beim Antragsteller eine signifikante Diskrepanz zwischen dem Sprachverständnis und der Wahrnehmungsorganisation vorliege,</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">-          die Kommunikation und Interaktion in Teilbereichen erschwert sei, was die Schwäche umfasse, zu Themen Stellung zu beziehen, Perspektivwechsel einzunehmen, seine Meinung zu äußern oder einen Diskurs über ein Thema zu führen, wobei sich offene Frageformen zusätzlich erschwerend auswirken könnten,</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">-          Schwierigkeiten in der Textverarbeitung (Deutsch und Fremdsprachen) dergestalt zu besorgen seien, dass der „Sinn zwischen den Zeilen“ nicht erfasst werde, jegliche Anforderungen, Inhalte oder Charaktere zu interpretieren oder zu deuten, zu einer Überforderungssituation führen könnten,</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">-          Verbindungen von Inhalten herzustellen und zu selektieren sowie aus der Fülle des erlernten Wissens und der Vorgaben zu sondieren, weitere Schwächen darstellten, wobei dies auch die Anforderung, den Unterricht aufmerksam zu verfolgen und zugleich mit- oder abzuschreiben beinhalte,</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">-          eine „Theory of Mind“ zu entwickeln und sich darüber auszutauschen und Gruppenarbeiten hohe Anforderungen stellten, die manchmal nicht zu bewältigen seien,</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">wird damit in erster Linie der intellektuelle Lernbereich angesprochen, der sich wiederum im individuellen geistigen Leistungsvermögen widerspiegelt. Es liegt auf der Hand, dass für das vom Antragsteller angestrebte erste Eingangsamt der Laufbahngruppe 2 (vormals gehobener Dienst) Fähigkeiten wie schnelles Erfassen auch komplexer Aufgabenstellungen, Kommunikation einschließlich der Fähigkeit, Entwicklungs- und Lösungsstrategien im Team zu entwickeln, Vornahme eines Perspektivwechsels, die Beherrschung eines knappen Zeitbudgets mit Blick auf die erforderliche Eignung essentiell sind.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Davon abgeschichtet stellt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin M1.        das Problem der Reizüberflutung dar, zu dessen Störungsbild das Erschwernis der Wahrnehmungsverarbeitung gehöre, d. h., dass unabhängig von der Intelligenz aufgrund schwach ausgeprägter Filterfunktionen die Schwierigkeit bestehe, dargebotene Reize adäquat zu verarbeiten. Dieser Aspekt wird später von der Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. med. C.     in ihrem Attest vom 14. September 2022 zur Vorlage bei der I.    NRW in den Mittelpunkt gestellt, was dazu geführt hat, dass der Antragsgegner mit gesondertem, hier nicht streitgegenständlichen Bescheid der I.    NRW vom 15. September 2022 dem Antragsteller bei der Anfertigung der anstehenden Klausuren die Nutzung eines separaten Raumes gewährt hat.</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Das aktuelle ärztliche Attest vom 14. September 2022 lässt dagegen offen, wie das Problem, spontane und offene Fragen in mündlichen Prüfungen zu beantworten (was zu gedanklichen Blockaden führe), und der Umstand, dass der Antragsteller länger dafür brauche, Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und gemeinsame Variable in Aufgabenstellungen zu finden, einzuordnen sind. Im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Attest aus 2016 spricht auch insoweit Überwiegendes für eine Korrelation mit den intellektuellen Fähigkeiten des Antragstellers, wobei – wie bereits ausgeführt – Defizite in diesem Bereich nicht ausgeglichen werden können.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Wenn der Antragsgegner in dem streitgegenständlichen Bescheid der I.    NRW vom 16. September 2022 im Ausgangspunkt darauf abstellt, dass zwischen dem Defizit, tatsächlich vorhandene Kenntnisse und Fähigkeiten darzustellen bzw. nachzuweisen, und einer Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit selbst zu differenzieren sei, so entspricht dies den oben aufgezeigten Anforderungen, die an die Gewährung eines Nachteilsausgleiches infolge einer Behinderung zu stellen sind. Seine rechtliche Einordnung, dass gerade die Denkleistung, in beschränkter Zeit eine Aufgabe zu lösen, Teil der geforderten Prüfungsleistung sei, ist ebenso nachvollziehbar wie der Hinweis darauf, dass die im Rahmen des Studiums an der I.    NRW anzufertigenden schriftlichen Arbeiten nicht nur die Frage beträfen, ob der Prüfling über die notwendigen Fachkenntnisse verfüge; vielmehr solle gerade auch überprüft werden, ob der Prüfling in der Lage sei, diese Kenntnisse anzuwenden und umzusetzen. Zu diesen Fertigkeiten zähle u. a. die Fähigkeit, einen Sachverhalt unter zeitlichem Druck aufzunehmen, zu verstehen und einer plausibel begründeten Lösung zuzuführen sowie hierbei unmittelbar und gedankenschnell auf bestimmte Situationen zu reagieren, dies vor allem auch bei mündlichen Prüfungen unter Beisein mehrerer Prüflinge. Prüfungsgegenstand der Klausuren sei daher auch die (gedanklich-intellektuelle) Bewältigung der jeweiligen Aufgabenstellung innerhalb eines kurz bemessenen Zeitrahmens unter Aufsicht. Im Einklang mit der von dem Antragsgegner in seinem Bescheid zitierten Rechtsprechung geht es im Falle des Antragstellers nicht darum, Defizite in der rein mechanischen Schreibleistung durch Gewährung von Schreibzeitverlängerungen auszugleichen, sondern Defizite in der geistigen Aufgabenerfassung und Entwicklung eines Lösungsvorschlags. Dabei handelt es sich jedoch um krankheitsbedingte Beeinträchtigungen beim Denken, die keinen Anspruch auf Schreibzeitverlängerung begründen können.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur den zitierten Beschluss des OVG NRW vom 10. Oktober 2014 – 14 E 680/14 –, juris, Rn. 8.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Entsprechendes gilt auch für die vom Antragsteller begehrten Erleichterungen bei mündlichen Prüfungen. Auch hier sind in erster Linie Beeinträchtigungen beim Denken zu besorgen, wobei gerade die erstrebte vorherige Bekanntgabe der mündlichen Prüfungsfragen deutlich zeigt, dass die im Lichte von Art. 3 in Verbindung mit Art. 12 GG gebotene Chancengleichheit für alle Prüflinge nicht mehr gewährleistet wäre.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Nachdem der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers jedenfalls bei summarischer Prüfung rechtsfehlerfrei abgelehnt hat, kann auch das Hilfsbegehren keinen Erfolg haben.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass die vom Antragsteller zitierte Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg,</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Beschluss vom 22. Februar 2021 – 9 S 556/21 –, juris,</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">sich mit der gestörten Reizverarbeitung bei der Asperger-Krankheit auseinandersetzt und zusätzlich darauf hinweist, dass die maßgeblichen Feststellungen nicht nach allgemeinen Krankheitsbildern, sondern stets individuell zu treffen und auf dieser Grundlage zu bewerten seien. Davon unberührt bleibt der Ausschluss eines Nachteilsausgleiches, wenn die krankheitsbedingte Beeinträchtigung des Prüflings nicht sein Darstellungsvermögen, sondern sein vom Prüfungszweck erfasstes Leistungsvermögen selbst betrifft.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">So OVG NRW, Beschluss vom 31. Mai 2021 – 19 B 943/21 –, juris, Rn. 5; VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 5.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 52 Abs. 2 GKG. Für jeden Streitgegenstand, d. h. für die Schreibzeitverlängerungen insgesamt und für die Erleichterungen bei mündlichen Prüfungen, setzt die Kammer jeweils den gesetzlichen Auffangwert an, wobei eine Reduzierung wegen der erstrebten Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht kommt. Dem Hilfsbegehren wird streitwertmäßig keine eigene Relevanz beigemessen.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">(1)       Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">(2)       Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
346,947
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12 V 26/22 AO
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-10-15T10:01:32"
"2022-10-17T11:11:09"
Beschluss
ECLI:DE:FGMS:2022:0921.12V26.22AO.00
<h2>Tenor</h2> <p>Die Vollziehung der Abrechnungsbescheide über Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2017 und zur Körperschaftsteuer 2018, jeweils vom 30.11.2021, wird rückwirkend ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung oder einer anderweitigen Erledigung des Einspruchsverfahrens in voller Höhe aufgehoben.</p> <p>Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.</p> <p>Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin zu 60 % und der Antragsgegner zu 40 %.</p> <p>Die Beschwerde wird zugelassen.</p><br style="clear:both"> <h1>Gründe:</h1> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I.</p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Zu entscheiden ist, ob die Vollziehung der Abrechnungsbescheide über die Entstehung von Säumniszuschlägen zur Körperschaftsteuer 2017 und 2018 sowie zur Umsatzsteuer 2014 in voller Höhe aufzuheben ist.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">In der Sache streiten die Beteiligten über die Verfassungsmäßigkeit und die Unionsrechtswidrigkeit der Höhe der in den vorliegenden Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist eine Unternehmergesellschaft (UG) (haftungsbeschränkt) mit Sitz in S. Am 18.08.2021 beantragte sie die Erteilung eines Abrechnungsbescheides für alle ab dem 01.01.2010 verwirkten Säumniszuschläge.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daraufhin erließ der Antragsgegner am 30.11.2021 nach § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) jeweils gesonderte Abrechnungsbescheide, in denen er feststellte, dass entstandene Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2017 in Höhe von X €, zur Körperschaftsteuer 2018 in Höhe von X € und zur Umsatzsteuer 2014 in Höhe von X € vollständig gezahlt worden seien. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, die in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge seien zu erheben. Die Vorschrift des § 240 AO sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere seien die zu den Verzinsungsvorschriften der AO entwickelten Grundsätze auf diese Vorschrift nicht übertragbar. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Abrechnungsbescheide vom 30.11.2021 Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Berechnung der Höhe der den Säumniszuschlägen zugrunde liegenden Steuerfestsetzungen und der Säumniszuschläge selbst ist zwischen den Beteiligten unstreitig.</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2017 und 2018 waren ausweislich des vom Antragsgegner dem Gericht vorgelegten Erhebungskontos für die Zeit vom 22.08.2019 bis 22.11.2019 (Körperschaftsteuer 2017) bzw. für die Zeit vom 26.11.2020 bis zum 26.02.2021 (Körperschaftsteuer 2018) und die Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014 für die Zeit vom 27.07.2016 bis zum 27.09.2016 entstanden.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Gegen die Abrechnungsbescheide legte die Antragstellerin am 03.12.2021 Einspruch ein und beantragte zugleich die Aufhebung der Vollziehung der Abrechnungsbescheide.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit Verfügung vom 23.12.2021 lehnte der Antragsgegner die Aufhebung der Vollziehung der angefochtenen Abrechnungsbescheide ab und teilte zugleich mit, der gegen die Abrechnungsbescheide erhobene Einspruch ruhe gemäß § 365 Abs. 2 Satz 2 AO wegen des beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängigen Verfahrens zu dem Aktenzeichen (Az.) VII R 55/20.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit ihrem daraufhin am 04.01.2022 bei Gericht gestellten Antrag auf Aufhebung der Vollziehung macht die Antragstellerin geltend, die Vollziehung der in den Abrechnungsbescheiden zur Körperschaftsteuer 2017 und 2018 sowie zur Umsatzsteuer 2014 ausgewiesenen Säumniszuschlägen sei nach den Beschlüssen des BFH vom 26.05.2021 (Az. VII B 13/21), vom 10.06.2021 (Az. VII B 54/21) und vom 31.08.2021 (Az. VII B 69/21) sowie vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 08.07.2021 (Az. 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) in voller Höhe aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Höhe der Zinsen nach § 233a AO in den Zeiträumen ab 2014 sei verfassungswidrig. Mit Blick auf die Entscheidung des BVerfG vom 08.07.2021 (Az. 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) zur Fortgeltung der Regelung des § 233a AO bis zum 31.12.2018 sei zudem bisher nicht hinreichend geklärt, ob eine Aussetzung der Vollziehung von Säumniszuschlägen aus europarechtlichen Gründen geboten sei. Konkret beruft sich die Antragstellerin auf die zum unionsrechtlichen Primärrecht gehörenden Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität, auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit sowie auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer. Zur weiteren Begründung verweist die Antragstellerin auf mehrere Entscheidungen des BFH und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Schreibens der Antragstellerin vom 14.02.2022 verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus vertritt die Antragstellerin die Auffassung, für das Verfahren wegen des Abrechnungsbescheides über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014 sei die Bezirkszuständigkeit des erkennenden Senats nicht gegeben. Zuständig nach dem Geschäftsverteilungsplan des Finanzgerichts Münster sei vielmehr der 5. Senat als Spezialsenat für das Gebiet der Umsatzsteuer.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Vollziehung der Abrechnungsbescheide über Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2017 und 2018 sowie zur Umsatzsteuer 2014, jeweils vom 30.11.2021, rückwirkend ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung oder einer anderweitigen Beendigung des Einspruchsverfahrens in voller Höhe aufzuheben.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner beantragt,</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">              den Antrag abzulehnen.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Er ist der Auffassung, dass der Regelungsgehalt des § 240 AO weder gegen nationales Recht noch gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Wegen der Einzelheiten zum Vortrag des Antragsgegners wird auf seine Schreiben vom 10.05.2022 und vom 18.07.2022 verwiesen.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie die Verfahrensakte Bezug genommen.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">II.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist im tenorierten Umfang begründet. Im Übrigen ist er unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">1. Der Senat ist – auch soweit Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer betroffen sind – der zuständige gesetzliche Richter in dieser Sache.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Für die hier unter anderem streitige Rechtsfrage der Höhe der Säumniszuschläge (§ 240 AO) zur Umsatzsteuer ist nicht der 5. Senat nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichtes zur Entscheidung berufen.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach Teil B. I. Ziff. 1 und 2 des Geschäftsverteilungsplans fallen in die Bezirkszuständigkeit eines Senats alle Klagen, die einen ihm zugeordneten Finanzamtsbezirk betreffen, sofern keine Spezialzuständigkeit eingreift (Bezirkssenat). Die Bezirkszuständigkeit umfasst insbesondere auch Verfahren aus dem Bereich des allgemeinen Abgabenrechts sowie der Vollstreckung (Sechster Teil der AO und §§ 151 ff. der Finanzgerichtsordnung -FGO-), sofern keine Spezialzuständigkeit (Teil B. II. des Geschäftsverteilungsplans) eingreift. Die Regelungen zu Teil B. gelten entsprechend für Verfahren, die keine Klagen sind, insbesondere für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Teil B. IV. Ziff. 6 Buchst. a) des Geschäftsverteilungsplans). Nach Teil A. I. ist der 12. Senat unter anderem zuständig für den Bezirk des Festsetzungsfinanzamts R soweit – wie hier – das Verfahren nach dem 31.12.2018 beim Gericht eingegangen ist.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">In die Spezialzuständigkeit eines Senats fallen alle Klagen, die ein ihm nach Maßgabe von Teil A. des Geschäftsverteilungsplans als Spezialzuständigkeit zugeordnetes Arbeitsgebiet betreffen (Spezialsenat). Die Spezialzuständigkeit greift vorbehaltlich abweichender Regelungen in Teil A. des Geschäftsverteilungsplans auch ein, wenn ein Sachzusammenhang zum Arbeitsgebiet einer Spezialzuständigkeit besteht und es sich dabei insbesondere um steuerliche Nebenleistungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AO handelt (Teil B. II. Ziff. 2 des Geschäftsverteilungsplans). Zwar sind Säumniszuschläge steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 Nr. 5 AO). Ein Sachzusammenhang mit einem weiteren Klagegegenstand, der in die Spezialzuständigkeit des 5. Senats fällt, besteht allerdings nicht, da es im vorliegenden Verfahren allein um die Unionsrechtswidrigkeit und die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge geht. Die Höhe der den Säumniszuschlägen zugrunde liegenden Steuerfestsetzungen ist – auch bezüglich der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer – zwischen den Beteiligten nach Aktenlage unstreitig. Die von der Antragstellerin angeführten zum unionsrechtlichen Primärrecht gehörenden Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit sind allgemeine unionsrechtliche Grundsätze, die keine Spezialfragen des Umsatzsteuerrechts betreffen. Der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer greift vorliegend nicht, da nicht die Höhe der festgesetzten Umsatzsteuer oder die zu erstattende Vorsteuer, sondern allein die Höhe der entstandenen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014 Gegenstand des Verfahrens ist.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">2. Der Antrag ist nur teilweise begründet.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abrechnungsbescheide vom 30.11.2021, soweit mit ihnen die Entstehung von Säumniszuschlägen zur Körperschaftsteuer 2017 in Höhe von X € und zur Körperschaftsteuer 2018 in Höhe von X € festgestellt worden ist. An der Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheides vom 30.11.2021 über die Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014 in Höhe von X € hat der Senat keine ernstlichen Zweifel.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">a) Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO soll das Gericht der Hauptsache auf Antrag die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, tritt an die Stelle der Aussetzung der Vollziehung die Aufhebung der Vollziehung (§ 69 Abs. 2 Satz 7 FGO).</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn bei der Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken. Bei der notwendigen Abwägung im Einzelfall sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Für eine Aussetzung der Vollziehung ist jedoch nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts sprechenden Gründe überwiegen. Vielmehr genügt es, dass der Erfolg des Rechtsbehelfs ebenso wenig auszuschließen ist wie sein Misserfolg (BFH-Beschluss vom 23.08.2007 – VI B 42/07, Bundessteuerblatt -BStBl- II 2007, 799). Dagegen begründet eine vage Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs noch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts (BFH-Beschluss vom 11.06.1968 – VI B 94/67, BStBl II 1968, 657). Ist die Rechtslage nicht eindeutig, ist im Regelfall die Vollziehung auszusetzen. Das gilt auch dann, wenn ernstliche Zweifel daran bestehen, ob die maßgebliche gesetzliche Regelung verfassungsgemäß ist. An die Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit sind keine strengeren Anforderungen zu stellen als beim Einwand fehlerhafter Rechtsanwendung (BFH-Beschlüsse vom 19.02.2010 – II B 122/09, BFH/NV 2010, 1144 und vom 04.07.2019 – VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060).</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Prüfung, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts vorliegen, erfolgt im Rahmen einer lediglich summarischen Prüfung. Dabei beschränkt sich der Prozessstoff wegen der Eilbedürftigkeit des Verfahrens auf die dem Gericht vorliegenden Unterlagen, insbesondere auf die Akten der Finanzbehörde und andere präsente Beweismittel. Weitere Maßnahmen zur Ermittlung des Sachverhalts muss das Gericht nicht ergreifen (BFH-Beschluss vom 14.02.1989 – IV B 33/88, BStBl II 1989, 516).</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">b) Nach Maßgabe dieser Grundsätze war die begehrte Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung nur in dem aus dem Tenor ersichtlich Umfang für die ab 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge zu gewähren.</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">aa) Bei den angefochtenen Abrechnungsbescheiden vom 30.11.2021 handelt es sich, da darin nach Aktenlage erstmalig Säumniszuschläge ausgewiesen werden, um vollziehbare Verwaltungsakte im Sinne von § 69 FGO (vgl. BFH-Urteil vom 15.06.1999 – VII R 3/97, BStBl 2000, 46; BFH-Beschlüsse vom 08.11.2004 – VII B 137/04, BFH/NV 2005, 492 und vom 06.07.2015 – III B 168/14, BFH/NV 2015, 1344).</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">bb) Nach der im vorläufigen Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat der Senat ernstliche Zweifel (§ 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO) der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2017 und zur Körperschaftsteuer 2018, weil diese im Streitfall in 2019 (Körperschaftsteuer 2017) bzw. in 2020 und 2021 (Körperschaftsteuer 2018) und damit nach dem 31.12.2018 entstanden sind.</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">(1) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf eines Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO).</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Säumniszuschläge sind ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung der festgesetzten und kraft Gesetzes sofort zu leistenden Steuerschuld anhalten soll, so dass sie insoweit eine Art Zwangsmittel darstellen (BFH-Urteil vom 26.01.1988 – VIII R 151/84, BFH/NV 1988, 695). Darüber hinaus verfolgt § 240 AO den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten. Durch Säumniszuschläge werden schließlich auch die Verwaltungsaufwendungen abgegolten, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß zahlen (BFH-Urteil vom 30.03.2006 – V R 2/04, BStBl II 2006, 612; BFH-Beschluss vom 02.03.2017 – II B 33/16, BStBl II 2017, 646; Beschlüsse des Finanzgerichts (FG) Münster vom 16.12.2021 – 12 V 2684/21, juris; vom 14.02.2022 – 8 V 2789/21, juris und vom 16.05.2022 – 5 V 507/22, juris).</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">(2) Das BVerfG hat mit Beschluss vom 08.07.2021 in den Verfahren 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 (Entscheidungen des BVerfG -BVerfGE- 158, 282) entschieden, dass die Regelung des § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstößt und daher verfassungswidrig ist, soweit sie auf Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 zur Anwendung gelangt. Zugleich hat es entschieden, dass eine Fortgeltung der genannten Regelung für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 geboten ist, dass es aber für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 bei der Unanwendbarkeit als Regelfolge des Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG bleibt.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Im Weiteren hat das BVerfG in dem vorgenannten Beschluss vom 08.07.2021 (Az. 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) darauf hingewiesen, dass andere Verzinsungstatbestände nach der AO einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung bedürfen. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass Steuerpflichtige im Bereich der Teilverzinsungstatbestände – anders als bei der Vollverzinsung – grundsätzlich die Wahl hätten, ob sie den Zinstatbestand verwirklichen und den in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten Zinssatz hinnehmen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">(3) Der BFH hat – vor Ergehen der Entscheidung des BVerfG – wiederholt entschieden, dass gegen die Höhe der in § 233a AO und in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Zinssätze ab dem Jahr 2012 erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, die eine Aussetzung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO geboten erscheinen lassen (BFH-Beschlüsse vom 26.05.2021 – VII B 13/21, BFH/NV 2022, 209; vom 25.04.2018 – IX B 21/18, BStBl II 2018, 415; vom 11.02.2020 – VIII B 131/19, BFH/NV 2020, 507; vom 04.07.2019 – VIII B 128718,BFH/NV 2019, 1060 und vom 03.09.2018 – VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279). Der BFH hat weiter festgestellt, dass unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestehen (BFH-Beschlüsse vom 26.05.2021 – VII B 13/21, BFH/NV 2022, 209 und vom 14.04.2020 – VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177; BFH-Urteil vom 30.06.2020 – VII R 63/18, BStBl II 2021, 191). Dies gilt jedenfalls insoweit, als Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion (BFH-Beschlüsse vom 26.05.2021 – VII B 13/21, BFH/NV 2022, 209 und vom 21.10.2020 – VII B 121/19, BFH/NV 2021, 326; zur Einordnung von Säumniszuschlägen als Druckmittel mit Zinscharakter: BFH-Urteile vom 29.08.1991 – V R 78/86, BStBl II 1991, 906 und vom 25.02.1997 – VII R 15/96, BStBl II 1998, 2). Ob und inwieweit der weitere Zweck, den Verwaltungsaufwand auszugleichen, hier ebenfalls zu berücksichtigen ist, ist bislang nicht entschieden (BFH-Beschluss vom 26.05.2021 – VII B 13/21, BFH/NV 2022, 209).</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">(4) Nach Ergehen des Beschlusses des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Höhe von Zinsen im Sinne des § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO verbleibt es demnach bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO für Zeiträume ab dem 01.01.2019.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">(5) Da der Wortlaut der Vorschrift des § 240 Abs. 1 AO sich nicht dazu verhält, mit welchem Anteil genau dem Säumniszuschlag eine Zinsfunktion zukommt (FG Münster, Beschluss vom 30.05.2022 – 15 V 408/22, juris), ist fraglich und wird in der Literatur unter anderem diskutiert, ob die Vorschrift etwa Raum für eine „zeitliche Zweckabstufung“ des Säumniszuschlags zulässt: Nach dieser Idee soll in „Normalzeiten“ allein die „Druckmittelfunktion“ als „Primärzweck“ des Säumniszuschlags zum Tragen kommen, erst in Zeiten einer Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerpflichtigen hingegen auch daneben die „Zinsfunktion“ als „sekundärer Zweck“ (Steck, DStZ 2019, 143, 150). Für die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Säumniszuschlags – insbesondere unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit – dürfte danach auch die Frage eine Rolle spielen, ob der in der Literatur und Rechtsprechung überwiegend angenommene hälftige Zinsanteil als sogenannter „latenter“ Zinsanteil herabgesetzt und in Richtung Druckmittel „verschoben“ werden kann mit der Folge, dass sich die Druckmittelfunktion erhöht, oder ob der ursprüngliche Wille des Gesetzgebers einer solchen Verschiebung entgegensteht. Zudem erscheint es möglich, dass die einheitliche Regelung zur unteilbar gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge als nur insgesamt verfassungsgemäß oder verfassungswidrig anzusehen ist.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Für eine Aufhebung der Vollziehung der vorliegenden Abrechnungsbescheide über die Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2017 und zur Körperschaftsteuer 2018 genügen nach Auffassung des Senats bereits die bestehenden und vom BFH aufgezeigten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm (ab dem 01.01.2019) und die hieraus folgende unklare Rechtslage sowie die oben aufgeworfenen offenen Rechtsfragen.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">cc) Demgegenüber bestehen nach summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungs- und Unionsrechtmäßigkeit der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014 in Höhe von X €, da sie vor dem 01.01.2019 entstanden sind. Der Antrag ist insoweit unbegründet.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">(1) Wie bereits dargestellt, hat das BVerfG entschieden, dass eine Fortgeltung von § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 geboten ist. Eine Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Abrechnungsbescheides über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014, die nach dem vorliegenden Ausdruck aus dem Erhebungskonto im Jahr 2016 entstanden sind, kommt daher nicht in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">(2) Soweit die Antragstellerin rügt, die Abrechnungsbescheide seien aus europarechtlichen Gründen rechtswidrig, folgt der erkennende Senat der Argumentation der Antragstellerin nicht.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">(a) Ein Verstoß gegen das mehrwertsteuerrechtliche Neutralitätsprinzip liegt nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem hat grundsätzlich die völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten zu gewährleisten, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen. Aus diesem Grund muss der Unternehmer durch den Vorsteuerabzugsmechanismus vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden, wenn diese der Mehrwertsteuer unterliegt.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip ist vorliegend nicht ersichtlich. Nach der Rechtsprechung des BFH gilt der Grundsatz der Belastungsneutralität für die Umsatzsteuer, nicht aber für steuerliche Nebenleistungen wie beispielsweise Zinsen. Denn Zinsen zur Umsatzsteuer haben keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter im Sinne von Art. 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (BFH-Urteil vom 28.11.2002 – V R 54/00, BStBl II 2003, 175) bzw. im Sinne von Art. 401 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (BFH-Beschluss vom 11.05.2020 – V B 76/18, BFH/NV 2020, 1047). Dasselbe gilt für Säumniszuschläge als steuerliche Nebenleistungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AO (BFH-Beschluss vom 23.05.2022 – V B 4/22, juris).</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">(b) Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit liegt ebenfalls nicht vor.</p> <span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Zu Sanktionen wegen Nichtbeachtung von Steuervorschriften ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich die Sanktionen wählen können, die ihnen sachgerecht erscheinen (EuGH-Urteil Farkas, EU:C:2017:302). Derartige Sanktionen dürfen allerdings nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind unter anderem die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe dieser Sanktion zu berücksichtigen (EuGH-Urteil Farkas, EU:C:2017:302).</p> <span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">(aa) Einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat der EuGH bejaht, wenn die nationalen Steuerbehörden gegen einen Steuerpflichtigen, der einen Gegenstand erworben hat, dessen Lieferung dem Reverse-Charge-Verfahren unterliegt, eine Geldbuße in Höhe von 50 % des von ihm an die Steuerverwaltung zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrags verhängen, sofern der Steuerverwaltung keine Steuereinnahmen entgangen sind und keine Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung vorliegen (EuGH-Urteil Farkas, EU:C:2017:302). Ebenso hat der EuGH im Urteil Grupa Warzywna eine Sanktion von 20 % des Betrags, um den der Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses zu hoch angesetzt wurde, als unverhältnismäßig beurteilt, weil die Steuerbehörden aufgrund der Modalitäten der Festsetzung die Höhe der Sanktion nicht den konkreten Umständen des Einzelfalls anpassen konnten (EuGH-Urteil Grupa Warzywna, EU:C:2021:287). Diesen Gesichtspunkt der antragsgemäßen Herabsetzung oder des Erlasses der Sanktion bei Vorliegen besonderer Umstände hat der EuGH auch im Urteil Farkas unter Hinweis auf die Ausführungen des Generalanwalts Bobek in Rz 63 seiner Schlussanträge vom 10.11.2016 (EU:C:2016:864) als maßgebend dafür erachtet, dass eine Sanktion nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden (EuGH-Urteil Farkas, EU:C:2017:302).</p> <span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">(bb) Danach verstößt die Regelung des § 240 AO jedenfalls im Kontext mit § 227 AO nicht gegen das unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip (BFH-Beschluss vom 23.05.2022 – V B 4/22, juris).</p> <span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Eine Sanktion von 1 % je Monat des fälligen Steuerbetrags (Säumniszuschlag) ist geeignet, die Steuerpflichtigen zur möglichst raschen Begleichung von Steuerrückständen zu veranlassen und somit das Ziel zu erreichen, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen. Diese Sanktion geht auch nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinaus. Zwar werden Säumniszuschläge automatisch bei Nichtzahlung der fälligen Steuerschuld verwirkt, deren Einziehung kann aber "nach Lage des einzelnen Falls" aus sachlichen oder persönlichen Gründen unbillig sein, sodass ein Erlass in Betracht kommt (§ 227 AO). Persönliche Billigkeitsgründe liegen beispielsweise vor bei einer unverschuldeten finanziellen Notlage (BFH-Urteil vom 27.09.2001 – X R 134/98, BStBl II 2002, 176). Sachliche Billigkeitsgründe liegen vor, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers die Einziehung der Säumniszuschläge den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO Rz 40 ff.). Dabei kann es bei Vorliegen zusätzlicher persönlicher oder sachlicher Billigkeitsgründe gerechtfertigt sein, die gesamten Säumniszuschläge zu erlassen (BFH-Urteil vom 30.03.2006 – V R 2/04, BStBl II 2006, 612). Dieses zweistufige Verfahren berücksichtigt die Art und Schwere eines Verstoßes hinreichend und ist daher auch unionsrechtskonform (BFH-Beschluss vom 23.05.2022 – V B 4/22, juris).</p> <span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">(c) Die im Abrechnungsbescheid aufgeführten und vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014 in Höhe von X € verstoßen schließlich nicht gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Effektivität und Äquivalenz.</p> <span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(aa) Der Grundsatz der Effektivität verbietet den Mitgliedstaaten Verfahrensregelungen, welche die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH-Urteil vom 19.07.2012            C-591/10, Littlewoods Retail u.a., UR 2012, 1018).</p> <span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Es ist weder dargelegt noch für den Senat ersichtlich, dass die Verwirkung von Säumniszuschlägen in Höhe von X € auf der Grundlage des § 240 AO die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßigt erschwert (Effektivitätsgrundsatz).</p> <span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">(bb) Nach dem Äquivalenzgrundsatz dürfen die verfahrensrechtlichen Modalitäten nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen nationalen Sachverhalten gelten (EuGH-Urteil SC Cridar Cons, EU:C:2022:114; BFH-Urteile vom 26.08.2021 – V R 13/20, BFHE 273, 364 sowie vom 28.08.2014 – V R 8/14, BStBl II 2015, 3). Diese verfahrensrechtliche Ausprägung der Nichtdiskriminierung wird offensichtlich nicht verletzt, da Säumniszuschläge in gleicher Höhe und ohne Rücksicht darauf anfallen, ob die fällige Steuerschuld auf nationalem Recht oder auf Unionsrecht beruht.</p> <span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Aus diesen Gründen hatte der Antrag der Antragstellerin in Bezug auf die Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2014 keinen Erfolg.</p> <span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.</p> <span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">4. Die Beschwerde wird gemäß § 128 Abs. 3 FGO in Verbindung mit § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Fortbildung des Rechts und Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.</p>
346,911
vghbw-2022-09-21-6-s-131021
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6 S 1310/21
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:50"
"2022-10-17T11:11:03"
Beschluss
<h2>Tenor</h2> <p>Der Verwaltungsrechtsweg ist unzulässig.</p><p>Der Rechtsstreit wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe verwiesen.</p><p>Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.</p><p>Die Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht wird zugelassen.</p> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>1. Nach erfolgter Anhörung der Beteiligten stellt der Senat gemäß § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG von Amts wegen die Unzulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs fest und verweist den Rechtsstreit an das nach § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG zuständige Oberlandesgericht Karlsruhe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>a) Der Kläger begehrt die Beiordnung eines Notanwalts nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 78b Abs. 1 ZPO für eine noch zu erhebende Klage gegen das Land Baden-Württemberg auf Entschädigung wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß §§ 198 ff. GVG. Hierfür ist der Verwaltungsrechtsweg im vorliegenden Fall nicht eröffnet. Denn das Gerichtsverfahren, in dessen Rahmen der Kläger die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft Mannheim und der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe begehrte, ihm diverse an ihn gerichtete Schriftstücke „in einer rechtswirksamen Form zu übermitteln“, und dessen Dauer er als unangemessen beanstandet, war zwar ursprünglich beim Verwaltungsgericht Karlsruhe (1 K 10232/17) anhängig. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Ausgangsverfahren jedoch den Verwaltungsrechtsweg mit rechtkräftigem Beschluss vom 29.05.2020 für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Oberlandesgericht Karlsruhe verwiesen (vgl. insoweit auch den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 15.04.2021 - 4 S 1467/21 -, mit dem der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch zu erhebende Beschwerde gegen den Verweisungsbeschluss abgelehnt wurde). Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat das Verfahren unter dem Aktenzeichen 2 VAs 49/20 fortgeführt und die als „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ ausgelegten Anträge des Klägers schließlich zurückgewiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Bei dem vom Kläger nunmehr geltend gemachten Entschädigungsanspruch handelt es sich um einen einheitlichen, gegen das Land Baden-Württemberg gerichteten Anspruch, der sich nicht in selbständige Ansprüche hinsichtlich der verschiedenen Verfahrensabschnitte aufteilen lässt. Denn er bezieht sich seinerseits auf ein einheitliches Ausgangsverfahren (Gerichtsverfahren im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 6 Nr. 1 GVG), dessen Überlänge im Entschädigungsverfahren gerügt wird. Gerichtsverfahren in diesem Sinne ist das gesamte gerichtliche Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss, auch wenn dieses über mehrere Instanzen oder bei verschiedenen Gerichten geführt worden ist. Dies gilt auch dann, wenn es sich um Gerichte verschiedener Gerichtsbarkeiten handelte, da die Verweisung des Rechtsstreits an das Gericht des zulässigen Rechtswegs nicht zu einer Aufspaltung eines Verfahrens führt, sondern das Verfahren lediglich formell dem richtigen Rechtsweg zuordnet, während die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen bleiben (§ 17b Abs. 1 Satz 2 GVG). Dem vor dem Verwaltungsgericht begonnenen und vor dem Oberlandesgericht fortgeführten Verfahren lag ein einheitlicher Lebenssachverhalt zugrunde; es stellt sich damit als einheitliches Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 6 Nr. 1 GVG dar, das lediglich aufgrund des zunächst unzulässig beschrittenen Verwaltungsrechtswegs bei mehreren Gerichten anhängig war. Auch das Entschädigungsverfahren kann daher nur einheitlich geführt werden, da die Angemessenheit der Verfahrensdauer für das gesamte Verfahren als Einheit zu bewerten ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Wird ein Ausgangsverfahren – wie hier – von einem Verwaltungsgericht bindend in die ordentliche Gerichtsbarkeit verwiesen und im dortigen Instanzenzug beendet, ist für einen Entschädigungsrechtsstreit wegen überlanger Verfahrensdauer die Rechtswegzuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit für das gesamte Gerichtsverfahren eröffnet (zum Ganzen: BVerwG, Beschluss vom 08.12.2021 - 5 B 1.21 -, NVwZ 2022, 412 <juris Rn. 15 ff.>; zu einer vergleichbaren Konstellation bei einer Verweisung durch die Sozialgerichtsbarkeit vgl. LSG LSA, Beschluss vom 06.08.2020 - L 10 SF 33/18 EK -, juris Rn. 5 und OLG Frankfurt, Urteil vom 08.05.2013 - 4 EntV 18/12 -, juris Rn. 50 ff.). Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger vor allem eine Verzögerung während der Anhängigkeit des Ausgangsverfahrens beim Verwaltungsgericht geltend macht (vgl. LSG LSA, a.a.O. Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>b) Der Verweisung des vorliegenden Verfahrens steht nicht entgegen, dass es sich um einen isolierten Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts handelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>In der Rechtsprechung ist, soweit ersichtlich, bisher nicht geklärt, ob § 17a GVG auf einen isolierten Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts nach § 78b ZPO (hier in Verbindung mit § 173 Satz 1 VwGO) Anwendung findet und das Gericht, das den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig hält, ein solches Verfahren an ein Gericht des anderen Rechtswegs verweisen kann bzw. muss.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Für die vergleichbare Verfahrenskonstellation des isolierten Prozesskostenhilfeantrags ist dies in Rechtsprechung und Literatur sehr umstritten. Der beschließende Verwaltungsgerichtshof hat – wie mehrere andere Obergerichte – eine Anwendbarkeit des § 17a GVG in isolierten Prozesskostenhilfeverfahren in der Vergangenheit mit der Begründung abgelehnt, für die Anwendbarkeit fehle ein unabweisbares Bedürfnis, da der Verweisung des Prozesskostenhilfeverfahrens für die noch zu erhebende Klage keine Bindungswirkung zukomme und die Gefahr eines negativen Kompetenzkonflikts vernachlässigt werden könne (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 04.04.1995 - 9 S 701/95 -, NJW 1995, 1915 <juris Rn. 3>; vgl. im Ergebnis ebenso: OVG LSA, Beschluss vom 19.08.2020 - 3 O 141/20 -, LKV 2021, 40 <juris Rn. 2 f.>; BayVGH, Beschluss vom 29.09.2014 - 10 C 12.1609 -, juris Rn. 28; NdsOVG, Beschluss vom 07.02.2000 - 11 O 281/00 -, juris Rn. 5; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14.08.2007 – 19 W 16/07 -, MDR 2007, 1390 <juris Rn. 15 ff.; zur Verweisung bei sachlicher bzw. örtlicher Unzuständigkeit: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.02.2003 - 12 S 389/03 -, n.v; Beschluss vom 15.11.2004 - 12 S 2360/04 -, VBlBW 2005, 195 <juris Rn. 3>). Hiergegen kann jedoch eingewendet werden, dass auch die aus der mangelnden Bindungswirkung für das Hauptsacheverfahren folgenden Nachteile vernachlässigt werden können, während es mit Blick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes bedenklich erscheint, wenn das angerufene Gericht den rechtswegfremden Prozesskostenhilfeantrag wegen fehlender Erfolgsaussicht zurückweisen müsste und der Beteiligte gehalten wäre, einen neuen Antrag im zuständigen Rechtsweg zu stellen, der dann gegebenenfalls nicht mehr die Einhaltung von Klage- oder Verjährungsfristen (hier etwa die Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG) ermöglicht und mangels Bindungswirkung nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG nicht ausschließt, dass das dann angerufene Gericht wiederum seine Rechtswegzuständigkeit verneint. So hat jüngst auch der Bundesgerichtshof nach eingehender Auseinandersetzung mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung und Literatur festgestellt, dass ein isoliertes Prozesskostenhilfeverfahren entsprechend § 17a Abs. 2 GVG an das Gericht des zulässigen Rechtswegs zu verweisen ist (BGH, Beschluss vom 21.10.2020 - XII ZB 276/20 -, MDR 2021, 51 <juris Rn. 19 ff.>; so auch bereits: OVG NRW, Beschluss vom 20.08.2020 - 4 D 137/20, 4 B 1169/20 -, NWVBl 2021, 42 <juris Rn. 2 ff.>; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 30.12.2009 - 3 O 133/09 -, juris Rn. 8; SächsOVG, Beschluss vom 27.04.2009 - 2 D 7/09 -, SächsVBl 2010, 99 <juris Rn. 5 ff.>; HambOLG, Beschluss vom 14.07.2015 - 9 W 29/15 -, juris Rn. 15 ff.; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 17 GVG Rn. 12; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, Juli 2020, § 166 Rn. 64). Er hat neben dem vorstehenden Einwand ausgeführt, der Begriff „Rechtsstreit“ meine in § 17a Abs. 2 GVG nicht nur das kontradiktorische Erkenntnisverfahren, sondern könne weitere, dem Erkenntnisverfahren vor-, nach- oder nebengelagerte Verfahren erfassen. Dies folge bereits aus dem Wortlaut, der in § 17a Abs. 2 Satz 2 GVG neben dem „Kläger“ auch den „Antragsteller“ aufführe, und entspreche dem Ziel der Regelung, Gerichtsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, indem ohne langwierige Zuständigkeitsstreitigkeiten Klarheit über den zulässigen Rechtsweg erlangt werden könne. Dementsprechend sei anerkannt, dass etwa auch in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 15.11.2000 - 3 B 10.00 -, ZOV 2002, 236 <juris Rn. 4> m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.07.2020 - 2 S 623/20 -, ESVGH 71, 1 <juris Rn. 26>) oder in Zwangsvollstreckungsverfahren eine Rechtswegverweisung entsprechend § 17a GVG in Betracht komme, obwohl es sich dabei jeweils nicht um „Rechtsstreite“ im technischen Sinne handele. Zweck der in § 17a GVG vorgesehenen Rechtswegverweisung sei es überdies, die Sachentscheidung derjenigen Gerichtsbarkeit zuzuweisen, die angesichts ihrer Spezialisierung über eine entsprechende Erfahrung und Kompetenz verfüge. Dieses Interesse bestehe auch bereits in Prozesskostenhilfeverfahren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Der hier zur Entscheidung berufene Senat hält die Ausführungen des Bundesgerichtshofs für überzeugend und schließt sich ihnen an. Sie sind auf die hier vorliegende Verfahrenskonstellation des isolierten Antrags auf Beiordnung eines Notanwalts übertragbar. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass das Gesetz für die Beiordnung eines Notanwalts im Sinne von § 78b Abs. 1 ZPO mit dem Begriff der „Aussichtslosigkeit“ einen – aus Sicht des jeweiligen Antragstellers – weniger strengen Maßstab aufstellt als im Rahmen der Gewährung von Prozesskostenhilfe mit dem Erfordernis der „hinreichenden Aussicht auf Erfolg“ (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) verlangt wird (BVerwG, Beschluss vom 28.03.2017 - 2 B 4.17 -, NVwZ 2017, 1550 <juris Rn. 11> m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.04.2021 - 6 S 2876/20 -, juris Rn. 3). Eine gewisse sachliche Prüfung der beabsichtigten Rechtsverfolgung hat das Gericht jedoch auch in diesem Zusammenhang vorzunehmen. Wie bei der Prozesskostenhilfe entspricht es dem Sinn und Zweck des § 17a GVG, dass auch diese Prüfung durch das sachnähere Gericht des zulässigen Rechtswegs vorgenommen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>2. Gemäß § 17b Abs. 2 GVG bleibt die Entscheidung über die Kosten der End-entscheidung vorbehalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>3. Die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht ist gemäß § 173 Satz 1, § 152 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 17a Abs. 4 Satz 5 GVG vorliegen. Die Frage, ob isolierte Anträge auf Beiordnung eines Notanwalts in Anwendung des § 17a Abs. 2 GVG an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtswegs verwiesen werden können, betrifft eine unbestimmte Vielzahl weiterer Fälle und ist in der Verwaltungsgerichtsbarkeit höchstrichterlich nicht geklärt (auch in Bezug auf isolierte Prozesskostenhilfeanträge offenlassend: BVerwG, Beschluss vom 21.03.2022 - 9 AV 1.22 -, NVwZ 2022, 1062 <juris Rn. 11>). Ihr kommt grundsätzliche Bedeutung zu.</td></tr></table></td></tr></table>
346,907
vghbw-2022-09-21-10-s-139120
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10 S 1391/20
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-10-13T10:01:48"
"2022-10-17T11:11:02"
Urteil
<h2>Tenor</h2> <p>Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 29. März 2019 - 10 K 14952/17 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.</p><p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p> <h2>Tatbestand</h2> <table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Klägerin wendet sich gegen eine Verfügung der Beklagten, mit der ihr aufgegeben wurde, die Emissionen einer von ihr betriebenen Feuerungsanlage darauf hin überprüfen zu lassen, ob die immissionsschutzrechtlichen Vorgaben für Grundöfen eingehalten werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Klägerin und ihr Ehemann errichteten 2015 in Eigenbauweise einen aus Schamott- und Lehmsteinen hergestellten, aus drei Teilen bestehenden Ofen. In der Küche befindet sich ein Ofenteil mit einer Herdplatte, der laufend mit Holz befeuert werden kann. Von diesem Herdteil besteht eine Verbindung zu dem äußerlich wie ein Kachelofen anmutenden Back- und Gar-Ofen im Wohn-Ess-Bereich, der separat befeuert werden kann, aber keinen Aschekasten aufweist. Der Ofen hat gewundene Züge mit einer Länge von zehn Metern, die auch den Backofenteil im Wohnzimmer durchziehen und Heiz- bzw. Rauchgase an dem Backfach vorbeiführen; dadurch wird eine Erhitzung des Ofens erreicht und das Niedrigtemperaturgaren von Speisen ohne direkte Befeuerung des Backofens ermöglicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Mit Verfügung vom 21.02.2017 gab die Beklagte der Klägerin auf, durch einen Schonsteinfeger die Kohlenstoffmonoxidemissionen und die staubförmigen Emissionen der Feuerungsanlage messen zu lassen (Nr. 1) und das Ergebnis der Messung der Immissionsschutzbehörde schriftlich mitzuteilen (Nr. 2). Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Feuerungsanlage sei ein Grundofen, da sie nicht nur der Zubereitung von Speisen, sondern auch der Erwärmung des Raumes diene. Die Verfügung sei verhältnismäßig; die mit der Messung verbundenen Kosten von 1.200,-- EUR seien der Klägerin zumutbar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Hiergegen legte die Klägerin am 13.03.2017 Widerspruch ein und machte geltend, bei dem streitgegenständlichen Ofen handle es sich um einen - regulatorisch gesondert erfassten - holzbefeuerten Herd mit Backofen, der ausschließlich der Zubereitung von Speisen und nicht, wie etwa ein Kachelofen, als Wärmequelle der Beheizung des Umgebungsraums diene; somit müsse der Ofen auch nicht die immissionsschutzrechtlich an einen Grundofen zu stellenden Anforderungen erfüllen. Die sich bei dem Backvorgang entwickelnden Wärme- und Heizgase würden durch Züge in den Backofen geleitet, und die Wärme werde sodann über den Schornstein abgeführt. In dem Haus existiere eine gesonderte Heizungsanlage, sodass der Ofen nicht zu Heizzwecken benötigt werde. Aus physikalischen Gründen sei unvermeidbar, dass beim Kochen und Backen Wärme abgestrahlt werde, was jedoch nicht die Eigenschaft eines Grundofens begründe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2017 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Widerspruch gegen Nrn. 1 und 2 des Ausgangsbescheids zurück. Der Ofen falle nicht unter die Ausnahmeregelung für Backöfen, da er neben der Bestimmung zum Zubereiten von Speisen auch eine erhebliche wärmespeichernde Funktion aufweise, die nicht allein der Zubereitung von Speisen geschuldet sei. Von den immissionsschutzrechtlichen Regelungen für Grundöfen sollten aber nur solche Öfen ausgenommen werden, deren primärer Zweck die Zubereitung von Speisen sei und deren Wärmefunktion lediglich einen nicht vermeidbaren Nebeneffekt darstelle. Sobald der Ofen zumindest auch als aus mineralischen Speichermaterialien hergestellter Wärmespeicherofen einsetzbar sei, beanspruchten die allgemeinen Regelungen Geltung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Klägerin erhob am 03.11.2017 Klage und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Der Herd werde je nach Bedarf einmal angefeuert, um darauf zu kochen und zu backen. Nach dem entsprechenden Koch- oder Backvorgang werde kein Holz nachgelegt, sobald dieser Vorgang abgeschlossen sei, und der Ofen gehe nach circa eineinhalb Stunden aus. Herd und Backofen könnten getrennt angefeuert werden; es gebe jedoch keine Feuerstelle, die es ermöglichen würde, den Ofen als Heizung zu benutzen. Eine Speicherdauer von zwölf Stunden nach Abschluss des Backvorgangs und der Befeuerung sei aus technischen Gründen ausgeschlossen. Im Übrigen habe der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfegermeister den Ofen bereits am 30.10.2015 abgenommen, hierin sei eine konkludente Feuerstättenschau zu sehen. Die angegriffene Verfügung leide an einem durchgreifenden Ermessensfehler, da sie vor Abschluss der erforderlichen Sachverhaltsermittlungen verfrüht ergangen sei. Die Beklagte habe entgegen ihrer ursprünglichen Absicht keine Ortsbesichtigung und Inaugenscheinnahme des Ofens vorgenommen, sondern allein nach Aktenlage in Unkenntnis wesentlicher Sachverhaltsumstände entschieden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit - der Beklagten am 17.04.2019 zugestelltem - Urteil vom 29.03.2019 hat das Verwaltungsgericht die Nrn. 1 und 2 der Verfügung vom 21.02.2017 und Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 1 Halbsatz 1 und Nr. 3 des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 26.09.2017 aufgehoben. Die Klage sei zulässig und begründet. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 1, 2 Nr. 13 1. BImSchV lägen nicht vor. Die streitgegenständliche Herd-Ofen-Kombination müsse die in immissionsschutzrechtlicher Hinsicht an Grundöfen gestellten Anforderungen nicht erfüllen, da sie bei der gebotenen objektivierten Betrachtung allein zur Speisenzubereitung bestimmt und geeignet sei. Der Ofenteil könne aufgrund des fehlenden Aschekastens sinnvollerweise nur einmal und für die Zubereitung von Speisen befeuert werden, sodass sich die objektive Wärmespeicherfunktion mit der Speisenzubereitung erschöpfe. Im Hinblick auf die Zuführung von Wärme durch die Züge habe die Klägerin im Termin nachvollziehbar ausgeführt, dass Länge und Verteilung der Abgaszüge so gewählt worden seien, dass das Backfach bei Zuleitung von Wärme vom Herd gerade nicht stark erhitzt werde, sondern dort nur eine Temperatur entstehe, die ein Niedrigtemperaturgaren ermögliche, ohne dass dies aber gleichzeitig zu einer für Heizzwecke relevanten Erwärmung der umgebenden Speichermedien führe; diese hätten lediglich die Funktion, den Heißluftstrom abzukühlen. Dieser Sachvortrag habe sich zur Überzeugung des Gerichts bei dem eingenommenen Augenschein bestätigt. Der Herd könne zwar dauerhaft befeuert werden; die objektive Wärmespeicherfunktion erschöpfe sich aber auch insoweit in der Speisenzubereitung, weil die Erwärmung der Speichermedien für Heizzwecke nicht ausreichend sei. Die bei der Augenscheinseinnahme festgestellte Wärmeentwicklung des Herdes sei bereits bei kurzem Betrieb so groß gewesen, dass ein längerer oder dauerhafter Betrieb objektiv ausscheide.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Beklagte hat am 14.05.2019 die Zulassung der Berufung beantragt. Mit - der Beklagten am 08.05.2020 zugestelltem - Beschluss vom 06.05.2020 hat der Senat die Berufung zugelassen. Am 04.06.2020 hat die Beklagte die Berufung begründet und hierzu ihren Sachvortrag aus dem Zulassungsverfahren wiederholt. Das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt unzureichend ermittelt, sich allein auf seine laienhaften Erkenntnisse aus der Augenscheinseinnahme gestützt und die aktenkundigen Einschätzungen fachkundiger Stellen nicht in seine Entscheidungsfindung einbezogen. Ausgehend hiervon sei es zu der unzutreffenden Subsumption gelangt, die streitgegenständliche Feuerstelle sei kein Grundofen. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts stellten die fehlende Luftzufuhrregelung, der nicht vorhandene Aschekasten und die zwölf Meter langen Züge gerade Merkmale eines Grundofens dar. Das Verwaltungsgericht habe bei der Inaugenscheinnahme nicht hinreichend in den Blick genommen, dass ein Grundofen aufgrund seiner speziellen Konzeptionierung erst bei längerem Betrieb zur Wärmeabgabe fähig sei und den festgestellten Temperaturen an den Kacheloberflächen deshalb keine Bedeutung zukomme. In rechtlicher Hinsicht unerheblich sei schließlich, zu welchem Zweck die Klägerin den Ofen tatsächlich verwende; maßgeblich sei allein die bei objektivierter Betrachtung zu bestimmende Nutzungsmöglichkeit sowie die Eignung des Ofens zur Wärmespeicherung und Erwärmung des Wohnraumes.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 29. März 2019 - 10 K 14952/17 -  zu ändern und die Klage abzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="12"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Sie vertieft zur Begründung ihren Sachvortrag aus dem Klageverfahren. Der Ofen werde nicht als Heizquelle verwendet, sondern ausschließlich zur Zubereitung von Speisen; dieser Vorgang dauere zwischen 30 und 90 Minuten. Ein dauerhafter Betrieb des Ofens scheide bauartbedingt aus, da er hierbei schnell überhitzen würde. An der Stelle des gegenständlichen Ofens habe sich seit Jahrhunderten eine Feuerstätte zum Zubereiten von Speisen befunden, da es sich um ein sehr altes Anwesen handle.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Dem Senat liegen die Verwaltungsakten der Beklagten, die Widerspruchsakte des Regierungspräsidiums Karlsruhe und die Akte des Verwaltungsgerichts vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt dieser Akten und die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table> <h2>Entscheidungsgründe</h2> <table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>A. Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>I. Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie genügt den inhaltlichen Mindestanforderungen des § 124a Abs. 6 Satz 3 i. V. m. Abs. 3 Satz 4 VwGO. Sie enthält einen Antrag und mit dem Verweis auf die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung vom 14.05.2019 eine hinreichende Berufungsbegründung (vgl. zu den Anforderungen insoweit OVG Hamburg, Urteil vom 21.09.2018 - 4 Bf 232/18.A - juris Rn. 22).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>II. Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat Nrn. 1 und 2 des Bescheids der Beklagten sowie den Widerspruchsbescheid in diesem Umfang zu Unrecht aufgehoben. Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 21.02.2017 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 25.09.2017 sind, soweit Streitgegenstand, rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>1. Rechtsgrundlage der angefochtenen Verfügung ist § 24 Satz 1 BImSchG. Danach kann die zuständige Behörde im Einzelfall die zur Durchführung des § 22 BImSchG und der auf das Bundes-Immissionsschutzgesetz gestützten Rechtsverordnungen erforderlichen Anordnungen treffen. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu betreiben, dass nach dem Stand der Technik vermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden. Die Bundesregierung hat hierzu die Verordnung über kleine und mittlere Feuerungsanlagen (1. BImSchV) erlassen. Diese Verordnung gilt für die Errichtung, die Beschaffenheit und den Betrieb von Feuerungsanlagen, die keiner Genehmigung nach § 4 BImSchG bedürfen (§ 1 Abs. 1 der 1. BImSchV). Die in Rede stehende Einzelraumfeuerungsanlage der Klägerin ist nicht nach § 4 BImSchG genehmigungspflichtig und unterfällt daher der vorgenannten Verordnung, unabhängig von der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage, ob die Anlage zum Beheizen des Aufenthaltsraums geeignet ist oder einen Herd mit indirekt beheizter Backvorrichtung darstellt (vgl. die Begriffsbestimmung in § 2 Nr. 3 1. BImSchV).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 1 1. BImSchV ist bei Grundöfen, die nach dem 31.12.2014 errichtet und betrieben werden und die nicht mit nachgeschalteten Einrichtungen zur Staubminderung nach dem Stand der Technik ausgestattet sind und für die auch keine Typprüfung des vorgefertigten Feuerraums unter Anwendung der Bestimmungen der Anlage 4 Nr. 3 1. BImSchV vorliegt, die Einhaltung der Anforderungen nach Anlage 4 Nr. 1 1. BImSchV zu Kachelofenheizeinsätzen mit Füllfeuerungen nach DIN EN 13229/A1, Ausgabe Oktober 2005, bei einer Messung von einem Schornsteinfeger unter sinngemäßer Anwendung der Bestimmungen der Anlage 4 Nr. 3 1. BImSchV zu Beginn des Betriebs nachzuweisen. Diese Regelung findet nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV keine Anwendung auf Feuerungsanlagen, die dazu bestimmt sind, Speisen durch unmittelbare Berührung mit heißen Abgasen zu backen oder in ähnlicher Weise zuzubereiten. Das vorgenannte Nachweiserfordernis ist hinsichtlich des von der Klägerin errichteten und betriebenen Ofens zu erfüllen. Dieser wurde nicht von dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeister oder der Baurechtsbehörde abgenommen (a). Es handelt sich um einen Grundofen, der bei der gebotenen objektiven Betrachtung nicht (nur) zur Zubereitung von Speisen durch unmittelbare Berührung mit heißen Abgasen bestimmt ist (b).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>a) Nicht zu folgen vermag der Senat der Auffassung der Klägerin, der bevollmächtigte Schornsteinfegermeister habe am 30.10.2015 den gegenständlichen Ofen abgenommen und damit konkludent eine Feuerstättenschau durchgeführt, sodass keine weitergehenden Überprüfungen oder Messungen zum Nachweis der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben erforderlich seien. Im Ausgangspunkt zutreffend weist die Klägerin zwar darauf hin, dass die Errichtung der Feuerstätte als selbständiges Vorhaben nach Nr. 3 a) des Anhangs zu § 50 Abs. 1 LBO mit der Maßgabe verfahrensfrei ist, dass dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger mindestens zehn Tage vor Beginn der Ausführung die erforderlichen technischen Angaben vorgelegt werden und er vor der Inbetriebnahme die Brandsicherheit und die sichere Abführung der Verbrennungsgase zu bescheinigen hat. Die Landesbauordnung unterwirft mithin die selbständige Errichtung von Feuerungsanlagen keinem Genehmigungserfordernis, aber einer Abnahme durch den insoweit als Beliehenen tätig werdenden bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger, der hierüber gegenüber dem Bauherrn eine Bescheinigung vorzulegen hat. Bei der Abnahmebescheinigung handelt es sich um einen feststellenden Verwaltungsakt, mit welcher der Bezirksschornsteinfeger bescheinigt, dass er die Feuerungsanlage besichtigt und entweder keine oder nur bestimmte unwesentliche Mängel oder Abweichungen von den gesetzlichen Vorgaben festgestellt hat (vgl. Sauter, LBO, Rn. 23 zu § 67 LBO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Der zuständige bevollmächtigte Bezirksschonsteinfeger ... ... hat indes die erforderliche Gebrauchsabnahme nicht vorgenommen und die Mängelfreiheit bescheinigt. Wie sich aus seiner Mängelmeldung vom 12.01.2016 ergibt, wurde die Abnahme des Ofens nicht endgültig vorgenommen, sondern gegenüber der Klägerin eine Mängelanzeige vorgelegt, ausweislich derer der Ofen die immissionsschutzrechtlich an Grundöfen zu stellenden Anforderungen nicht erfüllt. Der Klägerin wurde eine Frist zur Mängelbeseitigung bis zum 01.03.2016 gesetzt und diese darauf hingewiesen, dass Feuerungsanlagen erst in Betrieb genommen werden dürfen, wenn der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfegermeister die Brandsicherheit und die sichere Abführung der Verbrennungsgase bescheinigt. Eine derartige Bescheinigung wurde vom Bezirksschornsteinfegermeister aber nicht ausgestellt. Dessen Schreiben vom 05.02.2016 ist zwar mit „Gebrauchs-Abnahme“ betitelt; es stellt jedoch keinen feststellenden Verwaltungsakt dar, mit dem dieser die Gebrauchsabnahme bestätigt hätte.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Für einen feststellenden Verwaltungsakt ist kennzeichnend, dass er sich mit seinem verfügenden Teil darauf beschränkt, das Ergebnis eines behördlichen Subsumptionsvorgangs verbindlich festzuschreiben. Die Regelung im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG ist darin zu sehen, dass in einer rechtlich ungewissen Situation die Sach- und Rechtslage in einem Einzelfall durch eine verbindliche Feststellung geklärt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.2009 - 4 C 3.09 - juris Rn. 15). Ein feststellender Verwaltungsakt liegt nur dann vor, wenn der betroffene Bürger unter Berücksichtigung aller ihm bekannten oder erkennbaren Umstände nach Treu und Glauben bei der gebotenen objektiven Auslegung aus dem Empfängerhorizont die Erklärung der Behörde als eine verbindliche Regelung auffassen konnte oder musste. Der Adressat des Bescheids muss - letztlich aus Gründen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots - Klarheit darüber haben, ob die Behörde durch einen feststellenden Verwaltungsakt mit verbindlicher Wirkung festlegen wollte, was im Einzelfall rechtens sein soll, oder ob es sich insoweit lediglich um ein grundsätzlich nicht an der Bindungswirkung teilnehmendes Begründungselement handelt. Eine behördliche Erklärung, deren feststellende Regelungsqualität nicht bereits durch Aufnahme in den Tenor des Bescheids dokumentiert worden ist, kann regelmäßig im Wege der Auslegung nur dann als feststellender Verwaltungsakt zu qualifizieren sein, wenn der Regelungswille der Behörde in anderer Weise klar und unmissverständlich zum Ausdruck kommt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.02.2022 - 13 S 1553/20 - juris Rn. 78).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Gemessen hieran stellt das Schreiben vom 05.02.2016 bei der gebotenen Auslegung aus dem Empfängerhorizont der Klägerin keinen feststellenden Verwaltungsakt dar, mit dem der Bezirksschornsteinfeger die Mängelfreiheit des Ofens bescheinigt hätte. Das Schreiben enthält weder einen sich zur Mängelfreiheit verhaltenden Entscheidungstenor noch Begründungselemente, die auf eine abgeschlossene Gebrauchsabnahme hindeuten könnten. Vielmehr handelt es sich für die Klägerin erkennbar schon der äußeren Form nach um eine Rechnung, mit welcher der Bezirksschornsteinfeger seine auf der Grundlage der Kehr- und Überprüfungsordnung (KÜO) zu erhebenden Gebühren für die Abnahme einer Feuerungsanlage geltend macht. Lediglich im Zusammenhang mit dem einschlägigen Gebührentatbestand nach der KÜO wird die Endabnahme einer Feuerungsanlage erwähnt; zutreffend dürfte der Bezirksschornsteinfeger in diesem Zusammenhang davon ausgegangen sein, dass die entsprechende Gebühr auch bei Abschluss der Amtshandlung mit einer Mängelfeststellung anfällt. Gegenteiliges kann entgegen der Annahme der Klägerin auch ihrem Schriftverkehr mit dem Fachgebiet Bauordnung der Beklagten nicht entnommen werden. Aus dessen Schreiben vom 23.02.2016 geht vielmehr hervor, dass die Feuerungsanlage ohne die erforderliche mängelfreie Abnahme in Betrieb genommen und die Klägerin aufgefordert wurde, die Fachunternehmererklärung vorzulegen. Mit Schreiben vom 10.05.2016 wies die Beklagte darauf hin, dass die erforderliche Abnahme durch den Bezirksschornsteinfegermeister weiterhin nicht erfolgt sei.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>b) Bei dem in Rede stehenden Ofen handelt es sich um einen Grundofen im Sinne von § 2 Nr. 13 1. BImSchV, der die Anforderungen des § 4 Abs. 5 1. BImSchV zu erfüllen hat und nicht der Privilegierungsregelung in § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV unterfällt. Gemäß der Legaldefinition in § 2 Nr. 13 1. BImSchV stellt ein Grundofen eine Einzelraumfeuerungsanlage als Wärmespeicherofen aus mineralischen Speichermaterialien dar, die an Ort und Stelle handwerklich gesetzt werden. Diese Voraussetzungen sind bei dem streitgegenständlichen Ofen erfüllt. Nach dem eigenen Vortrag der Klägerin hat sie den Ofen selbst zusammen mit ihrem Mann direkt vor Ort gebaut. Wie sich den von dem Bezirksschornsteinfeger während des Feuerstättenbaus gefertigten Fotos sowie seinen Grundrissskizzen entnehmen lässt, ist der Ofen aus Schamott- und Lehmsteinen hergestellt und in handwerklicher Weise gesetzt. Hierbei handelt es sich um mineralische Speichermedien im Sinne von § 2 Nr. 13 1. BImSchV.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Der Ofen unterfällt entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht der Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV, wonach insbesondere die Anforderungen in § 4 Abs. 5 nicht für Feuerungsanlagen gelten, die dazu bestimmt sind, Speisen durch unmittelbare Berührung mit heißen Abgasen zu backen oder in ähnlicher Weise zuzubereiten. Nach systematisch-funktionaler Auslegung von § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) und § 4 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 1. BImSchV sollen von den in letztgenannter Norm gestellten Anforderungen nur solche Öfen ausgenommen werden, deren alleiniger Zweck die Zubereitung von Speisen ist und deren Wärmefunktion lediglich einen unvermeidbaren Nebeneffekt darstellt. Sobald es sich um einen aus mineralischen Speichermaterialien hergestellten Grundofen handelt, der auch als Wärmespeicherofen einsetzbar ist und damit die Wärmefunktion nicht nur einen unvermeidbaren Nebeneffekt, sondern einen zumindest auch angestrebten (weiteren) Primärzweck darstellt, sollen die Vorgaben der 1. BImSchV und insbesondere dessen § 4 Abs. 5 gelten. Dies entspricht dem vom Verordnungsgeber mit der Abgasmessung für Grundöfen verfolgten Normzweck, die nach der amtlichen Begründung dazu dienen soll, auch bei solchen Grundöfen, für die die Messung der Emissionen auf dem Prüfstand bauartbedingt nicht möglich ist, einen emissionsarmen Betrieb sicherzustellen. Um einen derartigen emissionsarmen Betrieb zu gewährleisten, müssen gezielte Maßnahmen zur Minderung der Staub- und CO-Emissionen getroffen werden. Sofern Messungen an dem Grundofen vor Ort konstruktionsbedingt möglich sind, kann über eine Messung entsprechend den Anforderungen für die Typprüfung nach Anlage 4 Nr. 3 der Nachweis geführt werden, dass die Anforderungen nach Anlage 4 Nr. 1 eingehalten werden (vgl. die amtliche Begründung der Bundesregierung zum Verordnungsentwurf vom 22.05.2009, BT-Drs. 16/13100 S. 30). Auch die systematische Auslegung der 1. BImSchV spricht für ein solches Verständnis. So wird der Terminus „offener Kamin“, für den die in § 1 Abs. 2 1. BImSchV aufgeführten Vorschriften besondere Regelungen enthalten (vgl. z. B. § 4 Abs. 4 1. BImSchV), gemäß § 2 Nr. 12 1. BImSchV definiert als „Feuerstätte für Brennstoffe, die bestimmungsgemäß offen betrieben werden kann, soweit die Feuerstätte nicht ausschließlich für die Zubereitung von Speisen bestimmt ist“ (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 09.05.2019 - 3 K 659/16 - juris Rn. 29). Ausgehend von diesem Normzweck ist die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV eng auszulegen und kann nur bei solchen Öfen greifen, deren Zweckbestimmung nach der technischen Konstruktion und Bauweise einzig darin liegt, Speisen zuzubereiten und deren Wärmespeicherungseffekt lediglich ein physikalisch unvermeidbares Nebenprodukt des Zubereitungsvorgangs darstellt. Weist der Ofen einen darüberhinausgehenden Wärmespeicherungs- und Heizeffekt auf, der nicht zwingend zur Zubereitung der Speisen notwendig ist, ist die Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV nicht einschlägig und müssen die Anforderungen des § 4 Abs. 5 1. BImSchV erfüllt werden. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass in diesem Zusammenhang allein auf die objektive Wärmespeicherfunktion des Ofens abzustellen ist und es mithin auf die individuellen Nutzungsgewohnheiten des Betreibers nicht ankommt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Ausgehend hiervon handelt es sich bei der von der Klägerin errichteten Herd-Ofen-Kombination um einen Grundofen, dessen objektive Wärmespeicherfunktion sich nicht in der Speisenzubereitung erschöpft und der deshalb nicht der Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV unterfällt. Dabei kommt eine getrennte Betrachtung des in der Küche befindlichen Herdteils und des äußerlich wie ein Kachelofen anmutenden Back- und Garteils im Wohnzimmerbereich nicht in Betracht. Denn es handelt sich konstruktionsbedingt um einen einheitlich zu betrachtenden Ofen, auch wenn sich dieser in zwei Zimmern befindet und die einzelnen Teile unterschiedliche Funktionen aufweisen. Indes wird der Ofen ausweislich der vom Bezirksschornsteinfeger gefertigten gut nachvollziehbaren Skizzen und den in der Bauphase erstellten Lichtbildern durch einheitliche Züge versorgt, mit denen das Abgas durch beide Ofenteile geführt wird. Auch bei einer Befeuerung nur des Herdteils strömen die Heiz- und Wärmegase mithin durch den gesamten Ofen, also auch den im Wohnzimmer gelegenen Backofenteil, und werden dann anschließend durch den Kamin abgeführt. Bereits aufgrund dieser Abgasführung verbietet sich trotz der unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Ofenteile eine isolierte Betrachtung. Der Rauchgasführung kommt im Rahmen der immissionsschutzrechtlichen Prüfung ausschlaggebende Bedeutung zu, da sie für die Schutzgüter des § 3 BImSchG maßgeblich ist. Auch kann der Herdteil des Ofens nicht eigenständig dergestalt betrieben werden, dass die Rauchgase den im Wohnzimmer befindlichen Backteil nicht durchstreichen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Ausgehend von der gebotenen Gesamtbetrachtung der Herd-Ofen-Kombination sind sämtliche im Behördenverfahren tätig gewordenen fachkundigen Personen zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich um einen Grundofen handelt, dessen objektive Wärmespeicherfunkton sich nicht in der Speisenzubereitung erschöpft. So bestätigte der von der Klägerin beauftragte Kachelofen- und Luftheizungsbauermeister sowie Sachverständige für das Ofenbauerhandwerk ... ... unter dem 04.04.2016, dass die von ihrem Ehemann durchgeführte Planung für einen Grundofen den geltenden Anforderungen der technischen Regeln des einschlägigen Ofenbauerhandwerks (TR OL) entspricht. In seiner Konformitätserklärung gibt der Sachverständige als Feuerstättenbauart ebenfalls „Grundofen“ an und stuft ihn etwa nicht wie im Formular ebenfalls möglich als Aufsatzherd oder Speicherbackofen ein. Ferner beträgt nach dieser Bestätigung des Sachverständigen die Wärmespeicherdauer der Ofenkombination nach TR OL zwölf Stunden, was deren objektive Eignung zur Raumluftbeheizung belegt und ausschließt, dass sich die Wärmespeicherfunktion in der Zubereitung von Speisen erschöpft. Ausweislich der Bestätigung beträgt die notwendige Brennstoffaufgabe 16,8 kg Holz, als Abbrandzeit sind 1,6 Stunden vorgesehen, sodass der Brennstoffdurchsatz pro Stunde maximal 10,5 kg betragen kann und entsprechende Teilmengen - verteilt über die Zeit - aufzulegen sind. In Übereinstimmung hiermit wird in der Konformitätserklärung die Nennleistung des Ofens mit 4,75 kW und der Brennstoffdurchsatz mit 10,5 kg pro Stunde angegeben. Diese Parameter belegen, dass der Ofen entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht nur für das einmalige Aufheizen zur Zubereitung von Speisen auf dem Herd bzw. zum Niedrigtemperaturengaren in dem Ofenteil ausgelegt ist. Die von dem Sachverständigen ermittelte Speicherdauer der Ofenkonstruktion mit zwölf Stunden widerlegt die Behauptung der Klägerin, die im Wohnzimmer befindliche kachelofenartige Verkleidung sei allein aus optisch-ästhetischen Gründen gewählt und ihr komme keine Wärmespeicherfunktion zu. Es liegt auf der Hand, dass eine Speicherdauer von zwölf Stunden bei einer objektiven Zweckbestimmung allein zur Speisenzubereitung unnötig wäre und nur bei einer zumindest mitbestehenden Bestimmung zur Raumheizung Sinn macht. Der Senat misst den Angaben in der Bestätigung des Sachverständigen ... erheblichen Erkenntniswert zu, da sich dieser eingehend mit der Auslegung des von der Klägerin und ihrem Ehemann geplanten Ofens auseinandergesetzt hat, um die notwendige Schornsteinberechnung zur Weitergabe an den Bezirksschornsteinfegermeister zu erstellen. Ferner hat der Sachverständige die von der Baurechtsbehörde geforderte Konformitätserklärung / Fachunternehmererklärung im Auftrag der Klägerin erstellt, was ebenfalls eine gründliche Überprüfung des Ofens auf die Übereinstimmung mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften und vor allem den geltenden Anforderungen der „Technischen Regeln des Ofen- und Luftheizungsbauer-Handwerks“ (TR OL) erfordert. Nicht zu folgen vermag der Senat dem Vortrag der Klägerin im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens, die Ofenkombination sei objektiv nicht auf eine Speicherdauer von zwölf Stunden ausgelegt. Die Klägerin bestreitet ohne nähere Substantiierung die Richtigkeit der von ihr selbst beigebrachten Konformitätserklärung, ohne sich inhaltlich mit den fachkundigen Ausführungen des von ihr eingeschalteten Sachverständigen auseinanderzusetzen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die Angaben des Sachverständigen in seiner Konformitätserklärung und der beigefügten Bestätigung stimmen im Übrigen mit der fachlichen Einschätzung des Bezirksschornsteinfegermeisters und technischen Innungswarts der Schornsteinfegerinnung Karlsruhe, Herrn Schornsteinfegermeister ... ..., überein. Dieser geht in seiner für die Baurechtsbehörde der Beklagten erstellten Stellungnahme vom 26.02.2016 ebenfalls davon aus, dass die Feuerstätte nicht nur zur Zubereitung von Speisen, sondern auch der Erwärmung des Raumes dient. Zutreffend weist die Klägerin zwar darauf hin, dass der Schornsteinfeger ... seine Einschätzung nur nach Aktenlage getroffen und den Ofen nicht - wie ursprünglich angedacht - selbst in Augenschein genommen hat. Dies steht einer sachgerechten Beurteilung indes nicht entgegen, da sich in der Behördenakte eine aussagekräftige mehrseitige, vom bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeister ... während der Bauphase gefertigte Grundrissskizze sowie eine ausführliche Fotodokumentation befindet. Nach den Feststellungen des bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeisters beträgt die Zuglänge des Ofens insgesamt zehn Meter, die Länge des Bypasses 2,30 Meter. Wie sich den gefertigten Grundrissskizzen zweifelsfrei entnehmen lässt, winden sich die Züge durch beide Ofenteile und führen dazu, dass die Heizgase ihre Wärme an die umgebenden Schamottsteine abgeben können. Diese Konstruktionsweise des Ofens wird auch an den gefertigten Lichtbildern aus der Bauphase deutlich. In jeder Hinsicht nachvollziehbar führte der Bezirksschornsteinfegermeister ... in seinem aktenvermerklich festgehaltenen Telefonat mit dem Sachbearbeiter des Regierungspräsidiums vom 11.09.2017 aus, dass die in den aus mineralischen Speichermaterialien an Ort und Stelle handwerklich gesetzten Ofenteil im Wohnzimmer herüberreichenden Abgaszüge eine Länge von mehreren Metern haben. Nach den überzeugenden Darlegungen des Bezirksschornsteinfegermeisters ist diese Zuglänge nicht allein notwendig, um Speisen in dem Backfach zuzubereiten; hierzu würde ein kurzer, an dem Backfach vorbeigeführter Abgaszug ausreichen. Die Abgaszüge verliefen indes „geschlängelt“ durch diesen Ofenteil im Wohnzimmer, um eine möglichst gleichmäßige Wärmeverteilung in den Speichermedien zu gewährleisten. Die Länge der Abgaszüge diene daher zumindest auch zu einem großen Teil der Erwärmung in den wärmespeichernden mineralischen Medien, die in diesem Ofenteil verbaut seien. Diese Funktion der Feuerstätte sei für die Nutzung zur Zubereitung von Speisen nicht zwingend notwendig, sondern stelle eine zusätzliche Funktion zur Wärmespeicherung und -abgabe dar. Vor dem Hintergrund dieser überzeugenden Ausführungen des bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeisters hält der Senat den Vortrag der Klägerin, die Züge in dem im Wohnzimmer befindlichen Ofenteil seien ausschließlich so dimensioniert worden, um ein Niedrigtemperaturgaren von Speisen im Backofenfach zu ermöglichen, nicht für plausibel. Im Übrigen bestätigte die Klägerin in der Berufungsverhandlung selbst, dass sich die Züge bei Befeuerung der Herd-Ofen-Kombination auf circa 80 Grad erwärmen und die Rauchgase während der Passage durch die Zugkonstruktion von etwa 400 auf 120 Grad abkühlen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hervorgehobene Umstand, dass die in den Zügen erfolgende Abkühlung der Rauchgase erforderlich ist, um den bereits sehr alten Kamin zu erhalten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Nicht beizutreten vermag der Senat auch der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die objektive Wärmespeicherfunktion des kachelofenartig anmutenden Ofenteils erschöpfe sich in der Speisenzubereitung, weil die Erwärmung der Speichermedien für Heizzwecke nicht ausreichend sei. Das Verwaltungsgericht stützt sich ausschließlich auf seine eigenen Feststellungen bei der Inaugenscheinnahme, bei der der Ofen indes erst seit kurzer Zeit angeheizt und die Speichermedien deswegen allenfalls leicht erwärmt waren, und nimmt in diesem Zusammenhang die von dem Sachverständigen ... bestätigte Speicherdauer von zwölf Stunden nicht in den Blick. Gut nachvollziehbar legt die Beklagte im Übrigen unter Verweis auf im Internet frei zugängliche sachkundige Quellen dar, dass Grundöfen ein sehr träges Wärmeverhalten aufwiesen und lange Anheizzeiten erforderten; ein fachgerecht gebauter Grundofen brauche meist zwei bis drei Stunden, bevor die Wärme an der Oberfläche spürbar wird; je träger sich der Ofen verhält, desto länger könne er die Wärme speichern, sodass weniger häufig nachgeheizt werden müsse. Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass die bei der Augenscheinseinnahme festgestellte allenfalls geringe Erwärmung der Speichermedien deswegen nichts für die objektive Eignung der Ofenkombination zur Raumlufterwärmung bei längerer Beheizung hergibt. Vor dem Hintergrund dieses trägen Heizverhaltens von Grundöfen überzeugt auch die verwaltungsgerichtliche Einschätzung nicht, ein längerer oder dauerhafter Betrieb des Ofens scheide objektiv aus, da die bei der Augenscheinseinnahme festgestellte Wärmeentwicklung des Herdes bereits bei kurzem Betrieb sehr groß gewesen sei. Ferner gab die Klägerin in der Berufungsverhandlung selbst an, dass bei dem Beheizen des Ofens vor allem die metallische Herdplatte sehr viel Wärme abstrahlt, während die Raumtemperatur im Wohnzimmer eher niedrig bleibt. Ohne dass es entscheidungstragend darauf ankommt, weist der Senat darauf hin, dass auch die von der Klägerin geschilderte zusätzliche Nutzung einer Elektro-Infrarotstrahlerheizung auf eine Eignung der Herd-Ofen-Kombination zur Erwärmung des Wohnbereichs hindeutet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>2. Die Verfügung der Beklagten vom 21.02.2017 leidet nicht an einem im gerichtlichen Verfahren zu beanstanden Ermessensfehler (§ 40 LVwVfG). Die Bestimmung des § 24 BImSchG räumt den Behörden für ihre Entscheidung über das Einschreiten gegen schädliche Umwelteinwirkungen einer Anlage, die unterhalb der in § 25 Abs. 2 BImSchG bezeichneten Grenze (Gefahr für Leben und Gesundheit) bleiben, einen weiten Ermessensspielraum ein. Dies gilt auch, wenn die Immissionen die Nachbarschaft erheblich benachteiligen oder belästigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.10.1988 - 7 B 154.88 - UPR 1989, 224). Dabei ist zu beachten, dass Anordnungen nach § 24 Satz 1 BImSchG dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen und insbesondere der Nutzen solcher Anordnungen und die Belastung des Anlagenbetreibers nicht in einem unangemessenen Verhältnis stehen dürfen (vgl. BayVGH, Urteil vom 24.08.2007 - 22 B 05.2870 - juris Rn. 32).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Diesen Anforderungen wird die streitgegenständliche Messanordnung gerecht. Diese ist entgegen der Annahme der Klägerin nicht aufgrund eines behördlichen Defizits in der Sachverhaltsermittlung ermessensfehlerhaft und damit materiell rechtswidrig. Die Beklagte war in Ausübung ihrer gesetzlichen Amtsermittlungspflicht gemäß § 24 LVwVfG nicht gehalten, den Ofen selbst in Augenschein zu nehmen. Wie oben näher dargelegt, ermöglichen die aussagefähigen, in der Behördenakte befindlichen Grundrissskizzen nebst Fotodokumentation eine ausreichende Beurteilung von Zustand und Funktionsweise der Ofenkonstruktion. In Übereinstimmung hiermit haben auch der technische Innungswart ... und die Schornsteinfegerinnung Karlsruhe eine Inaugenscheinnahme des Ofens zu dessen sachgerechten Beurteilung nicht für erforderlich gehalten. Des Weiteren stehen die Erkenntnisse der tätig gewordenen Bezirksschornsteinfeger mit den Bestätigungen des von der Klägerin beauftragten Sachverständigen ... im Einklang, an deren Richtigkeit die Immissionsschutzbehörde nicht zweifeln musste. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der von der Klägerin hervorgehobene Umstand, dass die Immissionsschutzbehörde ursprünglich eine gemeinsame Ortsbesichtigung zusammen mit dem Sachverständigen ... vorgeschlagen hat.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Die Anordnung ist verhältnismäßig und leidet auch im Übrigen nicht an Ermessensfehlern. Sie ist geeignet und notwendig, um nachzuweisen, dass die immissionsschutzrechtlichen Anforderungen der 1. BImSchV eingehalten werden und keine Gefahren durch von dem Ofen ausgehende Staub- und CO-Emissionen für die menschliche Gesundheit bestehen. Nach der Begründung des Normgebers sind kleine und mittlere Festbrennstofffeuerungsanlagen der Haushalte eine bedeutende Quelle für besonders gesundheitsgefährdende Stoffe wie Feinstaub und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe; vor allem mit Holz befeuerte Kleinfeuerungsanlagen tragen zu diesen Emissionen maßgeblich bei (vgl. BT-Drs. 16/13100, S. 22). Die erlassene Messanordnung ist erforderlich, um der Behörde eine sachgerechte Einschätzung der von dem Ofen ausgehenden Gefährdungen für hochrangige Rechtsgüter wie der menschlichen Gesundheit zu ermöglichen. Gleich geeignete, die Klägerin weniger belastende Mittel sind nicht ersichtlich. In Anbetracht des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter ist die mit der angeordneten Messung für die Klägerin einhergehende finanzielle Belastung, die von der Behörde mit etwa 1.200,-- EUR angenommen wird, angemessen und auch im engeren Sinne verhältnismäßig.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:12pt"><tr><td><rd nr="36"/><strong>Beschluss vom 21. September 2022</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Der Streitwert des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof wird gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</td></tr></table> </td></tr></table> <h2>Gründe</h2> <table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>A. Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>I. Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie genügt den inhaltlichen Mindestanforderungen des § 124a Abs. 6 Satz 3 i. V. m. Abs. 3 Satz 4 VwGO. Sie enthält einen Antrag und mit dem Verweis auf die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung vom 14.05.2019 eine hinreichende Berufungsbegründung (vgl. zu den Anforderungen insoweit OVG Hamburg, Urteil vom 21.09.2018 - 4 Bf 232/18.A - juris Rn. 22).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>II. Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat Nrn. 1 und 2 des Bescheids der Beklagten sowie den Widerspruchsbescheid in diesem Umfang zu Unrecht aufgehoben. Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 21.02.2017 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 25.09.2017 sind, soweit Streitgegenstand, rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>1. Rechtsgrundlage der angefochtenen Verfügung ist § 24 Satz 1 BImSchG. Danach kann die zuständige Behörde im Einzelfall die zur Durchführung des § 22 BImSchG und der auf das Bundes-Immissionsschutzgesetz gestützten Rechtsverordnungen erforderlichen Anordnungen treffen. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu betreiben, dass nach dem Stand der Technik vermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden. Die Bundesregierung hat hierzu die Verordnung über kleine und mittlere Feuerungsanlagen (1. BImSchV) erlassen. Diese Verordnung gilt für die Errichtung, die Beschaffenheit und den Betrieb von Feuerungsanlagen, die keiner Genehmigung nach § 4 BImSchG bedürfen (§ 1 Abs. 1 der 1. BImSchV). Die in Rede stehende Einzelraumfeuerungsanlage der Klägerin ist nicht nach § 4 BImSchG genehmigungspflichtig und unterfällt daher der vorgenannten Verordnung, unabhängig von der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage, ob die Anlage zum Beheizen des Aufenthaltsraums geeignet ist oder einen Herd mit indirekt beheizter Backvorrichtung darstellt (vgl. die Begriffsbestimmung in § 2 Nr. 3 1. BImSchV).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 1 1. BImSchV ist bei Grundöfen, die nach dem 31.12.2014 errichtet und betrieben werden und die nicht mit nachgeschalteten Einrichtungen zur Staubminderung nach dem Stand der Technik ausgestattet sind und für die auch keine Typprüfung des vorgefertigten Feuerraums unter Anwendung der Bestimmungen der Anlage 4 Nr. 3 1. BImSchV vorliegt, die Einhaltung der Anforderungen nach Anlage 4 Nr. 1 1. BImSchV zu Kachelofenheizeinsätzen mit Füllfeuerungen nach DIN EN 13229/A1, Ausgabe Oktober 2005, bei einer Messung von einem Schornsteinfeger unter sinngemäßer Anwendung der Bestimmungen der Anlage 4 Nr. 3 1. BImSchV zu Beginn des Betriebs nachzuweisen. Diese Regelung findet nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV keine Anwendung auf Feuerungsanlagen, die dazu bestimmt sind, Speisen durch unmittelbare Berührung mit heißen Abgasen zu backen oder in ähnlicher Weise zuzubereiten. Das vorgenannte Nachweiserfordernis ist hinsichtlich des von der Klägerin errichteten und betriebenen Ofens zu erfüllen. Dieser wurde nicht von dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeister oder der Baurechtsbehörde abgenommen (a). Es handelt sich um einen Grundofen, der bei der gebotenen objektiven Betrachtung nicht (nur) zur Zubereitung von Speisen durch unmittelbare Berührung mit heißen Abgasen bestimmt ist (b).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>a) Nicht zu folgen vermag der Senat der Auffassung der Klägerin, der bevollmächtigte Schornsteinfegermeister habe am 30.10.2015 den gegenständlichen Ofen abgenommen und damit konkludent eine Feuerstättenschau durchgeführt, sodass keine weitergehenden Überprüfungen oder Messungen zum Nachweis der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben erforderlich seien. Im Ausgangspunkt zutreffend weist die Klägerin zwar darauf hin, dass die Errichtung der Feuerstätte als selbständiges Vorhaben nach Nr. 3 a) des Anhangs zu § 50 Abs. 1 LBO mit der Maßgabe verfahrensfrei ist, dass dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger mindestens zehn Tage vor Beginn der Ausführung die erforderlichen technischen Angaben vorgelegt werden und er vor der Inbetriebnahme die Brandsicherheit und die sichere Abführung der Verbrennungsgase zu bescheinigen hat. Die Landesbauordnung unterwirft mithin die selbständige Errichtung von Feuerungsanlagen keinem Genehmigungserfordernis, aber einer Abnahme durch den insoweit als Beliehenen tätig werdenden bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger, der hierüber gegenüber dem Bauherrn eine Bescheinigung vorzulegen hat. Bei der Abnahmebescheinigung handelt es sich um einen feststellenden Verwaltungsakt, mit welcher der Bezirksschornsteinfeger bescheinigt, dass er die Feuerungsanlage besichtigt und entweder keine oder nur bestimmte unwesentliche Mängel oder Abweichungen von den gesetzlichen Vorgaben festgestellt hat (vgl. Sauter, LBO, Rn. 23 zu § 67 LBO).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Der zuständige bevollmächtigte Bezirksschonsteinfeger ... ... hat indes die erforderliche Gebrauchsabnahme nicht vorgenommen und die Mängelfreiheit bescheinigt. Wie sich aus seiner Mängelmeldung vom 12.01.2016 ergibt, wurde die Abnahme des Ofens nicht endgültig vorgenommen, sondern gegenüber der Klägerin eine Mängelanzeige vorgelegt, ausweislich derer der Ofen die immissionsschutzrechtlich an Grundöfen zu stellenden Anforderungen nicht erfüllt. Der Klägerin wurde eine Frist zur Mängelbeseitigung bis zum 01.03.2016 gesetzt und diese darauf hingewiesen, dass Feuerungsanlagen erst in Betrieb genommen werden dürfen, wenn der bevollmächtigte Bezirksschornsteinfegermeister die Brandsicherheit und die sichere Abführung der Verbrennungsgase bescheinigt. Eine derartige Bescheinigung wurde vom Bezirksschornsteinfegermeister aber nicht ausgestellt. Dessen Schreiben vom 05.02.2016 ist zwar mit „Gebrauchs-Abnahme“ betitelt; es stellt jedoch keinen feststellenden Verwaltungsakt dar, mit dem dieser die Gebrauchsabnahme bestätigt hätte.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Für einen feststellenden Verwaltungsakt ist kennzeichnend, dass er sich mit seinem verfügenden Teil darauf beschränkt, das Ergebnis eines behördlichen Subsumptionsvorgangs verbindlich festzuschreiben. Die Regelung im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG ist darin zu sehen, dass in einer rechtlich ungewissen Situation die Sach- und Rechtslage in einem Einzelfall durch eine verbindliche Feststellung geklärt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.2009 - 4 C 3.09 - juris Rn. 15). Ein feststellender Verwaltungsakt liegt nur dann vor, wenn der betroffene Bürger unter Berücksichtigung aller ihm bekannten oder erkennbaren Umstände nach Treu und Glauben bei der gebotenen objektiven Auslegung aus dem Empfängerhorizont die Erklärung der Behörde als eine verbindliche Regelung auffassen konnte oder musste. Der Adressat des Bescheids muss - letztlich aus Gründen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots - Klarheit darüber haben, ob die Behörde durch einen feststellenden Verwaltungsakt mit verbindlicher Wirkung festlegen wollte, was im Einzelfall rechtens sein soll, oder ob es sich insoweit lediglich um ein grundsätzlich nicht an der Bindungswirkung teilnehmendes Begründungselement handelt. Eine behördliche Erklärung, deren feststellende Regelungsqualität nicht bereits durch Aufnahme in den Tenor des Bescheids dokumentiert worden ist, kann regelmäßig im Wege der Auslegung nur dann als feststellender Verwaltungsakt zu qualifizieren sein, wenn der Regelungswille der Behörde in anderer Weise klar und unmissverständlich zum Ausdruck kommt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.02.2022 - 13 S 1553/20 - juris Rn. 78).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Gemessen hieran stellt das Schreiben vom 05.02.2016 bei der gebotenen Auslegung aus dem Empfängerhorizont der Klägerin keinen feststellenden Verwaltungsakt dar, mit dem der Bezirksschornsteinfeger die Mängelfreiheit des Ofens bescheinigt hätte. Das Schreiben enthält weder einen sich zur Mängelfreiheit verhaltenden Entscheidungstenor noch Begründungselemente, die auf eine abgeschlossene Gebrauchsabnahme hindeuten könnten. Vielmehr handelt es sich für die Klägerin erkennbar schon der äußeren Form nach um eine Rechnung, mit welcher der Bezirksschornsteinfeger seine auf der Grundlage der Kehr- und Überprüfungsordnung (KÜO) zu erhebenden Gebühren für die Abnahme einer Feuerungsanlage geltend macht. Lediglich im Zusammenhang mit dem einschlägigen Gebührentatbestand nach der KÜO wird die Endabnahme einer Feuerungsanlage erwähnt; zutreffend dürfte der Bezirksschornsteinfeger in diesem Zusammenhang davon ausgegangen sein, dass die entsprechende Gebühr auch bei Abschluss der Amtshandlung mit einer Mängelfeststellung anfällt. Gegenteiliges kann entgegen der Annahme der Klägerin auch ihrem Schriftverkehr mit dem Fachgebiet Bauordnung der Beklagten nicht entnommen werden. Aus dessen Schreiben vom 23.02.2016 geht vielmehr hervor, dass die Feuerungsanlage ohne die erforderliche mängelfreie Abnahme in Betrieb genommen und die Klägerin aufgefordert wurde, die Fachunternehmererklärung vorzulegen. Mit Schreiben vom 10.05.2016 wies die Beklagte darauf hin, dass die erforderliche Abnahme durch den Bezirksschornsteinfegermeister weiterhin nicht erfolgt sei.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>b) Bei dem in Rede stehenden Ofen handelt es sich um einen Grundofen im Sinne von § 2 Nr. 13 1. BImSchV, der die Anforderungen des § 4 Abs. 5 1. BImSchV zu erfüllen hat und nicht der Privilegierungsregelung in § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV unterfällt. Gemäß der Legaldefinition in § 2 Nr. 13 1. BImSchV stellt ein Grundofen eine Einzelraumfeuerungsanlage als Wärmespeicherofen aus mineralischen Speichermaterialien dar, die an Ort und Stelle handwerklich gesetzt werden. Diese Voraussetzungen sind bei dem streitgegenständlichen Ofen erfüllt. Nach dem eigenen Vortrag der Klägerin hat sie den Ofen selbst zusammen mit ihrem Mann direkt vor Ort gebaut. Wie sich den von dem Bezirksschornsteinfeger während des Feuerstättenbaus gefertigten Fotos sowie seinen Grundrissskizzen entnehmen lässt, ist der Ofen aus Schamott- und Lehmsteinen hergestellt und in handwerklicher Weise gesetzt. Hierbei handelt es sich um mineralische Speichermedien im Sinne von § 2 Nr. 13 1. BImSchV.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Der Ofen unterfällt entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht der Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV, wonach insbesondere die Anforderungen in § 4 Abs. 5 nicht für Feuerungsanlagen gelten, die dazu bestimmt sind, Speisen durch unmittelbare Berührung mit heißen Abgasen zu backen oder in ähnlicher Weise zuzubereiten. Nach systematisch-funktionaler Auslegung von § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) und § 4 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 1. BImSchV sollen von den in letztgenannter Norm gestellten Anforderungen nur solche Öfen ausgenommen werden, deren alleiniger Zweck die Zubereitung von Speisen ist und deren Wärmefunktion lediglich einen unvermeidbaren Nebeneffekt darstellt. Sobald es sich um einen aus mineralischen Speichermaterialien hergestellten Grundofen handelt, der auch als Wärmespeicherofen einsetzbar ist und damit die Wärmefunktion nicht nur einen unvermeidbaren Nebeneffekt, sondern einen zumindest auch angestrebten (weiteren) Primärzweck darstellt, sollen die Vorgaben der 1. BImSchV und insbesondere dessen § 4 Abs. 5 gelten. Dies entspricht dem vom Verordnungsgeber mit der Abgasmessung für Grundöfen verfolgten Normzweck, die nach der amtlichen Begründung dazu dienen soll, auch bei solchen Grundöfen, für die die Messung der Emissionen auf dem Prüfstand bauartbedingt nicht möglich ist, einen emissionsarmen Betrieb sicherzustellen. Um einen derartigen emissionsarmen Betrieb zu gewährleisten, müssen gezielte Maßnahmen zur Minderung der Staub- und CO-Emissionen getroffen werden. Sofern Messungen an dem Grundofen vor Ort konstruktionsbedingt möglich sind, kann über eine Messung entsprechend den Anforderungen für die Typprüfung nach Anlage 4 Nr. 3 der Nachweis geführt werden, dass die Anforderungen nach Anlage 4 Nr. 1 eingehalten werden (vgl. die amtliche Begründung der Bundesregierung zum Verordnungsentwurf vom 22.05.2009, BT-Drs. 16/13100 S. 30). Auch die systematische Auslegung der 1. BImSchV spricht für ein solches Verständnis. So wird der Terminus „offener Kamin“, für den die in § 1 Abs. 2 1. BImSchV aufgeführten Vorschriften besondere Regelungen enthalten (vgl. z. B. § 4 Abs. 4 1. BImSchV), gemäß § 2 Nr. 12 1. BImSchV definiert als „Feuerstätte für Brennstoffe, die bestimmungsgemäß offen betrieben werden kann, soweit die Feuerstätte nicht ausschließlich für die Zubereitung von Speisen bestimmt ist“ (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 09.05.2019 - 3 K 659/16 - juris Rn. 29). Ausgehend von diesem Normzweck ist die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV eng auszulegen und kann nur bei solchen Öfen greifen, deren Zweckbestimmung nach der technischen Konstruktion und Bauweise einzig darin liegt, Speisen zuzubereiten und deren Wärmespeicherungseffekt lediglich ein physikalisch unvermeidbares Nebenprodukt des Zubereitungsvorgangs darstellt. Weist der Ofen einen darüberhinausgehenden Wärmespeicherungs- und Heizeffekt auf, der nicht zwingend zur Zubereitung der Speisen notwendig ist, ist die Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV nicht einschlägig und müssen die Anforderungen des § 4 Abs. 5 1. BImSchV erfüllt werden. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass in diesem Zusammenhang allein auf die objektive Wärmespeicherfunktion des Ofens abzustellen ist und es mithin auf die individuellen Nutzungsgewohnheiten des Betreibers nicht ankommt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Ausgehend hiervon handelt es sich bei der von der Klägerin errichteten Herd-Ofen-Kombination um einen Grundofen, dessen objektive Wärmespeicherfunktion sich nicht in der Speisenzubereitung erschöpft und der deshalb nicht der Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 b) 1. BImSchV unterfällt. Dabei kommt eine getrennte Betrachtung des in der Küche befindlichen Herdteils und des äußerlich wie ein Kachelofen anmutenden Back- und Garteils im Wohnzimmerbereich nicht in Betracht. Denn es handelt sich konstruktionsbedingt um einen einheitlich zu betrachtenden Ofen, auch wenn sich dieser in zwei Zimmern befindet und die einzelnen Teile unterschiedliche Funktionen aufweisen. Indes wird der Ofen ausweislich der vom Bezirksschornsteinfeger gefertigten gut nachvollziehbaren Skizzen und den in der Bauphase erstellten Lichtbildern durch einheitliche Züge versorgt, mit denen das Abgas durch beide Ofenteile geführt wird. Auch bei einer Befeuerung nur des Herdteils strömen die Heiz- und Wärmegase mithin durch den gesamten Ofen, also auch den im Wohnzimmer gelegenen Backofenteil, und werden dann anschließend durch den Kamin abgeführt. Bereits aufgrund dieser Abgasführung verbietet sich trotz der unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Ofenteile eine isolierte Betrachtung. Der Rauchgasführung kommt im Rahmen der immissionsschutzrechtlichen Prüfung ausschlaggebende Bedeutung zu, da sie für die Schutzgüter des § 3 BImSchG maßgeblich ist. Auch kann der Herdteil des Ofens nicht eigenständig dergestalt betrieben werden, dass die Rauchgase den im Wohnzimmer befindlichen Backteil nicht durchstreichen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Ausgehend von der gebotenen Gesamtbetrachtung der Herd-Ofen-Kombination sind sämtliche im Behördenverfahren tätig gewordenen fachkundigen Personen zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich um einen Grundofen handelt, dessen objektive Wärmespeicherfunkton sich nicht in der Speisenzubereitung erschöpft. So bestätigte der von der Klägerin beauftragte Kachelofen- und Luftheizungsbauermeister sowie Sachverständige für das Ofenbauerhandwerk ... ... unter dem 04.04.2016, dass die von ihrem Ehemann durchgeführte Planung für einen Grundofen den geltenden Anforderungen der technischen Regeln des einschlägigen Ofenbauerhandwerks (TR OL) entspricht. In seiner Konformitätserklärung gibt der Sachverständige als Feuerstättenbauart ebenfalls „Grundofen“ an und stuft ihn etwa nicht wie im Formular ebenfalls möglich als Aufsatzherd oder Speicherbackofen ein. Ferner beträgt nach dieser Bestätigung des Sachverständigen die Wärmespeicherdauer der Ofenkombination nach TR OL zwölf Stunden, was deren objektive Eignung zur Raumluftbeheizung belegt und ausschließt, dass sich die Wärmespeicherfunktion in der Zubereitung von Speisen erschöpft. Ausweislich der Bestätigung beträgt die notwendige Brennstoffaufgabe 16,8 kg Holz, als Abbrandzeit sind 1,6 Stunden vorgesehen, sodass der Brennstoffdurchsatz pro Stunde maximal 10,5 kg betragen kann und entsprechende Teilmengen - verteilt über die Zeit - aufzulegen sind. In Übereinstimmung hiermit wird in der Konformitätserklärung die Nennleistung des Ofens mit 4,75 kW und der Brennstoffdurchsatz mit 10,5 kg pro Stunde angegeben. Diese Parameter belegen, dass der Ofen entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht nur für das einmalige Aufheizen zur Zubereitung von Speisen auf dem Herd bzw. zum Niedrigtemperaturengaren in dem Ofenteil ausgelegt ist. Die von dem Sachverständigen ermittelte Speicherdauer der Ofenkonstruktion mit zwölf Stunden widerlegt die Behauptung der Klägerin, die im Wohnzimmer befindliche kachelofenartige Verkleidung sei allein aus optisch-ästhetischen Gründen gewählt und ihr komme keine Wärmespeicherfunktion zu. Es liegt auf der Hand, dass eine Speicherdauer von zwölf Stunden bei einer objektiven Zweckbestimmung allein zur Speisenzubereitung unnötig wäre und nur bei einer zumindest mitbestehenden Bestimmung zur Raumheizung Sinn macht. Der Senat misst den Angaben in der Bestätigung des Sachverständigen ... erheblichen Erkenntniswert zu, da sich dieser eingehend mit der Auslegung des von der Klägerin und ihrem Ehemann geplanten Ofens auseinandergesetzt hat, um die notwendige Schornsteinberechnung zur Weitergabe an den Bezirksschornsteinfegermeister zu erstellen. Ferner hat der Sachverständige die von der Baurechtsbehörde geforderte Konformitätserklärung / Fachunternehmererklärung im Auftrag der Klägerin erstellt, was ebenfalls eine gründliche Überprüfung des Ofens auf die Übereinstimmung mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften und vor allem den geltenden Anforderungen der „Technischen Regeln des Ofen- und Luftheizungsbauer-Handwerks“ (TR OL) erfordert. Nicht zu folgen vermag der Senat dem Vortrag der Klägerin im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens, die Ofenkombination sei objektiv nicht auf eine Speicherdauer von zwölf Stunden ausgelegt. Die Klägerin bestreitet ohne nähere Substantiierung die Richtigkeit der von ihr selbst beigebrachten Konformitätserklärung, ohne sich inhaltlich mit den fachkundigen Ausführungen des von ihr eingeschalteten Sachverständigen auseinanderzusetzen.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die Angaben des Sachverständigen in seiner Konformitätserklärung und der beigefügten Bestätigung stimmen im Übrigen mit der fachlichen Einschätzung des Bezirksschornsteinfegermeisters und technischen Innungswarts der Schornsteinfegerinnung Karlsruhe, Herrn Schornsteinfegermeister ... ..., überein. Dieser geht in seiner für die Baurechtsbehörde der Beklagten erstellten Stellungnahme vom 26.02.2016 ebenfalls davon aus, dass die Feuerstätte nicht nur zur Zubereitung von Speisen, sondern auch der Erwärmung des Raumes dient. Zutreffend weist die Klägerin zwar darauf hin, dass der Schornsteinfeger ... seine Einschätzung nur nach Aktenlage getroffen und den Ofen nicht - wie ursprünglich angedacht - selbst in Augenschein genommen hat. Dies steht einer sachgerechten Beurteilung indes nicht entgegen, da sich in der Behördenakte eine aussagekräftige mehrseitige, vom bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeister ... während der Bauphase gefertigte Grundrissskizze sowie eine ausführliche Fotodokumentation befindet. Nach den Feststellungen des bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeisters beträgt die Zuglänge des Ofens insgesamt zehn Meter, die Länge des Bypasses 2,30 Meter. Wie sich den gefertigten Grundrissskizzen zweifelsfrei entnehmen lässt, winden sich die Züge durch beide Ofenteile und führen dazu, dass die Heizgase ihre Wärme an die umgebenden Schamottsteine abgeben können. Diese Konstruktionsweise des Ofens wird auch an den gefertigten Lichtbildern aus der Bauphase deutlich. In jeder Hinsicht nachvollziehbar führte der Bezirksschornsteinfegermeister ... in seinem aktenvermerklich festgehaltenen Telefonat mit dem Sachbearbeiter des Regierungspräsidiums vom 11.09.2017 aus, dass die in den aus mineralischen Speichermaterialien an Ort und Stelle handwerklich gesetzten Ofenteil im Wohnzimmer herüberreichenden Abgaszüge eine Länge von mehreren Metern haben. Nach den überzeugenden Darlegungen des Bezirksschornsteinfegermeisters ist diese Zuglänge nicht allein notwendig, um Speisen in dem Backfach zuzubereiten; hierzu würde ein kurzer, an dem Backfach vorbeigeführter Abgaszug ausreichen. Die Abgaszüge verliefen indes „geschlängelt“ durch diesen Ofenteil im Wohnzimmer, um eine möglichst gleichmäßige Wärmeverteilung in den Speichermedien zu gewährleisten. Die Länge der Abgaszüge diene daher zumindest auch zu einem großen Teil der Erwärmung in den wärmespeichernden mineralischen Medien, die in diesem Ofenteil verbaut seien. Diese Funktion der Feuerstätte sei für die Nutzung zur Zubereitung von Speisen nicht zwingend notwendig, sondern stelle eine zusätzliche Funktion zur Wärmespeicherung und -abgabe dar. Vor dem Hintergrund dieser überzeugenden Ausführungen des bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeisters hält der Senat den Vortrag der Klägerin, die Züge in dem im Wohnzimmer befindlichen Ofenteil seien ausschließlich so dimensioniert worden, um ein Niedrigtemperaturgaren von Speisen im Backofenfach zu ermöglichen, nicht für plausibel. Im Übrigen bestätigte die Klägerin in der Berufungsverhandlung selbst, dass sich die Züge bei Befeuerung der Herd-Ofen-Kombination auf circa 80 Grad erwärmen und die Rauchgase während der Passage durch die Zugkonstruktion von etwa 400 auf 120 Grad abkühlen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hervorgehobene Umstand, dass die in den Zügen erfolgende Abkühlung der Rauchgase erforderlich ist, um den bereits sehr alten Kamin zu erhalten.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Nicht beizutreten vermag der Senat auch der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die objektive Wärmespeicherfunktion des kachelofenartig anmutenden Ofenteils erschöpfe sich in der Speisenzubereitung, weil die Erwärmung der Speichermedien für Heizzwecke nicht ausreichend sei. Das Verwaltungsgericht stützt sich ausschließlich auf seine eigenen Feststellungen bei der Inaugenscheinnahme, bei der der Ofen indes erst seit kurzer Zeit angeheizt und die Speichermedien deswegen allenfalls leicht erwärmt waren, und nimmt in diesem Zusammenhang die von dem Sachverständigen ... bestätigte Speicherdauer von zwölf Stunden nicht in den Blick. Gut nachvollziehbar legt die Beklagte im Übrigen unter Verweis auf im Internet frei zugängliche sachkundige Quellen dar, dass Grundöfen ein sehr träges Wärmeverhalten aufwiesen und lange Anheizzeiten erforderten; ein fachgerecht gebauter Grundofen brauche meist zwei bis drei Stunden, bevor die Wärme an der Oberfläche spürbar wird; je träger sich der Ofen verhält, desto länger könne er die Wärme speichern, sodass weniger häufig nachgeheizt werden müsse. Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass die bei der Augenscheinseinnahme festgestellte allenfalls geringe Erwärmung der Speichermedien deswegen nichts für die objektive Eignung der Ofenkombination zur Raumlufterwärmung bei längerer Beheizung hergibt. Vor dem Hintergrund dieses trägen Heizverhaltens von Grundöfen überzeugt auch die verwaltungsgerichtliche Einschätzung nicht, ein längerer oder dauerhafter Betrieb des Ofens scheide objektiv aus, da die bei der Augenscheinseinnahme festgestellte Wärmeentwicklung des Herdes bereits bei kurzem Betrieb sehr groß gewesen sei. Ferner gab die Klägerin in der Berufungsverhandlung selbst an, dass bei dem Beheizen des Ofens vor allem die metallische Herdplatte sehr viel Wärme abstrahlt, während die Raumtemperatur im Wohnzimmer eher niedrig bleibt. Ohne dass es entscheidungstragend darauf ankommt, weist der Senat darauf hin, dass auch die von der Klägerin geschilderte zusätzliche Nutzung einer Elektro-Infrarotstrahlerheizung auf eine Eignung der Herd-Ofen-Kombination zur Erwärmung des Wohnbereichs hindeutet.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>2. Die Verfügung der Beklagten vom 21.02.2017 leidet nicht an einem im gerichtlichen Verfahren zu beanstanden Ermessensfehler (§ 40 LVwVfG). Die Bestimmung des § 24 BImSchG räumt den Behörden für ihre Entscheidung über das Einschreiten gegen schädliche Umwelteinwirkungen einer Anlage, die unterhalb der in § 25 Abs. 2 BImSchG bezeichneten Grenze (Gefahr für Leben und Gesundheit) bleiben, einen weiten Ermessensspielraum ein. Dies gilt auch, wenn die Immissionen die Nachbarschaft erheblich benachteiligen oder belästigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.10.1988 - 7 B 154.88 - UPR 1989, 224). Dabei ist zu beachten, dass Anordnungen nach § 24 Satz 1 BImSchG dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen und insbesondere der Nutzen solcher Anordnungen und die Belastung des Anlagenbetreibers nicht in einem unangemessenen Verhältnis stehen dürfen (vgl. BayVGH, Urteil vom 24.08.2007 - 22 B 05.2870 - juris Rn. 32).</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Diesen Anforderungen wird die streitgegenständliche Messanordnung gerecht. Diese ist entgegen der Annahme der Klägerin nicht aufgrund eines behördlichen Defizits in der Sachverhaltsermittlung ermessensfehlerhaft und damit materiell rechtswidrig. Die Beklagte war in Ausübung ihrer gesetzlichen Amtsermittlungspflicht gemäß § 24 LVwVfG nicht gehalten, den Ofen selbst in Augenschein zu nehmen. Wie oben näher dargelegt, ermöglichen die aussagefähigen, in der Behördenakte befindlichen Grundrissskizzen nebst Fotodokumentation eine ausreichende Beurteilung von Zustand und Funktionsweise der Ofenkonstruktion. In Übereinstimmung hiermit haben auch der technische Innungswart ... und die Schornsteinfegerinnung Karlsruhe eine Inaugenscheinnahme des Ofens zu dessen sachgerechten Beurteilung nicht für erforderlich gehalten. Des Weiteren stehen die Erkenntnisse der tätig gewordenen Bezirksschornsteinfeger mit den Bestätigungen des von der Klägerin beauftragten Sachverständigen ... im Einklang, an deren Richtigkeit die Immissionsschutzbehörde nicht zweifeln musste. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der von der Klägerin hervorgehobene Umstand, dass die Immissionsschutzbehörde ursprünglich eine gemeinsame Ortsbesichtigung zusammen mit dem Sachverständigen ... vorgeschlagen hat.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Die Anordnung ist verhältnismäßig und leidet auch im Übrigen nicht an Ermessensfehlern. Sie ist geeignet und notwendig, um nachzuweisen, dass die immissionsschutzrechtlichen Anforderungen der 1. BImSchV eingehalten werden und keine Gefahren durch von dem Ofen ausgehende Staub- und CO-Emissionen für die menschliche Gesundheit bestehen. Nach der Begründung des Normgebers sind kleine und mittlere Festbrennstofffeuerungsanlagen der Haushalte eine bedeutende Quelle für besonders gesundheitsgefährdende Stoffe wie Feinstaub und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe; vor allem mit Holz befeuerte Kleinfeuerungsanlagen tragen zu diesen Emissionen maßgeblich bei (vgl. BT-Drs. 16/13100, S. 22). Die erlassene Messanordnung ist erforderlich, um der Behörde eine sachgerechte Einschätzung der von dem Ofen ausgehenden Gefährdungen für hochrangige Rechtsgüter wie der menschlichen Gesundheit zu ermöglichen. Gleich geeignete, die Klägerin weniger belastende Mittel sind nicht ersichtlich. In Anbetracht des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter ist die mit der angeordneten Messung für die Klägerin einhergehende finanzielle Belastung, die von der Behörde mit etwa 1.200,-- EUR angenommen wird, angemessen und auch im engeren Sinne verhältnismäßig.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:12pt"><tr><td><rd nr="36"/><strong>Beschluss vom 21. September 2022</strong></td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Der Streitwert des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof wird gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.</td></tr></table> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</td></tr></table> </td></tr></table>
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M 31 K 21.5244
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-10-06T10:01:48"
"2022-10-17T11:10:52"
Urteil
<h2>Tenor</h2> <div> <p>I. Die Klage wird abgewiesen.</p> <p>II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.</p> <p>III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.</p> </div> <h2>Tatbestand</h2> <div> <p><rd nr="1"/>Die Klägerin, die ein Bus-Unternehmen betreibt, begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Zuwendung im Rahmen der außerordentlichen Wirtschaftshilfe des Bundes für Dezember 2020 (Dezemberhilfe).</p> <p><rd nr="2"/>Mit Antrag vom 16. März 2021 beantragte die Klägerin über das einschlägige elektronische Antragsportal die Dezemberhilfe als außerordentliche Wirtschaftshilfe der Bundesregierung (Az....). Hinsichtlich der Branchenzugehörigkeit ist im Antrag „Personenbeförderung im Omnibus-Linienfernverkehr“ genannt. Als Grund der Antragstellung wurde ferner ein Mischbetrieb angegeben. Der relevante Vergleichsumsatz im Dezember 2019 wurde im Antrag mit 580.982,05 EUR beziffert. Ferner wurde im Antrag angegeben, dass der Antragsteller Überbrückungshilfe (2. Phase) beantragt bzw. erhalten und Kurzarbeitergeld in Anspruch genommen habe. Unter anderem auf dieser Grundlage ergab sich im elektronischen Antrag eine voraussichtliche Höhe der Dezemberhilfe von 319.778,92 EUR.</p> <p><rd nr="3"/>Mit Bescheid vom 17. März 2021 gewährte die Beklagte eine Abschlagszahlung für die Billigkeitsleistung in Höhe von 50.000 EUR. Die Bewilligung der Höhe der Abschlagszahlung für die Dezemberhilfe und die Auszahlung eines ersten Abschlags der Dezemberhilfe erging dabei unter dem Vorbehalt der vollständigen Prüfung des Antrags und der endgültigen Festsetzung in einem Schlussbescheid. Ab 24. März 2021 erfolgten über das Antragsportal eine Reihe von Rückfragen zur Prüfung des Antrags, die durch die Klägerin auch unter Vorlage umfangreicher Unterlagen beantwortet wurden. Thematisiert wurde hierbei insbesondere die direkte bzw. indirekte Betroffenheit der Klägerin, die nach ihren Angaben den weit überwiegenden Anteil ihrer Erlöse aus der Beförderung von Personen im Auftrag von F. erziele.</p> <p><rd nr="4"/>Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 30. August 2021 wurde der Antrag auf Gewährung einer Dezemberhilfe abgelehnt (1.), der unter Vorbehalt der vollständigen Prüfung ergangene Bescheid vom 17. März 2021 über eine Abschlagszahlung auf die Dezemberhilfe aufgehoben (2.), der zu erstattende Betrag auf 50.000 EUR festgesetzt und unter Fristsetzung für die Rückzahlung die Verzinslichkeit des Erstattungsbetrags anordnet (3. und 4.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf eine fehlende direkte oder indirekte Betroffenheit der Klägerin abgestellt. Busunternehmen seien nicht von den relevanten Schließungsanordnungen auf Grundlage der Beschlüsse vom 28. Oktober, 25. November und 2. Dezember 2020 betroffen und durften ihr Unternehmen weiterbetreiben. Die Umsätze der Klägerin seien ferner nicht nachweislich und regelmäßig zu mindestens 80% mit direkt von den oben genannten Maßnahmen betroffenen Unternehmen erzielt worden.</p> <p><rd nr="5"/>Mit am 30. September 2021 eingegangenem Schriftsatz ließ die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben.</p> <p><rd nr="6"/>Die Klägerin beantragt zuletzt,</p> <p><rd nr="7"/>1. Der Bescheid der Beklagten vom 30. August 2021 wird aufgehoben.</p> <p><rd nr="8"/>2. Die Beklagte wird verpflichtet, die mit Antrag der Klägerin vom 16. März 2021 begehrte Gewährung einer Dezemberhilfe gemäß der Richtlinie für die Gewährung von außerordentlicher Wirtschaftshilfe des Bundes für Dezember 2020 (Dezemberhilfe) des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie vom 21. Dezember 2020 zu gewähren; hilfsweise unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts den Antrag der Klägerin vom 16. März 2021 ermessensfehlerfrei zu bescheiden.</p> <p><rd nr="9"/>Zur Begründung wird im Schriftsatz vom 12. August 2022 wesentlich darauf abgehoben, dass die Personenbeförderung durch die Klägerin - zumindest indirekt im Auftrag der F. D. GmbH - jedenfalls tatsächlich weit überwiegend zu touristischen oder privaten Zwecken erfolge. Zu den Zahlen wird auch eine entsprechende Studie vorgelegt. Vor diesem Hintergrund sei die Klägerin jedenfalls faktisch durch die Untersagung touristischer Busreisen gemäß § 8 Satz 3 der 8. BayIfSMV betroffen. Ferner sei das Geschäft durch die umfassenden Kontaktbeschränkungen nach der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung stark betroffen gewesen. Die angeordneten Kontaktbeschränkungen und die dringenden Warnungen der Regierung hätten eine ähnliche Wirkung wie ein unmittelbares Verbot entfaltet. Damit habe sich das klägerische Unternehmen in einer nicht weniger belastendenden Situation befunden als ein Unternehmen, dessen Tätigkeit explizit untersagt worden sei.</p> <p><rd nr="10"/>Die Beklagte beantragt</p> <p><rd nr="11"/>Klageabweisung.</p> <p><rd nr="12"/>Sie verteidigt den streitbefangenen Bescheid und verweist insbesondere auf die fehlende Betroffenheit der Klägerin im Sinne der Zuwendungsrichtlinie. Die Klägerin unterfalle nicht dem Kreis derjenigen, die aufgrund der Beschlüsse von Bund und Ländern vom 28. Oktober, vom 25. November und vom 2. Dezember 2020 bzw. der daraufhin erlassenen Bestimmungen auf Landesebene den Geschäftsbetrieb einstellen mussten. Sie sei ferner auch nicht durch diese Schließungen indirekt betroffen. Es handle sich bei dem Angebot der Klägerin bzw. der Hauptkundin der Klägerin, der F. DACH GmbH, nicht um touristische Busreisen im Sinne der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Der öffentliche Personennah- und fernverkehr sei unter Einhaltung einer Maskenpflicht ausdrücklich erlaubt gewesen. Bei den durch die Klägerin (im Auftrag) durchgeführten Fahrten handle es sich um Fernbusreisen innerhalb eines fahrplanmäßigen Linienverkehrs. Dies sei unabhängig davon, ob die Kunden der Auftraggeberin der Klägerin die Fernbusreise zu touristischen oder beruflichen Zwecken buchten. Die zurückgegangene Kundennachfrage infolge der infektionsschutzrechtlichen Beschränkungen des öffentlichen Lebens habe in vergleichbarer Weise eine Vielzahl von Wirtschaftsteilnehmern getroffen und würden nach ständiger Verwaltungspraxis der Beklagten nicht durch die Förderung im Rahmen der Dezemberhilfe ausgeglichen. Hinsichtlich der Aufhebung des Bescheids über eine Abschlagszahlung sei festzustellen, dass der streitige Bescheid unter dem Vorbehalt der vollständigen Prüfung des Antrags und der endgültigen Festsetzung in einem Schlussbescheid ergangen sei.</p> <p><rd nr="13"/>Mit Beschluss vom 11. August 2022 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.</p> <p><rd nr="14"/>Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p><rd nr="15"/>Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Sie ist unbegründet.</p> <p><rd nr="16"/>Die Klägerin hat gegen die Beklagte den von ihr geltend gemachten Anspruch, sinngemäß gerichtet auf Gewährung und Auszahlung der Dezemberhilfe aufgrund ihres Zuwendungsantrags vom 16. März 2021, nicht inne (§ 113 Abs. 5 VwGO). Vielmehr erweist sich der Ablehnungsbescheid vom 30. August 2021 als rechtmäßig (nachfolgend unter 1.). Auch hat die Klägerin keinen Anspruch auf Aufhebung der Rücknahme- und Rückforderungsanordnungen in Nrn. 2 bis 4 des streitbefangenen Bescheids vom 30. August 2021, da sich diese als rechtmäßig erweisen und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; dazu nachfolgend unter 2.).</p> <p><rd nr="17"/>1. Eine Rechtsnorm, die einen Anspruch der Klägerin auf Bewilligung der beantragten Zuwendung begründet, existiert nicht. Vielmehr erfolgt die Zuwendung auf der Grundlage der einschlägigen Förderrichtlinie im billigen Ermessen der Behörde unter Beachtung des Haushaltsrechts (Art. 23, 44 BayHO). Ein Rechtsanspruch besteht danach nur ausnahmsweise, insbesondere aus dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 118 Abs. 1 BV) durch eine Selbstbindung der Verwaltung aufgrund einer ständigen Verwaltungspraxis.</p> <p><rd nr="18"/>1.1 Der Norm- und der mit ihm insoweit gleichzusetzende Richtliniengeber (vgl. BVerwG, U.v. 14.3.2018 - 10 C 1/17 - juris Rn. 18; U.v. 24.4.1987 - 7 C 24.85 - juris Rn. 12) ist zunächst bei der Entscheidung darüber, welcher Personenkreis durch freiwillige finanzielle Zuwendungen des Staates gefördert werden soll, weitgehend frei. Zwar darf der Staat seine Leistungen nicht nach unsachlichen Gesichtspunkten, also nicht willkürlich verteilen. Subventionen müssen sich vielmehr gemeinwohlbezogen rechtfertigen lassen, sollen sie vor dem Gleichheitssatz Bestand haben. Sachbezogene Gesichtspunkte stehen jedoch dem Norm- und Richtliniengeber in sehr weitem Umfang zu Gebote; solange die Regelung sich auf eine der Lebenserfahrung nicht geradezu widersprechende Würdigung der jeweiligen Lebensverhältnisse stützt, insbesondere der Kreis der von der Maßnahme Begünstigten sachgerecht abgegrenzt ist, kann sie verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden (stRspr; vgl. z.B. BVerfG, U.v. 20.4.2004 - 1 BvR 905/00, 1 BvR 1748/99 - juris Rn. 61; ebenso etwa Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 255).</p> <p><rd nr="19"/>Sind die Fördervoraussetzungen - wie hier - zulässigerweise in Förderrichtlinien geregelt, so müssen diese von der zuständigen Bewilligungsbehörde gleichmäßig (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 118 Abs. 1 BV), im Einklang mit Art. 23 und 44 BayHO, ohne Verstoß gegen andere einschlägige Rechtsvorschriften und gemäß dem Förderzweck angewendet werden, wie dieser in den selbst gegebenen Richtlinien zum Ausdruck kommt. Die Verwaltungsgerichte haben sich auf die Prüfung zu beschränken, ob bei der Anwendung einer solchen Richtlinie im Einzelfall der Gleichheitssatz verletzt worden ist oder ein sonstiger Verstoß gegen einschlägige materielle Rechtsvorschriften vorliegt. Entscheidend ist daher allein, wie die zuständige Behörde die Richtlinie im maßgeblichen Zeitpunkt in ständiger, zu einer Selbstbindung führenden Verwaltungspraxis gehandhabt hat und in welchem Umfang sie infolgedessen an den Gleichheitssatz gebunden ist. Dabei darf eine solche Richtlinie nicht - wie Gesetze oder Rechtsverordnungen - gerichtlich ausgelegt werden, sondern sie dient nur dazu, eine dem Grundsatz der Gleichbehandlung entsprechende Ermessensausübung der Behörde zu gewährleisten (aktuell z.B. BayVGH, B.v. 31.3.2022 - 6 ZB 21.2933 - juris Rn. 7; B.v. 8.11.2021 - 6 ZB 21.2023 - juris Rn. 6; vgl. ferner BVerwG, U.v. 16.6.2015 - 10 C 15.14 - juris Rn. 24; B.v. 11.11.2008 - 7 B 38.08 - juris Rn. 9; BayVGH, U.v. 11.10.2019 - 22 B 19.840 - juris Rn. 26 m.w.N.; B.v. 9.3.2020 - 6 ZB 18.2102 - juris Rn. 9; VG München, U.v. 5.7.2021 - M 31 K 21.1483 - juris Rn. 23).</p> <p><rd nr="20"/>Nur entsprechend den vorgenannten Grundsätzen kann ein Anspruch auf Förderung im Einzelfall bestehen. Im Vorwort der hier einschlägigen Richtlinie des Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie für die Gewährung von außerordentlicher Wirtschaftshilfe des Bundes für Dezember 2020 (Dezemberhilfe - BayMBl. 2020, Nr. 680 vom 21.12.2020, zuletzt geändert mit Bekanntmachung vom 21.12.2021, BayMBl. 2022 Nr. 27) wird im Übrigen auch ausdrücklich klargestellt, dass die Dezemberhilfe im Rahmen der vom Bund zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel als Billigkeitsleistung ohne Rechtsanspruch nach pflichtgemäßem Ermessen gewährt wird.</p> <p><rd nr="21"/>1.2 Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die beantragte Zuwendung. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte in ihrer ständigen Vollzugspraxis auf der Grundlage der Nr. 2.1 Satz 1 Buchst. b der Zuwendungsrichtlinie nur dann von einer Antragsberechtigung von Unternehmen ausgeht, wenn ihre wirtschaftliche Tätigkeit vom Lockdown betroffen ist. Lockdown in diesem Sinne ist dabei ausgehend von Fußnote 9 der Zuwendungsrichtlinie der Zeitraum im Dezember 2020, für welchen branchenweite Coronabedingte Betriebsschließungen bzw. Betriebsbeschränkungen im Sinne der Ziffer 1 in Verbindung mit Ziffer 5 bis 8 des Beschlusses von Bund und Ländern vom 28. Oktober, 25. November und 2. Dezember 2020 hoheitlich angeordnet werden. Im Einzelnen handelt es sich dabei nach dem vorgenannten Beschluss um Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind wie beispielsweise Theater, Freizeitparks und der Freizeit- und Amateursportsbetrieb, ferner Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, Gastronomiebetriebe und Dienstleistungsbetriebe im Bereich der Körperpflege.</p> <p><rd nr="22"/>1.2.1 Der Zuwendungs- und Richtliniengeber und mit ihnen die mit der Funktion der Zuwendungsbehörde beliehene Beklagte (vgl. § 47b ZustV) sind nicht daran gehindert, im Sinne einer Eingrenzung des Kreises der Zuwendungsempfänger und Verteilung der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel den Kreis der Begünstigten im Wege einer dem Zweck der Förderung entsprechenden, sachgerechten Abgrenzung auf bestimmte Antragsberechtigte zu beschränken (vgl. auch VG München, U.v. 15.9.2021 - M 31 K 21.110 - juris Rn. 26; U.v. 14.7.2021 - M 31 K 21.2307 - juris Rn. 23). Dies gilt gleichermaßen für die sachliche Eingrenzung einer Zuwendung und die Festlegung der relevanten Maßstäbe zur Bestimmung der Höhe einer Zuwendung. Denn nur der Zuwendungsgeber bzw. die Zuwendungsbehörde bestimmen im Rahmen des ihnen eingeräumten weiten Ermessens bei der Zuwendungsgewährung darüber, welche Ausgaben dem Fördergegenstand zugeordnet werden und wer konkret begünstigt werden soll. Insoweit besitzen Zuwendungs- und Richtliniengeber und mit diesen die Beklagte die Interpretationshoheit über die maßgeblichen Verwaltungsvorschriften (BayVGH, B.v. 8.11.2021 - 6 ZB 21.2023 - juris Rn. 19; VG München, U.v. 15.9.2021 - M 31 K 21.110 - juris Rn. 26; VG Würzburg, U.v. 14.6.2021 - W 8 K 20.2138 - juris Rn. 30).</p> <p><rd nr="23"/>Diesen Maßstäben genügt die sowohl durch den Richtliniengeber vorgegebene als auch durch die Zuwendungsbehörde in ihrer ständigen Zuwendungspraxis umgesetzte Maßgabe, nach der als direkt Betroffene nur solche Unternehmen antragsberechtigt sind, deren wirtschaftliche Tätigkeit vom Lockdown betroffen ist, weil sie aufgrund der auf Grundlage der Beschlüsse von Bund und Ländern vom 28. Oktober, vom 25. November und vom 2. Dezember 2020 erlassenen Bestimmungen auf Landesebene den Geschäftsbetrieb einstellen mussten (oder es sich bei ihnen um Beherbergungsbetriebe oder Veranstaltungsstädten handelt, vgl. Ziff. 2.1 Satz 1 der Zuwendungsrichtlinie, insbesondere Buchst. b, Doppelbuchst. aa sowie Fußnote 9). In Betracht kommt ferner eine Antragsberechtigung als indirekt Betroffene, die dann vorliegt, wenn die jeweiligen Unternehmen nachweislich und regelmäßig mindestens 80% ihrer Umsätze mit direkt von den vorgenannten Maßnahmen betroffenen Unternehmen erzielen (vgl. Ziff. 2.1 Satz 1, Buchst. b, Doppelbuchst. bb der Zuwendungsrichtlinie). Dies stellt im Sinne der ausgeführten Maßstäbe eine durch sachbezogene Gesichtspunkte gerechtfertigte und damit jedenfalls nicht willkürliche Ab- bzw. Eingrenzung der maßgeblichen Zuwendungsmaßstäbe dar.</p> <p><rd nr="24"/>Ziel der Dezemberhilfe ist es - wie ausgeführt, vgl. Nr. 1 Satz 3 der Zuwendungsrichtlinie - durch einen Beitrag zur Kompensation des Umsatzausfalls die wirtschaftliche Existenz u.a. von Unternehmen und Soloselbstständigen zu sichern, die in der Folge des Beschlusses der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und den Regierungschefs der Länder vom 28. Oktober 2020 von Coronabedingten Betriebsschließungen bzw. Betriebseinschränkungen im November 2020 betroffen sind, und deshalb erhebliche Umsatzausfälle erleiden. Es handelt sich daher um ein Instrument, das spezifisch an eine Betroffenheit durch den vorgenannten politischen Beschluss anknüpft. Dies unterscheidet die Dezemberhilfe - im Übrigen gleichermaßen die Novemberhilfe (vgl. dazu VG München, U.v. 15.11.2021 - M 31 K 21.2780 - juris) - von den anderen Instrumenten und Programmen der Corona-Wirtschaftshilfe, die ohne Bezug auf bestimmte einschränkende Maßnahmen oder konkrete politische Beschlüsse an Coronabedingte Einbußen anknüpfen. Beispielhaft sichtbar wird dies etwa in Nr. 1 Satz 4 der Richtlinie für die Gewährung von Überbrückungshilfe des Bundes für kleine und mittelständische Unternehmen - Phase 3 (Überbrückungshilfe III - BayMBl. 2021, Nr. 132 vom 19.2.2021), wo im Rahmen der Zweckbestimmung lediglich allgemein von Coronabedingten erheblichen Umsatzausfällen die Rede ist. Der abweichende Charakter der Dezemberhilfe - und Novemberhilfe - zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass hierbei abweichend von den übrigen Instrumenten der Corona-Wirtschaftshilfe ein (anteiliger) Ersatz von Umsätzen stattfindet, wohingegen ansonsten die Leistungen in aller Regel auf den (anteiligen) Ersatz bestimmter betrieblicher Fixkosten beschränkt sind. Dementsprechend versteht auch der Zuwendungsgeber die November-, bzw. Dezemberhilfe als ein „sehr spezifisches Instrument“ zur Unterstützung von Unternehmen, die auf Grundlage des oben genannten Beschlusses und der daraufhin erlassenen Schließungsverordnungen der Länder ihren Geschäftsbetrieb einstellen mussten, bzw. von denjenigen, die indirekt oder direkt über Dritte von diesen Schließungsanordnungen betroffen sind (vgl. Antwort des Staatssekretärs Dr. N., Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, auf eine Schriftliche Frage des Abgeordneten Meiser, BT-Drs. 19/24779, S. 33).</p> <p><rd nr="25"/>Dieser besondere Charakter der Dezemberhilfe, die mithin nicht generell und allgemein an Coronabedingte Einbußen von Wirtschaftsteilnehmern anknüpft, sondern speziell an eine direkte oder zumindest indirekte Betroffenheit von bestimmten Schließungsanordnungen in bestimmten Branchen, ist nach Überzeugung des Gerichts eine sachliche und damit willkürfreie Erwägung, die es rechtfertigt, hinsichtlich des Umfangs der zu gewährenden außerordentlichen Wirtschaftshilfe gerade unmittelbar an den vorgenannten Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefin und Regierungschefs der Länder vom 28. Oktober, vom 25. November und vom 2. Dezember 2020 anzuknüpfen.</p> <p><rd nr="26"/>Soweit die Klägerin in dieser Zuwendungspraxis eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen Unternehmen erblickt, die - wie die Klägerin - mittelbar bzw. in allgemeiner Weise durch Coronabedingte Auflagen oder Schließungen betroffen waren, insbesondere durch die geltenden Kontaktbeschränkungen und Warnungen der Regierung, und solchen, die von Schließungsanordnungen auf Grundlage der Beschlüsse vom 28. Oktober, vom 25. November und vom 2. Dezember 2020 betroffen waren, trifft dies nicht zu. Vielmehr handelt es sich dabei um eine sachgerechte und willkürfreie Vorgehensweise, die sich durch den spezifischen Charakter der November- und Dezemberhilfe und ihren Bezug auf bestimmte Beschränkungsmaßnahmen rechtfertigt. Denn die Betroffenheit von bestimmten Schließungsanordnungen in formaler Hinsicht geht auch mit einer tatsächlich unterschiedlichen Belastung einher. Dies ist ein ausreichender, sachlicher Differenzierungsgrund. Das Gericht verkennt hierbei nicht und stellt keineswegs in Abrede, dass auch durch infektionsschutzrechtliche Maßnahmen jenseits vollständiger Betriebsschließungen erhebliche Belastungen für die Wirtschaftsteilnehmer entstanden sind. Insbesondere die Kontaktbeschränkungen - auf die auch die Klägerin schriftsätzlich zu Recht hinweist - sowie geltende Abstandsgebote mögen ebenfalls zu erheblichen Umsatzausfällen zahlreicher Wirtschaftsteilnehmer geführt haben. Die Beklagte durfte jedoch willkürfrei auf die formale, und damit unmittelbare Betroffenheit durch Schließungsanordnungen und die dadurch bedingte größere Intensität der Beeinträchtigung abstellen. Denn selbst unter Berücksichtigung aller durch die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zweifellos eingetreten Einschränkungen für die Wirtschaftsteilnehmer ist gleichwohl festzustellen, dass den nur mittelbar betroffenen Unternehmen, also solchen die - wie die Klägerin - nicht durch branchenweite Schließungsanordnungen betroffen waren, sondern nur durch die allgemeinen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen, jedenfalls ein Spielraum für weitere unternehmerische Tätigkeit verblieb. Auch wenn dieser Spielraum sehr klein oder faktisch kaum vorhanden gewesen sein mag, ist dieser Unterschied nach Überzeugung des Gerichts dennoch ein ausreichender Anknüpfungspunkt für eine willkürfreie Differenzierung.</p> <p><rd nr="27"/>Diese formal an bestimmte Schließungsanordnungen anknüpfende Differenzierung wird im Übrigen auch dadurch abgemildert und gerechtfertigt, dass nicht im Rahmen der November- bzw. Dezemberhilfe Antragsberechtigte in aller Regel keineswegs von Instrumenten der Corona-Wirtschaftshilfe gänzlich ausgeschlossen sind. Die inmitten stehende Differenzierung betrifft bei ergebnisorientierter Betrachtung überwiegend nicht die Frage, ob ein Antragsteller - wie hier die Klägerin - überhaupt Corona-Wirtschaftshilfen erhält, sondern welches der vorhandenen Zuwendungsprogramme gegebenenfalls in Anspruch genommen werden kann. Denn insbesondere mit der Überbrückungshilfe III steht auch eine Zuwendung für Unternehmen (und Soloselbstständige sowie Angehörige der Freien Berufe) wie die Klägerin zur Verfügung, die unmittelbar oder mittelbar durch Coronabedingte Auflagen oder Schließungen betroffen sind. Diese Überbrückungshilfe erfolgt durch teilweise Übernahme der erstattungsfähigen Fixkosten für die Monate November 2020 bis Juni 2021 als Billigkeitsleistung im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel. Zweifelsohne unterscheiden sich die Zuwendungsformen der Dezemberhilfe und der Überbrückungshilfe III in erheblicher Weise in der Höhe der zu gewährenden Billigkeitsleistung. Die Höhe der Billigkeitsleistung nach der Dezemberhilfe, eine über Umsätze pauschalierende Erstattung von Fixkosten, beträgt 75% des Vergleichsumsatzes, wobei Vergleichsumsatz grundsätzlich der Umsatz im Dezember 2019 ist, während die Überbrückungshilfe III einen Anteil - je nach Umsatzrückgang - von 40 bis 100% der Fixkosten im Fördermonat im Vergleich zum entsprechenden Monat des Jahres 2019 ersetzt. Dass diese Differenzierung völlig ungeeignet und willkürlich wäre, um durch die Zahlungen eines Beitrags zu den betrieblichen Fixkosten das angestrebte Ziel einer Sicherung wirtschaftlicher Existenzen zu erreichen, ist hingegen nicht ersichtlich.</p> <p><rd nr="28"/>Für den Schluss auf eine willkürliche Fassung oder Handhabung der Förderrichtlinie und der darauf aufbauenden Förderpraxis bestehen mithin keine Anhaltspunkte. Die Klägerin wird nicht anders behandelt als andere Antragstellerinnen und Antragsteller, die ebenfalls mangels Betroffenheit durch die vorgenannten Schließungsanordnungen nicht gefördert wurden. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte in vergleichbaren Zuwendungsfällen anders verfahren wäre, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Erwägungen, die Förderung als solche auf Unternehmen zu beschränken, welche von den Schließungsanordnungen auf Grundlage der Beschlüsse von Bund und Ländern vom 28. Oktober 2020, 25. November 2020 und 2. Dezember 2020 betroffen waren und ihre Leistung nicht mehr anbieten durften, stellen einen vertretbaren sachlichen Grund für die Verneinung der Förderberechtigung der Klägerin dar (VG Würzburg, U.v. 15.11.2021 - W 8 K 21.1000 - juris Rn. 44; VG Magdeburg, U.v. 30.11.2021 - 3 A 61/21 MD - juris Rn. 42).</p> <p><rd nr="29"/>1.2.2 Unabhängig davon ist dem Zuwendungs- und Richtliniengeber bzw. der Zuwendungsbehörde ohne Verstoß gegen den Gleichheitssatz auch ein bestimmtes Maß an Typisierung zuzugestehen. Der Gesetzgeber ist bei der Ordnung von Massenerscheinungen berechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt. Auf dieser Grundlage darf er grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen Gleichheitsgebote zu verstoßen (vgl. zuletzt etwa BVerfG, B.v. 29.1.2019 - 2 BvC 62/14 - juris Rn. 47 m.w.N.; zum Ganzen auch Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 98 f.). Gleiches gilt im Wesentlichen auch für die Bindung der Verwaltung im Bereich einer Zuwendungsgewährung (vgl. etwa VG München, U.v. 6.7.2021 - M 31 K 20.6548 - juris Rn. 38). Der Zuwendungsgeber ist daher nicht gehindert, den Förderungsgegenstand nach sachgerechten Kriterien auch typisierend einzugrenzen und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. Dies umso mehr deswegen, weil ihm - wie bereits ausgeführt - sachbezogene Gesichtspunkte dabei in einem sehr weiten Umfang an die Hand gegeben sind. Der Zuwendungsgeber darf im Rahmen des von ihm verfolgten Regelungskonzepts die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahmen in seine Entscheidung einfließen lassen und muss nicht sämtliche wirtschaftlichen Aktivitäten - auch wenn diese durch infektionsschutzrechtliche Maßnahmen ebenfalls betroffen sind - in gleicher Weise begünstigen (vgl. im Zusammenhang der infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen OVG NRW, B.v. 26.3.2021 - 13 B 363/21.NE - juris Rn. 100).</p> <p><rd nr="30"/>Ausgehend von der bereits dargelegten Zielbestimmung der November- und Dezemberhilfe, die Betroffenheit von bestimmten Schließungsanordnungen (teilweise) auszugleichen, kann zur Differenzierung der Antragsberechtigung auf die Coronabedingte angeordneten hoheitlichen Betriebsschließungen bzw. Betriebsbeschränkungen im Sinne der Ziffern 5 bis 8 des Beschlusses von Bund und Ländern vom 28. Oktober 2020 abgestellt werden.</p> <p><rd nr="31"/>1.2.3 Auch die Anwendung der vorstehend dargelegten Grundsätze im Einzelfall der Klägerin begegnet keinen Bedenken. Sie ist im Sinne der ständigen Zuwendungspraxis auf Grundlage der Zuwendungsrichtlinie (Nr. 2.1 Satz 1 Buchst. b) durch die Schließungsanordnungen auf Grundlage der Beschlüsse von Bund und Ländern vom 28. Oktober 2020, 25. November 2020 und 2. Dezember 2020 weder direkt noch indirekt betroffen und mithin im Rahmen der Dezemberhilfe nicht antragsberechtigt.</p> <p><rd nr="32"/>Nach den Angaben im Zuwendungsantrag, dem schriftsätzlichen Vortrag sowie der Erörterung in der mündlichen Verhandlung steht hier im Wesentlichen eine indirekte Betroffenheit über Dritte inmitten. Denn die Klägerin befördert nach ihren Angaben zu einem Anteil von etwa 94% Personen im Auftrag der F. D. GmbH. Die Tätigkeit der vorgenannten Auftraggeberin war indes durch die Schließungsanordnungen nicht unmittelbar betroffen. Nach der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 30. Oktober 2020, die zunächst in der Folge der vorgenannten Beschlüsse von Bund und Ländern erging, bestand gemäß § 8 Satz 1 eine Maskenpflicht im öffentlichen Personennah- und -fernverkehr und den hierzu gehörenden Einrichtungen. Untersagt waren gemäß § 8 Satz 3 touristische Busreisen. Eine entsprechende Regelung bestand in Bayern bis Anfang 2021 (vgl. jeweils § 8 der Neunten, Zehnten und Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung). Von der Untersagung touristischer Busreisen war indes die Klägerin bzw. ihre Auftraggeberin nicht betroffen. Ausgehend von dem im behördlichen Verfahren (Bl. 25 ff. der Behördenakte) vorgelegten „Buspartnervertrag“ der Klägerin mit ihrer Auftraggeberin handelt es sich bei der durchgeführten Personenbeförderung um einen Fernbuslinienverkehr. Dies ergibt sich bereits aus der Präambel und der jeweiligen Aufgabenverteilung der Vertragspartner in den §§ 1 und 2 des Vertragswerks (Bl. 27, 29 und 31 der Behördenakte). In den Kategorien des Personenbeförderungsgesetzes ist damit von einem sogenannten Personenfernverkehr i.S.d. § 42a Satz 1 PBefG auszugehen, d.h. ein Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen, der nicht zum öffentlichen Personennahverkehr und nicht zu den Sonderformen des Linienverkehrs oder zum Linienbedarfsverkehr gehört (vgl. näher Fiedler, in: Heinze/Fehling/Fiedler, PBefG, 2. Aufl. 2014, § 42 Rn. 1 ff. und Heinze, aaO., § 42a Rn. 1, 9). Bereits begrifflich liegt mithin keine Betroffenheit von dem vorgenannten Verbot touristischer Busreisen vor.</p> <p><rd nr="33"/>Die in der mündlichen Verhandlung durch den Geschäftsführer der Klägerin thematisierte These, der Fernbusverkehr gehöre zum sogenannten Gelegenheitsverkehr im Sinne des § 46 PBefG, der auch den touristischen Busverkehr abdecke, ist nicht zutreffend. Gemäß § 46 Abs. 1 PBefG ist Gelegenheitsverkehr die Beförderung von Personen mit Kraftfahrzeugen, die nicht Linienverkehr u.a. nach § 42a PBefG ist. Mithin besteht innerhalb des Personenbeförderungsgesetzes eine kategorische Unterscheidung zwischen Gelegenheitsverkehr und Linienverkehr, welche der Anknüpfung unterschiedlicher Rechtsanforderungen und dem Schutz entsprechender unterschiedlicher Rechte dient (vgl. näher Heinze, in: ders./Fehling/Fiedler, PBefG, 2. Aufl. 2014, § 46 Rn. 1 ff., 5: „Typenzwang“). Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem hier infrage stehenden Fernbuslinienverkehr um Gelegenheitsverkehr im Sinne des Personenbeförderungsgesetzes handle.</p> <p><rd nr="34"/>Auch die durch die Klägerin in erster Linie vorgebrachte, gewissermaßen faktische Betriebsschließung durch die Regelungen und Verbote der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (und der nachfolgenden Regelungen) führt im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter. Zwar legt die Klägerin, auch unter Auswertung einer Studie zur Kundenstruktur des Fernbusmarkts in Deutschland („IGES-Studie“, Bl. 65 ff. der Behördenakte) nachvollziehbar dar, dass ein weit überwiegender Anteil des durch ihre Auftraggeberin durchgeführten Verkehrs touristischer oder privater Natur sei. Es mag ferner zutreffen, wie durch den Geschäftsführer der Klägerin in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass das Geschäftsmodell der Fernbuslinien schon generell auf einer zu einem überwiegenden Teil lediglich privater bzw. touristischer Nutzung beruhe. Selbst wenn vor diesem Hintergrund eine aus Nutzersicht überwiegend zu privaten oder touristischen Zwecken genutzte Personenbeförderung unterstellt würde, änderte dies jedoch nichts daran, dass der durch die Auftraggeberin der Klägerin angebotene Fernbuslinienverkehr als solcher nach § 8 der 8. BayIfSMV nicht untersagt war. Unabhängig von möglicherweise bestehenden begrifflichen Unschärfen (vgl. etwa zur thematisch einschlägigen bundesrechtlichen Rechtsgrundlage des § 28a Abs. 1 Nr. 12 IfSG Kießling, IfSG, 3. Aufl. 2022, § 28a Rn. 62 ff.) ergibt sich aus der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung jedenfalls in Zusammenschau von § 8 Satz 1 einerseits und § 8 Satz 3 andererseits klar, dass jedenfalls Personenfernverkehr, wie ihn die Auftraggeberin der Klägerin anbietet, unter Einhaltung einer Maskenpflicht im relevanten Zeitraum möglich war. Im Einklang mit der oben ausgeführten und durch ihre Bevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung bestätigte Zuwendungspraxis der Beklagten ist für die Antragsberechtigung im Rahmen der Dezemberhilfe auf die formale Betroffenheit durch die entsprechenden Schließungsanordnungen abzustellen, nicht aber auf möglicherweise tatsächlich bestehende geschäftliche Einbußen (vgl. zum analogen Befund in anderen Branchen, etwa Reisebüros oder Taxiunternehmen auch Nr. 1.3 der FAQs zur November- und Dezemberhilfe mit entsprechenden Beispielen). Damit ist umgekehrt nicht entscheidend, inwieweit die Klägerin - möglicherweise durchaus zutreffend, vgl. auch die Überlegungen der Beklagten im behördlichen Verfahren, Bl. 111 der Behördenakte - faktisch aufgrund der Nutzungsstruktur des Angebots ihrer Auftraggeberin betroffen ist. Ausgehend von dieser wie ausgeführt nicht zu beanstandenden Zuwendungspraxis ist die Klägerin folglich nicht antragsberechtigt.</p> <p><rd nr="35"/>1.3 Vor dem Hintergrund der wie ausgeführt fehlenden Antragsberechtigung der Klägerin im Rahmen der Dezemberhilfe führt auch der hilfsweise gestellte Antrag auf ermessensfehlerfreie Bescheidung nicht weiter.</p> <p><rd nr="36"/>2. Der angefochtene Bescheid vom 30. August 2021 ist auch insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), als die Beklagte darin die Aufhebung des Bescheids vom 17. März 2021 über eine Abschlagszahlung auf die Dezemberhilfe (Ziff. 2) und die Erstattung der gewährten Abschlagszahlung i.H.v. 50.000,- Euro (Ziff. 3) sowie deren Verzinsung (Ziff. 4) angeordnet hat.</p> <p><rd nr="37"/>2.1 Es kann offenbleiben, ob als Rechtsgrundlage für die Rücknahme der mit Bescheid vom 17. März 2021 gewährten Abschlagszahlung Art. 48 BayVwVfG herangezogen werden kann, wofür einiges spricht und wovon die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids ausgeht. Denn es handelt sich vorliegend offensichtlich um die Konstellation einer lediglich vorläufigen bzw. vorbehaltlichen Bewilligung einer Abschlagszahlung (vgl. hierzu grundsätzlich BVerwG, U.v. 14.4.1983 - 3 C 8.82 - juris Rn. 33; ferner etwa VG Bayreuth, GB v. 20.6.2022 - B 8 K 21.1024 - juris Rn. 59 ff.; VG München, U.v. 16.12.2021 - M 31 K 21.3624 - juris Rn. 58 m.w.N.). Gemäß Ziff. 2 des die Abschlagszahlung gewährenden Bescheids vom 17. März 2021 erging die Bewilligung ausdrücklich unter dem Vorbehalt der vollständigen Prüfung des Antrags und der endgültigen Festsetzung in einem Schlussbescheid. Hierauf nimmt ferner der Tenor des streitgegenständlichen Bescheids vom 30. August 2021 ausdrücklich Bezug. Grundsätzlich ist nach den Auslegungsgrundsätzen der §§ 133, 157 BGB zu erforschen, wie der Adressat einen Verwaltungsakt unter Berücksichtigung der ihm bekannten oder erkennbaren Umstände bei objektiver Auslegung verstehen musste. Aus der Sicht eines objektiven Empfängers stellt sich der Bescheid über eine Abschlagszahlung als vorläufiger Zuwendungsbescheid dar (vgl. BVerwG, U.v. 15.3.2017 - 10 C 1/16 - juris Rn. 14 f.).</p> <p><rd nr="38"/>In diesem Fall einer vorbehaltlichen Regelung bzw. eines Schlussbescheids ist eine Rücknahme nach Art. 48 BayVwVfG nicht erforderlich bzw. findet diese Vorschrift keine Anwendung. Vielmehr wird die vorläufige Gewährung der Abschlagszahlung durch den endgültigen, hier streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid ersetzt und erledigt. Der Bewilligungsbescheid ist lediglich die Grundlage für die vorläufig geleistete Abschlagszahlung; hierin erschöpft sich seine Rechtswirkung. Demgegenüber kommt dem angefochtenen Bescheid in dieser Hinsicht der Charakter eines Schlussbescheids mit dem Regelungsgehalt zu, die beantragte Dezemberhilfe (endgültig) abzulehnen und die sich hieraus angesichts der erfolgten Abschlagszahlung ergebende Überzahlung nebst Zinsen zurückzufordern (vgl. BVerwG, U.v. 14.4.1983 - 3 C 8.82 - juris Rn. 34; U.v. 15.3.2017 - 10 C 1/16 - juris Rn. 16; ferner etwa VG München, U.v. 16.12.2021 - M 31 K 21.3624 - juris Rn. 58; VG Düsseldorf, U.v. 12.12.2014 - 13 K 430/13 - juris Rn. 42).</p> <p><rd nr="39"/>Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, ein Bescheid sei zu Unrecht auf eine nicht tragfähige - oder wie hier: weniger nahe liegende - Rechtsgrundlage gestützt worden, ist es gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch verpflichtet zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Bescheid mit Blick auf sonstige Rechtsgrundlagen aufrechterhalten werden kann (vgl. rechtsgrundsätzlich BVerwG, B.v. 29.7.2019 - 2 B 19/18 - juris Rn. 24; U.v. 19.8.1988 - 8 C 29/87 - juris; U.v. 31.3.2010 - 8 C 12/09 - juris Rn. 16; ebenso BayVGH, U.v. 23.7.2020 - 14 B 18.1472 - juris Rn. 29; VG München, U.v. 12.5.2021 - M 31 K 15.2119 - juris Rn. 56; U.v. 3.8.2017 - M 2 K 16.3853 - juris Rn. 18; Ramsauer in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2020, Rn. 7a zu § 47). Bei einer solchen Konstellation bedarf es keiner (richterlichen) Umdeutung, so dass die Aufrechterhaltung des Bescheides auch nicht davon abhängt, ob die Voraussetzungen für eine Umdeutung nach Art. 47 BayVwVfG erfüllt sind. So liegt der Fall hier. Der Regelungsgehalt des angegriffenen Bescheids bleibt unverändert, wenn die Aufhebung der gewährten Abschlagszahlung in zutreffender Weise als Schlussbescheid unter endgültiger Ablehnung der Dezemberhilfe anstelle einer Rücknahme des Bescheids über eine Abschlagszahlung angesehen wird, zumal der Tenor des streitgegenständlichen (Aufhebungs-)Bescheids, wie ausgeführt, ohnehin auf den Vorbehalt der vollständigen Prüfung im gewährenden Bescheid Bezug nimmt.</p> <p><rd nr="40"/>Erforderlich sind zudem auch keine anderen oder zusätzlichen als die im streitgegenständlichen Bescheid vorgenommen Ermessenserwägungen, zumal das Verständnis als lediglich die vorläufige Gewährung der Abschlagszahlung ersetzender Schlussbescheid zu deutlich weniger anspruchsvollen Voraussetzungen für die getroffene Regelung führt. Schließlich entspricht dies auch der Absicht der Beklagten; auch die Rechtsfolgen erweisen sich für die Klägerin endlich nicht als ungünstiger (vgl. in ähnlicher Konstellation VG München, U.v. 12.5.2021 - M 31 K 15.2119 - juris Rn. 56).</p> <p><rd nr="41"/>2.2 Die Verpflichtung zur Erstattung der nach endgültiger Ablehnung der Dezemberhilfe durch den streitgegenständlichen Bescheid rechtsgrundlos erfolgten Abschlagszahlung i.H.v. 50.000,- Euro folgt aus Art. 49a Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG (analog). Der in Form einer vorläufigen Regelung ergangene Bescheid über eine Abschlagszahlung vom 17. März 2021 hat wie ausgeführt gemäß Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG seine Rechtswirkung dadurch verloren, dass er durch die streitgegenständliche endgültige Ablehnung ersetzt wurde. Wird ein Verwaltungsakt, der eine Zuwendung zunächst nur vorläufig bewilligt hat, rückwirkend durch einen anderen Verwaltungsakt ersetzt, der die Zuwendung in geringerer Höhe festsetzt, oder wie hier gänzlich ablehnt, so gelten nach herrschender Auffassung die Erstattungsvorschriften des Art. 49a Abs. 1 und 3 BayVwVfG entsprechend (BayVGH, U.v. 10.11.2021 - 4 B 20.1961 - juris Rn. 18, 28; unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 11.5.2016 - 10 C 8/15 - juris Rn. 11; U.v. 19.11.2009 - 3 C 7/09 - juris Rn. 24; vgl. jüngst etwa auch VG Bayreuth, GB v. 20.6.2022 - B 8 K 21.1024 - juris Rn. 69).</p> <p><rd nr="42"/>Gegen die ferner angeordnete Verzinsung bei Zahlungsverzug bestehen keine Bedenken, zumal mit dieser Regelung ohnehin von der auf Grundlage des Art. 49a Abs. 3 Satz 1 BayVwVfG möglichen Verzinsung zum Teil abgesehen wurde.</p> <p><rd nr="43"/>Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.</p> <p><rd nr="44"/>Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.</p> </div>
346,762
ovgnrw-2022-09-21-6-a-260120
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6 A 2601/20
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-09-30T10:01:45"
"2022-10-17T11:10:40"
Beschluss
ECLI:DE:OVGNRW:2022:0921.6A2601.20.00
<h2>Tenor</h2> <p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p> <p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p> <p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf die Wertstufe bis 35.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both"> <span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p> <span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die Klägerin stützt ihn auf die Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 5 VwGO. Keiner dieser Zulassungsgründe ist gegeben.</p> <span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">I. Das Antragsvorbringen weckt zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Hinsichtlich dieses Zulassungsgrundes bedarf es einer auf schlüssige Gegenargumente gestützten Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts. Dabei ist innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in substantiierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn das Gericht schon auf Grund des Antragsvorbringens in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen.</p> <span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung nicht dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Entlassungsverfügung vom 13.5.2019 in Gestalt des Bescheides vom 29.7.2019 sei formell und materiell rechtmäßig. In formeller Hinsicht habe insbesondere der Personalrat bei der Ergänzung des Bescheides um den Tatbestand der §§ 21 Nr. 1, 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG i. V. m. § 28 Abs. 2 LBG NRW nicht mitwirken müssen, da das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen mit Schreiben vom 6.1.2017 die Einigungsstelle angerufen habe und mit dem Einigungsstellenverfahren das Mitbestimmungsverfahren beendet worden sei (vgl. § 66 Abs. 7 Satz 1 Buchst. a) Alt. 1 LPVG NRW). Materiell-rechtliche Bedenken bestünden ebenfalls nicht. Die ausgesprochene Entlassung habe sowohl auf § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG als auch auf § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BeamtStG gestützt werden können. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG könnten Beamte und Beamtinnen</p> <span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p> <span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">auf Probe entlassen werden, wenn sie eine Handlung begehen, die im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit mindestens eine Kürzung der Dienstbezüge zur Folge hätte. Diese Voraussetzungen lägen vor. Die Klägerin habe durch ihr Verhalten gegen ihre in § 34 Satz 3 BeamtStG festgeschriebene Wohlverhaltenspflicht verstoßen. Danach müsse ihr Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordere. Lehrer seien dazu berufen, bei der Erfüllung des umfassenden Bildungsauftrags der Schule mitzuwirken. Sie bedürften in besonderem Maße des uneingeschränkten Vertrauens sowohl des Dienstherrn als auch der Eltern. Eltern und Öffentlichkeit müssten darauf vertrauen können, dass ein Lehrer seine minderjährigen Schüler nicht in Situationen bringe, die es als fraglich erscheinen ließen, dass er die psychische und physische Integrität, die Intimsphäre sowie die sexuelle Selbstbestimmung der Schüler in der gebotenen Weise respektiere. Es sei jedes Verhalten zu unterlassen, das - ungeachtet zulässiger Hilfsbereitschaft und schulischer Zuwendung - den berechtigten Verdacht entsprechender Grenzüberschreitungen begründe. Die so beschriebene Grenze sei überschritten, weit bevor (strafrechtlich erhebliche) sexuelle Übergriffe oder gar sexueller Missbrauch zur Diskussion stünden. Minderjährige Schüler würden durch Lehrer als ihre Vorbilder - auch psychisch - beeinflusst. Damit dies ausschließlich auf dem dafür wie oben beschrieben vorgesehenen Boden geschehe, müssten partnerschaftlich-freundschaftliche ebenso wie erst recht Liebesbeziehungen zwischen Lehrerinnen oder Lehrern auf der einen und Schülerinnen oder Schülern auf der anderen Seite unterbleiben. Körperliche Distanz habe das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern selbst dann zu prägen, wenn der Schüler mit deren Aufgabe vordergründig einverstanden sei. Dies habe die Klägerin missachtet, indem sie die gebotene körperliche und vor allem die erforderliche psychische Distanz gegenüber dem Schüler I.       habe vermissen lassen. Dies sei auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei der O.     ‑schule um eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ handele und der Schüler einen entsprechenden Förderbedarf aufweise, mit den Anforderungen an die Wohlverhaltenspflicht unvereinbar. Es liege auch ein innerdienstliches Dienstvergehen vor. Der Ursachenzusammenhang folge aus der Stellung der Klägerin gegenüber dem Schüler als Lehrerin der Schule. Dabei spiele es keine Rolle, dass die Klägerin den Schüler nicht unterrichtet habe. Die Klägerin habe hinsichtlich der ihr vorzuwerfenden Dienstpflichtverletzung auch vorsätzlich und schuldhaft gehandelt. Soweit sie bereits im Verwaltungsverfahren ärztliche Atteste eingereicht habe, ergebe sich aus diesen keine Einschränkung der Schuldfähigkeit während des in Rede stehenden Zeitraums. Die von der Klägerin begangenen Pflichtverletzungen wären auch unter der konkreten Berücksichtigung des Einzelfalls und ihrer konkreten Situation disziplinarrechtlich mindestens mit einer Kürzung der Dienstbezüge zu ahnden gewesen, wenn die Klägerin Beamtin auf Lebenszeit wäre. Die Auszüge aus der WhatsApp-Kommunikation zwischen ihr und dem Schüler verdeutlichten anschaulich, dass die Klägerin ihm eine private Beziehung suggeriert, ihn für ihre Gesundheit verantwortlich gemacht und ihn psychisch erheblich unter Druck gesetzt habe. Dieses Verhalten sei auch nicht nur für einen unerheblichen Zeitraum erfolgt. Die Klägerin habe ausweislich des Verwaltungsvorgangs dem Schüler jedenfalls von Mitte Oktober 2014 bis Anfang Dezember 2014 und Ende April 2015 bis Mitte Juni 2015 zahlreiche Textnachrichten geschrieben. Ein solches Verhalten stelle bei einem Lehrer ein außerordentlich schweres Versagen im Kernbereich seiner dienstlichen Pflichten dar. Der Beklagte habe auch das ihm nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Die Entlassung habe ferner auf § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BeamtStG gestützt werden können. Danach könnten Beamte auf Probe entlassen werden, wenn sie sich in der Probezeit nicht bewährt haben. Der Beklagte sei aufgrund des festgestellten Sachverhalts rechtsfehlerfrei von der mangelnden Bewährung der Klägerin ausgegangen. Soweit die Nichtbewährung - wie hier - nach der rechtsfehlerfreien Einschätzung des Beklagten endgültig feststehe, komme eine Verlängerung der Probezeit nicht in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das gegen diese näher erläuterten Feststellungen gerichtete Zulassungsvorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.</p> <span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1. Ohne Erfolg wendet die Klägerin ein, die Entlassungsverfügung leide bereits an formellen Mängeln, da der Personalrat hinsichtlich des Entlassungsgrundes nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG nicht ordnungsgemäß beteiligt worden sei.</p> <span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Insoweit lässt sie bereits außer Acht, dass dem Hauptpersonalrat entgegen ihrem Vorbringen die Absicht, die Entlassung auch auf § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG zu stützen, unter dem 6.1.2017 zur Kenntnis gebracht worden ist. Im Übrigen stellt der - der Personalvertretung unstreitig zur Kenntnis gegebene - der Verfügung vom 13.5.2019 zugrunde gelegte Entlassungsgrund nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BeamtStG, worauf noch einzugehen sein wird, schon eine für sich genommen tragfähige Grundlage für die Entlassung dar. Darüber hinaus hat die Klägerin nicht dargelegt, inwieweit sie durch die unterbliebene nochmalige Beteiligung des Personalrats in ihren Rechten verletzt sein soll. Denn wenn der Personalrat auch im Hinblick auf die Erweiterung der Entlassungsverfügung um den in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG geregelten Grund beteiligt worden wäre, hätte dieser entweder der Entlassung gestützt auf diesen Grund unmittelbar zugestimmt - was der Klägerin erkennbar keinen schützenswerten Vorteil verschafft hätte - oder seine Zustimmung verweigert. In letzterem Fall wäre sodann - wie es im Streitfall bereits 2016 erfolgt war -, das Stufen- bzw. Einigungsstellenverfahren eingeleitet worden, als dessen Ergebnis schließlich unter dem 26.3.2019 die Zustimmung des Hauptpersonalrats von der Landesregierung ersetzt worden ist (§§ 68 Satz 1 Nr. 1, 66 Abs. 7 Satz 3, 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 LPVG NRW). Es ist nicht anzunehmen, dass das Ergebnis dabei anders ausgefallen wäre als geschehen, da Gegenstand des im Januar 2017 eingeleiteten Einigungsstellenverfahrens von Anfang an die Entlassungsverfügung in ihrer beabsichtigten Erweiterung war. Mit alldem setzt sich der Zulassungsantrag nicht auseinander.</p> <span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">2. Es bestehen angesichts des Zulassungsvorbringens auch keine Bedenken gegen die materielle Rechtmäßigkeit der Entlassungsverfügung.</p> <span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">a) Die Klägerin trägt vor, die Entlassungsverfügung könne nicht auf § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG gestützt werden. Das Verwaltungsgericht habe bei seiner gegenteiligen Annahme insbesondere bei der Frage des Vorsatzes sowie der Angemessenheit der angenommenen Disziplinarmaßnahme die Dimension ihres Verhaltens nicht berücksichtigt. Überdies stelle sich die Entlassung als ermessensfehlerhaft dar.</p> <span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">(1) Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin wissentlich und willentlich und damit vorsätzlich die ihr als Lehrerin gebotene Distanz zu dem Schüler I.       über mehrere Monate nicht eingehalten hat. Die Klägerin selbst hat im Verwaltungsverfahren vorgetragen, dass sie bereits über mehrjährige pädagogische Erfahrung verfüge, sich der Sensibilität von Distanzunterschreitungen zu Schülern bewusst sei und daher penibel darauf geachtet habe, im Sommer keine Röcke und im Schwimmunterricht eine Hose über dem Badeanzug zu tragen sowie Körperkontakt bei körpernahen Fördersituationen nur in einem angemessenen Umfang zuzulassen. Überdies sei sie mit Schülern nie über Facebook befreundet gewesen. Darüber hinaus habe sie in anderen Situationen, in denen Schüler sich in sie verliebt hätten, die Handhabung mit Kollegen besprochen und sich jeweils richtig verhalten. Dementsprechend war sie sich der aus dem Distanzgebot folgenden Maßgaben bewusst und hat dennoch im Umgang mit I.       die gebotene Distanz nicht gewahrt. Das zeigt beispielsweise auch ihre WhatsApp-Nachricht vom 3.12.2014 um 19:53 Uhr:</p> <span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">„Richtige Freunde das geht halt leider nicht wegen Schüler Lehrer und verliebt sein und so Aber ich sehe dich nicht nur als Schüler Kompliziert halt“.</p> <span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin war ferner bewusst, dass sie sich bereits durch den intensiven Kontakt zu dem Schüler über WhatsApp pflichtwidrig verhalten hat. So hat sie den Schüler in einer WhatsApp Nachricht etwa darauf hingewiesen, er solle diese seinem Psychologen gegenüber, dem I.       bereits von dem sechs Monate zuvor stattgefundenen Kuss berichtet hatte, nicht erwähnen.</p> <span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">(2) Ebenfalls ohne Erfolg wendet sich die Klägerin gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, das festgestellte pflichtwidrige Verhalten wäre bei einer Lebenszeitbeamtin mindestens mit einer Kürzung der Dienstbezüge disziplinarisch geahndet worden.</p> <span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit einer Bezügekürzung werden Dienstvergehen mittlerer bis schwerer Art geahndet. Diese Maßnahme kommt bei einer Vielzahl unterschiedlicher Pflichtenverstöße oberhalb der Bagatellvergehen in Betracht und setzt eine greifbare Vertrauensbeeinträchtigung i. S. v. § 13 Abs. 1 Satz 4 LDG NRW voraus.</p> <span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. Urban in: Urban/Wittkowski, BDG, 2. Aufl. 2017, § 8 Rn. 2; Herrmann in: Herrmann/Sandkuhl, Beamtendisziplinarrecht, Beamtenstrafrecht, 2. Aufl. 2021, Teil II. Rn. 132.</p> <span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Eine solche Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn hat das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die nachhaltige und schwerwiegende Verletzung von zudem leicht einsehbaren Kernpflichten einer Lehrkraft angenommen. Dass es sich um ein außerordentlich schweres Versagen handelt, hat es mit dem nicht unerheblichen mehrmonatigen Zeitraum, in dem die Klägerin dem Schüler zahlreiche Textnachrichten geschrieben hat, und dem Inhalt dieser Nachrichten, mit dem sie den - wie sie selbst betont - ohnehin labilen Schüler zum Teil psychisch erheblich unter Druck gesetzt hat, begründet. Da dieses Verhalten der Pflicht eines Lehrers im Rahmen des Bildungsauftrags der Schule, die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu fördern und zu schützen, diametral zuwiderlaufe, ziehe das Fehlverhalten der Klägerin eine schwerwiegende Vertrauensbeeinträchtigung nach sich.</p> <span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die von der Klägerin hiergegen gerichteten Einwände, die ihr pflichtwidriges Verhalten in einem milderen Licht erscheinen lassen sollen, ziehen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Zweifel. Ihr Vorbringen entspricht zum Teil bereits nicht den Tatsachen und bietet im Übrigen keine Anhaltspunkte dafür, dass trotz der als schwerwiegend - und eben nicht nur greifbar - angesehenen Vertrauensbeeinträchtigung bei einer Lebenszeitbeamtin eine mildere Maßnahme als mindestens eine Gehaltskürzung in Betracht gekommen wäre.</p> <span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe außer Acht gelassen, dass nicht sie sich dem Schüler genähert habe, sondern dieser sie angesprochen habe, um Mitglied in dem Verein zu werden, dem sie angehöre, greift nicht durch. Die Klägerin verkennt insoweit, dass ihr nicht zum Vorwurf gemacht wird, (lediglich) Kontakt zu einem Schüler in einem privaten Umfeld, wie dem Spielmannszug, gehabt zu haben. Das Dienstvergehen, das ihr zur Last gelegt wird und zur Entlassung geführt hat, geht darüber vielmehr deutlich hinaus. Die Klägerin hat die notwendige körperliche und insbesondere emotionale und psychische Distanz im Umgang mit dem Schüler I.    , der sonderpädagogischen Förderbedarf aufweist, über einen nicht unerheblichen Zeitraum vermissen lassen. Die vorwerfbare Distanzunterschreitung wird auch aus ihrer eigenen Darstellung und insbesondere der jedenfalls auszugsweise vorliegenden Korrespondenz zwischen ihr und dem Schüler über das soziale Medium WhatsApp deutlich. Danach hatte sie gerade nicht nur (flüchtigen), wie sie vorträgt, im Vereinsleben nur schwer vermeidbaren Kontakt zu dem auch nach ihrer Darstellung psychisch labilen Schüler, sondern hat diesem eine große Zahl privater Nachrichten geschrieben, mit denen sie ihm eine mindestens enge freundschaftliche Beziehung suggeriert, ihn mit ihren eigenen Problemen und Befindlichkeiten bedrängt und ihn psychisch etwa durch das Erzeugen von Schuldgefühlen und das Aufbürden von Verantwortung für ihr Wohlergehen erheblich unter Druck gesetzt hat. Gerade auch im Hinblick auf die Intensität der Distanzverletzung im Rahmen einer Vielzahl von WhatsApp-Kontakten, die sie zum Teil mitten in der Nacht an den Schüler geschickt hat mit der erklärten Erwartung, dass er ihr direkt antworten werde, ist das Verwaltungsgericht zutreffend von einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn durch das Fehlverhalten der Klägerin ausgegangen.</p> <span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Ihr weiteres Vorbringen, eine freundschaftliche Beziehung zu den Mitgliedern in einem Verein lasse sich nicht verhindern und die Schulleiterin, die Kenntnis von der gemeinsamen Aktivität in dem Spielmannszug gehabt habe, habe sie dennoch nicht ausreichend darüber informiert, dass freundschaftlich-partnerschaftliche Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler „tabu“ seien, lässt vor diesem Hintergrund ihr Verhalten nicht in einem milderen Licht erscheinen. Auf eine mangelnde Beratung und Hilfestellung seitens der Schulleitung sowie ihre Unerfahrenheit kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. Mit diesem Einwand setzt sie sich vielmehr zu ihren bereits erwähnten eigenen Darstellungen betreffend ihrer schon zur Tatzeit mehrjährigen pädagogischen Erfahrung in Widerspruch, wonach sie sich der Sensibilität von Distanzunterschreitungen zu Schülern durchaus bewusst gewesen sei. Aufgrund der von ihr selbst angeführten Vorfälle war ihr auch bekannt, dass Kollegen und die Schulleitung diesbezüglich in sensiblen Fällen Hilfestellungen bieten. Dennoch hat sie in Bezug auf den Umgang mit I.       Beratung nicht in Anspruch genommen. Abgesehen von alldem musste es der Klägerin - insbesondere nach dem Durchlaufen des Referendariats - auch ohne explizite dahingehende Hinweise, Belehrungen oder Hilfestellungen bekannt sein, dass der von ihr praktizierte intensive private Kontakt mit einem Schüler, den sie ihren eigenen Angaben nach bereits geraume Zeit vorher zu dem Geständnis veranlasst hatte, in sie verliebt zu sein, ein nicht tolerables und disziplinarwürdiges Verhalten darstellt. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Monitum der Klägerin, sie habe sich durch das Verhalten der Schulleiterin bestärkt gefühlt, die die Annäherung des Schülers mitbekommen und unterstützt habe. Die Qualität der insoweit in Absprache mit der Schulleiterin erfolgten Kontakte weichen allerdings ersichtlich deutlich von denen ab, die die Klägerin mit dem Schüler im Übrigen unterhalten hat. Denn die Klägerin hat sich mit der Schulleiterin lediglich darüber ausgetauscht, ob ein privater Flötenunterricht sowie die Begleitung I.        zu einer Klinik Bedenken begegnet. Der schließlich über längere Zeit aufrechterhaltene Kontakt der oben erwähnten Qualität geht über dergleichen jedoch deutlich hinaus. Der Umstand, dass die Klägerin einerseits eine Vorsprache bei der Schulleiterin darüber für angezeigt gehalten hat, ob privater Flötenunterricht sowie die Begleitung des Schülers zu einer Klinik unbedenklich sei, die Beratung andererseits aber nicht mehr in Anspruch genommen hat, nachdem sich die Kontakte zu dem Schüler deutlich intensiviert hatten, macht vielmehr deutlich, dass sie sich über die Sensibilität und Problematik entsprechender Kontakte und der damit einhergehenden erheblichen Distanzunterschreitung durchaus im Klaren war.</p> <span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin dringt auch nicht mit dem Einwand durch, zu ihrer Entlastung sei zu berücksichtigen, dass ein Kontaktabbruch ihr aufgrund der befürchteten latenten Suizidalität von I.       nicht möglich gewesen sei. Im Gegenteil kann dessen besonderer Förderbedarf sowie psychische Labilität, wie bereits vom beklagten Land angenommen, für die Bewertung des Dienstvergehens erschwerend herangezogen werden, da der Klägerin als Sonderpädagogin insoweit eine besondere Verantwortung zukommt, die sie missachtet hat.</p> <span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel an der angegriffenen Entscheidung begründet auch nicht der Vortrag der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass sie die Beziehung beendet habe und der Schüler zum Zeitpunkt des Versendens der vom Verwaltungsgericht zitierten Nachrichten (Mai 2015) bereits 17 ½ Jahre gewesen sei. Die Klägerin lässt hierbei bereits unerwähnt, dass der intensive Austausch mit dem Schüler über WhatsApp auch nach ihrer Darstellung bereits im März 2014 begonnen hat und auch die im Jahr 2014 von ihr versandten Nachrichten zum Teil deutlich grenzüberschreitenden Charakter hatten (Beispiele: 13.10.2014, 23.13 Uhr: „Du bist mir richtig richtig wichtig! Ich brauche dich weil mich nur sehr wenige Menschen gern haben“; 01:12 Uhr: „Ich fühle mich so schrecklich einsam gerade. Warum liest du denn nichts mehr hier??“). Auch fand der Kuss bereits im April 2014 statt, als der Schüler erst 16 Jahre alt war.</p> <span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig trifft die Schilderung der Klägerin zu, ihr sei unter Zuhilfenahme des schulpsychologischen Dienstes die Beendigung des Kontakts bzw. die Wiederherstellung der notwendigen Distanz zu I.       gelungen. Vielmehr ergibt sich aus ihrer chronologischen Darstellung der Geschehnisse, dass der I.       behandelnde Psychologe im September 2014 an sie herangetreten ist, um mit ihr über den Kuss zu sprechen, den I.       diesem gegenüber offenbart hatte. Daraufhin hat die Klägerin zwar nach erstmaligen Leugnen den Kuss zugegeben, den distanzunterschreitenden Kontakt über WhatsApp hingegen nicht offengelegt, sondern sogar fortgesetzt und den Schüler, wie dargestellt, in diesem Zusammenhang gebeten, diesen nicht seinem Psychologen gegenüber zu erwähnen. Eine ernsthafte Hilfestellung seitens des Psychologen war angesichts mangelnder Offenlegung der Beziehung daher weder möglich noch von der Klägerin ernsthaft forciert. Insofern kann sie sich auch nicht darauf berufen, der Psychologe habe ebenfalls die Bedeutung der Mitgliedschaft im Spielmannszug sowie der stattfindenden Proben für I.       betont, wodurch ihr ein Kontaktabbruch erschwert worden sei. Dass der Psychologe bei Kenntnis der hochgradig unangemessenen Nachrichten der Klägerin, mit denen sie auf den Schüler erheblichen psychischen Druck ausgeübt hat, eine abweichende Empfehlung abgegeben hätte, liegt auf der Hand.</p> <span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Nach alledem begründen die von der Klägerin genannten Umstände keine Zweifel daran, dass das beklagte Land in nicht zu beanstandender Weise aufgrund der Dauer und der Qualität der Distanzunterschreitung ein schweres Dienstvergehen angenommen hat, das bei einer Lebenszeitbeamtin mindestens mit einer Gehaltskürzung zu ahnden gewesen wäre. Dass es, wie die Klägerin aufzuzeigen versucht, noch schwerwiegendere Verfehlungen hätte geben können, ändert daran nichts.</p> <span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Gegen die vom Verwaltungsgericht bestätigte Annahme des beklagten Landes, es liege ein innerdienstliches Dienstvergehen vor, bestehen ebenfalls keine durchgreifenden Bedenken.</p> <span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Unterscheidung zwischen inner- und außerdienstlichen Verfehlungen richtet sich nicht nur nach der formalen Dienstbezogenheit, d. h. der engen räumlichen und zeitlichen Beziehung des Verhaltens zur Dienstausübung. Vielmehr kommt es in erster Linie auf die materielle Dienstbezogenheit an. Entscheidend für die rechtliche Einordnung eines Verhaltens als innerdienstliche Pflichtverletzung ist dessen kausale und logische Einbindung in ein Amt und die damit verbundene dienstliche Tätigkeit.</p> <span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 10.12.2015 - 2 C 6.14 -, BVerwGE 154, 10 = juris Rn. 11 und vom 20.2.2001 - 1 D 55.99 -, BVerwGE 114, 37 = juris Rn. 57 sowie Beschluss vom 24.10.2006 - 1 DB 6.06 -, juris Rn. 19.</p> <span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Diese Einbindung in das Amt als Lehrerin ist hinsichtlich der Verfehlungen gegeben, die sich die Klägerin hat zuschulden kommen lassen, auch wenn sie sich vornehmlich weder während der Schulstunden noch im Schulgebäude zugetragen haben. Denn das Näheverhältnis des Schülers zu der Klägerin, das dazu führte, dass es außerhalb der Schule zu verschiedenen Kontakten kam, beruhte allein auf ihrer Tätigkeit an der von ihm besuchten Schule. Insbesondere haben sich die Klägerin und I.       nicht in dem Verein kennengelernt, wie sie mit dem Zulassungsantrag aber suggerieren will. Vielmehr ist er diesem erst mit der Unterstützung der Klägerin, die er durch deren Tätigkeit an der O.      –schule kannte, beigetreten. Daher fügt sich, dass die Klägerin die Frage, ob sie dem Schüler Flötenunterricht erteilen sollte, mit der Schulleiterin besprochen hat und die ersten Kontakte zwecks Flötenunterrichts in den Räumlichkeiten der Schule stattfanden. Auch hat das besondere Engagement für den betreffenden Schüler in Form des ehrenamtlichen Musikunterrichts und der Integration in den Spielmannszug Eingang in ihre dienstliche Beurteilung vom 4.4.2014 gefunden. Der Hinweis der Klägerin, sie habe den betroffenen Schüler nicht unterrichtet, rechtfertigt danach keine andere Bewertung. Die Klägerin räumt selbst ein, dass ein schulischer Kontakt im Rahmen von Vertretungsunterricht nicht ausgeschlossen gewesen sei und bei der Musik-AG bzw. den Chor-Stunden auch tatsächlich stattgefunden hat. Insbesondere bei letzteren hat die Klägerin selbst geschildert, dass sie aufgrund der von ihr zu verantwortenden Distanzunterschreitungen Schwierigkeiten im Umgang mit I.       hatte. Für einen innerdienstlichen Charakter ihres Verhaltens spricht im Übrigen, dass sie sich in ihren WhatsApp-Nachrichten an den Schüler sowohl über ihre eigenen Schüler (vgl. die angeblich ironisch gemeinte Nachricht vom 22.4.2015: „Übrigens der Schüler, der diesmal in mich verknallt ist den mag ich voll. Und mit dem hab ich schon ganz oft gekuschelt und so. Der hat mir auch schon an den A… gepackt. Ach ja und der kennt mich im Bikini und ich glaube sogar auch nackt, Es ist X.     aus meiner Klasse […]“) als auch über Kollegen geäußert hat. So hat sie ihm beispielsweise am 2.12.2014 ausführlich von einem Disput mit einer Kollegin berichtet („Und Frau L.      ist heute Morgen wieder ausgetickt. Völlig taktlos die Frau…, Ich war fast am Heulen“, „War nachher bei T.     die stand nämlich dabei und hat das auch nicht fassen können. Habe T.     mal gehörig meine Meinung gesagt, dass ich da so keinen Bock mehr drauf habe. […]“, „[W]enn das mit Frau L.      so weiter geht dann suche ich mir irgendwann was anderes. Da habe ich keine Böcke mehr drauf. Mit meiner Examensnote nimmt mich jede Schule mit Kusshand.“). Eine materielle Dienstbezogenheit hat die Klägerin ausweislich der bereits zitierten sowie der nachfolgend dargestellten Nachrichten an den Schüler im Übrigen auch selbst erkannt:</p> <span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Nachrichten vom 3.12.2014,</p> <span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">19:52 Uhr: „In meinem Kopf bleibt halt immer Schüler Lehrer Weil das auch ein Teil von uns ist“</p> <span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">19:54 Uhr: „Also wenn Schüler Lehrer und verliebt sein nicht wäre Dann würde ich es genauso sehen So ist es halt kompliziert Aber wichtig ist doch was ich fühle Und meine Gefühl sagt mir das ich dich sehr gerne habe.“</p> <span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich ferner nicht, dass bei einer von der Klägerin geforderten Einordnung des Dienstvergehens als außerdienstlich von einer milderen Maßnahme auszugehen gewesen wäre als von einer Gehaltskürzung. Die aufgeführten Zusammenhänge würden bei Annahme eines außerdienstlichen Fehlverhaltens jedenfalls einen besonders stark ausgeprägten Dienstbezug in dem Sinne begründen, dass ihr Fehlverhalten in erheblichem Umfang Rückschlüsse auf die Dienstausübung im Amt zulässt und die Klägerin in ihrer Dienstausübung beeinträchtigt.</p> <span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.8.2010 - 2 C 5.10 -, NVwZ 2011, 303 = juris Rn. 15.</p> <span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund würden sich auch bei einer Qualifikation des Vergehens als außerdienstlich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass bei einer Lebenszeitbeamtin eine mildere Maßnahme als eine Gehaltskürzung zu verhängen wäre. Gegenteiliges hat die Klägerin nicht dargelegt.</p> <span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">(3) Nach alledem sind entgegen dem Vorbringen der Klägerin auch keine Ermessensfehler im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO ersichtlich. Insbesondere hat das beklagte Land seiner Entscheidung den wesentlichen Sachverhalt zugrunde gelegt.</p> <span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">b) Die Einwände der Klägerin gegen die Annahme des beklagten Landes, sie sei außerdem mangels Bewährung in der Probezeit gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BeamtStG zu entlassen, greifen ebenfalls nicht durch.</p> <span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BeamtStG kann ein Beamter entlassen werden, wenn er sich in der Probezeit nicht bewährt hat. Die Beurteilung, ob sich der Beamte auf Probe bewährt hat, besteht in der prognostischen Einschätzung, ob er den Anforderungen, die mit der Wahrnehmung der Ämter seiner Laufbahn verbunden sind, voraussichtlich gerecht wird. Mangelnde Bewährung liegt bereits dann vor, wenn begründete Zweifel bestehen, dass der Beamte diese Anforderungen erfüllen kann. Die Prognoseentscheidung ist gerichtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Begriff der mangelnden Bewährung und die gesetzlichen Grenzen des dem Dienstherrn zukommenden Beurteilungsspielraums verkannt worden sind, ob der Beurteilung ein unrichtiger Sachverhalt zugrunde liegt und ob allgemeine Wertmaßstäbe beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt worden sind.</p> <span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Es hält der Rechtskontrolle stand, dass das beklagte Land aufgrund des von der Klägerin gezeigten Verhaltens - insbesondere unter Berücksichtigung des besonderen Förderbedarfs des Schülers und dessen psychischer Labilität, die auch die Klägerin wiederholt anführt - Zweifel an ihrer charakterlichen Eignung angenommen hat. Die Klägerin rügt wiederum ohne Erfolg, das beklagte Land habe nicht den gesamten Sachverhalt gewürdigt, weil es sich nicht mit der Dimension ihres Verhaltens befasst habe. Auch insoweit greifen ihre Ausführungen zu ihrer Unerfahrenheit und der mangelnden Anleitung durch die Schulleiterin aus den bereits dargelegten Gründen nicht durch. Vielmehr bestätigt es das Bestehen der charakterlichen Eignungsmängel, wenn die Klägerin meint, es bedürfe der Hinweise seitens einer Schulleitung darauf, dass eine solche persönliche Beziehung zu einem Schüler, wie sie sie geführt hat, zu unterbleiben habe. Überdies ist dem bisherigen Vorbringen der Klägerin zu entnehmen, dass die Schulleiterin ihr, wie dargestellt, bei ihren entsprechenden Rückfragen zum Umgang mit dem betroffenen Schüler in Bezug auf den Flötenunterricht und Begleitung zu einer Klinik durchaus zur Seite gestanden hat.</p> <span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Steht damit die mangelnde Bewährung eines Beamten auf Probe fest, besteht für den Dienstherrn auch im Rahmen der „Kann-Regelung“ des § 23 Abs. 3 BeamtStG kein Handlungsermessen mehr, weil nach § 10 Satz 1 BeamtStG nur der Beamte, der sich in der Probezeit bewährt hat, in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit übernommen werden darf. Danach kam, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, eine Verlängerung der Probezeit nicht in Betracht.</p> <span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">II. Schließlich verfängt auch die Verfahrensrüge der Klägerin (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) nicht.</p> <span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat nicht gegen den Überzeugungsgrundsatz verstoßen. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gericht ist hiernach verpflichtet, seiner Überzeugungsbildung den im Verfahren festgestellten entscheidungserheblichen Sachverhalt vollständig und richtig zugrunde zu legen. Die Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind jedoch dem materiellen Recht zuzuordnen und können daher einen Verfahrensmangel regelmäßig nicht begründen. Ein solcher Mangel kann allenfalls ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn die Tatsachen- oder Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet.</p> <span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29.5.2012 - 10 B 15.12 -, juris Rn. 6, und vom 23.9.2011 - 1 B 19.11 -, juris Rn. 4.</p> <span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen unter Ziffer I. zeigen, dass die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts keine derartigen Mängel aufweist. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht die in dem klagebegründenden Schriftsatz vom 4.10.2019 gegen die Entlassungsverfügung erhobenen Einwände, die im Wesentlichen diejenigen darstellen bzw. vertiefen, die die Klägerin bereits im Verwaltungsverfahren vorgebracht hat und daher bereits Eingang in die streitgegenständlichen Verfügungen, insbesondere in die Verfügung vom 13.5.2019 gefunden haben, ausweislich der Ausführungen im Tatbestand zur Kenntnis genommen und diese in seine Würdigung einbezogen. Aus dem Umstand, dass die Klägerin diese Würdigung für unrichtig hält, ergibt sich kein Verfahrensverstoß.</p> <span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 GKG.</p> <span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
346,741
olgbs-2022-09-21-1-wf-11222
{ "id": 602, "name": "Oberlandesgericht Braunschweig", "slug": "olgbs", "city": null, "state": 11, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
1 WF 112/22
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-09-29T10:01:09"
"2022-10-17T11:10:37"
Beschluss
<div id="dokument" class="documentscroll"> <a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div> <h4 class="doc">Tenor</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Helmstedt vom 20.04.2022 dahingehend abgeändert, dass die vom Antragsteller zu zahlenden Raten auf die Verfahrenskosten auf monatlich 233,00 € festgesetzt werden. Im Übrigen wird der Beschwerde nicht abgeholfen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:54pt">Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p></dd> </dl> </div></div> <h4 class="doc">Gründe</h4> <div><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong> I.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Mit seiner Beschwerde wendet sich der Antragsteller gegen die Höhe der festgesetzten Ratenzahlungen in dem Verfahrenskostenhilfe bewilligenden Beschluss vom 20.04.2022.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Das Amtsgericht ist von einem Monatsnettoeinkommen des Antragstellers i.H.v. 2.815,34 € ausgegangen, von dem es Fahrtkosten i.H.v. 78,00 €, hälftige Wohnkosten i.H.v. 532,50 €, Versicherungsbeiträge i.H.v. 45,11 €, Kindesunterhalt für seine bei deren Mutter lebenden Töchter M. und T. i.H.v. zusammen 761,00 € sowie Freibeträge i.H.v. 223,00 € und 491,00 € in Abzug gebracht hat und so zu einer Ratenzahlungsanordnung i.H.v. 384,00 € gelangt ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Gegen den seiner Verfahrensbevollmächtigten am 04.05.2022 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 03.06.2022 sofortige Beschwerde eingelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Er ist der Auffassung, die von ihm gezahlten Wohn- und Wohnnebenkosten in Höhe von insgesamt monatlich 1.065,00 € seien vollumfänglich zu berücksichtigen, da seine Lebensgefährtin, die mit ihren vier und sieben Jahre alten Kindern mit ihm in der gemeinsam angemieteten Wohnung lebe, aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage sei, sich an den Mietkosten zu beteiligen. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass in dem Verfahren 4 F 901/21 VKH2 ebenfalls Monatsraten i.H.v. 384,00 € festgesetzt worden seien.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Akten dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>II.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Die gem. § 113 Abs. 1 FamFG i. V. m. §§ 127 Abs. 2, 567 ff. ZPO zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache dahingehend Erfolg, dass die Ratenhöhe auf den im Tenor genannten Umfang herabzusetzen ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Das der Berechnung der Ratenhöhe gemäß § 115 Abs. 1 ZPO zu Grunde gelegte Monatsnettoeinkommen des Antragstellers von 2.815,34 € wird mit der Beschwerde nicht beanstandet. Hiervon sind unstreitig Fahrtkosten i.H.v. 78,00 €, Versicherungsbeiträge i.H.v. 45,11 € sowie Kindesunterhaltszahlungen i.H.v. insgesamt 761,00 € abzuziehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Als Freibeträge für den Antragsteller sind gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1b und Nr. 2a ZPO die aufgrund der Prozesskostenhilfebekanntmachung 2022 seit dem 01.01.2022 geltenden Beträge zu berücksichtigen, mithin der Grundfreibetrag von 494,00 € sowie der Zusatzfreibetrag für Erwerbstätige in Höhe von 225,00 € (vgl. B. v. 17.12.2021, BGBl. I S. 5239).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Die Kosten für die vom Antragsteller gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und deren Kindern bewohnte Mietwohnung sind nicht nur zur Hälfte, sondern zu einem Anteil von 70 Prozent berücksichtigungsfähig. Leben weitere Personen mit eigenen Einkünften mit im Haushalt eines Verfahrensbeteiligten, erfolgt die Verteilung der Unterkunftskosten zwar in der Regel ungeachtet des Verhältnisses ihrer Einkünfte nach der Anzahl der Personen (vgl. Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 115 Rn. 40; OLG Brandenburg, Beschluss vom 06.02.2019 – 13 WF 17/19 –, juris Rn. 7; OLG Köln, Beschluss vom 15.05.2017 – II-10 WF 60/17, juris Rn. 3). Etwas anderes kommt aber dann in Betracht, wenn der Verdienst einer Person so gering ist, dass eine Beteiligung nach Kopfteilen unbillig erscheint (Zöller/Schultzky, a.a.O.). Eine Beteiligung scheidet dabei regelmäßig dann vollständig aus, wenn das Einkommen einer unterhaltsberechtigten Person unterhalb des für sie zu Gunsten des Antragstellers gem. § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 ZPO geltenden Freibetrags liegt (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 17.02.2003 – 14 WF 22/03, juris Rn. 7).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>In Anlehnung daran erscheint es sachgerecht, unabhängig von einer Unterhaltspflicht der Verfahrenskostenhilfe beantragenden Person grundsätzlich nur diejenigen Mitbewohner an den Wohnkosten zu beteiligten, deren Einkommen über dem für sie einschlägigen Freibetrag liegt. Die Freibeträge im Sinne von § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 ZPO richten sich nach den in der Anlage zu § 28 SGB XII festgelegten, um zehn Prozent erhöhten Regelbedarfssätzen. Diese umfassen nach § 27a Abs. 2 SGB XII den notwendigen Lebensunterhalt (Existenzminimum) einer Person mit Ausnahme der gesondert in den Abschnitten zwei bis vier geregelten Bedarfe, zu denen auch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung zählen. Im Unterschied zu den Kindesunterhaltssätzen der Düsseldorfer Tabelle enthalten somit die Regelbedarfssätze nach SGB XII keinen Wohnkostenanteil, da der Wohnkostenbedarf im vierten Abschnitt des dritten Kapitels des SGB XII gesondert geregelt ist. Dies entspricht auch der Systematik von § 115 Abs. 1 ZPO, nach dessen Nr. 3 die Kosten der Unterkunft und Heizung neben den Freibeträgen nach Nr. 1 und 2 gesondert abzugsfähig sind. Angesichts dessen ist einer um Verfahrenskostenhilfe nachsuchenden Person im Rahmen der Prüfung ihrer Bedürftigkeit in der Regel keine Beteiligung ihrer Mitbewohner an der Deckung der Wohnkosten zuzurechnen, soweit deren Einkommen die für sie einschlägige Freibetragsgrenze nicht übersteigt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Aber auch jenseits dieser Grenze kann ein erheblicher Einkommensunterschied eine Aufteilung im Verhältnis der beiderseitigen Einkünfte rechtfertigen (so bei Nettoeinkünften von 925 € zu 2.569 €: OLG Köln, Beschluss vom 15.05.2017 – II-10 WF 60/17, juris Rn. 4; vgl. auch Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 05.11.2010 – 6 WF 103/10, juris Rn. 3; Groß, Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe/Verfahrenskostenhilfe, 14. Aufl. 2018, § 115 Rn. 56).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Nach diesen Grundsätzen sind die Kosten für die vom Antragsteller, seiner Lebensgefährtin und deren Kindern bewohnte Wohnung in Höhe von insgesamt monatlich 1.065,00 € zu einem Anteil von 70 Prozent dem Antragsteller zuzurechnen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Das aus den vorgelegten Verdienstabrechnungen ersichtliche Monatsnettoeinkommen der Lebensgefährtin des Antragstellers von durchschnittlich 620,00 € liegt weit unterhalb seines eigenen Einkommens von 2.815,34 €, von dem nach Abzug des von ihm für seine Kinder M. und T. zu zahlenden Barunterhalts und der Fahrtkosten noch rund 1.980,00 € für seinen Lebensunterhalt verbleiben. Zwar ist zu dem Erwerbseinkommen der Lebensgefährtin noch der Anteil des Kindesgeldes hinzuzurechnen, der über den zur Deckung der Freibeträge für ihre bei ihr lebenden vier- und siebenjährigen Kinder L. und F. – zusätzlich zu den UVG-Leistungen – benötigten Betrag hinausgeht, so dass sich für sie ein Gesamteinkommen von 815,00 € ergibt. Ihr Anteil an dem gemeinsamen Einkommen beträgt aber dennoch lediglich etwa 30 Prozent. Oberhalb des Freibetrags von 494,00 € stehen ihr nur 321,00 € zur Beteiligung an den Wohnkosten zur Verfügung. Angesichts dessen erscheint eine hälftige Aufteilung der Wohnkosten vorliegend unangemessen. Vielmehr ist eine Verteilung nach dem Verhältnis der zum Haushaltseinkommen beitragenden Nettoeinkünfte vorzunehmen, woraus sich ein berücksichtigungsfähiger Wohnkostenanteil des Antragstellers i.H.v. 746,00 € und ein Anteil seiner Lebensgefährtin i.H.v. 319,00 € errechnet, den sie aus ihrem Einkommen tragen kann.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Auf die im Haushalt lebenden minderjährigen Kinder L. und F. entfällt dabei kein Wohnkostenanteil. Diese verfügen oberhalb des für sie gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2b ZPO im Verhältnis zu ihrer Mutter einschlägigen Freibetrags von 314,00 € bzw. 342,00 € über kein eigenes Einkommen, da der zur Deckung des Freibetrags nicht verbrauchte Kindergeldanteil – wie oben dargelegt – dem Einkommen ihrer Mutter hinzugerechnet wurde und der Freibetrag als solcher keinen Wohnkostenanteil enthält.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Das für die Verfahrenskosten einzusetzende Einkommen des Antragstellers beträgt damit 466,23 €.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Die im Verfahren zum Aktenzeichen 4 F 901/21 VKH 2 vom Amtsgericht Helmstedt festgesetzten Raten auf die Verfahrenskosten sind hiervon nicht abzuziehen, da der Senat über die Höhe der dortigen Raten in dem parallel anhängigen Beschwerdeverfahren zum Aktenzeichen 1 WF 118/22 zu befinden hat. Dort wird die Höhe der im vorliegenden Verfahren festgesetzten Rate als Abzugsposten zu berücksichtigen sein. Eine gleichzeitige Berücksichtigung der dort festgesetzten Raten im hiesigen Verfahren kommt nicht in Betracht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Nach alledem ergibt sich gemäß § 115 Abs. 2 ZPO eine zu zahlende Monatsrate i.H.v. 233,00 €.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p><strong>III.</strong></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt hinsichtlich der Gerichtskosten aus §§ 1, 3 Abs. 2 FamGKG i. V. m. Nr. 1912 KV FamGKG und hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens aus § 113 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> </div></div> </div></div> <a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText"> <p style="margin-top:24px"> </p> <hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;"> <p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE270402022&psml=bsndprod.psml&max=true</p> </div> </div>
346,738
olgmuen-2022-09-21-24-u-297922
{ "id": 277, "name": "Oberlandesgericht München", "slug": "olgmuen", "city": null, "state": 4, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
24 U 2979/22
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-09-28T10:01:30"
"2022-10-17T11:10:37"
Endurteil
<h2>Tenor</h2> <div> <p>1. Die Berufung des Klägers vom 18.05.2022 gegen das Endurteil des LG Kempten (Allgäu) vom 12.05.2022 (Az. 31 O 1173/20) wird zurückgewiesen.</p> <p>2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p> <p>3. Das vorgenannte Urteil des Landgerichts sowie dieses Urteil sind jeweils ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.</p> <p>4. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.</p> <p>5. Die Revision wird nicht zugelassen.</p> <p>6. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 62.431,15 € festgesetzt.</p> </div> <h2>Gründe</h2> <div> <p>A.</p> <p><rd nr="1"/>Der Kläger macht in der Berufungsinstanz gegen die Beklagte noch einen Anspruch auf Verdienstausfallschaden in Höhe von 62.431,15 € geltend. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 12.05.2022 (Bl. 172/185 d.A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).</p> <p><rd nr="2"/>Das LG Kempten hat die Klage auch insoweit abgewiesen, da die insoweit erforderlichen Ausführungen des Klägers bereits nicht ausreichend substantiiert waren. Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird ergänzend auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.</p> <p><rd nr="3"/>Gegen dieses dem Kläger am 13.05.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem beim Oberlandesgericht München am 18.05.2022 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt (Bl. 198 f. d.A.) und diese mit einem beim Oberlandesgericht München am 02.07.2022 eingegangenen Schriftsatz (Bl. 203/209 d.A.) begründet.</p> <p><rd nr="4"/>Der Kläger beantragt,</p> <p>unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 62.431,15 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.10.2019 zu zahlen.</p> <p><rd nr="5"/>Die Beklagte beantragt,</p> <p>die Berufung zurückzuweisen.</p> <p><rd nr="6"/>Mit Beschluss vom 27.06.2022 (Bl. 207 f. d. A.) wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung dem Einzelrichter übertragen.</p> <p><rd nr="7"/>Mit Verfügung vom 04.07.2022 (Bl. 210214 d. A.) und Beschluss vom 19.07.2022 (Bl. 224/226 d. A.) erteilte der Einzelrichter den Parteien Hinweise.</p> <p><rd nr="8"/>Mit Beschluss vom 10.08.2022 wurde die Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 II ZPO angeordnet.</p> <p><rd nr="9"/>Ergänzend wird auf die vorgenannte Berufungsbegründungsschrift, die Berufungserwiderung vom 12.07.2022 (Bl. 220/223 d. A.) sowie auf die weiteren Schriftsätze der Parteien Bezug genommen.</p> <p>B.</p> <p><rd nr="10"/>Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.</p> <p><rd nr="11"/>I. Das Landgericht hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf den geltend gemachten Verdienstausfallschaden verneint, weil ein ausreichend substantiierter Sachvortrag des insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Klägers zum unfallbedingten Verdienstausfall der Insolvenzschuldnerin K. trotz entsprechenden Hinweises mit Verfügung vom 22.10.2020 (vgl. Bl. 54 f. d.A.) fehlt.</p> <p><rd nr="12"/>Der Einzelrichter hält die Ausführungen des Landgerichts für zutreffend. Dem Erstgericht ist kein Fehler bei der Tatsachenfeststellung unterlaufen. Die Klagepartei konnte einen Verdienstausfallschaden nicht überzeugend darstellen, so dass weder die Erholung des seitens der Klagepartei hierzu angebotenen Sachverständigengutachtens mangels ausreichender objektiver Anknüpfungstatsachen angezeigt gewesen noch eine Schätzung eines jährlich entgangenen Verdienstausfallschadens mangels ausreichender Schätzgrundlagen möglich ist (§§ 252 BGB, 287 ZPO).</p> <p><rd nr="13"/>Ergänzend ist noch folgendes auszuführen:</p> <p><rd nr="14"/>1. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH bedarf es bei selbständig Tätigen zur Beantwortung der Frage, ob diese einen Verdienstausfallschaden erlitten haben, der Prüfung, wie sich das von ihnen betriebene Unternehmen ohne den Unfall voraussichtlich entwickelt hätte (BGH, Urteile vom 31.03.1992 - VI ZR 143/91 = VersR 1992, 973; vom 06.07.1993 - VI ZR 228/92 = VersR 1993, 1284 [1285]; vom 10.12.1996 - VI ZR 268/95 = VersR 1997, 453 [454]; vom 03.03.1998 - VI ZR 385/96 = VersR 1998, 772 [773]; vom 06.02.2001 - VI ZR 339/99 = NJW 2001, 1640 [1641]).</p> <p><rd nr="15"/>Ein Verdienstausfall lässt sich bei Selbstständigen und Freiberuflichen i.d.R. nur nach §§ 252 S. 2 BGB, 287 ZPO ermitteln (vgl. KG KGR 2003, 84 f.). Sowohl § 252 S. 2 BGB als auch § 287 ZPO, der auf die Frage der haftungsausfüllenden Kausalität angewandt wird (BGH NJW 1987, 705), gewähren eine Beweiserleichterung gegenüber dem allgemeinen Grundsatz, wonach für die Entstehung des Schadens der volle Beweis erforderlich ist. Nach § 252 S. 2 BGB muss der Geschädigte die Umstände darlegen und ggf. beweisen, aus denen er nach dem gewöhnlichen Verlauf oder nach den besonderen Umständen des Falles seine Gewinnerwartung herleitet. Stehen diese Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts fest, so genügt es, wenn der Gewinn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte (BGHZ 29, 393 [398]; BGH WM 1986, 622 [623]; NZV 2001, 210 [211]), wobei solche Tatsachen, die selbst zum gewöhnlichen Lauf der Dinge gehören, nicht bewiesen zu werden brauchen (BGH NJW 1968, 661 [663]). Welche Tatsachen zum gewöhnlichen Lauf der Dinge gehören und welche Tatsachen so wesentlich sind, dass sie von der Klagepartei dargelegt und ggf. bewiesen werden müssen, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und lässt sich daher nicht ein für alle Mal festlegen (BGHZ 54, 45 [56]). Es dürfen jedoch keine allzu strengen Anforderungen an das gestellt werden, was die Klagepartei vorbringen muss, um das Gericht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zu veranlassen (BGHZ 54, 45 [56]; 100, 50; NJW 2005, 3348 [3349]; Palandt/Heinrichs, BGB, 66. Aufl. 2007, § 252 BGB Rz. 5).</p> <p><rd nr="16"/>Genaue Tatsachen, die zwingend auf das Bestehen und den Umfang eines Schadens schließen lassen, braucht sie nicht anzugeben (BGH VersR 1968, 888), denn §§ 252 S. 2 BGB, 287 ZPO mindern auch die Substantiierungslast (BGH VersR 1968, 888 f.; BAG NJW 1972, 1437 [1438]; KG VersR 2006, 794). An sie dürfen nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie bei anderen Forderungen. Es genügt, wenn die Klagepartei hinreichend Anhaltspunkte für eine Schadensschätzung nach § 287 ZPO liefert (BGH NJW 1988, 3017; 1993, 2673; 1998, 1633 [1635]; 2005, 3348]; KG VersR 2006, 794). Steht fest, dass ein der Höhe nach nicht bestimmbarer, aber erheblicher Schaden entstanden ist, ergibt sich i.d.R. aus den Umständen eine hinreichende Grundlage für die Schätzung eines Mindestschadens (BGH NJW-RR 1996, 1077). Wenn es für das freie Ermessen nicht an allen Unterlagen fehlt, muss das Gericht nötigenfalls nach freiem Ermessen entscheiden, ob ein Schaden entstanden ist und in welcher Höhe. Dabei kann und darf das Gericht auch solche Umstände berücksichtigen, die ihm sonst bekannt geworden sind, ohne dass es einer Verhandlung darüber oder einer etwaigen Befragung der Parteien nach § 139 ZPO bedarf (BGHZ 29, 393 [400]; BGH VersR 1960, 786 [788]).</p> <p><rd nr="17"/>Die erleichterte Schadensberechnung nach § 252 Satz 2 BGB in Verbindung mit § 287 Abs. 1 ZPO lässt aber eine völlig abstrakte Berechnung eines Erwerbsschadens in Form der Schätzung eines „Mindestschadens“ nicht zu (vgl. BGH NJW 2004, 1945; BGHZ 54, 45, 53 ff.; BGH, Urteile vom 22.12.1987 - VI ZR 6/87 = VersR 1988, 466 [467]; vom 15.03.1988 - VI ZR 81/87 = VersR 1988, 837; vom 16.10.1990 - VI ZR 275/89 = VersR 1991, 179; vom 06.07.1993 - VI ZR 228/92 = a.a.O.; vom 17.01.1995 - VI ZR 62/94 = VersR 1995, 422 [424]; vom 24.01.1995 - VI ZR 354/93 = VersR 1995, 469 [470]). § 287 ZPO entbindet nicht vollständig von der grundsätzlichen Beweislastverteilung und erlaubt es nicht, zugunsten des Beweispflichtigen einen bestimmten Schadensverlauf zu bejahen, wenn nach den festgestellten Einzeltatsachen „alles offen“ bleibt oder sich gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil ergibt (so BGH VersR 1970, 924 [927]; Senat, Urt. v. 27.01.2006 - 10 U 4904/05 = NZV 2006, 261 [262]; v. 07.07.2006 - 10 U 2270/06 [Juris]; v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [Juris]; v. 15.09.2006 - 10 U 3622/99 = r+s 2006, 474 = NJW-Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann).</p> <p><rd nr="18"/>2. Unter Beachtung von Vorstehendem ist das Erstgericht zu Recht davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall noch nicht einmal ein Mindestschaden geschätzt werden kann, und hat hierzu rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass allein der Verweis auf die als Anlagenkonvolut K 5 vorgelegten Gewinnnermittlungen, die nicht näher erläutert wurde, für einen substantiierten Sachvortrag nicht ausreichend ist sowie dass deren Richtigkeit nicht verifiziert werden kann (vgl. S. 13 f. des Ersturteils, Bl. 184 f. d.A.).</p> <p><rd nr="19"/>Maßgeblich ist hierbei insbesondere, dass seitens der Klagepartei nicht offengelegt wurde, auf welcher konkreten Datenbasis die vorgelegten Gewinnermittlungen von der T. W. Steuerberater PartGmbH angefertigt wurden. Vielmehr hätte die Klagepartei, wie oben dargestellt und wie seitens des Erstgerichts bereits mit Verfügung vom 22.10.2020 hingewiesen wurde, ausreichend aussagekräftige Unterlagen (insbesondere die Einkommenssteuererklärungen und die Einkommenssteuerbescheide der Insolvenzschuldnerin über den relevanten Zeitraum) vorlegen müssen, die es dem Gericht dann unter Zuhilfenahme eines Sachverständigengutachtens ermöglicht hätten, den klägerischen Schaden - wenn auch nur mindestens - zu schätzen. Der Berufungseinwand, dass die Vorlage von Einkommenssteuererklärungen und -bescheiden der Insolvenzschuldnerin nicht von Nöten sei, da diese auf den Angaben der Erklärenden beruhen und folglich lediglich begrenzte Aussagekraft hätten (vgl. S. 5 des Berufungsbegründungsschriftsatzes vom 20.06.2022, Bl. 207 d.A.) greift nicht durch. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass von der Insolvenzschuldnerin abgegebene Einkommenssteuererklärungen und hierauf ergangene Einkommenssteuerbescheide hinsichtlich der streitgegenständlichen Frage des geltend gemachten unfallbedingten Verdienstausfalls bzw. hinsichtlich eines gemäß § 252 S. 2 BGB iVm. § 287 ZPO zu schätzenden Mindestschadens aussagekräftige Unterlagen wären, insbesondere da die Insolvenschuldnerin (gerade auch als selbständige Steuerberaterin) mit der Abgabe die ggf. auch strafrechtliche Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit der von ihr abgegebenen Steuererklärungen übernommen hätte, so dass von der grundsätzlichen Richtigkeit und Belastbarkeit ihrer Angaben gegenüber der Steuerbehörde auszugehen ist.</p> <p><rd nr="20"/>Zwar führt die Klagepartei in Bezug darauf, dass die seitens des Gerichts angeforderten Steuererklärungen und Steuerbescheide nicht vorgelegt könne, da solche auf Seiten der Klagepartei nicht vorliegen, zutreffend aus, dass eine starre Fixierung der Beweisführung auf die geforderten Einkommensteuererklärungen und -bescheide rechtlich nicht haltbar ist. Denn es ist grundsätzlich zutreffend, dass eine entsprechende Beweisführung im Rahmen des § 287 ZPO auch auf anderem Weg möglich sein kann. Allerdings ist vorliegend eine Beweisführung gestützt auf das Anlagenkonvolut K 5 und das Beweisangebot Erholung eines Sachverständigengutachtens nicht möglich. Wie bereits mit Verfügung vom 04.07.2022 hingewiesen wurde, ist vorliegend das Problem gegeben, dass die Datenbasis, auf deren Grundlage das Anlagenkonvolut K 5 angefertigt wurde und deren Richtigkeit beklagtenseits bereits erstinstanzlich bestritten wurde, nicht nachvollziehbar offengelegt wurde, so dass weder die Belastbarkeit noch die Vollständigkeit des dem Anlagenkonvolut K 5 zugrundeliegenden Datenmaterials nachvollzogen und überprüft werden. Demzufolge kommt auch nicht die Erholung eines Sachverständigengutachtens in Betracht, da dieses lediglich Feststellungen dazu treffen könnte, ob das Anlagenkonvolut K 5 in sich nachvollziehbar und rechnerisch richtig ist. Ein Sachverständigengutachten kann jedoch gerade nicht die relevante Vorfrage klären, ob das dem Anlagenkonvolut K 5 zugrundeliegenden Datenmaterial belastbar und insbesondere vollständig ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Klagepartei selbst ausführt, dass es weder ihr noch der Insolvenzschuldnerin noch deren Betreuer möglich sei, anhand des zur Verfügung stehenden Materials steuerrechtliche Erklärungen rechtsverbindlich zu erklären.</p> <p><rd nr="21"/>Auch greift der Einwand der Berufung, dass diese Gewinnermittlung beispielsweise durch den Verweis auf höhere Telefonkosten der Insolvenzschuldnerin im Nachgang des Unfalls, nachdem diese für Telefonate aus dem Krankenhaus keine Flatrate besessen habe (vgl. S. 4 des Berufungsbegründungsschriftsatzes vom 20.06.2022, Bl. 206 d.A.), näher erläutert worden sei, nicht durch. Denn auch dieser Vortrag ist unsubstantiiert. Weder vorgetragen wurde, wie hoch die Telefonkosten der Insolvenzschuldnerin vor dem Unfall gewesen sind, noch wurde die konkrete Höhe der Telefonkosten während des Krankenhausaufenthaltes dargelegt. Dementsprechend ist diese pauschale Behauptung nicht nachvollziehbar und damit nicht überprüfbar.</p> <p><rd nr="22"/>Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die Behauptung der Klagepartei, dass die Personalkosten unfallbedingt durch die Einstellung einer weiteren Hilfskraft gestiegen seien (vgl. S. 5 f. des Klageschriftsatzes vom 24.06.2020, Bl. 5 f. d.A.), sich nicht den als Anlagenkonvolut K 5 vorgelegten Gewinnermittlungen entnehmen lässt. Zum einen sind die in diesen Gewinnermittlungen dargestellten Personalkosten nicht nachvollziehbar, da insoweit keine einzelpositionsweise Darstellung der Löhne und Gehälter erfolgt. Zum anderen fällt auf, dass entsprechend der Darstellung in diesen Gewinnermittlungen die Personalkosten von 2013 auf 2014 und damit bereits vor dem streitgegenständlichen Unfall deutlich angestiegen sein sollen, was dementsprechend gegen eine Unfallbedingtheit spricht.</p> <p><rd nr="23"/>Schließlich fällt auf, dass in den Gewinnermittlungen verschiedene höhere Privatentnahmen rechnerisch dargestellt sind, die nicht erläutert werden und demzufolge nicht verständlich sind.</p> <p><rd nr="24"/>II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO.</p> <p><rd nr="25"/>III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p> <p><rd nr="26"/>IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.</p> <p><rd nr="27"/>V. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 II 1, 47 I 1, 40, 48 I 1 GKG, 3 ff. ZPO.</p> </div>
346,664
ovgsh-2022-09-21-2-mb-822
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2 MB 8/22
"2022-09-21T00:00:00"
"2022-09-23T10:00:32"
"2022-10-17T11:10:26"
Beschluss
ECLI:DE:OVGSH:2022:0921.2MB8.22.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts -&#8239;12.&#8239;Kammer -vom 5.&#8239;Mai&#8239;2022 ge&#228;ndert:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, die Stelle der Generalstaatsanw&#228;ltin bzw. des Generalstaatsanwalts bei der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein mit der Beigeladenen oder anderweitig endg&#252;ltig zu besetzen, bevor &#252;ber die Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut entschieden worden ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsgegner tr&#228;gt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen. Die Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsf&#228;hig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird f&#252;r das Beschwerdeverfahren auf 29.728,65&#8239;Euro festgesetzt.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gr&#252;nde<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die zul&#228;ssige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 5.&#8239;Mai&#8239;2022 ist begr&#252;ndet. Das fristgerecht eingereichte Beschwerdevorbringen rechtfertigt es nach Ma&#223;gabe des &#167;&#8239;146 Abs.&#8239;4 Satz&#8239;3 und 6&#8239;VwGO, die angefochtene Entscheidung wie begehrt zu &#228;ndern und dem Antrag stattzugeben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Der Senat hat das Passivrubrum nach Anh&#246;rung der Beteiligten von Amts wegen dahin ge&#228;ndert, dass Antragsgegner das Land als Dienstherr des Antragstellers ist, das nach &#167;&#8239;103 Abs.&#8239;1 Satz&#8239;1&#8239;LBG vom bislang im Passivrubrum angef&#252;hrten Ministerium f&#252;r Justiz und Gesundheit als oberster Dienstbeh&#246;rde, der der Antragsteller und die Beigeladene unterstehen, vertreten wird. Ein Fall des &#167;&#8239;78 Abs.&#8239;1 Nr.&#8239;2&#8239;VwGO i.&#8239;V.&#8239;m. &#167;&#8239;69 Abs.&#8239;2 LJG liegt nicht vor. Insbesondere handelt es sich beim Rechtsbehelf in der Hauptsache nicht um eine Verpflichtungsklage, sondern um eine auf Unterlassen gerichtete Leistungsklage (vgl. ausf&#252;hrlich zum Rechtsschutz im Zusammenhang mit beamtenrechtlichen Auswahlentscheidungen Eck, in: Sch&#252;tz/&#8203;Maiwald, Beamtenrecht &#8211; Kommentar, 196. AL, M&#228;rz 2021, 6.1 Rn.&#8239;178&#8239;m.&#8239;w.&#8239;N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>Mit dem angegriffenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers mit der Begr&#252;ndung abgelehnt, die Entscheidung des Antragsgegners zugunsten der Beigeladenen verletze den Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers nicht. Sie sei weder in verfahrensrechtlicher noch in materiell-rechtlicher Hinsicht zu beanstanden. Die Beurteilung der Beigeladenen sei nicht fehlerhaft. Zwar schl&#246;ssen die Beurteilungsrichtlinien aus, dass au&#223;erdienstliche T&#228;tigkeiten Gegenstand der Beurteilung w&#252;rden. Insofern diene die Erw&#228;hnung der au&#223;erdienstlichen T&#228;tigkeiten der Beigeladenen im Rahmen der Fachkenntnisse nur dazu, ihr herausragendes Fachwissen zu veranschaulichen und als Best&#228;tigung ihrer Fachkenntnisse darzustellen; sie w&#252;rden nicht bewertet. Die Beurteilung erfasse auch nicht T&#228;tigkeiten au&#223;erhalb des Beurteilungszeitraums. Insofern werde lediglich aus fr&#252;heren Beurteilungen zitiert, ohne diese Zeitr&#228;ume zu bewerten. Der unterschiedliche Beurteilungszeitraum, der bei der Beigeladenen f&#252;nf Jahre und beim Antragsteller eineinhalb Jahre betrage, begegne keinen Bedenken. Der Antragsgegner habe den Antragsteller und die Beigeladene zu Recht sowohl hinsichtlich des Gesamturteils als auch in Bezug auf die Einzelbewertungen in den dienstlichen Beurteilungen als gleich beurteilt ansehen und daher Auswahlgespr&#228;che als erg&#228;nzende Grundlage f&#252;r die Auswahlentscheidung durchf&#252;hren d&#252;rfen. Die Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten an diesen sowie die Durchf&#252;hrung und Dokumentation der Auswahlgespr&#228;che im &#220;brigen begegne keinen Bedenken. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass die Auswahlkommission ihre Entscheidung, welche Bewerberin bzw. welcher Bewerber am besten geeignet sei, ma&#223;geblich auf zwei Kompetenzbereiche, namentlich &#8222;ausgepr&#228;gte Qualit&#228;ten und Erfahrungen mit organisatorischen Aufgaben und Personalf&#252;hrung&#8220; sowie eine &#8222;herausgehobene juristische und justizpolitische Expertise&#8220;, abgestellt habe.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Das Verwaltungsgericht hat bei seiner &#220;berpr&#252;fung der Auswahlentscheidung des Antragsgegners die sich aus dem Leistungsgrundsatz des Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden Grunds&#228;tze zutreffend zugrunde gelegt. Wenn der Dienstherr ein Amt durch Bef&#246;rderung der Inhaberin oder des Inhabers eines niedrigeren Amtes vergeben will, ist er an den Leistungsgrundsatz nach Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG gebunden. Danach d&#252;rfen &#196;mter nur nach Kriterien vergeben werden, die unmittelbar Eignung, Bef&#228;higung und fachliche Leistung betreffen. Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die dar&#252;ber Aufschluss geben, in welchem Ma&#223;e die Beamtin oder der Beamte den Anforderungen ihres bzw. seines Amtes gen&#252;gt und sich in einem h&#246;heren Amt voraussichtlich bew&#228;hren wird. Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG gilt f&#252;r Bef&#246;rderungen unbeschr&#228;nkt und vorbehaltlos; er enth&#228;lt keine Einschr&#228;nkungen, die die Bedeutung des Leistungsgrundsatzes relativieren. Diese inhaltlichen Anforderungen des Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG f&#252;r die Vergabe h&#246;herwertiger &#196;mter machen eine Bewerberauswahl notwendig. Der Dienstherr muss Bewerbungen von Beamtinnen und Beamten um das h&#246;herwertige Amt zulassen und darf das Amt nur derjenigen Bewerberin oder demjenigen Bewerber verleihen, die bzw. den er aufgrund eines den Vorgaben des Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG entsprechenden Leistungsvergleichs als die am besten geeignete bzw. den am besten geeigneten ausgew&#228;hlt hat. Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG dient dem &#246;ffentlichen Interesse an der bestm&#246;glichen Besetzung der Stellen des &#246;ffentlichen Dienstes. Fachliches Niveau und rechtliche Integrit&#228;t des &#246;ffentlichen Dienstes sollen gerade durch die ungeschm&#228;lerte Anwendung des Leistungsgrundsatzes gew&#228;hrleistet werden. Zudem vermittelt Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG Bewerberinnen und Bewerbern ein grundrechtsgleiches Recht auf leistungsgerechte Einbeziehung in die Bewerberauswahl. Jede Bewerberin und jeder Bewerber um das Amt hat einen Anspruch darauf, dass der Dienstherr ihre bzw. seine Bewerbung nur aus Gr&#252;nden zur&#252;ckweist, die durch den Leistungsgrundsatz gedeckt sind. Der Bewerbungsverfahrensanspruch aus Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG kann durch ganz unterschiedliche Fehler verletzt werden. Ein Versto&#223; gegen Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG kann sich daraus ergeben, dass ein Leistungsvergleich gar nicht m&#246;glich ist, weil es bereits an tragf&#228;higen Erkenntnissen &#252;ber das Leistungsverm&#246;gen, d.&#8239;h. an aussagekr&#228;ftigen dienstlichen Beurteilungen, fehlt. Der eigentliche Leistungsvergleich verletzt Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG, wenn nicht unmittelbar leistungsbezogene Gesichtspunkte in die Auswahlentscheidung einflie&#223;en oder die Leistungsmerkmale fehlerhaft gewichtet werden oder gegen&#252;ber den Bewerberinnen und Bewerbern unter Versto&#223; gegen das Gebot der Chancengleichheit auf unterschiedliche Ma&#223;st&#228;be zur&#252;ckgegriffen wird (stRspr, vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteile vom 4.&#8239;November&#8239;2010 -&#65279;&#8239;2&#8239;C&#8239;16.09 -, juris&#8239;Rn.&#8239;20-21, 24&#8239;m.&#8239;w.&#8239;N., vom 29.&#8239;November&#8239;2012 - 2&#8239;C&#8239;6.11-, juris&#8239;Rn.&#8239;23&#8239;ff., zuletzt vom 7.&#8239;Juli&#8239;2021 -&#8239;2&#8239;C&#8239;2.21 -, juris&#8239;Rn.&#8239;30&#8239;f., sowie Beschluss vom 28.&#8239;Mai&#8239;2021 -&#65279;&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.21 -, juris&#8239;Rn.&#8239;15).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Hiervon ausgehend r&#252;gt der Antragsteller zu Recht, dass eine Verletzung seines aus Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG folgenden Bewerbungsverfahrensanspruchs auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung &#252;ber seine Bewerbung darin zu sehen ist, dass die der Auswahlentscheidung zugrundeliegende Beurteilung der Beigeladenen fehlerhaft ist (hierzu&#8239;1). Es kann jedoch offenbleiben, ob ein Auswahlgespr&#228;ch nach dem Ergebnis der Beurteilungen zul&#228;ssigerweise als erg&#228;nzende Erkenntnisquelle herangezogen werden durfte, weil dem Auswahlvermerk jedenfalls nicht zu entnehmen ist, dass Erkenntnisse aus dem Auswahlgespr&#228;ch f&#252;r die Auswahlentscheidung entscheidend waren (hierzu&#8239;2). Demgegen&#252;ber greift die R&#252;ge betreffend die Beteiligung einer Richterin als Gleichstellungsbeauftragte zumindest im Ergebnis (hierzu&#8239;3). Auch h&#228;tte der Antragsgegner seine Entscheidung inhaltlich nicht auf das Kriterium der &#8222;herausgehobenen juristischen und justizpolitischen Expertise&#8220; st&#252;tzen d&#252;rfen (hierzu&#8239;4). Schlie&#223;lich erscheint die Auswahl des Antragstellers in einem neuen Auswahlverfahren m&#246;glich (hierzu&#8239;5).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>1. Der Bewerbungsverfahrensanspruch aus Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG kann &#8211; wie bereits ausgef&#252;hrt &#8211; insbesondere durch Fehler bei den &#252;ber die Bewerberinnen und Bewerber erstellten dienstlichen Beurteilungen verletzt sein, da die Auswahlentscheidung grunds&#228;tzlich anhand dienstlicher Beurteilungen vorzunehmen ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 7.&#8239;Juli&#8239;2021 -&#8239;2&#8239;C&#8239;2.21 -, juris&#8239;Rn.&#8239;31). Der Antragsteller r&#252;gt insoweit zu Recht, dass die der Auswahlentscheidung zugrunde liegende Beurteilung der Beigeladenen fehlerhaft ist.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Insofern ist zwar weder der Beurteilungszeitraum zu beanstanden (hierzu a) noch f&#252;hrt das umfangreiche Zitat aus einer fr&#252;heren Beurteilung der Beigeladenen in der Gesamtbewertung zur Rechtswidrigkeit der Beurteilung (hierzu b). Jedoch werden im Beurteilungsmerkmal &#8222;Fachkenntnisse&#8220; entgegen den Vorgaben in den insoweit ma&#223;geblichen Beurteilungsrichtlinien au&#223;erdienstliche T&#228;tigkeiten zum Gegenstand der Beurteilung gemacht (hierzu c).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>a) Der Beurteilungszeitraum der Anlassbeurteilung der Beigeladenen ist nicht zu beanstanden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Nach 2.3.&#8239;Abs.&#8239;1 der als Dienstvereinbarung zwischen dem Ministerium f&#252;r Justiz, Europa und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein und dem Hauptstaatsanwaltschaftsrat beim Ministerium f&#252;r Justiz, Europa und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein vereinbarten Richtlinien f&#252;r die Beurteilung der Staatsanw&#228;ltinnen und Staatsanw&#228;lte des Landes Schleswig-Holstein (BURL-StA, SchlHAnz 2021, S.&#8239;220) schlie&#223;t der Beurteilungszeitraum grunds&#228;tzlich an den in der letzten dienstlichen Beurteilung beurteilten Zeitraum an; wenn danach der Beurteilungszeitraum l&#228;nger als f&#252;nf Jahre w&#228;re, besteht der Beurteilungszeitraum aus den vorangegangenen f&#252;nf Jahren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Der vorangegangene Beurteilungszeitraum der Antragstellerin endete am 7.&#8239;Dezember&#8239;2015 (&#8230;), der Beurteilungszeitraum der Anlassbeurteilung aus Anlass der Bewerbung f&#252;r die Planstelle der Generalstaatsanw&#228;ltin oder des Generalstaatsanwalts bei der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein (&#8230;) war daher auf f&#252;nf Jahre zu begrenzen und umfasste den Zeitraum vom 1.&#8239;August&#8239;2016 bis zum 31.&#8239;Juli&#8239;2021.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Anderes ergibt sich nicht daraus, dass der Beurteilungszeitraum des Antragstellers k&#252;rzer war. Der vorherige Beurteilungszeitraum des Antragstellers endete am 31.&#8239;Januar&#8239;2020 (&#8230;). Sein Beurteilungszeitraum f&#252;r die Anlassbeurteilung aus Anlass der Bewerbung f&#252;r die Planstelle der Generalstaatsanw&#228;ltin oder des Generalstaatsanwalts bei der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein (&#8230;) umfasste daher den Zeitraum 1.&#8239;Februar&#8239;2020 bis zum 31.&#8239;Juli&#8239;2021.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>Die Beurteilungen sind trotz der Zeitraumdifferenz von etwa dreieinhalb Jahren vergleichbar. Es handelt sich um Anlassbeurteilungen. Damit gelten andere Anforderungen als in einem Regelbeurteilungssystem. Die beurteilten Zeitr&#228;ume unterscheiden sich zwar, jedoch beeintr&#228;chtigt dies die M&#246;glichkeit zum Qualifikationsvergleich nach dem Bestenauswahlgrundsatz nicht. Der Beurteilungszeitraum muss so gew&#228;hlt sein, dass die Beurteilung die ihr zugedachte Funktion erf&#252;llen kann. Beide Beurteilungszeitr&#228;ume haben eine L&#228;nge &#8211; weder zu kurz, noch zu lang &#8211;, die es gestattet, die Beurteilungen als Prognosegrundlage f&#252;r die Bew&#228;hrung im angestrebten Amt heranzuziehen. Insofern handelt es sich bei dem bei der Beigeladenen angewendeten Beurteilungszeitraum von f&#252;nf Jahren bereits um die zeitliche Obergrenze f&#252;r eine funktionsad&#228;quate Anlassbeurteilung (Beschluss des Senats vom 21.&#8239;Oktober&#8239;2019 -&#8239;2&#8239;MB&#8239;3/19 -, juris&#8239;Rn.&#8239;79-80&#8239;m.&#8239;w.&#8239;N., insbesondere zur insoweit vergleichend heranzuziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Verh&#228;ltnis von Regelbeurteilungen zu deutlich k&#252;rzeren Anlassbeurteilungen &lt;BVerwG, Beschluss vom 22.&#8239;November&#8239;2012 -&#8239;2&#8239;VR&#8239;5.12 -, juris, Rn. 30 und Urteil vom 9.&#8239;Mai&#8239;2019 - 2 C 1.18 -, juris LS 5 und Rn. 57 ff.&gt;). Der Beurteilungszeitraum des Antragstellers ist ebenfalls hinreichend lang, um eine ausreichende Tatsachengrundlage zu geben (vgl. 4.2.&#8239;Abs.&#8239;1&#8239;BURL-StA zur Mindestdauer der Wahrnehmung eines zu beurteilenden Amtes); mehr ist f&#252;r eine Vergleichbarkeit nicht erforderlich.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>b) Auch das im Rahmen der Gesamtbewertung erfolgende umfangreiche Zitat aus einer fr&#252;heren Beurteilung der Beigeladenen f&#252;hrt nicht zur Rechtswidrigkeit der Beurteilung.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>Die Beurteilung der Beigeladenen enth&#228;lt unter &#8222;2.2.&#8239;Gesamturteil&#8220; im Abschnitt vor der Bewertung ein Zitat im Umfang von fast drei Seiten aus ihrer vorherigen Beurteilung. Eingeleitet wird dieser Abschnitt mit der Formulierung, aus Anlass ihrer Bewerbung um ihr jetziges Amt erstellten Beurteilung hei&#223;e es in der Rubrik Gesamturteil unter anderem entsprechend des dann kursiv aufgef&#252;hrten dreiseitigen Zitats. Nach dem Zitat wird ausgef&#252;hrt, die Beigeladene habe die in sie gesetzten Erwartungen in hervorragender Weise erf&#252;llt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>Insofern d&#252;rfen gem&#228;&#223; 4.5.3.&#8239;BURL-StA in das Gesamturteil zwar &#8211; ebenso wie in die Eignungsprognose und anders als bei der Beurteilung der Einzelmerkmale &#8211; auch Fortbildungen und besondere T&#228;tigkeiten nach 4.5.1.&#8239;BURL-StA sowie besondere Interessen, au&#223;erdienstliche T&#228;tigkeiten und die Mitarbeit in Berufsverb&#228;nden nach 4.5.2.&#8239;BURL-StA zu Gunsten der Staatsanw&#228;ltinnen und Staatsanw&#228;lte einbezogen werden, nicht jedoch au&#223;erhalb des Beurteilungszeitraums erworbene Bef&#228;higungen und Leistungen; diese k&#246;nnen nur in die Eignungsprognose eingezogen werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Aus der Formulierung der Einleitung des Zitats sowie den Ausf&#252;hrungen in Folge ergibt sich jedoch, dass gerade nicht Zeitr&#228;ume au&#223;erhalb des Beurteilungszeitraums bewertet werden sollen, sondern das Zitat den Kontext zu den &#252;brigen Ausf&#252;hrungen bildet. Daher ist die Wiedergabe der Ausf&#252;hrungen aus der vorherigen Beurteilung &#8211; ebenso wie die zu Beginn des Gesamturteils erfolgende Wiedergabe des bisherigen beruflichen Werdegangs der Beigeladenen &#8211; im Ergebnis unsch&#228;dlich. Ein &#228;hnliches Zitat sowie die Wiedergabe des bisherigen beruflichen Werdegangs enth&#228;lt im &#220;brigen auch die Beurteilung des Antragstellers im Abschnitt Gesamturteil.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>c) Die Beurteilung der Beigeladenen ist jedoch fehlerhaft, weil im Beurteilungsmerkmal &#8222;Fachkenntnisse&#8220; au&#223;erdienstliche T&#228;tigkeiten entgegen 4.5.3.&#8239;Satz&#8239;1&#8239;BURL-StA zum Gegenstand der Beurteilung gemacht werden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>Insofern kann offenbleiben, ob bereits die Ausf&#252;hrung, dass die Beigeladene ihre qualifizierten Kenntnisse und F&#228;higkeiten auch f&#252;r das juristische Pr&#252;fungswesen &#8211; das eine T&#228;tigkeit nach 4.5.1.&#8239;BURL-StA darstellt und damit nicht Gegenstand der Beurteilung der Einzelmerkmale ist, 4.5.3.&#8239;Satz&#8239;1&#8239;BURL-StA &#8211; einsetze, bereits zur Fehlerhaftigkeit f&#252;hrt. Jedenfalls soweit die Beurteilung im Folgenden au&#223;erdem ausf&#252;hrt, die Beigeladene stelle ihr herausragendes juristisches Wissen durch ihre Pr&#252;fert&#228;tigkeit &#8211; vgl. 4.5.1.&#8239;BURL-StA &#8211; sowie durch ihr Engagement in einem Berufsverband &#8211; vgl. 4.5.2.&#8239;BURL-StA &#8211; unter Beweis, werden die Pr&#252;fert&#228;tigkeit sowie das Engagement in einem Berufsverband entgegen 4.5.3.&#8239;BURL-StA in die Bewertung eines Einzelmerkmals einbezogen. Dadurch wird die in der Beurteilung getroffene Bewertung der Fachkenntnisse der Beigeladenen gerade durch die T&#228;tigkeiten, bei denen sie &#8222;ihr herausragendes juristisches Wissen unter Beweis&#8220; stelle, plausibilisiert.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>2.&#8239;Es kann offenbleiben, ob ein Auswahlgespr&#228;ch nach dem Ergebnis der Beurteilung zul&#228;ssigerweise als erg&#228;nzendes Kriterium herangezogen werden durfte.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Insofern ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass Auswahlgespr&#228;che jedenfalls grunds&#228;tzlich dazu dienen k&#246;nnen, erg&#228;nzend zu dem sich aus dienstlichen Beurteilungen ergebenden Bild zus&#228;tzliche Erkenntnisse &#252;ber die Eignung der jeweiligen Bewerberinnen und Bewerber f&#252;r eine bestimmte T&#228;tigkeit oder Funktion zur Vorbereitung einer Auswahlentscheidung zu gewinnen. Der Dienstherr darf im Rahmen des ihm zustehenden weiten Ermessens solche Gespr&#228;che als weiteres Kriterium f&#252;r die Begr&#252;ndung einer Auswahlentscheidung heranziehen und ihnen eine gegebenenfalls auch ausschlaggebende Bedeutung beimessen, wenn sich aus den dienstlichen Beurteilungen im Wesentlichen ein Qualifikationsgleichstand mehrerer Bewerberinnen und Bewerber ergibt (vgl. OVG M&#252;nster, Beschluss vom 30.&#8239;November&#8239;2007 -&#65279;&#8239;1&#8239;B&#8239;1183/07 -, juris&#8239;Rn.&#8239;14-15; OVG L&#252;neburg, Beschluss vom 22.&#8239;April&#8239;2005 -&#65279;&#8239;2&#8239;ME&#8239;141/05 &#8211;, juris&#8239;Rn.&#8239;9; VGH Mannheim, Beschluss vom 21.&#8239;Dezember&#8239;2011 -&#65279;&#8239;4&#8239;S&#8239;2543/11 -, juris&#8239;Rn.&#8239;8 jeweils&#8239;m.&#8239;w.&#8239;N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_21">21</a></dt> <dd><p>Dies k&#246;nnte vorliegend der Fall sein. Der Antragsteller und die Beigeladene sind sowohl in ihren aktuellen Anlassbeurteilungen als auch in den vorangegangenen Beurteilungen jeweils im Gesamturteil und in allen Einzelmerkmalen mit der H&#246;chstnote beurteilt worden (&#8230;). Insofern kann zwar die Beurteilung von Bewerberinnen und Bewerbern ausnahmslos mit der Spitzennote auf eine mit Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG und dem daraus folgenden Differenzierungsgebot nicht vereinbare Beurteilungspraxis hinweisen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 29.&#8239;Juli&#8239;2003 -&#8239;2&#8239;BvR&#8239;311/03 -, juris&#8239;Rn.&#8239;17). Vorliegend k&#246;nnte die durchgehende Vergabe der H&#246;chstnoten jedoch auch darauf beruhen, dass es sich sowohl beim Antragsteller als auch bei der Beigeladenen um berufserfahrene Spitzenkr&#228;fte handelt, die aufgrund vorhergehender Auswahlverfahren in ihre derzeitigen &#196;mter als Leiter der gr&#246;&#223;ten Staatsanwaltschaften des Landes und damit nach der Generalstaatsanw&#228;ltin bzw. dem Generalstaatsanwalt am h&#246;chsten besoldeten &#196;mtern f&#252;r Staatsanw&#228;ltinnen und Staatsanw&#228;lte in Schleswig-Holstein gelangt sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_22">22</a></dt> <dd><p>Ob die Voraussetzungen f&#252;r die Durchf&#252;hrung von Auswahlgespr&#228;chen hier vorlagen, kann letztlich jedoch offenbleiben, weil dem Auswahlvermerk jedenfalls nicht zu entnehmen ist, dass Erkenntnisse aus dem Auswahlgespr&#228;ch (hierzu b) f&#252;r die hier gestuft erfolgte Auswahlentscheidung (hierzu a) entscheidend waren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_23">23</a></dt> <dd><p>a) Zust&#228;ndig f&#252;r die Ernennung der Generalstaatsanw&#228;ltin bzw. des Generalstaatsanwaltes des Landes Schleswig-Holstein ist der Ministerpr&#228;sident, Art.&#8239;38 Satz&#8239;1&#8239;LV. Eine Delegation, Art.&#8239;38 Satz&#8239;2&#8239;LV, ist weder durch den Erlass des Ministerpr&#228;sidenten zur &#220;bertragung personalrechtlicher Befugnisse im Gesch&#228;ftsbereich der Landesregierung (Delegationserlass) vom 17.&#8239;August&#8239;2018 (Amtsblatt S.&#8239;728) noch im &#220;brigen erfolgt. Nach &#167;&#8239;13 Abs.&#8239;2 Nr.&#8239;1 Gesch&#228;ftsordnung der Landesregierung vom 19.&#8239;August&#8239;2013 (GVOBl. S.&#8239;358) ist der Landesregierung eine geplante Entscheidung zur Besetzung der Leitung einer Beh&#246;rde, die der Besoldungsgruppe R zugeordnet ist, mithin auch der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Schleswig-Holstein, zur Kenntnis zu unterbreiten. Im vorliegenden Fall hat auf Grundlage des vom f&#252;r Justiz zust&#228;ndigen Minister erstellten Vorschlags eine Kabinettsabstimmung stattgefunden, nach der dem Ministerpr&#228;sidenten vorgeschlagen werden solle, die Stelle als Generalstaatsanw&#228;ltin des Landes Schleswig-Holstein mit der Beigeladenen zu besetzen. Der Ministerpr&#228;sident hat sich diesem Vorschlag angeschlossen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_24">24</a></dt> <dd><p>Ausweislich des die Grundlage der Auswahlentscheidung bildenden Auswahlvorschlags des f&#252;r Justiz verantwortlichen Ministers, der auch die Stellenausschreibung vorgenommen hatte, ging dieser nach einer Sichtung der Bewerbungen und Anlassbeurteilungen davon aus, dass alle drei Bewerberinnen bzw. Bewerber das Anforderungsprofil (Bew&#228;hrung in besonderer Weise, umfangreiche Erfahrungen in einer Leitungsfunktion innerhalb einer Staatsanwaltschaft, engagierte und verantwortungsbewusste Pers&#246;nlichkeit, Aufgeschlossenheit gegen&#252;ber Strukturver&#228;nderungen in der Justiz in Verbindung mit Gestaltungskraft, ausgepr&#228;gtes Organisationsverm&#246;gen, Verst&#228;ndnis f&#252;r wirtschaftliche Fragen, Bereitschaft zur F&#246;rderung des Digitalisierungsprozesses der Justiz, besondere F&#228;higkeit zur Personalf&#252;hrung &lt;kooperativer F&#252;hrungsstil und Motivation der Mitarbeiter zur Mitgestaltung&gt;) erf&#252;llten und nach ihren dienstlichen Beurteilungen ein identisches Leistungsbild aufwiesen (vgl. BA Auswahlvorgang Bl.&#8239;12).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_25">25</a></dt> <dd><p>Weil die Anlassbeurteilungen keine hinreichende Grundlage f&#252;r eine tragf&#228;hige Differenzierung unter den Bewerberinnen bzw. Bewerbern zulie&#223;en, wurde daher entschieden, Auswahlgespr&#228;che durchzuf&#252;hren. An diesen waren neben dem Minister selbst drei Mitarbeiter seines Hauses, ein Mitarbeiter der Staatskanzlei (vgl. Nr. 3.6 Delegationserlass) und eine Richterin am Amtsgericht als Gleichstellungsbeauftragte (siehe dazu 3) beteiligt. Eine &#220;bertragung der Aus&#252;bung des Vorschlagsrechts des Ministers an dieses Gremium ist nicht ersichtlich; es d&#252;rfte sich insofern um Auswahlgespr&#228;che des Ministers handeln, bei denen die anderen Anwesenden beratend bzw. bez&#252;glich des Mitarbeiters der Staatskanzlei zur vorherigen Abstimmung mit dieser beteiligt wurden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_26">26</a></dt> <dd><p>Der Kabinettsvorschlag mit Beschluss vom 23.&#8239;November&#8239;2021 (vgl. BA Auswahlvorgang Bl.&#8239;31) und die dem folgende Entscheidung des Ministerpr&#228;sidenten (vgl. Vermerk des Ministerpr&#228;sidenten vom 10.&#8239;September&#8239;2022, Anlage zum Schriftsatz des Antragsgegners vom 14.&#8239;September&#8239;2022) haben sich den Erw&#228;gungen des Auswahlvermerks angeschlossen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_27">27</a></dt> <dd><p>b) Dem Auswahlvermerk ist trotz des Verweises auf die Auswahlgespr&#228;che nicht zu entnehmen, dass tats&#228;chlich die Erkenntnisse aus den Gespr&#228;chen f&#252;r die Auswahlentscheidung entscheidend waren. Entscheidend waren danach vielmehr die von der Beigeladenen wahrgenommene T&#228;tigkeiten in einem Berufsverband und einem weiteren Verein sowie die Art der von ihr im Rahmen ihrer dienstlichen T&#228;tigkeit bearbeiteten Verfahren.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_28">28</a></dt> <dd><p>In dem Auswahlvermerk hei&#223;t es zun&#228;chst, dass sich w&#228;hrend der Gespr&#228;che best&#228;tigt habe, dass sich die Bewerber als engagierte und verantwortungsbewusste Pers&#246;nlichkeiten in ihren jeweiligen Leitungsfunktionen innerhalb einer Staatsanwaltschaft in besonderer Weise bew&#228;hrt haben. Hinsichtlich ihrer Aussagen zu kriminalpolitischen Zielen habe sich gezeigt, dass diese dem aktuellen justizpolitischen Diskussionsstand entspr&#228;chen und mit den Vorstellungen des Hauses in Einklang st&#252;nden. Die Er&#246;rterungen der kriminalpolitischen Vorstellungen h&#228;tten gezeigt, dass die Bewerber sich nicht nur mit den anstehenden Themen besch&#228;ftigt, sondern auch konkrete Vorstellungen &#252;ber notwendige Ma&#223;nahmen entwickelt h&#228;tten und an deren Umsetzung aktiv gestaltend mitwirkten.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_29">29</a></dt> <dd><p>War danach also nach Auffassung des &#8222;Auswahlgremiums&#8220; ein Gleichstand gegeben, hei&#223;t es weiter, das Auswahlgremium habe sich bei seiner Entscheidung insbesondere davon leiten lassen, welcher Bewerber sich in den beiden Kompetenzfeldern &#8222;ausgepr&#228;gte Qualit&#228;ten und Erfahrungen mit organisatorischen Aufgaben und der Personalf&#252;hrung&#8220; sowie &#8222;herausgehobene juristische und justizpolitische Expertise&#8220; (siehe zum letzteren 4) abhebe. Nur die Beigeladene decke beide Kompetenzfelder gleicherma&#223;en herausragend ab, wie sich aus dem Gespr&#228;chsprotokoll ergebe (vgl. BA Auswahlvorgang, Bl.&#8239;14-15).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_30">30</a></dt> <dd><p>Aus der nach dem Gespr&#228;chsprotokoll im Anschluss an die Auswahlgespr&#228;che erfolgten und im Protokoll auch dort niedergelegten Beratung des &#8222;Auswahlgremiums&#8220; (vgl. BA Auswahlvorgang Bl.&#8239;29-30) ergibt sich als Begr&#252;ndung zun&#228;chst, dass sowohl der Antragsteller als auch die Beigeladene &#8222;ausgepr&#228;gte Qualit&#228;ten und Erfahrungen mit organisatorischen Aufgaben und der Personalf&#252;hrung&#8220; h&#228;tten, aber nur die Beigeladene &#8211; anders als der Antragsteller &#8211; sich auch im Kompetenzfeld &#8222;herausragende Expertise in juristischen und justiziellen Fragen&#8220; (vgl. allgemein dazu 4) hervorhebe. Zur Begr&#252;ndung f&#252;r das Hervorheben oder Nicht-Hervorheben in diesen beiden Kompetenzfeldern wird jedoch nicht auf das Auswahlgespr&#228;ch zur&#252;ckgegriffen, sondern im Weiteren ausschlie&#223;lich auf den Inhalt der Personalakten der Bewerberinnen und Bewerber oder allgemeinkundige Tatsachen. So werden hinsichtlich des ersten Kompetenzfeldes die beruflichen Stationen der Bewerberinnen und Bewerber verglichen und beim Antragsteller und bei der Beigeladenen insoweit ein Gleichstand festgestellt. Zum zweiten Kompetenzfeld hei&#223;t es, die &#8222;herausragende Expertise&#8220; der Beigeladenen in juristischen und justiziellen Fragen habe sie nicht zuletzt durch die nebenamtlichen T&#228;tigkeiten als Vorsitzende der Gro&#223;en Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes und als Vizepr&#228;sidentin des Verkehrsgerichtstages eindrucksvoll belegt. Fachlich und justiziell sei die Beigeladene bestens vernetzt und durch ihre jahrelange Verantwortung f&#252;r zahlreiche Verfahren mit herausgehobener politischer Bedeutung mit parlamentarischen Abl&#228;ufen und rechtspolitischen Implikationen der Strafverfolgungst&#228;tigkeit vertraut. Der Antragsteller k&#246;nne trotz seiner zweifellos hervorragenden juristischen F&#228;higkeiten im Bereich der juristischen und justizpolitischen Expertise keine denen der Beigeladenen vergleichbaren Qualit&#228;ten und Erfahrungen vorweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_31">31</a></dt> <dd><p>3.&#8239;Die R&#252;ge betreffend die Beteiligung einer Richterin als Gleichstellungsbeauftragte greift jedenfalls im Ergebnis. Im hier entscheidenden Zeitpunkt November 2021 h&#228;tte die beim Amtsgericht &#8230; besch&#228;ftigte Richterin am Amtsgericht &#8230; nicht als &#8222;Gleichstellungsbeauftragte der Justiz&#8220; bestellt und am Auswahlverfahren beteiligt werden d&#252;rfen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_32">32</a></dt> <dd><p>Nach &#167;&#8239;20 Abs.&#8239;1 Satz&#8239;1&#8239;GStG hat die Gleichstellungsbeauftragte bei allen personellen, sozialen und organisatorischen Angelegenheiten auf die Gleichstellung von Frauen hinzuwirken. Sie ist nach &#167;&#8239;20 Abs.&#8239;2 Satz&#8239;1&#8239;GStG insbesondere bei Bef&#246;rderungen zu beteiligen. Dabei ist die Gleichstellungsbeauftragte bei Vorstellungsgespr&#228;chen und Auswahlverfahren teilnahmeberechtigt, soweit diese nicht durch ein Gremium gef&#252;hrt werden, dessen Zusammensetzung durch Gesetz geregelt ist; sie ist stimmberechtigt, wenn eine Personalentscheidung von einem Gremium, dessen Zusammensetzung nicht durch Gesetz geregelt ist, durch Abstimmung getroffen wird, &#167;&#8239;20 Abs.&#8239;2 Satz&#8239;3 und 4&#8239;GStG. Vorliegend wurde &#8211; wie oben unter a) ausgef&#252;hrt &#8211; die Auswahlentscheidung durch einen Vorschlag des Justizministers vorbereitet. An diesem war die Gleichstellungsbeauftragte zu beteiligen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_33">33</a></dt> <dd><p>Jedoch h&#228;tte die am Amtsgericht &#8230; t&#228;tige Richterin am Amtsgericht &#8230; nicht als vom f&#252;r Justiz zust&#228;ndigen Ministerium zu beteiligende Gleichstellungsbeauftragte bestimmt werden d&#252;rfen, weil sie keine Besch&#228;ftigte des Ministeriums f&#252;r Justiz, Europa und Verbraucherschutz war. Nach &#167;&#8239;18 Abs.&#8239;1 Satz&#8239;1&#8239;GStG ist bei allen Dienststellen mit mindestens f&#252;nf Besch&#228;ftigten eine Gleichstellungsbeauftragte zu bestellen. Dabei muss die Gleichstellungsbeauftragte, wie sich auch im R&#252;ckschluss aus &#167;&#8239;18 Abs.&#8239;6&#8239;GStG ergibt, Besch&#228;ftigte der jeweiligen Dienststelle sein. Richterin am Amtsgericht &#8230; war jedoch keine der Dienststelle Ministerium f&#252;r Justiz, Europa und Verbraucherschutz zugeordnete Besch&#228;ftigte. Vielmehr war sie bei der Dienststelle Amtsgericht &#8230; t&#228;tig.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_34">34</a></dt> <dd><p>Soweit &#167;&#8239;86&#8239;LRiG eine Sonderregelung trifft, nach der das f&#252;r Justiz zust&#228;ndige Ministerium aus dem Kreis der Richterinnen und Staatsanw&#228;ltinnen eine Gleichstellungsbeauftragte f&#252;r die Justiz sowie eine Vertreterin bestellt, die die Aufgaben und Rechte der Gleichstellungsbeauftragen des f&#252;r Justiz zust&#228;ndigen Ministeriums wahrnimmt, soweit &#252;berwiegend Gerichte und Staatsanwaltschaften betroffen sind, ist diese Regelung erst mit dem Gesetz zur &#196;nderung beamten-, laufbahn- und mitbestimmungsrechtlicher Regelungen vom 3.&#8239;Mai&#8239;2022 (GVOBl. S.&#8239;551) eingef&#252;gt worden und ist damit erst seit dem 20.&#8239;Mai&#8239;2022 in Kraft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_35">35</a></dt> <dd><p>4.&#8239;Dass der Antragsgegner seine Entscheidung inhaltlich auf das Kriterium der &#8222;herausgehobenen juristischen und justizpolitischen Expertise&#8220; gest&#252;tzt hat, mag zwar in Bezug auf das zu vergebende Amt des Generalstaatsanwalts bzw. der Generalstaatsanw&#228;ltin plausibel erscheinen. So wie dies hier geschehen ist, wurde dadurch jedoch der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers in mehrfacher Hinsicht verletzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_36">36</a></dt> <dd><p>Wie bereits einleitend ausgef&#252;hrt, darf der Dienstherr, wenn er ein Amt durch Bef&#246;rderung der Inhaberin oder des Inhabers eines niedrigeren Amtes vergeben will, dies nur nach Kriterien tun, die unmittelbar Eignung, Bef&#228;higung und fachliche Leistung betreffen. Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG vermittelt den Bewerberinnen und Bewerbern ein grundrechtsgleiches Recht auf leistungsgerechte Einbeziehung in die Bewerberauswahl. Dieser ist verletzt, wenn ein Leistungsvergleich gar nicht m&#246;glich ist, weil es bereits an tragf&#228;higen Erkenntnissen &#252;ber das Leistungsverm&#246;gen, d.&#8239;h. an aussagekr&#228;ftigen dienstlichen Beurteilungen fehlt, wenn nicht unmittelbar leistungsbezogene Gesichtspunkte in die Auswahlentscheidung einflie&#223;en, wenn die Leistungsmerkmale fehlerhaft gewichtet werden oder wenn sie objektiv eine einseitige Bevorzugung einer Bewerberin oder eines Bewerbers bewirken (stRspr, vgl. grundlegend: BVerwG, Urteil vom 4.&#8239;November&#8239;2010 -&#8239;2&#8239;C&#8239;16.09 -, juris&#8239;Rn.&#8239;20-21, 24&#8239;m.&#8239;w.&#8239;N., zu letzterem auch: BVerwG, Urteil vom 29.&#8239;November&#8239;2012 - 2&#8239;C&#8239;6.11-, juris&#8239;Rn.&#8239;24).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_37">37</a></dt> <dd><p>Unter Anlegung dieser Ma&#223;st&#228;be h&#228;tte der Antragsgegner seine Entscheidung inhaltlich nicht so wie geschehen auf das Kriterium der &#8222;herausgehobenen juristischen und justizpolitischen Expertise&#8220; st&#252;tzen d&#252;rfen. Das Kriterium ist inhaltlich unbestimmt (hierzu a). Die zur Begr&#252;ndung herangezogenen Nebent&#228;tigkeiten h&#228;tten ebenso wie die zur Begr&#252;ndung herangezogene vorherige dienstliche Erfahrung nicht nur einseitig bei der Beigeladenen in den Blick genommen werden d&#252;rfen (hierzu b, zur vorherigen dienstlichen Erfahrung siehe auch schon sogleich zu a). Zudem h&#228;tte das Auswahlkriterium in der Stellenausschreibung mit aufgenommen werden und entsprechend auch in den Anlassbeurteilungen Ber&#252;cksichtigung finden m&#252;ssen (hierzu c).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_38">38</a></dt> <dd><p>a) Das Merkmal ist bereits inhaltlich unbestimmt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_39">39</a></dt> <dd><p>W&#228;hrend die Bezeichnung &#8222;juristische und justizpolitische Expertise&#8220; nahelegt, dass es um besondere Fachkenntnisse geht, die neben rechtlichen auch rechtspolitische Fragen umfassen, hat der Antragsgegner erkennbar gerade nicht auf diese abgestellt. Insofern ergebe sich aus den Beurteilungen ein Leistungsgleichstand der Beigeladenen und des Antragstellers, die im Einzelmerkmal Fachkenntnisse jeweils mit der H&#246;chstnote beurteilt wurden.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_40">40</a></dt> <dd><p>Eine n&#228;here Bestimmung ergibt sich auch nicht aus den Ausf&#252;hrungen im Auswahlvermerk. Diese beziehen sich in Verbindung mit dem Gespr&#228;chsprotokoll (BA Auswahlvorgang Bl.&#8239;29-30) insoweit darauf, dass die herausragende Expertise der Antragstellerin in juristischen und justiziellen Fragen nicht zuletzt durch ihre nebenamtlichen T&#228;tigkeiten als Vorsitzende der Gro&#223;en Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes und als Vizepr&#228;sidentin des Verkehrsgerichtstages eindrucksvoll belegt sei. Fachlich und justiziell sei sie bestens vernetzt und durch ihre jahrelange Verantwortung f&#252;r zahlreiche Verfahren mit herausgehobener Bedeutung mit parlamentarischen Abl&#228;ufen und rechtspolitischen Implikationen der Strafverfolgungst&#228;tigkeit vertraut. Der Antragsteller verf&#252;ge &#252;ber keine vergleichbaren Qualit&#228;ten und Erfahrungen. Dies wurde nicht weiter ausgef&#252;hrt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_41">41</a></dt> <dd><p>Soweit der Auswahlvermerk mit der Formulierung, die Antragstellerin sei fachlich und justiziell bestens vernetzt und durch ihre jahrelange Verantwortung f&#252;r zahlreiche Verfahren mit herausgehobener politischer Bedeutung mit parlamentarischen Abl&#228;ufen und rechtspolitischen Implikationen der Strafverfolgungst&#228;tigkeit vertraut, nahelegt, dass f&#252;r die Bewertung der besonderen justizpolitischen Expertise auf bisherigen dienstlichen Erfahrungen abgestellt wurde, fehlt es an eine Erl&#228;uterung, auf welche Erfahrungen bzw. daraus gewonnenen justizpolitischen F&#228;higkeiten oder Kenntnisse insoweit konkret abgestellt wurde. Dies ergibt sich auch nicht ohne Weiteres. Insbesondere ist nicht ersichtlich, warum die aus dienstlichen Erfahrungen gewonnen justizpolitischen F&#228;higkeiten oder Kenntnisse des Antragstellers nicht mit denen der Beigeladenen vergleichbar sein sollen. Der Antragsteller war, wie sich bereits aus dem in der Beurteilung unter &#8222;Gesamturteil&#8220; zun&#228;chst aufgef&#252;hrten Werdegang und im &#220;brigen aus den Personalakten ergibt, in &#228;hnlichen dienstlichen Positionen wie die Beigeladene t&#228;tig. Der Antragsteller war zudem &#8211; anders als die Beigeladene &#8211; auch als Leitender Oberstaatsanwalt als Abteilungsleiter bei der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein sowie st&#228;ndiger Vertreter des Generalstaatsanwalts t&#228;tig:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_42">42</a></dt> <dd><p>&#8230;</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_43">43</a></dt> <dd><p>Dies legt nahe, dass der Antragsteller &#252;ber mindestens denen der Beigeladenen vergleichbare dienstliche Erfahrungen verf&#252;gt, die seine Eignung f&#252;r das Amt des Generalstaatsanwalts pr&#228;gen k&#246;nnen. Warum dies nach Ansicht des Antragsgegners nicht der Fall sein soll, ergibt sich aus dem Auswahlvermerk nicht. Dieser beschr&#228;nkt sich auf die Aussage, der Antragsteller k&#246;nne trotz seiner zweifellos hervorragenden juristischen F&#228;higkeiten im Bereich der juristischen und justizpolitischen Expertise keine den beiden anderen Kandidaten vergleichbaren Qualit&#228;ten und Erfahrungen vorweisen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_44">44</a></dt> <dd><p>Eine entsprechende Unterscheidung ergibt sich auch nicht daraus, dass die Beigeladene aktuell Leiterin der Staatsanwaltschaft in &#8230; und damit zust&#228;ndig f&#252;r den Ort des Sitzes der Landesregierung und des Landtages ist, w&#228;hrend im Zust&#228;ndigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft &#8230;, deren Leiter der Antragsteller ist, kein Sitz eines Verfassungsorgans liegt. Denn zum einen w&#252;rde dies den Bewerberkreis unzul&#228;ssig auf die Beigeladene beschr&#228;nken, da derzeit allein sie &#252;ber entsprechende Erfahrungen verf&#252;gen kann. Zum anderen widerspr&#228;che dem auch, dass das Auswahlgremium die juristische und justizpolitische Expertise des weiteren Bewerbers, der ebenfalls kein Leiter der Staatsanwaltschaft &#8230; ist oder war, als mit derjenigen der Beigeladenen vergleichbar eingestuft hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_45">45</a></dt> <dd><p>Soweit danach zum Beleg f&#252;r die &#8222;juristische und justizpolitische Expertise&#8220; entscheidend auf das Engagement der Beigeladenen in einem Berufsverband und in einem Verein und damit auf Nebent&#228;tigkeiten, vgl. &#167;&#8239;70&#8239;LBG, abgestellt wird, fehlt es an einer Darlegung, inwiefern diese konkrete, f&#252;r die T&#228;tigkeit erforderliche Kenntnisse und F&#228;higkeiten vermitteln sowie inwiefern der Antragsgegner dar&#252;ber &#8211; &#252;ber den Umstand der T&#228;tigkeit hinaus &#8211; Kenntnis gewonnen hat.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_46">46</a></dt> <dd><p>Denn auch eine Nebent&#228;tigkeit kann zwar im Einzelfall geeignet sein, das Bild von der dienstlichen Leistung und Bef&#228;higung der Beamtin bzw. des Beamten mit zu pr&#228;gen. Eine Einbeziehung einer Nebent&#228;tigkeit in die Auswahlentscheidung setzt jedoch voraus, dass die von der Beamtin oder dem Beamten bei Aus&#252;bung der Nebent&#228;tigkeit gezeigten Leistungen und F&#228;higkeiten hinreichende R&#252;ckschl&#252;sse auf ihr oder sein Leistungsbild im Statusamt und ihre oder seine weitere dienstliche Verwendung zulassen. Dabei k&#246;nnen Art und Umfang der ausge&#252;bten Nebent&#228;tigkeit sowie die sie pr&#228;genden Merkmale, der Erwerb von im Hauptamt n&#252;tzlichen Zusatzqualifikationen sowie eine von der Beamtin bzw. dem Beamten bei der Aus&#252;bung der Nebent&#228;tigkeit gezeigte besondere Bereitschaft, Initiative oder Belastbarkeit eine Rolle spielen (vgl. f&#252;r die Einbeziehung von Nebent&#228;tigkeiten in Beurteilungen OVG M&#252;nster, Beschluss vom 7.&#8239;M&#228;rz&#8239;2016 - 6&#8239;A&#8239;623/14 -, juris&#8239;Rn.&#8239;9-11; kritisch zur Einbeziehung von Nebent&#228;tigkeiten: BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 2020 - 2 VR 2.19 -, juris LS und Rn. 39).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_47">47</a></dt> <dd><p>Dies entbindet dann jedoch nicht von der Pflicht zur Verschaffung hinreichender Tatsachengrundlagen zur Bewertung dieser Erkenntnisquellen zu den Nebent&#228;tigkeiten. Ein Versto&#223; gegen den durch Art.&#8239;33 Abs.&#8239;2&#8239;GG gesch&#252;tzten Bewerbungsverfahrensanspruch liegt vor, wenn die Entscheidung ohne tragf&#228;hige Erkenntnisse &#252;ber das Leistungsverm&#246;gen getroffen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.&#8239;November&#8239;2010 -&#8239;2&#8239;C&#8239;16.09 -, juris Rn. 24). Will der Dienstherr bei der Auswahlentscheidung zwischen im Wesentlich gleich geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern auf einzelne Merkmale besonders abstellen, sind daf&#252;r die dienstlichen Beurteilungen heranzuziehen, wobei insoweit zun&#228;chst das Gesamturteil weiter auszusch&#246;pfen ist; erg&#228;nzend ist auf die Begr&#252;ndung der diesbez&#252;glichen Einzelmerkmale abzustellen. Weitere Erkenntnisquellen &#8211; hier also zu den Nebent&#228;tigkeiten und der aus dieser folgenden &#8222;Expertise&#8220; &#8211; k&#246;nnen nur erg&#228;nzend herangezogen werden (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.&#8239;Juni&#8239;2013 -&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.13 -, juris Rn.&#8239;48&#8239;m.&#8239;w.&#8239;N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_48">48</a></dt> <dd><p>Insofern sehen die Beurteilungsrichtlinien f&#252;r Staatsanw&#228;ltinnen und Staatsanw&#228;lte gerade auch vor, dass Nebent&#228;tigkeiten im Sinne von Punkt 4.5.1 und 4.5.2 im Gesamturteil zu Gunsten der Staatsanw&#228;ltin oder des Staatsanwalts ber&#252;cksichtigt werden k&#246;nnen. Es kann dahinstehen, ob ohne ausdr&#252;ckliche normative Grundlage derartige Erkenntnisse aus Nebent&#228;tigkeiten in Beurteilungen &#252;berhaupt ber&#252;cksichtigt werden d&#252;rfen, wenn es bei der Begr&#252;ndung des Gesamturteils nicht um eine blo&#223;e Erw&#228;hnung des Umstands geht, dass eine Nebent&#228;tigkeit ausge&#252;bt wurde, sondern darum, ob und wie sich diese &#8211; positiv &#8211; auf das Bild von der dienstlichen Leistung und Bef&#228;higung der Beamtin bzw. des Beamten ausgewirkt hat. In diesem Sinne ist es mit Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar, wenn in dienstlichen Beurteilungen auf Nebent&#228;tigkeiten insoweit eingegangen wird, wie diese das Leistungsbild im Statusamt pr&#228;gen und Schl&#252;sse auf die weitere dienstliche Verwendung der Beamtin bzw. des Beamten zulassen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_49">49</a></dt> <dd><p>Vorliegend ergibt sich aus den Beurteilungen jedoch nur, dass entsprechende Nebent&#228;tigkeiten wahrgenommen worden sind. Eine &#8211; insoweit den Beurteilungsrichtlinien widersprechende &#8211; Bewertung diesbez&#252;glich erfolgte durch den Beurteiler allein im Einzelmerkmal Fachkenntnisse.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_50">50</a></dt> <dd><p>b) Zudem fehlt es an einer entsprechenden Ber&#252;cksichtigung der Nebent&#228;tigkeiten und vorherigen dienstlichen Erfahrungen des Antragstellers und damit an gleichen Bewertungsma&#223;st&#228;ben f&#252;r den Antragsteller und die Beigeladene (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 4.&#8239;November&#8239;2010 -&#8239;2&#8239;C&#8239;16.09 -, juris&#8239;Rn.&#8239;52). Dies gilt selbst dann, wenn der Antragsgegner die Nebent&#228;tigkeiten und bisherigen dienstlichen Erfahrungen des Beigeladenen nicht als gleicherma&#223;en geeignet sehen sollte, eine &#8222;juristische und justizpolitische Expertise&#8220; zu begr&#252;nden. Denn daf&#252;r h&#228;tte es jedenfalls einer Begr&#252;ndung bedurft.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_51">51</a></dt> <dd><p>Auch der Antragsteller ist in &#8211; inhaltlich mit seiner staatsanwaltlichen T&#228;tigkeit verbundenen Bereichen &#8211; ehrenamtlich t&#228;tig. Er ist, wie sich auch aus seiner Anlassbeurteilung unter Punkt 5 (Nach Angaben des Beurteilten: Besondere Interessen, au&#223;erdienstliche Nebent&#228;tigkeiten, Mitarbeit in Berufsverb&#228;nden, Ehren&#228;mter, vgl. 4.5.2.&#8239;BURL-StA) ergibt, seit 2010 Vorsitzender des Schleswig-Holsteinischen Landesbeirats f&#252;r Bew&#228;hrungs- und Straff&#228;lligenhilfe &#8211; wobei f&#252;r diesen nach &#167; 40 des Gesetzes zur ambulanten Resozialisierung und zum Opferschutz in Schleswig-Holstein beim f&#252;r Justiz zust&#228;ndigen Ministerium zu bildenden Landesbeirat ggf. zu kl&#228;ren w&#228;re, inwiefern der Antragsteller in dienstlicher Eigenschaft (entweder unter 1.4 im Beurteilungsvordruck oder unter 1.5. als T&#228;tigkeit nach 4.5.1. vorletzter Spiegelstrich BURL-StA aufzunehmen) in diesem Mitglied ist &#8211; sowie seit 2016 Vorstandsvorsitzender des Schleswig-Holsteinischen Verbandes f&#252;r soziale Strafrechtspflege e.&#8239;V. &#8211; Straff&#228;lligenhilfe und Opferschutz.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_52">52</a></dt> <dd><p>Gleiches gilt, soweit zur Begr&#252;ndung f&#252;r eine &#8222;juristische und justizpolitische Expertise&#8220; auf die bisherigen dienstlichen Erfahrungen abgestellt wird. Der Antragsteller war wie ausgef&#252;hrt in &#228;hnlichen dienstlichen Positionen wie die Beigeladene t&#228;tig. Dies legt nahe, dass er &#252;ber mindestens denen der Beigeladenen vergleichbare dienstliche Erfahrungen verf&#252;gt, die seine Eignung f&#252;r das Amt des Generalstaatsanwalts pr&#228;gen k&#246;nnen. Warum dies nach Ansicht des Antragsgegners nicht der Fall sein soll, ergibt sich aus dem Auswahlvermerk nicht.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_53">53</a></dt> <dd><p>c) Schlie&#223;lich h&#228;tte das entsprechende &#8211; n&#228;her konkretisierte &#8211; Kriterium auch in das in der Stellenausschreibung formulierte Anforderungsprofil mit aufgenommen und im Rahmen der anl&#228;sslich der Bewerbung erstellten Beurteilungen beurteilt werden m&#252;ssen. Die sachgerechte Prognose, wer von den Bewerberinnen und Bewerbern die zuk&#252;nftigen Aufgaben am besten erf&#252;llen wird, erfordert die Festlegung eines konkreten Anforderungsprofils. Daher sind im Anforderungsprofil die formalen Voraussetzungen, fachlichen Kenntnisse und F&#228;higkeiten sowie au&#223;erfachlichen Kompetenzen zu beschreiben, die eine Bewerberin oder ein Bewerber f&#252;r eine erfolgreiche Bew&#228;ltigung der k&#252;nftigen T&#228;tigkeit ben&#246;tigt und die dementsprechend der leistungsbezogenen Auswahl zugrunde zu legen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 3.&#8239;M&#228;rz&#8239;2011 -&#8239;5&#8239;C&#8239;16.10 -, juris&#8239;Rn.&#8239;21, Beschluss vom 22.&#8239;November&#8239;2012 -&#65279;&#8239;2&#8239;VR&#8239;5.12 -, juris&#8239;Rn.&#8239;36, zur Zul&#228;ssigkeit und den Grenzen von Anforderungsprofilen allgemein vgl. auch: BVerfG, Beschluss vom 26.&#8239;November&#8239;2010 -&#65279;&#8239;2&#8239;BvR&#8239;2435/10 -, juris&#8239;Rn.&#8239;15&#8239;ff., BVerwG, Beschluss vom 20.&#8239;Juni&#8239;2012 -&#65279;&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.13 &#65279;-&#8239;Rn.&#8239;28). Zudem darf ein Anforderungsprofil zur Konkretisierung der Auswahlkriterien nur solche Eignungs-, Bef&#228;higungs- und Leistungsmerkmale enthalten, die f&#252;r das Amt ohne Versto&#223; gegen Art. 33 Abs. 2 GG gefordert werden d&#252;rfen (BVerwG, Urteil vom 26.&#8239;Januar&#8239;2012 - 2&#8239;A&#8239;7.09 -, juris LS 2, Rn.&#8239;18 ff.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_54">54</a></dt> <dd><p>Vorliegend hat der Antragsgegner zwar ein Anforderungsprofil formuliert (vgl. BA Auswahlvorgang Bl.&#8239;1 und 12). Dieses enthielt jedoch keine Anforderung einer besonderen justizpolitischen Expertise. Eine solche Anforderung ist auch nicht &#8211; soweit sie &#252;ber die in der Beurteilung zu bewertenden Fachkenntnisse oder weitere Einzelmerkmale der Beurteilung, hinsichtlich derer der Antragsteller und die Beigeladene aber jeweils beide mit der H&#246;chstnote beurteilt wurden, hinausgeht &#8211; in den allgemeinen, der Beurteilung unterliegenden Anforderungen an Staatsanw&#228;ltinnen und Staatsanw&#228;lte des Landes Schleswig-Holstein (vgl. BURL-StA) enthalten und wurde daher auch nicht beurteilt. Erkenntnisquelle f&#252;r das Auswahlverfahren sind jedoch wie ausgef&#252;hrt in erster Linie die daf&#252;r erstellten dienstlichen Beurteilungen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.&#8239;Juni&#8239;2013 -&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.13 -, juris Rn.&#8239;48&#8239;m.&#8239;w.&#8239;N.).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_55">55</a></dt> <dd><p>Kann nach Aufstellung eines entsprechenden Anforderungsprofils die Anforderung einer besonderen justizpolitischen Expertise ausschlaggebend in die Auswahlentscheidung einbezogen werden, w&#228;re eine entsprechende Bewertung und Ber&#252;cksichtigung der daf&#252;r zum Beleg herangezogenen Nebent&#228;tigkeiten in der Begr&#252;ndung des Gesamturteils nicht nur bei der Beigeladenen, sondern auch beim Antragsteller vorzunehmen. Diese darf sich allerdings nicht in einer blo&#223;en Aufz&#228;hlung und Aufnahme dieser T&#228;tigkeiten in der Begr&#252;ndung des Gesamturteils ersch&#246;pfen. Denn entscheidend nach Art. 33 Abs. 2 GG ist, ob und welche f&#246;rderlichen Auswirkungen diese T&#228;tigkeiten und die mit ihnen bzw. durch sie gewonnene justizpolitische Expertise f&#252;r die zu erwartenden dienstlichen Leistungen und F&#228;higkeiten und die Eignung der Beamtin bzw. des Beamten in Bezug auf das angestrebte Amt einer Generalstaatsanw&#228;ltin bzw. eines Generalstaatsanwalts haben.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_56">56</a></dt> <dd><p>5. Die Auswahl des Antragstellers in einem neuen Auswahlverfahren erscheint m&#246;glich. Ein Anspruch auf erneute Entscheidung &#252;ber die Bewerbung einer im Auswahlverfahren unterlegenen Bewerberin bzw. eines im Auswahlverfahren unterlegenen Bewerbers ist bei Vorliegen einer fehlerbehafteten, das subjektive Recht der Bewerberin bzw. des Bewerbers aus Art. 33 Abs. 2 GG verletzenden Auswahlentscheidung nur dann nicht gegeben, wenn die gebotene wertende Betrachtung aller Umst&#228;nde des Einzelfalls klar erkennbar ergibt, dass die bzw. der Rechtsschutzsuchende auch im Fall einer nach den Ma&#223;st&#228;ben der Bestenauslese fehlerfrei vorgenommenen Auswahlentscheidung im Verh&#228;ltnis zu den Mitbewerberinnen und Mitbewerbern chancenlos sein wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.&#8239;September&#8239;2002 -&#8239;2&#8239;BvR&#8239;857/02 -, juris&#8239;Rn.&#8239;13-14; BVerwG, Beschl&#252;sse vom 20.&#8239;Juni&#8239;2013 -&#65279;&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.13 -, juris&#8239;Rn.&#8239;11&#8239;ff., vom 19.&#8239;Dezember&#8239;2014 -&#8239;2&#8239;VR&#8239;1.14 -, juris&#8239;Rn.18 und vom 23.&#8239;Januar&#8239;2020 -&#8239;2&#8239;VR&#8239;2.19 -, juris&#8239;Rn.&#8239;22). Daf&#252;r ist jedoch nichts ersichtlich. Vielmehr hat auch der Antragsgegner den Antragsteller und die Beigeladene, die derzeit statusgleiche &#196;mter aus&#252;ben und in ihren Anlassbeurteilungen jeweils sowohl im Gesamturteil als auch in allen Einzelmerkmalen die H&#246;chstnote erreicht haben, als im Wesentlichen gleich geeignet eingesch&#228;tzt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_57">57</a></dt> <dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus &#167;&#8239;154 Abs.&#8239;2, &#167;&#8239;162 Abs.&#8239;3&#8239;VwGO. Es entspricht nicht billigem Ermessen, dem Antragsgegner auch die au&#223;ergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese keinen eigenen Antrag gestellt hat und damit selbst kein Kostenrisiko eingegangen ist, &#167;&#8239;162 Abs.&#8239;3, &#167;&#8239;154 Abs.&#8239;3&#8239;VwGO.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_58">58</a></dt> <dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf &#167;&#167;&#8239;40, 47 Abs.&#8239;1 Satz&#8239;1, &#167;&#8239;53 Abs.&#8239;2 Nr.&#8239;1, &#167;&#8239;52 Abs.&#8239;1 und&#8239;6 Satz&#8239;4 i.&#8239;V.&#8239;m. Satz&#8239;1 Nr.&#8239;1&#8239;GKG. Der Streitwert betr&#228;gt danach ein Viertel der Summe der f&#252;r ein Kalenderjahr zu zahlenden Bez&#252;ge des angestrebten Amtes, hier: R 6, mit Ausnahme nicht ruhegehaltsf&#228;higer Zulagen bezogen auf den Zeitpunkt der instanzbegr&#252;ndenden Antragstellung, hier Mai 2022 (12 x 9.909,55&#8239;Euro : 4).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_59">59</a></dt> <dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (&#167;&#8239;152 Abs.&#8239;1&#8239;VwGO, &#167;&#8239;68 Abs.&#8239;1 Satz&#8239;5, &#167;&#8239;66 Abs.&#8239;3 Satz&#8239;3&#8239;GKG).</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>
346,934
olgsh-2022-09-20-7-u-20121
{ "id": 1070, "name": "Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht", "slug": "olgsh", "city": null, "state": 17, "jurisdiction": null, "level_of_appeal": "Oberlandesgericht" }
7 U 201/21
"2022-09-20T00:00:00"
"2022-10-15T10:00:26"
"2022-10-17T11:11:07"
Urteil
ECLI:DE:OLGSH:2022:0920.7U201.21.00
<div class="docLayoutText"> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>Auf die Berufung der Beklagten wird das am 18. November 2021 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 15. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.536,95 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.11.2021 zu zahlen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>3. Von den Kosten des Rechtsstreits im ersten Rechtszug tragen die Klägerin 25 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 75 %. Die Kosten der Berufung fallen der Klägerin zu 20 % und den Beklagten als Gesamtschuldner zu 80 % zur Last.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p></dd> </dl> </div></div> <div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc"> <!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff--> </h4></div> <div class="docLayoutText"><div> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p></p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p>I.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_1">1</a></dt> <dd><p>Die Klägerin macht Ansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, welcher sich am 30. Oktober 2020 in L. ereignete.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_2">2</a></dt> <dd><p>Die Klägerin befuhr mit ihrem PKW S. gegen 6:20 Uhr die Kreuzung der S.-Str. /W.-Str. auf der S.-Str. aus B. kommend. Sie wollte an der Kreuzung nach links in die W.-Str. einbiegen. Auf der S.-Str. ist für das Linksabbiegen in die W.-Str. eine eigene Abbiegespur mit „Linksabbieger-Ampel“ eingerichtet. Die Klägerin ordnete sich auf der Linksabbiegerspur in Richtung W.-Str. ein und bog dann ab.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_3">3</a></dt> <dd><p>In Gegenrichtung fuhr der Beklagte zu 2) mit einem Omnibus des Beklagten zu 1) (bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert) auf der S-Str. aus Richtung L. Innenstadt kommend in Fahrtrichtung B.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_4">4</a></dt> <dd><p>Der PKW der Klägerin wurde während des Abbiegevorgangs durch den Omnibus hinten rechts angefahren und beschädigt. Die Ampelanlage war zum Zeitpunkt der Kollision unstreitig ausgefallen, wobei Einzelheiten zwischen den Parteien streitig gewesen sind.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_5">5</a></dt> <dd><p>Aus dem Unfall ergab sich für die Klägerin ein Schaden in Höhe von 7.046,19 € (Schaden am KFZ 5.250,00 €, Sachverständigenkosten 1.105,13 €, Kosten der Fahrzeugbergung 139,20 €, Abschleppkosten 531,86 €, allgemeine Kostenpauschale 20 €) den die Klägerin mit der Klage ersetzt verlangt, nachdem die vorgerichtliche Geltendmachung unter Fristsetzung zum 23.11.2020 erfolglos geblieben war.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_6">6</a></dt> <dd><p>Das Landgericht hat, nachdem die Klägerin die Klage in Höhe von 490 € zuvor zurückgenommen hatte, der Klage nach Anhörung der Klägerin und Beweisaufnahme (Zeugenvernehmung, Beiziehung der Ermittlungsakte) stattgegeben. Der Beklagte zu 2) habe der allgemeinen Sorgfaltspflicht aus § 1 StVO sowie der aus § 11 Abs. 3 StVO folgenden Pflicht zum umsichtigen Fahren bei unklarer Verkehrslage zuwider gehandelt. Zwar habe er nach Ausfall der Ampelanlage das Vorfahrtsrecht gehabt, aber er habe den Ausfall der Lichtzeichenanlage während der Dauer seiner Rotphase sehen und auf die gefährliche Verkehrslage reagieren müssen. Für die Klägerin sei der Unfall dagegen unabwendbar gewesen. Sie sei noch bei für sie eingreifenden Grünlicht in die Kreuzung eingefahren. Aus der während des Abbiegevorgangs ebenfalls ausgefallenen Fußgängerampel habe die Klägerin nicht ableiten müssen, dass die ganze Ampelanlage ausgefallen sei, denn diese Ampel habe sie vernachlässigen dürfen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_7">7</a></dt> <dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird auf die angefochtene Entscheidung nebst darin enthaltener Verweisungen Bezug genommen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_8">8</a></dt> <dd><p>Gegen das Urteil wenden sich die Beklagten mit der Berufung, mit der sie das Klagziel der Klagabweisung weiter verfolgen. Zur Begründung führen sie Wesentlichen aus, das Landgericht sei rechtsfehlerhaft von einer Unabwendbarkeit des Unfalls für die Klägerin ausgegangen. Diese habe sich nicht erneut durch einen Blick auf die Ampel vom grünen Ampellicht überzeugen können, wenn diese zu diesem Zeitpunkt bereits ausgefallen sei. Zudem hätte einem Idealfahrer die ebenfalls ausgefallene Fußgängerampel auffallen müssen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_9">9</a></dt> <dd><p>Die Klägerin tritt der Berufung entgegen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_10">10</a></dt> <dd><p>Wegen der Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze verwiesen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt></dt> <dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_11">11</a></dt> <dd><p>Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Die festgestellten Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung. Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten der geltend gemachte Anspruch aus §§ 7, 11, 17 Abs. 2, Abs. 1, 18 StVG, § 115 VVG nur teilweise, nämlich im tenorierten Umfang, zu. Unter Abwägung der Verursachungsbeiträge ist von einer Haftungsquote von 80 % zu 20 % zu Gunsten der Klägerin auszugehen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_12">12</a></dt> <dd><p>1. Die Beklagten haben mit der Berufung die wesentlichen Feststellungen nicht angegriffen, insbesondere die zu Lasten des Beklagten zu 2) festgestellten Verkehrsverstöße nicht beanstandet. Auch die Feststellung, dass alle Kreuzungsampeln, mithin auch die zuvor für die Klägerin grünes Licht anzeigende „Linksabbiegerampel“, erst ausfielen, als die Klägerin die „Linksabbiegerampel“ bereits nicht mehr wahrnehmen konnte, da sie diese bereits bei für sie geltendem Grünlicht passiert hatte, wird mit der Berufung nicht beanstandet.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_13">13</a></dt> <dd><p>Gleichwohl rechtfertigen die festgestellten Tatsachen eine andere Entscheidung. Denn das Landgericht hat zu Unrecht für die Klägerin ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG angenommen. Ein unabwendbares Ereignis liegt nur dann vor, wenn der Unfall auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Dies erfordert ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinaus und damit das Verhalten eines Idealfahrers. Ein unabwendbares Ereignis ist zu verneinen, wenn ein besonders umsichtiger Fahrer die Gefahr noch abgewendet hätte (vgl. OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 15.4.2014 – 16 U 213/13, NJOZ 2015, 169).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_14">14</a></dt> <dd><p>2. Diesem hohen Maßstab eines Idealfahrers genügt das Verhalten der Klägerin nicht. Ein Idealfahrer hätte aus dem Ausfall des Ampellichts der Fußgängerampel, der für die Linksabbieger erkennbar war, geschlossen, dass es eine Fehlfunktion der Ampelschaltung gibt. Dies wiederum hätte Anlass geben können, den Abbiegevorgang angesichts vorhandenen Gegenverkehrs zunächst abzubrechen um dadurch den Unfall zu vermeiden. Dass die Klägerin, wie das Landgericht angenommen hat, die Fußgängerampel vernachlässigen konnte, weil diese während einem grünen Ampellicht zum Linksabbiegen immer rotes Licht anzeigt, verkennt die besonders hohen Anforderungen an das Verhalten des Idealfahrers, der eine über den gewöhnlichen Fahrdurchschnitt besonders hinausgehende Aufmerksamkeit und Umsicht zeigen muss.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_15">15</a></dt> <dd><p>3. Im Rahmen der hiernach bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Absatz 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Absatz 1 u. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (vgl. BGH, NZV 1996, S. 231).</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_16">16</a></dt> <dd><p>Neben den zu Lasten des Beklagten zu 2) zutreffend festgestellten Verkehrsverstößen ist dem Landgericht insoweit zu folgen, dass der Klägerin kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen ist. Denn die Nichtbeachtung der Fußgängerampel genügt zwar, um ihr die Berufung auf ein unabwendbares Ereignis zu versagen, es erreicht aber nicht die Qualität eines Verkehrsverstoßes. Ein Verstoß gegen § 9 Abs. 4 Satz 1 StVO liegt nicht vor. Denn zum Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie wies die vorhandene „Linksabbiegerampel“ für die Klägerin grünes Ampellicht auf.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_17">17</a></dt> <dd><p>Es liegt auch kein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vor, wonach derjenige, der am Verkehr teilnimmt sich so zu verhalten hat, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Denn derjenige, dem ein grüner Pfeil das Linksabbiegen gestattet, darf darauf vertrauen, dass Gegenverkehr durch Rotlicht gesperrt ist und Fahrzeuge aus der Gegenrichtung das für sie geltende Haltegebot beachten (vgl. BGH, Urteil vom 03.12.1991 - VI ZR 98/91, NZV 1992, 108, 109). Dieser Vertrauensgrundsatz wird nicht dadurch beseitigt, dass nach Passieren der Lichtzeichenanlage die Anlage ausfällt.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_18">18</a></dt> <dd><p>4. Zu Lasten der Klägerin verbleibt somit die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs, die im vorliegenden Fall nicht zurücktritt. Das Zurücktreten eines Verursachungsbeitrags setzt in der Regel eine nicht erheblich ins Gewicht fallende mitursächliche Betriebsgefahr auf der einen Seite und ein grobes Verschulden auf der anderen Seite voraus (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., StVG, § 17, Rn. 16). Hier handelt sich um ein Fehlverhalten leichterer Art in einer Verkehrssituation, die nicht alltäglich ist (Ampelausfall). Dies vermag die Einstufung als grober Verstoß nicht zu tragen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_19">19</a></dt> <dd><p>5. Den unstreitig vorliegenden Schaden kann die Klägerin somit nach einer Quote von 80 % ersetzt verlangen.</p></dd> </dl> <dl class="RspDL"> <dt><a name="rd_20">20</a></dt> <dd><p>Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.</p></dd> </dl> </div></div> <br> </div>