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Flucht und Asyl | Spanien | bpb.de
Dies veränderte sich mit der 1994 verabschiedeten Asylrechtsreform, die drei zentrale Punkte enthielt. Erstens wurde die verwirrende Trennung der Verfahren für die Anerkennung des Asyl- bzw. des Flüchtlingsstatus aufgehoben. Von nun an gab es nur noch den Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Konvention. Das territoriale Asyl wurde ebenso abgeschafft wie das Asyl aus humanitären Gründen, das nur noch nach den Ausnahmeregeln des Ausländergesetzes möglich sein sollte. Im Gegenzug wurde der Schutzumfang für anerkannte Flüchtlinge über das Niveau der Genfer Konvention hinaus erweitert, sodass sie nun bei ihrer Anerkennung automatisch Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen erhielten. Zweitens – und das war der Punkt, der unter dem Aspekt der Harmonisierung des Asylrechts in Europa am wichtigsten war – wurde ein Vorverfahren bei der Prüfung von Asylanträgen eingeführt. Auf diese Weise sollten offenkundig missbräuchliche oder unbegründete Anträge nicht zum Verfahren zugelassen werden (inadmisión a trámite). Dieses Vorgehen entsprach den Absprachen auf europäischer Ebene und setzte vor allem Aspekte der Übereinkommen von Schengen und Dublin um, wie die Zuständigkeitsregelung bei der Prüfung von Asylanträgen oder das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten. Die dritte wesentliche Änderung des Asylrechts betraf die Folgen bei einer Ablehnung des Asylantrags. Die bisherige Regelung hatte grundsätzlich den weiteren Aufenthalt im Land ermöglicht. Weil dies als wesentlicher Aspekt für die Wahl des Asyls als Einwanderungsweg angesehen wurde, sollte in Zukunft ein abgelehnter Asylbewerber gemäß der Genfer Konvention im Regelfall das Land verlassen müssen, es sei denn, er erfüllte die Bedingungen, um nach dem Ausländergesetz einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Asyl in Spanien 1984-2007 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Spanien ist nie ein besonders attraktives Asylland gewesen, was zum Teil damit zusammenhängen könnte, dass es angesichts geringer Anerkennungszahlen einfacher war, als ausländische Arbeitskraft illegal ins Land zu kommen und sich später regularisieren zu lassen. In den 1980er Jahren bewegte sich die Zahl der Asylsuchenden im Vergleich zu den europäischen Partnern auf niedrigem Niveau. Diese Zahl (inkl. der Familienangehörigen) stieg von ca. 1.100 im Jahr 1984 nur langsam an und erreichte zum Ende des Jahrzehnts ca. 4.100 (1989). Erst 1990 nach dem Fall der Mauer und der Öffnung Osteuropas verdoppelte sie sich auf über 8.600 und wuchs in den folgenden drei Jahren noch bis auf 12.600 (1993). Mit der Reform des Asylrechts fielen die Zahlen der Antragsteller wieder auf den Stand der späten 1980er Jahre zurück, nicht zuletzt, weil 60 bis 70 % bereits im Vorverfahren abgelehnt wurden. Zudem blieben die Anerkennungsquoten mit ca. 3 % äußerst gering. Mit der zunehmenden Angleichung in allen europäischen Staaten relativierte sich dieser Effekt, sodass mit dem erneuten Anstieg der Asylbewerberzahlen in ganz Europa zum Ende der 1990er Jahre auch in Spanien die Zahlen erneut bis auf 9.500 (2001) stiegen. In den Folgejahren lagen die Zahlen um 5.500 pro Jahr, wobei Asylbewerber aus Nigeria über längere Zeit die größte Gruppe stellten. Seit 2005 jedoch wird diese Position von Kolumbianern eingenommen, die nach dem Ende der visumfreien Einreise nach Spanien 2002 einen alternativen Eintrittsweg suchen. Offenbar sind hier auch Schlepperbanden am Werk, die Kolumbianer, die über den Flughafen Barajas (Madrid) einreisen, mit ganzen Paketen falscher Dokumente für eine glaubhafte Asylantragstellung versorgen. 2007 stiegen die Antragszahlen auf fast 7.700 steil an, was zu einem erheblichen Teil (ca. 21 %) auf Antragsteller aus dem Irak zurückzuführen war, die zuvor fast keine Rolle gespielt hatten (2006: 42 Anträge). Auch wenn Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler zum Teil die restriktive spanische Anerkennungspraxis kritisieren, ist Asyl in Spanien weiterhin ein Thema mit geringer Relevanz, das in der Regel nur als Nebenaspekt zu Einwanderungsfragen mitläuft. Asyl in Spanien 1984-2007 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Espada Ramos 1994; Fullerton 2005; Kreienbrink 2006. CEAR 2007: 81-91.
Article
Axel Kreienbrink
"2022-01-21T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2022-01-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/57902/flucht-und-asyl/
Das Asylrecht wurde erst 1978 in der spanischen Verfassung verankert und 1984 mit einem Gesetz geregelt. Dieses beinhaltete sowohl den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention als auch ein staatlich zu bemessendes Asyl.
[ "Flucht", "Asyl", "Spanien" ]
31,100
In Deutschland daheim, in der Welt zu Hause? | Nation und Nationalismus | bpb.de
Was ist "Heimat"? Seit der Rede des Bundespräsidenten zum Tag der Deutschen Einheit 2017, spätestens aber seit der Einrichtung eines Heimatministeriums auf Bundesebene nach dem Vorbild Bayerns, reden plötzlich alle über sie. Der populäre Diskurs über die Heimat boomt, sichtbar nicht nur an der gesteigerten Produktion von literarischen oder soziologischen Heimaterzählungen, sondern auch am Aufschwung des Handels mit regionalen Produkten und Trachten, der zu einer wahren Selbstvergewisserungsindustrie geworden ist. Aus soziologischer Sicht ist die für viele unheimliche Konjunktur des Heimatbegriffs allerdings nicht so verwunderlich, wie es zunächst scheint. Die Idee der Heimat befindet sich gewissermaßen am mentalen Verkehrsknotenpunkt von Globalisierung, romantischem Neo-Konservatismus und neuen politischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien. Im Wort "Heimat" schwingen zarte Erinnerungen an Kirchturmglocken und gemähtes Gras aus Kindheitstagen mit; zugleich sind darin die drängendsten Probleme der Gegenwart kurzgeschlossen: Herkunft, Bleiberecht, Wanderung und vor allem das Streben nach Zugehörigkeit, Stabilität und Vertrautheit. Versuchen wir die gesellschaftlichen Hintergründe des aktuellen Heimatdiskurses systematisch zu erfassen, so lassen sich zunächst zwei unterschiedliche Aspekte identifizieren: Zum einen stellt die wachsende Relevanz von Heimat schlichtweg eine Konsequenz gesteigerter Mobilitäts- und Migrationserfahrungen dar. Schon die Vorstellung, an einem spezifischen Ort verwurzelt zu sein, ist eine genuin moderne Erfahrung. Diese und die entsprechenden Heimatbindungen konnten sich nämlich erst entwickeln, als der Einzelne nicht mehr selbstverständlich mit seinem Herkunftsort verwachsen war. Heimat tritt im Rück- und Fernblick besonders prägnant in Erscheinung, manchmal dann auch als Phantomschmerz, weil es die Sehnsucht nach einem Ort umfasst, den es so, wie wir ihn in Erinnerung haben, vielleicht gar nicht mehr gibt oder nie gab. Zum anderen, und das ist der interessantere Aspekt, ist die diskursive Konjunktur von "Heimat" Ausdruck einer wachsenden Territorialisierung sozialer Lagen und neuartiger Ungleichheitskonflikte, die um Fragen der sozial-räumlichen Zugehörigkeit kreisen. Im Heimatbegriff werden soziale Ansprüche spezifischer Gruppen geltend gemacht – oder eben auch zurückgewiesen. Zwei Vorstellungen von Heimat Im aktuellen Diskurs erschließt sich die gesellschaftliche Brisanz des Heimatbegriffs allerdings erst dann vollständig, wenn die gegenwärtig innerhalb der Mittelschicht aufbrechenden Konfliktfelder um die Frage, was Heimat überhaupt bedeuten soll, genauer auf ihre gesellschaftlichen Hintergründe und ihre Standortbedingungen untersucht werden. Hier zeigt sich, dass der Heimatbegriff sich im Zentrum neuer politischer Konflikte um Transnationalisierung, Migration und territorialer Autonomie befindet. Die Rollen in diesen Konflikten sind wie folgt verteilt: Auf der einen Seite stehen die Fortschrittlichen und Beweglichen, jene also, die unermüdlich behaupten, dass Heimat auch Zuwanderern offenstehe und niemals etwas sei, was man für immer haben oder besitzen könne, sondern stets nur das Ergebnis eines "gelungenen Heimischwerdens in der Welt" und der "tätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt". Auf der anderen Seite stehen jene, die zumeist weniger mobil sind, deutlich weniger Wahlmöglichkeiten hinsichtlich ihres Wohn-, Arbeits- oder Urlaubsortes haben und deren Identität auf Zugehörigkeit zu einem spezifischen Territorium, sei es eine Region, eine Nation oder ein spezifischer Ort, beruht. Hier existiert häufig die Vorstellung einer schicksalhaften Verbindung mit dem eigenen Ursprung, der zufolge der Mensch seine primäre Heimat nicht wählen kann, weil sie ihm zugefallen ist und er sie folglich immer schon besitzt. Heimat in diesem Sinne verbürgt unhintergehbare Zugehörigkeit und Identität, und die kann es aus Sicht der Anhänger und Fürsprecher dieses Konzepts nur im Singular geben. In dieser Perspektive muss die "unbegrenzte Flexibilität" einer offenen Selbstverortung dazu führen, dass am Ende niemand mehr eine Heimat hat. Der erstgenannten Heimatvorstellung liegt hingegen ein kosmopolitisches Selbstverständnis zugrunde, dem zufolge fremde Orte und Menschen stets neue Möglichkeiten kultureller Aneignung und Identitätsbildung eröffnen. Heimat dürfe demnach nicht exklusiv verstanden werden und zum Ausschluss anderer führen, da das Aufnehmen des Anderen, des Neuen Chancen für "mehr Kompetenz" berge. Behauptet wird zudem, dass Migration die Heimat für beide Seiten bereichere: Für die Einheimischen, weil der "bunte Mix" der Kulturen und die Erfahrung des Fremden zu einer Horizonterweiterung führten, die die Rückbesinnung auf eigene lokale oder nationale Traditionen umso attraktiver werden lasse; für die Zugewanderten, weil der Schritt in die Fremde "die Chance verheißt, sich neu zu erfinden". In diesem Zusammenhang wird von den Kosmopoliten auch gerne darauf verwiesen, dass es sich bei der Heimat, ähnlich wie bei der Nation, um ein soziales Konstrukt handle und sie daher keine natürliche Grundlage besitze. In exemplarischer Weise wird diese Auffassung etwa von dem Kulturtheoretiker und Schriftsteller Klaus Theweleit artikuliert: "Ich bin ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen und hatte dann meine neue, meine zweite schleswig-holsteinische Heimat. Als Jugendlicher wurde dann englische Beat-Musik meine kulturelle Heimat. Ich kenne also mindestens drei verschiedene Heimaten." Die Identität, die die Heimat stiftet, wird in dieser Vorstellung als Patchwork-Zugehörigkeit entworfen, die ihre Wurzeln in unterschiedlichen Gemeinschaften findet. Die verschiedenen Herkünfte werden als Ressourcen für die biografische Arbeit an der eigenen Identität behandelt. Kosmopolitisch mutet diese Vorstellung deshalb an, weil das Prinzip der unverbrüchlichen Verwurzelung von Mensch und Herkunft aufgehoben scheint. Demgegenüber liegt dem Heimat-als-Schicksal-Modell die Überzeugung zugrunde, Heimat sei in erster Linie etwas für Eingeborene und nicht für Zuwanderer. Nach dieser Logik gilt: Es gibt nur eine einzige Heimat, die man sich nicht aussuchen kann, weshalb Migration und Flexibilität auf beiden Seiten unweigerlich zum Heimatverlust führen müssen. In neueren politischen Diskursen wird dieses Verständnis von Heimat häufig dann artikuliert, wenn Autonomieverluste abgewendet werden sollen. Dabei geht es zumeist um zwei Formen der Angst vor Entfremdung: einerseits um die Befürchtung der Fremdbestimmung der eigenen kleinen "heilen Welt" durch Einmischung von als mächtig beziehungsweise bedrohlich empfundenen Anderen, andererseits um die Angst vor kultureller Überfremdung durch (massenhafte) Zuwanderung. Die Abwehr von Fremdbestimmung durch Einmischung Anderer zeigt sich etwa im neu erwachten Heimatbewusstsein peripherer, oftmals ländlicher Regionen, die um ihren Status kämpfen und sich durch die Mehrheitsgesellschaft in eine marginale Position gebracht sehen. Sie ist aber kein exklusives Konstrukt wirtschaftlich schwacher oder abgehängter Regionen; auch ökonomisch starke Regionen können unter bestimmten Bedingungen dazu tendieren, drohende Autonomieverluste durch Abschottung zu kompensieren. Das zeigt sich nicht zuletzt auch an separatistischen Bewegungen, wie sie etwa in Norditalien, im Baskenland, in Irland oder aktuell in Katalonien zu beobachten sind. Der Traum vom eigenen Ministaat, von der autarken, autonomen Heimat bringt den Wunsch der regionalen Bürger nach Selbstbestimmung in Stellung gegen die vermeintliche Fremdbestimmung durch die eigene Nation oder etwa den "Suprastaat" Europa. Am aktuellen öffentlichen Diskurs über "Heimat" wird offenbar, das jedes der beiden Modelle für sich moralische Überlegenheit reklamiert. Äußerungen eines nationalen, regionalen oder separatistischen Heimatbewusstseins ziehen stets eine wahre Bekenntnisflut zur Weltoffenheit seitens der Kosmopoliten nach sich. Die Gegensätzlichkeit der beiden Lebensauffassungen sollte allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass auch Kosmopoliten keineswegs uneingeschränkt "offen" sind, sondern spezifische soziale Räume bewohnen, die sie gegenüber anderen Gruppen abschließen. Zwar zeichnet sich die urbane akademische Mittelklasse durch einen hohen Grad an räumlicher – teilweise auch transnationaler Mobilität – aus. Dass der räumliche Lebensmittelpunkt gezielt ausgewählt wird, etwa indem man den Ort, an dem man geboren wurde und aufgewachsen ist, mit Beginn des Studiums oder aber spätestens mit dem Eintritt ins Berufsleben verlässt, erscheint für die Subjekte der akademischen Klasse eine Selbstverständlichkeit. Doch folgt aus der Fähigkeit zur Anverwandlung einer zweiten oder mitunter sogar dritten Heimat tatsächlich mehr Offenheit, in dem Sinne, dass man an beliebigen Orten heimisch werden kann, Fremde nicht ausgrenzt und kulturelle Vielfalt erlebt und praktiziert? Wohl kaum. Wenn eine Kultur nicht durchmischt, sondern nahezu vollständig homogen ist, dann ist es die kosmopolitische Kultur der urbanen akademischen Mittelklasse mit ihrem körper- und gesundheitsbewussten, auf Selbstverwirklichung und Wissensaneignung hin orientierten Lebensstil. Kultur umreißt im kosmopolitischen Bewusstsein und im Gegensatz zum Heimat-als-Schicksal-Modell nicht mehr den Bereich einer normativ verbindlichen Ordnung, sie wird vielmehr als eine Ressource verstanden, als vielgestaltiges Material, das in unterschiedlichster Weise geformt und zur Bereicherung des eigenen Selbst beitragen soll. Und weil prinzipiell kein Objekt von dieser Form der Aneignung ausgeschlossen ist, weil prinzipiell von jedem Kulturgut eine Erweiterung der individuellen Kompetenzen oder eine Steigerung des Genusses ausgehen kann, ist der akademische Kulturkonsument ein Allesfresser, der die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur, zwischen dem Historischen und dem Gegenwärtigen, dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Kulturkreisen, Nationen oder Regionen im Dienste der Erweiterung seines Wissens und seines Horizontes aufhebt. Jeder Ort, einschließlich der Heimat, kann als Ort der Aneignung von Kultur betrachtet werden. Mit anderen Worten: Kosmopolitismus ist Teil einer umfassenden De-Kontextualisierung kultureller Bedeutungen. Die Subjekte der urbanen akademischen Mittelklasse sehen sich als Träger einer zukunftsweisenden Lebensform, die sie zum gesellschaftlichen Maßstab gelingenden und erfolgreichen Lebens insgesamt erheben. Auf dieser Basis verteidigen und legitimieren sie Privilegien gegenüber untergeordneten Sozialklassen. Sozioökonomische Ungleichheiten werden dann nicht auf kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, sondern auf Unterschiede in Geschmack, Kompetenzen und Differenzen in der Lebensführung insgesamt zurückgeführt. Die Lebensformen anderer Milieus erscheinen vor diesem Hintergrund als weniger differenziert und damit auch weniger wertvoll: Aus kosmopolitischer Sicht offenbart sich in der Vorstellung von Heimat als Schicksal eine kultur-konformistische Haltung. Denn nicht nur die Heimat, auch das betreffende Wissen und die zugehörige Kultur werden von den Trägern des Schicksalsmodells zumeist als gegeben, das heißt als ein durch Sitten, Traditionen oder Autoritäten verbürgter Ordnungsrahmen begriffen, in den man sich einfügt. Aus kulturkosmopolitischer Perspektive erscheint diese Auffassung unvereinbar mit einer in erster Linie kulturunternehmerisch verstandenen Intelligenz, da eine "ehrfürchtige" Sichtweise auf Wissens- und Kulturbestände als Kreativitätshindernis wahrgenommen wird. Ähnlich wie die Vertreter des Heimat-als-Schicksal-Modells verteidigen auch die Kulturkosmopoliten einen exklusiven Lebensraum. Es sind die urbanen Zentren, die mit der Reproduktion historischer Stadtarchitekturen zu privilegierten Erlebnisräumen für Kultur- und Lifestyle-Konsum, Freizeit und Tourismus geworden sind. Die Möglichkeit, sich wiederholt in diesen Räumen aufzuhalten oder gar dauerhaft in ihnen zu leben, bildet vielerorts mittlerweile ein Privileg. Mit zunehmender Privatisierung und Touristisierung zentraler öffentlicher Räume werden Straßen und Plätze auf neue Weise kontrolliert, wodurch Zugangsrechte unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zu Straßen, Plätzen und anderen ehemals öffentlichen Räumen neu verhandelt werden. Generell gilt: Wer sich die teuren Mieten der attraktiven Stadtquartiere nicht leisten kann und in den Restaurants auf den öffentlichen Plätzen nicht konsumiert, findet in den historischen Kulissen der europäischen Großstädte keine günstigen Verweilmöglichkeiten mehr. Ursprünglich entstand die neue Urbanität mit dem historischen Aufstieg der "zweiten Heimat" im Zuge der Landflucht der gebildeten Mittelschichtjugend seit den 1970er Jahren. Angeführt von der Alternativbewegung und der städtischen Bohème hat in Deutschland ausgehend von der Besiedlung bestimmter Altbau-Quartiere in den Großstädten eine Re-Urbanisierung der Innenstädte eingesetzt. Diese entstanden auch in Reaktion auf die wachsende Unzufriedenheit mit der "Unwirtlichkeit unserer Städte" (Alexander Mitscherlich), das heißt mit der Monotonie der Vorstadtsiedlungen und dem Verfall des urbanen Lebens in der als provinziell und erstarrt empfundenen Nachkriegsära. Seine soziale Exklusivität gewinnt der urbane Lebensstil jedoch erst durch die wachsende sozialräumliche Polarisierung zwischen den von der urbanen akademischen Mittelschicht bewohnten postindustriellen Großstädten als Zentren und den übrigen Siedlungsgebieten (alte Industriestädte, Kleinstädte, Dörfer) als Peripherien. Von dort wandern die Hochqualifizierten in die Großstädte. Heimat: singulär, vertraut und exklusiv Versucht man vor diesem Hintergrund nun, den Begriff "Heimat" allgemein und beide Lebensformen umfassend zu bestimmen, so stößt man auf insgesamt drei essentielle Bestandteile: Singularität, Vertrautheit und sozialräumliche Exklusivität beziehungsweise Schließung. Im Unterschied zum Nicht-Ort oder auch zum beliebigen Ort, space, ist Heimat ein place, ein einmaliger, herausgehobener Ort, der in seiner Eigensinnigkeit angeeignet wird. Die Eigensinnigkeit zeigt sich sowohl im regional geprägten Heimatgefühl der Schicksalsfraktion wie auch in der Anverwandlung der zweiten Heimat im urbanen Raum. Auch diese ist nicht auf eine kulturindustrielle Schablone reduzierbar, sondern unterliegt idiosynkratischen Aneignungsprozessen. Die zweite Heimat wird durch das Leben in Kiezen und Szenequartieren zu einem einzigartigen, mit der individuellen Biografie verwobenen Ort. Auch wenn Konsum eine zentrale Dimension des kulturkosmopolitischen Urbanismus darstellt, wird eine von oben oktroyierte Kommerzialisierung als Entfremdung erlebt. Vor diesem Hintergrund wird auch die exzessive Zunahme des Städtetourismus als Verfälschung und Bedrohung des authentischen Lebensraums wahrgenommen, da sie die Authentizität der heimatlichen Anverwandlung insbesondere der ihrerseits Zugezogenen infrage stellt. Auch das zweite Merkmal, die Vertrautheit, ist in beiden Heimatvorstellungen anzutreffen. Heimaten bilden "Wohlfühl-Zonen", sie sind Orte, die "Seinsgewissheit" dadurch vermitteln, dass sie eine habituelle, präreflexive Verwurzelung in Alltagsroutinen und im sozialen Leben ermöglichen. Diese Vertrautheit ist das subjektive Korrelat einer Passung zwischen dem sozialen Ort und den persönlichen Dispositionen. Das Gegenteil ist das Gefühl der Entfremdung, das sich einstellt, wenn Seinsgewissheiten – etwa durch den Zuzug Fremder oder auch durch veränderte Machtverhältnisse und gesellschaftliche Spielregeln – erschüttert werden. In der Heimat-als-Schicksal-Fraktion wird Vertrautheit durch Identifikation mit den Eigenheiten der Herkunftsgemeinschaft, etwa auch durch die Beherrschung des heimatlichen Dialektes, hergestellt. In der kosmopolitischen Heimat hingegen wird Vertrautheit nicht zuletzt durch die urbanen Kieze und durch "die Kultur", das heißt durch das Ensemble der gemeinsam geteilten Praktiken des wissens- und selbstverwirklichungsorientierten Lebensstils gestiftet. Schließlich ist das dritte gemeinsame Merkmal beider Heimatvorstellungen die sozialräumliche Exklusivität, also die Schließung des Lebensraums gegenüber unerwünschten Zuwanderern. Unterschiedlich sind lediglich die Formen der Grenzziehung wie auch die Gruppen, die jeweils als unerwünscht betrachtet werden – Touristen, Asylsuchende oder Städter. Die Verfechter des Heimat-als-Schicksal-Modells verteidigen Heimat im Modus politischer Grenzen. Begründet wird die soziale Exklusivität mit der Notwendigkeit, Zusammenhalt und Identität der Gemeinschaft gegenüber Zuwanderern aus fremden Kulturen zu schützen. Die Beziehung zwischen Gemeinschaft und Territorium wird dabei gleichsam naturalisiert. Nur die eingeborene Gemeinschaft, nicht die Zugewanderten haben in diesem Modell Anspruch auf die gemeinschaftlichen Ressourcen. Nichts liegt den Kosmopoliten ferner. Weltoffenheit und die Ausgestaltung einer historisch und kulturell gleichermaßen gesättigten wie vielfältigen Urbanität stehen im Zentrum des Heimatgefühls der akademischen Mittelklasse. Allerdings verfügen auch die vermeintlich offenen Kulturkosmopoliten über ihre ganz spezifischen Grenzanlagen. Die Raumaneignung der urbanen akademischen Mittelklasse umfasst zwar transnationale Bewegungen und öffnet die angestammten Territorien auch für die (kosmopolitischen) Bewohner anderer Länder, doch spielen sich diese Öffnungen stets innerhalb desselben soziokulturellen und geografischen Rahmens urbaner Lebensräume ab. Zu den wirkungsvollsten Grenzanlagen gehört die kapitalistische Ausrichtung des Lebensstils, denn das eigene Territorium wird primär im Modus ökonomischer Grenzen verteidigt. Kulturelle Offenheit wird somit kompensiert durch ein hochgradig effektives Grenzregime, das über Immobilienpreise und Mieten, über ein sozial und ethnisch hoch selektives Bildungswesen sowie über den Zugang zu exklusiven Freizeiteinrichtungen und Clubs gesteuert wird. Abgrenzung erfolgt nicht nach außen, sondern nach unten. Es sind vor allem die ökonomischen Privilegien, die wirkungsvolle Schutzzäune gegenüber unteren Schichten und Migranten darstellen. Gut situierte und gebildete Migranten werden von den einheimischen Kosmopoliten als unproblematisch empfunden, sozial schwache und gering qualifizierte hingegen kommen in den privilegierten Quartieren gar nicht erst vor. Deshalb werden sie von den Bewohnern der kulturell homogenen Milieus auch nicht als Konkurrenten um begehrte Güter wie gesellschaftliche Machtpositionen, Arbeitsplätze, günstigen Wohnraum, Sexualpartner, Sozialleistungen oder staatliche Zuwendungen wahrgenommen. Das erklärt auch, warum sich Kosmopoliten für gewöhnlich nicht von Migranten irritieren lassen. Für Kosmopoliten in Berliner Bezirken wie Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, die zumeist über exklusive Lebensräume und höhere Gehälter verfügen, besitzen fremdenfeindliche Anwandlungen schlicht keine lebensweltliche Grundlage. Migranten – sofern sie nicht auch zur gehobenen Mittelschicht gehören – kommen in dieser Welt zumeist als "Diener" vor, das heißt als Wachschützer, Verkäuferin, Paketfahrer, Kellnerin oder Hilfsarbeiter – oder eben in der Rolle hilfsbedürftiger "Flüchtlinge". Als Angehörige eines neuen Dienstleistungsproletariats haben Migranten zwar ihren Arbeits-, aber eben nicht ihren Lebensmittelpunkt in den Vierteln der kosmopolitischen Mittelschicht. Sollten Zuwanderer dennoch einmal Anlass zu Irritationen geben, etwa weil Migrantenkinder mit Sprachschwierigkeiten aus dem Globalen Süden oder aus "Gastarbeiterfamilien" in die gleiche Schule gehen wie der hoffnungsvolle Nachwuchs der gebildeten Besserverdiener, reagieren die betroffenen Eltern nicht selten mit der stillschweigenden Wiederherstellung der räumlichen Trennung, indem sie ihre Kinder von den betreffenden Einrichtungen abmelden und sie in exklusive oder gleich in private Schulen schicken. Für zukünftige Familien wird das vermutlich gar nicht mehr nötig sein, da die polarisierende sozialräumliche Segregation in attraktive Wohngegenden und problematische Stadtteile mit hohen Migrantenanteilen mittel- bis langfristig ohnehin für weitgehend homogene Schülerschaften sorgen wird. Schulen in unterprivilegierten Quartieren besitzen schon heute Migrantenanteile von bis zu 80 Prozent, während die Schulen in den Quartieren der akademischen Mittelschicht nahezu ohne Kinder mit Migrationsgeschichte auskommen. Zur Transnationalisierung von Klassenstrukturen Worauf kann die Unterschiedlichkeit der Heimatvorstellungen in den beiden Klassenfraktionen der Mittelschicht zurückgeführt werden? Sichtbar wird, dass der Streit um die Heimat keine Marginalie darstellt, sondern im Zentrum klassenspezifischer Konflikte um Lebensformen und gesellschaftliche Deutungshoheiten steht. Die unterschiedlichen Konzepte von "Heimat" sind, anders als zumeist geglaubt, keine bloßen Glaubensgrundsätze, sondern Ausdruck neuartiger Spaltungen innerhalb einer sich transnationalisierenden Gesellschaft, die sich an der Trennungslinie zwischen Globalisten und Nativisten oder Kosmopoliten und Heimatverbundenen entzündet. Sie verläuft dabei zwischen solchen Menschen, die alle Vorteile der Freizügigkeit genießen, ihrerseits problemlos überall hin migrieren können, die Nachteile der Zuwanderung in die eigene Region jedoch für gewöhnlich nicht zu spüren bekommen, und solchen Menschen, deren Existenz auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region basiert, die über geringe oder keine Ausweichmöglichkeiten verfügen und die sich den negativen Folgen von Zuwanderung, wie etwa Lohnkonkurrenz, Integrationsproblemen oder nachlassender kultureller Homogenität und Vertrautheit, ausgesetzt sehen. Daraus resultieren neuartige Ungleichheitskonflikte, wie sie gegenwärtig prominent in den von populistischen Rechtsparteien angestoßenen beziehungsweise instrumentalisierten Konflikten um Migration und Asyl ebenso wie in den Debatten um die Bedeutung nationaler Souveränität und Identität aufbrechen: Drehte sich der politische Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch um die Forderung, den produzierten Reichtum innerhalb der Nationalstaaten gerechter zu verteilen und die Ungleichheit der Chancen zwischen den sozialen Klassen zu bekämpfen, so resultiert der zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufkeimende Konflikt aus der viel grundlegenderen Frage, welche gesellschaftlichen Kollektive, welche ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen im politischen Raum des Nationalstaates überhaupt noch repräsentiert werden. Die Brisanz dieser Frage ergibt sich daraus, dass sich Gesellschaften bereits weitgehend aus der Klammer des Nationalstaates herausgelöst und die Welt in globale, nationale und lokale Zonen aufgeteilt haben. Der Nationalstaat ist schon längst kein souveräner Wirtschaftsraum mehr. Dazu haben einerseits die Etablierung globaler Produktions- und Lieferketten und andererseits die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien beigetragen. Die Herausbildung eines europäischen Wirtschafts- und Währungsraums hat die ökonomische Souveränität der Nationalstaaten zusätzlich geschwächt. Aber nicht nur wirtschaftliche Wertschöpfungsketten, auch politische Steuerungskonzepte haben die nationalstaatlichen Grenzen in vielerlei Hinsicht transzendiert. Während die Politik des Steuerungs- und Wohlfahrtsstaates der Industriemoderne eng an den Nationalstaat gekoppelt war, ist der Bedeutungsverlust nationaler Regulierung in der postindustriellen Gesellschaft einerseits mit dem Aufschwung supranationaler Steuerungsinstanzen und andererseits mit einem Bedeutungsgewinn politischer Akteure unterhalb der nationalen Ebene verbunden. Dabei spielen die Städte, vor allem die Großstädte und Metropolregionen, als Brennpunkte globaler Investitionen eine Schlüsselrolle. Die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen entscheidet sich nun immer häufiger an der Frage, ob soziale Schicksale primär durch regionale, nationale oder transnationale Vergesellschaftungsprinzipien geprägt werden. Es entstehen neue transnationale Klassen, wobei Transnationalisierung nicht immer ein Vorteil darstellt. Diese ist auch nicht mit Migration oder Plurilokalität gleichzusetzen, da viele grenzüberschreitende Prozesse durch einzelne Nationen hindurchgreifen und somit regionale, nationale oder transnationalisierte Lagen unter dem Dach ein und desselben Nationalstaates beherbergt sind. Die hochqualifizierten und gut bezahlten Arbeitnehmer der urbanen akademischen Mittelschicht stellen gemeinsam mit den an der gesellschaftlichen Spitze angesiedelten globalen Eliten das transnationale Oben dar. Sie verfügen über global einsetzbares kulturelles Kapital, transnational verwertbare Bildung und anerkannte Qualifikationen und sind in dem Maße eher lose mit dem nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftsraum verbunden wie ihre transnationale Verflechtung in den globalen Metropolen zunimmt. Über ihre soziale Lage wird immer weniger allein im eigenen Land entschieden. Eine Unternehmensberaterin in Frankfurt am Main, ein Investmentbanker in London oder eine Architektin in Taiwan bewohnen einen gemeinsamen Verkehrs- und Transaktionsraum, selbst wenn sie sich nie persönlich begegnet sind und stets innerhalb ihrer Länder verbleiben. Häufig teilen die transnationalen Experten, die sich vorrangig in den Beratungs-, Finanz- und Kulturindustrien finden, nicht nur eine gemeinsame professionelle Identität, sondern eben auch einen gemeinsamen kosmopolitischen Lebensstil, der aus dem Leben in globalen Metropolen resultiert. Die global cities stellen gewissermaßen kosmopolitische Enklaven dar, die in allen Ländern der Welt ähnliche Infrastrukturen und Konsumkulturen aufweisen. Zudem sind die unterschiedlichen Territorien durch ökonomische Austauschbeziehungen und durch das Internet miteinander verbunden. Dadurch werden sich ihre Lebensbedingungen zukünftig noch stärker international angleichen. Das Zugehörigkeitsgefühl der kosmopolitischen Mittelschicht zur eigenen Nation dürfte sich dabei in demselben Maße lockern, wie ihre transnationale Verflechtung innerhalb der global cities zunimmt. Auch der neue Urbanismus hat sich zunehmend transnationalisiert. Wer sich in die Metropolen anderer Länder, etwa nach Shanghai, Bangkok oder London begibt, findet überall eine vergleichbare urbane Geografie von In-Vierteln, gentrifizierten Stadtteilen, Museen, Theatern und Kulturdenkmälern. Wie gesagt: Transnationalisierung ist nicht mit Migration gleichzusetzen. Auch "sesshafte" Künstler, IT-Fachkräfte, Wissenschaftlerinnen, Architekten, Sportlerinnen oder politische Bewegungen bewegen sich auf transnationalen Märkten der Kulturgüter- und Aufmerksamkeitsindustrien und sind in multiple geografische und wirtschaftliche Kontexte eingebunden. Zwar lebt aktuell nur eine Minderheit tatsächlich transnational in dem Sinne, dass sie sich geografisch flexibel über Grenzen hinwegbewegt und sowohl ihre Karrieren als auch ihre Beziehungen langfristig plurilokal gestaltet. Für viele Angehörige der urbanen Mittelschicht stellt eine internationale Berufstätigkeit jedoch schon heute zumindest eine Option dar. Weltläufigkeit ist zu einem Aspekt sozialer Lagen geworden, der die Identifikation mit dem Nationalstaat schwächt. Das zeigt sich nicht zuletzt an dem enormen Stellenwert, den die gehobene Mittelschicht internationalen Bildungsangeboten zuschreibt. Das frühe Erlernen wichtiger Sprachen (in Deutschland nach wie vor Englisch, in den USA inzwischen Chinesisch), längere Auslandsaufenthalte während der Schul- oder Studienzeit sowie internationalisierte Bildungsabschlüsse dienen als Distinktionsmerkmale, in die Jahr für Jahr erhebliche Summen investiert werden. Entsprechende Wanderungsbewegungen sind kein Privileg der reichen Länder der Nordhalbkugel, sondern auch in den Ober- und Mittelschichten ärmerer Länder schon länger etabliert. Ohnehin orientieren sich die Bildungssysteme in vielen Ländern des Globalen Südens an den Strukturen des kolonialen "Mutterlandes" und bieten so von vornherein eine mehrsprachige und international ausgerichtete Bildung. Vor allem unter den Eliten der ärmeren Länder hat eine transnationale Ausrichtung als Aufstiegsschneise eine lange Tradition. Transnationales Oben und Unten, nationale Mittelschicht Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Transnationalisierungsprozesse die sozialräumliche Autonomie privilegierter Schichten erhöhen und die Bindungen an den Nationalstaat lockern. Den transnationalen Akteuren steht frei, sich dort niederzulassen, wo sie die besten Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden. Folglich sind sie schwerer zu motivieren, sich an der Produktion von Kollektivgütern innerhalb ihrer Nation zu beteiligen, um etwa das politische und soziale Leben zu verbessern und allgemeine Wohlfahrtsinstitutionen herauszubilden. Ihr Leben spielt sich zumeist in städtischen Arealen ab, die an sich schon transnationale Räume darstellen und in denen sie dank privat finanzierter Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und sozial homogener Stadtviertel meist unter sich bleiben. Die transnationalen Experten bewegen sich nicht länger in nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsräumen, weshalb ihre Identifikation mit dem Nationalstaat und seinen Einrichtungen geschwächt wird. Auf der anderen Seite entsteht ein "transnationales Unten". Hier finden sich Geringverdiener aus unterschiedlichen Weltregionen, gering- und de-qualifizierte einheimische Arbeitnehmer und Migranten aus Entwicklungs- und Schwellenländern als modernes transnationales Dienstleistungsproletariat wieder. Für die einheimischen Arbeitnehmer in den Ländern des Globalen Nordens entstehen daraus teilweise gravierende Nachteile, weil ihre Löhne an die niedrigeren internationalen Maßstäbe angeglichen werden. Für sie funktioniert die "soziale Rolltreppe" in die Mittelschicht nun nicht mehr, da sie als Arbeitnehmer innerhalb eines transnationalen Wirtschaftsraums faktisch nicht mehr unter dem Dach ihrer heimischen Volkswirtschaft angesiedelt sind, selbst wenn sie als Staatsbürger weiterhin über alle politischen Rechte verfügen. Die Herausbildung des "transnationalen Unten" wird durch zwei komplementäre Prozesse vorangetrieben: Einerseits werden geringqualifizierte Arbeitsplätze aus der Produktion in sogenannte Niedriglohnländer ausgelagert, wodurch Unternehmen ein Drohpotenzial in der Hand haben. Andererseits wandern Arbeitsmigranten aus ärmeren Ländern in Hochlohnländer ein und bieten die gleiche Arbeit günstiger an. Die polnische Altenpflegerin, der Wachschützer aus Sri Lanka oder die Haushaltshilfe aus Mexiko machen den einheimischen Arbeitnehmern Konkurrenz und setzen dabei nicht zuletzt die Gruppe der Geringqualifizierten verstärkt unter Druck. Zwischen dem "transnationalen Oben" aus Eliten und oberer Mittelschicht und dem "transnationalen Unten" befindet sich nun die in den nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraum eingebundene untere Mittelschicht, deren Wohlstandsniveau vorläufig weitgehend von innerstaatlichen und nationalen Institutionen geprägt wird und für die die Staatsangehörigkeit in einem reichen nationalen Wohlfahrtsstaat ein erhebliches Privileg darstellt. Doch dieser Teil der Mittelschicht verliert zunehmend seinen Einfluss auf die Geschicke des Landes. Über Lebenschancen und Ressourcenzuteilungen entscheiden immer weniger die klassischen Anwälte der Mitte, wie etwa die Gewerkschaften oder die lange Zeit etablierten Volksparteien, sondern globale Wirtschaftsverflechtungen sowie supra- oder transnationale Einrichtungen. Es zeichnet sich somit immer deutlicher eine zentrale Spaltungsachse innerhalb der Mittelschicht ab: Die akademisch ausgebildete urbane Mittelschicht entwickelt sich zunehmend zu einer transnationalen Oberschicht, während die in den Regionen und Kleinstädten angesiedelte mittlere und untere Mittelschicht noch im nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraum verankert ist und ein Interesse an dessen Stärkung, notfalls auch durch Abkopplung von der Globalisierung, hat. Heimat erscheint nicht wenigen von ihnen unter diesen Vorzeichen als etwas, das verteidigt werden muss – zur Not mit Klauen und Zähnen. Der Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version von: Cornelia Koppetsch, In Deutschland daheim, in der Welt zuhause? Alte Privilegien und neue Spaltungen, 22. 12. 2017 Externer Link: www.soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/in-deutschland-daheim-in-der-welt-zu-hause/. Vgl. Christian Schüle, Heimat. Ein Phantomschmerz, München 2017. Vgl. Juli Zeh, Unterleuten, München 2016; Thomas Wolfe, Schau heimwärts, Engel!, Hamburg 2016 (1978); Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016. Siehe dazu etwa Spiegel Wissen 6/2016 zum Thema "Heimat". Nane Retzlaff/Gunter Weidenhaus, Heimat in der Fremde, in: Berliner Republik. Das Debattenmagazin 5/2015, S. 32ff.; Patrick Gensing, Immer nur Vergangenheit. Einspruch: Die Debatte, wie der altdeutsche Begriff Heimat progressiv besetzt werden kann, löst kein einziges Problem, in: ebd., S. 38ff. Vgl. Retzlaff/Weidenhaus (Anm. 4), S. 33. Auch Familie, Geschlecht, Aktienmärkte und Berufe sind bekanntlich soziale Konstruktionen. Abschaffen kann man sie deshalb noch lange nicht, denn sie stehen als "gesellschaftliche Tatsachen" (Émile Durkheim) außerhalb der individuellen Verfügbarkeit. Kosmopoliten unterschätzen die Mächtigkeit des Sozialen. Tatsächlich verliert man wesentliche Teile von sich, wenn man in ein anderes Land auswandert. Zunächst verliert man die eigene Sprache, dann die Identität: als Bürgerin oder als Tochter oder Sohn, als Angehörige einer ethnischen Gruppierung, als Eingeborene. Nach und nach jedoch kann dann der Verlust zur Bereicherung führen: Man lernt eine neue Sprache, nimmt eine neue Identität an und gewinnt eine neue Heimat – im Idealfall. Vgl. Katherine J. Cramer, The Politics of Resentment. Rural Consciousness in Wisconsin and the Rise of Scott Walker, Chicago, 2016. Vgl. Schüle (Anm. 1), S. 111. Bei der Unterscheidung zwischen den beiden Heimatmodellen handelt es sich um eine idealtypische Zuspitzung. Die realen Lebenswirklichkeiten der jeweiligen Trägergruppen sind keineswegs so eindeutig voneinander geschieden, als hier bisweilen propagiert. Regional-heimatliche Bindungen oder ethno-nationale Zugehörigkeiten sind auch für Angehörige der urbanen kosmopolitischen Mittelschichten relevant; umgekehrt nehmen auch die Befürworter des Heimat-als-Schicksal-Modells ihre jeweiligen Milieus mitunter als ambivalent wahr und betrachten sie keineswegs als "heile Welten". Vgl. Cornelia Koppetsch/Günter Burkart, Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich, Konstanz 1999. Vgl. Kenneth J. Gergen, Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen Leben, Heidelberg 1996, S. 21ff. Vgl. Richard A. Peterson/Roger M. Kern, Changing Highbrow Taste. From Snob to Omnivore, in: American Sociological Review 5/1996, S. 900–907. Vgl. Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York 2002, S. 8ff. Vgl. Walter Prigge (Hrsg.), Peripherie ist überall, Frankfurt/M.–New York 1998, S. 79. Siehe dazu die Ausführungen bei Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt/M. 2014. Vgl. Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt/M. 1965. Vgl. Marc Augé, Nicht-Orte, München 2010. Zur Unterscheidung von space und place vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001. Vgl. Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die verunsicherte Mitte, Frankfurt/M.–New York 2013, S. 93ff. Vgl. Christoph Bartmann, Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal, München 2016. Vgl. Philipp Staab, Macht und Herrschaft in der Servicewelt, Hamburg 2014. Vgl. Heinz Bude, Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, Hamburg 2013. Dazu u.a. Arjun Appadurai, Die Geographie des Zorns, Frankfurt/M. 2009; Ivan Krastev, Europadämmerung. Ein Essay, Berlin 2017. Vgl. u.a. Robert B. Reich, Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie, Frankfurt/M.–Berlin 1993. Die alten Produktionssysteme des Konzernkapitalismus wurden in Einzelteile zerlegt und rund um den Erdball neu aufgebaut, wo immer sich Produkte am besten oder am billigsten fertigen lassen. Eine globale Kultur- und Wissensindustrie hat zur Erweiterung von Absatzmärkten für Kulturgüter beigetragen. Eine weltweite Konkurrenz um einerseits die billigsten und andererseits die fähigsten Arbeitskräfte ist entfacht worden. Vgl. Leslie Sklair, The Transnational Capitalist Class, Oxford u.a. 2001. Vgl. Saskia Sassen, Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt/M.–New York 1996. Vgl. Anja Weiß, Soziologie globaler Ungleichheiten, Berlin 2017, S. 167. Ebd., S. 95. Vgl. Jürgen Gerhards/Silke Hans/Sören Carlson, Klassenlagen und transnationales Humankapital. Wie Eltern der mittleren und oberen Klassen ihre Kinder auf die Globalisierung vorbereiten, Wiesbaden 2016. Vgl. Weiß (Anm. 28), S. 95ff. Dazu u.a. schon Ralf Dahrendorf, Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in: Merkur 11/2000, S. 1057–1068; Richard Münch, Das Regime des liberalen Kapitalismus: Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat, Frankfurt/M.–New York 2009. Vgl. Martin Werding/Marianne Müller, Globalisierung und gesellschaftliche Mitte. Beobachtungen aus ökonomischer Sicht, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Frankfurt/M. 2007, S. 103–161. Hier findet aktuell ein internationaler Unterbietungswettbewerb um die niedrigsten Löhne und die geringsten Arbeitnehmerrechte statt. Besiegelt wird der kollektive Ausschluss der Geringverdiener aus den Mittelschicht-Milieus durch die "Krise des Wohlfahrtsstaates", der ihre Einkommens- und Statusverluste beziehungsweise ihr "Überflüssigwerden" nicht mehr auffängt.
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, Cornelia Koppetsch
"2022-02-17T00:00:00"
"2018-11-20T00:00:00"
"2022-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/280568/in-deutschland-daheim-in-der-welt-zu-hause/
Während die einen Heimat als Schicksal betrachten, gehen die anderen von der Möglichkeit einer (immer wieder neu) gewählten Heimat aus. Die unterschiedlichen Konzepte von "Heimat" sind Ausdruck neuartiger Spaltungen innerhalb einer sich transnational
[ "Nation", "Nationalismus", "Heimat", "Kapitalismus", "Kultur", "Migration", "Globalisierung" ]
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Partner und Rivalen | Indien | bpb.de
Indien und China und ihr Verhältnis zueinander werden die Welt von morgen prägen. Beide sind Nuklearmächte, sie stellen riesige Absatzmärkte für den globalen Handel dar. Ihre Bevölkerungen sind mit Abstand die größten der Welt. Das alles eint sie. Doch vieles trennt die beiden asiatischen Staaten auch: Indien gibt sich liberal, nennt sich gerne "größte Demokratie der Welt", es gibt eine freie Presse und eine unabhängige Justiz. China hingegen wird autoritär regiert, die Kommunistische Partei bestimmt in fast allen Bereichen der Gesellschaft den Kurs. Dass sie zudem geographische Nachbarn sind, macht sie zu Partnern und Rivalen. Die Beziehungen zwischen Indien und China sind geprägt von diesen beiden Polen. Manchmal klingt es, als wären sie enge Verbündete: "Unsere Beziehungen zu Indien sind eines der wichtigsten Anliegen", verkündete Chinas Präsident Xi Jinping kurz nach seinem Amtsantritt im März 2013. Im Mai desselben Jahres ging die erste Reise von Chinas neuem Premierminister Li Keqiang nach Delhi, was als Zeichen angesehen wurde, welche Bedeutung den chinesisch-indischen Beziehungen in Peking beigemessen wird. Genau zwischen diesen beiden Ereignissen, im April 2013, wurde jedoch auch die politische Gegnerschaft deutlich: Chinesische Truppen waren kilometerweit auf indisches Staatsgebiet vorgedrungen und hatten dort ein Militärlager errichtet. Seit Jahrzehnten herrscht über den genauen Verlauf der rund 3500 Kilometer langen chinesisch-indischen Grenze Uneinigkeit, 1962 kam es deswegen gar zum Krieg. Die Krise im April 2013 endete glimpflich, doch sie verdeutlicht, auf welch tönernen Füßen die Beziehung der beiden Länder steht. Geschichte Über viele Jahrhunderte hinweg dominierte das chinesische Kaiserreich große Teile Asiens. Auf dem indischen Subkontinent existierten Vasallenstaaten, die gegenüber China tributpflichtig waren. Als sich die britischen Kolonialherren Ende der 1940er Jahre aus Asien zurückzogen, ergab sich eine völlig neue Situation: Einerseits hegten die Regierungen in Peking und Delhi durchaus politische Sympathien füreinander – Interner Link: Jawaharlal Nehrus sozialistisch geprägtes Demokratiekonzept und Mao Zedongs kommunistische Herrschaft schienen ähnliche Ansätze zu verfolgen. Andererseits entpuppte sich die unklare Grenzziehung schnell als Belastung für die Beziehungen der beiden Länder. Im Herbst 1962 schließlich eskalierten die Streitigkeiten um den Grenzverlauf und es kam zum Krieg. Indien war damals völlig unvorbereitet auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit China. Premierminister Nehru wurden deswegen schwere Vorwürfe gemacht: Zu blauäugig sei er gewesen, zu naiv gegenüber China, er habe die Zeichen falsch gedeutet. Das indische Militär sei im Vergleich zu den chinesischen Truppen schlecht ausgerüstet gewesen. Fehler, die man in Indien nie wieder begehen möchte. Zwar dauerte der Konflikt nur einen Monat, doch seither herrscht auf indischer Seite ein tiefes Misstrauen gegenüber China. Im Laufe der Jahre entfernten sich die beiden Staaten weiter voneinander: Indien verbündete sich mit der Sowjetunion und bot dem Dalai Lama und dessen tibetischer Exilregierung Zuflucht. China indes rückte näher an Indiens Erzfeind Pakistan heran. Die Allianzen überdauerten den Kalten Krieg und beeinflussen noch heute die Politik beider Länder. Wirtschaftliche Entwicklung Wirtschaftlich lagen die beiden Staaten lange Zeit gleich auf, bis Ende der 70er Jahre Deng Xiaoping der Volksrepublik eine wirtschaftliche Öffnung verordnete. Erste marktwirtschaftliche Regeln wurden eingeführt, Sonderwirtschaftszonen errichtet, begrenzter Wettbewerb zugelassen. In der Folge erlebte die chinesische Wirtschaft einen jahrzehntelangen Boom mit zweistelligen Wachstumsraten. China wurde zum Liebling ausländischer Investoren. Auch in Indien wurde Chinas wirtschaftliche Entwicklung zur Richtmarke. Auf Symposien und in Leitartikel wurden immer lauter die Liberalisierung der heimischen Wirtschaft gefordert. Doch es dauerte bis in die 90er Jahre – also fast eineinhalb Jahrzehnte nach China – bis unter dem damaligen Finanzminister und späterem Premierminister Manmohan Singh erste marktwirtschaftliche Reformen auf den Weg kamen und die indische Wirtschaft zaghaft in den Wettbewerb des Welthandels eingegliedert wurde. (Siehe dazu Indiens Wirtschaft) Es folgten Jahre des wirtschaftlichen Wachstums – und es wurde üblich, Indien und China miteinander zu vergleichen. Von 2001 bis 2005 wuchs Chinas Wirtschaft durchschnittlich um 9,8 Prozent, von 2006 bis 2010 sogar um 11,2 Prozent. Indien hinkte mit 6,5 Prozent und 8,6 Prozent noch etwas hinterher, hatte aber im Vergleich der beiden Zeiträume mit 2,1 Prozent den größeren Sprung gemacht. Der größere Zuwachs wurde als Signal gewertet, dass Indien Chinas zeitlichen Vorsprung aufholen würde. Zudem hatte Indien aus westlicher Sicht einen gewichtigen Vorteil: Während China autoritär von kommunistischen Parteikadern regiert wurde, bestand in Indien eine freiheitliche Demokratie. Fachleute priesen deren Vorzüge. Zwar laufe manches etwas langsamer und beschwerlicher, aber die Gefahr eines plötzlichen Kollapses aus politischen Gründen sei in Indien nicht gegeben. Der Dalai Lama – auf schicksalhafte Weise mit beiden Ländern eng verbunden – sagte einmal: China sehe zwar gut aus, aber unter der Oberfläche würde es brodeln, während es sich in Indien genau umgekehrt verhalte. Die Mischung aus freiheitlichem Diskussionsklima, billigen Arbeitskräften und Englisch als Verkehrssprache schien Indien als Standort für Investitionen und Auslagerungen (Outsourcing) attraktiv zu machen. Im Wettrennen zwischen Indien und China schien Indien ein logischer Verbündeter des Westens zu sein. Doch Indiens wirtschaftliche Entwicklung ist ins Stocken geraten. Im Jahr 2014 rechnet die Regierung nur noch mit einem Wachstum von 4,8 Prozent. Die Infrastruktur ist zu marode, um ein größeres Wirtschaftswachstum tragen zu können. Besonders deutlich wurde das im Sommer 2013 beim größten Stromausfall der indischen Geschichte, als im Norden des Landes Hunderte Millionen Menschen tagelang ohne Elektrizität waren. Um mit Chinas Wachstumsraten glänzen zu können, müsste Indien seine Infrastruktur verbessern, denn Verkehrswege und Stromnetze sind bereits heute überlastet. Im Prinzip wäre die Finanzierung von Infrastrukturprojekten durch Auslandskapital denkbar, aber dafür müsste die indische Wirtschaft sich für Auslandsinvestitionen öffnen. Doch auch Chinas glänzende Fassade hat Risse bekommen: die Wirtschaft wächst so langsam wie zuletzt Ende 1990, das Kreditvolumen hat erschreckende Ausmaße angenommen, die chinesischen Banken sind marode, das Wirtschaftswachstum ist deutlich geschrumpft. Zudem kämpft die Volksrepublik mit den Folgen der Ein-Kind-Politik. Das Land droht, über Nacht alt zu werden, und der fehlende demographische Unterbau gefährdet die nachhaltige Entwicklung des Landes. Besonders im wirtschaftlichen Bereich haben sich Indien und China in den vergangenen Jahren jedoch auch als Partner schätzen gelernt: Die Volksrepublik ist zu einem der größten Wirtschaftspartner Indiens aufgestiegen. Der bilaterale Handel hat sich von 3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 66,57 Milliarden US-Dollar im Jahr 2012 mehr als verzwanzigfacht. Um weiter zu wachsen, sind China und Indien auf eines angewiesen: Energie. Bis 2035 wird Chinas Energiebedarf um 71 Prozent steigen, der indische sogar um 135 Prozent. Delhi wird Ressourcen im Wert von 700 Milliarden US-Dollar importieren müssen. Entsprechend intensiv bemühen sich beide Länder weltweit um Öl- und Gasquellen sowie um sichere Handelsrouten. Einen Teil dieses Weges gehen sie gemeinsam, beispielsweise im Sudan, um neue Ölfelder zu erschließen oder im Fall des Nathu-La-Passes zwischen dem indischen Bundesstaat Sikkim und der Region Tibet, um verwaiste Handelswege wiederzubeleben. Politische Rivalität Die indisch-chinesische Partnerschaft stößt jedoch an ihre Grenzen, unter anderem beim Thema Wasser. Streitpunkt sind Flüsse aus der Himalaja-Region, vor allem der Brahmaputra. Unter dem Namen Yarlung Tsangpo entspringt er im Hochland von Tibet. Sein Wasser ist unerlässlich für die Versorgung großer Teile Indiens und Bangladeschs. Doch auch in China sind die Wasservorkommen regional sehr ungleich verteilt. Daher hat China vor einigen Jahren begonnen, nordwestlich der Stadt Gyaca für umgerechnet 880 Millionen Euro den Zangmu-Staudamm zu errichten. Offiziell wird von chinesischer Seite zwar versichert, dass kein Wasser aus dem Fluss umgeleitet werde. Doch kursieren Gerüchte, wonach chinesische Ingenieure planen, Wasser aus Tibet in den von Dürre geplagten Norden Chinas umzuleiten. Indien fürchtet daher eine Verringerung der Wassermenge im Brahmaputra. (© picture-alliance/AP, Pool Photo) Auch im Bereich der Bündnispolitik tritt die Rivalität zwischen Indien und China offen zu Tage: Zuletzt hat China den Betrieb des neuen Tiefseehafens im pakistanischen Gwadar übernommen. Die Hafenstadt liegt strategisch günstig am Ausgang des Persischen Golfs, unweit der iranischen Grenze. Sie eröffnet dem chinesischen Wirtschaftsverkehr und seinen Energieimporten einen Überlandkorridor, mit dem im Vergleich zum Seetransport Tausende Kilometer gespart würden. Indien befürchtet, Gwadar könne zu einem chinesischen Marinestützpunkt werden, was die Regierung in Peking bislang jedoch bestreitet. Das Hafenprojekt scheint indes Teil einer größeren Strategie Chinas in den Nachbarländern Indiens zu sein: Wie an einer Perlenkette aufgezogen, baut es sich Stützpunkte in der Region auf. Nicht nur in Pakistan, auch in Nepal, Bangladesch oder Myanmar (Burma) pflegen die Staatsführungen inzwischen bessere Beziehungen zu Peking als zu Delhi. In Delhi jedenfalls ist man davon überzeugt, dass China Indien einkreisen und seinen Aufstieg ausbremsen will. Als Beispiel nennt Rajeswari Rajagopalan, Chinaexpertin am Delhier Forschungsinstitut Observer Research Foundation, Indiens Bemühungen um einen permanenten Sitz im Weltsicherheitsrat. China, seit Gründung der Vereinten Nationen ständiges Mitglied in diesem Gremium, blockiere mit seinem Vetorecht die indischen Pläne. Zwar habe sich Peking nie offen gegen einen Sitz Indiens ausgesprochen. "Aber China ist ohne Zweifel nicht begeistert von der Idee", sagt die Wissenschaftlerin. Rajagopalan hat in den Analysen der chinesischen Think-Tanks eine deutlich anti-indische Rhetorik ausgemacht und ist überzeugt, dass China mit allen Mitteln versucht, den Aufstieg Indiens zu verhindern. Mitunter tritt die Volksrepublik außenpolitisch derart robust auf, dass nicht nur Indien mit Argwohn auf China blickt. Etliche Länder Asiens verfolgen Chinas Auftreten mit wachsendem Misstrauen, es kommt vermehrt zu Territorialstreitigkeiten mit Japan, Südkorea, Vietnam – oder auch Indien. Eine kriegerische Auseinandersetzung wie 1962 scheint zwar unwahrscheinlich, doch bleibt das Verhältnis der beiden asiatischen Großmächte geprägt von Misstrauen und Rivalität. Während in Europa die Entwicklungen in Asien noch immer kaum reflektiert werden, haben die Vereinigten Staaten ihre strategischen Planungen in der Außenpolitik bereits umgestellt: Pivot to Asia (sinngemäß: Schwenk nach Asien) lautet die neue Politik. Man versucht, die zu Gunsten Chinas verschobenen Gleichgewichte auf dem asiatischen Kontinent durch ein stärkeres Indien auszubalancieren. Denn ob als Rivalen oder Partner, am Verhältnis zwischen Peking und Delhi wird sich in den kommenden Jahrzehnten vermutlich vieles entscheiden. (© picture-alliance/AP, Pool Photo)
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Michael Radunski
"2022-01-26T00:00:00"
"2014-04-01T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/asien/indien/181832/partner-und-rivalen/
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Indien und China scheinen stabil und partnerschaftlich. In vielen anderen Bereichen herrscht dagegen große Rivalität. Wie sich das Verhältnis der asiatischen Großmächte zukünftig entwickelt, wir die Welt von
[ "Indien", "China", "Asien", "Indien", "China" ]
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Politische aktive Bürgerinnen und Bürger – ein Leitbild für die politische Bildung? | Politische Bildung | bpb.de
Wer diese Frage diskutieren will, muss zunächst erläutern, was unter politischem Handeln verstanden werden soll. Für diesen Text wird politisches Handeln als "ein zielgerichtetes Verhalten der Bürger/-innen mit Bezug auf Politik und politische Entscheidungen" definiert (Pickel 2012, S. 40). Politisches Handeln ist damit etwas anderes als soziales Handeln: Wenn Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Projekten zum Service-Learning zum Beispiel in ein Altenheim gehen, den Seniorinnen und Senioren vorlesen oder ihnen den Umgang mit dem PC beibringen, ist das zunächst soziales Handeln. Erst wenn die Schüler/-innen öffentlich die strukturellen Verhältnisse in dem Altenheim thematisieren, zum Beispiel indem sie die Anzahl der Pflegekräfte im Verhältnis zu den Seniorinnen und Senioren kritisieren, handeln sie politisch (vgl. Nonnenmacher 2011, S. 93). Politisch handelnde Bürgerinnen und Bürger als Ziel der politischen Bildung Es ist unstrittig, dass eine Demokratie Bürgerinnen und Bürger braucht, die politisch handeln. Allerdings gibt es unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie viele aktiv handelnde Bürger/-innen für eine funktionierende Demokratie erforderlich sind. Neben dem pragmatischen Argument, dass außerhalb kleiner politischer Einheiten – wie etwa einem Dorf – direkte politische Mitwirkung für eine große Zahl an Bürgerinnen und Bürgern oder gar für alle praktisch nicht zu organisieren sei, hängt die Antwort auf diese Frage auch vom jeweiligen Demokratieverständnis und Menschenbild ab. Bürger – der Begriff Bei dem Begriff Bürger denken wir heute meist an Staatsbürger/-innen. Im Englischen und Französischen heißen Staatsbürger/-innen citizen bzw. citoyen. Diese Begriffe gehen zurück auf das lateinische Wort civitas (= Bürgerschaft) und bezeichneten ursprünglich den wahlberechtigten Bürger der Citè (= franz. Stadt). Die französische Sprache kennt zudem den bourgeois. Dieser war ursprünglich der gewerbetreibende, nicht-adlige Stadtbewohner, im Deutschen auch Bürger genannt. Dieser Bedeutung entspricht auch das deutsche Adjektiv bürgerlich, das die Eigenschaften der bürgerlichen Klasse oder Mittelschicht bezeichnet. Im 19. Jahrhundert zeichnete diese Schicht sich vor allem dadurch aus, dass die (Besitz-/Bildungs-)Bürger bewusst auf eine Beteiligung am Gemeinwesen verzichteten und sich auf ihren bürgerlichen Lebensstil zurückzogen. Im Gegensatz dazu steht der Begriff des Bürgers als citoyen oder Staatsbürger meist für einen Bürger, der sich durch ein politisches Interesse und die aktive Partizipation am Gemeinwesen auszeichnet (vgl. Kocka 2008, Frank 2004). Vereinfacht gesagt gehen Anhänger/-innen einer repräsentativen Demokratie davon aus, dass die Mehrheit der Bürger/-innen weder über das notwendige Interesse noch über die notwendigen Kompetenzen verfügt, die Politik aktiv mitzubestimmen. Ein demokratisches System, in dem sich nur die wirklich interessierten und kompetenten Bürger/-innen in Parteien engagieren und einige zu Berufspolitikerinnen und -politikern werden, erscheint vor diesem Hintergrund ideal. Befürworter/-innen einer repräsentativen Demokratie erwarten von den gewählten politischen Eliten rationalere und effektivere Entscheidungen als von den Normalbürgern und sind der Meinung, für diese reichten die regelmäßig stattfindenden Wahlen als Mittel der politischen Partizipation aus. Die Anhänger/-innen einer partizipativen Demokratie glauben hingegen, dass möglichst viele Bürger/-innen die Politik an möglichst vielen Stellen aktiv mitgestalten sollten. Sie trauen dies den Menschen zu und gehen außerdem davon aus, dass diese durch die aktive Mitgestaltung der Politik ihre politischen Kompetenzen noch stärken können. Sie erhoffen sich durch eine breitere Partizipation auch bessere Ergebnisse der Politik, weil so die Interessen, Werte und Potenziale von deutlich mehr Menschen bei den politischen Entscheidungen zum Tragen kommen. Sie möchten daher bestehende Mitwirkungsmöglichkeiten ausbauen, z. B. durch den verstärkten Einsatz von Bürgerforen oder den Ausbau der Volksgesetzgebung. Eine Antwort auf die Frage, welche Rolle das politische Handeln als Ziel der politischen Bildung spielen sollte, hängt also immer von den demokratietheoretischen Grundannahmen ab. In der Politikdidaktik wurden deshalb unterschiedliche Bürgerleitbilder als mögliche Ziele der politischen Bildung diskutiert (vgl. Breit/Massing 2002): Reflektierte Zuschauer/-innen informieren sich regelmäßig über Politik und sind in der Lage, rational begründete Wahlentscheidungen zu treffen. Interventionsfähige Bürger/-innen engagieren sich darüber hinaus punktuell in der Politik, immer dann, wenn ihre eigenen Interessen besonders betroffen sind. Aktivbürger/-innen engagieren sich dauerhaft politisch und Politik ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. Der Politikdidaktiker Joachim Detjen, dessen Podcast zum Thema Bürgerleitbilder Sie hier hören können, fasst den Begriff des Aktivbürgers enger als die meisten anderen Didaktikerinnen und Didaktiker: Bei ihm ist ein Aktivbürger jemand, "der sein Leben der Politik widmet" und "mehr oder weniger professionell dieses Geschäft betreib[t]". Wer sich in einer Bürgerinitiative engagiert, auch längerfristig, ist nach dieser Definition "nur" ein interventionsfähiger Bürger (vgl. neben dem Podcast auch Detjen 2000). Interner Link: Audio-Interview:Interview: Prof. Dr. Joachim Detjen über Bürgerleitbilder im Politikunterricht (zum Podcast mit Projektinformationen in der Mediathek) Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. Joachim Detjen Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. Joachim Detjen Podcasts zu Kontroversen in der Politikdidaktik Welche Konsequenzen haben diese Bürgerleitbilder für die praktische politische Bildung? Es ist offensichtlich, dass die drei Typen von Bürgerinnen und Bürgern jeweils unterschiedliche Kompetenzen benötigen (vgl. Massing 2001, Buchstein 2009): Reflektierten Zuschauer/-innen brauchen vor allem Wissen über politische Inhalte; sie müssen das Gefüge der politischen Institutionen kennen und wissen, wie politische Prozesse innerhalb des politischen Systems ablaufen. Interventionsfähigen Bürger/-innen müssen darüber hinaus wissen, an welchen Stellen und mit welchen Mitteln sie sich politisch beteiligen können. Sie brauchen kommunikative und strategische Fähigkeiten, um sich einzubringen. Aktivbürger/-innen benötigen neben politischem Wissen und politischen Fähigkeiten vor allem eins: die Motivation, dauerhaft viel Zeit und Energie für politisches Engagement aufzubringen. Welche dieser Kompetenzen soll nun die politische Bildung vermitteln? Anhänger/-innen der repräsentativen Demokratie setzen vor allem auf die Vermittlung von politischem Wissen. Anhänger/-innen der partizipativen Demokratie sind hingegen der Meinung, politische Bildung müsse auch kommunikative und strategische Fähigkeiten fördern, und ihre Adressatinnen und Adressaten zum Engagement motivieren. Hier deutet sich an, dass die demokratietheoretischen Vorstellungen auch Konsequenzen für die Wahl der Inhalte und Methoden der politischen Bildung haben: Interventionsfähige Bürger/-innen und vor allem Aktivbürger/-innen müssen lernen, auf welche Art und Weise sie sich politisch engagieren können. Für die Ausbildung der notwendigen Kompetenzen zum Mitmachen eignen sich handlungsorientierte Methoden, wie zum Beispiel Planspiele, durch die kommunikative und strategische Fähigkeiten gefördert werden. Die Diskussion über die Bürgerleitbilder fand vor allem im Rahmen der schulischen politischen Bildung statt. Die Politikdidaktiker/-innen haben hier sehr unterschiedliche Positionen. Wie David Salomon im Podcast (siehe weiter unten) sieht auch Wolfgang Sander die Vorgabe eines Bürgerleitbildes kritisch: "In der Demokratie gibt es eine Vielzahl legitimer Bürgerrollen […]. Politische Bildung hat hier die Aufgabe, Menschen darin zu unterstützen, je für sich ihre eigene Bürgerrolle zu finden“ (Sander 2008, S. 49). Andere Autoren wie beispielsweise Paul Ackermann plädieren dagegen für die Vorgabe eines Bürgerleitbildes: "Anstatt eines politischen Dauerengagements halte ich den politischen Interventionsbürger für ein realistisches Ziel. […] Die Schülerinnen und Schüler sollten demnach im Unterricht nicht nur lernen, über politische Ereignisse und Probleme zu urteilen, sondern auch, wie sie sich selbst in die Politik einmischen können, um ihre oder auch die Interessen anderer zu vertreten“ (Ackermann 2004, S. 95). Paul Ackermann argumentiert in seinem Text allerdings nicht vorwiegend demokratietheoretisch, sondern pragmatisch. Pragmatische Argumente vertreten auch viele andere Politikdidaktiker und Politikdidaktikerinnen, denn für den Politikunterricht stehen nur wenige Stunden zur Verfügung und es scheint kaum realisierbar, viele Schülerinnen und Schüler in dieser kurzen Zeit zu Interventions- oder sogar Aktivbürger/-innen zu machen. Interner Link: Audio-Interview: Prof. Dr. David Salomon über Bürgerleitbilder im Politikunterricht (zum Podcast mit Projektinformationen in der Mediathek) Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. David Salomon Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. David Salomon Podcasts zu Kontroversen in der Politikdidaktik Sehr grundsätzlich ist David Salomons Kritik an den Bürgerleitbildern: Er wendet ein, die Orientierung der politischen Bildung an Bürgerleitbildern berge die Gefahr, dass der komplexe Begriff des Bürgers auf den des Staatsbürgers reduziert werde. Das stecke schon in dem viel zitierten Satz Demokratie braucht mündige Bürger. Nicht die Menschen als Subjekte, deren politische Mündigkeit und Autonomie gefördert werden sollen, stünden dabei im Zentrum, sondern lediglich funktionsfähige Staatsbürger/-innen, deren Aufgabe es sei, das bestehende politische System zu stabilisieren. Die Lernenden müssten bei einem festgelegten Bürgerleitbild zu einem bestimmten Verhalten als Bürgerin oder Bürger erzogen werden. Stattdessen sollte in der politischen Bildung das Konzept des Bürgers lieber gemeinsam mit den Lernenden kontrovers diskutiert werden. David Salomon argumentiert auch, die Diskussion um die Bürgerleitbilder blende die sozialen Voraussetzungen der politischen Partizipation aus: Dass verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche zeitliche und finanzielle Möglichkeiten hätten, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen, würde durch einheitliche normative Leitbilder verschleiert (vgl. neben dem Podcast auch Salomon 2010; 2012). Unabhängig davon, ob Lehrende an der Schule oder außerschulische politische Bildner/-innen sich ausdrücklich zu einem bestimmten Leitbild bekennen: Jeder hat bestimmte Ideale davon im Kopf, wie die Demokratie beschaffen sein sollte und welche Rolle die Bürger/-innen spielen sollten. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Leitbildern kann deshalb auf jeden Fall dazu beitragen, sich diese eigenen Vorstellungen bewusst zu machen und zu reflektieren, inwiefern sie die Bestimmung von Zielen, Inhalten und auch Methoden der eigenen Unterrichtsstunden oder Veranstaltungen zur politischen Bildung beeinflussen. Bei dem Begriff Bürger denken wir heute meist an Staatsbürger/-innen. Im Englischen und Französischen heißen Staatsbürger/-innen citizen bzw. citoyen. Diese Begriffe gehen zurück auf das lateinische Wort civitas (= Bürgerschaft) und bezeichneten ursprünglich den wahlberechtigten Bürger der Citè (= franz. Stadt). Die französische Sprache kennt zudem den bourgeois. Dieser war ursprünglich der gewerbetreibende, nicht-adlige Stadtbewohner, im Deutschen auch Bürger genannt. Dieser Bedeutung entspricht auch das deutsche Adjektiv bürgerlich, das die Eigenschaften der bürgerlichen Klasse oder Mittelschicht bezeichnet. Im 19. Jahrhundert zeichnete diese Schicht sich vor allem dadurch aus, dass die (Besitz-/Bildungs-)Bürger bewusst auf eine Beteiligung am Gemeinwesen verzichteten und sich auf ihren bürgerlichen Lebensstil zurückzogen. Im Gegensatz dazu steht der Begriff des Bürgers als citoyen oder Staatsbürger meist für einen Bürger, der sich durch ein politisches Interesse und die aktive Partizipation am Gemeinwesen auszeichnet (vgl. Kocka 2008, Frank 2004). Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. Joachim Detjen Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. Joachim Detjen Podcasts zu Kontroversen in der Politikdidaktik Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. David Salomon Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. David Salomon Podcasts zu Kontroversen in der Politikdidaktik Quellen / Literatur Ackermann, Paul (2004): "Der interventionsfähige Bürger scheint mir ein realistisches Leitbild für die politische Bildung zu sein“, in: Pohl, Kerstin (Hrsg.): Positionen der politischen Bildung 1. Ein Interviewbuch zur Politikdidaktik, Schwalbach/Ts., S. 88-103. Breit, Gotthard/ Massing, Peter (Hrsg.) (2002): Die Rückkehr des Bürgers in die politische Bildung, Schwalbach/Ts. Buchstein, Hubertus (2009): Zumutungen der Demokratie. Von der normativen Theorie des Bürgers zur institutionell vermittelten Präferenzkompetenz, in: Ders.: Demokratietheorie in der Kontroverse. Baden-Baden, S. 73-106. Detjen, Joachim (2000): Bürgerleitbilder in der Politischen Bildung, in: Politische Bildung, H. 4, S. 19-38. Frank, Götz (2009): Die zögerliche Annäherung des Bürgers an den Citoyen, in: Einblicke. Das Forschungsmagazin der Universität Oldenburg, Nr. 39, S. 14-17, Externer Link: http://www.presse.uni-oldenburg.de/einblicke/39/3frank.pdf [aufgerufen am 02.05.2019]. Kocka, Jürgen (2008): Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, H. 9-10, S. 3-8. Massing, Peter (2011): Theoretische und normative Grundlagen politischer Bildung, in: ders., Politikdidaktik als Wissenschaft. Ausgewählte Aufsätze. Studienbuch, Schwalbach/Ts., S. 113-168. Nonnenmacher, Frank (2011): Handlungsorientierung und politische Aktion in der schulischen politischen Bildung. Ursprünge, Grenzen und Herausforderungen, in: Widmaier, Benedikt/Nonnenmacher, Frank (Hrsg.): Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts., S. 83-99. Pickel, Susanne (2012): Das politische Handeln der Bürgerinnen und Bürger – ein Blick auf die Empirie, in: Weißeno, Georg/Buchstein, Hubertus (Hrsg.): Politisch Handeln. Modelle, Möglichkeiten, Kompetenzen, Opladen/Berlin/Farmington Hills, S. 39-57. Salomon, David (2010): Elemente neuer Bürgerlichkeit. Bourgeois und Citoyen in der postdemokratischen Elitenherrschaft, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft,H. 3, S. 311-323. Salomon, David (2012): Mündige Bürger oder Mündel der Bürgerlichkeit? Zur Kritik von Bürgerleitbildern in der politischen Bildung, in: Kluge, Sven/Lohmann, Ingrid (Hrsg.): Schöne neue Leitbilder. Jahrbuch für Pädagogik, Frankfurt/M., S. 73-86. Sander, Wolfgang (2008): Politik entdecken - Freiheit Leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung, Schwalbach/Ts. Ackermann, Paul (2004): "Der interventionsfähige Bürger scheint mir ein realistisches Leitbild für die politische Bildung zu sein“, in: Pohl, Kerstin (Hrsg.): Positionen der politischen Bildung 1. Ein Interviewbuch zur Politikdidaktik, Schwalbach/Ts., S. 88-103. Breit, Gotthard/ Massing, Peter (Hrsg.) (2002): Die Rückkehr des Bürgers in die politische Bildung, Schwalbach/Ts. Buchstein, Hubertus (2009): Zumutungen der Demokratie. Von der normativen Theorie des Bürgers zur institutionell vermittelten Präferenzkompetenz, in: Ders.: Demokratietheorie in der Kontroverse. Baden-Baden, S. 73-106. Detjen, Joachim (2000): Bürgerleitbilder in der Politischen Bildung, in: Politische Bildung, H. 4, S. 19-38. Frank, Götz (2009): Die zögerliche Annäherung des Bürgers an den Citoyen, in: Einblicke. Das Forschungsmagazin der Universität Oldenburg, Nr. 39, S. 14-17, Externer Link: http://www.presse.uni-oldenburg.de/einblicke/39/3frank.pdf [aufgerufen am 02.05.2019]. Kocka, Jürgen (2008): Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, H. 9-10, S. 3-8. Massing, Peter (2011): Theoretische und normative Grundlagen politischer Bildung, in: ders., Politikdidaktik als Wissenschaft. Ausgewählte Aufsätze. Studienbuch, Schwalbach/Ts., S. 113-168. Nonnenmacher, Frank (2011): Handlungsorientierung und politische Aktion in der schulischen politischen Bildung. Ursprünge, Grenzen und Herausforderungen, in: Widmaier, Benedikt/Nonnenmacher, Frank (Hrsg.): Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts., S. 83-99. Pickel, Susanne (2012): Das politische Handeln der Bürgerinnen und Bürger – ein Blick auf die Empirie, in: Weißeno, Georg/Buchstein, Hubertus (Hrsg.): Politisch Handeln. Modelle, Möglichkeiten, Kompetenzen, Opladen/Berlin/Farmington Hills, S. 39-57. Salomon, David (2010): Elemente neuer Bürgerlichkeit. Bourgeois und Citoyen in der postdemokratischen Elitenherrschaft, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft,H. 3, S. 311-323. Salomon, David (2012): Mündige Bürger oder Mündel der Bürgerlichkeit? Zur Kritik von Bürgerleitbildern in der politischen Bildung, in: Kluge, Sven/Lohmann, Ingrid (Hrsg.): Schöne neue Leitbilder. Jahrbuch für Pädagogik, Frankfurt/M., S. 73-86. Sander, Wolfgang (2008): Politik entdecken - Freiheit Leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung, Schwalbach/Ts.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-03T00:00:00"
"2019-10-22T00:00:00"
"2022-02-03T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/politische-bildung/299121/politische-aktive-buergerinnen-und-buerger-ein-leitbild-fuer-die-politische-bildung/
Demokratie bedeutet Volksherrschaft: Die Bürgerinnen und Bürger als Souverän üben die politische Macht aus. Sollen daher alle politisch handeln? Folgt daraus, dass die politische Bildung die Aufgabe hat, alle Bürgerinnen und Bürger zum politischen Ha
[ "Politische aktive Bürgerinnen und Bürger", "Leitbild", "politische Bildung" ]
31,103
Reinhard Florian. Verfolgung und Sklavenarbeit eines deutschen Sinto | NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews | bpb.de
Reinhard Florian mit 25 Jahren, aufgenommen 1948 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") 1923: Geburt in Matheninken bei Insterburg (Ostpreußen, heute Ugrjumowo, Oblast Kaliningrad, Russland), Schulbesuch 1937: Zwangsverpflichtung als Melker auf einem Rittergut 1941: Inhaftierung in Insterburg (Ostpreußen, heute Tschernjachowsk, Oblast Kaliningrad, Russland) Monatelanger Transport durch zahlreiche weitere Gefängnisse in Deutschland 1941: Einlieferung ins KZ Mauthausen Sklavenarbeit im Steinbruch 1942: Zwangsarbeit im KZ Auschwitz Gefangenschaft im KZ Auschwitz und seinen Nebenlagern Monowitz, Rydultau (Charlottengrube) und Blechhammer Sklavenarbeit unter anderem im Bergbau Januar 1945: Transport ins KZ-Außenlager Melk Wegen Herannahen der Roten Armee Transport über Mauthausen ins KZ Melk (Außenlager von Mauthausen) Reinhard Florian mit 82 Jahren am Tag des Interviews, 23. April 2005 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") Mai 1945: Befreiung im KZ Ebensee Nach 1945: Leben in Bayreuth Lebt als Staatenloser in Bayreuth. Infolge der KZ-Haft lange arbeitsunfähig (Außenlager von Mauthausen) Bis 2014: Aktiv für die Erinnerung Erst nach 1990 Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit Ehrengast bei der Eröffnung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin am 24. Oktober 2012 17. März 2014: Reinhard Florian stirbt im Alter von 91 Jahren Weiterführender Link: Externer Link: Reinhard Florian. Verfolgung und Sklavenarbeit eines deutschen Sinto Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" (Registrierung notwendig) Reinhard Florian mit 25 Jahren, aufgenommen 1948 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") Reinhard Florian mit 82 Jahren am Tag des Interviews, 23. April 2005 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945")
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-06T00:00:00"
"2016-05-11T00:00:00"
"2022-01-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/ns-zwangsarbeit/227574/reinhard-florian-verfolgung-und-sklavenarbeit-eines-deutschen-sinto/
Interview mit dem deutschen Sinto Reinhard Florian.
[ "Reinhard Florian Zwangsarbeit Nationalsozialismus NS Verfolgung Sklavenarbeit Sinto Biografie" ]
31,104
Editorial | Zeitgeschichtsschreibung | bpb.de
Der Boom hält an: "Dokudramen" und Spielfilme mit zeithistorischen Bezügen erzielen hohe Einschaltquoten, historische Biografien verkaufen sich blendend, und Geschichtsjubiläen kommt größte öffentliche und mediale Aufmerksamkeit zu. Mit Blick auf das Erbe des blutigen 20. Jahrhunderts werden heftige geschichtspolitische Debatten geführt. In Zeiten der Turbo-Globalisierung wächst das Bedürfnis nach (nationaler) Selbstvergewisserung. Für den Geschichtsunterricht bietet der "Erinnerungsboom" vielfältige Anknüpfungspunkte. Was die Historiografie angeht, so hat sie sich methodisch von der traditionellen Ereignis- und Politikgeschichte emanzipiert. Konnte die Historikerin Barbara Tuchman noch in den 1980er Jahren den "Qualm" der Zeitgeschichtsschreibung beklagen, so dominieren heute struktur-, alltags- und kulturgeschichtliche Konzepte sowie die Relevanz des persönlichen "Erinnerns" die pluralisierten Debatten der Zunft. Dabei standen Zeitzeugen lange im Ruch, die größten Feinde der Historiker zu sein, so ein häufig bemühtes Bonmot. Wenn indes die unmittelbare Zeitzeugenschaft erloschen ist, werden Historisierung und Kontextualisierung unausweichlich. Welche Bedeutung kommt dabei dem nationalstaatlichen Rahmen zu? Wie tragfähig ist etwa das didaktische Postulat einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" von DDR und Bundesrepublik, die Christoph Kleßmann bereits vor dreißig Jahren auf den Begriff gebracht hat? Zunehmend werden Möglichkeiten und Grenzen eines globalgeschichtlichen Zugriffs ausgelotet. Welt- und Geschichtsbilder der einst von Europa aus kolonialisierten Erdteile bilden einen starken Kontrast zu Eurozentrismen. In der Krise des alten Kontinents fehlt ein neuer europäischer Narrativ, der die Nationalgeschichten in einer gesamteuropäischen Erzählung aufhebt.
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Golz, Hans-Georg
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/59778/editorial/
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31,105
Der Marshallplan in Europa | Der Marshallplan - Selling Democracy | bpb.de
Aufbauarbeiten in Berlin werden mit Geldern des Marshallplans unterstützt. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00016749, Foto: o. Ang.) Im Rahmen von Dreier-Gesprächen ab 27. Juni 1947 in Paris lehnte der sowjetische Außenminister Molotow nach anfänglichem Zögern die Teilnahme seines Landes am Marshallplan am 2. Juli ab. Bereits am nächsten Tag luden die französische und die britische Regierung 22 europäische Staaten zu einer Marshallplan-Konferenz in Paris ein – Beginn sollte der 22. Juli sein. Der sowjetische Botschafter in Paris erhielt diese Einladung zur Kenntnisnahme. Die Einladung nahmen folgende Staaten an: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Türkei. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei waren zunächst sehr interessiert an einer Teilnahme, mussten aber unter dem Druck der Sowjetunion absagen. Ebenso wurde Jugoslawien zur Ablehnung gezwungen, das Land konnte sich aber später dem sowjetischen Druck entziehen. Ab 1950 gehörte es zu den Empfängerländern. Deutsche Vertreter nahmen vorerst nicht teil, die Einbeziehung Westdeutschlands war aber von Anfang an geplant. So wurde der auf der Konferenz erstellte Fragebogen auch an die vier Militärgouverneure gerichtet. Am 22. Juli 1947 stimmte der Wirtschaftsrat in Frankfurt – ein Vorläufer der späteren deutschen Regierung – dem Marshallplan zu. Konferenz in Paris Zu Beginn der Konferenz richteten die Teilnehmer das "Committee on European Economic Cooperation" (CEEC) ein, das unter anderem die Bedürfnisse Deutschlands vom Kontrollrat erfragen sollte. Ein Arbeitsausschuss entwickelte den Entwurf für einen Fragebogen, der an alle 16 Teilnehmerstaaten versandt wurde. Auf amerikanischen Wunsch waren drei Hauptfragen im Vorfeld zu klären: Welche eigenen Anstrengungen zur Beseitigung der Kriegsschäden kann ein Land erbringen (oder hat ein Land bereits erbracht)? Welche Hilfe können einzelne Länder europäischen Nachbarn anbieten oder haben dies schon getan? Wie hoch muss die Unterstützung für jedes einzelne Land mindestens sein? Am 24. Juli wurde der Fragebogen an alle 16 interessierten Staaten verschickt, in Deutschland erhielten ihn die vier militärischen Oberbefehlshaber der Besatzungszonen. Als Abgabetermin wurde der 4. August festgesetzt. Tatsächlich trafen bis auf den Fragebogen aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands alle Formulare termingerecht ein. Basierend auf den angegebenen Daten der europäischen Staaten meldete der Exekutivausschuss des CEEC an die Vereinigten Staaten, man benötige mindestens eine Wirtschaftshilfe von 21 Milliarden US-Dollar. Bericht des CEEC Ein detaillierter Bericht des CEEC wurde am 11. September 1947 veröffentlicht. Der Berater des Außenministers, Clayton, wies diesen jedoch zurück, da er zu sehr einer Sammlung nationaler "Einkaufslisten" gleiche, und kaum einen Plan für die langfristige europäische Zusammenarbeit darstelle. Insbesondere sehe er keine ausreichenden Anzeichen dafür, dass die europäischen Staaten sich gegenseitig helfen würden. Weiterhin seien die Vorschläge zur Wiederherstellung der Konvertierbarkeit der europäischen Währungen unzureichend – gerade dieser Punkt stellte ja ein Hauptproblem des internationalen Warenaustauschs dar. Das CEEC wies die Kritik am ausgearbeiteten Bericht zurück: Der extrem kurze Vorlauf mache konkretere Angaben unmöglich, man möge diese auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Angesichts des bevorstehenden Winters und der schlechten Erfahrungen mit der extremen Mangelsituation im vergangenen Winter befürchtete man wiederum eine Versorgungskrise in ganz Europa. Tatsächlich dachten zu diesem Zeitpunkt auch landwirtschaftliche Kreise in den USA über Rationierungen in den Vereinigten Staaten nach, um einen ausreichenden Export von Lebensmitteln nach Europa bewerkstelligen zu können. Frankreich schlug in dieser Situation die Schaffung einer Überwachungsbehörde für den Marshallplan vor. Dieser Vorschlag wurde in die Endfassung des Berichts aufgenommen. Marshallplan in Action Tatsächlich dauerte es noch bis zum Herbst des darauf folgenden Jahres, bis Güter im Rahmen des Marshallplans Europa erreichten. In den USA war dieser Vorlauf nötig, um den "European Cooperation Act" als gesetzliche Basis für die Lieferungen durch den Kongress zu bringen. Für die westlichen Besatzungszonen trat in der Zwischenzeit, insbesondere für den Winter 1947/48 noch einmal ein Notprogramm in Kraft. In den folgenden Jahren bewilligte der amerikanische Kongress insgesamt ca. 14 Milliarden Dollar für den europäischen Wiederaufbau. Davon erhielten Großbritannien mit 25 Prozent den Löwenanteil (ca. 3,5 Mrd. Dollar), Frankreich bekam 20 Prozent (ca. 2,8 Mrd. Dollar) und Italien 1,5 Mrd. Dollar. An vierter Stelle folgte Deutschland mit 1,4 Mrd. Dollar Wirtschaftshilfe. Für Deutschland galt als Sonderregelung, dass die Hilfe nur als Kredit geleistet wurde; allerdings musste der Staat nach Beschluss der Londoner Schuldenkonferenz bis 1966 nur eine Milliarde Dollar zurückzahlen, der Rest wurde erlassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Gelder bereits mehrfach bezahlt gemacht, da in Deutschland die Gegenwertfonds als günstige Investitionskredite vergeben wurden und werden. Aufbauarbeiten in Berlin werden mit Geldern des Marshallplans unterstützt. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00016749, Foto: o. Ang.)
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Dr. Elke Kimmel
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-11-12T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/marshallplan/40036/der-marshallplan-in-europa/
Zur Unterstützung des Marshallplans wurde die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit eingerichtet (OEEC). Die Vorgängerin der OECD ermittellte noch 1947: Europa benötige eine Wirtschaftshilfe von mindestens 21 Milliarden US-Dolla
[ "Nachkriegszeit", "Hunger", "Marshallplan", "Wiederaufbau", "OECD" ]
31,106
Politisches Theater nach 1945 | Politisches Theater | bpb.de
Einleitung Was politisches Theater ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Ob allein die Inhalte ausschlaggebend sind, ist jedoch mehr als fraglich. Vielmehr scheint eine bestimmte Form über das Politische zu entscheiden: die Unterbrechung, die verbindliche Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster stört. Ein politisches Theater irritiert eingespielte, automatisierte Rezeptionsformen, bricht mit Erwartungen und stellt Normalitäten in Frage, so der Tenor von Bertolt Brecht bis Heiner Müller. Noch grundlegender formuliert: Die Wirklichkeit unmöglich zu machen bzw. ihre Gewaltförmigkeit und ihre Ausschlüsse sichtbar, und umgekehrt das Unmögliche als utopischen Horizont aufscheinen zu lassen, das könnte als Programm eines politischen Theaters nach 1945 gelten. Demokratisierung und Mitbestimmung Eine markante Etappe des politischen Theaters nach 1945 bildet die in den 1960er Jahren stattfindende "Revolution" auf den Bühnen der Bundesrepublik, welche die Dramatik, die Inszenierungspraxis sowie die Institution grundlegend verändert hat. In der Nachkriegszeit dominierte in Westdeutschland ein Theater, das auf (scheinbar) zeitlose humane Werte und auf den Kanon klassischer Texte ausgerichtet war. Das neu entstehende Regietheater der 1960er Jahre hingegen löst sich vom Literarischen und entdeckt, ähnlich wie die Historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Bühne als autonomes Ausdrucksmittel jenseits des Textes - diese Tendenz ließe sich mit Hans-Thies Lehmann als postdramatisches Theater bezeichnen. Der (klassische) Text verliert seine Autorität, die Regisseure nehmen für sich in Anspruch, das Material unerbittlich auf seine Aktualität hin zu befragen und neu zu komponieren. Welche Aussagen treffen klassische Stücke wie Die Räuber und Torquato Tasso über gegenwärtige gesellschaftliche Machtverhältnisse? Diese "Entliterarisierung" ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Theater seinen bildungsbürgerlichen Anspruch in Frage stellt, ja aufgibt. Nicht mehr nur für die höheren Gesellschaftsschichten soll Theater gemacht werden, sondern auch für Kinder und Lehrlinge, für Studierende und von Studierenden. Es entstehen neue Theaterformen an Schulen, in Werkstätten, an Universitäten. Das Theater macht sich populär, und zwar auch in seinen Inszenierungen. Man greift auf Bildmaterial der Populärkultur zurück, wie in der Inszenierung Die Räuber (1966), die der Regisseur Peter Zadek in Bremen entwickelt. Für den Rundhorizont wählt der Bühnenbildner Wilfried Minks ein überdimensioniertes, comicartiges Bild von Roy Lichtenstein. Der Angriff auf das traditionelle Theater und seine Elite verändert auch die dramatischen Texte bzw. ihr Verhältnis zur "Wirklichkeit" und führt zu einer neuen Formensprache. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre machen verstörende Dokumentardramen auf sich aufmerksam, die vornehmlich Erwin Piscator, der streitbare Regisseur eines politischen Agitprop-Theaters in den 1920er Jahren, auf die Bühne bringt. Rolf Hochhuths penibel recherchiertes Stück Der Stellvertreter, 1963 an der Freien Volksbühne in Berlin uraufgeführt, greift die Tatenlosigkeit von Papst Pius XII. während des Holocaust an und löst einen Skandal aus, der eine internationale Öffentlichkeit erreicht. Ähnlich sieht es mit dem Drama Die Ermittlung von Peter Weiss aus (Uraufführung/UA 1965), das das brutale Kalkül der nationalsozialistischen Lager in Gesängen überhöht und das Theater zum Gerichtshof macht, dem sich die Öffentlichkeit zu verantworten hat. Die Dokumentarstücke, zu denen auch Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (UA 1964) zählt, brechen den schützenden Rahmen des Kunsttempels Theater auf und lenken den Blick auf politische Realitäten, auf den Holocaust, den Kalten Krieg und die Atombombe. Ähnlich wie es in den 1990er Jahren der Intendant der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, fordern wird, legen diese Dokumentarstücke "eine Nabelschnur" zur Wirklichkeit, die als massive Verstörung in den geschützten Raum des Bildungstheaters einbricht. Gleiches gilt für Michael Hatrys Stück Die Notstandsübung, das am 12. März 1968 in Ulm uraufgeführt wird und die geplante Notstandsgesetzgebung zum Gegenstand hat. Das Drama löst nahezu eine politische Krise aus, denn der iranische Botschafter protestiert beim Auswärtigen Amt. Neue Felder der Wirklichkeit entdecken auch diejenigen Stücke, die sich seit Ende der 1960er Jahre mit prekären Lebenssituationen befassen, mit Arbeitslosen, Frauen und Behinderten, mit schwer repräsentierbaren Interessen, die in hochkulturellen Dramen meist keinen Platz finden und in der Politik über eine schwache Lobby verfügen. Das neue Volksstück hat Konjunktur - Martin Sperr, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder schreiben in Anlehnung an die kritische Sozialdramatik von Ödön von Horváth und Marieluise Fleißer engagierte Stücke, die Unterschichten und Ausgegrenzte zu Protagonisten machen. Fassbinders Katzelmacher (UA 1968) schildert die Probleme von "Gastarbeitern" in einer fremdenfeindlichen Welt, Kroetz' Heimarbeit (UA 1971) erzählt in verstörender Manier vom Versuch einer heimlichen Abtreibung - in Heimarbeit, mit Stricknadeln. Das Theater entdeckt neue Inhalte und Formen, überdenkt aber auch vertraute Konventionen, wie Peter Handke in Publikumsbeschimpfung (UA 1966). Das Stück, das sich dem Repräsentationstheater und seinem Illusionismus verweigert, beginnt mit Sätzen, die Seh- bzw. Hörgewohnheiten der Zuschauer ansprechen und stören: "Sie werden hier nichts hören, was Sie nicht schon gehört haben. Sie werden hier nichts sehen, was Sie nicht schon gesehen haben. Sie werden hier nichts von dem sehen, was Sie hier immer gesehen haben. Sie werden hier nichts von dem hören, was Sie hier immer gehört haben." Die vier Figuren auf der Bühne entwerfen in dialektischer Manier widersprüchliche Zustandsbeschreibungen und geben widersprüchliche Befehle, um die Zuschauer zu aktivieren - bei der Uraufführung von Claus Peymann kommt es zu lebhaften Interaktionen zwischen Publikum und Bühne. Die Inszenierung setzt ein zentrales Ziel des politischen Theaters um, auch wenn Handke die zeitliche Koinzidenz der Aufführung mit den Pariser 68er-Unruhen für zufällig hält: die Aktivierung des Zuschauers. Vorbildlich für dieses Theater ist Brechts Konzept des "eingreifenden Denkens". Das Theater versucht, politisches Handeln und kritisches Bewusstsein einzuüben, und zwar bereits während seines Entstehungsprozesses. Lässt sich für die 1950er Jahre von einer Autokratie der Intendanten und Regisseure sprechen, hatten sie die Deutungsherrschaft inne und galt ihnen der Schauspieler vornehmlich als Material ihrer szenischen Phantasien, so verlangen nun alle Akteure an der Theaterarbeit beteiligt zu werden - Demokratisierung und Mitbestimmung, so lauten ihre Forderungen, welche die Regiearbeit grundlegend verändern. Den Bühnenlösungen gehen gewöhnlich lange Diskussionen voraus, und entscheidender als das Resultat ist der Prozess, das heißt die Bewusstwerdung. An der Berliner Schaubühne unter Peter Stein und am Frankfurter Theater unter Peter Palitzsch dokumentieren ausufernde Protokolle diese Debatten - für Frank-Patrick Steckel ein "Transparenzinstrument". Kunst wird als kollektiver Prozess begriffen, als Einübung in Handlungsfähigkeit und in ein kritisches Bewusstsein. Diese Neudefinition des Theaters hat selbstverständlich ganz wesentlich mit den politischen Aktionen um 1968 zu tun. Allerdings lässt sich nicht so sehr von direkter Einflussnahme sprechen, eher von Parallelaktionen und Berührungspunkten. Denn aus linker Sicht gilt das Theater weiterhin als zu unpolitisch und zu bildungsbürgerlich. Theater in der DDR: Aushandlung und Widerstand Für die "Bühnen-Revolution" der 1960er Jahre ist ein Theatermacher vorbildlich: Bertolt Brecht. Er wird zur Galionsfigur der westdeutschen Szene, zum einen aus ästhetischen Gründen, zum anderen, weil seine DDR-Staatsbürgerschaft ein probates Mittel ist, um in Westdeutschland linke Positionen zu artikulieren. Kommt es dort im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre an etablierten Theatern wiederholt zu Brecht-Boykotten, um die Distanz zum anderen deutschen Staat zum Ausdruck zu bringen, so orientieren sich Studentenbühnen der Bundesrepublik sowie die linke Szene, allen voran das Bremer Theater und die Schaubühne am Halleschen Ufer, nachdrücklich an diesem Autor. Brecht, dessen Verhältnis zum DDR-System und zum Kommunismus in der Forschung umstritten ist, entwickelt bereits zwischen den Weltkriegen eine avantgardistische Theatertheorie, die auf Veränderbarkeit, auf die Fremdheit von Wirklichkeit, auf Potentialität setzt und für das politische Theater des 20. Jahrhunderts wegweisend ist. Brecht erarbeitet eine Theorie der Unterbrechung, die dem Zuschauer das "eingreifende Denken" ermöglichen soll, ein Denken, das Handeln ist und die Wirklichkeit nach eigenen Vorstellungen modelliert. Voraussetzung ist, dass die Wirklichkeit auf der Bühne als historische Konstruktion und damit als veränderbar erscheint; Mittel ist die Unterbrechung. Das Spiel auf dem Theater solle, so Brechts Ziel, den alltäglichen Gestenfluss, das vertraute Verhalten unterbrechen und so die gesellschaftlichen Bedingungen sowie die Geschichtlichkeit von Zuständen erfahrbar werden lassen. In seinem Theater der Gesten lösen sich entsprechend Sprache und Körper voneinander ab und treten aus ihrem scheinbar natürlichen Zusammenhang heraus. In Der Dreigroschenprozeß betont Brecht: "Auf die Sprache kommt es gar nicht an, sie ist zu trennen von der Gestik und Mimik, auf welche es ankommt." Diese Zerlegung von scheinbar natürlichen Einheiten (wie Sprache und Körper) und ihre Montage zu widersprüchlichen, heterogenen Komplexen verfremdet das Wirkliche. Brecht definiert sein politisches Theater wesentlich über die Form, nicht über die Inhalte, und spricht sich wiederholt gegen Agitprop-Theater und eine Funktionalisierung des Theaters für den Klassenkampf aus. Brecht geht es nicht um (marxistische) Lehren und Botschaften, sondern die offenen Schlüsse seiner Dramen, die Liedeinlagen, die Kommentare, das ganze Inventar des epischen Theaters versuchen die Zuschauer zu einem eingreifenden Denken zu befähigen, das die fatale Trennung von Theorie (Kunst) und Praxis (Leben) unterläuft. Dass Brechts Position auch in der DDR, in Bezug auf die verbindliche Ästhetik des Sozialistischen Realismus (ein auf Illusion festgelegtes Programm), anstößig wirkt, belegen sein längeres Ringen um ein eigenes Theater in Ost-Berlin, ebenso die Stanislawski-Konferenz, die Brecht mit dem russischen Einfühlungstheoretiker konfrontiert, und die Debatte um Lukullus. Dieser Oper, die er zusammen mit Paul Dessau erarbeitet, wird, ähnlich wie kurz zuvor Carl Orffs Antigonae, Formalismus vorgeworfen - der geschmähte Gegenbegriff zum verbindlichen Konzept des Sozialistischen Realismus. Die ausufernde Diskussion über die Lukullus-Oper lässt die ambivalente Position des DDR-Theaters, das per se auf das politische System bezogen und insofern für das mögliche Verhältnis zwischen Kunst und Politik in hohem Maße aufschlussreich ist, kenntlich werden: Es steht zwischen Wertschätzung und Zensur, verfügt über Spielräume, doch wird stark reglementiert. Die Theaterkunst ist ein Hätschelkind des Regimes, weil ihr wichtige Funktionen im Prozess der Umerziehung zukommen. Denn das Theater mit seinem visionär-utopischen Potential kann das als "leibhaftige Realität" vorführen, was die Zukunft verheißt: einen befriedeten, gerechten Gesellschaftszustand. Prototypisch für ein linientreues Theater ist Erwin Strittmatters Bauerndrama Katzgraben, das mit Vorbildgestalten und Identifikation arbeitet. Weil in der DDR in so hohem Maße auf das Theater Wert gelegt wird, entstehen - nur scheinbar paradox - Spielräume für Aushandlungen und Überschreitungen des vorgeschriebenen ästhetischen Konzepts, wie die Lukullus-Debatte verdeutlicht. Brecht agiert geschickt und erwirkt immerhin die Fertigstellung der Oper sowie eine Uraufführung. In seinem Arbeitsjournal betont er das Konstruktive dieser Auseinandersetzung mit dem Staat: Man muss "die kritik nie fürchten; man wird ihr begegnen oder sie verwerten, das ist alles". Ein ähnliches Aushandeln zieht sich durch die Theaterbiographie von Frank Castorf, der in den 1980er Jahren das Theater mit Pop und Rock bekannt macht und in seinen Inszenierungen die DDR - zum Leidwesen der politischen Instanzen - zu historisieren beginnt. Die Obrigkeit versetzt den Regisseur, an dessen Begabung nie gezweifelt wird, in die Provinz. Um Castorf nach diversen Eklats aus Anklam zu entfernen, wird ihm eine Inszenierung seiner Wahl mit Gastschauspielern, Videoaufzeichnung und fünf garantierten Aufführungen angeboten. Das DDR-Theater ließe sich also einerseits als fortgesetzter Aushandlungsprozess beschreiben, als Versuch, Spielräume zu nutzen. Andererseits ist die Kunst den sich schnell ändernden parteipolitischen Richtlinien unterworfen, die oft über Gedeih und Verderb eines Künstlers entscheiden. So lanciert das 11. ZK-Plenum im Dezember 1965 einen Generalangriff auf "schädliche Tendenzen" in Film, Fernsehen, Theater und Literatur. Erich Honecker brandmarkt unter anderem Heiner Müllers Der Bau - das Stück wurde erst 1980 an der Volksbühne unter der Regie von Fritz Marquardt gezeigt -, ebenso die Lieder von Wolf Biermann. Die Geschichte des DDR-Theaters ließe sich mithin auch als Abfolge von Verhinderungen und Verboten erzählen, von Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband und Berufsverboten, wie sich exemplarisch an dem Stück Die Umsiedlerin von Müller zeigen lässt. Das Drama beschäftigt sich mit den Umstrukturierungen "auf dem Lande" zwischen 1946 und 1960, Höhepunkt der ansteigenden "Republikflucht". Das Stück wurde sehr zur Überraschung Müllers - so jedenfalls behauptet er in seiner Autobiographie Krieg ohne Schlacht - als defätistische Kritik am Sozialismus verstanden. Die Inszenierung der Erstfassung an der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst 1961 wird nach der Premiere verboten und hat den Ausschluss Müllers aus dem Schriftstellerverband zur Folge. Die Empörung mag darauf zurückzuführen sein, dass Müller die neuralgischen Aspekte der Landreformen thematisiert und die Misere der Bauern in existenziell überhöhten Todesbildern präsentiert. Ein weiterer Grund für die Kritik mag die komische Figur des Säufers Fondrak gewesen sein. Sein einziges Credo sind das Bier und die Lust, der Rausch also, dem auch Brecht eine wichtige soziale Funktion zuschreibt. Müller betont ganz in diesem Sinne: "Kommunismus soll die Freuden und Räusche, die der Kapitalismus zu bieten hat, nicht liquidieren, sondern - überbieten." Müller überschreitet zudem die realistische Ästhetik durch einen offenen, ja sozialistischen Jambus (so Peter Hacks) sowie durch poetische Allegorien, welche die Geschichte als nicht abzuschüttelnde Last erscheinen lassen. Gleichwohl ist ihm wie Brecht an der Aktivierung der Zuschauer gelegen - das genuine Ziel eines politischen Theaters. Seinem frühen Stück Der Lohndrücker (UA 1958) schickt Müller die Erläuterung voraus: "Das Stück versucht nicht, den Kampf zwischen Altem und Neuem, den ein Stückschreiber nicht entscheiden kann, als mit dem Sieg des Neuen vor dem letzten Vorhang abgeschlossen darzustellen, es versucht, ihn in das Publikum zu tragen, das ihn entscheidet." Müller erreicht diese Aktivierung, indem er harsche Widersprüche exponiert und die Identifikation der Zuschauer verhindert. In den 1970er und 1980er Jahren wurde in der DDR ähnlich wie im Westen das avantgardistische Theater wiederentdeckt, vorbereitet durch die Inszenierungen von Benno Besson, der ein burleskes Maskentheater entwirft wie in Der Frieden von Aristophanes/Hacks (1962). Mitte der 1980er Jahre setzen sich auch auf den DDR-Bühnen postdramatische Tendenzen durch, also die Ablösung vom literarischen Text, von Realismus und Illusionismus - unter anderen bei Jo Fabian, Frank Castorf und der freien Gruppe Zinnober, die die Grenze zwischen Leben und Alltag aufzuheben versucht. Wirtschaftliche Krise und Repolitisierung Die Phase nach 1989 lässt sich vornehmlich als Krise beschreiben, denn die Theater, vor allem in der Hauptstadt, verdoppeln sich zahlenmäßig, verlieren ihren ausgewiesenen Kulturauftrag aus der Zeit des Kalten Krieges und geraten zunehmend unter ökonomischen Druck. Es kommt zu Schließungen ganzer Häuser wie dem Schiller-Theater in Berlin, zur Zusammenlegung von Spielstätten und der Streichung von Sparten. Dem ökonomischen Druck mag es geschuldet sein, dass sich das Theater als Gegenstrategie (um das Publikum und einen Auftrag zurückzugewinnen) auf seine politischen Möglichkeiten besinnt. Insbesondere seit 1995 ist von einer Repolitisierung des Theaters die Rede. Die aktuellen Stücke widmen sich im Zuge dieses "neuen politischen Realismus" virulenten gesellschaftlichen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Globalisierung, aber auch Familiendesastern. Der Kampf um Arbeit in der heißen Phase der New Economy wird zum neuen Tragödiensujet und der Top Dog, anders als in der Sozialdramatik der 1970er Jahre, zum beliebten Protagonisten. Die Stücke von Moritz Rinke, Kathrin Röggla, Albert Ostermaier, Falk Richter, Dea Loher, Gesine Danckwart, Roland Schimmelpfennig und John von Düffel (um nur einige zu nennen) sezieren die Effekte der neoliberalen Entwicklung und erobern mit diesen Themen die deutschsprachigen, mittlerweile auch die internationalen Bühnen. Dramen, die die politische "Wende" in Deutschland ganz unmittelbar behandeln, haben es hingegen kaum vermocht, die Spielpläne langfristiger zu bestimmen - dazu zählen unter anderem Christoph Heins desillusionistische Bestandsaufnahme Die Ritter der Tafelrunde (UA 1989), Klaus Pohls Heimkehrerstück Karate-Billi kehrt zurück (UA 1991), Rolf Hochhuths Abrechnung mit der Treuhandanstalt Wessis in Weimar (UA 1993), Manfred Karges MauerStücke (UA 1990), Elfriede Müllers Goldener Oktober (UA 1991) sowie Botho Strauß' Geschichtsdramen Schlußchor (1991) und Das Gleichgewicht (1993). Ökonomie, genauer: Arbeitslosigkeit, wie sie selbst Unternehmer und Manager trifft, ist mithin das neue Thema eines Theaters, das erklärtermaßen politisch sein will. Urs Widmers Stück Top Dogs, ein "Königsdrama" der Wirtschaft, wird als "zukunftsweisende(s) Modell politischen Theaters" bezeichnet - das Projekt des Neumarkt Theaters Zürich erhielt 1997 den Mülheimer Theaterpreis und stürmte die deutschsprachigen Bühnen, wohl auch aufgrund des neuartigen Figurenensembles, der Top Dogs. Die Täter werden zu Opfern, die Subjekte zu Objekten in einem System, dessen einziger Imperativ "Produzieren" lautet. Das Stück basiert auf Recherchen im Firmenbereich, die Widmer als ethnologische Studien, als Feldforschung beschreibt. Das Theater begibt sich im Zuge dieser Repolitisierung, so lässt sich verallgemeinern, in neue außerliterarische Zusammenhänge, in Firmen, auf Arbeitsämter, zu Unternehmensberatern, und erfasst ihre Sprache dokumentarisch. Ein Bestandteil dieser Politisierung ist, dass die Produktionskontexte am Theater selbst zum Thema werden und sich nicht zuletzt deshalb die Geschlechterverhältnisse im patriarchalen Betrieb allmählich verändern: Seit der deutschen Vereinigung hat es eine Vielzahl von Frauen auf die begehrten Intendantenposten geschafft (wie Barbara Mundel in Freiburg, Amélie Niermeyer in Düsseldorf, Karin Beier in Köln), und auch unter den Dramatikern hat sich die Zahl der Autorinnen beträchtlich vergrößert. Das Theater überdenkt seine eigenen Beschäftigungs- bzw. Ausbeutungsverhältnisse unter genderpolitischem Vorzeichen: Insbesondere René Pollesch thematisiert in seinen Stücken (als Autor und Regisseur) die prekären Arbeitsverhältnisse von Schauspielerinnen wie in Tod eines Praktikanten (2007). Darüber hinaus zeichnet sich eine engere Fusion von Stadttheatern und freier Szene ab, die die theatralen Mittel verändert und die politische Stoßrichtung intensiviert. Das Theater wird zum Instrumentarium von Stadterkundungen, wird mobil und ist auf der Suche nach einem neuen Publikum - in sozialen Brennpunkten, an den Rändern der Stadt. Eine ganz andere Spielart des politischen Theaters, und zwar jenseits der elitären Institution Stadttheater, entwickelt der umstrittene Aktionskünstler Christoph Schlingensief, der, wie sein Dramaturg Carl Hegemann formuliert, das Theater rettet, indem er es abschafft. Seine politischen Aktionen wie die Parteigründung Chance 2000 (1998) und das Container-Projekt für die Wiener Festwochen (2000) arbeiten an der Sichtbarkeit von Ausgeschlossenen, von Asylbewerbern, Arbeitslosen und Behinderten, von schwer repräsentierbaren Interessen also. In Chance 2000, seiner Antwort auf die Bundestagswahl, verknüpft Schlingensief Politik und Theater. Er richtet einen Wahlzirkus ein (in einem veritablen Zirkuszelt) und verbindet politische Agitation mit akrobatischer Aktion, sodass beispielsweise der Balanceakt politischer Entscheidungen als Seiltanz ausgetragen werden kann. Chance 2000 imitiert das Prozedere einer Parteigründung ziemlich genau - es entstehen Manifeste, Protokolle und Wahlprogramme - und formuliert ein ernstes Anliegen: die Repräsentation von Arbeitslosen. Ziel ist, auch "den arbeitslosen oder sonst wie ausgegrenzten Menschen wieder zum Menschenrecht der Würde zu verhelfen", dem "ganzen Volk wieder die strukturelle Gewalt zurückzugeben, die ihm das Grundgesetz unverbrüchlich verliehen hatte". Dieses Anliegen hat durchaus die Dignität sozialreformerischer Utopien und schließt an die politischen Happenings von Joseph Beuys, an seine Bemühungen um eine plebiszitäre Demokratie an. Zugleich jedoch theatralisiert und ironisiert Schlingensief das politische System. Sein Projekt führt jede Form von politischer Stellvertretung durch den Slogan der Partei: "Wähle dich selbst" ad absurdum. Ein politisches Ziel wird bewusst vermieden, stattdessen auf reine Aktion gesetzt: "Machen Sie mal was! Was ist egal. Hauptsache, Sie können es vor sich selbst vertreten. Natürlich wird es eine Pleite werden, wenn Sie selbst was machen. Aber eine Pleite, die von Herzen kommt, ist besser als eine Million, an der Scheiße hängt. (...) Freiheit ist, grundlos etwas zu tun." Im Sinne der Historischen Avantgarden geht es um pure Aktion, um aktivierende Prozesse, die die Normierungen, Homogenisierungen und Selektionen des Politischen (als Bedingung von Interessenvertretung) aufbrechen. Ähnliche Angriffe auf politische wie kulturelle Instanzen lanciert Schlingensiefs Container-Projekt bei den Wiener Festwochen. Er stellt einen Container auf den Wiener Opernplatz, in den unter großem Medieninteresse Asylbewerber einziehen - ob echte oder fingierte, ist nicht auszumachen. Über das Internet kann ein anonymes Publikum über die Abschiebung der Insassen entscheiden - ein hoch provokantes Szenario, noch dazu von einem Deutschen in Österreich. Schlingensiefs Beitrag für die Wiener Festwochen führt die Reality-TV-Show "Big Brother", die den Voyeurismus des Fernsehens zum Selektionsspiel potenziert, mit dem öffentlichkeitswirksamen Thema der Ausländerpolitik bzw. den problematischen Abschiebepraktiken zusammen, und zwar in dem Augenblick, in dem sich Österreich unter dem Blick eines Zensors weiß; die EU-Kommission überprüft die Einhaltung europäischer Grundwerte. Deponiert Schlingensief den Container auf dem Opernplatz, so trägt er in das Herz der Stadt ein, was die Normalität lieber verdrängt, dass nämlich Europa zur Festung wird, sich abschottet und seinen inneren Frieden durch Abschiebungen und Grenzziehungen erkauft. Ein politisches Theater scheint allem voran, so sollte diese historische Skizze verdeutlichen, den Auftrag zu haben, die Norm zu stören, zu unterbrechen und die gewaltvollen Ausgrenzungen sichtbar zu machen, welche die Normalität erst produzieren. Ein politisches Theater macht die Wirklichkeit unmöglich (auch im Sinne von: schwer erträglich) und zielt auf das Unmögliche, beispielsweise die Utopie einer solidarischen Gesellschaft, die zunehmend in unerreichbare Ferne zu rücken droht. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Das Politische Schreiben. Theater der Zeit (Recherchen 12), Berlin 2002, S. 7f. Vgl. ders., Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999. Vgl. Henning Rischbieter (Hrsg.), Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990, Berlin 1999, S. 123. Vgl. dazu Dorothea Kraus, Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren, Frankfurt/M.-New York 2007, S. 78f. Peter Handke, Publikumsbeschimpfung, in: Spectaculum, 10 (1967), S. 63 - 83, S. 67. Was ist politisches Theater? Eine Debatte mit Zeitzeugen, in: Ingrid Gilcher-Holtey/Dorothea Kraus/Franziska Schößler (Hrsg.), Politisches Theater nach 1968, Frankfurt/M.-New York 2006, S. 19 - 122, S. 77. Bertolt Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: ders., Schriften zum Theater 7, 1948 - 1956, Frankfurt/M. 1964, S. 5 - 67, S. 31. Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß (1931), in: ders., Versuche 1 - 12, Heft 1 - 4, Frankfurt/M. 1977, S. 243 - 300, S. 278. Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 106. Vgl. Joachim Luccesi (Hrsg.), Das Verhör in der Oper. Die Debatte um die Aufführung Das Verhör des Lukullus von Bertolt Brecht und Paul Dessau, Berlin 1993. Ebd., S. 59f. Vgl. Robin Detje, Castorf. Provokation aus Prinzip, Berlin 2002, S. 106f. Vgl. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 160f. Zit. nach: Genia Schulz, Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 43. Zit. nach: Bernhard Greiner, Von der Allegorie zur Idylle. Die Literatur der Arbeitswelt in der DDR, Heidelberg 1974, S. 85. Vgl. dazu Petra Stuber, Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater, Berlin 1998, S. 241f. Martin Halter, Warten uff de Godot. Feuerwehrmann der Utopie: Urs Widmer als Theaterautor, in: Urs Widmer. Text und Kritik, 10 (1998), S. 30 - 39, S. 39. Vgl. Volker Hesse/Stephan Müller (Hrsg.), Top Dogs, Zürich 1997, S. 48. Christoph Schlingensief/Carl Hegemann, Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln 1998. S. 77. So der Klappentext, ebd.
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Schößler, Franziska
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30923/politisches-theater-nach-1945/
Der Beitrag stellt Spielarten politischen Theaters vor: die "Theaterrevolution" auf den Westbühnen, das DDR-Theater um Brechts Konzept des eingreifenden Denkens und Bemühungen um ein repolitisiertes Theater.
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Populismus und Massenmedien | Populismus | bpb.de
Einleitung Populistische Akteure des 20. und 21. Jahrhunderts haben ein besonders enges Verhältnis zu Massenmedien. Nicht, dass sie zwangsläufig mit Medienproduzenten und Medienbesitzern enge Beziehungen pflegen würden oder mit ihnen identisch wären, wie es beim ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi zu beobachten war. Vielmehr scheint der Kommunikationsstil populistischer Akteure den massenmedialen Aufmerksamkeitsregeln besonders affin zu sein. Von Evita Perons Nutzung des Radios bis zur Dauerpräsenz Berlusconis im Fernsehen ist es ein langer Weg, auf dem sich der Populismus inzwischen mit anderen Phänomenen vermischt, neue Formen annimmt und mittlerweile nicht mehr die einzige Kategorie ist, mit der die sogenannten populistischen Akteurinnen und Akteure eindeutig identifiziert werden können. Die Grenzen des Populismus zum Politainment sind fließender geworden. Aber auch wenn der Populismus des 21. Jahrhunderts immer hybrider wird, bleibt die Anpassung an die massenmedialen Aufmerksamkeitsregeln eine wichtige Konstante; man kann sogar behaupten, dass die Massenmedien Populismus befördern. Es stellt sich daher die Frage, ob es die Populisten sind, welche die Massenmedien besonders gut nutzen können, oder ob es die Massenmedien sind, die durch ihre Aufmerksamkeitsregeln Politiker und Politikerinnen dazu bringen, sich populistisch zu verhalten. Womöglich kann zwischen beiden Kausalitäten nicht mehr genau unterschieden werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich Populismus und Massenmedien in manchen Punkten überschneiden und gegenseitige Abhängigkeiten erzeugen. "Don't cry for me Argentina": Pop und Politik Eva Peron ist ohne Zweifel das, was man einen medialen Mythos nennen kann. Der Soundtrack "Evita" aus dem Jahr 1976 ist in allen Musikläden erhältlich, und das Hauptlied "Don't cry for me Argentina" hat inzwischen zahlreiche Interpreten gefunden. Doch der Kult um "Evita" (alias Maria Eva Duarte) hat nicht nur mit ihrer politischen Rolle im peronistischen Argentinien zu tun, sondern ist eng mit ihrer Selbstinszenierung verknüpft. Denn "Evitas" Kommunikationsstil, Körpersprache und Imagekonstruktion waren auf die massenmedialen Aufmerksamkeitsregeln zugespitzt. Die Ehefrau von Juan Domingo Peron bedachte von Anfang an das massenmediale Publikum, vor allem des Radios, in ihrer Inszenierung. Darin liegt die Innovation ihres politischen Stils. Andererseits war ihrem Kommunikationsstil eine populistische Logik eingeschrieben, nach der "Evita" sich als genuine Vertreterin des Volks und aus dem Volk präsentierte. Populistische Politiker von Hugo Chávez in Venezuela bis Jörg Haider in Österreich folgen beziehungsweise folgten dieser Logik: Sie stellen sich als die natürlichen Leader dar und begründen ihre Rolle mit einer besonders engen Verbindung zum Volk. Damit ist eine bestimmte Art der Inszenierung und der Diskursproduktion verknüpft, bei welcher der Ursprung aus dem Volk eines der wichtigsten Legitimierungselemente für die eigene Führungsposition darstellt. Dabei ist es unwichtig, ob sie tatsächlich aus populären Schichten stammen. Von Bedeutung ist eine direkte Identifikation mit dem Leader als Teil des Volkes - ein grundlegendes Element der populistischen Logik. Wie ist die populistische Logik zu verstehen, und was macht die massenmedialen Aufmerksamkeitsregeln aus? Welche sind die gemeinsamen Elemente von Massenmedien und Populismus? Populistische Logik Die populistische Logik hat eine parasitäre Beziehung zur Demokratie. Eine ihrer Haupteigenschaften liegt im Verweis auf den demokratischen Anspruch auf Volkssouveränität. Bereits die Französische Revolution formulierte das Prinzip der Volkssouveränität ("Quelle der Souveränität ist das Volk") in der Menschenrechtserklärung von 1793 und verankerte es in der Verfassung. Auch die US-amerikanische Revolution brachte die Volkssouveränität auf unmissverständliche Weise zur Sprache. Demnach war die demokratische Regierung "A government by the people, of the people, for the people", wie Abraham Lincoln 1863 erklärte. Populistische Politiker und Politikerinnen knüpfen an diesen demokratischen Anspruch an, verschieben aber seine Durchsetzung. Wenn sie sich zugleich auf "die Anrufung des, de(n) Appell an und die Berufung auf 'das Volk'" stützen, erfährt die Idee einer Regierung durch das Volk eine Übersetzung, die auf die Figur eines charismatischen Leaders verengt wird. Denn in der populistischen Logik soll der Leader den Gemeinwillen zum Ausdruck bringen und das Volk repräsentieren. Populisten treten zwar für mehr Kontrolle der Repräsentanten ein, übertragen jedoch die demokratischen Anforderungen, die damit verbunden sind, auf das Vertrauen an den Leader und seine Führungsfunktion. Politik erfährt eine starke Personalisierung und beruht auf der emotionalen Beziehung zwischen Volk und Leader. Damit umgehen Populisten eben diejenigen Forderungen, für die sie plädieren: die Kontrolle der Repräsentanten und mehr Entscheidungsmacht für das Volk. Doch Populisten halten zugleich die Frage nach mehr Volksbeteiligung aufrecht und können dadurch revitalisierend auf die Demokratie wirken. Daher ist die Beziehung zwischen Populismus und Demokratie ambivalent. Die populistische Logik ist nicht per se antidemokratisch, sondern erhält vielmehr ein parasitäres Verhältnis zur Demokratie, das zu Verschiebungen der demokratischen Repräsentation führen kann. Ein weiteres Element der populistischen Logik ist ein argumentativer Kurzschluss: Gemeinwille wird mit Mehrheitsbestimmung gleichgesetzt. Die Unterscheidung zwischen volonté générale und volonté de tous verschwindet, und der Volkswille wird auf eine momentane Entscheidung und Stimmung reduziert. Prozedural tendiert die populistische Logik zu plebiszitären und akklamatorischen Verfahren. Der Gedanke, das Volk müsse näher an die politischen Entscheidungen rücken, begünstigt sowohl die direkte Identifikation des Volkes mit dem Leader als auch die antiinstitutionelle Haltung der Populisten. Formale Prozeduren und etablierte Institutionen sind für Populisten ein Hindernis für die Volksbeteiligung beziehungsweise für die Durchsetzung des Volkswillens durch den Leader. Stattdessen wird Unmittelbarkeit als Garantie für das gute Funktionieren der Demokratie gesehen. Dies wiederum kann die herausragende Position des populistischen Leaders betonen und ihn als Medium für den Ausdruck des Gemeinwillens und als genuinen Vertreter des Volkes erscheinen lassen. Um sich zu legitimieren, müssen sich Populisten auf das Volk berufen. Sie geben an, das Volk besonders gut zu verstehen und es auf authentische Weise zu vertreten. So war Eva Peron berühmt für ihre Reden vor der Arbeitergewerkschaft, für ihre Treffen mit Vertretern der Arbeiter und für ihre Sprechstunde im Arbeitsministerium, bei der sie unter anderem Besuche aus den ärmeren Schichten der Bevölkerung empfing. Diese Situationen waren von Nähe geprägt und suggerierten, dass die Fragen und Forderungen des Volkes Gehör finden. Zum kommunikativen Stil der Unmittelbarkeit und Volksnähe gehört die emotionale und einfache Sprache, die an populäre Codes und simplifizierende Schemata anknüpft. Mit der Inszenierung von Unmittelbarkeit stellte sie sich als die Stimme des Volkswillens dar. Dass "Evita" nicht nur den Volkswillen zum Ausdruck brachte, sondern auch das Medium war, durch welches das Volk mit Juan Domingo Peron in Kontakt trat, macht den Peronismus der 1940er und 1950er Jahre einzigartig. Man erkennt die Dreiecksbeziehung zwischen dem Volk, Evita und Peron, die eine besondere Variante der direkten Beziehung zum populistischen Leader darstellt. Venezuelas Präsident Hugo Chávez bemüht sich ebenfalls um das Gefühl einer engen und unmittelbaren Beziehung zum Volk. Seine Sprache und Körperinszenierung entsprechen kaum der formalen Rolle des Präsidenten, sondern deuten eher auf einen guten Bekannten hin, der die Staatsangelegenheiten in einfacher Form erklärt. Dazu gehört auch eine Rhetorik der Gleichheit, welche die populistische Kommunikation prägt. Die TV- und Radio-Sendung "Alo Presidente" ist dafür beispielhaft: Chávez lässt sich vor Naturlandschaften, Büros oder Bürgerversammlungen aufnehmen; in legerer Kleidung kommentiert er die politischen Aktualitäten, erzählt über künftige Staatsprojekte und erklärt die wirtschaftliche Strategie Venezuelas gegenüber den Nachbarländern. In der Sendung vom 5. Juni 2011 beginnt der Präsident mit "Also gut, wir gehen nach Brasilien" und zeigt auf einige Papiere auf dem Tisch: "Das ist Teil der Agenda. Wir informieren Euch mit Details schon jetzt und dann nach unserer Rückreise. Unsere trimestrale Besprechung mit Dilma und mit Lula ist sehr wichtig. Wir haben bis jetzt mehr als 20 Besprechungen gehabt und mehr als 200 Abkommen mit Brasilien abgeschlossen." Interessant ist hier nicht nur die Rhetorik, die Insider-Informationen aus Staatsgeschäften als allgemein zugänglich präsentiert und somit die Kontrolle des Volkes über die Regierung inszeniert, sondern vor allem der informelle Ton seiner Rede und die einfache und verständliche Sprache. Die Zuschauer bekommen das Gefühl, die Hierarchie zwischen Regierungschef und Publikum wäre fast inexistent. Dazu gehört auch die Anrede der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff mit ihrem Vornamen. Dies deutet nicht nur auf die Vertrautheit zwischen beiden Regierungschefs, sondern auch auf die Vertrautheit zwischen Chávez und den Bürgerinnen und Bürgern. Die egalitäre Sprache steht allerdings in Kontrast zu den Versuchen der Regierung, dem Präsidenten immer mehr Macht zu verschaffen. Die direkte Identifikation mit der Person des Leaders ist nicht nur bei lateinamerikanischen Linkspopulisten, sondern auch bei europäischen Rechtspopulisten wie Jörg Haider oder Jean-Marie Le Pen zu beobachten. Oft bekommt sie eine mystische Note - der Leader erscheint als Auserwählter. Wenn Jörg Haider erklärte, dass er "auserkoren" sei, tat er nichts anderes, als sich als charismatischen Leader zu inszenieren und zu legitimieren: "Ich bin sozusagen eine Symbolfigur für den zivilen Widerstand gegen das Establishment in Österreich und Europa geworden (...), nicht jeder kann zur Symbolfigur werden. Ich bin auserkoren", erklärte er 2000 in einem Interview für "Der Tagespiegel". Zur populistischen Logik gehört auch eine antielitäre Haltung, die sich vor allem gegen die etablierten Parteien und die politische Klasse richtet. Die Ressentiments gegen die etablierte Elite sind an ein Narrativ gekoppelt, das die Geschichte eines Betrugs erzählt. Der Vorwurf der Korruption wird oft erhoben, um die etablierten Politikerinnen und Politiker zu delegitimieren. Das Volk erscheint vor den Augen der Populisten als die moralisch gute Instanz, die von einer egoistischen und illegitimen Elite betrogen wird. Daher zeigen sich Populisten gerne als Außenseiter, als diejenigen, die außerhalb des Systems stehen und deswegen nicht korrumpiert sind. Sie zeigen dem Volk, dass "es betrogen wird", und mobilisieren den "Widerstand" gegen das System. Zentral für die populistische Logik ist die Selbstdarstellung des populistischen Leaders als jemand aus dem Volk. Eva Peron wurde nicht müde zu betonen, dass auch sie eine descamisada - Hemdenlose, wie die Peronisten das "wahrhaftige" Volk nannten - sei. Trotz ihrer extravaganten Kleidung, ihrem auffälligen Schmuck und ihrem blondierten Haar reproduzierte "Evita" keineswegs das Oberschichtmodell der première dame, sondern zeigte sich als ein Kind der Armut, das die Sorgen und Ängste des Volkes gut kannte. Doch ihre Körperinszenierung war mit einem zweiten Modell verknüpft: das des Medienstars. Sie präsentierte sich nicht nur als Politikerin, sondern auch als Celebrity und knüpfte an das Märchen des "Aufstiegs zum Star" an. Auch Berlusconis Selbstdarstellung als self-made man insistiert auf seinen populären Wurzeln und kombiniert diese mit dem Aufstiegsmärchen. Mit seinen Witzen und informellen Auftritten betonte Berlusconi zudem, dass er ein Außenseiter des politischen Geschäfts sei, und, indem er auf die Rhetorik der Gleichheit rekurrierte, dass er aus dem Volk stamme. In der rechtspopulistischen Variante bekommt die demonstrative Zugehörigkeit des Leaders zum Volk eine ethnische Komponente. Das Volk wird hier nicht wie im Linkspopulismus im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht (das Kleinbürgertum und die Arbeiterschicht) konnotiert, sondern vorwiegend ethnisch definiert. Xenophobie und Rassismus stellen eine zusätzliche Abgrenzung nach außen dar. Das Volk des Rechtspopulisten hat daher zwei Gegenpositionierungen: gegen die regierende Elite, die man als "die da oben" bezeichnen kann, und gegen diejenigen, die außerhalb der Gesellschaft positioniert werden wie etwa Ausländer, Migranten, Juden sowie Vertreter einer multikulturellen Gesellschaft oder eines anderen Lebensstils - die Liste kann jederzeit ausgedehnt werden. Dagegen tritt die schichtbezogene Opposition in den Hintergrund, was nicht heißt, dass sie nicht potenziell aufgerufen werden könnte. So warnte Jörg Haider noch im Jahr 1994 vor der "Fremdbestimmung" Österreichs durch den Eintritt in die EU, wo eine "sizilianische Verwaltung" und ein "portugiesisch(er) Notenbankpräsiden(t)" herrschten, im Gegensatz zu den "fleißigen und tüchtigen Österreichern". Während die "Fremdbestimmung" durch die EU die antielitäre Haltung zum Ausdruck bringt, zielten die Bezeichnungen "sizilianisch" und "portugiesisch" sowie "fleißig" und "tüchtig" auf die Abgrenzung nach außen. Populismus kann in Verbindung mit unterschiedlichen Ideologien erscheinen. Man beobachtet ihn nicht nur als Rechts- und Linkspopulismus, sondern auch in Kombination mit liberalen und neoliberalen Ideologien und sogar als "Populismus der Mitte" oder als "Mainstream-Populismus". Deswegen sprechen Populismus-Forscher von einer "dünnen" Ideologie, die eine bestimmte Struktur liefert und mit anderen stärkeren Ideologien verbunden werden kann. Diese Struktur wurde hier als populistische Logik beschrieben. Wichtig ist hierbei der Rückgriff auf ein Freund-Feind-Schema, das der imaginären Konstruktion des Volkes seine Konturen gibt, ohne sie jedoch näher zu definieren. Unabhängig von der Ideologie, mit der die populistische Logik kombiniert wird, stellen sich sogenannte Populisten als "Sprachrohr des Volkes" dar und beanspruchen, dieses auf legitime Weise zu vertreten. Die damit verbundene starke Personalisierung und Emotionalisierung werden im Kommunikationsstil sichtbar. Dazu gehört die Inszenierung von Nähe und eine scheinbar flache Hierarchie zwischen Volk und Leader, die aber nicht zur Kontrolle des Leaders durch das Volk führt, sondern auf der Basis des Vertrauens- und Identifikationsverhältnisses des Volkes mit dem Leader beruht. Massenmediale Aufmerksamkeitsregeln Wie steht es mit den Regeln der massenmedialen Kommunikation? Welche Bedingungen stellen sie für die politische Kommunikation auf? An welchen Punkten überschneiden sich die populistische Logik und die Kommunikationsformen der Massenmedien? Seit der Einführung der ersten Tageszeitung ist eine Dynamik zu beobachten, die sich zunehmend beschleunigt: das Rennen um Aktualität. Die englische Bezeichnung "News" für Nachrichten bringt dieses Grundelement des massenmedialen Journalismus auf den Punkt. Auf die Titelseite von Tageszeitungen oder in die Hauptnachrichten von Radio und Fernsehen zu kommen, bedeutet für politische Akteurinnen und Akteure, eine Existenz in der politischen Öffentlichkeit zu erlangen und Einfluss auf das agenda setting - zumindest was den diskursiven Raum angeht - auszuüben. Neben dem Aktualitätsgebot sind Massenmedien auf die Aufmerksamkeit des Publikums angewiesen. Denn es ist das Publikum, das ihre Existenz legitimiert beziehungsweise finanziert. An diesen beiden Grundbedingungen der Massenmedien orientieren sich die Medienproduzenten bei der Auswahl von Informationen, Personen und Bildern. Damit werden bestimmte Kommunikationsstrategien begünstigt. Man spricht daher von Aufmerksamkeits- und Selektionsregeln der Massenmedien, die Kriterien dafür liefern, was veröffentlicht und was nicht veröffentlicht wird, was gesendet und was nicht gesendet wird. Dazu gehören die Komplexitätsreduktion, die Fixierung auf Personen, die Emotionalisierung, die Tendenz zur Aufdeckung von Skandalen und unerwarteten Ereignissen sowie die Begünstigung von agonaler Strukturierung, Dramatisierung, Zuspitzung und Erzeugung von Events. Je stärker die Massenmedien auf den kommerziellen Erfolg angewiesen sind, desto entscheidender werden ihre Selektionskriterien in Bezug auf die Erhöhung der Publikumsaufmerksamkeit. Für die politischen Akteure heißt das: Je besser ihr Kommunikationsstil an diese massenmedialen Regeln adaptiert ist, desto höher ist die Chance auf Publizität. Die Personalisierung und die Emotionalisierung, zu denen vor allem visuelle Massenmedien tendieren, wurden bereits im deutschen Kaiserreich als politische Ressource entdeckt. Das Kaiserreich machte sich die Massenmedien zunutze, um Wilhelm II. dem Volk "näher zu bringen". Dazu gehörte die Selbstdarstellung auf Postkarten, Illustriertenfotos und Sammelbildern. Aber es war vor allem seine Inszenierung im Film, die große Popularität erlangte. Zu Recht kann man vom ersten deutschen Kinostar sprechen. Populisten perfektionieren die sinnliche Personalisierung durch die Massenmedien. Schon vor seiner Liaison mit "Evita" nutzte Juan Domingo Peron das Radio für die Intensivierung seiner affektiven Beziehung zum Volk. Im Zuge einer Blutspendenkampagne für Opfer eines Erdbebens im Jahr 1943 bat er um Solidarität. Dieser Auftritt ermöglichte die Inszenierung von Nähe, die stark emotionalisiert war, und steigerte seine Popularität. Mit anderen Worten: Peron war selbst schon ein massenmedialer Politiker, als er den Star der Radionovelas "Evita" traf. Auch Dramatisierung und Zuspitzung von Konflikten gehören zum Repertoire populistischer Akteure und machen deren Selbstinszenierung besonders medienkompatibel. Hier geht es um die Steigerung des Spannungsbogens. So ist zum Beispiel die kalkulierte Überfüllung von Räumen beim Auftritt populistischer Politikerinnen und Politiker eine effektive Art, ein massenmediales Event zu produzieren und Spannung zu erzeugen. Jörg Haiders Entscheidung für einen viel zu kleinen Saal eines Wiener Hotels für die Wahlversammlung der FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) im Jahr 1986 ist dafür paradigmatisch. Hunderten seiner Anhänger wurde der Zugang zum Saal wegen Überfüllung verwehrt. Das Ergebnis war nicht nur die Wiederholung seiner Reden im Freien, sondern ein Medienevent, das viel öffentliche Aufmerksamkeit bekam. Zur Dramatisierung und Zuspitzung von Konflikten gehört auch die Tendenz zu Tabubrüchen, Polemik und Skandal. Die Provokationen mit antisemitischen Anspielungen des verstorbenen FDP-Politikers Jürgen Möllemann oder Thilo Sarrazins Tiraden gegen türkeistämmige Deutsche sind in diesem Kontext zu verstehen. Eine Bevölkerungsgruppe pauschal als "Gemüseverkäufer" und "Produzenten von Kopftuchmädchen" zu bezeichnen, zielt auf den Medienevent, der durch den kalkulierten Tabubruch entsteht. Populismus und Massenmedien überschneiden sich auch im Drang zur Komplexitätsreduktion. Der Soziologe Craig Calhoun sieht darin eine Antwort auf die Distanzierung des politischen Systems und seiner Institutionen vom Alltagsleben der Bürgerinnen und Bürger. Populisten unterspielen diese Distanz, indem sie politische Belange in lebensweltlichen Kategorien erklären. Darin liegt sowohl eine Chance als auch eine Gefahr: Chance, da komplexe Probleme angesprochen werden können, und Gefahr, da die Komplexitätsreduktion den Sachverhalt verzerrt. Neben den Aufmerksamkeitsregeln der Massenmedien gibt es einen weiteren Punkt, an dem sich Populismus und Massenmedien überschneiden: die Art der Adressierung des Publikums. Abgesehen vom Internet, in dem horizontale Foren sich selbst konstituieren können, ist der Kommunikationsprozess in den Massenmedien von Asymmetrie gekennzeichnet. Das Publikum bekommt kaum die Möglichkeit, die Inhalte oder Form des Gesendeten zu bestimmen, sondern wird meistens nur aufgerufen, für oder gegen etwas zu votieren - sei es bei der Erhebung der Einschaltquoten oder bei der Wahl von "Superstars". Dies ist auch im Populismus oft der Fall. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger wird auf plebiszitäre oder akklamatorische Teilnahme reduziert. Darin liegt bereits die Verschiebung von einer partizipatorischen Anforderung zur plebiszitären und akklamatorischen Prozedur. Es wird zwar eine höhere Beteiligung an Entscheidungsprozessen gefordert, diese erschöpft sich aber in der Zustimmung zu oder Ablehnung von vorformulierten Fragen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Wahlkampagne von Segolène Royal (Kandidatin der Sozialistischen Partei für die Präsidentschaftswahl in Frankreich) im Jahr 2007. Royal nutzte das Internet gezielt, um direkt mit ihren Anhängerinnen und Anhängern zu kommunizieren und zu mehr Partizipation" aufzurufen. Doch die sogenannte partizipative Demokratie, die Royal pflegte, reduzierte sich auf das Filtern von Unterstützungsbotschaften ihrer Sympathisanten auf ihrem Blog. Besucherinnen und Besucher ihrer Seite hatten die Möglichkeit, mit "ja" oder "nein" auf gezielte Fragen der sozialistischen Kandidatin zu antworten. Im Grunde partizipierten sie nicht am deliberativen Prozess, sondern lieferten - ähnlich wie bei Meinungsumfragen - die Stichworte für die Rhetorik der Kandidatin. Die populistische Nutzung der Massenmedien bemächtigt sich sogar jenes Mediums, in dem die Selbstorganisation der Nutzerinnen und Nutzer bis jetzt am besten gelingt - des Internets. Royales Nutzung des Internets zeigt, welche Möglichkeiten die populistische Logik im aktuellen massenmedialen System findet. Doch wenn sich die populistische Logik hier der massenmedialen Infrastruktur bedient, gibt es auch anders geartete Fälle. Neue Tendenzen Die postmoderne Selbstdarstellung des österreichischen Rechtspopulisten Heinz Christian Strache oder die dekonstruktivistische Inszenierung von Silvio Berlusconi liefern dafür gute Beispiele. Sie provozieren nicht nur, sondern beziehen massenmediale Hyperrealität und Unterhaltung in ihren eigenen Kommunikationsstil und Diskurs mit ein. Kennzeichnend für Hyperrealität ist die Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Massenmediale Inszenierungen, die auf Hyperrealität bauen, sind von Selbstreferenzialität und Selbstdekonstruktion geprägt; das heißt, sie beziehen sich nicht primär auf die Realität, sondern auf die zirkulierenden Bilder innerhalb der Massenmedien. Als Unterhaltungsquelle verspricht Hyperrealität eine distanzierte Haltung des Publikums mit hohem Vergnügungswert. Für die Politik aber riskiert sie, den Bezug zum Politischen zu verlieren. Postmoderne Populisten mischen diese Logik in ihre Selbstdarstellung. Wenn Strache sich mit Che-Guevara-Mütze zeigt und seine Plakate mit typografischen Veränderungen der Buchstaben CHE aus seinem Namen ausstattet, versucht er keineswegs, an die linke Ideologie des lateinamerikanischen Idols anzuknüpfen, sondern eignet sich den Konsumwert des Che-Mythos an, der schon längst seine politische Brisanz verloren hat und neben "Evita" oder Marylin Monroe zur Pop-Ikone geworden ist. Diese Aneignung gehört zur selbstreferenziellen Logik der Massenmedien und fungiert als Zitat des massenmedialen Mythos. Postmodern ist Strache auch insofern, als er unterschiedliche Symbole mit verschiedenen Ursprüngen kombiniert und divergente Lebensstile anspricht. So knüpft er an die Technoszene an und zeigt sich als Party-Besucher. Aber er präsentiert sich zugleich als xenophober Verfechter traditioneller Werte und appelliert an konservative Gemeinschaftsgefühle. Berlusconi geht auf die Selbstreferenzialität der Massenmedien auf eine andere Art und Weise ein: Er dekonstruiert sich selbst. Dem Publikum wird der Unterschied zwischen Berlusconi als Unterhalter und Berlusconi als Politiker nicht deutlich gemacht. So ist Berlusconi imstande, seine eigene politische Rede zu unterbrechen und an der Stelle einen Witz über sich selbst, über die Kulissen oder über die Regieanweisungen seines eigenen Auftritts zu machen. Beide Fälle sind typische Beispiele für Hybridphänomene. Sicherlich bedienen sich Strache und Berlusconi der populistischen Logik. Aber sie greifen auch auf Unterhaltung und hyperreale Techniken der Inszenierung zurück wie etwa das Selbstzitat oder das Zitat von anderen massenmedialen Produkten. Ihr Kommunikationsstil ist nicht nur das Ergebnis einer Anpassung an die Massenmedien. Vielmehr scheinen sie auf radikale Weise die neue Inszenierungsdynamik der Massenmedien voranzutreiben. Selbstreferenzialität und Dekonstruktion sind hier ebenso wichtig wie der Rückgriff auf die populistische Logik mit dem Appell an das Volk und der emotionalen Bindung an den Leader. Gerade weil politische Akteure zunehmend mehrere Logiken in ihrer Kommunikation kombinieren, werden sie immer wieder mit neuen Populismus-Kategorien gedeutet wie etwa "Medienpopulismus", "Telepopulismus" oder "postmoderner Populismus". Hieran anschließend stellt sich eine andere Frage: Inwieweit ist die populistische Logik bestimmend? Denn obwohl der Populismus eine Verschiebung der demokratischen Repräsentation verursacht, erinnert er immer noch daran, dass das Volk der Souverän ist. Verliert man sich in Selbstzitaten und Dekonstruktionen, riskiert auch das Volk, als Adressat der politischen Kommunikation, zu bloßen Unterhaltungskonsumenten zu werden. Vgl. Paula Diehl, Populismus, Antipolitik, Politainment, in: Berliner Debatte Initial, 22 (2011) 1, S. 27-38. Vgl. Thomas Meyer, Populismus und Medien, in: Frank Decker (Hrsg.), Populismus, Wiesbaden 2006, S. 86ff. Martin Reisigl, "Dem Volk aufs Maul schauen, nach dem Mund reden und Angst und Bange machen". Von populistischen Anrufungen, Anbiederungen und Agitationsweisen in der Sprache österreichischer PolitikerInnen, in: Wolfgang Eismann (Hrsg.), Rechtspopulismus, Wien 2002, S. 149. Vgl. zum emotionalen Gehalt des Populismus: Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (2004) 3, S. 541-563. Vgl. Marysa Navarro, The Case of Eva Peron, in: Signs, 3 (1977) 1, S. 234. Vgl. ebd., S. 235. Vgl. Niels Werber, Populism as a Form of Mediation, in: Lars Bang Larsen/Nicolaus Schafhausen/Cristina Ricupero (eds.), The Populism Reader, New York-Berlin 2005, S. 147-159. Alo Presidente, Sendung vom 5.6.2011, online: www.youtube.com/watch?v=qgPd2vVQCg4 (21.11.2011). Der Tagesspiegel vom 11.6.2000. Vgl. Paula Diehl, Die Komplexität des Populismus, in: Totalitarismus und Demokratie, (2011) 2, S. 273-292. Vgl. Margaret Canovan, Trust the People!, in: Political Studies, 47 (1999), S. 3ff. Vgl. Lars Rensmann, Populismus und Ideologie, in: F. Decker (Anm. 2), S. 66. Zit. nach: Der Standard vom 9.6.1994. Vgl. C. Mudde (Anm. 3). Vgl. Ernesto Laclau, Populism: What's in a Name?, in: Francisco Panizza (ed.), Populism and the Mirror of Democracy, New York 2005, S. 39. M. Canovan (Anm. 10), S. 4ff.; Karin Priester, Populismus, Frankfurt/M. 2007, S. 212f.; dies., Der populistische Moment, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2005) 3, S. 305f. Vgl. T. Meyer (Anm. 2), S. 82ff. Vgl. Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, Berlin 2005, S. 64, S. 74f. Vgl. Klaus Theweleit, Buch der Könige, Bd. 2, Frankfurt/M. 1994, S. 280f. Vgl. Fritz Plasser, Die populistische Arena, in: Anton Pelinka (Hrsg.), Populismus in Österreich, Wien 1997, S. 102f. Vgl. Craig Calhoun, Populist Politics, Communications Media and Large Scale Societal Integration, in: Sociological Theory, 6 (1988) 2, S. 220f. Vgl. Robert Huckfeldt, The Social Communication of Political Expertise, in: American Journal of Political Sciences, 6 (2001) 45, S. 425. Vgl. Paula Diehl, Dekonstruktion als Inszenierungsmethode, in: Andreas Dörner/Christian Schicha (Hrsg.), Politik im Spot-Format, Wiesbaden 2008, S. 313-335.
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, Paula Diehl
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-03-07T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
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Populismus und Massenmedien haben ein enges Verhältnis: Personalisierung, Komplexitätsreduktion, Dramatisierung und Emotionalisierung prägen die massenmediale Kommunikation wie auch die Logik des Populismus.
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Die ungleiche Bürgergesellschaft – Warum soziale Ungleichheit zum Problem für die Demokratie wird | Bildung | bpb.de
"Decisions are made by those who show up." So lautet das Credo demokratischer Beteiligung, das dem amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman zugeschrieben wird. Frei übersetzt bedeutet es: Entscheidungen werden von denjenigen getroffen, die sich daran beteiligen. So banal dieser Satz klingt, verweist er doch auf eine wesentliche Errungenschaft moderner Demokratien: Alle Bürgerinnen und Bürger eines Landes werden an den politischen Entscheidungen, die das Gemeinwohl betreffen, beteiligt: Sie haben das Recht, in freien Wahlen über die Zusammensetzung des Parlamentes oder der Regierung mitzubestimmen, die dann stellvertretend für sie die politischen Programme entwerfen und auf den Weg bringen. Dabei ist der Gang zur Wahlurne aller paar Jahre längst nicht die einzige Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Denn alle Bürgerinnen und Bürger können selbst Mitglied einer Partei werden und deren Wahlprogramme und politische Forderungen direkt mitbestimmen, vorausgesetzt, sie nehmen an den Sitzungen und Diskussionen der Partei teil. Über diese klassischen Formen der Beteiligung hinaus können sie aber auch politischen Verbänden und Initiativen beitreten, beispielsweise Umweltschutzverbänden oder lokalen Bürgerinitiativen. Oder sie engagieren sich eher temporär, etwa in Demonstrationen, Flashmobs oder Onlinekampagnen. Infobox Bürgergesellschaft Unter Bürgergesellschaft wird in den Sozialwissenschaften eine Gesellschaftsform verstanden, in der die Bürgerinnen und Bürger in allen Belangen des öffentlichen Lebens aktiv mitwirken. Grundlage dafür bilden die zahlreichen Initiativen und Vereine, die wesentlich vom freiwilligen Engagement getragen werden. Der Begriff wurde im deutschsprachigen Raum insbesondere durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel geprägt, der mit Bürgergesellschaft eine eigene Sphäre zwischen Staat und Familie bezeichnet. Ralf Dahrendorf beschreibt Bürgergesellschaft treffend als das "schöpferische Chaos der vielen, vor dem Zugriff des (Zentral-)Staates geschützten Organisationen und Institutionen". Es handelt sich also um einen gesellschaftlichen Bereich, der Privatsphäre und politische Sphäre verbindet. Damit erklärt sich auch die große Bedeutung der Bürgergesellschaft für die politische Teilhabe, die in den neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen u.a. von Jürgen Habermas thematisiert worden ist. Er definiert die Bürgergesellschaft als den entscheidenden Ort für einen kollektiven Verständigungsprozess zwischen Menschen, der weder durch die Profitinteressen der Wirtschaft noch durch die Machtinteressen des Staates gelenkt werden darf. Bürgergesellschaft wird somit zum Ort der gelebten Demokratie, wo abseits von Wahlen und Abstimmungen gesellschaftliche Prozesse durch das freiwillige Engagement von Bürgerinnen und Bürgern gestaltet werden können. Sie bildet das Rückgrat einer liberalen Gesellschaft, denn mit all ihren Initiativen, Parteien und Vereinigungen ist sie gewissermaßen der "Ort", an dem sich die Bürgerinnen und Bürger eines Landes über politische Sachfragen sowie unterschiedliche Normen und Werte verständigen können. Die demokratische Bürgergesellschaft ist allerdings darauf angewiesen, dass alle Bürgerinnen und Bürger aktiv mitwirken können. Denn sie baut auf dem Prinzip der demokratischen Herrschaft auf, in dem die Interessen aller Mitglieder eines Gemeinwesens berücksichtigt werden sollen. Wenn aber die Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsteile immer wieder auf Kosten anderer durchgesetzt werden oder die Hürden für die politische Beteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen zu hoch sind, dann wird das Prinzip der politischen Gleichheit verletzt. Über kurz oder lang entsteht daraus ein ernstes Legitimationsproblem für die Demokratie, denn die politischen Entscheidungen können nicht mehr auf die Herrschaft des Volkes, also prinzipiell aller Bürgerinnen und Bürger, zurückgeführt werden. Unter Bürgergesellschaft wird in den Sozialwissenschaften eine Gesellschaftsform verstanden, in der die Bürgerinnen und Bürger in allen Belangen des öffentlichen Lebens aktiv mitwirken. Grundlage dafür bilden die zahlreichen Initiativen und Vereine, die wesentlich vom freiwilligen Engagement getragen werden. Der Begriff wurde im deutschsprachigen Raum insbesondere durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel geprägt, der mit Bürgergesellschaft eine eigene Sphäre zwischen Staat und Familie bezeichnet. Ralf Dahrendorf beschreibt Bürgergesellschaft treffend als das "schöpferische Chaos der vielen, vor dem Zugriff des (Zentral-)Staates geschützten Organisationen und Institutionen". Es handelt sich also um einen gesellschaftlichen Bereich, der Privatsphäre und politische Sphäre verbindet. Damit erklärt sich auch die große Bedeutung der Bürgergesellschaft für die politische Teilhabe, die in den neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen u.a. von Jürgen Habermas thematisiert worden ist. Er definiert die Bürgergesellschaft als den entscheidenden Ort für einen kollektiven Verständigungsprozess zwischen Menschen, der weder durch die Profitinteressen der Wirtschaft noch durch die Machtinteressen des Staates gelenkt werden darf. Bürgergesellschaft wird somit zum Ort der gelebten Demokratie, wo abseits von Wahlen und Abstimmungen gesellschaftliche Prozesse durch das freiwillige Engagement von Bürgerinnen und Bürgern gestaltet werden können. Wer beteiligte sich an der Bundestagswahl 2009? (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Gemessen an ihrem Ideal steht die Bürgergesellschaft in Deutschland heute vor großen Herausforderungen: Einerseits hat sich die Schere zwischen Arm und Reich seit den 1970er Jahren weit geöffnet und damit die soziale Ungleichheit zugenommen. Andererseits ist nach den Einwanderungswellen der letzten Jahrzehnte auch die kulturelle Vielfalt gewachsen. Dabei haben sich die sozialen und kulturellen Milieus teils stark auseinanderentwickelt und grenzen sich zunehmend voneinander ab. Die Integration aller sozialer Gruppen wird daher in den nächsten Jahrzehnten zur Hauptaufgabe der Bürgergesellschaft. Doch wie ist es aktuell um die politische Teilhabe in Deutschland bestellt? Hierzu kann die empirische Demokratie- und Partizipationsforschung einige Antworten geben. Wie hat sich die politische Beteiligung über die Zeit entwickelt? Seit Langem lässt sich in Deutschland ein Trend weg von den klassischen Formen der politischen Partizipation hin zu alternativen Formen beobachten. Hierzu ein paar Zahlen: Die Beteiligung an Bundestagswahlen ist in Deutschland von über 90 Prozent in den 1970er Jahren auf 71,5 Prozent im Jahr 2013 gesunken. Konnten alle im Bundestag vertretenen Parteien 1990 noch 3,65 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung als Mitglieder rekrutieren, sind es 2011nur noch 1,86 Prozent. Den größten Mitgliederschwund haben dabei die beiden großen Volksparteien SPD und CDU zu verzeichnen. Auch der Anteil an gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern hat in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. Lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad 1960 noch bei 34,2 Prozent ist er im Jahr 2000 auf 21,6 Prozent gesunken. Heute liegt er Schätzungen zufolge nur noch bei knapp unter 20 Prozent. Wer ist Mitglied in Vereinen und Organisationen in Deutschland? (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Angesichts der zentralen Rolle, die Parteien und Gewerkschaften bei der Interessenvertretung von allen Bürgerinnen und Bürgern spielen, sind diese Befunde besorgniserregend. Doch es gibt auch positive Trends: So sind heutzutage deutlich mehr Menschen Mitglied in zivilgesellschaftlichen Vereinigung wie etwa Greenpeace oder Amnesty International. Mehr Menschen beteiligen sich in lokalen Bürgerinitiativen oder nehmen an Demonstrationen teil. Für nahezu jede politische Frage gibt es eine oder gleich mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, die als eine Art Bindeglied zwischen der Bevölkerung und politischen Entscheidungsträgern tätig sind. Sie diskutieren und informieren über politische Entwicklungen, bündeln Meinungen und setzen sich für ihre politischen Ziele ein. Es lässt sich also durchaus von einer lebendigen Bürgergesellschaft sprechen. Wahrscheinlich waren die Möglichkeiten, sich zu beteiligen, selten so zahlreich und vielfältig wie heute. Doch wer macht davon Gebrauch oder anders formuliert: Who shows up? Who shows up? Beteiligung hängt von Bildung und sozialem Status ab! Politisches Interesse nach Schulabschluss (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Die Befunde sprechen eine eindeutige Sprache: Politische Beteiligung hängt in hohem Maße von Bildung und Einkommen ab. Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und geringem Einkommen sind im Durchschnitt deutlich seltener an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Dieser Zusammenhang gilt grundsätzlich für alle Formen des politischen Engagements und lässt sich für alle westlichen Demokratien nachweisen. Deutschland ist diesbezüglich also kein Einzelfall. Allerdings ist der Zusammenhang hierzulande deutlich stärker ausgeprägt als in anderen westlichen Demokratien, wie etwa Belgien, Dänemark oder Finnland. Allgemein gilt: Je größer die soziale Ungleichheit in einem Land, desto weniger sind einkommens- und bildungsarme Schichten politisch beteiligt. Seit den 1990er Jahren hat sich die Lage in Deutschland sogar noch verschärft: Das untere Fünftel der Gesellschaft zieht sich zunehmend aus der Bürgergesellschaft zurück. Hierzu zählen etwa Arbeitslose und Geringverdiener, aber auch viele Menschen mit Migrationshintergrund. Die Forschung zeigt: Wer über einen geringen Bildungsabschluss verfügt, wird mit einer weitaus höheren Wahrscheinlichkeit nicht zur Wahl gehen als jemand mit höherem Bildungsabschluss.Unter den Parteimitgliedern in Deutschland finden sich immer weniger Menschen mit niedrigem Bildungsniveau. Die Führungsebenen von Parteien werden ohnehin fast ausschließlich mit Akademikern besetzt.Eine noch größere Lücke klafft jedoch zwischen bildungsarmen und bildungsreichen Menschen, wenn es um die neueren Formen des politischen Engagements geht, z.B. der Mitarbeit in einer Bürgerinitiative oder der Teilnahme an einer Demonstration. Kurz gesagt: Weite Teile der demokratischen Bürgergesellschaft sind heute eine Veranstaltung gut gebildeter und relativ einkommensstarker Bevölkerungsschichten, deren Interessen sich in der Regel erheblich von denen ärmerer Schichten unterscheiden. Dieser Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und politischer Beteiligung ist in der Forschung hinlänglich bekannt. Doch damit ist der Ausschluss eines Fünftels der Gesellschaft keineswegs ein Naturgesetz, sondern bedarf einer genauen Erklärung. Immerhin wäre es genauso plausibel anzunehmen, dass mit wachsender sozialer Ungleichheit gerade die Stimmen derjenigen lauter werden, die von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzt werden. Wut und Frustration würden sich in diesem Fall in politisches Engagement übersetzen und sich beispielweise in Form von Straßenprotesten äußern. Dies ist jedoch in Deutschland nicht der Fall. Hier führt soziale Ausgrenzung vor allem zu Hoffnungslosigkeit, Desinteresse und Passivität. Warum ist das so? Warum hängt politisches Engagement vom Bildungshintergrund ab? Bildung ist in vielerlei Hinsicht entscheidend für die Lebens- und Teilhabechancen der Menschen in unserer Gesellschaft. Nicht nur die zukünftigen Berufsmöglichkeiten, das Einkommen oder etwa das Risiko, arbeitslos zu werden, hängen hierzulande stark vom erreichten Bildungsabschluss ab, sondern auch die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren – nicht zuletzt in politischen Belangen. Denn obwohl für politisches Engagement formell meist kein Bildungsnachweis verlangt wird, sind die informellen Hürden häufig sehr hoch: Themen, die in Sitzungen von Parteien oder anderen politischen Organisationen diskutiert werden, erfordern eine Kenntnis politischer Sachverhalte und die Bereitschaft, sich in komplexe Themen einzuarbeiten – Fähigkeiten also, die Wer hat sich schon einmal an politischen Aktivitäten beteiligt? (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ einen gewissen Bildungshintergrund voraussetzen. Im politischen Betrieb werden zudem Wissen, Redegewandtheit und schnelles Auffassungsvermögen geschätzt. Wer diese Grundlagen nicht mitbringt, fühlt sich schnell abgehängt und ausgeschlossen. Auch wenn diese Ausgrenzung in den allermeisten Fällen nicht vorsätzlich geschieht, so wird sie doch zumindest durch die Praktiken von Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen verstärkt oder in Kauf genommen. Ob sich ein Mensch politisch engagiert oder nicht, hängt von weiteren Faktoren ab. So wird die Bereitschaft des Einzelnen hierfür bereits früh im familiären Umfeld geprägt. Politisches Interesse – eine Grundbedingung für jegliches politisches Engagement – muss zunächst einmal geweckt werden. In weniger privilegierten sozialen Schichten ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es in der Familie bereits geringes Interesse an Politik gibt oder Vorbehalte bestehen. Die Angehörigen haben möglicherweise eher negative Erfahrungen von Ausgrenzung und Nutzlosigkeit gemacht, oder ihr Engagement blieb erfolglos. Erfahrungen mit Politik – im Positiven wie im Negativen – werden auch an Heranwachsende weitergegeben. Ebenso prägen die Schule oder der Freundeskreis das eigene gesellschaftliche und politische Engagement. Personen aus dem sozialen Umfeld können über Gelegenheiten zum Engagement informieren und zum Mitmachen motivieren. Wie die Forschung zeigt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, an einer Demonstration teilzunehmen, um ein Vielfaches, wenn Menschen wissen, dass andere aus ihrem nahen Umfeld – etwa eine Freundin oder ein Freund – ebenfalls dabei sind. Auch in diesem Zusammenhang spielt Bildung eine Rolle: Denn erwiesenermaßen setzt sich der eigene Bekanntenkreis eher aus Personen zusammen, die einen ähnlichen Bildungshintergrund haben wie man selbst. Bildung wirkt also nicht nur direkt auf die Bereitschaft des Einzelnen, sich zu engagieren, sondern auch indirekt. Bildungsarme Personen kennen mit geringerer Wahrscheinlichkeit jemanden, der sie zum politischen Handeln anregt, als Personen mit höherem Bildungs- und Sozialkapital. Politisches Handeln ist insofern keineswegs eine angeborene Fähigkeit, sondern das Ergebnis eines komplexen Sozialisationsprozesses, der in der Familie beginnt und sich im Verlauf des Lebens in der Schule, der späteren Ausbildungsstätte und dem weiteren sozialen Umfeld fortsetzt. Ein wichtiger psychologischer Einflussfaktor der politischen Beteiligung ist die sogenannte Wirksamkeitsüberzeugung. Darunter versteht man die individuelle Überzeugung, an bestehenden Zuständen durch eigenes Handeln etwas ändern zu können. Gerade Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen sind davon wenig überzeugt. Wenn man aber glaubt, ohnehin nichts bewirken zu können, wird man sich auch nicht engagieren. Die Erfahrungen von gesellschaftlichem Ausschluss in anderen Lebensbereichen werden auch auf den Bereich der politischen Teilhabe übertragen, was in vielen Fällen zu Apathie und Resignation führt. Politische Angelegenheiten werden dann allein als eine Sache von gesellschaftlichen Eliten angesehen, auf die man selbst keinen Einfluss nehmen kann. Wie können mehr Menschen in die Bürgergesellschaft integriert werden? Eine größere Beteiligung von sozial- und bildungsbenachteiligten Gruppen wird nicht von heute auf morgen entstehen. Es bedarf dafür langfristiger Anstrengungen. Die Impulse müssen insbesondere von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien gesetzt werden. Es wird darum gehen, neue Organisationsstrukturen zu schaffen, in denen Räume für das Engagement sozial Benachteiligter entstehen und Orte der Begegnung unterschiedlicher sozialer und kultureller Milieus geschaffen werden. Eine Studie von Johanna Klatt und Franz Walter (2011) zeigt etwa, wie wichtig der unmittelbare Wohn- und Lebensmittelpunkt von Menschen hierfür ist. Insbesondere für sozial Benachteiligte ist das eigene Viertel von enormer Bedeutung. Der größte Teil des alltäglichen Lebens spielt sich in unmittelbarer Nähe des Wohnortes ab. Häufig gibt es keine großen Anreize, das eigene Viertel überhaupt zu verlassen. Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen, die soziale Inklusion ernsthaft praktizieren wollen, müssen die Menschen an ihrem unmittelbaren Lebensmittelpunkt abholen. Zudem gilt es für die Organisationen, bei den realen Problemen von sozial benachteiligten Gruppen anzusetzen. Abstrakte Debatten über Zivilgesellschaft und Engagement werden niemanden zum Mitmachen anregen. Die alltäglichen Problemlagen von Menschen vor Ort sind viel eher dazu geeignet, das Interesse von Betroffenen zu wecken. Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen brauchen daher Personen, die sich mit den Problemen von benachteiligten Menschen auskennen und sich mit diesen bis zu einem gewissen Grad identifizieren können. Und es bedarf einer angemessenen Sprache, die von den Menschen verstanden und nachvollzogen werden kann. Doch genau an diesen Punkten zeigen sich in vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen und insbesondere in den Parteien große Schwächen. Funktionäre und hauptberufliche Mitarbeiter sind oftmals weit von den realen Problemen sozial benachteiligter Menschen entfernt, da sie selbst fast ausschließlich aus bildungsnahen Milieus rekrutiert werden. Insbesondere Berufspolitiker haben es verlernt die "Sprache der Unterschicht" (Klatt und Walter 2011) zu sprechen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass bestimmte Milieus kaum noch einen Bezug zwischen ihrer eigenen Lebenswirklichkeit und politischen Fragen herstellen können. Deshalb sind auch die staatlichen Bildungsinstitutionen im besonderen Maße gefordert. Kindergärten, Schulen und Universitäten müssen zu Orten des demokratischen Lernens werden. Sie müssen genau die Kompetenzen vermitteln und fördern, die für ein aktives und selbstbewusstes politisches Handeln notwendig sind. Hierfür müssen sie selbst zu Orten der Demokratie werden, an denen eine aktive Diskussionskultur und die Möglichkeit zur Mitsprache gelebt werden. Schulen, Ausbildungsbetriebe und Universitäten sind als eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft zu begreifen. Wo, wenn nicht hier, sollen die Werte und Fähigkeiten vermittelt und eingeübt werden, die für eine aktive und inklusive Bürgergesellschaft von so großer Bedeutung sind. In einer demokratischen Gesellschaft werden Entscheidungen zweifelsohne von denjenigen getroffen, die teilnehmen. Die Motivation zur Teilnahme steigt aber bekanntlich auch mit dem Gefühl, willkommen zu sein und Gehör zu finden. Es liegt nicht zuletzt in der Verantwortung einer demokratischen Bürgergesellschaft, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht systematisch von der Teilhabe ausgeschlossen werden. Die Inklusion des unteren Drittels der Gesellschaft wird deshalb zur wichtigsten politischen Herausforderung der nächsten Jahrzehnte gehören. Wer beteiligte sich an der Bundestagswahl 2009? (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Wer ist Mitglied in Vereinen und Organisationen in Deutschland? (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Politisches Interesse nach Schulabschluss (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Wer hat sich schon einmal an politischen Aktivitäten beteiligt? (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Quellen / Literatur Bödeker, Sebastian. 2012. Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland. Grenzen politischer Gleichheit in der Bürgergesellschaft. Frankfurt a.M. Externer Link: https://www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/2012_02_07_Boedeker_AP_03.pdf. Bundeszentrale für politische Bildung. 2011. Postdemokratie? Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2011. Dahl, Robert A. 2006. Politische Gleichheit - Ein Ideal? Hamburg: Hamburger Ed. Klatt, Johanna/ Walter, Franz. 2011. Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Bielefeld: Transcript. Bödeker, Sebastian. 2012. Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland. Grenzen politischer Gleichheit in der Bürgergesellschaft. Frankfurt a.M. Externer Link: https://www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/2012_02_07_Boedeker_AP_03.pdf. Bundeszentrale für politische Bildung. 2011. Postdemokratie? Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2011. Dahl, Robert A. 2006. Politische Gleichheit - Ein Ideal? Hamburg: Hamburger Ed. Klatt, Johanna/ Walter, Franz. 2011. Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Bielefeld: Transcript.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-17T00:00:00"
"2014-08-13T00:00:00"
"2021-12-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/189941/die-ungleiche-buergergesellschaft-warum-soziale-ungleichheit-zum-problem-fuer-die-demokratie-wird/
Die Möglichkeiten zum politischen Engagement haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Allerdings ist auch die soziale Ungleichheit gestiegen: Insbesondere Menschen mit niedrigem Bildungshintergrund wirken immer seltener politisch mit. Wa
[ "Bildung", "Zukunft Bildung", "Dossier Bildung", "Schule", "Erziehung", "Universität", "Studium", "Ausbildung", "Bildungsungleichheit", "Bildungsungleichheiten", "Bürgergesellschaft", "soziale Ungleichheit", "demokratische Partizipation" ]
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Position: Autonomie am Lebensende ist mehr als nur die Selbstbestimmung des eigenen Todeszeitpunkts | Schwerpunkt Sterbehilfe | bpb.de
Ihr aktuelles Buch nennt sich "selbst bestimmt sterben". Was bedeutet "Selbstbestimmung" am Lebensende für Sie? Auf jeden Fall mehr als nur das Recht, meinen eigenen Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen. Es gibt so viel mehr wichtige Dinge, die es am Lebensende zu betrachten, zu klären und zu regeln gibt. Damit sollte man am besten schon lange vor dem Lebensende beginnen. Und natürlich wünscht man sich, so zu sterben, wie es die eigene Familie am wenigsten belastet. Für mich persönlich geht es aber letztlich vor allem darum, wie der tibetische Meister Milarepa um das Jahr 1100 sagte, "mich auf mein Totenbett nicht schämen zu müssen". Sie beschreiben den Autonomiebegriff in der Sterbehilfe-Debatte als zu eng gefasst. Warum sind Sie dieser Meinung? Die Hauptthese meines Buches ist, dass es zu kurz gegriffen und zudem realitätsfremd ist, wenn man die Debatte über die Autonomie am Lebensende auf die Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert. In der Praxis ist dies nur für eine sehr kleine Anzahl von Menschen das ausschlaggebende Kriterium. Ausgehend von der unumstößlichen Tatsache, dass jeder von uns selbst bestimmt sterben wird, stellt sich die Frage, was selbstbestimmtes Sterben in der heutigen multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft bedeuten kann. Geht es wirklich vorwiegend um die Frage, ob es erlaubt sein soll, unter bestimmten Umständen mit fremder Hilfe aus dem Leben zu scheiden? Meines Erachtens verdeckt die medial aufgeheizte Diskussion über die sogenannte "Sterbehilfe" den Blick auf wichtigere Realitäten, die für die allermeisten Menschen am Lebensende von größerer Bedeutung sind. Welche Realitäten blendet die Sterbehilfe-Debatte aus? Wenn man als Arzt das Privileg geschenkt bekommt, Menschen auf dem letzten Stück ihres Weges begleiten zu dürfen, dann erschließt sich eine weit komplexere Wirklichkeit, als es die Vereinfachungen und Verallgemeinerungen in den Sterbehilfe-Talkshows vermuten lassen. So banal es klingt: Jeder Mensch stirbt anders, und die meisten Menschen sterben in etwa so, wie sie gelebt haben. Das Spektrum der Wünsche, Ängste und Nöte am Lebensende ist so unterschiedlich wie das Leben selbst. Es gibt zum Beispiel nicht wenige Menschen, die der Meinung sind, die Autonomie-Debatte gehe an ihnen gänzlich vorbei, weil sie gar nicht selbstbestimmt sterben wollen, sondern sich voll und ganz anderen Menschen anvertrauen möchten – was natürlich wiederum ein Akt der Selbstbestimmung ist. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die ökonomischen Kräfte, die das Gesundheitssystem beeinflussen? Wäre ich von Beruf Pharma-Lobbyist, dann würde ich viel Geld aufwenden, um die Sterbehilfe-Debatte anzuheizen. Sie soll möglichst lange, möglichst kontrovers und möglichst medial prominent weiterkochen. Denn solange sie das tut, wird die Öffentlichkeit sehr effektiv von dem abgelenkt, was die Menschenwürde am Lebensende wirklich verletzt: die allgegenwärtige Übertherapie sowie die unzureichende pflegerische und palliative Versorgung.
 Unzweifelhaft lässt sich mit dem zu Ende gehenden Leben viel Geld verdienen. Etwa ein Drittel aller Gesundheitskosten im Leben eines Menschen fällt in den letzten ein bis zwei Lebensjahren an. Es geht hier also – allein in Deutschland – um dreistellige Milliardenbeträge. Die verzweifelte Hoffnung schwerstkranker Menschen und ihrer Familien auf Heilung oder wenigstens Aufschub wird von der Gesundheitsindustrie bewusst instrumentalisiert, um höhere Renditen durch zum Teil zweifelhafte Heilungsversprechen zu erzielen. Diesen Gewinnerzielungsabsichten spielen auch die Ängste der Ärzte in die Hände, die sich unglaublich schwer damit tun, einem Patienten "nichts mehr anbieten zu können". In Ihrem Buch wollen Sie mit Missverständnissen zum Thema Sterbehilfe aufräumen. Können Sie da Beispiele nennen? Es gibt derer viele. Ein Beispiel ist die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die sich aufgrund von z.B. Lähmungen nicht selbst töten können, weshalb man die Tötung auf Verlangen einführen müsste. Tatsächlich ist dies in der Praxis angesichts des technologischen Fortschritts nicht notwendig: Jeder Mensch, der in der Lage ist, einen freiverantwortlichen Suizidwunsch zu äußern, ist auch in der Lage (und sei es z.B. durch die heute problemlos mögliche Computersteuerung mittels Augenbewegungen), die Tatherrschaft über das Geschehen bis zum Ende zu behalten. Inwiefern sehen Sie die in der Palliativmedizin eine Gegenbewegung zur Sterbehilfe? Die Palliativmedizin zeigt dem Gesundheitssystem den Weg. 2010 wurde eine Studie zur frühzeitigen Integration der Palliative Care in die Betreuung schwerstkranker Krebspatienten veröffentlicht. Das Ergebnis: Die Patienten mit Palliativbetreuung hatten eine bessere Lebensqualität, weniger depressive Symptome, bekamen weniger Chemotherapien am Lebensende und verursachten so auch weniger Kosten. Das Unerwartete dabei: Sie lebten im Schnitt drei Monate länger als die Patienten ohne Palliativbetreuung. Letztlich brauchen wir eine Medizin, die in der Lage ist, die hochgradig unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Sorgen kranker Menschen und ihrer Familien wahr- und ernstzunehmen. Unabdingbare Voraussetzung für Patientenautonomie ist die Anerkennung und Würdigung jedes einzelnen Menschen in seiner unverwechselbaren Individualität. Dies geschieht nicht durch das Sprechen, sondern durch das Zuhören. Wenn wir diesen Weg nicht gehen, riskieren wir das Auseinanderfallen unseres Gesundheitssystems in eine Zwei-Klassen-Medizin, in der es nur Unter- oder Überversorgte geben wird. Es ist daher meine tiefe Überzeugung: Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht sein. Vor etwa einem Jahr haben Sie zusammen mit drei anderen Wissenschaftlern einen Gesetzesentwurf zur Regelung des assistierten Suizids vorgelegt? Was beinhaltet er? Und in welche Richtung wird sich die Gesetzgebung wirklich ändern? Wie sollte sie sich ändern? Unser Gesetzentwurf lehnt sich an die Regelung im US-Bundesstaat Oregon an. Wir schlagen eine streng regulierte Freigabe des ärztlich assistierten Suizids vor. Ärzte dürfen bei der Selbsttötung schwerstkranker Menschen mit geringer Lebenserwartung unter klar definierten Sorgfaltsbedingungen helfen. Der Entwurf versucht, ausgehend von wissenschaftlichen Daten, den beiden ethischen Prinzipien der Selbstbestimmung und der Fürsorge gleichermaßen Rechnung zu tragen. Er ist somit ein Vorschlag, der aus dem Blickwinkel der praktischen Vernunft entstanden ist.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-07T00:00:00"
"2015-08-27T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/209125/position-autonomie-am-lebensende-ist-mehr-als-nur-die-selbstbestimmung-des-eigenen-todeszeitpunkts/
Laut Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner und Professor an der Universität Lausanne, greift die deutschsprachige Sterbehilfe-Debatte zu kurz. Im Interview erklärt er, warum er Verallgemeinerungen ablehnt, welche Missverständnisse
[ "Autonomie", "Selbstbestimmung", "Tod", "Sterbehilfe", "Palliativmedizin" ]
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Die neonazistische Musik-Szene: Transnational wie nie | Rechtsextremismus | bpb.de
Die Rechtsrock-Szene ist gut vernetzt und bietet eine lukrative Einnahmequelle sowohl für Musikverlage als auch für Organisationen wie Blood & Honour oder neonazistische Kameradschaften. Bei keinem anderen Bereich des Rechtsextremismus haben internationale Verbindungen größere Relevanz als bei der Musik. Wie und warum funktioniert diese Zusammenarbeit in einer nationalistischen Szene? Wie weit reichen die Netzwerke? Und welche Ziele haben sie? „White Power“ als gemeinsamer Nenner Das transnationale Agieren der extrem rechten Jugend- und Musikkultur hat teilweise ideologische, teilweise auch praktische Gründe. Anders als in weiten Teilen der organisierten und parteiförmigen extremen Rechten dominiert auf ideologischer Ebene nicht der Nationalismus als Bezugspunkt, sondern es dominieren Rassismus und Nationalsozialismus. „I stand watch my country, going down the drain. We are all at fault, we are all to blame. We’re letting them takeover, we just let ‘em come. Once we had an empire, and now we’ve got a slum“ sang Ian Stuart Donoldson, Kopf der britischen Band Skrewdriver Anfang der 1980er Jahre. In dem Lied verbindet er ohne Begründung Einwanderung und Niedergang. Im eingänigem und oft wiederholtem Refrain schreibt er dann die angebliche Lösung „White power, for England. White Power, today. White Power, for Britain, before it gets too late.“ Im englischsprachigen Raum wird rechtsextreme Musik von Bands und Fans folgerichtig oft als „White Power Music“ bezeichnet – dies macht die Orientierung an der angeblichen Überlegenheit einer „weißen Rasse“ als zentrales Ideologie-Moment deutlich. Dadurch verschiebt sich der Fokus vom Nationalismus und dem je eigenen Nationalstaat – und eint die Aktivistinnen und Aktivisten über einen vermeintlich gemeinsamen rassischen Hintergrund und gemeinsamen Kampf. Die Verschiebung des Fokus vom Nationalismus auf den Rassismus und auch den Nationalsozialismus, welcher als konsequente Umsetzung des Rassismus gesehen wird, prägte die extrem rechte Jugendkultur seit Anfang der 1980er. Analog zur internationalen Verbreitung der Musik und der Entstehung erster transnationaler Kontakte und Netzwerke. Der Zweite Weltkrieg wird in dieser Erzählung zu einem von „den Juden“ mittels Zwietracht initiierten Interner Link: Bruderkrieg. Heute gelte „No More Brother War! – Nie wieder Bruderkrieg!“. So lautete bereits der Titel eines 1996 erschienenen Samplers; ein weiterer, 2015 erschienener Sampler trägt denselben Namen. Diese beiden Musiksammlungen sind auch deshalb außergewöhnlich, weil neben deutschen Bands vor allem Bands aus Osteuropa vertreten sind. Der jüngere Sampler etwa enthält neben Liedern der deutschen Band „Strafmass“ Titel von „Indulat“ aus Ungarn und „Legion Twierdzy Wrocław“ und „Odwet 88“ aus Polen. Gerade die Kooperation mit polnischen Rechtsextremen ist etwas Besonderes. Denn bei allem Zusammengehörigkeitsgefühl als „Weiße Rasse“ sind für viele deutsche Neonazis die Anhänger der extremen Rechten in Polen aufgrund der Gebietsabtrennungen von Ostpreußen und Teilen Schlesiens und Pommerns nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch „Landräuber“. Deutschlands wohl bekannteste neonazistische Band „Landser“ sang 1998 in ihrem Lied „Polacken-Tango“, „Wenn bei Danzig die Polenflotte im Meer versinkt und das Deutschlandlied auf der Marienburg erklingt, dann zieht die Wehrmacht mit ihren Panzern in Breslau ein, und dann kehrt Deutschlands Osten endlich wieder heim“. Damit brachte die Band die Position vieler deutscher Neonazis auf den Punkt. Dass deutsche Bands zwischen 2005 und 2016 nur elf Mal im Nachbarland Polen auf der Bühne standen und damit seltener als etwa in der ebenfalls benachbarten Tschechischen Republik (34), oder in Belgien (44). Sogar weniger als in Russland (13), Finnland (14) oder der Ukraine (15), dürfte Ausdruck einer anti-polnischen Einstellung sein, welche die White-Power-Ideologie überlagert. Wo Hakenkreuzfahnen legal sind Jenseits ideologischer Gemeinsamkeiten hat die transnationale Zusammenarbeit oft sehr praktische Gründe. Sei es, dass die Gesetzgebung in einem anderen Land liberaler ist, oder dass die Strafverfolgungsbehörden kaum auf neonazistische Aktivitäten reagieren. In Deutschland ist es im Gegensatz zu vielen anderen Ländern Europas verboten, Hakenkreuzfahnen zu schwenken oder den Hitlergruß zu zeigen. Die unterschiedliche Gesetzgebung und das unterschiedliche Agieren führten dazu, dass neonazistische Rockbands aus Deutschland ihre CDs mit strafrechtlich relevanten Inhalten bei Musikverlagen im Ausland veröffentlichten. So erschienen zum Beispiel Tonträger der Brandenburger Band „Hassgesang“ beim US-amerikanischen Label „Micetrap“. Illegale CDs und LPs deutscher Bands können bis heute recht einfach aus dem Ausland bezogen werden. Das Label und der Versand „Blackshirt Records“ in Italien zum Beispiel vertreibt in Deutschland verbotene CDs von „Hassgesang“ oder der deutschen Band „Hate Society“, gegen die in der BRD ein Beschlagnahmebeschluss vorliegt. Der Mechanismus funktioniert aber auch andersherum: Internationale Größen des Rechtsrock, wie beispielsweise die US-amerikanische Band „Blue Eyed Devils“, veröffentlichten teilweise ihre Platten in Deutschland und fanden in Europa und gerade in Deutschland einen wesentlich größeren Absatzmarkt als in den USA. Auch bei Konzerten greifen die unterschiedlichen Rechtsnormen verschiedener Länder. Um ihre neonazistische Einstellung ungestraft und in entspannter Atmosphäre zeigen zu können, reisen deutsche Rechtsextremisten und rechtsextreme Bands gern ins Ausland, wo Veranstaltungssäle unbehelligt mit Hakenkreuz- oder auch SS-Fahnen dekoriert werden können. Mit Auftritten im Ausland vermeiden Veranstalter und Mitwirkende an Konzerten auch Repressionsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden. Für den 20. Februar 2016 war beispielsweise ein Konzert mit der neonazistischen Band „Kategorie C“ aus Bremen und dem neonazistischen Rapper Makss Damage aus Ostwestfalen im Raum Aachen angekündigt. Tatsächlich fand das Konzert 60 Kilometer von Aachen entfernt im belgischen Malmedy statt. Ein für die Westpfalz angekündigtes Konzert am 13. August 2016 fand im französischen Volmunster statt. In den Nachbarländern ist die Aufmerksamkeit der Behörden und Zivilgesellschaft meist nicht so groß wie in Deutschland. So gehen die Veranstalter ein geringeres Risiko ein, dass die Konzerte verboten oder aufgelöst werden. Seit beispielsweise 2013 und 2014 mehrere Konzerte neonazistischer Bands in Nordrhein-Westfalen von der Polizei und antifaschistischen Gruppen verhindert wurden, finden die für dieses Bundesland angekündigten Konzerte nun oft in Belgien statt. Auch Tourneen sind mit internationalen Netzwerken leichter zu organisieren. Bands etwa aus den USA für nur ein Konzert nach Europa zu holen, ist teuer und risikoreich - mit Hilfe internationaler Netzwerke jedoch ist es leicht möglich, aufeinanderfolgende Konzerte in verschiedenen Ländern zu organisieren. So trat der Sänger der australischen Band „Fortress“ im März 2017 nicht nur in Frankreich auf, sondern auch in Schweden und Deutschland. Grenzübergreifende Zusammenarbeit Bei mindestens 61 im Jahr 2016 international stattgefundenen Konzerten und Liederabenden der extremen Rechten standen deutsche Musikerinnen und Musiker auf der Bühne. Das ist häufiger als je zuvor. Die meisten Auftritte der letzten Jahre (2005-2016) fanden in Italien (85), Frankreich (51), Ungarn (47) und Belgien (44) statt. Die ersten drei Länder haben eine große rechtsextreme Szene, sodass es nicht weiter verwunderlich ist, dass hier häufiger deutsche Bands auftraten. In Belgien hingegen existiert nur eine sehr kleine Szene. Diese ist jedoch in der Lage, in Zusammenarbeit mit den deutschen „Kameraden“ Konzerte zu organisieren, für die sie sich oftmals um die Räume kümmern und die Schleusungspunkte besetzen, also jene Treffpunkte, an denen die anreisenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Augenschein genommen werden und weitere Infos zum Veranstaltungsort erhalten. Die Schweiz hat nur eine kleine rechtsextreme Szene und einige wenige Bands, welche kaum international bekannt sind. Am 15. Oktober 2016 fand trotzdem in dem kleinen Ort Alt St. Johann das „Rocktoberfest“ statt. Im Laufe des Konzerts, zu dem laut Behördenangaben 5000 Besucherinnen und Besucher erschienen, traten die deutschen Bands „Stahlgewitter“, „Confident of Victory“, „Exzess“ und der Rapper „Makss Damage“ auf, ebenso wie die Schweizer Band „Amok“. Angekündigt worden war das Konzert für den Raum Süddeutschland, über E-Mail oder Telefon wurden die Besucherinnen und Besucher Richtung Ulm gelotst. Erst dort erhielten sie nach eingehender Überprüfung und Kontrolle Informationen über den tatsächlichen Veranstaltungsort. So hofften die Organisatoren, den Ort vor Journalisten, Behörden und natürlich auch vor der Antifa geheimzuhalten. Mit Autos und Bussen fuhren sie dann noch fast 180 km in die Schweiz. Von den ca. 5000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen knapp 70 Prozent aus Deutschland angereist sein. Bei der Organisation des Konzertes kooperierten zumindest Strukturen aus Deutschland und der Schweiz, vermutlich noch aus anderen Ländern. Bei einem Eintrittspreis von 30 Euro spielten allein die Eintrittsgelder etwa 150.000 Euro ein. Auch wenn Miete für Raum und Technik und Gagen für die Musikerinnen und Musiker abgezogen werden müssten, so blieben vermutlich – bei einem einzigen Konzert – weit über 100.000 Euro Gewinn aus Eintrittsgeldern und dem begleitenden Verkauf von Getränken, T-Shirts, Tonträgern etc. Mit seiner hohen Besucherzahl stellt das Konzert ein Novum dar, aber es finden in Europa jährlich wiederkehrende, mehrtägige Festivals der Neonazi-Szene mit teilweise mehreren tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer statt. In Norditalien gibt es seit 1990 das „Return to Camelot“, auf dem 2016 die sächsische Band „Sachsonia“ auftrat. Ebenfalls 2016 trat beim vierten „Orle Gniazdo“ Festival in Polen die Bremer Band „Kategorie C“ auf. Das „Boreal“-Festival, das zum ersten Mal 2012 in Ungarn stattgefunden hatte und auf dem sowohl Bands spielen als auch Vorträge und Diskussionsrunden angeboten werden, wurde 2016 am Gardasee in Italien ausgetragen. Mit dabei war die Band „Naked but Armed“ aus Baden-Württemberg. Selbst in der Ukraine werden immer wieder deutsche Bands zumindest angekündigt: So sollten etwa „Kraftschlag“ aus Sachsen-Anhalt und „Die Lunikoff Verschwörung“ aus Berlin auf einem für den 26. März 2016 angesetzten Konzert unter dem Motto „Töten für Wotan“ in Kiew auftreten, das aber verschoben wurde. „Die Lunikoff Verschwörung“ trat schließlich gemeinsam mit den ukrainischen Bands „Sokyra Peruna“ und „Komu Vnyz“ sowie der russischen Gruppe „M8L8TH“ am 30. April 2017 in der ukrainischen Hauptstadt auf. „Blood & Honour” „Comrades, the voices of the dead battalions, of those who fell, that Europe might be great. Join in our song, for they still march in spirit with us and urge us on that we gain the national state“ - diese Worte sang Ian Stuart, der Frontmann der neonazistischen britischen Band „Skrewdriver“ 1984 in dem Lied „Hail the new dawn“. Stuart verwendet hier nicht nur lyrische Zitate des Horst-Wessel-Liedes, sondern auch den in dieser Szene ungewöhnlichen Bezugsrahmen Europa. Im Refrain heißt es dann: „The streets are still, the final battle has ended. Flushed with the fight, we proudly hail the dawn. See over the streets, the white man's emblem is waving. Triumphant standards of a race reborn“. Ideologisch bezieht sich Ian Stuart hier auf den in neonazistischen Kreisen beschworenen „Kampf der Weißen Rasse“ und nimmt Rekurs auf den Nationalsozialismus und Europa. Mit diesen Aussagen formulierte er schon vor mehr als dreißig Jahren die programmatische Basis des von ihm und seinen „Kameraden“ 1987 gegründeten Musiknetzwerkes „Blood & Honour“. Das Netzwerk ist inzwischen allein in Europa in 16 Ländern aktiv. Zweck der Zusammenarbeit war und ist es, für die rassistischen und neonazistischen Bands der Szene Auftrittsmöglichkeiten zu organisieren und Tonträger zu produzieren und zu vertreiben. Nicht zuletzt soll auch Geld für die Musiker und jene verdient werden, die in der Szene organisatorische Aufgaben übernehmen. Im Dezember 2016 veröffentlichte „Blood & Honour Hungary“ auf ihrer Website eine Liste mit bisher 27 für das Jahr 2017 von den nationalen Divisionen des „Blood & Honour“-Netzwerkes geplanten Konzerten. Die Aufzählung startet mit einem „London Calling“ Konzert am 28. Januar 2017 in England und endet mit dem „White Christmas“-Konzert am 2. Dezember 2017 in Schweden. Es werden auch mehrere Konzerte in Deutschland angekündigt, obwohl das Netzwerk hier seit dem Jahr 2000 verboten ist. „Blood & Honour“ ist der international wichtigste Konzertveranstalter für rechtsextreme Bands, auch für jene aus Deutschland. Von den 61 Auftritten deutscher Bands oder Liedermacher im Jahr 2016 im Ausland wurden mindestens 20 von „Blood & Honour“ (mit)organisiert. Darunter waren Konzerte in Frankreich, England, Bulgarien, Italien, Portugal, Finnland, Schweden und Slowenien. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellte in seinem Jahresbericht von 2003, also drei Jahre nach dem Verbot von „Blood & Honour“ in Deutschland fest, die Organisation sei „nach Verbot weitgehend zerfallen“. In neueren Berichten wird sie lediglich als „verboten“ aufgelistet. Angesichts der regen Aktivitäten auf den internationalen Bühnen von „Blood & Honour“ muss aber festgestellt werden, dass die Organisation weiterhin eine wichtige Rolle spielt – und deutsche neonazistische Bands sie für sich zu nutzen wissen. „Hammerskins“ Der zweite Akteur von internationaler Bedeutung sind die Interner Link: „Hammerskins“. Das 1987 in Texas gegründete Netzwerk versteht sich als Eliteorganisation der „white working class“-Skinheads. Seit 1990 haben die „Hammerskins“ auch „Chapter“, so nennen sie in Anlehnung an die Rocker ihre Untergliederungen, in Europa. Aktuell existieren solche „Chapter“ zum Beispiel in Spanien, Portugal, der Schweiz, Frankreich, Italien, Schweden, Ungarn und auch in Deutschland. England ist jedoch fest in der Hand von „Blood & Honour“. Jährlich veranstalten die „Hammerskins“, die straff organisiert sind, ein zentrales Konzert, das „Hammerfest“. Am Rande des Konzertes findet das „European Officer Meeting“, das Treffen der Vertreter der nationalen Gruppen, statt. Während für dieses Treffen im Jahr 2012 ca. 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Organisationselite der Hammerskins, zusammentrafen, kamen zum abendlichen Konzert bis zu 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. 2016 war das Hammerfest in Frankreich angekündigt; im Line-up fanden sich neben französischen, niederländischen und ungarischen natürlich auch deutsche Bands: „Division Germania“ aus Nordrhein-Westfalen und „Wolfsfront“ aus Rheinland-Pfalz/Saarland. Hauptakteure intensivieren ihre Zusammenarbeit Unter dem Motto „Europe Awake“ fand am 19. November 2016 ein Konzert in Mailand statt, welches gemeinsam von den „Hammerskins“ und „Blood & Honour“ organisiert wurde. Auch hier traten wieder deutsche Bands auf: „Frontfeuer“ und „Blitzkrieg“ aus Brandenburg. Das Konzert deutet auf ein Zusammenrückens der beiden großen Netzwerke der rechtsextremen Musikszene hin. Zuvor hatten in anderen Ländern bereits kleinere gemeinsam veranstaltete Konzerte stattgefunden. Nach Jahren der Konkurrenz scheinen die Streitigkeiten beigelegt zu sein. Das dürfte dazu führen, dass die Szene sich international noch besser vernetzt. Dies würde ihnen mehr Möglichkeiten bieten, die Behörden zu täuschen, Geld zu verdienen, junge Menschen in eine Erlebniswelt des Neonazismus eintauchen zu lassen und den organisierten alten Kadern Gelegenheiten für Treffen und Absprachen zu geben. Die alten Kader, die teilweise schon seit mehr als zwanzig Jahren im Rechtsrock aktiv sind, haben längst erkannt, dass grenzüberschreitendes Agieren in vielen Bereichen Vorteile bietet. Das transnationale Agieren aber auf die Ebene der Praxis zu reduzieren greift zu kurz. Der ideologische Überbau eines gemeinsamen Kampfes für die „weiße Rasse“, das „Abendland“ oder eben schlicht eines ebenfalls transnationalen Faschismus schafft die Grundlage für diese Praxis. „No More Brother War“, CD, Di-Al-Records, 1996 mit den Bands Besta Bellica (Italien), Svastika (Schweden), Razors Edge (Großbritannien), Kratky Proces (Slowakei), Konkwista 88 (Polen), Freikorps (Deutschland), Excalibur (Tschechische Republik), Estirpe Imperial (Spanien), Combate (Italien) und Celtic Warrior (Großbritannien). „No More Brother Wars“, CD, Baribal-Records, 2015, mit den Bands Wsspolen (Polen), Strafmass (Deutschland), Indulat (Ungarn), Odwet 88 (Polen) und Legion Twierdzy Wrocław (Polen). In dem Lied „Landräuber“ der neonazistischen Band „Sturm 18 heißt es: „Man diskutiert über alle Herrenländer nur nicht über das, was uns angetan Nicht über die Landräuber, dort in Polen, die uns unser Land gestohlen Doch von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Alle sind sie deutsche Städte und das schönste Land der Welt“. Sturm 18: Landräuber, auf Komm zu uns, CD 2002. Landser: Polacken-Tango, auf: Rock gegen Oben, CD 1998. So kursieren auf Facebook Bilder eines Konzertes mit der deutschen Band Kategorie C von einem Konzert am 25.10.2014 in Slowenien, welche zeigen, dass der Konzertraum u.a. mit einer Hakenkreuzfahne ausgestattet war. Auf dem Werbeflyer für das Konzert heißt es „Raum Aachen“. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8381. Ankündigungsflyer der Veranstalter. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/10215. Flyer für das unter dem Motto „Defend Europe“ angekündigte Konzert am 18.03.2017 mit den deutschen Bands Blitzkrieg, Division Germania, Heiliger Krieg, der englischen Band Squadron und der australischen Band Fortress. Flyer für das ebenfalls unter dem Motto „Defend Europe“ angekündigte Konzert mit den schwedischen Bands Tors Vrede, Wafflor Waffen und Marder, dazu die australische Band Fortress am 25.03.2017 im „Stockholm Area“. Bild des Konzerts unter https://www.facebook.com/MarderFinland/photos/rpp.184869585350349/192634144573893/?type=3&theater eingesehen am 28.3.2017. Flyer unter der Überschrift „Stimmen der Bewegung“ mit den deutschen Bands Flak, Carpe Diem, Breakdown, Germanium und „Scott (Fortress)“ am 1.4.2017 in der „Region Südwestdeutschland“. Bericht vom Konzert https://logr.org/tddz2017/ eingesehen am 4.5.2017. Dem Autor liegen Quellen für diese Aufzählung vor. Björn Resener, Johannes Radke: 5.000 Neonazis feiern ungestört in der Schweiz, auf http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2016/10/17/neonazis-schweiz-rock-konzert_22534 eingesehen am 15.03.2017. „Süddeutschland“ hieß es auf dem Ankündigungsflyer für das Konzert. Einschätzung der Quellen des Autors. Einschätzung des Autors, entsprechende Hinweise liegen vor. Jan Jirát: Unterwasser liegt in Thüringen, auf https://www.woz.ch/-7383 eingesehen am 15.03.2017. https://www.facebook.com/ritornoacamelot/ eingesehen am 12.09.2016. "Festival Orle Gniazdo 2016.07.15. Kategorie C – So sind wir“, auf; https://www.youtube.com/watch?v=Qr0k84Vq-Ik eingesehen am 20.07.2016. „Am Wochenende spielten wir zum krönenden Abschluss unserer jetzt schon legendären "naked butt army" Tour auf dem Boreal Festival am Gardasee“, auf: https://www.facebook.com/Naked-but-armed-240797599346708/ eingesehen am 6.7.2016. https://vk.com/xcxxxxxx, eingesehen am 3.04.2016. https://vk.com/event138089755, https://en-gb.facebook.com/m8l8th.division/posts/1364215516934155, eingesehen am 23.02.2017. Skrewdriver: Hail the new dawn, auf: Hail the new dawn, LP 1984, Rock-O-Rama-Records. Vgl. Lowless, Nick: Die internationale des Hasses, in: Dornbusch, Christian; Raabe, Jan (Hg.): RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien. Unrast Verlag, Münster 2002. http://bhhdivision.blogspot.de/, eingesehen am 28.12.2016. Von Blood & Honour Haxagone organisiertes „White Christmas“ Konzert mit den deutschen Bands Brainwash und Nordglanz am 10.12.2016. Von Blood & Honour UK organisiertes „Ian Stuart Donaldson-Memorial“ Konzert mit der deutschen Band Weiße Revolutionäre am 24.09.2016. Von Blood & Honour Bulgaria unter dem Motto „Defend Europe" organisiertes Konzert mit der deutschen Band Exzess am 26.11.2016. Konzert am 19.11.2016 unter dem Motto "Europe Awake", organisiert von den Hammerskins und Blood & Honour. Hier traten die deutschen Bands Frontfeuer und Blitzkrieg auf. Am 29.10.2016 trat die deutsche Band Randgruppe Deutsch auf einem von Blood & Honour Portugal organisiertem Konzert auf. Im Rahmen eines Konzertes am 17.09.2016 trat die deutsche Band Division Germania auf einem von Blood & Honour Finland und Hammerskins organisiertem Konzert auf. Auftritt der deutschen Gruppe Division Voran im Rahmen des 4. Sommerfest von Blood & Honour / Combat 18 Skandinavien am 27.08.2017. Von Blood & Honour Slowenien organisiertes "15 years Blood & Honour Slovenia" Konzert mit der deutschen Band Division Germania am 30.04.2016. https://www.antifainfoblatt.de/artikel/internationaler-hass, eingesehen am 12.03.2017. Anmerkung des Autors: Die Hammerskins führen sehr regelmäßig National Officer Meetings und European Officer Meetings durch. Es gibt festgelegte Anwärterzeiten etc. Das gab und gibt es bei „Blood & Honour“ nicht. http://www.berliner-zeitung.de/politik/hammerskins-europas-neonazis-feiern-sich-selbst-4188738, eingesehen am 12.03.2017. Flyer für das „Hammerfest“ Konzert am 18.06.2016 in „East France“. https://www.facebook.com/Skinhouse-Milano-482213018548089, eingesehen am 21.11.2016.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-31T00:00:00"
"2017-08-08T00:00:00"
"2022-01-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/253972/die-neonazistische-musik-szene-transnational-wie-nie/
Von London bis Porto, von Athen bis Helsinki – jede Woche finden europaweit Neonazi-Konzerte statt. Mal kommen nur hundert Zuschauer, mal sind es mehrere tausend. Und oft stehen deutsche Bands auf der Bühne.
[ "Neonazis", "Rechtsrock", "internationale Kameradschaft", "rechtsextreme Musik", "Nationalsozialismus", "Hakenkreuz", "Konzerte", "Deutschland", "Frankreich", "England", "Bulgarien", "Italien", "Portugal", "Finnland", "Schweden und Slowenien" ]
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Gefangen in Medienwelten | bpb.de
Was geht ab?! Information, Unterhaltung, Verbundenheit mit anderen – Medien faszinieren, weil sie vielfältige Bedürfnisse erfüllen. In diesem Diskurs können User ihr eigenes Verhältnis zu Medien reflektieren und erkennen, aus welchen Gründen Smartphone und Co. für sie wichtig sind. Durch interaktive Fragen werden Jugendliche motiviert, die eigene Mediennutzungszeit einzuschätzen und mit dem Verhalten von Freundinnen und Freunden, Mitschülerinnen und Mitschülern zu vergleichen. Denn bei vielen Jugendlichen sind Fernseher, Computer und Konsole ständig in Betrieb. Wie der Sozialpädagoge Jannis Wlachojiannis beschreibt, entwickeln Dauer-User regelrechte Entzugserscheinungen, wenn sie nicht online sein oder spielen können. Durch welche weiteren Faktoren wird eine Abhängigkeit von Medien und Spielen begünstigt? Ist jemand schon "süchtig", wenn er ständig online seine Mails checkt? Was bedeutet Mediensucht und woran können wir erkennen, dass wir Suchtsymptome entwickeln? "Uns geht es auch darum, an den Ängsten zu arbeiten, die dahinter stehen", sagt Wlachojiannis über die Arbeit der Suchtberatungsstelle Lost in Space. Wer selbst das Gefühl hat, sich in seiner Medienwelt zu verlieren, kann mit diesem Diskurs den Faden zum Ausgang des Labyrinths aufnehmen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-09-16T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/faszination-medien/191668/gefangen-in-medienwelten/
Was geht ab?! Information, Unterhaltung, Verbundenheit mit anderen – Medien faszinieren, weil sie vielfältige Bedürfnisse erfüllen. In diesem Diskurs können User ihr eigenes Verhältnis zu Medien reflektieren und erkennen, aus welchen Gründen Smartpho
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Sie haben die Wahl! | Presse | bpb.de
Zur Bundestagswahl 2017 hat die drehscheibe, das Fachmagazin für lokale Medien der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, ein Wahlendossier erstellt. Das Online-Angebot versammelt Konzepte und gelungene Beispiele aus acht Jahren Wahlberichterstattung im Lokalen und bietet Tipps und Hilfestellungen. Die Bundestagswahl bestimmt schon jetzt die öffentlichen Debatten: Schafft es die AfD ins Parlament? Wird die Ära Merkel fortgesetzt? Welche Rolle werden Populismus, Social Bots und Fake News im Wahlkampf spielen? Wie wichtig es ist, sich eine eigene Meinung zu politischen Fragen bilden zu können, zeigt sich in Wahlzeiten besonders. Das Angebot der drehscheibe bietet Hilfestellung und Inspiration zugleich: Zu den Themen Wissen, Organisieren, Recherchieren und Umsetzen finden Lokalredaktionen Tipps zur Vorbereitung, Umsetzung und Vermittlung einer kreativen und fundierten Wahlberichterstattung. In Experteninterviews werden Recherchemethoden erklärt, Best-Practice-Beispiele zeigen, was Kollegen bereits erfolgreich umgesetzt haben. Organisationsleitfäden geben weitere Tipps zur Planung der Berichterstattung. Von der investigativen Recherche bis zum traditionellen Rückblick, von multimedial erzählten Geschichten über einen eigenen Blog bis hin zu Stolperfallen im Presserecht werden die unterschiedlichsten Themen angesprochen. Ergänzend dazu greift der drehscheibe-Newsletter regelmäßig Aspekte rund um die Wahlberichterstattung auf: Externer Link: www.drehscheibe.org/newsletter.html Relaunch von drehscheibe.org Der Online-Auftritt (www.drehscheibe.org) ist einem umfassenden Relaunch unterzogen worden, von dessen nutzerfreundlichen und multimedialen Darstellungsmöglichkeiten auch das Wahlendossier profitiert. drehscheibe.org ist übersichtlicher und leichter navigierbar, Bilder, Schrift und Ladezeiten sind optimiert, und das Portal ist nun responsiv. Die Inhalte für Abonnenten – wie das drehscheibe-Archiv, in dem Hunderte Themenideen des drehscheibe-Magazins durchsucht werden können – aber auch Ideenlisten und der Redaktionskalender finden sich in einem neu gestalteten Bereich. Mit Videos und News aus der Praxis und Forschung bleiben Lokalredaktionen auf dem Laufenden, Dossiers bieten einen tieferen Blick in Themen wie Integration und Wahlen. Der gewohnte drehscheibe-Service wie etwa Hinweise zu Seminaren des Lokaljournalistenprogramms der bpb, zu Journalistenpreisen und Publikationen sowie die Deutschlandkarte Lokaljournalismus wurden erhalten. Printausgabe zur Probe bestellen Das Magazin drehscheibe der Bundeszentrale für politische Bildung präsentiert jeden Monat neu auf 32 Seiten die besten Themen und Konzepte aus Lokalredaktionen. Probeexemplare können bestellt werden unter: E-Mail Link: info@drehscheibe.org. Weitere Informationen unter Externer Link: www.drehscheibe.org oder telefonisch unter 030-695 665 22. Pressemitteilung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de/email
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"2021-06-23T00:00:00"
"2017-03-09T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/243932/sie-haben-die-wahl/
Zur Bundestagswahl 2017 hat die drehscheibe, das Fachmagazin für lokale Medien der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, ein Wahlendossier erstellt. Das Online-Angebot versammelt Konzepte und gelungene Beispiele aus acht Jahren Wahlberichterstat
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Refugeeism and asylum | Brazil | bpb.de
According to the "National Committee for Refugees" (Comitê Nacional para os Refugiados, CONARE), in March 2008 there were 3,857 refugees living in Brazil. They originate from nearly 70 countries, with more than 250 refugees received during 2007 under the terms of an agreement concluded in 1999 with the UNHCR. The biggest group of refugees to settle in Brazil under this agreement is the about 100 Palestinians who were recognised in 2007. According to official statistics, at 78% the greatest numbers of refugees originate from African countries, the largest group of which comprises 1,700 refugees from the former Portuguese colony of Angola. The number of irregular refugees is estimated to be several tens of thousands. In second and third place on the list of the most common countries of origin for refugees are Columbia and the Democratic Republic of the Congo (first quarter 2008). According to CONARE, between 650 and 700 applications for asylum are filed in Brazil each year. The "National Committee for Refugees" is responsible for deciding whether to grant them. In 2007, 363 applications were allowed. With 50% of applicants granted asylum, Brazil lies about halfway up the table for Latin American countries. UNHCR staff, however, assume that there are significantly more asylum seekers in Brazil. According to their statistics there are an estimated 10,000 to 15,000 irregular refugees living along the border with Columbia alone, of whom only a small proportion have applied for asylum. Brazil is a signatory to most international agreements to safeguard human rights. On 23 July 1997 the currently valid Law 9,474/97 regulating refugee matters came into effect. It was drafted by the Ministry of Justice together with the UNHCR. The law includes the instruments of protection contained in the terms of the Geneva Convention and the 1967 Protocol. Although Brazil has only received a somewhat small number of refugees to date, the UNHCR describes some instruments of Brazilian refugee policy as exemplary: the refugee law is bound to the Latin American Cartagena Declaration (1984) which extends the reasons for persons to flee their country beyond those of the Geneva Convention to include reasons of "generalized violation of human rights" and therefore also includes armed conflict as a reason for flight. Gender-specific persecution is recognised as a further reason for flight. About 11% of those recognised as refugees in the period between 2005 and 2007 were acknowledged through the "women-at-risk" procedure designated by the UNHCR as exemplary. A further instrument described as exemplary by the UNHCR is the "emergency" procedure. Between 2005 and 2007, about 4% of refugees were recognised through this procedure, which provides for recognition within 72 hours where there is a particularly high risk. The law provides for recognised refugees who have lived in the country for six years to apply for an unlimited residence permit. Refugees and asylum seekers in Brazil are guaranteed access to social and economic rights as well as health provision, education and work. Poverty, however, is widespread. Personal e-mail from CONARE dated 26.05.2008. See above. Brazil, Country Reports on Human Rights Practices - 2007. Released by the Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor, March 11, 2008: Externer Link: http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2007/100630.htm. See United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) (2007).
Article
Sabina Stelzig
"2022-01-18T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2022-01-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/58270/refugeeism-and-asylum/
According to the "National Committee for Refugees" (Comitê Nacional para os Refugiados, CONARE), in March 2008 there were 3,857 refugees living in Brazil. They originate from nearly 70 countries, with more than 250 refugees.
[ "Brasilien", "Brazil", "refugee", "asylum", "Flucht und Asyl" ]
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Grußwort bei der Buchpräsentation des Länderberichts Kanada (Bonn, 26. Juni 2018) | Presse | bpb.de
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Professorin Lehmkuhl, ich darf Sie ganz herzlich zur Präsentation des Länderberichtes Kanada begrüßen. Wie wir seit vorletzter Woche wissen, wird Kanada, die Eishockey-Nation schlechthin, zusammen mit Mexiko und den USA die Fußball-Weltmeisterschaft 2026 ausrichten. Sie sehen: selbst bei einer Veranstaltung zu Kanada müssen wir nicht ohne den dieser Tage üblichen Bezug zum Thema Fußball auskommen. Aber Scherz beiseite: wir freuen uns, dass Sie alle heute Abend erschienen sind, um den neusten Zugang zu unserer Reihe der Länderberichte vorgestellt zu sehen. Aber warum ausgerechnet ein Länderbericht über Kanada? Für viele in Deutschland ein Sehnsuchtsort, nicht nur für Reisende, grundsympathisch, menschenleer, friedlich und vielleicht etwas verschlafen; politisch und kulturell von seinem südlichen Nachbarn gerne mal in den Schatten gestellt. Indizes und Meinungsumfragen weisen Kanada als eines der lebenswertesten Länder der Erde aus. Vergangene Woche hat das das Gesetz zur Legalisierung von Cannabis das kanadische Parlament passiert – auch das passt nach Ansicht vieler in das Bild einer progressiven und liberalen Gesellschaft. Und wie wir seit Justin Trudeaus abschließender Rede beim jüngsten G7-Gipfel wissen: „We Canadians are polite, we are reasonable, but we will not be pushed around“ – „Wir Kanadier sind höflich, wir sind vernünftig, aber wir lassen uns nicht herumschubsen.“ Gerade seitdem in den USA der Trumpismus regiert, erscheint das Kanada unter Premierminister Trudeau als positiver Gegenentwurf auf dem nordamerikanischen Kontinent. Offen, fortschrittlich, divers; ob zu Recht oder nicht: so wirkt das Land auf viele wohlwollende Beobachter. Unsere Gäste werden später über die Frage diskutieren, ob Kanada so etwas ist wie „das bessere Nordamerika“ – oder ob nicht auch diese Sichtweise verkürzt, klischeebehaftet und einseitig ist. Dieser Länderbericht ist unter anderem deswegen entstanden, weil Basiswissen zu Kanada oftmals fehlt; der Buchmarkt ist voller Titel über die USA, umfassende Werke zur Politik, Kultur und Gesellschaft des nördlichen Nachbarn sind hingegen kaum bis gar nicht zu finden. Somit schließen wir mit dem Länderbericht Kanada eine Lücke – was längst überfällig war. Und wo wir gerade schon bei den Klischees waren, kann ich an dieser Stelle auch betonen, dass es genau die Absicht unseres neuen Länderberichts war, Klischees, Stereotype, Mythen und Halbwahrheiten aufzubrechen und zu hinterfragen. Denn fernab aller vorgefassten Bilder über Naturschönheiten, Eishockey und die kanadischen Mounties hat Kanada eine hochkomplexe Geschichte. Zu dieser Geschichte gehören auch der lange Zeit beschämende Umgang mit der indigenen Bevölkerung, die massiven Konflikte zwischen Anglo- und Frankokanadiern oder die massiven Eingriffe in Natur- und Lebensräume durch den Ressourcenabbau. Auch diesen Dingen trägt der Länderbericht Rechnung, informiert sachlich, kritisch und umfassend, bietet aber auch Raum für Exkurse, Nebenstränge und Details. Ursula Lehmkuhl hat dabei die herausragende Leistung vollbracht, bei diesem Band mit insgesamt 41 Autorinnen und Autoren die Fäden in der Hand zu behalten und zu koordinieren, dass die Einzelteile ineinander übergreifen und die jeweils auch für sich stehenden Beiträge zu Geschichte, Geografie, Politik, Kultur und Gesellschaft sich zu einer umfassenden und sich doch nie verzettelnden Darstellung eines faszinierenden Landes fügen und somit ein Paradebeispiel für den interdisziplinären Anspruch unserer Länderberichte darstellen. Nicht zu vergessen sind auch ihre eigenen Beiträge über die Geschichte Kanadas und über seine Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft nach dem zweiten Weltkrieg. Und auch wenn wir das Jubiläum zum 150-jährigen Bestehen Kanadas – oder um genau zu sein: die Verabschiedung des British North America Acts, der Kanada den Status eines eigenständiges Dominions innerhalb des Empires einräumte – um ziemlich genau ein Jahr verpasst haben, kommt der Länderbericht doch zur rechten Zeit. Zumindest gefühlt sind Kanada und Europa näher aneinandergerückt, wirkt Kanada als politischer Player präsenter denn je – und als multikulturell geprägtes Land hat es eine Geschichte aufzuweisen, die man in Deutschland mit großem Interesse verfolgen sollte. Unser Länderbericht lädt dazu ein, Geschichte in ihren transnationalen und transkulturellen Beziehungen zu sehen. So wie kanadische Gesellschaft und Kultur sich vor dem Hintergrund komplexer wechselseitiger Einflüsse indigener, frankophoner und anglophoner Kulturen entwickelt haben und weiter entwickeln werden, kann auch nationale Geschichte nur im Kontext globaler Entwicklungen und Verflechtungen begriffen werden. Oder um es in den Worten der Herausgeberin Ursula Lehmkuhl zu sagen: „Die Geschichte und Entwicklung Kanadas steht exemplarisch für die kaum zu überschätzende Bedeutung transregionaler und transkultureller Austauschbeziehungen als Motor kulturellen und gesellschaftlichen Wandels.“ Auch für die politische Bildung ist die Betonung dieser Austauschbeziehungen ein zentrales Anliegen. Gerade in Zeiten, in denen in Europa und den USA der Multilateralismus zunehmend unter Druck gerät, ein Rückzug aufs Nationalstaatliche an Zuspruch gewinnt und manche das Phantasma einer möglichst homogenen Bevölkerung beschwören, scheint es umso wichtiger solche Beziehungen zu betonen. Unser ganz herzlicher Dank geht an dieser Stelle nochmal an die Herausgeberin Frau Lehmkuhl, für die über zweijährige Arbeit am Länderbericht. Ein besonderer Dank gilt auch der Deutschen Gesellschaft für Kanada-Studien, deren Netzwerk das entscheidende Kapital bei der Entstehung des Buches war. Wir danken auch der kanadischen Botschaft in Berlin für viele freundliche Anregungen. Mein besonderer Dank gebührt dem umsichtigen und geduldigen Projektmanager Benjamin Weiß aus unserer Buchredaktion, dem es immer wieder meisterhaft gelingt, mit den vielen Bällen zu jonglieren, die ihm zugeworfen werden! Ganz herzlich darf ich nun die weiteren Gäste der nachfolgenden Podiumsdiskussion begrüßen und meinen Dank an sie richten: Professor Wilfried von Bredow – nicht nur, aber auch ein exzellenter Kenner Kanadas und Autor der Kapitel „Kanada und Europa“ und „Kanada von Ost nach West – eine Art Reiseführer“. Und Professor Wolfgang Klooß, Literaturwissenschaftler, Ko-Autor des Kapitels über die anglophone Kultur Kanadas und als Bildredakteur ganz wesentlich verantwortlich für die attraktive Bebilderung des vorliegenden Bandes. Zudem begrüße ich mit Professor Wolfgang Helbich und Albert Rau zwei weitere Autoren des Länderberichtes aufs herzlichste. Wir danken auch Herrn Eik Welker, der das Buch als Lektor mit der ihm eigenen, außergewöhnlicher Sorgfalt begleitet und stets den Überblick behalten hat. Unser Länderbericht ist 568 Seiten stark, reich bebildert und mit zahlreichen Karten versehen. In den insgesamt 19 Beiträgen zu Geschichte, Politik, Kultur, Wirtschaft, Geografie, Politik, Gesellschaft und Außenbeziehungen haben die Autorinnen und Autoren versucht, ein möglichst vielschichtiges, differenziertes und perspektivenreiches Bild des Landes zu zeichnen. Wir hoffen, dass der Länderbericht zumindest für die kommenden Jahre ein Standardwerk für alle an Kanada Interessierten darstellt, dabei gleichzeitig aber auch Menschen begeistert, die bislang nur ein rudimentäres Wissen über das Land haben. Der Länderbericht ist ganz frisch aus der Druckerei angeliefert worden. Daher sind Sie alle heute die ersten, die die Gelegenheit haben, den Länderbericht in Händen zu halten und mitzunehmen. Und das heute sogar kostenfrei. Greifen Sie also später zu! Ich wünsche Ihnen einen anregenden Abend und darf jetzt an die Herausgeberin Ursula Lehmkuhl übergeben. - Es gilt das gesprochene Wort -
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-07-13T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/272597/grusswort-bei-der-buchpraesentation-des-laenderberichts-kanada-bonn-26-juni-2018/
Im Rahmen der Buchpräsentation zum "Länderbericht Kanada" sprach Thomas Krüger zu Beginn der Veranstaltung am 26. Juni im bpb:medienzentrum ein kurzes Grußwort und betonte, warum explizit Kanada ein Länderbericht gewidmet wurde.
[ "Rede Thomas Krüger", "Buchpräsentation", "Länderbericht Kanada" ]
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Wege, die wir gingen | Deutschland Archiv | bpb.de
„ ... alles beginnt mit einem Traum: jede wegweisende Idee, jede Veränderung.“ Das Zitat von Kofi Annan war der erste Satz, mit dem die Autorin ihre Gesprächspartnerinnen konfrontierte. Sehr offen und sehr freimütig antworteten sie. Prof. Rita Süßmuth zeigte sich in ihrem Vorwort zu diesem Buch überrascht von der Individualität und Unterschiedlichkeit der Lebenswege. Sie schrieb: „Obwohl ich es weiß, verblüffte mich erneut, wie unterschiedlich sich jedes Leben gestaltet. Hier Demokratie, dort Diktatur. Aber so einfach ist es nicht.“ Die Redaktion des Deutschland Archivs hat aus den zwölf ost- und westdeutschen Frauengeschichten zwei ausgewählt, aus denen hier Auszüge veröffentlicht werden: Jalda R.: Interner Link: Die Freude, jüdisch zu sein >> Karin W.: Interner Link: Ich bin für mein Handeln selbst verantwortlich >> Das Buch "Wege, die wir gingen. Zwölf Frauen aus West- und Ostdeutschland geben Auskunft" von Barbe Maria Linke ist 2015 im Externer Link: Geest Verlag erschienen.
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Barbe Maria Linke
"2022-01-26T00:00:00"
"2020-11-08T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/318478/wege-die-wir-gingen/
Mit zwölf Frauen, jeweils sechs aus Ost- und Westdeutschland, führte die Autorin Barbe M. Linke Interviews. Die Frauen sprachen über ihre Kindheit, ihre Ausbildung, über Freundschaft, Partnerschaft und Liebe, dachten nach über Gott und die Friedliche
[ "Transformation", "Bundesrepublik Deutschland", "DDR", "Bundesrepublik Deutschland", "DDR" ]
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Erfahrungen von Rassismus als Radikalisierungsfaktor? | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Antimuslimischer Rassismus". Über Islamismus lässt sich nur dann sprechen, wenn gleichzeitig auch Rassismus- und Ungerechtigkeitserfahrungen von Musliminnen und Muslimen thematisiert werden – gerade auch, weil in verschiedenen Radikalisierungsmodellen derartige Erfahrungen als ein möglicher Ausgangspunkt unter vielen für eine Radikalisierung gelten. Diese wohl intendierte Prämisse scheint sich als Konsens herauszubilden. In der alltäglichen pädagogischen Praxis kann sie jedoch zu folgenschweren Missverständnissen führen. Im Folgenden skizziere ich anhand eines Fallbeispiels, inwiefern dort erstens der Blick auf Radikalisierungspotenziale durch Vorurteile verstellt wird und wie zweitens infolgedessen fälschlicherweise Unmutsäußerungen von Jugendlichen über Rassismuserfahrungen als Alarmsignal für eine Radikalisierung gedeutet werden. Das nehme ich zum Anlass, um über Schlüsse für eine reflexive pädagogische Arbeit, die sich derartige Missverständnisse bewusst macht, nachzudenken. Fallbeispiel aus der Praxis Es passiert häufig, dass ich in meiner Rolle als praxiserfahrener Islamismuspräventionsexperte mit Sonderaufträgen in Workshops mit Jugendlichen geschickt werde; zuletzt geschah dies an einer Realschule in einer Stadt im Ruhrgebiet im Spätherbst 2018. In den Absprachen im Vorfeld war deutlich geworden, wo Vertreterinnen und Vertreter der Schule Probleme sahen: Einige muslimische Schülerinnen und Schüler zeigten auffälliges Verhalten, forderten offensiv besondere Zugeständnisse ein, ein Schüler versammle gar auf dem Schulhof Klassenkameradinnen und -kameraden mit aufstachelnden Reden um sich. Aus diesen Anzeichen hatten das Schuldirektorium und die Klassenlehrerinnen und -lehrer den Schluss gezogen, dass schnellstmöglich einer weiteren Radikalisierung vorzubeugen sei. Workshops zum Thema "Islam in Deutschland" wurden in einigen Klassen angeboten und mir als Workshopleiter wurde ans Herz gelegt, besonders den aufrührerischen Schüler im Auge zu behalten, um eine Einschätzung zum Fortschritt seiner Radikalisierung sowie einer womöglich drohenden Gefahr für seine Mitschülerinnen und Mitschüler abzugeben. Es wurde das Ziel formuliert, in den Workshops einer religiös motivierten Polarisierung vorzubeugen und aufzuzeigen, dass es sowohl im Klassenverband wie auch in der Gesellschaft möglich ist, mit verschiedenen Religiositäten miteinander zu leben. Doch während der Gespräche im Workshop, welche in Abwesenheit von Lehrenden stattfanden, zeichneten die Schülerinnen und Schüler selbst schnell ein anderes Bild der Lage: Sie beklagten sich offen über erfahrene Diskriminierung, Rassismus und ungerechte Machtbeziehungen zwischen ihren Lehrkräften und ihnen selbst. Der Schüler, dem gemäß der Bitte des Direktoriums meine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden sollte, fasste die Lage zusammen: "Wir wissen doch, dass wir sowieso keine Chance haben, wir gelten hier als das Letzte. Niemand unterstützt uns und wenn wir den Mund aufmachen, kriegen wir nur Ärger." Das klang drastisch – und doch stellte sich mir die Frage, ob hier tatsächlich, wie vom Direktorium vermutet, der Zusammenhang zwischen der Erfahrung von Rassismus und sogenannten religiös begründeten Radikalisierungsverläufen im Fokus stand oder ob das Problem nicht eigentlich ein anderes war. Diskriminierungs- oder Rassismuserfahrungen als Faktor in Radikalisierungsprozessen Die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler der Realschule im Ruhrgebiet sind leider keine Einzelfälle, denn Rassismus ist eine gesellschaftliche Realität – gerade auch in der Schule. Besonders Jugendliche, die sich selbst als muslimisch identifizieren oder die von anderen als muslimisch markiert werden, erleben Benachteiligung, Diskriminierung, Anfeindung und institutionalisierte Ungleichbehandlung. Tief verankerte antimuslimische Ressentiments tragen wesentlich dazu bei, dass ‚islamische‘ und ‚demokratische‘ bzw. ‚europäische‘ oder ‚westliche‘ Lebenswelten sowohl unter Musliminnen und Muslimen als auch unter Nichtmusliminnen und Nichtmuslimen als inkompatibel gelten. In einigen Theoretisierungen der Extremismusforschung wird an diese Erkenntnis anschließend ein möglicher Zusammenhang von Diskriminierung und Rassismus und der Hinwendung zu als extremistisch bezeichneten Deutungsmustern thematisiert. So wird zum Beispiel in einer in Frankreich, Großbritannien und Spanien durchgeführten Studie jungen marginalisierten und diskriminierten Menschen unabhängig von Religionszugehörigkeiten attestiert, mit hoher Wahrscheinlichkeit "den Einsatz von Gewalt zu unterstützen und insbesondere selbst psychische und körperliche Gewalt auszuüben". Andere Autoren und Autorinnen nennen Ungerechtigkeitserfahrungen von Musliminnen und Muslimen in Deutschland als Rechtfertigung vereinfachter zweigeteilter Weltbilder und Freund-Feind-Zuordnungen. Wahrnehmungen und Erfahrungen von Unrecht und politischer Ohnmacht bilden demnach einen wesentlichen Teil einer Vielzahl von sich verschränkenden Faktoren, die eine Radikalisierung begünstigen können. Die Autoren einer vom Bundesministerium des Innern herausgegebenen Studie bezeichnen "gruppenbezogene Diskriminierungswahrnehmungen" neben anderen Faktoren als mögliche Ursache von potenziellen Radikalisierungsprozessen. Kurzum: Erklärungsansätze dafür, dass Jugendliche sich in rigide und abgrenzende Gemeinschaftsangebote zurückziehen, weisen "insbesondere auf die Bedeutung von Identitätskonflikten – zum Beispiel als Folge von Diskriminierungen, Rassismus und Entfremdungsgefühlen" hin. In anderen Publikationen wird daraus abgeleitet direkt darauf geschlossen, dass Ungerechtigkeitserfahrungen und eine Auseinandersetzung mit Autoritäten per se zu einer sogenannten ‘vigilantistischen Radikalisierung‘ führen können. In anwendungsorientierten Texten für Pädagoginnen und Pädagogen wird in einer ähnlichen Argumentationsweise oft auf eine angebliche Opferrolle oder Opferideologie von Musliminnen und Muslimen hingewiesen. So schreibt beispielsweise Ahmad Mansour, dass muslimische Jugendliche eine Opferrolle "pflegen" und somit automatisch anfällig seien für antisemitische und islamistische Deutungsangebote. In einer Handreichung der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös Begründeter Extremismus wird zwar darauf hingewiesen, Rassismuserfahrungen muslimischer Jugendlicher unbedingt ernstzunehmen. Jedoch wird angesichts der drohenden Gefahr einer Instrumentalisierung dieser Erfahrungen für die "Opferideologie" der "Neosalafisten" dahingehend argumentiert, dass Jugendliche lernen müssten, mit "Widersprüchen" und "Konflikten" umzugehen. Die Erfahrung von Rassismus wird so umgedeutet in die Erfahrung von Meinungsverschiedenheit und demokratisch legitimiertem Widerspruch. Es steht für mich dabei außer Frage, dass Ungerechtigkeits- und besonders Rassismuserfahrungen von Musliminnen und Muslimen in Europa in islamistischer Propaganda instrumentalisiert werden und dass sowohl gewaltablehnende und nicht explizit gewaltbefürwortende Gruppierungen, als auch gewaltbefürwortende und gewalttätige Gruppierungen mit derartigen Argumentationen um Anhängerinnen und Anhänger werben. Jedoch entsteht in einigen wissenschaftlichen Studien sowie in praxisorientierten Handreichungen aufgrund des starken Fokus auf Extremismus und problematisches Verhalten von Musliminnen und Muslimen der Eindruck, dass es einen linearen Zusammenhang von erfahrenem Unrecht und der Hinwendung zu sogenanntem Extremismus, Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit gibt. Von Rassismus betroffene Jugendliche – und unter ihnen vor allem diejenigen, die diese Erfahrung auch klar als Erfahrung von Rassismus benennen – werden so automatisch als potenziell radikalisierungsgefährdet gelesen. Welche Missverständnisse und Probleme eine solche Lesart mit sich bringen kann, zeigt ein genauer Blick auf das gegebene Fallbeispiel. Radikalisierungspotenzial zu oft abhängig von Vorurteilen Grundsätzlich ist der Blick auf etwaige Radikalisierungspotenziale nie frei von einem gewissen Grad an Pauschalisierung. Auch die Deutung einer Unmutsäußerung über erfahrene Diskriminierung als Ausdruck tatsächlicher und aufrichtiger Empörung oder als Ausdruck einer ideologisierenden Instrumentalisierung bzw. als Aufruf zu Gewalt, obliegt letztendlich einzelnen Personen – zum Beispiel Fachkräften in Schule und Sozialarbeit, Polizei oder Verfassungsschutz. Die Einschätzung darüber, welches Verhalten als Beginn einer Radikalisierung gelesen wird, ist dabei immer abhängig von Wissensbeständen, Vorstellungen und Vorurteilen der Betrachtenden. Immer wieder wird beispielsweise tatsächliches oder lediglich scheinbar religiöses Verhalten unter als muslimisch markierten Jugendlichen als Alarmzeichen gedeutet. Teilweise weichen derartige Deutungen außerdem deutlich voneinander ab: So sagte im Vorgespräch an der Realschule im Ruhrgebiet ein Lehrer, dass der im Fokus stehende Schüler "auf dem Schulhof predige" – er deutete das Verhalten also als religiös motiviert und stellte den Schüler damit indirekt durch seine Wahl des Vokabulars als missionierende Autorität und womöglich sogar als Demagogen dar. Ich selber beobachtete in meinen Gesprächen während der Workshops jedoch keinerlei besonderen religiösen Eifer bei diesem Schüler, sondern nahm seine mitunter tatsächlich lautstarken Beschwerden über Rassismus vielmehr als aufrichtige Unmutsäußerungen wahr. Deutlich zeigt sich, inwiefern die scheinbare Korrelation von Rassismuserfahrung und Radikalisierungspotenzial irreführend sein kann: Äußern von Rassismus betroffene Personen sich gesellschaftskritisch, wird dies mittels dieser Denkfigur pauschal als möglicher Anfang einer Radikalisierung, die Personen selbst somit als radikalisierungsgefährdet und somit letztendlich als ‚gefährlich‘ gedacht. Dilemma pädagogischer Islamismusprävention: Ordnungen erhalten oder verändern? Infolgedessen finden sich Praktikerinnen und Praktiker – genau wie ich in meinem ausgeführten Beispiel – nicht selten in einer nicht erfüllbaren Rolle wieder. Sie haben die Aufgabe, in einer idealerweise vertrauensvollen Rahmung Radikalisierungstendenzen einzelner Jugendlicher mit Rassismuserfahrung zu erkennen, wenn möglich selbst pädagogisch zu intervenieren und gegebenenfalls diese Jugendlichen den Sicherheitsbehörden zu melden. Mitunter folgt aus einer vagen Konzeption von "Persönlichkeitsentwicklung" und "Kompetenzentwicklung" als universeller Prophylaxe gegen Radikalisierungen sogar der Schluss, dass einem Unmut über Rassismus lediglich mit positiven Gegendarstellungen begegnet werden müsse. Die weit verbreitete Forderung nach sogenannten Gegenerzählungen und positiven Darstellungen ‚unserer‘ Gesellschaft zielt in diesem Zusammenhang vor allem darauf ab, islamistischer Propaganda eine ihrer Argumentationsgrundlagen zu entziehen – verkennt jedoch auch, dass eine Gegenerzählung wirkungslos bleibt, solange tatsächlich diskriminierende gesellschaftliche Verhältnisse bestehen bleiben (siehe hierzu auch den Beitrag von Lena Frischlich im Infodienst: Interner Link: "Extremistische Propaganda und die Diskussion um ‚Gegenerzählungen‘"). Viel eher kann eine derartige Argumentation zur Folge haben, dass Opfer von Rassismus per se als potenziell gefährliche Personen, die mit Präventionsangeboten angesprochen werden müssten, gelesen werden. Eine Pädagogik, die dieser Denkfigur entspringt, verharrt darüber hinaus auch immer in der ‚Veränderung‘ (‚Othering‘) von als muslimisch markierten Menschen – also der grundsätzlichen Wahrnehmung von Muslimen und Musliminnen als ‚anders‘ und somit der Aufrechterhaltung dieser wirkmächtigen Unterscheidung. Das ist der wesentliche Unterschied zu einer rassismuskritischen Herangehensweise, in welcher machtvolle Kategorien wie Religionszugehörigkeit und ‚Migrationshintergrund‘ hinterfragt und offengelegt sowie Ordnungen verändert werden würden: Eine rein auf Prävention abzielende Herangehensweise nimmt die Rassismuserfahrungen Jugendlicher lediglich zum Anlass, sicherzustellen, dass aus diesen Rassismuserfahrungen keine Gefahr für die bestehende Ordnung entsteht. In der Konsequenz bedeutet das auch, dass das Sicherheitsbedürfnis von Musliminnen und Muslimen – und im konkreten Fall das Bedürfnis von muslimischen Schülerinnen und Schülern nach Gleichberechtigung, Anerkennung und Freiheit von Diskriminierung – dem Sicherheitsbedürfnis der Dominanzgesellschaft – und hier im konkreten Fall dem Sicherheitsbedürfnis der Lehrerinnen und Lehrer und des Direktoriums – untergeordnet wird. Schlüsse für eine reflexive pädagogische Arbeit Die Frage nach einer eventuell von den Jugendlichen ausgehenden Gefahr habe ich in besagtem Fallbeispiel im Anschluss an die Workshops in erneuten Gesprächen mit dem Schuldirektorium und Lehrenden deshalb vorerst bewusst verneint. Ich riet hingegen dazu, den Jugendlichen mehr Raum für die Verarbeitung der von ihnen erlebten Ungerechtigkeiten zu geben, diesen Stimmen genau zuzuhören und Änderungen im Verhältnis von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern zu erwirken. Denn wird tatsächlich angestrebt, zu zeigen, wie es in der Gesellschaft möglich ist, mit verschiedenen Religiositäten miteinander zu leben, dann muss Schule diese Vision vorleben anstatt zur Aufrechterhaltung von tatsächlichen und symbolischen Grenzen beizutragen. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit Rassismus gewinnt erst dann an Stärke, wenn sie zugrundeliegende Muster entdeckt, auf Angemessenheit prüft und laufend hinterfragt. Ich plädiere daher generell für einen Ansatz, in dem die Äußerungen von Unmut über Marginalisierung von und Rassismus gegenüber Musliminnen und Muslimen nicht als potenzieller Beginn einer Radikalisierung, sondern vielmehr als legitime (herrschafts-)kritische Positionierungen gelesen werden. Die daran anschließende pädagogische Arbeit sollte nicht auf die Änderung einer scheinbar subjektiven Wahrnehmung dieser Jugendlichen fokussieren. Diesen Wahrnehmungen von Jugendlichen lässt sich auch nicht lediglich mit dem andernorts vorgeschlagenen Aufzeigen von "sichtbare[n] Gegenbeispielen" von "Projekte[n], Gruppen und Einzelpersonen […], deren Denken und Handeln […] als im Rahmen unserer pluralistischen Gesellschaft akzeptabel und vorbildhaft und damit als hervorhebungswürdig und unterstützenswert gelten", begegnen. Eine solche Praxis kann dazu beitragen, rassismuskritische Positionen – die eben diesen unseren gesellschaftlichen, zum Teil ausschließenden, Konsens in Frage stellen – als ‚radikal’ und damit als unerwünscht und gefährlich zu etikettieren. Jedoch sollte rassismuskritischen Positionierungen gerade angesichts eines bedenklichen gesellschaftlichen Rechtsrucks eingeräumt werden, ‚radikale‘ Forderungen zu formulieren. Rassismus und die weiter zunehmende Gewalt aufgrund von Identitätskategorien wie Religion, Volk oder Kultur ist eine der großen Herausforderungen dieser Zeit. Bildungsangebote sollten angemessen auf diese Herausforderung reagieren, ohne zu Stigmatisierungen und Diskriminierungen von Personen, die von Rassismus bedroht und betroffen sind, beizutragen. Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Antimuslimischer Rassismus". Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Quellen / Literatur Abou Taam, Marwan und Sarhan, Aladdin (2014): Salafistischer Extremismus im Fokus deutscher Sicherheitsbehörden. In: Schneider, T.G. (Hrsg.): Salafismus in Deutschland: Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld, S. 387–402. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2010): Erfahrungen muslimischer und nichtmuslimischer Jugendlicher mit Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und Gewalt: Eine Vergleichsstudie in drei EU-Mitgliedstaaten.Externer Link: http://fra.europa.eu/fraWebsite/attachments/Infosheet-racism-marginalisation_DE.pdf (Zugriff: 10.10.2018) Bonefeld, M. und Dickhäuser, O. 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Meiering, D., Dziri, A. & Foroutan, N. (2018): Brückennarrative: Verbindende Elemente für die Radikalisierung von Gruppen. PRIF Report-Reihe: Gesellschaft Extrem, 7/2018.Externer Link: https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0718.pdf (Zugriff: 30.11.2018). Nordbruch, Götz (2016): Bedeutung von Diskriminierungserfahrungen und gesellschaftlicher Marginalisierung in religiösen Radikalisierungsprozessen. In: Demokratiezentrum Baden-Württemberg (Hrsg.): Pädagogischer Umgang mit Antimuslimischem Rassismus: Ein Beitrag zur Prävention von der Radikalisierung von Jugendlichen, S. 25–30. Externer Link: http://demokratiezentrumbw.de/fileadmin/Dokumente/Antimuslimischer_Rassismus/Antirassismus_160916.pdf (Zugriff: 10.10. 2018). Scharathow, Wiebke (2017): Jugendliche und Rassismuserfahrungen. Kontexte, Handlungsherausforderungen und Umgangsweisen. In: Karim Fereidooni und Meral El (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen, Wiesbaden, S. 107–128. Vgl. Scharathow 2017 sowie Bonefeld und Dickhäuser 2018 Vgl. Keskinkilic 2016 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2010, S. 75 Vgl. Damir Geilsdorf 2014, S. 232 Ebda, S. 215 Frindte u.a 2011, S. 432 Nordbruch, 2016, S. 28 Vigilantismus meint eine – jenseits der staatlich zugelassenen Möglichkeiten – erfolgende gewaltsame Erzwingung, Verhinderung oder Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens anderer durch nicht-staatliche Akteure (Selbstjustiz). Meiering et al. betonen jedoch auch, dass sich derartige Radikalisierungen keinesfalls auf bestimme demographische Gruppen beschränken und plädieren gleichzeitig dafür, dass eine Kritik an Unrecht nicht unmittelbar problematisch sei. Meiering et al. (2018): S. 23 Mansour 2012 Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e.V. (2017): S.14 Ebda. El-Mafaalani, A., et al (2016): S. 236 Vgl. Hamid 2018 Mecheril 2016: S. 38 Günther, C., et al (2016): S. 192 Mecheril 2016: S.39
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-11T00:00:00"
"2019-08-13T00:00:00"
"2022-07-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/295169/erfahrungen-von-rassismus-als-radikalisierungsfaktor/
Die Annahme, dass Diskrimierung zu Radikalisierung führen kann, kann zu folgenschweren Missverständnissen führen. Mit einem Beispiel aus der Bildungsarbeit unterstreicht Sindyan Qasem diese These.
[ "Rassismuserfahrungen", "Radikalisierungsfaktor", "Radikalisierungsfaktoren", "Muslime", "Rassismus", "Islamismus", "Radikalisierungsmodelle", "Radikalisierung", "Missverständlichkeit", "Fallbeispiel", "Präventionspraxis", "Pädagogische Praxis", "Reflexion", "Bildungsarbeit", "Prävention" ]
31,117
Hintergrundinformationen | Israel | bpb.de
Israel ist in medialen und politischen Diskursen permanent präsent, was primär auf den seit über 60 Jahren schwelenden, oftmals kriegerischen Konflikt zwischen Juden und Palästinensern zurückzuführen ist. Auch im Hinblick auf das Thema Migration ist Israel in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich; der Staat ist geradezu "auf Zuwanderung gebaut". Seit 1882 wanderten – von kurzen Unterbrechungen abgesehen – kontinuierlich Juden in das ursprünglich osmanische, später britisch verwaltete Palästina ein. Der Holocaust in Europa verlieh der zionistischen Idee weltweit Legitimität und beschleunigte ihre Umsetzung. Masseneinwanderung kennzeichnete verschiedene Perioden des 20. Jahrhunderts, Migrationshintergrund der jüdischen Bevölkerung Israels, 2006 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Als GIF herunterladen (9.6kB) besonders die Jahre unmittelbar vor und nach der Staatsgründung 1948. Der daraufhin ausbrechende Krieg mit den benachbarten arabischen Staaten (Unabhängigkeitskrieg) führte andererseits zu einer Welle von palästinensischen Flüchtlingen und Vertriebenen. Spätere Kriege hatten weitere Fluchtbewegungen zur Folge, sodass heute fast drei Viertel der Palästinenser (rund 7 Mio.) jenseits ihrer Heimat leben. Die Gesamtbevölkerung Israels hat sich über die letzten 60 Jahre mehrmals verdoppelt, vor allem durch Zuwanderung. Heute hat das Land etwa 7,1 Mio. Einwohner. Seit 1948 wurden über drei Millionen Immigranten registriert, in den 1990er Jahren war Israel sogar das Land mit der im Verhältnis zu seiner Bevölkerung höchsten Einwanderungsquote weltweit. Zugleich ist Israel auch ein Land mit angestammter arabisch-palästinensischer Bevölkerung, die ca. 20 % der Gesamteinwohnerzahl ausmacht. InfoIsrael Hauptstadt: Jerusalem Sprachen: Hebräisch, Arabisch Fläche: 20.770 km2 (CIA World Factbook) Bevölkerungszahl (2008): 7.112.359 (CIA, inkl. jüdische Siedler im Westjordanland, Ostjerusalem und den Golanhöhen) Bevölkerungsdichte (2007): 342 Einwohner pro km2 Bevölkerungswachstum (2006): +1,8 % Anteil Einwanderer an der Gesamtbevölkerung (2006): 33,8 % Anteil der arabischen Staatsbürger (2007): 19,9 % Erwerbsbevölkerung (2006): 55,4 % Anteil Einwanderer an der Erwerbsbevölkerung (2007): 6,9 % Arbeitslosenquote: 8,4 % (2006), 9,0 % (2005), 10,4 % (2004) Religionen (2004): Jüdisch 76,4 %, Muslimisch 16 %, Arabische Christen 1,7 %, andere Christen 0,4 %, Drusen 1,6 %, keine Angaben 3,9 % Durch die beträchtliche jüdische Immigration spielen Fragen der Eingliederung und des Zusammenlebens von Einheimischen und Neu-Zuwanderern in Israel eine wichtige Rolle. In jüngerer Zeit entwickeln sich neue migrations- und integrationspolitische Herausforderungen wie Arbeitsmigration, Flucht und illegaler Aufenthalt, mit denen bisher typischerweise westliche Einwanderungsländer konfrontiert waren. Migrationshintergrund der jüdischen Bevölkerung Israels, 2006 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Als GIF herunterladen (9.6kB) Hauptstadt: Jerusalem Sprachen: Hebräisch, Arabisch Fläche: 20.770 km2 (CIA World Factbook) Bevölkerungszahl (2008): 7.112.359 (CIA, inkl. jüdische Siedler im Westjordanland, Ostjerusalem und den Golanhöhen) Bevölkerungsdichte (2007): 342 Einwohner pro km2 Bevölkerungswachstum (2006): +1,8 % Anteil Einwanderer an der Gesamtbevölkerung (2006): 33,8 % Anteil der arabischen Staatsbürger (2007): 19,9 % Erwerbsbevölkerung (2006): 55,4 % Anteil Einwanderer an der Erwerbsbevölkerung (2007): 6,9 % Arbeitslosenquote: 8,4 % (2006), 9,0 % (2005), 10,4 % (2004) Religionen (2004): Jüdisch 76,4 %, Muslimisch 16 %, Arabische Christen 1,7 %, andere Christen 0,4 %, Drusen 1,6 %, keine Angaben 3,9 % Zionismus bezeichnet eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene, weltweite jüdische Nationalbewegung und Ideologie. Ihr Ziel war die Gründung bzw. Wiedererrichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina. Die folgende Darstellung bezieht sich primär auf migrationspolitisch relevante Sachverhalte im Staat Israel. Der israelisch-arabische Konflikt, Fragen der palästinensischen Staatlichkeit sowie Migrationsbewegungen und -politiken in den palästinensisch verwalteten bzw. israelisch kontrollierten Gebieten sind nicht explizit Thema dieses Länderprofils.
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Jan Schneider
"2022-01-07T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/57625/hintergrundinformationen/
Betrachtet man Fläche und Bevölkerung, so ist Israel ein eher kleines Land. Sein Staatsgebiet entspricht etwa der Größe des Bundeslandes Hessen. Der Grad an öffentlicher Aufmerksamkeit, den das wirtschaftlich stärkste Land im Nahen Osten von jeher au
[ "Israel", "Migration", "Migrationsentwicklung", "Zuwanderung", "Einwanderung" ]
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Marita Klink | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de
Marita Klink Marita Klink ist wissenschaftliche Referentin bei Transfer für Bildung e.V. Sie ist für die Fachstelle politische Bildung tätig. Außerdem ist sie am Programm-Management des 14. Bundeskongress Politische Bildung beteiligt und begleitet die Projekte politischer Bildung im Innovationsfonds des Kinder- und Jugendplans im Rahmen der Jugendstrategie Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft. Sie studierte an der Universität Münster Germanistik und Erziehungswissenschaften und legte das zweite Staatsexamen ab. Vor ihrer Tätigkeit für Transfer für Bildung e.V. arbeitete Marita Klink als freiberufliche Autorin und Redakteurin und entwickelte außerdem Konzepte und Drehbücher für computerbasierte Lernprogramme. Marita Klink
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-02-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/285952/marita-klink/
[ "14. Bundeskongress Politische Bildung" ]
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DER DRITTE WEG (III. Weg) | Europawahl 2019 | bpb.de
Gründungsjahr 2013* Mitgliederzahl 650* Vorsitz Kalus Armstroff* Wahlergebnis 2014 nicht angetreten *nach Angaben der Partei Die Partei "DER DRITTE WEG" (III. Weg) wurde 2013 durch ehemalige Anhänger der seit 2014 verbotenen rechtsextremistischen Organisation "Freies Netz Süd" gegründet. Der organisatorische Schwerpunkt der Partei liegt in Rheinland-Pfalz und Bayern, die Partei ist aber auch in Berlin, Brandenburg und Sachsen aktiv. Die Partei trat bislang bei einer Kommunalwahl und der Landtagswahl 2016 in Rheinland-Pfalz an. Mitglieder der Partei treten häufig bei Demonstrationen gegen Asylbewerberheime und bei NS-Gedenkmärschen in Erscheinung. Die Partei wird aufgrund ihrer rechtsextremen und neo-nazistischen Ausrichtung durch den Verfassungsschutz beobachtet. In seinem Bericht wird festgestellt, dass die Partei das Wertesystem der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehne und nach einer Gesellschaftsordnung in Anlehnung an den historischen Nationalsozialismus strebe. Der III. Weg tritt mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer an. (© TUBS/bpb) Innerhalb ihres "Zehn-Punkte-Programms" finden sich hauptsächlich völkische und geschichtsrevisionistische Forderungen wie die "Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Deutschen Reiches", nach welcher die Partei Ansprüche auf Gebiete in Osteuropa erhebt. Die Partei ist antiparlamentarisch und antidemokratisch eingestellt und will eine Präsidialdemokratie installieren, bei der ein vom Volk gewählter Präsident mit "weitreichenden Befugnissen" ausgestattet werden soll. In wirtschaftlicher Hinsicht sollen Schlüsselindustrien und Banken im Dienste eines "Deutschen Sozialismus" verstaatlicht werden. Ein weiteres zentrales Thema der Partei ist die Migrationspolitik – hier sollen die Asylgesetze verschärft, "dauerhaft erwerbslose Ausländer" abgeschoben und die Grenzen geschlossen werden. Im Hinblick auf die Europawahl fordert die Partei, dass die europäischen Staaten eine "Europäische Eidgenossenschaft" bilden sollen. Die Europäische Union und das Europaparlament werden abgelehnt, allerdings sollen die Grenzen mit einer gemeinsamen europäischen Armee bewacht werden, um Einwanderung zu verhindern. Zudem soll Deutschland aus der NATO austreten und in ganz Europa sollen keine US-Militäranlagen mehr geduldet werden. Die Partei äußert sich in diesem Zusammenhang offen antisemitisch und unterstellt den europäischen Staaten "Handlanger" für Israel zu sein. Gründungsjahr 2013* Mitgliederzahl 650* Vorsitz Kalus Armstroff* Wahlergebnis 2014 nicht angetreten *nach Angaben der Partei Der III. Weg tritt mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer an. (© TUBS/bpb)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2019-05-07T00:00:00"
"2019-04-11T00:00:00"
"2019-05-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/europawahl-2019/289282/der-dritte-weg-iii-weg/
Die Partei III. Weg wurde 2013 gegründet. Sie wird vom Verfassungsschutz beobachtet und lehnt laut diesem das Wertesystem der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab. Sie strebt nach einer Gesellschaftsordnung in Anlehnung an den historischen N
[ "DER DRITTE WEG (III. Weg)" ]
31,120
Dokument 2: Arbeitsrichtlinie | Deutschland Archiv | bpb.de
Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, BdL/Dok. Nr. 863, Bl. 2–11 (1. Ausfertigung) Berlin, den 21.März 1962 Vertrauliche Verschlußsache Bestätigt: [Erich] Wichert Oberst Arbeitsrichtlinie zur Aufdeckung, Erfassung, Überprüfung und Koordinierung aller im Zusammenhang mit der Staatsgrenze Demokratisches Berlin in Erscheinung tretenden Vorkommnisse – Organisierung des Menschenhandels – – Grenzüberschreitender Personenverkehr – – Anlagen- Tunnel- und Stollenbau – – Ausnutzung totgelegter und in Funktion befindlicher Kanalisations- und anderer Schleusungssysteme, sowie ehem. Luftschutzanlagen, U- und S-Bahn-Schächte und weiterer Möglichkeiten Aus den Erfahrungen der Tätigkeit der imperialistischen Geheimdienste und anderer in Westberlin bestehender Verbrecherorganisationen nach dem 13. 8. 1961 und den vorliegenden Informationen sowie op. Materialien steht fest, daß diese Organisationen, besonders nach der Einleitung aktiver Sicherungsmaßnahmen an der Staatsgrenze Demokr[atisches] Berlin versuchen, den Menschenhandel mittels der Verfälschung und den Mißbrauch von Dokumenten und anderer Methoden zu organisieren und ihre Agenten und Materialien einzuschleusen. Zu den Methoden des Gegners gehören der Bau von Tunnelanlagen und anderer Schleusungssysteme sowie die Ausnutzung aller vorhandenen Schleusungsmöglichkeiten. Zur Aufklärung der geplanten Anschläge des Gegners auf die Staatsgrenze des Demokratischen Berlin, zur Erfassung und Koordinierung des vorhandenen und anfallenden operativen Materials, wie alle Anzeichen von geplanten Tunnel- und Stollenbauten an der Staatsgrenze in Erscheinung tretenden Schwerpunkte des Gegners, der Verfälschung und des Mißbrauchs von Dokumenten im grenzüberschreitenden Personenverkehr und der Organisierung des Menschenhandels mit allen operativen Linien und Kreisdienststellen führt die Arbeitsgruppe ihre Tätigkeit in zwei Richtungen durch. I. Aufdeckung, Überprüfung, Erfassung und Koordinierung im Kampf gegen den organisierten Menschenhandel und der vorhandenen legalen Schleusungsmöglichkeiten des Gegners im Personen- und Fahrzeug-überschreitenden Grenzverkehr der im Demokratischen Berlin wohnenden Ausländer, der im Demokratischen Berlin beschäftigten Westberliner und der westberliner Handelsleute, die aus Geschäftsgründen das Demokratische Berlin aufsuchen. II. Aufdeckung der Angriffsziele des Gegners im Gebiet der Staatsgrenze Demokratisches Berlin – über den Bau von unterirdischen Anlagen, Tunnel, Stollen, totgelegten unterirdischen Kanalisationssystemen, zugeschütteter oder zugesprengter Luftschutzbunker und Luftschutznotausgängen in Hauskellern der Staatsgrenze, U- und S-Bahnschächte sowie Fabrikanlagen. I. 1) Ausländer: Alle Personen des Demokratischen Berlin, die die Staatsangehörigkeit von NATO- und anderen imperialistischen Staaten besitzen, sind zu erfassen. Zur Aufdeckung der Möglichkeiten des Gegners in dieser Richtung sind a) Alle Personen in einem Objektvorgang zu erfassen und in der Abteilung XII zu registrieren. b) Alle Personen, über die Möglichkeiten der op[erativen] Linien der Verwaltung und der Volkspolizei gründlich aufzuklären. c) Alle Personen karteimäßig zu erfassen – die Kartei ist alphabetisch zu untergliedern – – die Staatsangehörigkeit mit bunten Reitern zu markieren – – negativ einliegende Personen kenntlich zu machen – d) Den operativen Diensteinheiten aus diesem Personenkreis op. Hinweise über positiv eingestellte Personen zu geben, die operative Kontakte ermöglichen. e) In analytischer Arbeit sind die Materialien von negativ anfallenden oder unter Verdacht von Feindtätigkeit stehenden Personen den op. Diensteinheiten zur Bearbeitung zu übergeben. I. 2) Erfassung, Überprüfung und abwehrmäßige Bearbeitung sowie operative Ausnutzung der im Demokratischen Berlin arbeitenden Westberliner, die im Besitz eines einheitlichen Betriebsausweises sind. a) Dieser Personenkreis ist karteimäßig zu er fassen und periodisch in der Abt. XII und mit Hilfe anderer operativer Möglichkeiten zu überprüfen. b) In Koordinierung mit dem MfS ist in der Folge die Fertigung von Betriebsausweisen und Verlängerungsmarken mit dem entsprechenden Sicherungssystem weiterhin zu gewährleisten. c) In Koordinierung mit der Abteilung für Innere Angelegenheiten des Mag[istrats] von Groß-Berlin ist konspirativ zu gewährleisten, daß Betriebsausweise für die konspirative Arbeit des MfS bei richtiger Abdeckung zur Verfügung gestellt werden. d) In Koordinierung mit dem Leiter der Abt. für Innere Angelegenheiten des Mag. von Groß-Berlin ist eine ständige Abstimmung der Betriebsausweise zu gewährleisten und die Kartei entsprechend zu berichtigen bzw. zu vervollständigen. e) Anhand des Materials dieser Kategorie sind den operativen Linien die Möglichkeiten zu geben, eine op. Ausnutzung vorzunehmen. f) Personen dieser Kategorie, die mit Pkw in das Demokratische Berlin einfahren, sind besonders zu erfassen und über die HA VII/2 (Fahndung) an den Grenzkontrollpunkten unter op. Kontrolle zu stellen. I. 3) Erfassung, Überprüfung, abwehrmäßige Bearbeitung sowie operative Ausnutzung der Personen, die mit Berechtigungsscheinen A und B die Staatsgrenze Berlin wechselseitig überschreiten. a) In kollektiver Arbeit mit dem [Präsidium der Volkspolizei] PdVP-Berlin, Abt. PM [Pass- und Meldewesen] und VK [Verkehrspolizei], ist dieser gesamte Personenkreis, einschließlich der Fahrzeugtypen und der polizeilichen Kennzeichen, zu erfassen. b) Die Anträge und Befürwortungen dieser Personen und Kraftfahrzeuge sind in der Abteilung XII, der HA [Hauptabteilung] III/2 sowie der HA VII/2 (Fahndung) laufend zu überprüfen und danach mit der Leitung PdVP-Berlin die Genehmigung zu entscheiden. c) Den op. Linien der Verwaltung Groß-Berlin und dem MfS sind Möglichkeiten der op. Ausnutzung zu schaffen. I. 4) Erfassung und Überprüfung aller Hinweise über Republikfluchten zur Aufdeckung der Methoden des Menschenhandels durch den Gegner. a) Erfassung aller Hinweise der operativen Linien, der Abteilung – M [Postkontrolle] – und anderer Arbeitsrichtungen über Anzeichen geplanter Republikfluchten – Diese Hinweise sind unter Ausnutzung der Möglichkeiten der op. Linien zu überprüfen und in operative Bearbeitung zu nehmen, mit dem Ziel der Verhinderung des Menschenhandels – b) Erarbeitete oder durch Hinweise bekanntgewordene Methoden der Organisierung des Menschenhandels durch den Gegner sind mit allen op. Diensteinheiten auszuwerten und in Koordinierung mit der Volkspolizei und der Grenzbrigade B [Berlin] die Fluchtmöglichkeiten zu liquidieren. c) Die Erfassung der bereits republikflüchtig gewordenen Personen und Aufdeckung der Methoden und der Wege des Menschenhandels sind in Koordinierung mit den zuständigen op. Diensteinheiten und Kreisdienststellen sowie des PdVP-Berlin durchzuführen. Alle operativen Hinweise über in Erscheinung tretende verdächtige Personen in Richtung Spionage sind der Abt. II der Verwaltung Groß-Berlin zu melden. Andere Hinweise über verdächtige Personen sind den jeweiligen op. Linien zur Auswertung zu übergeben. II. 1) Über die Staatsgrenze Demokratisches Berlin ist – unterteilt nach den Grenzabschnitten – zur Erfassung der im Punkt II genannten Schwerpunkte und bekanntgewordenen Personen und Sachen ein Objektvorgang anzulegen. a) In diesem Objektvorgang sind über die Staatsgrenze Demokratisches Berlin graphische Übersichten, wie Meßtischblätter, Pläne und Karten zu schaffen, auf denen entsprechend der erkannten und erarbeiteten Schwerpunkte sowie des gesamten Kanalisationssystems des U- und S-Bahn-überschreitenden Grenzverkehrs, systematisch Eintragungen vorzunehmen. Weiterhin sind die im Raum der Staatsgrenze wohnenden und beschäftigten IM aller Diensteinheiten mit Decknamen zu erfassen. b) Das gesamte eingehende Material über die o. g. Schwerpunkte ist unterteilt nach den bearbeitenden Diensteinheiten, zu erfassen. Zur Gewährleistung der systematischen Aufklärungs- und Abwehrarbeit sind zu erfassen: – der geplante, begonnene und durchgeführte Bau von unterirdischen Anlagen, Tunnel und Stollen, – totgelegter unterirdischer Kanalisationssysteme, – zugeschütteter oder gesprengter Luftschutzbunker und Luftschutznotausgängen in Hauskellern der Staatsgrenze, – U- und S- Bahnschächte, – Fabrikanlagen im Raum der Staatsgrenze, – Alle Hinweise auf Feindschleusungen auf und unter dem Wasser mittels des Binnenverkehrs, der Benutzung von Spezialbooten und Tauchausrüstungen, – Geplante, versuchte und durchgeführte Grenzdurchbrüche, – Geplante, versuchte und durchgeführte Schleusungen. c) Die aufgeklärten und bearbeiteten Schwerpunkte sind auf den vorhandenen Kartenmaterialien nach den Grenzabschnitten zur Auswertung zu erfassen. d) Alle eingehenden Hinweise über – Anzeichen des geplanten, sich in Arbeit befindlichen und des bereits realisierten Tunnelanlagen- und Stollenbaues – – den Ausbau und die Ausnutzung totgelegter unterirdischer Kanalisationssysteme – – die Ausnutzung zugeschütteter oder gesprengter Luftschutzbunker und Luftschutznotausgängen in Hauskellern der Staatsgrenze – – Die Ausnutzung der U- und S-Bahnschächte – – Die Ausnutzung der Fabrikanlagen im Raum der Staatsgrenze Demokratisches Berlin – – Über Feindschleusungen auf und unter dem Wasser mittels des Binnenschiffsverkehrs, der Benutzung von Spezialbooten und anderen Ausrüstungen – sind durch analytische Arbeit auf der Grundlage des vorhandenen Materials einzuschätzen, Maßnahmen zur Bearbeitung festzulegen und den dafür zuständigen Diensteinleiten zur op. Bearbeitung zu übergeben. Dieses op. Material ist unter ständiger Kontrolle zu halten und wenn notwendig, in gemeinsamer Arbeit mit den Diensteinheiten Maßnahmen zur Aufklärung, Aufdeckung und Liq[u]idierung festzulegen. II. 2) Das vorhandene operative Material in der Verwaltung [für Staatssicherheit] Groß-Berlin über Anzeichen von gefährdeten Stellen an der Staatsgrenze Demokratisches Berlin ist zu analysieren und einzuschätzen. Den dafür zuständigen Linien sind Hinweise über die Lücken im Sicherungssystem zu geben mit dem Ziel der Stabilisierung der Staatsgrenze Demokratisches Berlin. Die vorgeschlagenen Veränderungen sind unter Kontrolle zu halten. II. 3) Die bekanntgewordenen Schwerpunkte an der Staatsgrenze Demokratisches Berlin westlicherseits sind über die operativen Linien aufzuklären und gesondert zu erfassen. In der Folge ist die gesamte Staatsgrenze Demokratisches Berlin westlicherseits aufzuklären. II. 4) In Koordinierung mit den operativen Linien der Verw. Groß-Berlin, der Aufklärungsabteilung der Grenzbrigade B, sind operative Stützpunkte auf Westberliner Gebiet zu schaffen mit dem Ziel, die gefährdeten Punkte und Angriffsziele des Gegners unter Kontrolle zu halten. In Koordinierung mit den Stellvertretern Operativ des Leiters der Verwaltung Groß-Berlin sind auf allen Linien Voraussetzungen zu schaffen, daß alle im Grenzgebiet der Staatsgrenze demokratisches Berlin (auf dem Territorium des demokratischen Berlin und westlicherseits) vorhandenen IM decknamenmäßig erfaßt werden, mit dem Ziel, diesen Personenkreis für Sonderaufgaben und Aufklärungsarbeiten einsetzen zu können. Das trifft auch auf alle IM der Op. Gruppe des PdVP zu. II. 5) Alle Hinweise über gefährdete Stellen des sich in Funktion befindlichen und des alten Kanalisationssystems im Gebiet der Staatsgrenze demokratisches Berlin sind gesondert zu erfassen und in Koordinierung mit dem zuständigen Referat der Abteilung III, der Grenzbrigade B und der Aufklärungsabteilung abzusichern. II. 6) In Koordinierung mit der Op.-Gruppe des PdVP über den Leiter der Abt. VII der Verw. Groß-Berlin ist zu veranlassen, daß von dieser Gruppe alle Vorgänge und Hinweise über Tunnel-Anlagen- und Stollenbau, der Ausnutzung der Kanalisationssysteme und der zugeschütteten und zugesprengten Luftschutzbunker und Notausgänge sowie der Feindschleusungen auf oder unter Wasser, von beabsichtigten, vorbereiteten und durchgeführten Grenzdurchbrüchen und anderen operativen Schwerpunkten laufend berichtet wird. Das Material ist zu erfassen und unter operativer Kontrolle zu halten. II. 7) Entsprechend der Anweisung des Genossen Minister ist mit dem von ihm eingesetzten Major ______ engste Zusammenarbeit zu gewährleisten und alle Vorkommnisse und Hinweise in bezug auf Staatsgrenze der DDR umgehend mit ihm abzusprechen bzw. ihm zu berichten.
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Ministerium für Staatssicherheit, Verwaltung Groß-Berlin
"2013-11-13T00:00:00"
"2012-01-11T00:00:00"
"2013-11-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/53670/dokument-2-arbeitsrichtlinie/
"Arbeitsrichtlinie zur Aufdeckung, Erfassung, Überprüfung und Koordinierung aller im Zusammenhang mit der Staatsgrenze Demokratisches Berlin in Erscheinung tretenden Vorkommnisse"
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Veranstaltungskalender | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Übersicht Zu den Termindetails gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken. August Interner Link: Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Interner Link: Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung14. August 2023, Berlin & online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?24. August 2023, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) September Interner Link: Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten4. September 2023, Düsseldorf CoRE NRW Interner Link: BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September 2023, Leipzig Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media12. September 2023, online Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Interner Link: Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit13. September 2023, Berlin ufuq.de Interner Link: Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention28. bis 29. September 2023, Berlin cultures interactive e. V. Oktober Interner Link: Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus04. und 18. Oktober 2023, Berlin cultures interactive e. V. Interner Link: Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur19. Oktober 2023, Berlin Violence Prevention Network (VPN) November Interner Link: Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus9. bis 10. November 2023, Berlin Hochschule Fresenius Interner Link: Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und AbsolventenNovember 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Interner Link: Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Pädagogische Hochschule Heidelberg Februar 2024 Interner Link: Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 202428. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite August Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online In der Online-Fortbildung des Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) geht es darum, Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit extremistischer Ansprache in den sozialen Medien zu schulen. In den Lehrgängen wird zudem die Funktionslogik von sozialen Medien thematisiert und die allgemeine Medienkompetenz der Teilnehmenden verbessert. Mögliche Abläufe von Radikalisierungsprozessen sowie Grundlagen des Online Streetwork bekommen ebenfalls einen Raum in den Seminaren. Ziel ist es, eigene digitale Angebote der Demokratieförderung zu entwickeln und menschenfeindlichen Inhalten im Netz selbstbewusst entgegenzutreten. Die Online-Fortbildung gibt es in drei Durchgängen: 31. Juli 2023 bis 16. Oktober 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr 12. September 2023 bis 21. November 2023, immer dienstags & donnerstags von 11:00-12:30 Uhr 9. Oktober 2023 bis 18. Dezember 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr Termin: 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 Ort: online Veranstalter: Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CEOPS Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung 14. August 2023, Berlin & online Was brauchen wir als Gesellschaft, um zunehmenden Polarisierungstendenzen zu begegnen? Was braucht es auf individueller und struktureller Ebene, um Menschen zu stärken, die anfällig sind für extremistische Ansprachen? Das diesjährige Politik- und Pressegespräch der BAG RelEx widmet sich den strukturellen Faktoren von Radikalisierung. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Lösungsstrategien im politischen Handeln wie auch auf Ebene der zivilgesellschaftlichen Träger. Diese werden im Rahmen eines Impulsvortrags und einer Podiumsdiskussion erörtert. Im Anschluss bietet die Veranstaltung Raum für Rückfragen. Das hybride Politik- und Pressegespräch richtet sich an Vertreter:innen aus Medien und Politik, an Fachkräfte sowie die breite Öffentlichkeit. Journalist:innen können sowohl vor Ort als auch online teilnehmen. Weitere Interessierte können der Veranstaltung online beiwohnen. Termin: 14. August 2023, 18:00-19:30 Uhr Ort: Berlin-Wedding & online Veranstalter: BAG RelEx Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen? 24. August 2023, online Das Online-Seminar beschäftigt sich mit islamistischer Ansprache in den sozialen Medien. Dabei geht es vor allem darum, wie Staat und Zivilgesellschaft auf die damit einhergehenden Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention reagieren können. Das Seminar liefert eine Einordnung zu Ansätzen der Präventionsarbeit und vermittelt Überblick über Projekte der digitalen Jugendarbeit. Im Anschluss werden mögliche Bedarfe in der Jugend- und Präventionsarbeit skizziert. Das Online-Seminar richtet sich an Teilnehmende des Plan P.-Netzwerks sowie Fachkräfte der Jugendhilfe, insbesondere aus den Bereichen des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Jugendarbeit und der Sozialarbeit. Termin: 24. August 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. August möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AJS September Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten 4. September 2023, Düsseldorf In einer wehrhaften Demokratie stehen staatliche Institutionen vor der Aufgabe, immer wieder zu überprüfen, inwieweit sie selbst gegen antidemokratische und extremistische Einstellungen gefeit sind. Staatsbedienstete sind gegen die Verbreitung von extremistischen Einstellungs- und Vorurteilsmustern nicht immun. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz, Polizei und Nachrichtendienste, sondern auch der Schul- und Erziehungssektor. Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen, wie wir sie in Polizeien in mehreren Bundesländern gesehen haben, und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Darüber soll auf dem Netzwerktreffen intensiv diskutiert werden. Neben Vorträgen und Diskussionen gibt es ausreichend Zeit für Gespräche zur Vernetzung. Termin: 4. September 2023, 9:30-17:00 Uhr Ort: Townhouse Düsseldorf, Bilker Straße 36, 40213 Düsseldorf Veranstalter: CoRE NRW Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail bis zum 25. August unter Angabe des vollen Namens sowie der institutionellen Anbindung Weitere Informationen in Kürze auf den Externer Link: Seiten von CoRE NRW BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September, Leipzig Im September 2023 findet in Leipzig ein interaktives BarCamp der Bundeszentrale für politische Bildung zum Themenfeld Islamismus statt. Die Fachtagung bietet einen Raum für Akteurinnen und Akteure, die in der Radikalisierungsprävention und der politischen Bildung tätig sind, einmal innezuhalten, gemeinsam über die Entwicklungen zu reflektieren, sich über aktuelle Themen, Debatten aber auch die Belastung in der täglichen Arbeit auszutauschen und gleichzeitig Ideen, multiprofessionelle Perspektiven und neue Energie aufzutanken. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte aus dem Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildung, Wissenschaftler/-innen und Multiplikator/-innen, die sich bereits intensiver mit dem Phänomen Islamismus und dem Feld der Islamismusprävention auseinandergesetzt haben oder in diesem arbeiten. Auch das Team des Infodienst Radikalisierungsprävention wird auf der Tagung vertreten sein und freut sich, Sie dort zu begrüßen. Termin: 4. bis 6. September 2023 Ort: Hyperion Hotel, Sachsenseite 7, 04109 Leipzig Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: Teilnahmegebühr ohne Übernachtung 50 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 21. August 2023 möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media 12. September 2023, online Mit welchen Argumenten verbreiten extremistische "Prediger" online ihre Botschaften? Welche Themen und vermeintliche Belege führen sie an? Welche Plattformen und Formate nutzen sie? Und wie gewinnen sie das Vertrauen von Jugendlichen? Der Workshop beginnt mit einer Auswahl gängiger Phrasen, Aussagen und Argumente extremistischer Online-"Prediger". Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden gemeinsam über folgende Fragen: Welche Formate und Argumente sind bei Jugendlichen besonders wirksam? Welche Themen stehen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund? Welche Fragestellungen scheinen für Jugendliche zentral zu sein, werden von extremistischen Online-Akteuren jedoch bewusst ausgeklammert? Fachkräfte können vorab Beispiele und konkrete (anonymisierte) Fälle aus der eigenen Arbeit einreichen. Diese werden dann im Rahmen der Veranstaltung aufgegriffen. Termin: 12. September 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 1. September 2023 Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der IU Internationalen Hochschule Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit 13. September 2023, Berlin Wie können Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit auf antimuslimischem Rassismus reagieren und diesem entgegenwirken? Welche Rolle spielt die persönliche Haltung zu Religion? Wie können Betroffene von diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen unterstützt und gestärkt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Fortbildung. Pädagogische Mitarbeitende aus Schule, Sozialarbeit und außerschulischer Bildungsarbeit sind eingeladen, daran teilzunehmen und Anregungen zum Umgang mit Religion, Resilienz und Rassismus für ihre Arbeit mitzunehmen. Termin: 13. September 2023, 9:00-16:00 Uhr Ort: Räume der Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin Veranstalter: ufuq.de Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 11. September Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene 20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Inwiefern kann Radikalisierung beziehungsweise die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen auch als mögliche Bewältigungsstrategie angesichts struktureller gesamtgesellschaftlicher Problemlagen verstanden werden? Welche Implikationen ergeben sich hieraus für die Ausrichtung von Präventionsstrategien und -ansätzen? Welche stigmatisierenden Effekte birgt die Arbeit der Islamismusprävention? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Fachtag. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte und Interessierte. Termin: 20. bis 21. September 2023 Ort: Frankfurt am Main Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Anmeldung: Externer Link: online bis 1. September möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von BAG RelEx Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention 28. bis 29. September 2023, Berlin Wie lässt sich Gaming für die Präventionsarbeit nutzen und wie können Jugendliche darüber erreicht werden? Die Fortbildung beschäftigt sich mit diesen Fragen und zeigt auf, wie Menschenrechte, demokratische Haltungen und Medienkompetenz in diesem Bereich vermittelt werden können. Mit Hilfe des Spiels „Adamara“, das cultures interactive e. V. entwickelt hat, sollen die Teilnehmenden lernen, wie Jugendliche eigene Handlungsoptionen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Lebenserfahrungen im Spiel verarbeiten können. Ziel ist es, ein Verständnis für die Gaming-spezifischen Anforderungen in der Präventionspraxis zu gewinnen. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte aus der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen Bildung. Termin: 28. bis 29. September 2023 Ort: Tagen am Ufer, Ratiborstraße 14, 10999 Berlin-Kreuzberg Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Oktober Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus 4. und 18. Oktober 2023, Berlin Wie prägen Gendervorstellungen den islamisch begründeten Extremismus? Welche Chancen bieten mädchen*spezifische Präventionsansätze? Und wie sehen erfolgreiche Strategien aus für den Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen*? Diese Fragen stehen im Fokus der zweitägigen Fortbildung für Fachkräfte der Jugendarbeit in Berlin. Neben interaktiven Elementen werden auf der Veranstlatung aktuelle Forschungsergebnisse zu Mädchen* im Salafismus vorgestellt. Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden, welche erfolgreichen Strategien es im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen gibt. Termin: 4. und 18. Oktober 2023, jeweils von 17:00 – 20:00 Uhr Ort: Berlin Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur 19. Oktober 2023, Berlin Bei diesem Fachtag im Rahmen des Projekts „Islam-ist“ geht es um die Frage, wie islamistische Akteur:innen digitale Räume nutzen, um junge Menschen zu beeinflussen und zu mobilisieren. Thematisch wird das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Anpassung sowie radikaler Narrative und Verharmlosung ideologisierter Weltbilder bearbeitet. Ziel ist es, konkrete Konsequenzen für die Arbeit von Fachkräften herauszuarbeiten, um unterschiedlichen Ansprachestrategien zu begegnen, ohne dass junge Muslim:innen stigmatisiert werden. Der Fachtag teilt sich in Impulsvorträge, Workshops und Panels auf und lädt zum gemeinsamen Austausch ein. Termin: 19. Oktober 2023, 9:30 – 17:30 Uhr Ort: Berlin, Alt-Reinickendorf Veranstalter: Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von VPN November Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus 9. bis 10. November 2023, Berlin Welche Faktoren motivieren Frauen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Welche Funktionen und Rollen nehmen Frauen in den verschiedenen Phänomenbereichen ein? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der zweitägige Workshop der Hochschule Fresenius. Die Veranstaltung richtet sich an Nachwuchswissenschaftler:innen des Themenfelds Extremismus und soll einen Rahmen schaffen, um eigene Forschungsprojekte mit Expert:innen zu besprechen. Hierfür sind die Teilnehmenden dazu eingeladen, eigene Abstracts einzureichen und bei Interesse einen Vortrag zu halten. Termin: 9. bis 10. November 2023 Ort: Berlin Veranstalter: Hochschule Fresenius Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per Mail möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Fresenius Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und Absolventen November 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Wie bedingen gesellschaftliche Konflikte Veränderungen innerhalb der islamistischen Szene? Welche Strategien, Inhalte und islamistischen Gruppierungen sind für die Präventionsarbeit in Deutschland relevant? Und wie gelingt der Berufseinstieg in dieses Arbeitsfeld? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die MasterClass der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Veranstaltung richtet sich an Masterstudierende sowie Absolventinnen und Absolventen mit Interesse an einer beruflichen Tätigkeit in der Islamismusprävention. In fünf Modulen erhalten sie einen Einblick in Theorien, Methoden und Praxis der Präventionsarbeit. Die Umsetzung der Module findet in Präsenz an verschiedenen Orten in Deutschland und online statt. Termin: 17. November 2023 bis 8. November 2024, insgesamt fünf Module Ort: Berlin/Köln/Erfurt und online Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: 150 Euro Teilnahmegebühr. Reisekosten, Hotelkosten und Verpflegung werden übernommen. Bewerbung: Externer Link: online möglich bis zum 7. August. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist findet eine Auswahl der Teilnehmenden durch die bpb statt. Die Teilnehmendenzahl ist auf 25 Personen begrenzt. Weitere Informationen zur MasterClass auf den Interner Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Wie können pädagogische Fachkräfte souverän reagieren, wenn sich junge Menschen demokratiefeindlich äußern? Wie kann man erkennen, ob jemand nur provozieren möchte oder tatsächlich eine extremistische Haltung entwickelt hat? Die sechstägige Online-Weiterbildung soll Pädagog:innen dazu befähigen, eine Radikalisierung zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Das Kontaktstudium besteht aus einer Verknüpfung von Theorie und Praxisbeispielen und bietet die Möglichkeit, sich mit Expert:innen aus verschiedenen Fachbereichen auszutauschen. Die Weiterbildung richtet sich an Pädagog:innen, die mit jungen Menschen arbeiten. Sie findet an folgenden Terminen statt: Freitag, 1. Dezember 2023, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 2. Dezember 2023, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 19. Januar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 20. Januar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 23. Februar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 24. Februar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Termin: 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024 Ort: online Veranstalter: Pädagogische Hochschule Heidelberg Kosten: 490 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. Oktober möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der pädagogischen Hochschule Heidelberg Februar 2024 Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 2024 28. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Auch im nächsten Jahr veranstaltet MOTRA wieder eine Jahreskonferenz. MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung. Im Mittelpunkt der Konferenz steht der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis zum aktuellen Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Dazu bietet die Veranstaltung ein vielfältiges Programm aus Beiträgen der Radikalisierungsforschung und Präventionspraxis zu einem jährlich wechselnden Schwerpunktthema. Fachkräfte sind dazu eingeladen, Forschungs- und Praxisprojekte zu diesem Thema einzureichen und auf der Konferenz zu präsentieren. Der entsprechende Call for Papers sowie Informationen zum Schwerpunktthema und den Bewerbungs-, Teilnahme- und Anmeldemöglichkeiten werden in Kürze veröffentlicht. Termin: 28. und 29. Februar 2024 Ort: Wiesbaden Veranstalter: Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung werden auf den Externer Link: Seiten von MOTRA bekannt gegeben. Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-08-04T00:00:00"
"2016-01-18T00:00:00"
"2023-08-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/218885/veranstaltungskalender/
Veranstaltungshinweise und Fortbildungen aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus & Prävention
[ "Infodienst Salafismus", "Termine" ]
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Politik im Freien Theater | Presse | bpb.de
Sehr geehrte Damen und Herren, alle drei Jahre veranstaltet die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb das Festival Politik im Freien Theater an wechselnden Orten. Die 10. Ausgabe findet vom 1. – 11. November 2018 in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen und Spielmotor München e.V. sowie mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt in München statt. Wir laden Sie herzlich ein zur Pressekonferenz am 12. Juli 2018 um 11 Uhr in die neue Studiobühne der Theaterwissenschaftlichen Fakultät in München. Unter dem Motto REICH setzt sich das Programm mit Fragen nach wirtschaft-licher, kultureller und sozialer Ungleichheit auseinander – in München, Deutschland und der Welt. Im Zentrum stehen 15 innovative internationale Gastspiele aus der freien Theaterszene. Ein breit gefächertes Rahmen- und Jugendprogramm mit Partnern und Akteuren aus ganz München flankiert die Produktionen und beleuchtet verschiedenste Aspekte des Themas in Lesungen, Filmreihen, Diskussionen, Vorträgen, Workshops und Konzerten. Über das Profil und das Programm des Festivals informieren Sie: Dr. Hans-Georg Küppers, Kulturreferent der Landeshauptstadt München Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Milena Mushak, Referentin und Leiterin des Festivals, Bundeszentrale für politische Bildung Christoph Gurk, Dramaturg und Kurator, Münchner Kammerspiele Sophie Becker, Künstlerische Leiterin SPIELART Festival / Spielmotor München e.V. Anne Paffenholz, Referentin und Leiterin des Schul- und Jugendprogramms, Bundeszentrale für politische Bildung Antje Schupp, Nico de Rooij, Djana Covic, Regisseurinnen und Performer-innen von „PINK MON€Y“ und Michiel Vandevelde, Choreograph von „Paradise Now (1968-2018)“. Im Anschluss an die Präsentation haben Sie Zeit für Fragen und Interviews. Auch zahlreiche Kooperationspartner des Rahmen- und Schulprogramms werden anwesend sein und bei Kaffee und Snacks für Gespräche zur Verfügung stehen. Über Ihre Teilnahme würden wir uns sehr freuen. Bitte geben Sie uns bis zum 10.7.2018 unter Externer Link: presse@politikimfreientheater.de Bescheid, ob Sie kommen können. Pressekontakt im Auftrag des Festivals: Maren Dey presse@politikimfreientheater.de Tel. 030 23628191 Mobil 0173 3183148 Mit freundlichen Grüßen Daniel Kraft - Leiter Stabstelle Kommunikation - Presseeinladung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-09-07T00:00:00"
"2018-06-26T00:00:00"
"2021-09-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/271574/politik-im-freien-theater/
Alle drei Jahre veranstaltet die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb das Festival Politik im Freien Theater an wechselnden Orten. Die 10. Ausgabe findet vom 1. – 11. November 2018 in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen und Spielmotor Mün
[ "Theaterfestival", "Einladung Pressekonferenz", "München" ]
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Chronik: 26. September – 9. Oktober 2016 | Ukraine-Analysen | bpb.de
26.09.2016 Der ehemalige Abgeordnete Oleksandr Onischtschenko erklärt, dass Präsident Petro Poroschenko mit seiner Hilfe versucht habe, den Fernsehsender 112 zu erwerben. In einer Stellungnahme der Präsidialverwaltung wird diese Aussage bestritten und Onischtschenko beschuldigt, von eigenen Verfehlungen abzulenken. Onischtschenko wird wegen Veruntreuung im großen Stil gesucht und hält sich zurzeit in London auf. Im Mai 2015 hatte der Chef und Eigentümer des Senders, Andryj Podschtschipkow, öffentlich beklagt, von Seiten des Staates unter Druck gesetzt zu werden, mit dem Ziel, einen Verkauf des Senders an regierungsnahe Unternehmer zu erwirken. 26.09.2016 Der Ausschuss des EU-Parlaments für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres votiert für die visafreie Einreise ukrainischer Staatsbürger in die EU. 27.09.2016 Der Verwaltungschef des von der Ukraine kontrollierten Teils des Gebietes Luhansk, Jurij Garbus,äußert Skepsis gegenüber der am 21. September 2016 getroffenen Vereinbarung zum Rückzug beider Seiten des Konflikts von der Frontlinie um je einen Kilometer. Zögen sich die ukrainischen Einheiten so weit zurück, bestünde die Gefahr, die Stadt Staniza Luhanksa an die separatistischen Truppen zu verlieren. Unterdessen meldet die OSZE weitgehende Ruhe aus dem Gebiet, wo der Truppenrückzug bereits umgesetzt wird. 28.09.2016 Die internationale Ermittlergruppe unter niederländischer Führung veröffentlicht ihren Abschlussbericht zum Abschuss des Passagierflugzeugs der Malaysia Airlines im Juli 2014 über dem Donbass. Die Ermittler gelangen darin zu dem Schluss, dass die Maschine des Fluges MH17 aus dem Ort Perwomajsk abgeschossen wurde, der sich zu diesem Zeitpunktunter Kontrolle der Separatisten befand. Der Abschuss sei mit einem Raketensystem vom Typ "Buk" erfolgt. Die betreffende Anlage sei aus Russland in das Gebiet gebracht und später dorthin zurück transportiert worden. 28.09.2016 Der Nationale Sicherheitsrat verabschiedet nachträgliche Änderungen im Budget für die Sicherheitsstrukturen der Ukraine für das Jahr 2016. Unter anderem erhält das Verteidigungsministerium zusätzlich 3,8 Milliarden Hrywnja (etwa 130 Millionen Euro), der Inlandsgeheimdienst SBU zusätzlich 128 Millionen Hrywnja (etwa 4,3 Millionen Euro). 29.09.2016 In einer Sondersitzung entlässt das Parlament 29 Richter wegen Verletzung des Amtseides. Abgeordnete des Oppositionsblocks nehmen nicht an der Abstimmung teil. Sie beklagen, dass entgegen den Vorschriften die betreffenden Richter nicht drei Tage im Voraus über die Abstimmung benachrichtigt worden seien. 29.09.2016 Das Oberste Gericht Russlands verbietet die Tätigkeit des Medschlis, der inoffiziellen Vertretung der Krimtataren. Grundlage ist die Gesetzgebung zur Bekämpfung von Extremismus. Das Gericht bestätigt mit dem Urteil die Entscheidung niedrigerer Instanzen. 30.09.2016 Angehörige der OSZE-Beobachtermission im Donbass beklagen, dass die Kontrolle mehrerer Gebiete aufgrund von Minen unmöglich sei. Beide Seiten würden die Minsker Vereinbarungen verletzen, indem sie in diesen Gebieten nicht die Sicherheit der Beobachter garantieren. 30.09.2016 Ihor Gryniw, Abgeordneter des Blocks Petro Poroschenko, bringt einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, der einzelne Vermögensformen von der Veröffentlichung in den digitalen Vermögensdeklarationen von Beamten ausnehmen würde. Darunter fallen unter anderem Bargeld, Geschenke und sogenanntes bewegliches Eigentum wie Schmuck und Kunstwerke. Die Informationen könnten laut Gryniw auch für kriminelle Handlungen genutzt werden. Das Zentrum für die Verhinderung von Korruption, eine NGO, spricht sich gegen seinen Vorschlag aus. Er diene zur Verschleierung von Korruption. 01.10.2016 Quellen aus der"Volkrepublik Donezk" berichten, dass der Abzug der Einheiten der "Volksrepublik" von der Frontlinie in Petriwske im Gebiet Luhansk verschoben worden sei, da die ukrainische Seite keine Bereitschaft zum Abzug signalisiert habe. Aus der "Volksrepublik Luhansk" wird gemeldet, dass der beidseitige Abzug um die Stadt Staniza Luhanska bisher nicht gelungen sei. Der ukrainische Generalstab meldet hingegen aus Solote im Gebiet Donezk, dass der Abzug vollzogen worden sei. Am 21. September 2016 war in Minsk ein Abkommen verabschiedet worden, das an ausgewählten Punkten den Abzug der Kampfeinheiten von der Frontlinie um je einen Kilometer vorsieht. 01.10.2016 Vor einem Schiedsgericht in Stockholm fordert der staatliche ukrainische Energiekonzern Naftohaz vom russischen Energiekonzern Gazprom die Zahlung von 22 Milliarden US-Dollar. Die Summe setzt sich zusammen aus einer Forderung nach Kompensation für zuviel bezahltes Gas in Höhe von 14 Milliarden US-Dollar und ausstehenden Gebühren für den Gastransit nach Westeuropa (etwa acht Milliarden US-Dollar). Gazprom fordert seinerseits von Naftohaz eine Zahlung in Höhe von knapp 32 Milliarden US-Dollar für nach dem take-or-pay-Prinzip vertraglich zugesichertem, aber nicht abgenommenen Gas. 03.10.2016 Der russische Inlandsgeheimdienst FSB beschuldigt in einer Pressemitteilung den ukrainischen Journalisten Roman Suschtschenko der Spionage. Suschtschenko war am Vortag in Moskau festgenommen worden. Laut FSB sammelte er im Auftrag des ukrainischen Militärgeheimdienstes GUR verdeckt Informationen über die russischen Streitkräfte und die Nationalgarde, deren Veröffentlichung im Ausland die Sicherheit Russlands gefährden würde. Gegenüber der Internetausgabe der Ukrainska Prawda bestreiten Mitarbeiter des GUR, dass Suschtschenko für den Dienstgearbeitet hat. 03.10.2016 Das ukrainische Außenministerium bestätigt den Abzug der Streitkräfte von der Frontlinie in Solote im Gebiet Donezk – einem von drei vereinbarten Orten. In Petriwske im Gebiet Luhansk hingegen seien die Separatisten nicht bereit für den Abzug. 04.10.2016 Lilija Grinewitsch, die Ministerin für Bildung und Wissenschaft, kündigt für 2017 eine Erhöhung der Lehrergehälter um monatlich 500 bis 1200 Hrywnja (etwa 17 bis 40 Euro) an. Die Höhe der Lohnerhöhung soll dabei von der Qualifikation der Lehrer abhängig sein. 05.10.2016 Das Außenministerium warnt vor Reisen nach Russland. Zur Begründung wird angeführt, dass die Zahl ungerechtfertigter Festnahmen ukrainischer Staatsbürger in Russland angestiegen sei. Russische Sicherheitskräfte würden festgenommene Ukrainer häufig körperlich und psychisch misshandeln und ihnen denZugang zu Anwälten und Vertretern des ukrainischen Staates verweigern. Der Vorsitzende der politischen Abteilung des Außenministeriums hatte bereits am Vortag von Reisen nach Russland abgeraten. 05.10.2016 Finanzminister Oleksandr Daniljuk erklärt, dass in Zukunft eine gestufte Erhöhung des Rentenalters nötig werden könnte. Zurzeit gebe es allerdings keine konkreten Pläne, und auch keine diesbezügliche Forderung des Internationalen Währungsfonds im Gegenzug für die bereitgestellten Hilfskredite. 06.10.2016 Die Fraktionen der Parteien im Parlamentäußern sich zu einer möglichen Einführung einer Visapflicht für russische Staatsbürger. Während Vertreter von Vaterland, Selbsthilfe, Volksfront und der Radikalen Partei ein solches Gesetzesprojekt unterstützen, sprechen sich Vertreter des Blocks Petro Poroschenko und des Oppositionsblocks dagegen aus. Sie argumentieren, dass Russland im Falle der Einführung einer Visapflicht auch für Ukrainer Visa vorschreiben würde, was hunderttausenden in Russland beschäftigten ukrainischen Staatsbürgern schaden würde. Parlamentssprecher Andryj Parubij hatte eine Visapflicht gefordert, nachdemder ukrainische Journalist Roman Suschtschenko am 02. Oktober in Moskau festgenommen worden war. 06.10.2016 Das Parlament verlängert das Moratorium auf den Verkauf von landwirtschaftlicher Nutzfläche bis Ende des Jahres 2017. Präsident Petro Poroschenko hatte dagegen gefordert, den Verkauf von Land langfristig zu ermöglichen, um Investitionen in den Agrarsektor zu fördern. Auch der Internationale Währungsfonds hattefür die Auszahlung der nächsten Tranche seines Hilfspakets die Einbringung eines Gesetzesvorschlags für die Regelung des Marktes von Ackerland gefordert. 06.10.2016 Präsident Petro Poroschenko setzt die ehemalige Kampfpilotin und jetzige Abgeordnete der Partei Vaterland, Nadeschda Sawtschenko, als Gouverneurin im Gebiet Mykolajiw ein. Im Juni 2016 hatte er aufgrund eines Korruptionsskandals den dortigen Gouverneur Wadim Merikow entlassen. 07.10.2016 Ein ukrainischer Vertreter des Gemeinsamen Kontroll- und Koordinationszentrums erklärt, beide Seiten hätten den Abzug der Streitkräfte von der Frontlinie in Petriwske im Gebiet Luhansk vollständig vollzogen. Die OSZE-Beobachtermission bestätigt den Abzug, erklärt aber, dass sie aufgrund von Minen keinen vollständigen Zugang zum betreffenden Gebiet hatte. 08.10.2016 Die Separatisten der"Volksrepublik Luhansk" kündigen den Beginn des Truppenabzugs von der Frontlinie bei Staniza Luhanska für den Folgetag an. Zuvor hatten beide Seiten einander beschuldigt, den gleichzeitigen Abzug zu verhindern. 09.10.2016 Das Verteidigungsministerium teilt mit, dass der für diesen Tag geplante beidseitige Truppenabzug von der Frontlinie in Staniza Luhanska nicht stattfinden werde. In der Mitteilung gibt das Ministerium den Separatisten die Schuld daran, die, so der Vorwurf, zuletzt am 6. Oktober 2016 in der Gegend Waffen eingesetzt und so die Vereinbarung verletzthätten. Die OSZE-Beobachtermission berichtet, sie sei von Angehörigen der ukrainischen Armee informiert worden, dass der Truppenrückzug nicht stattfinden werde. Vertreter der "Volksrepublik Luhansk" hätten angekündigt, am Folgetag für den Abzug bereit zu sein und der Mission dann eine entsprechende Mitteilung zu machen. 09.10.2016 Die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau stellt der Ukraine einen Hilfskredit in Höhe von 150 Millionen Euro für die Modernisierung von vier Umspannwerken im Ostteil des Landes zur Verfügung. Die Summe ist Teil des Hilfspaketes der Bundesregierung in Höhe von 500 Millionen Euro, das im Jahr 2015 beschlossen wurde. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf http://www.laender-analysen.de/ukraine/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-10-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/235480/chronik-26-september-9-oktober-2016/
Aktuelle Ereignisse aus der Ukraine: Die Chronik vom 26. September bis 09. Oktober 2016.
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Die Hohenzollern und die Demokratie nach 1918 (I) | Deutschland Archiv | bpb.de
So unscharf wie der Demokratiebegriff in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auch der Sammelbegriff des Hohenzollernschen Herrscherhauses. Denn „die“ Hohenzollern stellten nach 1918 zu keiner Zeit eine geschlossene Dynastie dar, wie sie allenfalls noch ihrem Oberhaupt Wilhelm II. im Doorner Exil vorschwebte, noch agierten sie im Rahmen einer einheitlichen politischen Kultur und Öffentlichkeit. Das Spektrum der entmachteten Familie reichte schon vor 1945 von nationalsozialistischen Aktivisten wie August Wilhelm bis hin zu demokratisch gesinnten Nachfahren wie Louis Ferdinand, die in ihrer autobiographischen Selbstdarstellung dem Widerstand gegen Hitler nahegestanden haben wollten. Die friedliche Ablösung der Monarchie Ausgangspunkt aller Betrachtung ist der Umstand, dass mit der Ablösung der monarchischen Herrschaftsform in Deutschland, anders als etwa in Frankreich oder Russland, keine soziale oder kulturelle Vernichtung verbunden war. Stattdessen vollzog sich die staatsrechtliche Umwälzung in einer „Mischung von Bewahrung und Distanz“: Königliche Schlösser wurden nach 1918 nicht zu republikanischen Regierungssitzen umgeformt oder als greifbares Zeichen historischer Überwindung geplündert und geschleift. Dies blieb, unter veränderten historischen Umständen, der Zeit nach 1945 vorbehalten, als das SED-Regime gegen bürgerschaftlichen Protest die kriegsbeschädigten Stadtschlösser von Berlin und Potsdam abtragen und die Gutshäuser des preußischen Kleinadels verfallen ließ, während in die Schlösser von Stuttgart oder Wiesbaden demokratische Landesparlamente einzogen. Berlin, Revolution 1918/19. Soldaten des Arbeiter und Soldatenrats mit ihrem gepanzerten Fahrzeug im Hof des Berliner Stadtschlosses. 1918 aber bildete die einzige Ausnahme das Berliner Stadtschloss, in dem während der Revolutionswirren die aus Kiel und Emden gekommene Volksmarinedivision hauste und mit Plünderungen und Zerstörungen nicht sparte. Ihr vandalistisches Auftreten in Berlin stärkte den monarchischen Gedanken in gleichem Maße, wie es den Ruf der Revolution im Berliner Bürgertum nachhaltig schädigte. Doch am Ende waren es die Königstreuen, die dem Berliner Stadtschloss die stärksten Wunden schlugen. An den Weihnachtstagen 1918 begannen von Potsdam herangeschaffte Truppen des geschlagenen Heeres, das Schloss in einem ersten Aufblitzen der Gegenrevolution mit schwerem Geschütz in Schutt und Asche zu legen, bis die hinzuströmende Bevölkerung Berlins die Kampfhandlungen unterband und so mit der demokratischen Revolution auch das königliche Schloss schützte. Der Kulturkampf zwischen Republikanern und Monarchisten Das Haus Hohenzollern hat der Republik von Weimar diese Milde nicht gelohnt, sondern ihr in teils nonchalanter und teils aggressiver Distanz gegenübergestanden. Dabei gilt: Ungeachtet einzelner Legitimationskrisen des Wilhelminischen Kaiserreichs wie im Zuge der Daily-Telegraph-Affäre 1908 konnte sich der Monarchismus als abgegrenzte politische Haltung erst ausbilden, nachdem die monarchische Ordnung mit der Novemberrevolution ihre Selbstverständlichkeit verloren hatte. Daraus gingen in den vierzehn Jahren der ersten deutschen Republik zwei gegeneinander laufende Linien hervor: Die eine markiert die allmähliche Einebnung des grundsätzlichen Gegensatzes zwischen republikanischer und monarchischer Welt und die zunehmende Integration der entmachteten Kaiserfamilie in die bürgerliche Gesellschaft; die andere Linie beschreibt im Kontrast dazu die Herausbildung und Festigung eines monarchischen Gegenmilieus, das sich um restaurative Inseln wie das holländische Exil Ex-Kaiser Wilhelms II., die Person seines Sohnes Wilhelm, den medialen Preußenkult oder die Traditionspflege einer ganzen Stadt wie Potsdam herum kristallisierte. Schon zum ersten Kaisergeburtstag nach der Novemberrevolution hatte die starke monarchistische Strömung im deutschen Bürgertum ihre Sprache wiedergefunden und meldete ihre restaurativen Ansprüche mit markanter Geste an: „Wir leben in einer sogenannten sozialistischen Republik; aber wert und lieb sind uns die alten deutschen Farben schwarz-weiß-rot, und wir träumen den Traum von dem heimlichen Kaiser, bis dieser Traum – wir legen uns auf die Person des jetzigen Kaisers wirklich nicht fest, wenn wir ihm auch eine Heimat in der Heimat wünschen –, wieder seine Erfüllung findet. Wir stellen diese Scheinregierung, dieser Scheingeltung und Scheinmacht unser Bekenntnis zu Kaiser und Reich entgegen und warten auf den Tag, da dem deutschen Volke und dem deutschen Reiche wieder ein deutscher Kaiser beschieden sein wird.“ Um die in unterschiedlicher Stärke monarchistisch ausgerichteten Rechtsparteien DNVP und DVP herum bildete sich mit der von Ernst Troeltsch beschriebenen „Welle von rechts“ im Laufe des Jahres 1919 eine Vielzahl von Gruppierungen und Vereinen, die sich der monarchistischen Traditionspflege entweder programmatisch verschrieben – wie der 1922 aufgelöste „Bund der Aufrechten“ bzw. „Bund Aufrechter Monarchisten“ – oder in ihrer politischen Ausrichtung einer Erneuerung der Monarchie vorarbeiteten. Dies gilt insbesondere für den Frontsoldatenbund „Stahlhelm“ und sein Gegenstück, den 1923 gegründeten „Bund Königin Luise“, der sich unter Führung der ehemaligen Kronprinzessin Cecilie zu einem der größten Frauenvereine der Weimarer Republik mit 200.000 Mitgliedern und prononciert royalistischer Ausrichtung entwickelte. Zum besonderen Kristallisationsort eines restaurativen Monarchiegedankens, der dem republikanischen Staatswesen nicht den geringsten Kredit gewährte, avancierte in den Weimarer Jahren mit Potsdam die Stadt, die von den Hohenzollern geprägt war wie keine andere und mit Berlin um den ersten Rang als Hohenzollernsche Grablege wetteiferte. Welche Rolle die Stadt als monarchistischer Traditionsort in der Weimarer Republik spielte, trat insbesondere bei der Beisetzung der am 11. April 1921 in Doorn verstorbenen und nach Potsdam überführten Kaisergattin Auguste Victoria (geb. 22.10.1858) zutage, die sich in der Bevölkerung deutlich größerer Beliebtheit erfreut hatte als der Kaiser selbst. Schon Monate vor ihrem Tod hatten Preußen und das Reich angesichts des zu erwartenden Aufeinanderpralls von monarchischer und republikanischer Gedenkkultur Position bezogen. Während die Preußische Regierung lapidar mitteilte, dass sie „keine Beileidskundgebung beabsichtige“, wurde auf Reichsebene der Beschluss gefasst, „daß die Reichsregierung durch ein Telegramm des Herrn Reichskanzlers an den Prinzen Eitel Friedrich ihrem Beileid Ausdruck geben, an der Beisetzungsfeierlichkeit aber nicht teilnehmen solle“. In krassem Gegensatz zur absichtsvollen Kühle der staatlichen Institutionen stand die Bewegung in der Gesellschaft. „Eine Völkerwanderung“, registrierte die Vossische Zeitung, ergoss sich am 19. April 1921 über Potsdam und den Weg, den der von Geistlichkeit und Generalität gerahmte Trauerzug vom Kaiserbahnhof „Wildpark“ in den Antikentempel vor dem Neuen Palais im Park Sanssouci nahm. Ex-Kaiser und Kronprinz waren in ihrem Exil festgehalten; aber an ihrer statt säumten Hunderttausende die Straßen und bildeten ein überwältigendes Ehrenspalier ergriffen salutierender Massen, deren feierlichen Abschiedsgruß an die wegen ihres karitativen Engagements in der Bevölkerung immer noch sehr populäre Ex-Kaiserin die Wochenschau mit huldigenden Untertiteln in die Welt trug. Auf seinem Weg nach Potsdam hatte der aus drei Wagen bestehende Trauerzug ab der holländisch-deutschen Grenze an jeder größeren Bahnstation Ehrungen empfangen, deren Ausmaß an den Brautzug Marie Antoinettes von der Wiener Hofburg zu Ludwig XVI. nach Versailles 150 Jahre zuvor erinnerte. „Überall wurden Kränze in dem Zug niedergelegt und an allen Orten hatte sich zahlreiches Publikum eingefunden. Als der Zug im Bahnhof von Braunschweig einlief, setzte Geläute der Kirchenglocken ein, das andauerte, bis der Zug den Bahnhof wieder verlassen hatte.“ Unterstützt durch freundliches „Hohenzollernwetter“, entwickelte sich die Potsdamer Trauerzeremonie zu einer machtvollen Huldigung an das entmachtete Kaiserhaus und sein verklungenes Reich. Im fernen Danzig wurde eine Sitzung des Senats „mit einer Trauerkundgebung für die ehemalige Kaiserin eröffnet“ ; in Potsdam beobachtete der Berichterstatter der deutsch-nationalen Deutschen Tageszeitung, dass noch „in den Buchhandlungen reichgeschmückte Bilder der Kaiserin zwischen Kerzen aufgestellt“ seien, und fand die Stadt in Trauer versunken: „Ein leiser Regen sickert auf Potsdam herab. Die Stadt trägt ein ernstes, festliches Trauergewand. Fast kein Haus und kein Fenster, aus dem nicht eine schwarz-weiß-rote oder schwarz-rot-goldene Fahne von Trauerflor umwickelt heraushängt.“ Monarchistische Aufzüge und Ansprachen vor den Quartieren der angereisten alten Eliten um Hindenburg und Mackensen meldete die Vossische Zeitung , die auch ein bündiges Resümee aus republikanischer Sicht zog: „Für ein paar kurze Morgenstunden ist in Potsdam das wilhelminische Zeitalter noch einmal zu gespenstisch strahlendem Leben erwacht. Glockengeläut, wehende Fahnen und Spalier von Zehntausenden. (...) Es war wie die Leichenparade einer gestorbenen Zeit, die nach ihrem Untergang noch einmal allen Glanz und alle Pracht ihrer äußeren Attribute sammelte, und im Schimmer der Ordensketten und Uniformen ihre Treue zu ihrem Herrscherhause bekundete.“ Die Nachrichtenlage dieses Tages belegte allerdings auch, dass die Trauerfeier für die verstorbene Kaisergattin nicht einmal in Potsdam die politisch-kulturelle Gespaltenheit der Weimarer Republik übertönte. Während die kaisertreue Presse über die „gewaltigsten Menschenmassen“ jubelte, die Auguste Victoria das letzte Geleit gaben, und penibel 50 Ovationen registrierte, mit denen allein Hindenburg von der begeisterten Menge bedacht worden sei, kündigten die Betriebsräte des Potsdamer Magistrats einen 24-stündigen Generalstreik an, wenn der Fahnenschmuck zu Ehren der verstorbenen Kaiserin auf den öffentlichen Gebäuden der Stadt nicht unverzüglich eingeholt würde. Potsdam wahrte seine Prägung als Hort des Monarchismus auch im Weiteren: Als am 24. Juni 1922 in Potsdam ein Ordensfest der Johanniter stattfand, auf dem unter Anwesenheit Hindenburgs der Kaisersohn Prinz Eitel Friedrich zum Ritter geschlagen wurde, ließ sich die Veranstaltung von der mittags einlaufenden Nachricht, dass der deutsche Außenminister Walther Rathenau eben in Berlin einem Mordanschlag erlegen sei, nicht weiter beirren; sie nahm vielmehr einer Pressemitteilung zufolge auch nach Eintreffen der Mordmeldung ihren ruhigen Fortgang. In anderen Bevölkerungskreisen hingegen wurde das Rathenau-Attentat zum Fanal einer wütenden Empörung gegen die Traditionsbestände der Hohenzollern. In den Tagen nach dem Anschlag machten empörte Demonstranten in zahlreichen deutschen Städten Jagd auf mit Kronen und Hoflieferantentiteln verzierte Geschäftsschilder, holten schwarz-weiß-rote Fahnen von den Korporationshäusern studentischer Verbindungen; in Travemünde wurde Prinz Heinrich gezwungen, den schwarz-weiß-roten Stander einzuholen, den er am Topp seiner Yacht führte. Ein besonders hitziger Kulturkampf entbrannte nach den Attentaten der frühen Weimarer Republik um das in Straßennamen und Platzbezeichnungen bewahrte Erinnerungsinventar an die Hohenzollernherrschaft. Im Reichstag verlangten die Linksparteien USPD und KPD, „die Hoheitszeichen des alten Regimes aus dem Reichstag zu entfernen“; was insbesondere das Standbild Wilhelms I. in der Wandelhalle betraf, das nach Vermittlung durch Reichstagspräsident Paul Löbe für die Trauerfeier immerhin verhüllt wurde. Im Kölner Rathaus kam es zu einem Skandal, als die Stadtverordnetenversammlung über den sozialdemokratischen Antrag beriet, den dortigen Kaiser-Wilhelm-Ring und den Hohenzollern-Ring in Walther-Rathenau-Ring bzw. Erzberger-Ring umzutaufen. Nachdem Abgeordnete der Linken tätlich gegen ihre Kollegen von der Rechten, die den Antrag ablehnten, vorgegangen waren, musste die Sitzung abgebrochen werden. Auch in anderen Städten verbanden die Vorstöße zur Ehrung Walther Rathenaus im Straßenbild mit der beantragten Umbenennung das Ziel, die öffentlichen Erinnerungen an die Kaiserzeit zurückzudrängen, und setzten das Bemühen fort, den Kampf gegen die Feinde der Republik durch Eliminierung der monarchischen Traditionen zu führen. Allerdings verebbte diese Säuberungswelle auch bald wieder oder brach sich am örtlichen Widerstand bürgerlicher Mehrheiten. In Berlin scheiterte sogar die zunächst als „selbstverständliche Verpflichtung“ betrachtete Umbenennung der schicksalhaften Koenigsallee, in der Rathenau ermordet worden war, weil die bezirkliche Öffentlichkeit in diesem Straßennamen fälschlicherweise nicht den Bankier Felix Koenigs, sondern die Hohenzollern geehrt sah. In der Berlin-Wilmersdorfer Bezirksverordnetenversammlung führte der Umbenennungsantrag mehrfach zu wüsten Tumulten , und es vergingen vier Jahre, bis 1926 schließlich eine neugebaute Seitenstraße der Koenigsallee auf den Namen „Rathenauallee“ getauft wurde, während die Grunewalder Koenigsallee ihren Namen durch alle historischen Umschwünge bis heute bewahrt. Die Vermögensauseinandersetzung Während auf der einen Seite Monarchismus und Republikanismus ihre Fehden austrugen, schritt auf der anderen Seite paradoxerweise eine allmähliche Integration der Hohenzollern und ihres Erbes in die neue Ordnung voran. Für diese Integration erbrachte der neue Staat enorme Vorleistungen, während die entmachtete Herrscherfamilie mit ihrem exilierten Oberhaupt rhetorisch unbeirrt die „Entfachung der großen Nationalen Bewegung mit dem Ziel der Wiederherstellung der Monarchie“ beschwor und sich eher ungewollt und hinterrücks zur Anpassung an die neuen Verhältnisse gedrängt sah. In den Tagen der Novemberrevolution hatte der Rat der Volksbeauftragten nicht zuletzt aus Sorge vor alliierten Reparationsforderungen eine entschädigungslose Enteignung der deutschen Fürstenhäuser gescheut und die preußische Regierung die Apanagen für die Kaisersöhne lediglich um 25 Prozent gekürzt, ansonsten aber weiterlaufen lassen und bis Sommer 1919 sogar aus der Staatskasse finanziert. Anders als in Österreich, wo das Vermögen der Habsburger mit Ausnahme eines kleinen Teils zugunsten von Kriegsopfern enteignet wurde, betrachtete man in Deutschland die Vermögensauseinandersetzung nicht als politische, sondern als rechtliche Frage – nur in Sachsen-Gotha wurde das Fürstenvermögen entsprechend einer Forderung der Arbeiter- und Soldatenräte im Juli 1919 umstandslos eingezogen, was das Reichsgericht 1925 prompt ungeachtet öffentlichen Protestes rückgängig machte. Eine rechtlich fundierte Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Eigentum ließ sich aber im Falle von Fürstenhäusern, deren Besitz in die Zeit vor der Trennung von Staat und Herrscher zurückreichte, nicht leicht treffen. Vielfach hatten die Herrscherdynastien des Deutschen Reichs neben Privat- und Staatsvermögen auch noch ein sogenanntes Hausvermögen in Gestalt von Kunstschätzen und landwirtschaftlichen Domänen gebildet, das im Fall von Mecklenburg-Strelitz über die Hälfte der Landesflächen ausmachte, und dessen Kompensation auch im Falle Sachsens die Staatskasse schlicht gesprengt hätte, wie Ministerpräsident Erich Zeigner im Sächsischen Landtag eingestand. Angesichts dieser unklaren Rechtslage konnte der gestürzte Kaiser noch vor einer endgültigen Einigung mit Preußen das bewegliche Gut der Hohenzollern in 50, nach anderen Angaben sogar 62 Güterwagen aus Deutschland nach Doorn transportieren lassen, denen weitere 140 Möbelwagen auf dem Straßenweg folgten. In anderen Ländern des Deutschen Reiches kam es in den Folgejahren zu einer gütlichen Einigung, für die beispielhaft die Gründung des Wittelsbacher Ausgleichsfonds 1923 steht. Mit ihm brachten die Wittelsbacher ihre ehemaligen Vermögenswerte zusammen mit ihrem Privatvermögen in eine Stiftung ein, die zur Wahrung des kulturellen Erbes des entthronten Herrschergeschlechts und zur Deckung der Unterhaltskosten für seine Familienmitglieder errichtet wurde. Im Fall der Hohenzollern hingegen blieb die Vermögensauseinandersetzung lange strittig, nachdem erst Preußen und dann die Hohenzollernfamilie den jeweils vorgelegten Einigungsvorschlägen widersprochen hatten. Ein neuer Vergleichsentwurf von 1925 sprach dem Haus Hohenzollern etwa drei Viertel des umstrittenen Grundbesitzes zu und führte auf Reichsebene zu einem von der KPD initiierten Volksbegehren zur „Enteignung der Fürstenvermögen“, dem sich widerstrebend auch die SPD anschloss. Das Volksbegehren zeitigte durchschlagenden Erfolg – nicht nur in der Arbeiterschaft, sondern auch in katholischen und liberalen Kreisen war das Enteignungsbegehren, anders als beispielsweise in Bayern und Ostelbien, sehr populär. Überraschen konnte die verbreitete Empörung gegen die Fürstenentschädigung im Übrigen nicht, denn der Kompensationsanspruch der ehemals regierenden Fürsten stach grell gegen die kümmerlichen Unterstützungsgelder für Millionen von Kriegsopfern ab und ließ sich leicht als eklatantes Gerechtigkeitsproblem angreifen. Ein daraufhin eingebrachter Gesetzentwurf zur entschädigungslosen Enteignung scheiterte jedoch an der bürgerlichen Mehrheit im Reichstag und führte in dramatisch aufgeladener Stimmung zu einem Volksentscheid, der allerdings am 20. Juni 1926 nur eine relative Mehrheit erreichte. Damit blieb dem Volksentscheid, ungeachtet überwältigender Zustimmung der abgegebenen Stimmen, der Erfolg versagt. Denn zuvor hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg, der offen Partei für die Fürstenseite ergriff, das eingebrachte Gesetz als verfassungsändernd eingestuft und damit an eine absolute Mehrheit von Ja-Stimmen gebunden, zu der in der Auszählung dann 4,5 Millionen Stimmen fehlten. Der Volksentscheid trübte das öffentliche Bild der Hohenzollern weiter und führte nicht nur die tiefe Kluft zwischen Republikanern und Monarchisten bis hin zu dem offen parteilich agierenden Reichspräsidenten vor Augen. Er schürte auch die sozialen Spannungen und öffnete demagogische Agitationsräume – so sprach sich etwa Hitler zur nachhaltigen Irritation von Weggefährten wie Joseph Goebbels gegen eine Fürstenenteignung aus und forderte, statt der Fürsten besser die Juden zu enteignen. Dennoch ordnete sich der gescheiterte Volksentscheid in eine Linie ein, die auf die zunehmende Integration der vormals regierenden Fürstenhäuser in den rechtlichen und politischen Rahmen der Republik zielte. In Preußen kam es im Oktober 1926 zu einer Einigung, die den Hohenzollern gut 60 Prozent und dem preußischen Staat knapp 40 Prozent des beschlagnahmten Vermögens an Grund und Boden zusprach, dazu die Mehrzahl der Hohenzollernschlösser und weitere Vermögenswerte, unter ihnen Tausende von Kunstgegenständen. Vom Machtsymbol zum Erinnerungsort Der Vergleich bildete die Grundlage für eine allmähliche Musealisierung des Monarchischen. Wie in Bayern, wo die Wittelsbacher Landesstiftung für Kunst und Wissenschaft zur Verwalterin eines großen Teils der Bestände der Münchner Museen wurde, verschob sich auch der Fokus des öffentlichen Wirkens der Hohenzollern allmählich von der Restaurationspolitik zur Kulturpflege. Auf Grundlage der 1926 erfolgten Einigung wandelten sich die ehemaligen Residenzschlösser in Berlin zu Schlossmuseen, deren Interieur häufig nach musealen Gesichtspunkten aus dem früheren Nutzungszusammenhang entnommen und zur Verstärkung musealer Sammlungen an anderer Stelle verwendet wurde. Die museale Nachnutzung stellte, wie Marc Schalenberg argumentierte, „sozialpsychologisch gleichsam ein abfederndes Versöhnungsangebot“ dar, das mit der historischen Verortung der Hohenzollerndynastie auch die Möglichkeit zur betrachtenden Distanzierung von der einstigen Macht einer verblichenen Fürstenherrschaft bot. Die galt namentlich für eine besondere Erbschaft der Monarchie, das sogenannte Hohenzollern-Museum. Maßgeblich durch den späteren Hunderttage-Kaiser Friedrich gefördert, war nach der Reichseinigung im Berliner Schloss Monbijou ein Dynastiemuseum zur Verehrung des Hohenzollernhauses entstanden, das den Untertanen das Bild eines volksnahen und heroischen Herrschergeschlechtes nahebringen sollte. Über das im Herbst 1918 und noch vor Ausbruch der Revolution geschlossene Dynastiemuseum bestimmte der Einigungsvertrag, dass das im Eigentum der Hohenzollern verbliebene Hausmuseum unter staatlicher Obhut weiterbestehen und auch die den Hohenzollern gehörigen Sammlungsgegenstände präsentieren solle. Mit anderen Worten: Die Hohenzollern wollten ihr Privatmuseum auf Staatskosten als Mittel der öffentlichen Meinungsbildung genutzt wissen, und der preußische Staat ließ sich darauf ein. Was zunächst wie eine staatliche Demutsgeste wirkte, entpuppte sich allerdings als eine weitblickende Entscheidung. Denn unter der Regie seiner unabhängig agierenden Direktoren trug das Familienmuseum der Hohenzollern zu einer außerordentlichen Stärkung der nationalen Museumslandschaft bei. Die neugestalteten Räume wurden Zug um Zug ihrer „patriotischen Pietät“ entkleidet , und über das Privatleben der Hohenzollernfamilie erfuhren die in das Museum strömenden Besucher und Besucherinnen kaum noch etwas, dafür umso mehr von der höfischen Wohnkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Offizielles Porträtfoto zum 70. Geburtstag von Ex-Kaiser Wilhelm II in Doorn 1929. (© picture-alliance/AP) Vergleichbare Schritte zur dynastischen Abrüstung unternahmen auch die Mitglieder des entmachteten Kaiserhauses, nur dass sie in ihrem Fall Zug um Zug von der sozialen Machtverkörperung zur familiären Privatisierung führten. Schon der fest auf seine Rückkehr hoffende Ex-Kaiser präsentierte sich im Exil weniger als restaurationsbeflissener Ränkeschmied und Herold der Gegenrevolution, sondern vorzugsweise als Privatier, dessen größte Passion das Holzhacken war und der seine Sägeleistung gern zur Schau stellte. Der frühere Kronprinz Wilhelm trat in der Öffentlichkeit bevorzugt als Sportenthusiast und Lebemann in Erscheinung, und Prinz Oskar gab sich betont als Privatmann, der seine Freunde nicht nach dem Gotha, also dem Genealogischen Adelshandbuch, aussucht. In der nächsten Generation führte der Kaiserenkel Louis Ferdinand die individualisierende Abkehr von einem monarchischen Lebensentwurf schon im Titel seiner Memoiren vor und betonte, dass er sich nach der Entmachtung der Hohenzollern in Potsdam wie „in einem der Mausoleen“ gefühlt habe, „in denen meine Vorfahren beigesetzt waren. Der goldene Käfig aus kaiserlichen Tagen hatte lediglich einer freiwilligen Abschließung Platz gemacht. Meine Familie war sozusagen in den Ruhestand getreten; sie hatte die neue Situation de facto hingenommen, jedoch nicht de jure anerkannt.“ Er selbst hingegen bemühte sich in der Weimarer Zeit, dem überkommenen königlichen Lebensstil einen zeitgemäßen entgegenzusetzen: „Mit jugendlicher Übertreibung und Ausschließlichkeit kehrte ich der Vergangenheit den Rücken (...). Jeden historischen Hintergrund suchte ich in meinem bürgerlichen Leben auszulöschen“ – eine Haltung, die ihm nach eigener Auskunft auch in Ostpreußen während der NS-Zeit zugutekam: „Äußerlich waren unsere Beziehungen zu den NS-Behörden korrekt. Sie betrachteten mich als einen verhältnismäßig harmlosen Bürger, der ganz in seinem Familienleben aufging und nicht nur gegen den Nationalsozialismus, sondern gegen Politik überhaupt gleichgültig war.“ Die Rückkehr der Hohenzollern auf die politische Bühne Doch die allmähliche Integration des Hauses Hohenzollern in die bürgerliche Gesellschaft der Zeit nach 1918 bildet nur die eine Seite der Medaille. Denn neben dem kulturellen Monarchismus, der mit der Kraft des Faktischen eingehegt und überformt wurde, wirkte in der Weimarer Republik auch ein politischer Monarchismus, der seine starken Bastionen im Beamtentum wie in der Reichswehr hätte zur Geltung bringen können, um gezielt auf die Abschaffung der Weimarer Ordnung hinzuarbeiten. Mit der Rückübersiedlung des ehemaligen Kronprinzen nach Deutschland wurde die politische Bühne Weimars zudem seit Ende 1923 um einen Akteur ergänzt, der die vielen unterschiedlichen Monarchiehoffnungen auf ein wenigstens in Umrissen erkennbares Volkskönigtum bündelte und vor allem den stärksten Mangel jeder legitimistischen Restaurationspolitik beseitigte: Im Gegensatz zu seinem in Doorn festgehaltenen Vater stand Wilhelm jr. als Kronprätendent im Wartestand politisch zur Verfügung. Vor allem aber haftete ihm nicht das auch in nationalkonservativen Kreisen gepflegte Odium des kaiserlichen Thronflüchtlings an, der im Herbst 1918 Volk und Heer im Stich gelassen hatte, um sich ins Exil zu retten, statt an der Spitze seiner Truppen gegen die Revolution in der Heimat zu marschieren oder den Heldentod an der Front zu suchen. Doch so stark und machtvoll der Monarchismus als kulturelle Strömung wirkte und auch in der Republik an „Kaiserwetter“ und „Kaisergeburtstag“ festhielt, so schwach blieb er auch in der späteren Weimarer Republik als politische Bewegung. In zutreffender Einschätzung der Lage umriss der frühere Freikorpsführer Hermann Ehrhardt diesen Zustand 1926 in seinem politischen Arbeitsprogramm: „Wir lehnen es ab, mit dem Gedanken an die Wiedererrichtung der Monarchie zu spielen. Grundsätzlich die Monarchie für die bessere Staatsform haltend, sind wir davon überzeugt, dass die Aufwerfung der monarchischen Frage in jetziger Zeit den Todesstoß für die Monarchie bedeuten würde.“ Erst 1970 erfuhr die Öffentlichkeit, dass Reichskanzler Heinrich Brüning ausweislich seiner posthum erschienenen Memoiren insgeheim auf die Wiedereinführung der Monarchie hingearbeitet haben wollte – was allerdings nicht einmal seine engsten Mitarbeiter bestätigen konnten und in der Forschung heute als unglaubwürdige Selbstrechtfertigung eines Weimarer Totengräbers bewertet wird. In seinem holländischen Exil bar jeden Einflusses auf die Politik der Weimarer Republik, sah sich der abgedankte Kaiser im Bannkreis seiner zweiten Frau Hermine von Schönaich-Carolath auf erbitterte Ausbrüche ohnmächtiger Wut gegen die Republik beschränkt, die Besucher und Besucherinnen des Hauses Doorn häufig in ihrer Radikalität und Realitätsverkennung gleichermaßen erschreckte. Die Novemberrevolution erschien ihm als „ein Verrath des von dem Judengesindel getäuschten belogenen Deutschen Volkes gegen Herrscherhaus u. Heer“, für das es nach seiner Rückkehr schwer gestraft würde. Den ersten Jahrestag seines Sturzes beging er mit den Worten, dass die „Revolutionshelden“ alle gehängt werden müssten, und die Ermordung Matthias Erzbergers 1921 ließ ihn vor Freude beinahe tanzen. „Jedenfalls hat solange ich beim Kaiser bin, kein Ereignis beim Kaiser einen so grossen Jubel ausgelöst wie dieses“, berichtete Wilhelms Leibarzt konsterniert. Kaum weniger verächtlich reagierte der Ex-Monarch ein Jahr später auf die Ermordung des deutschen Außenministers und kommentierte Rathenaus Tod gegenüber dem deutschen Botschafter in Den Haag mit einem kühlen „Ist ihm ganz recht geschehen", wie Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch notierte. Zu Wilhelms überraschend feindseliger Haltung gegenüber einem der führenden Köpfe des Wilhelminischen Zeitalters, mit dem er bis 1914 etwa zwanzigmal zu Vorträgen und Unterredungen zusammengetroffen war , mochte beigetragen haben, dass Rathenau gleich nach Kriegsende ein ungeschminktes Porträt des Kaisers gezeichnet hatte, das dessen öffentlichen Ansehensverlust verstärkte. Rathenaus Analyse fiel umso unbarmherziger aus, als er die „zerrissene Natur“ des seiner Aufgabe nicht gewachsenen Monarchen weniger auf dessen persönliche Unzulänglichkeit als auf die unheilvolle Anbetung seiner „prusso-mechanischen“ deutschen Bevölkerung zurückführte , für die er freilich zwei Jahrzehnte zuvor mit einem beflissenen Vortrag vor dem Kaiser über elektrische Alchemie selbst kein geringes Beispiel gegeben hatte. Sich selbst sah der entmachtete Kaiser als Opfer einer jüdischen Weltverschwörung, gegen die er als „das beste Heilmittel“ ein „reguläres internationales Allerweltspogrom à la Russe“ empfahl und gegen die er 1927 in einem eigenhändigen Schreiben an einen amerikanischen Freund Worte fand, die zu der Zeit selbst in der nationalsozialistischen Kampfpresse kaum zu lesen waren: „Die Presse, Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muß. I believe the best would be gas?“ Wilhelms bedeutendster Biograph John Röhl hat mit Blick auf auch solche Äußerungen eine Kontinuitätslinie zwischen der Wilhelminischen Ära und dem Dritten Reich gezogen, die den exilierten Monarchen als Bindeglied zwischen Zweitem und Drittem Reich auffasst, der „in Hitler seinen Vollstrecker“ sah. Diese zugespitzte Sicht, die die Korrespondenz zwischen Isolation und Erbitterung des in seinen Hass- und Revanchefantasien eingesponnenen Kaisers a. D. außer Acht lässt, ist in der Forschung eher skeptisch aufgenommen worden. In der Tat hatte derselbe Hohenzollernchef, der 1927 das Judentum im Stile des nationalsozialistischen „Stürmers“ schmähte, bis zu seiner Abdankung enge Kontakte mit prominenten Juden von Albert Ballin bis Walther Rathenau unterhalten und wurde von völkischen Autoren wie Heinrich Claß als besonders instinktloser „Gönner der Juden“ beschimpft. Auch sein Urteil über Hitler schwankte beständig zwischen Anerkennung und Ablehnung , ebenso wie er Göring zugleich hofierte und als eitlen Parvenu verachtete, dessen Beförderung zum General ihn in Wut versetzte, wie sein Flügeladjutant Sigurd von Ilsemann in seinen durchweg schonend gehaltenen Aufzeichnungen bezeugte. Noch in seinen letzten Lebensjahren vermochte Wilhelm sich bei Kriegsausbruch 1939 erregt über die „Schmach und Schande“ auszulassen, „daß Deutschland – und vor allem die Armee – sich diesen gemeinen Kerl mit seinen Komplizen so lange gefallen ließe“, und beglückwünschte im folgenden Sommer Hitler hymnisch „zu dem von Gott geschenkten gewaltigen Sieg mit den Worten Kaiser Wilhelms des Großen: Welch eine Wendung durch Gottes Fügung.“ Warten auf die Restauration Stetig blieb der Ex-Kaiser lediglich in seinem Bestreben, mithilfe antirepublikanischer Kräfte wieder auf seinen angestammten Thron zurückkehren zu können. Die Hoffnung auf Wiedererrichtung der Monarchie mit ihm an der Spitze durchzog sein Denken im Exil von dem Tag an, an dem er sich vor der Auslieferung an die Entente sicher fühlte, bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, mit dem er die Hoffnung auf eine Empörung des deutschen Volkes gegen Hitlers Alleinherrschaft verband. Alle zu Hause seien „zu schlapp“, befand er nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923 und befand optimistisch: „Es bedarf ja nur eines kleinen Stoßes, und die Regierung fliegt, um den alten Verhältnissen Platz zu machen.“ Doch die Haus Doorn durchwehende Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie, die dem exilierten Herrscher Gelegenheit geben würde, die Dinge daheim „schon wieder in Schwung (zu) bringen als Diktator“, sah sich Jahr um Jahr enttäuscht, bis dann der nationalsozialistische Aufstieg endlich den ersehnten Umschwung zu bringen schien: „In Doorn hört man seit Monaten nur noch, daß die Nationalsozialisten den Kaiser auf den Thron zurückbringen würden; alles Hoffen, alles Denken, Sprechen und Schreiben gründet sich auf diese Überzeugung“, beobachtete Ilsemann Ende 1931. Zweimal ließ sich der Ex-Monarch dazu bringen, Hermann Göring in Doorn zu empfangen, um die NS-Bewegung hinter sich und seine Rückkehrambitionen zu bringen, und sah sich mit der von ihm mit Befriedigung aufgenommenen Regierungsübernahme am 30. Januar 1933 kurz vor dem Ziel, auf den Thron zurückgerufen und gleichsam als siegreicher Dritter aus dem Kampf zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten hervorzugehen. Erst als Hitler vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes im Reichstag erklärte, dass er „die Frage einer monarchischen Restauration (...) zur Zeit als indiskutabel“ ansehe, sah sich Wilhelm von einer Sekunde auf die andere seiner Hoffnungen beraubt: „Das saß wie ein Blattschuß“, hielt Wilhelms Adjutant fest. „Ich beobachtete den hohen Herrn ganz genau, seine Züge strafften sich, die Augen wurden ganz groß, mehr als das eine Wort: ‚So!‘ brachte er nicht über seine Lippen. Wie er das sagte, klang es wie die Bestätigung eines Verurteilten, der seinen Urteilsspruch vernimmt.“ Fortan nahm Wilhelm Abschied von der Vorstellung, seine Restaurationshoffnungen auf die NS-Bewegung zu gründen. Ende 1933 notierte Ilsemann als Standpunkt des Ex-Kaisers, „daß man sich dem neuen System restlos feindlich gegenüberstellen müsse, daß man Hitler auch nicht helfen dürfe, sondern daß man abwarten müsse, bis die Nazis kaputt seien, um dann den Thron wieder zu besteigen“. Das Verbot monarchistischer Organisationen nach Wilhelms 75. Geburtstag 1934 schließlich ließ dessen Begeisterung über den Zerfall der Weimarer Republik weiter abkühlen. Fortan ging der enttäuschte Ex-Kaiser auf Distanz zu Hitler, den er nur mehr als früher oder später scheiternden Konkurrenten betrachtete, und erst dessen Siege über Polen und Frankreich brachten ihn ab 1939 wieder zum Jubeln über Deutschlands erneuerte Größe. Kronprinz Wilhelm und der Nationalsozialismus Kronprinz Wilhelm von Preußen 1933 So erwies sich der gestürzte Monarch, dem der eigene Sohn attestierte, dass er „von erschreckender Weltfremdheit“ sei , in seiner notorischen und grotesken Fehlperzeption als eine weitgehend wertlose Figur auf dem Spielfeld der Weimarer Republikfeinde. Allerdings hatte auch der frühere Kronprinz und „frische Lebemann“ Wilhelm nicht die Statur, um das von seinem Vater hinterlassene „politische und symbolische Vakuum“ zu füllen, wenngleich die Rolle, die er in der Spätphase der Weimarer Republik spielte, bis heute in der Forschung umstritten ist. Ihre Bewertung berührt zusammen mit der historischen Einordnung bekanntlich auch eine politisch und vermögensrechtlich immer noch aktuelle Frage, seitdem der Bund im Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 Personen, die dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub“ geleistet hätten, von jeder Entschädigung für besatzungsrechtlichen oder besatzungshoheitlichen Vermögensverlust ausgeschlossen hat. Was unter Vorschubleistung genau zu verstehen sei, wurde im sogenannten Hugenberg-Urteil 2005 durch die Kriterien einer „gewissen Stetigkeit“ und einer „nicht ganz unbedeutend(en) Wirkung“ präzisiert und ist auf die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme eingegrenzt worden. Beide Kriterien wird man im Fall der Hohenzollern für erfüllt ansehen müssen. Nicht nur der ehemalige Kaiser hatte sich bis zu seinem abrupten Schwenk im März 1933 zur Unterstützung Hitlers bekannt, weil dessen Bewegung „nationale Energie“ verkörpere, „die uns Deutsche wieder aufwärts führen“ werde. Sein Sohn Wilhelm warb nicht erst nach dem nationalsozialistischen Machtantritt in den USA für eine Anerkennung Hitlers als Retter der zivilisierten Welt. Schon 1928 hatte er den italienischen Faschismus als „eine fabelhafte Einrichtung“ gerühmt, deren „geniale Brutalität“ dafür gesorgt habe, dass „Sozialismus, Kommunismus, Demokratie und Freimaurerei (...) ausgerottet (sind) und zwar mit Stumpf und Stil [sic!]“.fussnote id="56">Zit. n. von Preußen, „Gott helfe unserem Vaterland“, S. 209. Folgerichtig protestierte Wilhelm bei Reichswehrminister Wilhelm Groener im April 1932 energisch gegen das von der Reichsregierung verfügte Verbot von SA und SS, das ein „wunderbares Menschenmaterial“ zerschlage, und er sondierte in derselben Zeit auf Schloss Cecilienhof eine Machtteilung mit Hitler, falls er sich selbst für die Wahl zum Reichspräsidenten zur Verfügung stellen würde. Nachdem diese Kandidatur am Einspruch seines Vaters in Doorn gescheitert war, der um jeden Preis verhindern wollte, dass ein Hohenzoller im Fall seiner Wahl einen Eid auf die Republik hätte schwören müssen, verlegte Wilhelm sich auf eine Unterstützung seines vermeintlichen Bündnispartners und gab bekannt, dass er im zweiten Wahlgang Hitler wählen werde. Unabhängig von der Frage, ob dieser Aufruf Hitler im zweiten Wahlgang zwei Millionen Stimmen eingebracht – wie der Kronprinz selbst behauptete – oder vielmehr gekostet haben mag, wie in der Forschungsdiskussion geltend gemacht worden ist, lässt sich diese Handlung schwerlich anders denn als willentliche Unterstützung interpretieren. Eine solche Sicht kann sich auch auf die hier aufschlussreichen Tagebucheinträge von Joseph Goebbels stützen, der seine ursprüngliche Aversion gegenüber dem Kronprinzen, über den er am 10. Februar 1933 überaus abfällig „Ein Anschmeißer! Brechreiz!“ geurteilt hatte, nur einen Monat später gründlich revidierte und Wilhelms Eintreten für die NS-Regierung in den USA als maßgebliche Unterstützung einstufte: „Greuelpropaganda: Kronprinz hilft mir sehr durch einen offenen Brief (...).” An Goebbels‘ schwankendem Hohenzollernbild lässt sich aber zugleich zeigen, dass die historische Fachwissenschaft nicht mit der juristischen Urteilsfindung deckungsgleich sein kann, in die sie in Folge des Hugenberg-Urteils unglücklicherweise hineingezogen worden ist, sondern der notwendigen Eindeutigkeit der Rechtsprechung das Bemühen um inhaltliche Differenzierung und zeitliche Kontextualisierung entgegensetzen muss. Derselbe Goebbels, der sich Anfang August so dankbar für die Unterstützung des Kronprinzen zeigte, hatte nur wenige Tage zuvor selbst unterstrichen, dass das Haus Hohenzollern offenbar ganz andere Ziele verfolgte als die zur Macht gelangte NS-Elite: „Unterredung Kronprinz. Frage Monarchie. Die glauben alle an ihre Restaurierung. Ich habe keinen Hehl gemacht. Wäre unsere größte Dummheit.“ Entgegen einer teleologischen Betrachtung, die ungeprüft von der Wirkung auf die Absicht schließt, bleibt festzuhalten, dass Hitler und die Hohenzollern sich auf der Grundlage von ideologischer Nähe und politischer Konkurrenz wechselseitig für ihre Zwecke einzuspannen suchten. Um sich die Unterstützung durch den Kronprinzen zu sichern, hatte ihm Hitler bereits 1926 so listig wie lügnerisch versichert, allein die Wiederherstellung der Hohenzollernmonarchie anzustreben. Aber auch Wilhelm spielte mit unterschiedlichen Karten und war sich, anders als sein 1930 in die NSDAP eingetretener und ein Jahr später in der SA zum Standartenführer aufgestiegenen Bruder August Wilhelm, lange unschlüssig, ob er mehr auf den mit ihm befreundeten Hindenburg-Intimus Kurt von Schleicher oder aber auf den rabaukenhaften Hitler setzen sollte. Der Tag von Potsdam Das Finale dieses Ringens um gegenseitige Indienstnahme fand bei einem Staatsakt am 21. März 1933 in Potsdam statt, der der anschließenden Reichstagseröffnung in der Berliner Krolloper vorausging und symbolpolitisch das letzte Erlöschen der seit 1930 in Agonie verfallenen Weimarer Republik markiert. Am „Tag von Potsdam“, der bis heute vorwiegend und verkürzt als eine von Hitler und Goebbels listig inszenierte „Rührkomödie“ (François-Poncet) begriffen wird, betraten die unterschiedlichen Der Handschlag von Adolf Hitler und Paul von Hindenburg am Tag von Potsdam. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library/WEIMA) Umgestaltungshoffnungen von Monarchisten und Nationalsozialisten die Potsdamer Garnisonkirche in effektvollem Mummenschanz – Hitler linkisch im ungewohnten Frack und Zylinder statt im Braunhemd; der ehemalige Kronprinz in der Uniform des ihm früher unterstellten Husarenregiments „Wilhelm Kronprinz“. Die Umstände sprachen für die monarchische Reaktion und nicht für die braune Revolution; das den Hohenzollern so eng verbundene Potsdam präsentierte sich überwiegend in Schwarz-Weiß-Rot statt in der Hakenkreuzfahne, und zum öffentlichen Sieger dieses Tages avancierte nicht Hitler, sondern der messianisch verehrte Hindenburg, der schon vor dem Staatsakt eine Triumphfahrt durch die Stadt unternommen hatte und unter dem Jubel der Massen anschließend noch eine Parade abnahm, als Hitler schon längst wieder eilig nach Berlin entschwunden war. Doch das von Vizekanzler Franz von Papen verfolgte Zähmungskonzept, das Hitlers Massenbewegung für einen ständischen und monarchischen Umbau der Republik in Dienst zu nehmen hoffte, hatte der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer raschen Gesellschaftsdurchdringung außer leerer Symbolik nichts entgegenzusetzen. Vergeblich hoffte an diesem Tag noch im fernen Doorn Wilhelm II., als triumphierender Dritter aus dem Kampf zwischen Demokratie und Hitler-Diktatur hervorzugehen. Doch seine Hoffnung, als „der einzige Unparteiische“ nun unverzüglich zurückberufen zu werden und dafür den „Nazi-Schwung“ mitzubenutzen , stand in groteskem Gegensatz zur politischen Wirklichkeit in den Wochen des nationalsozialistischen Machtausbaus. Er „habe bestimmt nicht die Absicht, als Rennpferd für einen kaiserlichen Jockey zu dienen, der ausgerechnet in dem Augenblick, in dem ich die Ziellinie passiere, auf meinen Rücken springen will“, bekannte Hitler unmittelbar vor seiner Betrauung mit der Regierung. Am Ende gelang es den Hohenzollern nicht, die „NS-Bewegung als trojanisches Pferd der Restauration" (Stephan Malinowski) zu nutzen; vielmehr bedienten sich die Nazis erfolgreich des monarchischen Renommees, solange es ihnen dienlich war, und sie machten den fundamentalen Unterschied von brauner Revolution und monarchischer Reaktion handgreiflich sichtbar, als sie fest im Sattel saßen – ein Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden die monarchistischen Vereinigungen verboten. Wenig später erstickte die als „Röhm-Putsch“ in die Geschichte eingegangene Säuberungsaktion innerhalb der deutschen Rechten die letzten Illusionen der Monarchisten. Die Hohenzollern verschwanden aus dem Blick der Öffentlichkeit; auch der zum Gruppenführer aufgestiegene Hohenzollernprinz August Wilhelm sah sich kaltgestellt. Prinz Wilhelm selbst trat 1936 aus dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) aus, nachdem er infolge eines überschwänglichen Gratulationstelegramms an Mussolini für dessen Sieg in Abessinien unter Zensur gestellt worden war. In der Folge machte er nur noch durch sporadische Glückwunschtelegramme an Hitler von sich reden, in denen er Hitler 1939 zur Angliederung Böhmens und Mährens ebenso gratulierte wie 1940 zu seinen Siegen über Polen, Belgien und Frankreich. Zum aktiven Widerstand fanden die Hohenzollern im Gegensatz etwa zu den Habsburgern oder den Wittelsbachern nicht. Einzig Louis Ferdinand ließ sich, folgt man seinen Memoiren, seit November 1939 passiv in Planungen des militärischen Widerstands einbinden und zeigte sich 1943 sogar bereit, für den Fall eines Regimesturzes als Kronprätendent zur Verfügung zu stehen, sofern sein Vater dem zustimme. Der aber erklärte, „sich allen derartigen Bewegungen ferngehalten“ zu haben, und riet dies auch seinem Sohn, der in der Folge auch nicht in das Attentat vom 20. Juli 1944 involviert war. Die Hohenzollern teilten so das Schicksal der monarchistischen Bewegung nach 1918 insgesamt. In ihrem Traum von der Wiederaufrichtung eines erneuerten Volkskönigtums hatte das monarchistische Lager die nationalsozialistische Bewegung zunächst als Konkurrenz angesehen und sich ihr dann 1933 begeistert zugewandt, weil es glaubte, „dass dank Hitler die Restauration der Hohenzollernmonarchie unmittelbar bevorstehe“, wie der „Bund der Aufrechten“ verlautbarte, in dem Prinz Eitel Friedrich Mitglied war. Als sich dies als Fehlspekulation erwies, zogen sich die Mitglieder des aufgelösten Bundes in eine enttäuschte Halbdistanz zurück, die infolge der vielen ideologischen Gemeinsamkeiten aber durch Hitlers außenpolitische Erfolge und militärische Siege immer wieder in enthusiastische Zustimmung umschlagen konnte. Zitierweise: Martin Sabrow, "Die Hohenzollern und die Demokratie nach 1918 Teil I", in: Deutschland Archiv, 18.12.2020, Link: www.bpb.de/324774. Interner Link: Hier können Sie den Teil II des Beitrages lesen >> Berlin, Revolution 1918/19. Soldaten des Arbeiter und Soldatenrats mit ihrem gepanzerten Fahrzeug im Hof des Berliner Stadtschlosses. Offizielles Porträtfoto zum 70. Geburtstag von Ex-Kaiser Wilhelm II in Doorn 1929. (© picture-alliance/AP) Kronprinz Wilhelm von Preußen 1933 Der Handschlag von Adolf Hitler und Paul von Hindenburg am Tag von Potsdam. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library/WEIMA) Zur Problematik der auf Distanz zum NS-Regime bedachten Ich-Erzählung Louis Ferdinands: Karina Urbach, Nützliche Idioten. Die Hohenzollern und Hitler, in: Thomas Biskup/Truc Vu Min/Jürgen Luh (Hg.), Preußendämmerung. Die Abdankung der Hohenzollern und das Ende Preußens. Heidelberg 2019, S. 65-93, hier S. 74. Thomas Biskup/Martin Kohlrausch, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Erbe der Monarchie. Nachwirkungen einer deutschen Institution seit 1918, Frankfurt a. M. 2018, S. 11-34, hier S. 30. Anmaßende und ungeschickte Äußerungen Wilhelms II. über das deutsch-britische Verhältnis, die am 28. Oktober 1908 als Interview im Londoner „Daily Telegraph“ erschienen, sorgten für Empörung in der deutschen Öffentlichkeit und wurden auch von Seiten Großbritanniens, Russlands und Frankreichs als diplomatische Taktlosigkeit empfunden. Der „Telegraph“-Artikel löste eine Staatskrise aus, in deren Zuge Reichskanzler Bernhard von Bülow, dem der Text vorab zur Durchsicht vorgelegen hatte, seinen Rücktritt anbot und auch Forderungen nach einer Abdankung des Kaisers laut wurden. Dem Kaiser. Zum 27. Januar, in: Deutsche Tageszeitung, 27.1.1919. Angelika Obert, Auguste Victoria. Wie die Provinzprinzessin zur Kaiserin der Herzen wurde, Berlin 2011, S. 91 ff. Bundesarchiv, R 43 I/1363, Nr. 152, Kabinettssitzung vom 11.1.1921. Die Trauerfeier in Potsdam, in: Vossische Zeitung, 19.4.1921, Morgen-Ausgabe (M.-A.). Kundgebungen in Potsdam, in: ebd., 20.4.1921, M.-A. Der Kaiserin Heimkehr, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 19.4.1921, M.-A. Kundgebungen in Potsdam, in: Vossische Zeitung, 20.4.1921, M.-A. Die Beisetzung der Kaiserin, in: ebd., 19.4.1921, Abend-Ausgabe (A.-A.). Die Beisetzung der Kaiserin, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 19.4.1921, A.-A. Kundgebungen in Potsdam, in: Vossische Zeitung, 20.4.1921, M.-A. Martin Sabrow, Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt/M. 1999, S. 98 ff. Die Kaiserstatue in der Wandelhalle, in: Vossische Zeitung, 27.6.1922, M.-A. Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 8.7.1922. Ebd. Der Westen, 5.10.1922. Lothar Machtan, Der Kaisersohn bei Hitler, Hamburg 2006, S. 96. Rainer Stentzel, Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik. Der Streit um die sogenannte Fürstenenteignung, in: Der Staat 39 (2000) 2, S. 275-297, hier S. 275 f. Cajetan von Aretin, Vom Umgang mit gestürzten Häuptern: Zur Zuordnung der Kunstsammlungen in deutschen Fürstenabfindungen 1918-1924, in: Biskup/Kohlrausch (Hg.), Das Erbe der Monarchie (Anm. 2), S. 161-183, hier S. 162. Sigurd von Ilsemann, Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flügeladjutanten Kaiser Wilhelms II., Bd. 1: Amerongen und Doorn. 1918-1923, hg. von Harald von Koenigswald, München 1967, S. 114; Marc Schalenberg, Schlösser zu Museen: Umnutzungen von Residenzbauten in Berlin und München während der Weimarer Republik, in: Biskup/Kohlrausch (Hg.), Das Erbe der Monarchie (Anm. 2), S. 184-199, hier S. 189. Schalenberg, Schlösser zu Museen (Anm. 21), S. 198. Ich folge hier und im Weiteren der luziden Analyse von Jürgen Luh, Eine Erbschaft der Monarchie: Das Hohenzollern-Museum, in: Biskup/Kohlrausch (Hg.), Das Erbe der Monarchie (Anm. 2), S. 200-216. Ebd., S. 210. Louis Ferdinand Prinz von Preußen, Die Geschichte meines Lebens, Göttingen 21969, S. 66 f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 290. Zur Unterscheidung zwischen einem „Monarchismus im weiteren“ bzw. „im engeren Sinne“ siehe Arne Hofmann, Obsoleter Monarchismus als Erbe der Monarchie: Das Nachleben der Monarchie im Monarchismus nach 1918, in: Biskup/Kohlrausch (Hg.), Das Erbe der Monarchie (Anm. 2), S. 241-260, hier S. 242. Zur Bedeutung der Kaiserflucht für die „Dekomposition des adligen Weltbilds“: Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Berlin 32003, S. 228 ff. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Zur Beurteilung des „Monarchismus“ in der Weimarer Republik, in: Gotthard Jasper (Hg.), Tradition und Reform in der deutschen Politik, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, S. 138-186. Institut für Zeitgeschichte, Archiv, Ed 414, Nl, Herbert Frank, Nationale Einheit tut not. Arbeitsprogramm des Kapitän Ehrhardt und der ihm angeschlossenen Verbände, März 1926. Andreas Rödder, Dichtung und Wahrheit. Der Quellenwert von Heinrich Brünings Memoiren und seine Kanzlerschaft, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 77-116, hier S. 116. John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941, München 2008, S. 1278. Zit. n. ebd., S. 1279. Harry Graf Kessler, Tagebücher: 1918-1937, hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt/M. 2003, S. 386 (Eintrag vom 3. April 1923). Die Angabe nach Rathenaus eigenem Zeugnis: Walther Rathenau, Der Kaiser. Eine Betrachtung, Berlin 1919, S. 26. Ebd., S. 27 u. 29. Rathenaus Gesamturteil: „Nie hat eine Epoche mit größerem Recht den Namen ihres Monarchen geführt. Die Wilhelminische Epoche hat am Monarchen mehr verschuldet als der Monarch an ihr; sie waren verstrickt in Leben und Tod, und wie beim Holzscheit Meleagers war der Brand des einen das Ende des andern.“ Ebd., S. 44. Hans Dieter Hellige, Wilhelm II. und Walther Rathenau, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 19 (1968) 9, S. 538-544. Wilhelm II. an Poultney Bigelow, 15.8.1927, zit. n. Lamar Cecil, Wilhelm II., Bd. 2: Emperor and exile, 1900-1941, London 1989, S. 311 f.; Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund (Anm. 33), S. 1295. “Wilhelm II. sah in Hitler seinen Vollstrecker”. Biograph John Röhl erklärt, inwieweit Deutschlands Ex-Monarch in den Nazis seine politischen Erben sah, in: Süddeutsche Zeitung, 4.6.2011. Vgl. Michael Epkenhans, Rezension von: John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941, München 2008, in: sehepunkte 9 (2009) 4, 15.4.2009, http://www.sehepunkte.de/2009/04/14559.html, zuletzt aufgerufen am 14.12.2020; Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, S. 325. Daniel Frymann (i.e. Heinrich Claß), Wenn ich der Kaiser wär‘. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912. Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen, „Gott helfe unserem Vaterland“. Das Haus Hohenzollern 1918-1945, München 22003, S. 85 ff. Sigurd von Ilsemann, Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flügeladjutanten Kaiser Wilhelms II., Bd. II. Monarchie und Nationalsozialismus 1924-1941, hg. von Harald von Koenigswald, München 1968, S. 229 (Eintrag vom 3.9.1933). Ebd., S. 332 (Eintrag vom 26.8.1939). Telegramm Wilhelms an Adolf Hitler, 17.6.1940, zit. n. ebd., S. 345. Wilhelms I. tatsächliche Äußerung lautete: „Welch‘ eine Wendung durch Gottes Führung!“ Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund (Anm. 33), S. 1281. Ilsemann, Der Kaiser in Holland, Bd. II (Anm. 44), S. 175. Ilsemann, ebd., S. 216 (Eintrag vom 21. März 1933). Ebd., S. 239 (Eintrag vom 26. November 1933). Zit. n. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund (Anm. 33), S. 1298. Malinowski, Vom König zum Führer (Anm. 29), S. 229. Urteil vom 17.03.2005 - BVerwG 3 C 20.04, https://www.bverwg.de/170305U3C20.04.0, zuletzt aufgerufen am 14.12.2020. Zit. n. Urbach, Nützliche Idioten (Anm. 1), S. 75. Kronprinz Wilhelm an Lord Rothermere, 20.6.1934, zit. n. Franz zu Hohenlohe, Stephanie. Das Leben meiner Mutter, München 1991, S. 100 f. Christopher Clark, Hat Kronprinz Wilhelm dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet?, http://www.hohenzollern.lol/gutachten/clark.pdf, zuletzt aufgerufen am 27.11.2020; Wolfram Pyta/Rainer Orth, Gutachten über die politische Haltung und das politische Verhalten von Wilhelm Prinz von Preußen (1882-1951), letzter Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen, in den Jahren 1923 bis 1945, S. 51 ff., http://www.hohenzollern.lol/gutachten/pyta.pdf, zuletzt aufgerufen am 27.11.2020. Eintrag vom 10.2.1933, in: Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I, Band 2/III, Oktober 1932-März 1934, München 2006, S. 126. Eintrag vom 25.März 1933, in: ebd., S. 155. Eintrag vom 5. August 1933, in: ebd., S. 241. Urban, Nützliche Idioten (Anm. 1), S. 84. Zit. n. Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen, Das Haus Hohenzollern 1918-1945, München/Wien 1985, S. 119. So gab Goebbels einen Ausspruch Hitlers wieder. Vgl. Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I, Band 2/III, S. 98, Eintrag vom 4.1.1933. Zum anlassgebenden Tumult während einer Berliner Feierveranstaltung zum 75. Geburtstag Wilhelms II. am 27. Januar 1934 s. Malinowski, Vom König zum Führer (Anm. 29), S. 511 f. Louis Ferdinand Prinz von Preußen, Die Geschichte meines Lebens (Anm. 25), S. 259 f. u. 298 ff. Hofmann, Obsoleter Monarchismus (Anm. 28), S. 254.
Article
Martin Sabrow
"2022-02-07T00:00:00"
"2020-12-18T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/324774/die-hohenzollern-und-die-demokratie-nach-1918-i/
In Teil I seines Beitrages setzt sich Martin Sabrow mit dem politischen Agieren einzelner Mitglieder des früheren Herrscherhauses Hohenzollern auseinander. Er beschreibt, wie lange Ex-Kaiser Wilhelm II. in seinem Exil im niederländischen Doorn daran
[ "Hohenzollern", "Deutsches Reich" ]
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Grenzen - ihre Bedeutung für Stadt und Architektur | Architektur der Gesellschaft | bpb.de
Einleitung "Keine Haut, keine Barrieren, kein Schutz. Die Grenzen sind wichtig."(Siri Hustvedt, Die Leiden eines Amerikaners) Wir sind es mittlerweile gewohnt, die globalisierte Welt als eine grenzenlose zu denken. Grenzen erscheinen dabei stets als unerwünschte Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit Geld- und Warenströme ungehindert fließen können. Entgegen dieser gegenwärtig weit verbreiteten Perspektive will der folgende Beitrag an die fundamentale Bedeutung der Grenzen erinnern, die diese für die Konstituierung des Sozialen hat. Die Stadt und ihre Grenzen Der städtische Raum ist - wie jeder Raum - das Ergebnis einer Grenzziehung. Jede Stadt grenzt sich von einer sie umgebenden Umwelt ab. Von der Antike bis in die Neuzeit fungieren Mauer, Wall und Graben als Grenzen der befestigten Städte. Durch diese Abschließungsarchitektur erreichen sie einen Grad an Sicherheit, den es in Dörfern nicht geben konnte. Die Abschirmung nach Außen darf man sich jedoch nicht als einen einseitigen Rückzug ins Geschlossene vorstellen. Mit Hilfe der Grenze wird vielmehr ein Eigen- von einem Fremdraum unterschieden. An den in Mauern eingelassenen Toren wird über Einlass oder Nicht-Einlass zu diesem Eigenraum entschieden. Das ist die elementare Funktion jeder Grenze, die generell nicht für totale Abschottung steht, sondern für die Organisation von Inklusion und Exklusion, Einschluss und Ausschluss zuständig ist. Eine unüberwindbare Grenze ist ein Widerspruch in sich. Die Überschreitung ist der Grenze gewissermaßen eingeschrieben. Insofern ist jede Grenzüberschreitung keine Zweckentfremdung der Funktion der Grenze, sondern eine Erfüllung ihres ureigensten Programms. Erst in der Möglichkeit ihrer Überwindung bestätigt sich die Existenz der Grenze. An der historischen Entwicklung der Städte lässt sich ablesen, dass ein reger Grenzverkehr zwischen Innen und Außen nicht zum Verschwinden, sondern zum ständigen Hinausschieben, also zur Neuerrichtung von Grenzen geführt hat. Immer neue, sich jenseits der Mauern befindliche Areale, wurden nach und nach ins Innere verlegt und integriert. Die Errichtung einer Stadt geht mit der Ziehung einer Grenzlinie einher, die jedoch nicht nur einen Stadtraum schafft, der sich aus seiner Umwelt herauslöst und von dieser unterscheidet, sondern auch einen ländlichen Raum hervorbringt, der nicht mehr derselbe ist wie zuvor. Erst die Entstehung der befestigten Städte als Sicherheitsbollwerke lässt die Dörfer als unsichere Siedlungsstruktur erscheinen; erst die städtische Lebensweise bringt einen ländlichen Lebensstil hervor und erst das rasante Tempo in der Stadt lässt das Treiben im Dorf langsam erscheinen. Das Ziehen einer Grenze sorgt stets auf beiden der durch sie getrennten Seiten für eine Veränderung. Die Errichtung eines Innen hat somit nicht nur Auswirkungen auf ein Außen, sie schafft überhaupt erst dieses Außen, auf das es stets bezogen bleibt. Die Grenze markiert den Unterschied zwischen Innen- und Außenraum. Die Grenze gegenüber dem ländlichen Raum bleibt indes nicht die einzige Grenze, welche die Stadt ausmacht. Vielmehr kommt es auch innerhalb des Stadtraums zur Ziehung von Grenzen, die einzelne Quartiere voneinander unterscheiden. Diese Segregation lässt sich über die gesamte Geschichte der Stadt hinweg beobachten und kann die verschiedensten Formen annehmen. In der mittelalterlichen Stadt konzentrieren sich verschiedene Handwerke in verschiedenen Quartieren. Asiatische Städte weisen eine Segregation nach Religionszugehörigkeit auf. In amerikanischen Städten bilden sich Quartiere entlang der ethnischen Zugehörigkeit. Darüber hinaus gliedern sich Städte in verschiedene Viertel, die von sich sozial nah stehenden Bevölkerungsgruppen gebildet werden. So gibt es in jeder Stadt Arbeiterviertel und Villenviertel, bevorzugte Wohngebiete und Problembezirke. Für die Erkennbarkeit dieser verschiedenen Areale spielt die Architektur eine bedeutende Rolle, weil sie die sozialen Unterschiede erst sichtbar werden lässt, die zwischen den einzelnen Vierteln und ihren Bewohnern bestehen. Mit Hilfe der Architektur vermag selbst der Besucher einer Stadt zu erkennen, wo er sich gerade aufhält. Akzeptable, begehrte oder zu vermeidende Wohnviertel sind mit dem bloßen Auge auszumachen. Doch man täusche sich nicht: Sie sind dies nur deshalb, weil wir gelernt haben, bestimmte räumliche Arrangements mit bestimmten sozialen Kategorien zu verbinden. Wir wissen, dass prunkvolle Villen mit großem Grundstück reiche Bevölkerungsgruppen beherbergen, dass ein freistehender Bungalow oder eine Doppelhaushälfte auf die Mittelklasse verweisen und dass ein Wohnsilo in städtischer Randlage als typische Unterkunft der Unterschicht angesehen werden kann. Es ist dieses Wissen, das die Lesbarkeit der Stadt letztlich erst ermöglicht. Da die Grenzen jedoch niemals ein für allemal festgelegt sind, bleibt die zentrale Frage stets, wo, wie und von wem welche Grenzen gezogen werden. Die Art und Weise der Grenzziehungen und ihre Benennungen sagen viel über die jeweilige Gesellschaft, die Gruppe, das Milieu oder Szene aus, die sie zieht. Sie können zwischen dem Eigenen und dem Fremden, den Reichen und den Armen, den Inländern und den Ausländern gezogen werden. Dabei müssen sie sich nicht in jedem Fall räumlich manifestieren, wodurch sie jedoch - wie wir seit Georg Simmel wissen - eine ungleich höhere "Festigkeit und Anschaulichkeit" erfahren. Kommt es zu keiner räumlichen Materialisierung der Grenzen, so haben wir es demnach mit fragilen und unsichtbaren Verhältnissen zu tun. Welchen Beitrag leistet die Architektur für die Stabilität und Sichtbarkeit sozialer Verhältnisse? Welche Grenzen zieht sie? Die Architektur und ihre Grenzen Die Geschichte der Architektur beginnt lange vor der Entstehung von Städten. Wann immer eine Grenze zwischen Innen und Außen gezogen wird, können wir von Architektur sprechen. Insofern handelt es sich schon bei der vom Menschen gebaute Hütte, in der er Schutz vor Regen, Kälte und wilden Tieren sucht, um Architektur. Ihr Aufkommen ist zugleich auch die Geburtsstunde des Wohnens: "Das Wohnen beginnt, sobald der Mensch der Höhle des Mutterleibs entweicht und einen Unterschlupf sucht." Wenn man sich die zentralen Elemente der Architektur vor Augen führt - Böden, Decken, Wände, Dächer - wird deutlich, dass sich Architektur generell als Antwort auf ein tief verwurzeltes Schutzbedürfnis des Menschen verstehen lässt. Von der primitiven Hütte bis zur mondänen Villa besteht der gemeinsame Nenner der Architektur in der Schutz bietenden Abschirmung nach Außen: "Auch beim Menschen beruht das moralische und physische Wohlbefinden letztlich auf der gänzlich tierischen Wahrnehmung des Sicherheitsbereichs, des Zufluchtsortes." Ebenso wie im oben beschriebenen Fall der Stadt erfolgt die durch den Bau eines Gebäudes vollzogene Abschließung jedoch nicht so radikal, dass von einem vollkommenen Ausschluss des Außen gesprochen werden kann. Zentrale Elemente der Architektur wie Fenster und Türen sorgen vielmehr für den Austausch zwischen Innen und Außen. Neben dem Streben nach Sicherheit geht es also immer auch um die Suche nach Kontakt und Verbindung: "Dadurch, daß die Tür gleichsam ein Gelenk zwischen dem Raum des Menschen und allem, was außerhalb dessen ist, setzt, hebt sie die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf. Gerade weil sie auch geöffnet werden kann, gibt ihre Geschlossenheit das Gefühl eines stärkeren Angeschlossenseins gegen alles jenseits dieses Raumes, als die bloße, ungegliederte Wand. Diese ist stumm, aber die Tür spricht". Die Grenze ist insofern ein höchst ambivalentes Gebilde. Sie befriedigt sowohl das Bedürfnis des Menschen nach Abschluss vom Anderen als auch das nach der Hinwendung zu ihm. Die Aufgabe der Architektur besteht nicht zuletzt darin, die Balance zwischen einer Schutz suchenden Orientierung nach Innen und der schutzlosen Öffnung nach Außen herzustellen. Dabei gilt grundsätzlich, dass das, was trennt, auch verbindet und umgekehrt. Grenzen lassen sich insofern nicht in offene und geschlossene Grenzen unterteilen, da damit allenfalls vorübergehende Zustände der Grenze bezeichnet sind. Grenzen unterscheiden sich vielmehr nach dem jeweiligen Grad ihrer Durchlässigkeit. Entscheidend dabei ist, dass der Charakter der Grenze nicht ein für allemal festgelegt ist und für jedermann gilt, sondern als sehr verschieden erlebt werden kann. Für Alte und Kinder, Arme und Reiche, Frauen und Männer können sich etwa beim Durchschreiten der Stadt völlig verschiedene Grenzen auftun: Grenzen, hinter denen sich für die einzelnen Bevölkerungsgruppen regelrechte no-go-areas befinden. Alte Menschen vermeiden steile Treppen, Kinder stark befahrene Straßen, Arme die von Sicherheitsdiensten geschützten Geschäfte in den Nobelpassagen der Innenstädte, Reiche die Randbezirke, Frauen Parkhäuser und Unterführungen, Männer Frauenparkplätze und Frauenbuchläden, Einheimische Treffpunkte der "Fremden", "Fremde" Szenetreffs der Deutschnationalen. Die Stadt ist durch eine Fülle von Grenzen gekennzeichnet, die nicht immer unmittelbar sichtbar und für jeden erkennbar sein müssen, um die Nutzungsprofile der Bewohner dennoch zu prägen. Jeder setzt andere, seiner Position und seinem Status gemäße Prioritäten und bahnt sich entsprechend verschiedene Wege durch die Stadt. Das Image der Städte hängt zu einem erheblichen Ausmaß davon ab, wie sie - jenseits des Images, das ihr die Stadtväter und deren Werbeabteilung zu verleihen suchen - von den einzelnen Bevölkerungsgruppen gesehen werden. In unzähligen Alltagsgesprächen werden Städte als hart, unzugänglich und öde oder als sozial, offen und lebendig eingestuft. Wenn Stadtväter versuchen, Unternehmen in ihre Stadt zu locken oder Unternehmen Mitarbeiter anwerben, spielen solche Standorteinschätzungen eine kaum zu unterschätzende Rolle für die Entscheidung der jeweils Betroffenen. Aber nicht nur die Stadt und ihre Quartiere, auch die einzelnen Gebäude lassen sich in einem erheblichen Ausmaß danach unterscheiden, welchen Grad an Durchlässigkeit sie erlauben bzw. anstreben. Schon die Anzahl von Türen und Fenstern, deren Größe und Anordnung, vermag etwas über das Ausmaß der gesuchten Schließung oder Öffnung nach Außen auszusagen. Erst recht sind unterschiedliche Materialien dazu in der Lage, Zugänglichkeit oder Zurückweisung zu symbolisieren. Glas signalisiert Offenheit und wirkt einladend. Man macht sich freiwillig beobachtbar, will zeigen, dass es nichts zu verbergen gibt. Beton dagegen erscheint unzugänglich und abweisend, wirkt wie ein Bollwerk gegen feindliche Einflüsse von Außen. Der äußere Eindruck kann allerdings täuschen: "Das Glas bietet zwar Möglichkeiten der rascheren Kommunikation zwischen Innen und Außen, aber zugleich zieht es eine unsichtbare Wand, die verhindert, daß diese Verbindung eine wirkliche Öffnung zur Welt wird." Die Baumaterialien allein sind sicher kein verlässlicher Indikator, um eindeutig zu bestimmen, ob wir es mit offenen oder geschlossenen Formen zu tun haben. Dass Glas nicht per se für leichte und damit erwünschte Zugänglichkeit steht, hat niemand eindrücklicher gezeigt als Jacques Tati in seinem Film "Playtime". Die moderne Großstadt präsentiert sich hier als ein geradezu aseptisches Labyrinth aus Glas, Stahl und Beton, in der sich kaum mehr jemand zurecht findet, obwohl - oder gerade weil - scheinbar alles offen ausgestellt und dargeboten wird. Richard Sennetts Kritik an der modernen Glasarchitektur weist in eine ähnliche Richtung: "Sehen zu können, was man nicht hören, berühren, spüren kann, verstärkt das Gefühl, das, was sich im Inneren befindet, sei unzugänglich." Sennett zufolge führt Glasarchitektur gerade nicht zu Offenheit und Transparenz, sondern zu Einsamkeit und Isolation. Ganz unabhängig aber von den tatsächlichen Zugangsbedingungen sind die kollektiven Assoziationen und Konnotationen, die beim Anblick von Glas oder Beton hervorgerufen werden, in der Lage, einem Gebäude ein Image zu verleihen, das es nur schwer wieder los wird. Abgesehen vom Material und den entsprechenden Zuschreibungen gibt es allerdings auch eindeutigere, weniger widersprüchliche Möglichkeiten, mit Hilfe architektonischer Maßnahmen Ausschluss und Ausgrenzung zu ermöglichen. Metallspitzen auf Mauervorsprüngen, die das Anlehnen oder Sitzen verhindern, Rasensprenger in Parks, die das dortige Übernachten unmöglich machen und öffentliche Toiletten, die immer geschlossen sind, lassen nur wenig Interpretationsspielraum. Insofern kann Architektur zweifellos dazu beitragen, bestimmten Bevölkerungsgruppen den Zugang zu bestimmten Orten zu verweigern. Dabei muss es sich gar nicht immer um eindeutige Abwehrarchitekturen wie Zäune, Mauern oder ähnliches handeln. Auch auf sehr viel subtilere Art und Weise kann Architektur Eintrittsverbote aussprechen, die oft nur als Empfehlungen daher kommen, sich diesen Räumen nicht zu nähern und jene besser erst gar nicht zu betreten. Die soziale Welt, die eine Welt voller mal gepflegter, mal verleugneter Unterschiede ist, bedient sich der Architektur, der Gestaltung von Räumen und der Ausgestaltung des Interieurs, um auf Unterschiede aufmerksam zu machen und zu signalisieren, welches Klientel willkommen ist und welches nicht. So ist zum Beispiel längst bevor man einen Blick auf die Speisekarte und die Preise eines Restaurants werfen kann, in aller Regel klar, ob das Restaurant zu einem passt oder nicht. Insgesamt gesehen dürfte es eher selten vorkommen, dass sich Passanten in das falsche Lokal verirren. Das gesamte Arrangement, von der Gestaltung des Eingangsbereichs über das Auftreten und die Blicke der Kellner bis hin zum Mobiliar, trägt dazu bei, die gewünschte Kundschaft anzulocken und die unerwünschte von einem Besuch abzuschrecken. So bleibt die vertraute Ordnung gewahrt: Der Habitus der Akteure wählt sich das zu ihm passende Habitat aus. Ohne dass der Einlass direkt untersagt werden muss, schließt sich das Publikum im Sinne einer vorauseilenden Selbstexklusion - "Das ist nichts für uns!" - selbst aus. Erst wenn diese Art der Selbstregulierung versagen sollte, weiß der Kellner durch Blicke und Gesten zu signalisieren, dass man sich an einem Ort befindet, an dem man nicht erwünscht ist. Gewollte Regeldurchbrechung, Zuwiderhandlungen und Provokationen bleiben zwar immer möglich, sind aber eher die Ausnahme. Halten wir fest: Städte ebenso wie Bauwerke und Gebäude sind das Produkt von Grenzziehungen, welche die Grenzziehungen in der sozialen Welt massiv unterstützen können. Was passiert, wenn diese Grenzen uneindeutig werden oder gar zu verschwinden drohen, wie in den aktuellen Debatten um die Globalisierung oft zu vernehmen ist? Grenzziehung und Grenzüberschreitung In den gegenwärtigen Zeitdiagnosen stößt man immer wieder auf die These, dass sich die soziale Welt zunehmend verflüssigt, womit auch die Grenzen verschwänden, die ein wichtiger Bestandteil der "festen Moderne" waren. Dieser These fehlt es zunächst nicht an Plausibilität. Ein Abbau von Grenzen lässt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten: Auf der Makroebene kommt es unzweifelhaft zu einer zunehmenden Öffnung der Grenzen zwischen Nationalstaaten. Die Mühelosigkeit, mit der vor allem Informationen staatlich gesetzte Grenzen überwinden, untergräbt zunehmend die Autorität dieser Demarkationslinien. Der Prozess der Globalisierung wird deshalb mit einem Wegfall der Grenzen geradezu gleichgesetzt. Auf der Mesoebene ist unschwer zu erkennen, dass Städte nicht mehr an einer massiven Mauer deutlich erkennbar enden, sondern sich geradezu in ihren Umgebungsraum ergießen, so dass kaum mehr auszumachen ist, wo die Stadt endet und der ländliche Raum beginnt. Die Grenze zwischen Stadt und Land wird so zumindest uneindeutig. Auf der Mikroebene weichen die streng gezogenen Grenzen zwischen einem Ess-, Schlaf- und Wohnbereich in den Privatwohnungen durch das Weglassen von Wänden mehr und mehr einer offenen Raumkonzeption, in der sich die verschiedensten Tätigkeiten innerhalb eines nicht unterteilen Raums abspielen - eine Entwicklung, die sich bereits in den späten 1920er Jahren andeutete, vor allem aber in den 1980er und 1990er Jahren im großen Maßstab vorangetrieben wurde. Während im Haus des Mittelalters die verschiedensten alltäglichen Tätigkeiten wie Schlafen, Kochen und Essen in einem einzigen zentralen Raum stattfanden, kommt es spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu einer stärkeren Aufteilung der Wohnung in verschiedene Funktionsbereiche. Jeder einzelne Raum erfüllt nun einen ganz bestimmten Zweck. Gekocht wird in der Küche, geschlafen im Schlafzimmer, gespielt im Kinderzimmer. Inzwischen aber gibt es wieder den Trend zu mehr Offenheit. Damit kommt es zu einer Erweiterung des Sehraums, die eine Rücknahme seiner nach dem Mittelalter eingeführten Begrenzung einschließt. Die mit der Separierung der Räume möglich gewordene Privatheit, die den Schutz vor den Blicken noch der engsten Verwandten ermöglichte, scheint durch die Öffnung der Räume gefährdet und als Zunahme von Kontrolle erlebt zu werden. Was bei der These vom Abbau der Grenzen übersehen wird, ist, dass die Grenzen nicht schon deshalb verschwinden, weil sie nicht mehr länger dort aufzufinden sind, wo man sie bisher zu Recht vermuten konnte. Grenzen wandern. Sie sind nicht starr und unbeweglich. Sie ändern vielmehr ihre Form und vollziehen auf flexible Weise eine Abschirmung gegenüber dem als bedrohlich wahrgenommenen Außen. So kann auf der Ebene der Nationalstaaten zwar ein Grenzabbau innerhalb Europas festgestellt werden. Gleichzeitig aber werden die Grenzziehungen nach Außen verstärkt, sodass sich vor allem für Nichteuropäer das Bild von der "Festung Europa" aufdrängt. Auf der Ebene der Städte kommt es zwar nicht zu einer Renaissance der befestigten Städte, aber die Verbreitung von gated communities zeigt einen Bedarf an der Errichtung von Sicherheitszonen inmitten einer als unsicher wahrgenommenen Metropolenwirklichkeit. Wenn die Torwächter in den heutigen Städten nicht mehr an den Toren der Stadtmauern vorzufinden sind, so heißt dies doch nicht, dass sie verschwunden wären: Sie befinden sich heute vielmehr an den Eingängen der Einkaufsläden, Casinos, Shopping Malls, Hotels, Parks, Flughäfen, Bahnhöfe, Stadien, Discotheken usw. Nicht mehr das Schloss mit mächtigem Riegel, sondern Video-Überwachung, Gegensprechanlagen, Drehkreuze, Doorman, automatischer Schließmechanismus und biometrische Kontrollverfahren regulieren und kontrollieren nunmehr die Zugänge. Es müssen nicht immer gleich Schlagbäume sein, wenn es darum geht, Grenzen zu ziehen. Wenn man - wie in Paris - die Möglichkeiten beschränkt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von den Randbezirken in das Zentrum der Großstadt zu gelangen, dann wird auf diese Weise eine Grenze gezogen zu denen, die im öffentlichen Stadtbild nicht vorkommen sollen, um den positiven Gesamteindruck der Touristen nicht zu gefährden und der privilegierten Zentrumsbevölkerung den Kontakt mit den fremd gebliebenen Banlieubewohnern nicht zuzumuten. Eine Begegnung mit den Bewohnern der Vorstädte wird als bedrohlich wahrgenommen, die gewünschte Segregation als gescheitert angesehen. Denn angestrebt ist, dass jeder bleibt wo er ist und ,hingehört'. Diese Platzierungsmacht ist ein ebenso oft unterschätztes wie angewandtes Mittel politischer Herrschaft, zumal im Zeitalter der Globalisierung, das durch eine tiefe Unsicherheit in Fragen der Zugehörigkeit geprägt ist. Hatte die Stadt ihre Autorität zunächst an den Nationalstaat abgegeben, der nunmehr dafür Sorge zu tragen hatte, dass keine unerwünschten Subjekte den Eigenraum betreten konnten, so erfolgt aktuell, vor dem Hintergrund eines Souveränitätsverlustes der Nationalstaaten, eine Aufrüstung im Meso- und Mikrobereich. So kann auf der Ebene des Wohnens nicht allein ein Trend zum offenen Wohnen, sondern zugleich ein Trend zur verstärkten Abschließung registriert werden. Die Bürgerinnen und Bürger reagieren auf den als mangelhaft empfundenen Schutz durch den Staat, indem sie sich selbst ein eigenes Territorium sichern, auf dem sie allein über Ein- und Ausgänge wachen, Eintritte zulassen oder verweigern können - und sei der Raum auch noch so klein, auf dem das individuelle Selbstbestimmungsrecht herrscht. Ob dies das eigene Haus, die eigene Wohnung, das eigene Auto oder auch nur das eigene Zimmer ist - es geht um die Entwicklung von Räumen, die Innen so behaglich und multifunktional wie möglich ausgestattet und gegen den unerwünschten Zugriff von Außen so gut wie nur möglich geschützt sind. Als letzter dieser politisch aufgeladenen Räume, an dessen Grenzen jedes Individuum selbst streng über Ab- und Zufuhren zu wachen versucht, lässt sich der eigene Körper auffassen. Was ihn berühren, oder gar in ihn eindringen darf, wird angesichts der Warnungen vor dreckiger Luft, unreinem Wasser und verseuchter Ernährung zum Politikum. Gerade dann, wenn andere Abwehrmaßnahmen versagen, wird der eigene Körper zum Schutzpanzer aufgebaut. Alles zusammengenommen zeigt, dass wir es keineswegs mit einem umfassenden Abbau von Grenzen zu tun haben. Die weit verbreitete These von einer Verflüssigung des Sozialen aufgrund des Bedeutungsverlustes von Grenzen ist einseitig, weil sie die erneuten Grenzziehungen übersieht, die gerade als Antwort auf die Grenzauflösungen erfolgen. Die Praxis der Grenzziehung lässt sich nicht einfach abstellen: "Man richtet sich nie im Überschreiten ein, man wohnt nie außerhalb. Die Übertretung setzt voraus, daß die Grenze immer wirksam sei." Zu bedenken ist allerdings, dass wir es weniger mit einem zähen Beharrungsvermögen der alten Grenzen zu tun haben, als mit einer Veränderung der Grenzen selbst, die sich verlagern, ihre Form ändern, flexibler und situativer gezogen werden können. Von ihrem Verschwinden kann jedenfalls keine Rede sein - dies schon deshalb nicht, weil sie konstitutiv sind für das soziale Geschehen, das aus fortwährenden Grenzziehungen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen besteht. Bernhard Schäfers zum 70. Geburtstag. Vgl. Martin Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 200410, S. 139 - 156. Vgl. Martin Dinges/Fritz Sack (Hrsg.), Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000. Vgl. Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/M., 1999, S. 204. Vgl. am Beispiel von Paris Eric Hazan, Die Erfindung von Paris. Kein Schritt ist vergebens, Zürich 2006. Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt/M.-New York 2004, S. 139ff. Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11, Hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1992, S. 699. Bernhard Schäfers, Architektursoziologie. Grundlagen - Epochen - Themen, Opladen 2003. Vgl. B. Waldenfels (Anm. 3), S. 208. Vgl. Dirk Baecker, Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur, in: Niklas Luhmann u.a., Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M., 1984, S. 388. Georg Simmel, Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Hrsg. von Margarete Susman und Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 4. Vgl. Roland Girtler, Abenteuer Grenze. Von Schmugglern und Schmugglerinnen, Ritualen und "heiligen" Räumen, Wien-Münster 2006. Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Frankfurt/M.-New York 1991, S. 56. Richard Sennett, Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt/M., 1991, S. 147. Vgl. Jan Wehrheim, Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung, Opladen 2002, S. 95ff. Vgl. Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume, Frankfurt/M.-New York 1991, S. 25 - 34 und Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2006, S. 97f. Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 2003. Zur Fragwürdigkeit dieser These vgl. M. Schroer (Anm. 15), S. 185ff. Vgl. Katharina Weresch, Wohnungsbau im Wandel der Wohnzivilisierung und Genderverhältnisse, Hamburg-München 2005, S. 252ff. Vgl. Peter Gleichmann, Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen, in: Peter Gleichmann, Johan Goudsblom und Hermann Korte (Hrsg.), Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie, Frankfurt/M., S. 254 - 278; hier S. 257. Vgl. K. Weresch (Anm. 19), S. 257f. Vgl. Mathias Bös/Kerstin Zimmer, Wenn Grenzen wandern. Zur Dynamik von Grenzverschiebungen im Osten Europas, in: Georg Vobruba/Monika Eigmüller (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 157 - 184. Vgl. Stefan Kaufmann, Grenzregimes im Zeitalter globaler Netzwerke, in: Helmuth Berking (Hrsg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt/M.-New York, S. 32 - 65. Vgl. Ronald Hitzler, Mobilisierte Bürger. Über einige Konsequenzen der Politisierung der Gesellschaft, in: Ästhetik&Kommunikation, 23 (1994) 85/86, S. 55 - 62. Vgl. Zygmunt Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg 1995, S. 235. Vgl. M. Schroer (Anm. 16), S. 276ff. Jacques Derrida, Positionen, Graz-Wien 1986, S. 39. Vgl. Markus Schroer, Raumgrenzen in Bewegung. Zur Interpenetration realer und virtueller Räume, in: Sociologia Internationalis, (2003) 1, S. 55 - 76.
Article
Schroer, Markus
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31940/grenzen-ihre-bedeutung-fuer-stadt-und-architektur/
Welchen Beitrag leistet Architektur für die Stabilität und Sichtbarkeit sozialer Verhältnisse? Welche Grenzen zieht sie? Was passiert, wenn diese uneindeutig werden oder gar zu verschwinden drohen, wie im Globalisierungsdiskurs zu vernehmen ist?
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Virtueller Wasserhandel zur Überwindung der Wasserkrise? | Wasser | bpb.de
Einleitung Die herannahende globale Wasserkrise ist in aller Munde. Weltweit werden daher Ansätze diskutiert, wie diese Krise abgewendet werden kann. Wasserressourcen müssen nachhaltig geschützt werden, damit der heutigen Weltbevölkerung und zukünftigen Generationen Wasser in angemessener Menge und Qualität zur Verfügung steht. Bei näherer Betrachtung haben dabei Verteilungsfragen die oberste Priorität. Weltweit leben etwa 1,4 Milliarden Menschen ohne einen gesicherten Zugang zu Trinkwasser, rund 2,6 Milliarden fehlen adäquate Einrichtungen zur Wasserentsorgung und -aufbereitung. Und das, obwohl global genügend Wasserressourcen existieren, um auch bei einer wachsenden Weltbevölkerung alle Nutzer - d.h. Menschen wie Ökosysteme - zu versorgen. Zunehmende Verschmutzung und unzureichende Infrastruktur, aber auch fehlender politischer Wille, diese Missstände zu beheben, sind zumeist die ausschlaggebenden Faktoren, die eine Versorgung der Menschen mit Wasser verhindern. Gerade in wasserarmen Ländern spielt dabei eine erhebliche Rolle, dass der überwältigende Anteil des verfügbaren Wassers in der Bewässerungslandwirtschaft eingesetzt wird (im Weltdurchschnitt rund 70 Prozent, in wasserarmen Ländern häufig rund 90 Prozent). Vor allem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika (MENA-Region) wird heute zum Teil schon mehr Wasser verbraucht, als sich regenerieren kann. Eine Lösung des Problems der Wasserknappheit ist hier daher besonders dringlich. Denn entgegen der populären Meinung, Kriege zwischen den Staaten würden in Zukunft um Wasser ausgetragen, liegt das Konfliktpotenzial vielmehr auf der lokalen Ebene, auf der sich die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Nutzern - Haushalten, Bauern, Viehzüchtern - verschärft. Einen Ansatz zur längerfristigen Bewältigung der Wasserkrise und zur Verminderung dieser Konflikte stellt das Konzept des "virtuellen Wasserhandels" dar. Virtueller Wasserhandel - Das Konzept Die Produktion nahezu jeden Gutes erfordert den Einsatz von Wasser. In der Landwirtschaft wird es in Form von Regen- oder Bewässerungswasser genutzt, in der Industrie z.B. als Kühlwasser. Im Endprodukt ist das genutzte Wasser nicht mehr (oder nur zum kleinen Teil) physisch enthalten und wird daher als "virtuelles Wasser" bezeichnet. Der Austausch dieser Waren bedeutet somit auch den Handel mit dem darin virtuell enthaltenen Wasser. Ausgehend von dieser Erkenntnis formulierte der Geograph Anthony Allan die Idee, dass durch den gezielten Handel mit virtuellem Wasser die unterschiedlichen Wasserverfügbarkeiten einzelner Länder ausgeglichen werden könnten. Sein Konzept des virtuellen Wasserhandels - das er vorwiegend für die MENA-Region entwickelt hat - basiert auf der Vorstellung, dass wasserarme Länder ihren Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten - vor allem Grundnahrungsmittel wie Getreide - verstärkt durch Importe aus wasserreichen Ländern decken, anstatt sie selbst zu produzieren. Das Ziel ist eine räumliche Verlagerung der wasserintensiven landwirtschaftlichen Produktion. Globalisierung und virtueller Wasserhandel Mit der fortschreitenden Globalisierung nehmen der weltweite Handel insgesamt und damit auch der virtuelle Wasserhandel zu. Den größten Anteil haben die Agrarprodukte, die rund 80 Prozent des virtuell gehandelten Wassers ausmachen. Forscher des Institute for Water Education haben umfangreiche Analysen vorgelegt, in denen die globalen Ströme von virtuellem Wasser bemessen werden. Sie zeigen, dass heute durch den Handel mit Agrargütern global betrachtet jährlich rund acht Prozent des gesamten für die Produktion von Nahrungsmitteln aufgewendeten Wassers gespart werden. Dies resultiert aus der Tatsache, dass die Effizienz der Wassernutzung in den einzelnen Ländern teilweise deutlich divergiert, sei es aus technologischen, sei es aus klimatischen Gründen. So werden z.B. in Frankreich zur Produktion von einem Kilogramm Mais im Bewässerungsfeldbau 530 Liter Wasser benötigt, während in Ägypten - insbesondere aufgrund der dort wesentlich höheren Verdunstungsraten - dazu 1.100 Liter erforderlich wären. Die globale Ersparnis beträgt somit 570 Liter Wasser pro Kilogramm, wenn Frankreich den Mais anbaut und Ägypten diesen importiert. Die weltweiten Einsparpotenziale von strategisch eingesetztem virtuellen Wasserhandel sind vor diesem Hintergrund also relevant. Die Frage ist, inwiefern wasserarme Entwicklungsländer Einfluss auf den Welthandel nehmen können und wollen. Der Großteil des Agrarhandels wird durch die OECD- und die Schwellenländer bestimmt. Entwicklungsländer haben nur geringen Einfluss auf den Weltmarkt. Daher gilt es zu identifizieren, wie Handelsströme zugunsten einer effektiveren und effizienteren Nutzung der weltweiten Wasserressourcen beeinflusst werden können. Alternative Nutzung des eingesparten Wassers Die Frage nach der alternativen Nutzung des durch virtuellen Wasserhandel eingesparten Wassers ist deshalb wichtig, weil die Entscheidung eines Landes, verstärkt virtuelles Wasser zu importieren, immer politökonomisch motiviert sein wird und nicht auf rein ökologischen Gegebenheiten basiert. Insofern hat gezielter Handel mit virtuellem Wasser vermutlich nur dann eine Chance, wenn daraus ein wirtschaftlicher Mehrwert für das Land erwächst. Zunächst kann zwischen so genannten "blauem" und "grünem" Wasser unterschieden werden. Als "blau" wird das Süßwasser in Aquiferen, Seen und Flüssen bezeichnet, während "grünes" Wasser im Boden und in der Pflanze gebunden ist. Blaues Wasser lässt sich leichter alternativ nutzen als grünes, denn es kann transportiert werden. Im Gegensatz dazu kann lediglich der Boden, in dem grünes Wasser gebunden ist, alternativ genutzt oder bebaut werden (z.B. Forstwirtschaft, Viehhaltung oder der Erhalt von Ökosystemen). Die Diskussion um virtuellen Wasserhandel wird zwar über beide Typen von Wasser geführt, dennoch kommt dem blauen Wasser, das zur Bewässerung von landwirtschaftlichen Flächen genutzt wird, eine besondere Bedeutung zu, denn blaues Wasser ist das einzige Reservoir für die Trinkwasserversorgung. Politisch und praktisch ist die alternative Nutzung des eingesparten Wassers als Trinkwasser von größter Bedeutung gegenüber den anderen Nutzungen. Die Entscheidung fußt dann allerdings darauf, welche Nutzung von der Gesellschaft als prioritär angesehen wird. Das gesparte blaue Wasser kann auch in der Industrie eingesetzt werden und damit zu einer prosperierenderen Wirtschaft beitragen, da Konsum- oder Exportgüter eine höhere Wertschöpfung als landwirtschaftliche Produkte generieren können. Ein großer Vorteil bei der industriellen Nutzung von Wasser besteht darin, dass es zumeist mehrfach eingesetzt werden kann, bevor es in Flüsse oder Abwassersysteme zurückgeleitet wird. Eine weitere alternative Nutzungsart, die sowohl für blaues als auch für grünes Wasser denkbar ist, ist der Anbau weniger wasserintensiver oder höherwertigerer Agrarkulturen. Hiermit könnte entweder absolut Wasser eingespart oder mehr Wertschöpfung pro Volumeneinheit Wasser erreicht werden. Erwartete positive Effekte des virtuellen Wasserhandels Das Konzept des strategischen virtuellen Wasserhandels wird in der Fachwelt äußerst kontrovers diskutiert. Befürworter sehen in ihm eine gute Möglichkeit, nachhaltig mit knappen Wasserressourcen umzugehen und gleichzeitig den weltweiten Bedarf an Nahrungsmitteln zu befriedigen. Der Strukturwandel, der durch die - wohlgemerkt langsame - Abkehr von der wasserintensiven Landwirtschaft vollzogen würde, könnte sich zudem vorteilhaft auf die wirtschaftliche Stärke des wasserarmen Landes auswirken. Die Erwirtschaftung von Devisen, z.B. durch den Export von Industrieprodukten, wäre auch notwendig, um Importe von virtuellem Wasser zu finanzieren. Weiterhin ist denkbar, das Konzept als regionale Strategie umzusetzen. So könnten sich Nettoimporteure und -exporteure von virtuellem Wasser herausbilden, und der Süd-Süd-Handel würde angeregt. Denkbar wäre dieser Ansatz etwa im südlichen Afrika. Relativ wasserreiche Länder wie Angola oder Mosambik könnten verstärkt virtuelles Wasser exportieren, während wasserarme Länder wie Botswana und Namibia dieses importieren würden. Für Länder mit unterschiedlichen Vegetationszonen kann virtueller Wasserhandel auch auf nationaler Ebene sinnvoll sein und wäre womöglich dort am einfachsten zu realisieren, da hier keine Risiken politischer Abhängigkeiten eingegangen und keine Devisen für den Import aufgebracht werden müssten. Auch Handelshemmnisse existieren hier nicht wie auf zwischenstaatlicher Ebene. Ein Land mit sowohl wasserarmen als auch wasserreichen Gegenden, in dem erhebliches Potenzial bestünde, wäre z.B. China. Kostengünstige Methoden, an zusätzliche Wasserquellen zu gelangen, erschöpfen sich mehr und mehr. Auch der Transport zur Verteilung des Wassers in wasserknappe Regionen wird immer teurer, er verbraucht zudem viel Energie. Virtueller Wasserhandel könnte kostspielige und nicht nachhaltige Ansätze der Wassergewinnung und -allokation überflüssig machen, wie etwa den Bau von Staudämmen, die der Versorgung der Bewässerungslandwirtschaft dienen sollen. Zu guter Letzt meinen die Befürworter einer solchen Strategie, dass Konflikte um Wasser durch den virtuellen Wasserhandel verhindert werden können. Dies betrifft vor allem die lokalen Spannungen, die durch zunehmende Wasserarmut auftreten. Schwachstellen des Konzepts Kritiker des Konzepts kommen vor allem aus den Reihen der Politikwissenschaftler und (Agrar-)Ökonomen. Sie halten eine Umsetzung von internationalem virtuellem Wasserhandel als handelspolitische Strategie für unrealistisch, ja sogar für kontraproduktiv. Denn das Konzept basiert im Wesentlichen darauf, dass Dumpingpreise für Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt durch die Agrarsubventionen des Westens gehalten werden. Nur wenn diese Preise auch niedrig bleiben, entsteht für wasserarme Länder ein Anreiz, landwirtschaftliche Produkte eher zu importieren als selbst anzubauen. Selbst wenn die Preise für Nahrungsmittel niedrig blieben, wären die Importe für die meisten Entwicklungsländer nicht bezahlbar, so die Kritiker weiter. Ein Strukturwandel, der eine Umsetzung der Strategie ermöglichen würde, beansprucht eine ungewisse Zeit und wäre mit zahlreichen Trade-offs verbunden, so dass virtueller Wasserhandel das akute Problem der Wasserknappheit nicht bewältigen kann und neue Probleme hervorbringt. Aus Sicht von Sozialwissenschaftlern birgt eine politisch induzierte Umsetzung des virtuellen Wasserhandels die Gefahr, dass mit planmäßiger Reduzierung des landwirtschaftlichen Sektors eine Verödung des ländlichen Raums stattfindet. Gerade in Entwicklungsländern sind große Teile der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Die Ergebnisse wären Landflucht, steigende Arbeitslosigkeit und weitere Verstädterung. Dies könnte noch dadurch begünstigt werden, dass Nahrungsmittelimporte wegen hoher Transport- und Lagerverluste sowie Mangel an guter Regierungsführung gar nicht erst die ländlichen Gebiete erreichen. Selbst wenn alternativ weniger wasserintensive Agrarprodukte angebaut würden, blieben sozioökonomische Risiken aufgrund der Pfadabhängigkeiten bestehen. Dies bedeutet, dass eine historisch entwickelte Produktionsweise nur schwer zu revidieren ist, da Produktionsfaktoren und -technologien, akkumuliertes Wissen sowie lokale Institutionen in den meisten Fällen wenig flexibel sind. Der Grund liegt zum einen darin, dass Neuerungen meist mit hohen Kosten verbunden wären, zum anderen werden v.a. institutionelle Einrichtungen oftmals als Tradition empfunden, so dass auch der Wille oder Mut fehlt, diese zu verändern. Ökologen meinen zudem, dass es auch in Ländern, die eigentlich als wasserreich gelten, zur Übernutzung von Ressourcen kommen kann, und zwar nicht nur von Wasserressourcen, sondern auch z.B. von Böden. In eine Bewertung der Potenziale des virtuellen Wasserhandels sollten daher immer auch die Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem einbezogen werden. Zu guter Letzt stellt sich die Frage, wie sich eine politisch induzierte Strategie von virtuellem Wasserhandel mit Ansätzen der Dezentralisierung von Entscheidungsfindungsmechanismen und dem Appell - vor allem der westlichen Länder - nach vermehrter Subsidiarität vereinen lässt. Die Forderung nach einer umfassenden Umsetzung erhält aufgrund der damit verbundenen sozialen und ökonomischen Umstrukturierungen einen allzu planwirtschaftlichen Charakter. Politische Überlegungen am Beispiel der MENA-Region Virtueller Wasserhandel hat also aus Sicht verschiedener Disziplinen Potenziale, aber auch Schwachstellen vorzuweisen. Besonders relevant sind aber politische Determinanten, da die Politik letztlich darüber entscheidet, ob virtueller Wasserhandel in einem Land strategisch umgesetzt wird oder nicht. Was könnten also die Motive der Entscheidungsträger sein, sich für die Strategie zu entscheiden, und welches könnten Hinderungsgründe sein? Wie Anthony Allan mehrfach argumentiert hat, wird nachhaltiges Management von Wasserressourcen - vor allem in der MENA-Region - dadurch verhindert, dass eine öffentliche Diskussion über das Problem der Wasserknappheit kaum existiert. Allan nennt dies einen "sanktionierten Diskurs", womit er ausdrücken will, dass zwar in Kreisen der Politiker wie auch der Wissenschaftler ein Bewusstsein darüber besteht, dass Wasserressourcen zunehmend knapp werden, ein Diskurs in der Öffentlichkeit aber vermieden wird - denn der uneingeschränkte Zugang zu Wasser wird vielfach von der Bevölkerung als grundlegendes Recht verstanden. Virtueller Wasserhandel als politische Strategie kommt Allan zufolge diesem Phänomen entgegen. Indem verstärkt Nahrungsmittel importiert werden und somit die nationale Produktion nach und nach abnimmt, reduziert sich der Wasserverbrauch in der Landwirtschaft automatisch. Das Problem erledige sich demnach "politisch lautlos" von selbst. Politische Kosten, die notwendig wären, um Aufklärungsarbeit bzw. Akzeptanz für ein politisches Programm zum Wassersparen zu schaffen, entfielen somit. Doch ganz so leicht ist eine Reduzierung der landwirtschaftlichen Produktion nicht möglich, denn es stellt sich im Zusammenhang mit dem Problem der Wasserübernutzung - durch den hohen Wasserverbrauch in der Landwirtschaft - die Frage nach der adäquaten Landnutzung. Ein politisches Eingreifen würde aber bedeuten, dass formelle und traditionelle Landnutzungsrechte berührt würden. Auch Tarife oder Preise für Wasser und seine Bereitstellung können oft nicht erhoben werden, da das Wasser auf privatem Land entnommen wird und staatliche Kontrollen schwierig sind. Zum anderen ist die Vorstellung der Selbstversorgung - mit Wasser oder Nahrungsmitteln - und der Unabhängigkeit von anderen Staaten oftmals eine Frage des Selbstwertgefühls - auch wenn diese vielfach bereits real nicht existieren. Eine öffentliche Debatte um Wassermangel ist daher politisch äußerst sensibel. Auch der ehemalige jordanische Minister für Wasser und Bewässerung, Hazim El-Naser, meint, dass eine Beschränkung der Wasserentnahmen durch Gesetze kaum möglich sei. Er denkt aber, dass eine Optimierung der Produktionseffizienz (z.B. durch Einführung von Tröpfchenbewässerung) der richtige Ansatz sei, da sie eine realistische Chance zur Umsetzung habe. Strategischer virtueller Wasserhandel könnte seiner Meinung nach in eine Gesamtstrategie zur Verbesserung des Wassermanagements einfließen. Seine Hoffnung setzt er vor allem in die jüngere Generation, deren Bewusstsein für den Umgang mit Ressourcen geschärft werden könne. Für welche Länder könnte virtueller Wasserhandel sinnvoll sein? Eine Umstellung von landwirtschaftlicher auf industrielle Produktion ist nicht auf Knopfdruck möglich und auch nicht so einfach plan- und steuerbar; das zeigt die Existenz vieler Weltprobleme. Auf jeden Fall handelt es sich um sehr langsame Prozesse. Unterschiedliche Rahmenbedingungen erfordern daher "eine regionalisierte Betrachtung der Sinnhaftigkeit von virtuellem Wasserhandel und seinen sozioökonomischen Voraussetzungen". In vielen Entwicklungsländern arbeitet ein relevanter Anteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft für die Sicherung des eigenen Nahrungsbedarfs. Die Subsistenzlandwirtschaft ist dabei zwar vom ökonomischen Kreislauf ausgeschlossen, trägt aber einen wichtigen Teil zur Armutsminderung bei. Für solche Bevölkerungen - und somit offenbar generell für sehr arme Entwicklungsländer - scheidet der virtuelle Wasserhandel daher aus, denn er würde lediglich mit Nachteilen, z.B. mehr Abhängigkeit und mehr Armut, erkauft werden. Der virtuelle Wasserhandel könnte aber für solche Länder von Interesse sein, die trotz absoluter Wasserknappheit über einen relativ hohen Entwicklungsstand verfügen und die daher die ökonomische Potenz aufweisen, um die nötigen Devisen für virtuelle Wasserimporte zu erwirtschaften. Dies sind vor allem die Länder des Nahen und Mittleren Ostens (z.B. Jordanien, Syrien) und zum Teil des südlichen Afrikas (z.B. Südafrika, Botswana). Zudem eignen sich diese Ländergruppen am ehesten, weil dort die Abhängigkeit von der Landwirtschaft i.d.R. geringer ist als in wenig entwickelten Ländern. Hierdurch sind auch die verknüpften sozioökonomischen Risiken geringer zu veranschlagen. Wege zur Umsetzung Planwirtschaftliche Maßnahmen sind im Zusammenhang mit virtuellem Wasser kaum empfehlenswert. Wie also kann erreicht werden, dass der Handel mit agrarischen Gütern Schritt für Schritt in diese Richtung gelenkt wird? Möglich wären z.B. Anbaubeschränkungen für wasserintensive Produkte, Begrenzungen für Wasserentnahmen zur Bewässerung von Kulturen und eine Einführung von auf Rohwasser bezogenen Wasserpreisen. Am sinnvollsten scheint es, das Konzept im Rahmen der Ansätze zur ökonomischen Bewertung von Rohwasser einzusetzen. Vor allem Wirtschaftswissenschaftler vertreten die These, dass das Konzept des virtuellen Wasserhandels versucht, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Maßgeblich für die Entscheidung, welche Produkte in einem Land hergestellt, welche im- und exportiert werden, ist nicht die Menge an verfügbarem Wasser, sondern sind die komparativen Kostenvorteile, die in den Entwicklungsländern zumeist Arbeitskraft und Boden sind. Daher müssten in erster Linie Preise für Wasser und seine Bereitstellung dafür sorgen, dass Wasser sich zu einem relevanten Kostenfaktor entwickelt. In wasserarmen Ländern würde dann Wasser aufgrund seiner Knappheit automatisch so teuer, dass sich Bewässerungslandwirtschaft nur bei einem sehr wassereffizienten Landmanagement und bei bestimmten Kulturarten lohnen würde. Der Handel mit Nahrungsmitteln, also virtuellem Wasser, würde dann aus rein ökonomischen Gründen zunehmend zwischen wasserarmen und wasserreichen Ländern stattfinden. Südafrika beginnt, diesen Weg einzuschlagen. Im Jahr 1997 wurde, um Wasserressourcen zu sparen und vor allem dem Problem der Unterversorgung mit Trinkwasser Herr zu werden, das White Paper on Water Policy erlassen, in dem es heißt: "Wo Wasser zur Herstellung von wasserintensiven Produkten (...) benötigt wird, kann es effizienter sein, diese zu importieren, als zu versuchen, sie in einer wasserarmen Gegend zu produzieren. Die Einführung von Managementinstrumenten wie der Bepreisung wird diesen Ansatz unterstützen." Deutliches Ziel dieser Wasserpolitik ist es, den Handel mit virtuellem Wasser auszubauen, um Wasserressourcen zu sparen. Im Zuge dessen werden seither Preise für Wasser und seine Bereitstellung erhoben, seit dem Jahr 2004 wird Wasser zusätzlich rationiert. Um arme Bevölkerungsteile nicht zu benachteiligen, wurden Unterstützungsprogramme für die Armen eingeführt. Südafrikas Maßnahmen sind durchaus nicht unumstritten bzw. können nicht für alle wasserarmen Länder als Blaupause dienen. Aus Sicht der Kritiker sind mit der Einführung von Preisen für Wasser immer noch zu hohe soziale Kosten verbunden. In anderen Ländern - wie z.B. in Jordanien - wird das Erheben von Gebühren von Fachleuten als nicht durchsetzbar angesehen. Die einzig vernünftige Lösung scheint zu sein, virtuellen Wasserhandel in den Ansatz des Integrierten Wasserressourcen-Managements (IWRM) einzubinden. 1992 in den Dublin-Prinzipien verankert, stellt er heute das allgemein anerkannte Leitbild für die nachhaltige Nutzung und Bewirtschaftung von Wasserressourcen dar. Ziel von IWRM ist es, in einem partizipativen Prozess Lösungen zu erarbeiten, die für alle Nutzer und Nutzungen akzeptabel sind und die verschiedenen Interessen - vor allem zwischen den Sektoren - gleichgewichtig berücksichtigen. Schlussfolgerungen Um Wasserressourcen einzusparen, sollten vorrangig alle bestehenden und effizienten Ansätze für ein verbessertes Management der Wasserressourcen ausgeschöpft werden. IWRM ist das maßgebliche Konzept, das hier herangezogen werden muss. Virtueller Wasserhandel kann nur dann eine sinnvolle Lösung für das Problem von Wasserarmut eines Landes sein, wenn erstens andere, bereits anerkannte Ansätze das Problem nicht beheben und zweitens ausgeschlossen werden kann, dass er mit erheblichen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen (auch für die Exportländer) verbunden ist. Dies gilt insbesondere für arme Entwicklungsländer, deren Wirtschaft hauptsächlich auf der Agrarwirtschaft beruht. Anders sieht das für Länder mit höherem Einkommen aus. Auch hier muss zwar IWRM als maßgebliches Konzept berücksichtigt werden. Dennoch besteht in diesen Ländern ein größeres Potenzial, ergänzend den virtuellen Wasserhandel einzusetzen, da für den Import von Nahrungsmitteln entsprechende Devisen generiert werden können und hier weniger negative sozioökonomische Folgen erwartet werden als in den armen Entwicklungsländern. Insgesamt muss daher eruiert werden, was die maßgeblichen Ursachen der Wasserarmut sind. Ist ein Land physisch wasserarm, müssen andere Maßnahmen ergriffen werden, als wenn die Wasserarmut ökonomische Ursachen hat oder auf Missmanagement und schlechter Regierungsführung beruht. Um zu erreichen, dass Wasser einen ebenbürtigen Stellenwert neben den Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital erlangt, sollte die Diskussion um virtuellen Wasserhandel verstärkt im Zusammenhang mit Preisen für Wasser, seine Bereitstellung und Aufbereitung bzw. Entsorgung geführt werden, auch wenn dies vielfach einen politischen Kraftakt bedeutet. Virtueller Wasserhandel als Strategie bleibt zudem immer eine politische und gesellschaftliche Entscheidung. Selbst wenn alle Aspekte und Indikatoren für eine Umsetzung sprechen, müssen in erster Linie die politischen Entscheidungsträger und die Gesellschaft überzeugt sein, das Konzept in konkrete Maßnahmen überführen zu wollen. Der Artikel basiert zu großen Teilen auf den Ergebnissen der Studie von Lena Horlemann/Susanne Neubert, die am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) im Rahmen des Forschungsprojekts "Virtueller Wasserhandel - Ein realistisches Konzept zum Umgang mit Wasserarmut in Entwicklungsländern?" entstand und als Manuskript vorliegt. Im Rahmen des Projekts wurden zudem Papiere von folgenden Autorinnen und Autoren erstellt, die jeweils eine Sicht der tangierten Disziplinen darstellen: Michael Brüntrup, Hazim El-Naser, Holger Hoff/Mutasem El-Fadel/Munther Haddadin, Diana Hummel, Thomas Kluge/Stefan Liehr, Daniel Malzbender, Richard Meissner, Lena Partzsch/Philipp Schepelmann, Roland Treitler, Eva Youkhana/Wolfram Laube. Vgl. Aaron Wolff, Conflict and Cooperation Along International Pathways, in: Water Policy, 1 (1998) 2, S. 251 - 265. Vgl. Anthony Allan, Virtual Water: a long term solution for water short Middle Eastern economies. Paper presented at the 1997 British Association Festival of Science, University of Leeds 1997. Vgl. Arjen Y. Hoekstra (Hrsg.), Virtual Water Trade - Proceedings of The International Expert Meeting on Virtual Water Trade, Research Report Series No. 12, Delft 2003. Vgl. Taikan Oki u.a., Virtual Water Trade To Japan And In The World, in: ebd., S. 221 - 235. Vgl. Daniel Renault, Value of Virtual Water in Food: Principles and Virtues, in: ebd., S. 77 - 91. Vgl. Malin Falkenmark/Jan Lundquist/Carl Widstrand, Macro-scale water scarcity requires micro-scale approaches: Aspects of vulnerability in semi-arid development, in: Natural Resources Forum, 13 (1998) 4, S. 258 - 267. Vgl. Anton Earle/Anthony Turton, The Virtual Water Trade Amongst Countries of the SADC, in: A.Y. Hoekstra (Anm. 3), S. 183 - 197. Vgl. Anthony Allan, The Middle East Water Question. Hydropolitics and the Global Economy, London - New York 2002. Vgl. Thomas Kluge/Stefan Liehr, in: Lena Horlemann/Susanne Neubert, "Virtueller Wasserhandel". DIE-Studie, S. 13. Die Diskussion um die sozialen Folgen von Wasserpreisen kann hier nicht im Einzelnen geführt werden. Anerkannte Meinung ist es jedoch, dass Wasserressourcen nur dann adäquat bewirtschaftet werden, wenn Preise und Tarife für seine Bereitstellung, Aufbereitung und Entsorgung eingeführt werden. Vgl. Yacov Tsur u.a., Pricing Irrigation Water: Principles and Cases from Developing Countries, Washington, D. C. 2004. Vgl. http://www.polity.org.za/html/govdocs/white_papers/water.html?rebookmark=1. Vgl. Susanne Neubert/Lena Horlemann, Empfehlungen zur zukünftigen strategischen Orientierung der deutschen EZ im Wasser- und Bewässerungssektor, DIE Discussion Paper Nr. 4/2005, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn 2005.
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Horlemann, Lena / Neubert, Susanne
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29700/virtueller-wasserhandel-zur-ueberwindung-der-wasserkrise/
Der virtuelle Wasserhandel erfährt als internationales Konzept zur Wassereinsparung zunehmende Beachtung. Vor- und Nachteile dieser Strategie werden diskutiert.
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Info 03.01 Audiopodcast produzieren | Partizipation 2.0 | bpb.de
Ziel der Erstellung eines Audiopodcasts ist es, komplexe inhaltliche Zusammenhänge in verständlicher, ansprechender und prägnanter Form auf die Kernaussagen zu beschränken (weitere Infos zum Audiopodcast finden Sie unter Interner Link: M 01.02). Didaktischer Hinweis "Texte, die für Hörerinnen und Hörer geschrieben werden, müssen anders formuliert werden, als solche für Leserinnen und Leser. Während beim Lesen die Lesegeschwindigkeit individuell bestimmt wird, der Text im Überblick vorliegt und somit Rücksprünge bei Unverständlichkeit (z. B. wegen Fremdwörtern oder des Satzbaus) möglich sind, bleibt der Hörerin oder dem Hörer keine dieser Möglichkeiten. Folglich muss die Sprechgeschwindigkeit relativ langsam sein. Die Sprache muss einfach abgefasst werden und der einzelne Satz darf nur wenige Informationen beinhalten. Die Hörerin und der Hörer müssen Schritt für Schritt informiert werden. Es muss also so formuliert werden, dass alles sofort verständlich wird. Deshalb ist es notwendig, immer wieder Wiederholungen einzubauen und akustische Hilfen zu geben." [1] Die Produktion eines Audiopodcasts hat den Vorteil, dass mit der Planung und Durchführung von Interviews zugleich eine sozialwissenschaftliche Methode eingeübt wird. Einen weiteren Vorteil stellt die Produktorientierung und Veröffentlichung dar, die eine hohe Motivation der Schülerinnen und Schüler bewirken kann. Einsatzmöglichkeiten Zur Dokumentation einer Aktion, z. B. eines SmartMobs, können die Jugendlichen einen Audiobeitrag produzieren und – falls erforderlich – unter Externer Link: www.auphonic.com optimieren, z. B. indem störende Hintergrundgeräusche entfernt werden, der Beitrag in verschiedene Abschnitte unterteilt oder in anderes Dateiformat konvertiert wird. Anschließend kann die Datei z. B. über Externer Link: www.soundcloud.com selbst im Internet hochgeladen werden. Der generierte Link kann zu weiteren Präsentationszwecken auf Webseiten eingebunden werden. Wird ein umfassenderes Projekt (Interner Link: M 03.03) z. B. mit Externer Link: www.padlet.com dokumentiert, kann der Audiobeitrag dort direkt zur Gesamtpräsentation hochgeladen werden. Technische Voraussetzungen Generell ist es möglich auch mit einem modernen Smartphone Tonaufnahmen zu erstellen und anschließend mit einer Software zu bearbeiten und zu schneiden (z. B. mit der kostenlosen Software Externer Link: Audacity). Ist eine professionellere technische Ausrüstung (Mikrophone, Aufnahmegerät, Computerprogramme) verfügbar, kann das Produkt natürlich erheblich an Qualität gewinnen. Testaufnahmen im Vorfeld sind unerlässlich, um die Funktionstüchtigkeit der Ausrüstung und die Qualität der Aufnahme zu überprüfen. [1] Günther Gugel: Methoden-Manual II: "Neues Lernen". Tausend neue Praxisvorschläge für Schule und Lehrerbildung. Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1998, S. 176 Literatur: Günther Gugel: Methoden-Manual II: "Neues Lernen". Tausend neue Praxisvorschläge für Schule und Lehrerbildung. Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1998, S. 176 f. (Radiowerkstatt). Walther von LaRoche: Radio-Journalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis im Hörfunk. 6. Auflage. München u. a.: List 1997. Tim Pritlove: Podcasting für Einsteiger, in: pb21.de, Externer Link: http://pb21.de/files/2011/05/Podcasting-fu%C2%A6%C3%AAr-Einsteiger-1.21.pdf (30.07.2013). CC-by-Lizenz, Autor: Tim Pritlove für pb21.de.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-07-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-20/165815/info-03-01-audiopodcast-produzieren/
Dieses Infomaterial für Lehrerinnen und Lehrer zu der Methode "Audiopodcast produzieren" bietet neben didaktischen HInweisen, Hinweise zur praktischen Durchführung der Methode und Informationen zur technischen Voraussetzung.
[ "Grafstat" ]
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Bildungsmaterialien bereitstellen und entwickeln | Open Educational Resources – OER | bpb.de
Für einen schnellen Überblick: Min 00:26: Welche Rolle spielen freie Bildungsmaterialien bei Ihnen? Min 02:44: Vor welchen Herausforderungen stehen Sie bei der Bereitstellung von Bildungsmaterial? Min 05:47: Wie begegnen Sie den Herausforderungen?
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-11T00:00:00"
"2016-04-25T00:00:00"
"2022-01-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/226015/bildungsmaterialien-bereitstellen-und-entwickeln/
Teamarbeit und sich verschränkende Konzeptentwicklungen: Sie stellen Pädagoginnen und Pädagogen immer wieder vor die Herausforderung, Materialien zu erarbeiten, die nicht nur nachvollziehbar sind, sondern auch in anderen Kontexten angewendet werden k
[ "Interview", "OER", "Guido Brombach", "Brombach" ]
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Regionale Verteilung und Herkunftsländer | Datenreport 2021 | bpb.de
Aus geografischer Perspektive betrifft Migration vor allem das frühere Bundesgebiet. Westdeutsche Großstädte und alte industrielle Zentren weisen historisch bedingt hohe Anteile an Menschen mit Migrationshintergrund auf. In den genannten Regionen im Westen war der Bedarf an Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern infolge des Wirtschaftsaufschwungs ab den 1950er-Jahren besonders groß. Dieses räumliche Verteilungsmuster besteht bis heute, wie ein Vergleich der Bundesländer zeigt. Im Jahr 2019 war der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund am höchsten in den Stadtstaaten Bremen (37 %), Hamburg (34 %) und Berlin (33 %) sowie in den Flächenländern Hessen, Baden-Württemberg (jeweils 34 %) und Nordrhein-Westfalen (31 %). In den neuen Ländern (ohne Berlin) waren es hingegen nur 8 %. In den westlichen Flächenländern gab es je nach Regierungsbezirk teilweise große regionale Unterschiede. Im Jahr 2019 stammten rund 35,2 % der 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus den Ländern der Europäischen Union, vor allem aus Polen (2,2 Millionen Menschen beziehungsweise 10,5 %). Weitere 29,7 % kamen aus europäischen Staaten außerhalb der EU, darunter vor allem aus der Türkei (2,8 Millionen Menschen beziehungsweise 13,3 %) und der Russischen Föderation (1,4 Millionen Menschen beziehungsweise 6,5 %). Der Nahe und Mittlere Osten ist ebenfalls eine bedeutsame Herkunftsregion (3,2 Millionen Menschen beziehungsweise 15,2 %). Vor allem Kasachstan, eines der Hauptherkunftsländer der (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler, machte mit rund 1,2 Millionen Menschen den größten Anteil aus (5,9 %). Es folgten Syrien (843.000 Personen, 4,0 %), Irak (310.000 Personen, 1,5 %) und Iran (237.000 Personen, 1,1 %). Aus den übrigen Regionen Asiens kamen weitere 1,4 Millionen Personen (6,5 %); darunter war Afghanistan mit 297.000 Menschen (1,4 %) besonders relevant. In den nordafrikanischen Staaten Marokko, Ägypten, Algerien, Libyen und Tunesien hatten zusammen 459.000 Menschen, die nun in Deutschland leben, ihre Wurzeln (2,2 %). Je nach Herkunftsregion variierten der Anteil der Zugewanderten – also der Anteil der im Ausland geborenen Menschen – sowie der Ausländeranteil, das heißt der Anteil der Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Beispielsweise waren 77,0 % der Personen mit Wurzeln im Nahen und Mittleren Osten selbst zugewandert, während dies nur auf 62,6 % der Personen afrikanischer Herkunft zutraf.
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Anja Petschel
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/bevoelkerung-und-demografie/329509/regionale-verteilung-und-herkunftslaender/
Aus geografischer Perspektive betrifft Migration vor allem das frühere Bundesgebiet. Westdeutsche Großstädte und alte industrielle Zentren weisen historisch bedingt hohe Anteile an Menschen mit Migrationshintergrund auf. In den genannten Regionen im
[ "Datenreport", "regionale Verteilung", "Herkunftsländer", "Menschen mit Migrationshintergrund", "Gastarbeiter", "Gastarbeiterinnen", "räumliche Verteilungsmuster" ]
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Der Versuch einer Berührung | AV-Medienkatalog | bpb.de
Regie u. Buch: Nina Gladitz Produktion: Nina Gladitz, Bundesrepublik Deutschland 1988 Format: 44 Min. - VHS-Video - farbig Stichworte: Jugend - Nationalsozialismus - Soziales Verhalten FSK: 12 Jahre Kategorie: Dokumentarfilm Inhalt: Vier Jugendliche aus Berlin, drei junge Männer, eine junge Frau, Pop-Fans, an Politik nicht sonderlich interessiert, begegnen einem Mann, der, dreimal so alt wie sie selbst, wegen seiner Begeisterung für Swingmusik jahrelang im Jugend-Konzentrationslager Moringen gesessen hat. Nina Gladitz geht mit diesem Film in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einmal einen anderen Weg: Sie dokumentiert die Reaktionen der Jugendlichen auf die Erzählungen des ehemaligen KZ-Häftlings. Dabei greift sie nicht auf alte Dokumentaraufnahmen zurück, sondern in aufgelockerter Atmosphäre versuchen die Jugendlichen, diese damalige Situation selbst zu erfahren. So läßt sich einer der Jugendlichen auf dem Schrottplatz eine Fußkette anlegen, um einige Schritte auf der Straße damit zu versuchen, eine Kohlsuppe wird nachgekocht usw. Es entwickelt sich ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Die Jugendlichen berichten über ihr Lebensgefühl, reflektieren, differenzieren. Nichts an dem Film war vorgegeben, außer den Erlebnissen des ehemaligen Häftlings. Ohne Vorabsprache legen die Jugendlichen auf dem Friedhof in Moringen - entgegen der Friedhofsordnung - einen selbstbeschrifteten Gedenkstein auf dem Rasenstück nieder, unter dem die im Jugend-Konzentrationslager umgekommenen Häftlinge bestattet wurden.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-10-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146492/der-versuch-einer-beruehrung/
Vier Jugendliche aus Berlin, begegnen einem Mann, der wegen seiner Begeisterung für Swingmusik jahrelang im Jugend-Konzentrationslager Moringen gesessen hat. Nina Gladitz geht mit diesem Film in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einm
[ "Jugend", "Nationalsozialismus", "Soziales Verhalten" ]
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Einleitung | bpb.de
Migration ist seit jeher ein zentrales Element der Anpassung des Menschen an Umweltbedingungen sowie gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Herausforderungen. Räumliche Bewegungen von Menschen veränderten in den vergangenen Jahrhunderten die Welt: Zahlreiche Beispiele zeigen das Ausmaß, mit dem Arbeits- oder Siedlungswanderungen, Flucht, Vertreibung oder Deportation die Bevölkerungszusammensetzung, die Entwicklung von Arbeitsmärkten oder kulturell-religiöse Orientierungen beeinflussten. Auch in Zukunft wird Migration ein globales Thema bleiben. Das verdeutlichen beispielsweise die aktuellen Debatten über die Folgen des weiteren Anwachsens der Weltbevölkerung, der Alterung der Gesellschaften des reichen "Nordens", des Klimawandels oder des Mangels an Fachkräften für zunehmend komplexere und international eng vernetzte "Wissensgesellschaften". Bedingungen, Formen und Folgen von Migration Migration kann als die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen verstanden werden. Unterscheiden lassen sich verschiedene Erscheinungsformen globaler räumlicher Bevölkerungsbewegungen. Dazu zählen vor allem Arbeits- und Siedlungswanderungen, Nomadismus, Bildungs-, Ausbildungs- und Kulturwanderungen, Heirats- und Wohlstandswanderungen sowie Zwangswanderungen. Tabelle 1: Hintergründe und raum-zeitliche Dimensionen von Migration Eigene Darstellung Hintergrund Chancenwahrnehmung (Arbeits- und Siedlungswanderungen)Zwang (Flucht, Vertreibung, Deportation, meist politisch und weltanschaulich bedingt oder Folge von Kriegen) Krise/Katastrophe (z.B. Abwanderung aufgrund menschlicher oder natürlicher Umweltzerstörung, akuter wirtschaftlicher und sozialer Notlagen) Bildung/Ausbildung (Erwerb von beruflichen oder akademischen Qualifikationen) Lebensstil (Kulturwanderungen, Wohlstandswanderungen) Raum intraregional (Nahwanderungen) interregional (mittlere Distanz) grenzüberschreitend (muss keine großen Distanzen umfassen, der Grenzübertritt hat aber in der Regel erhebliche rechtliche Konsequenzen für das Individuum) interkontinental (große Distanzen mit in der Regel relativ hohen Kosten) Richtung unidirektional (Wanderung zu einem Ziel) etappenweise (Zwischenaufenthalte werden eingelegt, v.a. um Geld für die Weiterreise zu verdienen) zirkulär (mehr oder minder regelmäßiger Wechsel zwischen zwei Räumen) Rückwanderung Dauer des Aufenthalts saisonal mehrjährig Arbeitsleben Lebenszeit und intergenerationell Der Überblick über die Hintergründe und raum-zeitlichen Dimensionen von Migration verdeutlicht die Komplexität des Phänomens, dessen Entwicklung von einer Vielzahl von Faktoren abhängt: Arbeitswanderungen sind Konjunktur- und Krisensymptome; die Veränderung ihrer Dimensionen und Verläufe spiegelt die Entwicklung globaler, nationaler und regionaler Ökonomien. Migration ist aber auch gebunden an Herrschaftsverhältnisse und politische Prozesse: Individuelles und kollektives Handeln von (potenziellen) Migranten unterliegt staatlichen, politischen und administrativen Einflüssen und Einflussnahmen. Zwangswanderungen wiederum sind Ausdruck davon, dass die Einschränkung der Freiheit von Individuen und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit staatlich und gesellschaftlich akzeptiert werden. Menschen reagieren auf bewaffnete Konflikte mit Bewegungen im Raum, d.h. sie fliehen an einen (vermeintlich) sichereren Ort. Wie eine Unzahl von Vertreibungen und Deportationen in Geschichte und Gegenwart zeigt, ist die Vorstellung weit verbreitet, durch die Nötigung zur Migration ließe sich Herrschaft stabilisieren oder könnten politische Interessen durchgesetzt werden. Blicke in die Zukunft: Probleme und Perspektiven Weil sich die Genese der skizzierten (und anderer) Einflussfaktoren kaum prognostizieren lässt, bleibt der Blick in die migratorische Zukunft der Welt unsicher. Dennoch lässt sich auf der Grundlage einiger Trends der vergangenen Jahre und Jahrzehnte skizzieren, welche Entwicklungen unter Berücksichtigung welcher Einflussfaktoren in der absehbaren Zukunft erwartet werden können. Im Folgenden gilt das Interesse den Folgen dreier globaler Prozesse, die das Migrationsgeschehen entscheidend prägen: 1. dem Bevölkerungswachstum, 2. der Urbanisierung und 3. den Umweltveränderungen. Gegenüber allen statistischen Angaben ist dabei Skepsis angebracht. Das gilt nicht nur wegen der bereits erwähnten Komplexität des beobachteten Phänomens. Selbst Staaten, die über gut funktionierende statistische Behörden verfügen, bieten in aller Regel nur unzureichende Angaben über grenzüberschreitende Zu- und Abwanderung sowie intra- und interregionale Migration. Meist werden unterschiedliche Definitionen für die verschiedenen Migrationsphänomene zugrunde gelegt. Auch wandeln sich die stark variierenden Erhebungskriterien häufig, weshalb sich Vergleiche und das Zusammenführen von Angaben zu einzelnen Ländern als sehr schwierig gestalten. Weder über die Vergangenheit, noch über die Gegenwart oder gar über die Zukunft der Migrationsverhältnisse lassen sich abgesicherte Umfangsangaben machen. Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Globale Migration in der Zukunft". Hierzu und zum Folgenden im knappen Aufriss: Oltmer (2012).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-09-09T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/168590/einleitung/
Migration kann als die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen verstanden werden. Unterscheiden lassen sich verschiedene Erscheinung
[ "Migration", "Migrationsbedingungen", "Migrationsfolgen", "Migrationsformen" ]
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Dekoder: Korruptionsanklagen mit System? Der Fall Uljukajew und seine Vorbilder | Russland-Analysen | bpb.de
Der folgende Beitrag der russischen Journalisten Dimitrij Filonow und Anastasija Jakorewa erschien ursprünglich am 05.12.2016 in der Onlinezeitung Republic und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder, Republic, Dimitrij Filonow und Anastasija Jakorewa für die Erlaubnis zum Nachdruck. Externer Link: dekoder.org verbindet zwei Content-Typen, die sich gegenseitig ergänzen: übersetzte Originalbeiträge russischer Medien und Erklärtexte von Wissenschaftlern aus europäischen Universitäten. Beide greifen auf dekoder.org ineinander und stellen so ein Instrument zur Verfügung, um "Russland zu entschlüsseln" und ein direktes Eintauchen in die Debatten des Landes zu ermöglichen. Die Redaktion der Russland-Analysen Einleitung von dekoder Die beiden Journalisten Dimitrij Filonow und Anastasija Jakorewa nahmen den Fall Uljukajew, zum Anlass, um für das liberale Webmagazin Republic nach bewährten Mustern zu suchen, wenn es um das Ausschalten von Amts- und Würdenträgern (rus. Tschinowniki) geht. Was offiziell als Korruptionsfall behandelt wird, könnte – so wird spekuliert – ein verdeckter Kampf um Posten oder gar eine offene persönliche Rechnung sein. Fest steht: Uljukajew ist nur einer von vielen Staatsbeamten und Politikern, seien es Gouverneure, Bürgermeister oder Berater, die in den vergangenen Jahren von Strafverfolgungsbehörden ins Visier genommen wurden – allerdings ist er der erste Minister, der wegen Korruptionsvorwürfen seinen Posten räumen musste. Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder Witalij Teslenko, Gesundheitsminister des Gebietes Tscheljabinsk, saß einfach so mit Freunden in der Banja: bei Wodka, Gurken und Tomaten, Schinkenknackern und dick geschnittenem Schwarzbrot – wobei sie sich durchaus ein erlesenes Bankett hätten leisten können. Die Mitarbeiter des FSB, die die Banja stürmten, fanden dort 12 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 200.000 Euro – Anmerkung der Redaktion]: "Provisionen", die Teslenko erhalten hatte. In der Folge legte man dem Minister den Erhalt von insgesamt 69 Millionen Rubel [umgerechnet rund 1 Million Euro – Anmerkung der Redaktion] Schmiergeldern über einen Zeitraum von wenigen Jahren zur Last und verurteilte ihn zu sieben Jahren Strafkolonie. Das ist nur eine kleine Episode im Kampf gegen die Korruption in Russland. Der Höhepunkt war die Festnahme des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew, der angeblich mit zwei Millionen US-Dollar aus dem Büro von Rosneft herausspaziert ist. Das war das erste Mal in der Geschichte Russlands, dass ein amtierender Minister verhaftet wurde. Im April 2016 hat Generalstaatsanwalt Tschaika erklärt, im Jahr zuvor seien gegen 958 Tschinowniki Ermittlungen wegen Korruption aufgenommen worden. Wenn jemand in den Knast gebracht wird, könnte das als glatter Sieg von Polizei und Justiz betrachtet werden, doch ist Korruption in Russland auch schlicht die bequemste Art, einen missliebigen Tschinownik "aus dem Rennen zu nehmen". In der Wirtschaft ist es immer schlimmer, der Kampf ums Geld wird immer erbitterter. Niemand zählt mit Nowosibirsk, Wladiwostok, Syktywkar, Birobidshan, Perm, Smolensk. Gouverneure, Bürgermeister, Minister, ihre Stellvertreter – den von Republic zusammengetragenen Daten zufolge werden in Russland im Schnitt monatlich drei hohe Tschinowniki auf Grund von Anti-Korruptions-Paragraphen festgenommen. Eine offizielle Statistik fehlt, und so hat nun Republic selbst Informationen über Verfahren gegen höhere Tschinowniki gesammelt. Insgesamt wurde seit 2010 in den Medien von rund 120 Festnahmen berichtet: von Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern und deren Stellvertretern (Verfahren gegen Tschinowniki niederen Ranges gelangten nicht in die Stichprobe). In diesen sechs Jahren fiel der erste Spitzenwert mit 30 Festnahmen auf das Jahr 2013, das Jahr nach den Präsidentschaftswahlen. 2014 ging die Zahl der verhafteten Tschinowniki drastisch zurück. Grafik 8: Festnahmen von Staatsbeamten 2010-2016* *Stand 11/2016; Quelle: eigene Zählung Republic 2015 (in dem 34 hohe Tschinowniki festgenommen wurden) und 2016 (rund 30 Fälle) wurden allerdings die früheren Werte wieder erreicht. Um Bestechung geht es nur in einem Drittel der Verfahren: Oft werden die Tschinowniki des Betrugs oder der Überschreitung von Amtsbefugnissen beschuldigt, seltener der Unterschlagung, Veruntreuung oder der Bildung einer kriminellen Vereinigung. "Für kriminelles Handeln wird niemand einfach so eingebuchtet, da muss es schon einen politischen Willen geben", sagt ein auf derartige Fälle spezialisierter Anwalt. Wie werden die Fälle bearbeitet? Am 17. März 2014 hat Wladimir Putin zwei Dekrete unterzeichnet: Durch den einen wurde die Krim an Russland angeschlossen, mit dem anderen enthob er Wassilij Jurtschenko, den Gouverneur der Oblast Nowosibirsk, seines Amtes. Er war der erste Gouverneur, den Putin mit der Formulierung "aufgrund von Vertrauensverlust" entließ. Nach Jurtschenkos Darstellung steht hinter seiner Abberufung eine Aktion ihm nicht wohlgesonnener Leute. Ihnen soll er in die Quere gekommen sein. Jurtschenko stammte aus dem Team des vorherigen Gouverneurs. Nachdem er seinen Posten angetreten hatte, soll Jurtschenko bald seine eigenen Leute auf Schlüsselposten gehievt haben. Aber als einer der wichtigsten Gründe für die Unzufriedenheit im Umkreis von Jurtschenko gilt sein Bestreben, einen örtlichen Tscherkison [Begriff, der häufig als Gattungsname bzw. fast als Synonym für Markt verwendet wird; von "Tscherkisowoer Markt", der von Anfang der 1990er Jahren bis 2009 in Moskau existierte und vermutlich der größte Markt Osteuropas war – Anm. d. Red] aufzulösen: den großen Kleidermarkt Gusinoborodski, zu dem Waren aus China gelangten und dann in ganz Sibirien vertrieben wurden. Es heißt, schon die Versuche, diesen Markt Anfang der 2000er Jahre zu reformieren, seien der Grund für die Ermordung der beiden Nowosibirsker Vizebürgermeister Igor Beljakow und Walerij Marjassow gewesen. Gegen Jurtschenko wurde (wegen des Verkaufs eines Grundstücks in Nowosibirsk zu Niedrigpreisen) bereits im Sommer 2013 ein Strafverfahren eingeleitet – das derzeit bei Gericht verhandelt wird. Im Juli 2016 wurde gegen Jurtschenkos Frau Natalja ein Verfahren eingeleitet. Wessen Interessen hat Jurtschenko beeinträchtigt? Der Gesprächspartner von Republic schweigt, dann holt er das Telefon heraus und gibt den Namen eines ehemaligen Tschinowniks aus der Präsidialadministration ein. Die Entscheidung zur Abberufung eines Gouverneurs oder eines föderalen Ministers kann nur einer treffen: der Präsident. Wie mehrere Gesprächspartner erklären, mit denen Republic sprechen konnte, besteht die Kunst allein darin, ihn zu einem solchen Schritt zu bewegen. Hierzu braucht es Strafverfahren und unwiderlegbare Beweise. "Dossiers mit kompromittierenden Unterlagen gibt es über jeden. Wann diese eingesetzt werden, ist nur eine Frage der Zeit", erklärt einer der Gesprächspartner von Republic. Wer ins Visier kommt, der wird abgehört Der Moment kann dann eintreten, wenn in einem Gebiet, das in die Zuständigkeit eines Bürgermeisters oder Gouverneurs fällt, zu starke Proteststimmungen herrschen oder Wahlen verloren gehen. So hatte zum Beispiel der Föderale Antimonopol-Dienst (FAS) 2015 den Bürgermeister von Wladiwostok Igor Puschkarjow verdächtigt, dessen Verwandte würden an Verträgen mit der Stadt verdienen. Festgenommen wurde Puschkarjow jedoch erst 2016, vor dem Hintergrund des Skandals, als er die Wahlkommissionen umsiedelte: "Nach personellen Veränderungen in den Territorialen Wahlkommissionen von Wladiwostok, die nun nicht mehr der Kontrolle des Bürgermeisters unterstanden, hatte der Bürgermeister zur Strafe ,ein wenig nachgeholfen‘, so dass die Pachtverträge für die Räumlichkeiten der Kommissionen gekündigt wurden", sagt Ella Pamfilowa, die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission in einem Interview. Interesse an einer Abberufung könnte ein Unternehmer oder ein anderer Tschinownik haben, und manchmal treffen sich die Interessen gleich mehrerer Parteien. Lautet das Kommando schließlich, einen Tschinownik zu entfernen, wird er abgehört. Das kann lange dauern. So meinen etwa die Anwälte des ehemaligen Gouverneurs von Sachalin, Alexander Choroschawin, er sei mindestens ein Jahr lang abgehört worden. Der Anwalt des Wladiwostoker Bürgermeisters Igor Puschkarjow gab an, sein Mandant sei über mehrere Jahre abgehört worden. Wie die Nachrichtenplattform RBK berichtete, war auch Alexej Uljukajew mindestens ein Jahr lang auf dem Radar. Laut der Zeitung Wedomosti betraf das nicht nur den Minister, sondern auch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Arkadij Dworkowitsch und den Assistenten des Präsidenten, Andrej Beloussow. Abhören ist eine unbedingte Maßnahme bei praktisch jedem dieser Vorgänge. Eine Abhörgenehmigung ist per Gericht zu erwirken, doch das ist reine Routine; eine Verweigerung erfolgt äußerst selten. Dem Richter die unbedingte Notwendigkeit von Gesprächsaufzeichnungen eines Tschinowniks plausibel zu machen, ist einfach: Gleich mehrere Anwälte, in deren Verfahren Abhörunterlagen verwendet werden, berichteten davon, dass in den Anträgen folgender Standardsatz auftaucht: "Es besteht der Verdacht, dass Dienstvollmachten überschritten wurden." Die Gerichte haben 2015 insgesamt 845.600 Abhörgenehmigungen erteilt. Selbstredend werden nicht nur die Worte des Verdächtigen aufgezeichnet, sondern auch die seiner Gesprächspartner. Das erweitert den Kreis der Leute, deren Gespräche in FSB-Hände gelangen. Und aus ihren Worten können sich neue Strafverfahren ergeben. Ein ehemaliger Ermittler sagt im Gespräch mit Republic, manchmal sei es möglich, auch ohne Genehmigung des Gerichts abzuhören, was jedoch niemand zugeben würde. Sobald ein Verdächtiger etwas Wertvolles sagt, laufen die Fahnder los, um die Genehmigung einzuholen. "Manchmal streuen sie ein Gerücht und schauen, wie die Abgehörten reagieren. So kann man jemanden bei der Rückgabe von Bestechungsgeldern ertappen, sollte er zu nervös geworden sein", erklärt ein ehemaliger Ermittler. Beispielsweise wurde 2013 im Restaurant Genazwale auf dem Alten Arbat in Moskau Wjatscheslaw Denissow festgenommen, ein Oberst des Innenministeriums, der wohl einem Geschäftsmann 835.000 Rubel [umgerechnet knapp 12.000 Euro – Anmerkung der Redaktion] zurückgab. Gleichzeitig wird durch das Abhören ein Kreis von Personen umrissen, von denen man Aussagen über die betreffende Person erhalten kann. So kam es aufgrund von Aussagen des Bürgermeisters von Iwanowo, der der Bestechlichkeit verdächtigt wurde, zu einem Verfahren gegen Dimitrij Kulikow, den Vizegouverneur des Gebiets Iwanowo. Gegen den ehemaligen Gouverneur von Sachalin Alexander Choroschawin hatte der an Krebs erkrankte und in Untersuchungshaft sitzende Geschäftsmann Nikolaj Kern ausgesagt. Anschließend wurde Kern entlassen und blieb unter Hausarrest; er starb einige Monate später. "Es ist klar, dass er ausgesagt hat, um in Freiheit zu sterben", sagt Iwan Mironow, der Anwalt der Familie Choroschawin. Ein ehemaliger Ermittler erklärt, absolut jedes Strafverfahren bringe das Recht mit sich, Hausdurchsuchungen und andere Ermittlungsmaßnahmen vorzunehmen – und so können auch für andere Strafverfahren Beweise gesammelt werden. Beim Schach gibt es klare Regeln, hier nicht Müssen die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden das Vorgehen gegen einen Tschinownik von oben absegnen lassen? Formal ist der FSB nicht verpflichtet, die Präsidialadministration über die Aufnahme operativer Fahndungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Allerdings sagen die Tschinowniki, mit denen Republic gesprochen hat, dass man im Kreml selbstverständlich von allen Fällen wisse. Man ging davon aus, dass die großen Korruptionsfälle früher von Sergej Iwanow als Chef der Präsidialadministration betreut wurden. Allerdings wurde Iwanow im August 2016 abgesetzt. Über Untersuchungen gegen Gouverneure wusste man auch in der Verwaltung Innenpolitik der Präsidialadministration Bescheid, wo Wjatscheslaw Wolodin das Sagen hatte. Ein standardisiertes Schema, wie man eine Genehmigung für die Untersuchung eines Gouverneurs oder Angehörigen des Sicherheitsapparats erhält, gibt es nicht. Das läuft immer individuell. Es gewinnt derjenige, der einen direkten Zugang zum Präsidenten hat und sein Dossier mit kompromittierenden Materialien auf dessen Schreibtisch weiter oben platzieren kann. Zugang zu Putin haben übrigens nicht nur Tschinowniki der Präsidialadministration, sondern unter anderem auch die Chefs der Staatskorporation Rostech (Sergej Tschemesow) und von Rosneft (Igor Setschin). "Das ist wie beim Schach", erklärt einer der Gesprächspartner. Beim Schach gebe es allerdings klare Regeln, hier nicht, korrigiert ihn ein anderer. Dass bei Uljukajews Festnahme der FSB die Hauptrolle spielte, sei Standard, erklären eine Reihe ehemaliger Ermittler gegenüber Republic. Die Erstbearbeitung übernehmen immer die operativen Fahnder von FSB und Innenministerium. Später dann, wenn das Material für ein Strafverfahren gesammelt wird, kommen die Ermittler hinzu. Ein Gesprächspartner erklärt Republic, die Ermittler seien laut Gesetz unabhängig und befugt, den Mitarbeitern des FSB Anweisungen zu geben. Es gebe allerdings Ausnahmen, beispielsweise die Sechser, die 6. Gruppe der internen Sicherheitsabteilung des FSB. Sie wird auch "Spezialeinheit Setschin" genannt, weil die Gruppe auf Initiative Igor Setschins gegründet wurde, als dieser noch Vize-Chef der Präsidialadministration war. Die interne Sicherheitsabteilung kontrolliert die Mitarbeiter des FSB, und die Sechser kontrollieren die Kontrolleure. "Sie kommen einfach und sagen dir, was zu tun ist. Das ist der Inbegriff von Macht. Sie sind fast niemandem untergeordnet. Ihr Ding ist die Exklusivität, und Vollstreckung ihr besonderer Fetisch", sagt einer der Gesprächspartner zu Republic. Wenn die 6. Gruppe dabei ist, geht es seinen Worten zufolge entweder um eine sehr wichtige Person oder um einen sehr großen Auftrag. Die Sechser stehen hinter fast allen aufsehenerregenden Korruptionsfällen der letzten Zeit: Ihre Mitarbeiter haben sich sowohl Choroschawin und Gaiser vorgenommen, wie auch den Gouverneur des Gebietes Kirow Nikita Belych. Bei der Festnahme von Uljukajew hatte Oleg Feoktistow, der für Sicherheit zuständige Vizepräsident von Rosneft, den Mitarbeitern der Sondereinheit geholfen. Feoktistow war im September 2016 zu dem Ölkonzern gekommen, als der Vorgang Uljukajew bereits lief und der Minister mindestens seit dem Sommer abgehört wurde. Zuvor war Feoktistow stellvertretender Leiter der internen Sicherheitsabteilung des FSB gewesen. Er war für Belych zuständig und für den aufsehenerregenden Fall um Denis Sugrobow und Boris Kolesnikow, ihres Zeichens die Leiter der Hauptverwaltung wirtschaftliche Sicherheit und Korruptionsbekämpfung des Innenministeriums. Wie die New York Times schrieb, war Feoktistow als Anwärter für den Leitungsposten gehandelt worden, verlor aber den apparatsinternen Kampf und gelangte zu den abkommandierten Mitarbeitern des FSB. Was geschieht nach der Festnahme des Verdächtigen? Der Ermittler eröffnet ein Verfahren, und das Gericht entscheidet über eine Inhaftierung. Die Festnahme selbst ist eine recht langweilige Angelegenheit. Tschinowniki können an ihrem Arbeitsplatz festgenommen werden (wie im Fall Gaiser und Choroschawin), im Restaurant bei einer angeblichen Geldübergabe (wie bei Belych) oder sogar in der Banja (wie im Fall Teslenko). Die Ermittler nehmen dann über mehrere Stunden Protokolle auf, schreiben Aussagen nieder und durchsuchen die Räumlichkeiten. Es gibt aber auch Ausnahmen. So erfolgte die Festnahme des Bürgermeisters von Machatschkala, Said Amirow, unter Einsatz von Sondereinheiten, Hubschraubern und Militärfahrzeugen, die die Zufahrtswege zum Haus blockierten. Allerdings sticht der Fall Amirow auch in anderer Hinsicht heraus: Den meisten Bürgermeistern und Gouverneuren werden Wirtschaftsstraftaten zur Last gelegt, während Amirow des Mordes und enger Verbindungen zu örtlichen Straftätern verdächtigt wird. Die Festnahme wird zur Show Eine Festnahme zur Show zu machen, war bis vor kurzem das Privileg von Wladimir Markin als Pressesprecher des Ermittlungskomitees. "Im Zuge der Durchsuchungen sind 800 wertvolle Juwelier-Erzeugnisse sichergestellt worden. Sehen Sie, dieses scheinbar einfache Schreibgerät. In Wirklichkeit hat der Stift einen Wert von 36 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 600.000 Euro – Anmerkung der Redaktion]. Können Sie sich das vorstellen?", berichtete Markin verzückt in der Fernsehsendung Vesti über die Durchsuchung bei Choroschawin. Mehrere Anwälte beklagten gegenüber Republic, bei Markin würden Informationen über Fundstücke im Fernsehen schon auftauchen, bevor sie im Strafverfahren aufgenommen seien. Choroschawin gab später in einem Interview zu, dass es einen goldenen Stift mit Brillanten gab, doch habe der rund 1,3 Millionen Rubel [umgerechnet rund 21.000 Euro – Anmerkung der Redaktion] gekostet. "Die werden von der Firma Montblanc in Serie hergestellt. Ich bin nicht der einzige Tschinownik, der so einen hat. Ich habe ihn selbst gekauft. Ich war schon immer wohlhabend", sagte Choroschawin der Zeitung Moskowski Komsomolez. In den Meldungen über Gaiser kursierte dann statt eines Stifts eine Kollektion teurer Uhren. Zur Festnahme Uljukajews sind offiziell keine Details nach außen gedrungen. Gesprächspartner von Republic nehmen an, das könne daran liegen, dass Markin zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt gewesen sei. Treffpunkt Kreml-Zentrale Die Kreml-Zentrale ist ein gesonderter Block für hochrangige Häftlinge im Moskauer Untersuchungsgefängnis "Matrosenstille". Die Haftbedingungen sind hier strenger, aber komfortabler. Es gibt Zweierzellen mit Fernseher und Kühlschrank, einige sogar mit Dusche. Allerdings wird es in der Kreml-Zentrale langsam eng vor lauter prominenten Insassen. So sitzt Choroschawin, der ehemalige Gouverneur von Sachalin, in einer Zelle mit dem ehemaligen Bürgermeister von Wladiwostok, Igor Puschkarjow. Ein Gesprächspartner erzählt Republic, Choroschawin habe bei einer der Fahrten ins Gericht mit General Sugrobow in einem Gefangenentransport gesessen. "Wenn jemand in Untersuchungshaft sitzt, ist es für die Ermittler einfacher, Druck auf ihn auszuüben. Und für Anwälte ist es schwieriger, Kontakt mit dem Mandanten zu halten", meint Darja Konstantinowa, Anwältin des stellvertretenden Regierungschefs des Gebiets Iwanowo, Dimitrij Kulikow. Ihr Mandant hatte Glück: Kulikow wurde fast umgehend unter Hausarrest gestellt und später gegen Kaution ganz entlassen. Einer der Anwälte meint, so etwas sei in Moskau praktisch unmöglich; man müsse sich darauf einstellen, dass die Entscheidung des Richters zugunsten der Anklage und nicht zugunsten der Mandanten getroffen werde. Wjatscheslaw Leontjew, Anwalt von Wjatscheslaw Gaiser, berichtet, im Verfahren gegen seinen Mandanten habe der Richter den Haftbeschluss aufgrund eines standardmäßig formulierten FSB-Berichts gefällt: "Angehörige und Vermögen im Ausland sind vorhanden; es besteht Fluchtgefahr und die Möglichkeit, dass auf Zeugen Druck ausgeübt wird; es gibt Verbindungen zur kriminellen Strukturen." Leontjew meint (wie auch andere Anwälte, mit denen Republic gesprochen hat), in den Gerichtsverfahren sei keine Parteiengleichheit gegeben. Für eine Haftverlängerung muss der Ermittler die im Bericht genannten Gründe und Fakten bestätigen. Diese Anforderung ist vom Obersten Gericht festgelegt. Praktisch aber verlängere der Richter die Haft lediglich aufgrund der Worte des Ermittlers und ohne, dass dieser irgendwelche Beweise beigebracht hätte, erklärt der Jurist. Ein weiteres Druckmittel ist das Verbot, Angehörige zu sehen. Dem erwähnten Gaiser wird dies bereits seit 14 Monaten verweigert. "Vielleicht sind die Beschuldigten bei diesen aufsehenerregenden Verfahren gute Menschen, vielleicht aber auch schlechte. Dazu müssen Beweise vorgelegt und es muss fair verhandelt werden", meint der Anwalt Andrej Griwzow. Die Anwälte schreiben Beschwerden, berichten von Verstößen gegen die Verfahrensvorschriften, gehen vergeblich in Berufung. "Das Problem bei den aufsehenerregenden Fällen ist, dass sie all das Perverse dieses Systems zu Tage fördern", sagt Gaisers Anwalt Leontjew. Keiner der großen Prozesse garantiere, dass das System nicht umgehend an gleicher Stelle reproduziert wird. Die Korruptionsbekämpfung in Russland gleicht einem landesweiten Wettkampf um einen Platz an der Sonne, bei dem jeder mit jedem abrechnet. Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von Hartmut Schröder Grafik 8: Festnahmen von Staatsbeamten 2010-2016* *Stand 11/2016; Quelle: eigene Zählung Republic
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-02-05T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-348/264058/dekoder-korruptionsanklagen-mit-system-der-fall-uljukajew-und-seine-vorbilder/
Der Fall Uljukajew hat in Russland zu einer hitzigen Debatte geführt: Erstmals wurde ein amtierender Minister wegen Korruptionsvorwürfen seines Amtes enthoben. Handelt es sich wirklich um einen Korruptionsfall oder steckt dahinter eine Anklage mit Sy
[ "Alexander Choroschawin", "Korruptionsvorwürfe", "Russland" ]
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Politische Kulturen in Südosteuropa | Südosteuropa | bpb.de
Wie steht es um die Demokratien auf dem Balkan? Die Staaten Südosteuropas haben sich nach den Interner Link: Umbrüchen ab 1989 stark in Richtung Europäische Union und dem von ihr vertretenden Ideal der liberalen Demokratie orientiert. Doch weder ist es allen Ländern der Region bislang gelungen, Mitglied in der EU zu werden, noch haben sich in allen Ländern Südosteuropas stabile Demokratien etabliert. Diese Vielfalt zeigt auch der Blick auf verschiedene Indizes der Demokratiemessung: So bezeichnet der Externer Link: "Bertelsmann Transformation Index" (BTI) 2020 lediglich zwei der südosteuropäischen Länder – Slowenien und Kroatien – als "sich konsolidierende Demokratien". Bulgarien und Rumänien sind im Vergleich zu 2018 in die Gruppe der "defekten Demokratien" zurückgefallen. Ihr gehören auch Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Serbien, Ungarn und das Kosovo an. Noch schlechter, als "stark defekte Demokratie", wird Bosnien und Herzegowina bewertet. Auch die Entwicklungsrichtungen hinsichtlich der Demokratisierungsprozesse unterscheiden sich: Der Entwicklungstrend von Nordmazedonien ist positiv, der von Serbien und Slowenien negativ. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch andere Indizes, die versuchen, die Demokratiequalität von Staaten zu beurteilen. DemokratiequalitätWie misst man eigentlich Demokratie? Es ist nicht nur umstritten, Interner Link: was eine Demokratie auszeichnet, sondern auch, wie man die Qualität einer Demokratie messen kann. Verschiedene Berichte wie zum Beispiel "Freedom in the World" und "Nations in Transit", beide herausgegeben von der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House, das Projekt "Polity IV" oder der "Bertelsmann Transformation Index" (BTI) untersuchen und vergleichen regelmäßig demokratische Entwicklungen weltweit. Der "Bertelsmann Transformation Index" untersucht zweijährlich die politische und wirtschaftliche Transformation von 137 Staaten. Expertinnen und Experten bewerten politische Transformationsprozesse anhand von fünf Kriterien und einer Vielzahl von Fragestellungen: Staatlichkeit, politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität demokratischer Institutionen, politische und gesellschaftliche Integration. Zu einer konsolidierten, d. h. einer stabilen und streitbaren, Demokratie gehören nicht nur demokratische Institutionen, Parteien und Verbände, sondern auch demokratische Überzeugungen der Interner Link: politischen Eliten (also beispielsweise der Inhaber:innen hoher politischer Ämter) und der Bürger:innen. Idealerweise sollten politische Eliten und Bürger:innen an einem Strang ziehen und von der Legitimität und der Notwendigkeit der Umsetzung demokratischer Werte und Normen in ihrem Land überzeugt sein. Für die demokratischen Einstellungen der politischen Eliten ist z. B. die Interner Link: Pressefreiheit ein gutes Maß. Die Pressefreiheit kann nahezu ausschließlich durch Politiker:innen in Regierungsverantwortung eingeschränkt werden – beispielsweise durch Repressionen gegenüber Journalist:innen, durch die Besetzung wichtiger Posten in den wichtigsten staatlichen und privaten Medien oder durch den Aufkauf der wichtigsten Medien durch befreundete Geschäftsleute. Mindestens genauso wichtig wie die demokratische Überzeugung der Eliten ist eine demokratische politische Kultur unter den Bürger:innen. Nur wenn eine Mehrheit der Bürger:innen ihr politisches System als legitim ansieht, kann es auf Stabilität und Konsolidierung hoffen. Den politischen Überzeugungen der Bürger:innen – auch politische Unterstützung genannt – kann man am besten mit dem Konzept der politischen Kulturforschung auf die Spur kommen. Entsprechend lohnt es sich, dieses im Folgenden kurz zu skizzieren. Was ist eine demokratische politische Kultur? Was versteht man unter Interner Link: politischer Kultur? Politische Kultur bildet die subjektive Seite von Politik in einem Gemeinwesen ab. Dazu gehören die Einstellungen und Wertorientierungen der Bürger:innen eines Landes gegenüber politischen Institutionen und Akteur:innen. Sie sind eine Konsequenz von historischen Prozessen und kollektiv ähnlicher individueller Sozialisation. Aussagen über die Muster politischer Einstellungen werden über die repräsentativ erhobenen Überzeugungen der Bürger:innen erzielt. Das zentrale inhaltliche Ziel der politischen Kulturforschung ist es, die subjektive positive oder negative politische Unterstützung der Bürger:innen zu erfassen. Diese fördert oder gefährdet die Stabilität eines (demokratischen) politischen Systems. Fehlt eine zumindest positiv-neutrale Haltung gegenüber dem politischen System, dann unterliegt dieses im Krisenfall der Gefahr eines Zusammenbruchs – egal, ob die Krise ökonomisch, politisch oder sozial ist. Die Mehrzahl der Bürger:innen ist dann nicht mehr bereit, aktiv für das gegenwärtige System einzustehen und die bestehenden Regeln und Normen zu befolgen. Die Bürger:innen empfinden die Demokratie nicht mehr als angemessen für ihre Gesellschaft (Legitimität) und die Unterstützung für das gegenwärtige politische System schwindet. Nur wenn keine größeren Gruppen in einem politischen System existieren, die dieses aktiv ablehnen oder – noch problematischer – abschaffen wollen, ist dessen Überleben über eine längere Zeit gesichert. Andernfalls wandeln sich politischen Institutionen und Regeln (Reform) oder es kommt zu einem Zusammenbruch (Revolution). Die politische Kultur der Eliten in Südosteuropa Die folgende Darstellung (Abb. 1) aus dem BTI 2020 zeigt das Zusammenspiel von demokratischer Überzeugung der Eliten und der Bürger:innen: Je stärker die politischen Eliten von der Legitimität demokratischer Institutionen und dem Erhalt ihrer Funktionsfähigkeit überzeugt sind, desto stärker ist die Meinungsfreiheit und mit ihr die Pressefreiheit im jeweiligen Land ausgeprägt. Nur ein südosteuropäisches Land ist in den beiden Spitzengruppen zu finden – Slowenien. Es folgen Bulgarien und Kroatien und fast alle übrigen Länder Südosteuropas. Bosnien und Herzegowina schneidet besonders schlecht ab. Abb. 1: Meinungs- und Pressefreiheit, demokratische Überzeugungen der politischen Eliten und der Bürger:innen, Bertelsmann Transformation Index 2020 (Externer Link: Transformation Atlas / Bertelsmann Stiftung 2020) Lizenz: cc by/3.0/de Die demokratische Überzeugung der Eliten (Verpflichtung gegenüber demokratischen Institutionen) wird nur in Slowenien, Kroatien und Bulgarien als "exzellent" bewertet. Slowenien gehört seit 2010 zur Spitzengruppe der demokratischen Länder innerhalb des BTI. Die Entwicklung in Kroatien ist seit 2010 stabil, das bedeutet aber auch, dass kaum Fortschritte bei der Demokratisierung der politischen Eliten zu verzeichnen sind. Der Entwicklungstrend in Bulgarien ist seit 2010 negativ. Das Land ist bereits 2016 aus der Spitzengruppe gefallen. Nimmt man die Korruptionswahrnehmung hinzu, deutet sich in Bulgarien und Slowenien eine leichte Verbesserung, in Kroatien eine Verschlechterung der Einschätzung von wirtschaftlichen, politischen und Verwaltungseliten als korrupt an (Externer Link: Corruption Perception Index 2019). In Serbien, Nordmazedonien, Rumänien und im Kosovo sowie in Nordmazedonien lässt die Verpflichtung der politischen Eliten gegenüber den Regeln demokratischer Institutionen schon deutlich nach. Albanien kann ein Verbesserungstrend bescheinigt werden. In Bosnien und Herzegowina bewertet der BTI die demokratische Überzeugung der politischen Eliten mit "mangelhaft". Korruption ist weit verbreitet. Hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit zählt laut BTI aktuell kein südosteuropäisches Land zu der Gruppe der am besten funktionierenden Demokratien, am besten schneiden Slowenien und Albanien ab. In Slowenien ist der Entwicklungstrend allerdings negativ, die Pressefreiheit wird laut der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen zunehmend eingeschränkt. Medienaufkäufe durch ungarische Firmen fördern die Polarisierung der slowenischen Medienlandschaft zwischen Regierung und Opposition. Negativ entwickelt sich Slowenien laut BTI auch in den Bereichen der politischen Partizipation sowie der der politischen und gesellschaftlichen Integration – damit sind die Verbindungen zwischen Staat und Gesellschaft gemeint, zum Beispiel über Parteien, Interessengruppen oder zivilgesellschaftliche Akteure. Albanien arbeitet sich gerade sichtbar aus einem Tiefpunkt der Entwicklung im Jahr 2014 heraus. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass demokratische Werte sich bei den politischen Eliten durchgehend durchgesetzt hätten: Frühere Kommunisten und Anti-Kommunisten stehen sich unversöhnlich ideologisch gegenüber und wechseln sich an der Regierung ab. Die staatlichen Institutionen werden durch die jeweiligen Regierungsparteien übernommen und in deren klientelistisches Patronagesystem eingegliedert. Korruption ist in allen Institutionen, auch der Gerichtsbarkeit, weit verbreitet. In den Parteien herrschen stark hierarchische Führungsstile. Die Pressefreiheit wird durch starke Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und Medien eingeschränkt (BTI 2020 Länderbericht). Insgesamt bietet die Region Südosteuropa ein Bild einer ausbaufähigen Demokratieentwicklung der politischen Eliten und der häufig eingeschränkten Funktionsfähigkeit der Demokratie. Bedenklicher noch: Einige südosteuropäische Länder befinden sich derzeit in einem negativen Trend, vor allem in Albanien, Slowenien, Serbien und Rumänien wird die Pressefreiheit zunehmend eingeschränkt. Am schlechtesten in der Region bewertet Reporter ohne Grenzen die Pressefreiheit in Bulgarien. Drückt man es plastisch aus: In keinem südosteuropäischen Land außer Albanien konsolidiert sich die Demokratie. Dies gilt unabhängig vom derzeitigen Zustand. Weder erfolgt eine Konsolidierung auf einem Niveau liberaler Demokratie noch auf einem Niveau defekter Demokratie. Das bedeutet, dass die politischen Eliten in Südosteuropa ihre politischen Systeme in den letzten Jahren – trotz des Einflusses der Europäischen Union – eher in Richtung politischer Einschränkungen als in Richtung politischer Freiheiten steuern. Die politische Unterstützung durch die Bürger:innen Zur Bewertung der politischen Unterstützung durch die Bürger:innen ermöglichen vergleichende Bevölkerungsumfragen ein genaueres Bild. Die European Values Study erhebt politische Einstellungen in allen südosteuropäischen Ländern außer dem Kosovo. Die politischen Einstellungen und Überzeugungen der politischen Eliten und das Funktionieren demokratischer Prozesse und Regeln (Meinungs- und Pressefreiheit) spiegeln teilweise die politische Unterstützung der Demokratie seitens der Bürger:innen wider: Die Unterstützung in den meisten südosteuropäischen Ländern wird in Abbildung 1 mit "fundiert" (hellblau) angegeben, in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo jedoch nur mit "angemessen" (gelb) – womit sich beide Länder nur im mittleren Bereich politischer Unterstützung befinden. Kein südosteuropäisches Land erzielt ausgezeichnete Werte bei der Bestimmung der politischen Unterstützung. Abb. 2: Einstellungen zur Demokratie in südosteuropäischen Staaten. Die y-Achse beschreibt den Anteil informierter Demokraten (blaue Punkte) und den Anteil der Zustimmung zur Demokratie als wünschenswertes politisches System (gelbe Punkte). Die x-Achse zeigt den Anteil derjenigen, die davon überzeugt sind, ihr Land sei demokratisch (Position des Landes auf der x-Achse). (© European Value Study 2017; Berechnung und Darstellung der Autorin.) Bereits diese grobe Abschätzung der politischen Unterstützung der Demokratie durch die Bürger:innen in Südosteuropa lässt erahnen, dass sich die Konsolidierung der politischen Kultur der Bürger:innen oft kaum besser entwickelt als die der politischen Kultur der politischen Eliten. Dies liegt kaum am Wunsch nach einer Demokratie. Die Menschen in Südosteuropa wünschen sich mit überwältigender Mehrheit ein demokratisches politisches System (Abb. 2). Die Demokratie genießt eine hohe politische Legitimität (gelbe Punkte in Abb. 2), eine hohe Wertschätzung als wünschenswerte politische Ordnung für die eigene Gesellschaft. In Serbien und Montenegro ist diese Einstellung an wenigsten verbreitet, wird aber immer noch von 85 Prozent der Bürger:innen vertreten. In Albanien und Griechenland geben die meisten Personen an, ein demokratisches System anderen Herrschaftsformen vorzuziehen, die Werte erreichen fast 100 Prozent. Allerdings sagt dies nur begrenzt etwas aus über das Bild aus, das die Bürger:innen von Demokratie haben – und ob dies wirklich den Eigenschaften einer Demokratie entspricht. Damit diese positive politische Unterstützung der Bürger:innen sich auch tatsächlich auf eine freiheitliche und nicht auf eine defekte Demokratie richtet, müssen sie wissen, welche Kernkriterien eine solche Demokratie ausmachen. Informierte Demokrat:innen (blaue Punkte) kennen nicht nur die Eigenschaften einer Demokratie, sie können sie auch von den Eigenschaften einer Autokratie unterscheiden. Albanien verfügt über den größten Anteil an Bürger:innen, die diese Unterscheidung treffen können, es folgen Griechenland, Bulgarien und Slowenien. Der geringste Anteil ist in Montenegro zu finden. Die Bürger:innen Griechenlands sind von allen Südosteuropäern noch am ehesten überzeugt, in einer Demokratie zu leben (knapp 50 Prozent Zustimmung). Dennoch kennt nur eine knappe Minderheit die tatsächlichen Eigenschaften einer freiheitlichen Demokratie. Ähnliches gilt für Bulgarien. In allen anderen Ländern liegt dieser Anteil bei unter einem Drittel der Bürger – auch bei den EU-Mitgliedsländern Slowenien und Kroatien. Gerade die Slowen:innen, Rumän:innen und Montenegriner:innen halten aber fast zu 50 Prozent ihr politisches System für demokratisch. Angesichts der Defizite, die im Bereich der demokratischen Überzeugungen der politischen Eliten, der Meinungs- und Pressefreiheit und der Qualität der Demokratie in diesen Ländern festgestellt wurden, übersieht offenbar fast die Hälfte der Bürger:innen auch gravierendere Defizite der Demokratie in ihren Ländern oder akzeptiert freiheitseinschränkende Regeln in ihrem politischen System.. Beides ist schlecht für eine demokratische politische Kultur und die Entwicklung bzw. Konsolidierung einer freiheitlichen Demokratie. Demokratien mit Defekten werden anerkannt und könnten sich somit über längere Zeit stabilisieren. Einstellungen zur EU Die EU ist als Demokratieförderer mit Vorbildwirkung hinsichtlich ihres demokratischen Handelns und ihrer Verlässlichkeit in dieser Region tätig. Einige Länder – Griechenland, Slowenien, Rumänien, Bulgarien und Kroatien – sind Mitglieder der EU, Slowenien und Griechenland gehören auch der Euro-Zone an. Eine positive Haltung der Bürger:innen der Region zur EU sollte Teil der Demokratieentwicklung und der positiven politischen Unterstützung der Kerninstitutionen der politischen Systeme sein, denn sie setzen als Teil der Gemeinschaft europäischer Staaten die Beschlüsse aus Brüssel und Straßburg in geltendes nationales Recht um und verändern damit die politischen Systeme ihrer Länder. Ein Misstrauen gegenüber der EU kann somit Teil einer Ablehnung demokratischer Werte und Normen an sich und/oder im jeweiligen Land sein. Welches Bild haben die Bürger:innen von der EU? Vertrauen sie in die Funktionsfähigkeit der Demokratie in der EU? Welche Bedeutung hat die EU für die befragte Person? Abb. 3: Einstellungen zur EU. Zustimmungswerte in Prozent. (© Eurobarometer 93 2020; Berechnungen und Darstellung der Autorin.) Auf die offene Frage "Was bedeutet die EU für Sie persönlich?" antworteten maximal ein Drittel der Menschen in Südosteuropa "Demokratie". Vor allem Albaner:innen und Rumän:innen erwarten demokratische Impulse von der EU. Die Assoziation mit ökonomischem Wohlstand erzielt in allen Ländern außer Rumänien, Bulgarien und Griechenland höhere Werte – von der (angestrebten) Mitgliedschaft in der EU wird demnach noch immer zunächst eine wirtschaftliche Prosperität erwartet, erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, demokratische Regeln und Normen. Schlussfolgerungen In Südosteuropa sind die Entwicklungen der politischen Kultur und der Demokratisierung insgesamt uneinheitlich: Positiven Trends in Albanien, Nordmazedonien und Rumänien stehen deutlich negative Trends in Slowenien, Griechenland und Bulgarien gegenüber. Die Zustimmung zur Demokratie ist insbesondere dort hoch, wo die Qualität des eigenen demokratischen politischen Systems als gering bewertet und die Erwartungen an eine demokratische Europäische Union hoch sind. Die EU ist sicher gut beraten, wenn sie einerseits ihre Zusagen gegenüber beitrittswilligen Staaten einhält und sich andererseits in Beitrittsverhandlungen mit Ländern begibt, deren Bevölkerungen sowohl eine Demokratie im eigenen Land unterstützen als auch die EU positiv bewerten. Dies stabilisiert das demokratische politische System des Beitrittskandidaten und der EU gleichermaßen. Es ist nicht nur umstritten, Interner Link: was eine Demokratie auszeichnet, sondern auch, wie man die Qualität einer Demokratie messen kann. Verschiedene Berichte wie zum Beispiel "Freedom in the World" und "Nations in Transit", beide herausgegeben von der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House, das Projekt "Polity IV" oder der "Bertelsmann Transformation Index" (BTI) untersuchen und vergleichen regelmäßig demokratische Entwicklungen weltweit. Der "Bertelsmann Transformation Index" untersucht zweijährlich die politische und wirtschaftliche Transformation von 137 Staaten. Expertinnen und Experten bewerten politische Transformationsprozesse anhand von fünf Kriterien und einer Vielzahl von Fragestellungen: Staatlichkeit, politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität demokratischer Institutionen, politische und gesellschaftliche Integration. Abb. 1: Meinungs- und Pressefreiheit, demokratische Überzeugungen der politischen Eliten und der Bürger:innen, Bertelsmann Transformation Index 2020 (Externer Link: Transformation Atlas / Bertelsmann Stiftung 2020) Lizenz: cc by/3.0/de Abb. 2: Einstellungen zur Demokratie in südosteuropäischen Staaten. Die y-Achse beschreibt den Anteil informierter Demokraten (blaue Punkte) und den Anteil der Zustimmung zur Demokratie als wünschenswertes politisches System (gelbe Punkte). Die x-Achse zeigt den Anteil derjenigen, die davon überzeugt sind, ihr Land sei demokratisch (Position des Landes auf der x-Achse). (© European Value Study 2017; Berechnung und Darstellung der Autorin.) Abb. 3: Einstellungen zur EU. Zustimmungswerte in Prozent. (© Eurobarometer 93 2020; Berechnungen und Darstellung der Autorin.) Merkel, Wolfgang 2010: Systemtransformation. Wiesbaden: Springer VS, S. 110-124. Pickel, Susanne und Pickel, Gert 2006: Politische Kultur- und Demokratieforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 55-56. Almond, Gabriel und Verba, Sidney 1963: The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press. Pickel, Susanne und Pickel, Gert 2021 (i.E.): Politische Kulturforschung. Wiesbaden: Springer VS. Diamond, Larry 1999: Developing Democracy Toward Consolidation. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Griechenland wird von der Bertelsmann Stiftung im Rahmen der Sustainable Governance Indicators (SGI) bewertet. Dieser Index enthält größtenteils andere Indikatoren zur Bestimmung der Qualität der Demokratie als der BTI. Beide sind daher nur sehr eingeschränkt kompatibel. Griechenland wird daher in dieser Analyse nicht berücksichtigt. Bieber, Florian 2019: The Rise of Authoritarianism in the Western Balkans. London: Palgrave.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-06-13T00:00:00"
"2022-04-22T00:00:00"
"2022-06-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/suedosteuropa/507456/politische-kulturen-in-suedosteuropa/
Für eine stabile Demokratie ist eine demokratische politische Kultur mindestens genauso wichtig wie die demokratische Überzeugung der Eliten. In Südosteuropa zeigt sich ein uneinheitliches Bild.
[ "Südosteuropa", "politische Kultur", "Balkan", "Demokratie", "Klientelismus", "Korruption", "Europäische Union" ]
31,134
Analyse: Wladimir Putin – Führer, Diktator, Kriegsherr | Russland-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Das "System Putin" hat sich zu einer Führerdiktatur entwickelt. Unter dieser politischen Herrschaft wirkt das Führerprinzip für den Präsidenten und gibt ihm oberste Befehlsgewalt auf allen politischen, rechtlichen und militärischen Gebieten ohne Kontrollinstanzen. In vielen ihrer Attribute scheinen die Führersysteme des zwanzigsten Jahrhunderts, die Diktaturen Hitlers, Francos, Mussolinis und Stalins, wieder auf. Wladimir Putin hat als Besonderheit seines Regimes die neu inszenierte "Symphonie" zwischen seinem Staat und der Russisch-Orthodoxen Kirche mit ihrer "imperialen Theologie" als politische Ressource vereinnahmt. Putins Führerdiktatur nähert sich mit umfassend werdender terroristischer Repression zunehmend einer totalitären Herrschaft an, deren Machtwahn ihr selbst zum Verhängnis werden kann. Einleitung Die Krise um die Ukraine, die sich bis zum Angriffskrieg Russlands entwickelte, hatte einen Regisseur: Wladimir Putin. Souverän, um seinen schon öffentlich – im Manifest über die "historische Einheit der Ukrainer und Russen" vom Sommer 2021 (Externer Link: http://www.kremlin.ru/events/president/news/66181) – erklärten Willen zur Vernichtung des ukrainischen Staates zu exekutieren; souveräner "Meister", um die Figuren seines Drehbuchs ihre Rollen als "Scharfmacher" (Dmitrij Medwedew), als Außenminister (Sergej Lawrow), der die Diplomatie gänzlich zur Farce machte, spielen zu lassen. Er muss es als seinen Triumph empfunden haben, der Welt zu zeigen, dass er sich weder durch Angebote, durch Warnungen oder die in Aussicht gestellten "Kosten" von seiner Aggression abhalten ließ. Es hat sogar den Anschein, als gehe es ihm weniger um die Anerkennung von Russlands Größe als vielmehr die seiner eigenen "Größe" als Führer. Durch welche Bedingungen und welche Qualitäten erlangte er diesen Rang? Bereitschaft zum Risiko hatte Putin als seine Charaktereigenschaft in einem Selbstporträt ganz am Anfang seiner Präsidentenkariere herausgestellt. Das zeichnet die "großen Führer" des 20. Jahrhunderts aus, macht sie in entscheidenden Momenten aber zum "Spieler", der alles auf eine Karte setzt. Auch diese Rolle demonstriert Putin. Dabei verfolgt er seine Politik mit größter Zielstrebigkeit. Er hat seit mindestens einem Jahr systematisch die Diplomatie in den Beziehungen zur Ukraine, zur EU und schließlich zu den USA ad absurdum geführt und zerstört. Ein Vierteljahr vor dem militärischen Großangriff begann er, die Brücken hinter sich abzubrechen, indem er im Bewusstsein, die Ukraine als Geisel in seiner Faust zu haben, dem Westen Ultimaten stellte. "Größe" sollte sich darin zeigen, dass er "konsequent" handelt ohne Rücksicht auf Bedenken und Verluste. Ist Putin hochintelligent oder wahnsinnig, fragt man sich verschiedentlich. Wahn im nicht-klinischen Sinne, Größenwahn muss man ihm auf jeden Fall zuschreiben. Ausschlaggebend ist, dass er mit einer radikalen Konsequenz, die jedem "gesunden Menschenverstand" widerspricht, eine Politik exekutiert, die nicht wahrscheinlich, nicht erwartbar war und ist. Unberechenbar zu sein ist sein Erfolgsrezept wie das seiner Vorgänger im Muster "großer Führer": Er realisiert seine Politik "unter völliger Nichtachtung aller berechenbaren und äußeren Konsequenzen", wie Hannah Arendt es über die totalitären Führer geschrieben hat. Das verbindet sich mit dem dreisten Lügen als System, das weiter über vereinzelte "fake news" hinausgeht. Er muss den Gesamtzusammenhang des Krieges gegen die Ukraine umlügen, um einen neuen Wirklichkeitszusammenhang zu bieten. So wird aus dem Eroberungskrieg gegen die Ukraine eine "Befreiungsmission", die Russland mit seiner "militärischen Spezialoperation" zum Zweck der "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" erfülle. Unberechenbarkeit, Lüge als System. Putin hat sich diese "Polittechnologien" der "großen Führer" des 20. Jahrhundert angeeignet. Der unaufhaltsame Aufstieg des Wladimir Putin Die brutale Bombardierung ukrainischer Städte erinnert uns daran, dass Putin – damals als Premierminister – erst durch Krieg, nämlich die brutale Führung des verbrecherischen zweiten Tschetschenien-Krieges ab August 1999, die unbarmherzige Bombardierung der Hauptstadt Grosnyj, "groß" wurde. Erst damit erlangte er die Statur des künftigen Präsidenten. Vorangegangen war allerdings, dass im Allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Niedergang Russlands Demokratie wie Liberalismus im Laufe der 1990er Jahre weitgehend ihre Anziehungskraft verloren hatten. Zugleich waren alle Versuche, die überkommenen sowjetischen KGB-Strukturen einer demokratischen Reform zu unterziehen, gescheitert. Deren Umbenennung und Aufgliederung – mit dem FSB als der wichtigsten Nachfolgeorganisation – verdeckte nur, dass sie jeglicher ziviler Kontrolle enthoben blieben, wenn sie auch zunächst erhebliche Personalreduzierungen erlitten. Letzteres vermehrte nur das Heer jener "Offiziere der aktiven Reserve", die in Politik, Wirtschaft und Verwaltung auf Führungsposten eine Rolle übernahmen und gleichzeitig ihren früheren Dienstherren verpflichtet blieben. Einer von ihnen war der ehemalige KGB-Oberst Wladimir Putin, der seinen Weg von der Position als Vize-Bürgermeister unter dem St. Petersburger Bürgermeister Anatolij Sobtschak (1992 – 1996) in die Präsidentenadministration (1996 – 1998) des ersten Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin nahm und bald Chef des Geheimdienstes FSB (1998 – 1999) wurde. Putins Stunde der Machtübernahme – zunächst mit der Ernennung zum Premierminister (August 1999), dann im Amt des Präsidenten der Russländischen Föderation (seit Januar 2000) – schlug, als sich die politischen Eliten mit den tonangebenden Oligarchen einig wurden, ihre Macht im Staat und ihren Reichtum durch den Ruf nach den "Silowiki" (Repräsentanten der Militär- und Geheimdienste) zu retten. Nach dem finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch von 1998 hatte Präsident Boris Jelzin mit Ewgenij Primakow, Sergei Stepaschin und schließlich Wladimir Putin nur noch führende Leute aus den Geheimdiensten zu Premierministern ernannt. Wladimir Putin wurde von seinen Förderern für manipulierbar gehalten und als Prätendent für die Präsidentschaft auserkoren. Solche Unterschätzung der Person durch die bisherigen Eliten ist mit den Aufstiegsbedingungen historischer Vorgänger als "großer Führer" wie Stalin und Hitler vergleichbar. Zudem glaubten viele, bei der von Putin verbreiteten Losung der "Diktatur des Gesetzes" ginge es "nur" um die Durchsetzung einer Politik von "Law and Order". Es ging Putin aber um Diktatur im vollen Sinne, nicht um "Gesetze", sondern um die absolute Vormacht des von ihm geführten und schließlich verkörperten Staates über das Individuum, die Menschenrechte und die Zivilgesellschaft. Sehnsucht nach Ordnung und nach dem "Führer" Diese Diktatur wurde in den 1990er Jahren lange in den Köpfen der Menschen vorbereitet. Es war der "Ruf nach dem Führer", der schon der Errichtung von Führer-Regimen des 20. Jahrhunderts regelmäßig vorausging, eine medial erzeugte gesellschaftliche Stimmung, die auch schon die Machtergreifung von Lenin, Stalin, Mussolini, Hitler oder auch Franco begünstigte. Seit dem Auflösungsprozess der Sowjetunion ist dieser Ruf nach dem Führer in Russland recht genau in empirischen Umfragen gemessen worden (siehe Grafik 1 auf S. 8). Bereits seit Mitte der 1990er Jahre wünschten sich mehr als 60 Prozent – und seit der Jahrtausendwende um die 70 Prozent – der Bevölkerung eine Führung mit "starker Hand". Die Sehnsucht nach Ordnung – auch um den Preis von Demokratie und Menschenrechten – ist ein verbreitetes Phänomen der politischen Kulturen postsowjetischer Gesellschaften. Auf dieser Basis kann Putin als Führerfigur seit Jahrzehnten in der Bevölkerung mit Zustimmungswerten von mindestens 60 bis 80 Prozent der Befragten rechnen (s. Grafik 2 und Tabelle 1 auf S. 8–11). Andererseits herrscht ebenso lange bei der Frage, wessen Interessen er als Präsident vertrete, die Auffassung, dass es vor allem die Interessen der Militär- und Geheimdienste sowie der Oligarchen sind, die vom Präsidenten vertreten werden; die der Mittelklasse und der "einfachen Leute", der Arbeiter und Angestellten rangieren dagegen nach diesen Meinungsumfragen auf den hinteren Plätzen. Dies ist das Herrscherbild, das kontinuierlich Bestand hat (s. Grafik 3 und Tabelle 2 auf S. 12/13). Somit gärt in der Bevölkerung trotz der Popularität Putins die Überzeugung, von fremden Interessen beherrscht zu werden. Das Paradox löst sich, wenn man fragt, welche Verdienste Putin am höchsten angerechnet werden: Fast durchgängig haben repräsentativ Befragte hierbei vor allem auf die "Herstellung von Ordnung" hingewiesen. Beobachter sprachen von einem unausgesprochenen "Gesellschaftsvertrag": Der Kreml sorgte für Stabilität, dafür mischte sich die Gesellschaft nicht in die Politik ein – ein Kompromiss also, mit dem man bei klarem Bewusstsein darüber, wessen Interessen Putin vertrat, diesem doch die größte Zustimmung als Präsident gab. Aber den Hauptantrieb bilden die Erfahrung von Chaos und Krise des Landes in den 1990er Jahren, die als Trauma immer neu aktiviert wird, die "charismatische Situation" (M. Rainer Lepsius). Diese ist der fruchtbare Boden, auf dem die Sehnsucht nach dem Führer und nach Ordnung erwuchs – ganz nach dem historischen Muster der Karrieren von Hitler, Franco, Mussolini, Lenin und Stalin. Glaube an die Legitimität des "nationalen Führers" Eine der wichtigsten sozio-kulturellen Voraussetzungen für die historische Ausbreitung des Führerkults und seiner Regime im 20. Jahrhundert ist die Revolutionierung der Massenkommunikation. Das heutige Putin-Regime kombiniert alle bewährten medialen Techniken. Für das postsowjetische Russland hat dabei das Fernsehen noch bis heute eine ausschlaggebende Bedeutung. Deswegen sorgte Präsident Putin gleich nach seinem Machtantritt im Jahr 2000 dafür, dass die öffentlichen TV-Kanäle unter staatliche Kontrolle gestellt wurden. Zentral für die Informationsbeeinflussung des Publikums wurde nun die Selbstdarstellung Putins als Herrscher in den weiten, golden glänzenden Räumen des Kreml-Palastes, umkränzt mit den hoheitlichen Emblemen und Ritualen des Zaren-Imperiums. Im autoritären Regime Putins wird seit mehr als einem Jahrzehnt versucht, Legitimität mit Hilfe von demokratisch verbrämten Institutionen, Wahlmanipulation und verdecktem Zwang zu erreichen. Da diese Institutionen – von Wahlen bis zu Parlamenten und Regierung – sämtlich wenig eigene Legitimität in der Bevölkerung besitzen, ist der politische Prozess auf die gänzliche Personalisierung öffentlicher Angelegenheiten im Präsidenten ausgerichtet: Nur über "Zustimmungsraten", nicht die Präsidentenwahlen, ist die Unterstützung in der Bevölkerung für das Regime zu maximieren. Abgelesen und gewährleistet wird sie in den Monat für Monat fixierten empirischen Umfragewerte für den "nationalen Führer". Ein ganzes Heer von sogenannten Polit-Technologen arbeitet im Kreml oder in dessen Auftrag mit modernen sozialwissenschaftlichen Methoden, um die "Stimmung im Volk" zu manipulieren. Insofern hat Putins Führer-Regime des 21. Jahrhunderts die neuesten politischen Technologien für sich nutzbar gemacht, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Meinungsforschung zur "hegemonialen Diskursform der Öffentlichkeit" aufwerteten. Die mangelnde Legitimität der Institutionen verlangt umso mehr, dass die Zustimmungsraten für den Präsidenten auf überdimensionalem Niveau gehalten werden. Eben dies macht in autoritären Regimen, die sich auf "demokratische Legitimität" berufen, die Qualität des "Führers" aus. Der Ausschluss jeglicher politischer Alternative ist das Grundprinzip und die politische Methode auch des "Systems Putin". Es reagiert mit äußerster Härte, gewaltsamer Unterdrückung und Eliminierung, sobald sich eine solche Alternative – wie in den oppositionellen Straßen-Demonstrationen vom Winter 2011/2012 oder in der Person des angesehenen und erfahrenen Demokraten Boris Nemzow, der im Jahr 2015 in Kremlnähe ermordet wurde – auch nur am Horizont zeigt. Autoritäre und totalitäre Führer leben von einem ständig propagierten konstitutiven Feindbild. Hiernach ist das Land von einer "Welt von Feinden" umringt. Diese Sicht, die stalinistische Tradition hat, verbreitet Putin bald nach den Anfangsjahren seiner Präsidentschaft immer schriller und in den krudesten Zusammenhängen. Besonders seitdem das "System Putin" im Winter 2011/12 durch landesweite Demonstrationen in die Defensive geriet, wurde das Konzept des Feindbildes aktualisiert: Zum einen ist es in der repressiven Gesetzgebung über die Registrierung und das Verbot "ausländischer Agenten" seit 2012 verkörpert, und zum anderen durch die propagandistische Befeuerung der Konfrontationspolitik mit dem Westen. Davon war Putins Präsidentenwahlkampf seit Anfang 2012 bestimmt, ebenso wie seine ersten programmatischen Ukase zur Außenpolitik. Binnen weniger Monate wurde diese Konfrontationspolitik in umfassender Weise mit dem Projekt ideologisiert, Russland eine einzigartige kulturelle Identität durch "konservative Werte" zuzuschreiben, polemisch abgesetzt gegen die nach einem älteren Stereotyp ausgemalte "Dekadenz", die der Westen repräsentiere. Aber erst Monate später wirkte die Konfrontationspolitik zugunsten von Putins "Legitimitätshaushalt" schlagartig, als infolge der Majdan-Revolution in Kyjiw und der daraufhin anschwellenden Hetze aller russischen Staatsmedien, diese Kehrtwendung als bedrohliches Machwerk des Westens gegen Russland hingestellt wurde. Die Mentalität der "belagerten Festung" – aus der langen Periode der kommunistischen Herrschaft überliefert – stellt ein festes Massenvorurteil dar, das dieses Regime immer wieder propagandistisch auszubeuten versteht. Ebenso wurde mit der "Wiedergewinnung der Krim als historischem Bodens Russlands" offiziell jener "Irredentismus" vitalisiert, mit dem national-imperialistische Politikern seit der Auflösung der Sowjetunion die Zusammenführung der im "Nahen Ausland" befindlichen Russen und schließlich der postsowjetischen Staaten selbst in einem großen Imperium propagiert hatten. Wenn der Präsident am 25. April 2005 vor der Staatsduma formulierte, der Fall der Sowjetunion sei "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen, so war dies die deutliche Ankündigung des außenpolitischen Revisionismus, den er wenige Jahre darauf mit dem Einmarsch in Georgien 2008 und der Krim-Annexion 2014 umzusetzen begann. Ein Führer mit "historischer Mission"? Wieweit solche Ideologeme wie das der "konservativen" Identität Russland für sich genommen dauerhaft wirken, ist fraglich. Selbst das gegen den Westen gerichtete Feind-Stereotyp hat laut empirischen Umfragen (Lewada-Zentrum) seit 2019 bis Ende letzten Jahres keine Mehrheit mehr überzeugen können (siehe Grafik 4 und Tabelle 3 auf S. 13–15). Tiefer gehende Wirkung für die Bindung der Bevölkerung an den expansionistischen Staat Putins dürfte dagegen die religiös unterlegte Ideologie des neuen Imperialismus haben, wie sie von der Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche vertreten wird: Kirill, Patriarch von Moskau und ganz Russland sowie andere russische Geistliche, propagieren einen Reichsgedanken, mit dem die Ukraine neben Belarus als Teil der von ihnen propagierten "Russischen Welt" (Russkij Mir) bestimmt werden. Wenn Kirill anlässlich der Amtseinführung des Präsidenten 2012 Gott zur Quelle von dessen Macht erhob und Putin selbst sich zudem auf die gleich lautende Weltsicht des 2008 verstorbenen Alexandr Solshenizyn als ihren "Propheten" berufen kann, so verfügt dieser über eine ideale Symbiose einer "imperialen Theologie" mit der Heiligung seines Führerregimes. Allerdings ist die innere Bindung Putins an diese Ideen wie auch das slawophile Geschichtsbild nicht zu überschätzen. Für ihn scheinen sie eher taktisch eingesetzte Surrogate in einer sonst entleerten Welt nach der "geopolitischen Katastrophe" zu sein. Zum Führer und zum Führerkult zählt, wie das 20. Jahrhundert gezeigt hat, die "Historische Tat" des Führers als "Wendepunkte der Geschichte". Noch vor der Krim-Annexion hatte sich Putin von imperialistischen Nationalisten als Führer und künftiger "Sammler der russischen Erde" (Russland, Belarus und Ukraine) feiern lassen (Externer Link: https://zatulin.ru/chtoby-pravilno-zadat-vopros-nado-znat-bolshuyu-chast-otveta/). Aus Anlass der "Siegesfeier" auf der Krim wollte ihn der (kürzlich verstorbene) rechtsradikale und antisemitische Parlamentarier Wladimir Shirinowskij vorlaut zum "Imperator" ausrufen. Belarus ist seit mehr als einem Jahr definitiv in Putins Herrschaftsorbit. Unter dessen Oberhoheit flüchtete sich der Diktator Aljaksandr Lukaschenka, um die demütige Position des Vasallen einzunehmen und mit Beginn des Ukraine-Krieges dem Aggressor die Souveränität seines Landes (Neutralität und atomwaffenfreie Zone) als Tribut zu entrichten. Mit der Eroberung und Unterwerfung der Ukraine – wie terroristisch auch immer – will Putin endlich die "Historische Tat" vollbringen, derer jeder große Führer bedarf, und mit der er die imperiale Nation "erlöst": durch Rückführung der Ukraine in den Reichsverband zusammen mit Belarus, in welcher Form auch immer. Dass der Expansionsdrang des Imperiums an den Grenzen seiner einstigen "Größe" nicht Halt machen, sondern nach Hegemonie über den gesamten postsowjetischen Raum, Europa und Eurasien streben wird, stellte am 5. April der schon erwähnte Dmitrij Medwedew außer jeden Zweifel: Der Ukraine-Krieg solle vor allem "die Möglichkeit (schaffen), endlich ein offenes Eurasien aufzubauen – von Lissabon bis Wladiwostok" (Externer Link: https://t.me/medvedev_telegram/34). Unter der expansionistischen Ägide der heutigen "Geopolitik" Putins dürfte mit Letzterem kaum jene Fiktion einer Freihandelszone gemeint sein, die dieser 2010 in die Welt setzte. Wladimir Putin – Diktator und Kriegsherr in der Hybris seiner Macht Dass die Konturen von Putins Spitzenelite unscharf sind und sich nicht nach Verfassungsinstitutionen bemessen, gehört zur informellen Herrschaftsweise des personalisierten Regimes. An der "Krim"-Entscheidung des Jahres 2014 waren z. B. nur vier bis fünf Vertraute beteiligt, wie Putin ein Jahr nach dem Ereignis noch in der Euphorie des Eroberers verkündete. Bereits damals spielten wirtschaftliche Risikoabwägungen keine Rolle. Der Kreis um den Führer, bestehend aus wenigen Männern "mit Einfluss", ist schon seit Jahren auf ein paar Wenige zusammengeschmolzen, und darin haben die Repräsentanten der Sicherheitsstrukturen (Militär und Geheimdienst) schon länger das Übergewicht. Darin sind sich die bekannten russischen Politologen Nikolaj Petrow (Externer Link: https://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2019/08/21/809260-transformatsiya-eliti), Kirill Rogow (Externer Link: https://liberal.ru/lm-ekspertiza/vremya-yanychar-izolyacziya-kak-strategiya) und Tatjana Stanowaja (Externer Link: https://www.institutmontaigne.org/node/8418) in ihren Eliten-Analysen weitgehend einig. Die Auswahl seiner "Vertrauten" ist jetzt auf ein solches Minimum reduziert, dass sie kaum mehr sichtbar sind. Als Entscheidungsträger für den Krieg gegen die Ukraine stehe er allein da, sagte Sabine Fischer, eine Russland-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, kürzlich (Externer Link: https://www.spiegel.de/ausland/podcast-wer-hat-noch-einfluss-auf-wladimir-putin-a-286b7806-7d86-4aa6-a15e-360dcb984c58). Was gilt schon jene Aufsehen erregende Sitzung des russischen Sicherheitsrates vom 21. Februar 2022: Hinter der Zustimmung dieses Gremiums zur Anerkennung der separatistischen "Volksrepubliken" von Luhansk und Donezk stand in Wirklichkeit der längst gefasste hoheitliche Beschluss zum umfassenden Krieg gegen die Ukraine. Das Eine war es, das Gremium kollektiv in das Verbrechen des Angriffskrieges einzubinden. Zum anderen demonstrierte Wladimir Putin vor aller Welt seine Oberhoheit als "Führer" gegenüber seinen verunsicherten, vor der Kamera gegängelten nächsten Spitzenleuten. Dass er dem kurz darauf seine eigene öffentliche Kriegserklärung nachschickte, war nicht nur Formsache. Nach machtvollkommener Willkür deutete er das Ziel der Aggression um: Nicht die NATO-Eindämmung, sondern die gewaltsame Unterwerfung der Ukraine und ein Regimewechsel in Kyjiw, getarnt mit den verlogenen Begriffen "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" sowie Verteidigung der Russen gegen einen herbeiphantasierten "Genozid" durch die Ukrainer ist das Ziel. Letzterer war erst kurz vor seinem Angriffsbefehl auf die öffentliche Agenda gesetzt worden. Es ist die Parole, unter der imperialistische Ideologen seit den neunziger Jahren zum "Schutz" der Russen im "Nahen Ausland" aufgerufen haben (siehe Grafiken 5a, 5b, 6a, 6b, 7a und 7b auf S. 16–18). Putin mag hoffen, damit einen erneuten vertikalen Aufstieg seiner Führer-Popularität zu erringen, wie dies mit der sogenannten "Krim-Euphorie" zwischen 2014 und 2017 gelang. Eine solche Wiederholung dürfte kaum nachhaltig sein: In der Bevölkerungsstimmung ist bis Ende letzten Jahres keine dominierende Gegnerschaft gegen den Westen und keine Kriegsbereitschaft, sondern eher Kriegsangst gemessen worden. In welchem Maße die Popularität Putins zusammengeschmolzen war, lässt sich an den Antworten auf die Frage ablesen, ob man Wladimir Putin auch nach 2024 auf dem Posten des Präsidenten sehen möchte: Seit 2020 bis einschließlich September 2021 befürworten dies im Schnitt gerade noch 47 Prozent, während sich 42 Prozent dagegen aussprechen. Um seine Mehrheit steht es so schlecht aus wie ehemals 2012/2013 (siehe Grafik 8 auf S. 19) Die im Mai 2022 erneute gleiche Umfrage zeitigt allerdings das kriegsbedingte euphorische Ergebnis. In den zurückliegenden Jahren wurde die russische Zivilgesellschaft durch das Regime mit Verfolgung, Verboten und Attentaten weitgehend zunichte gemacht: 74 Nichtregierungsorganisationen stehen derzeit auf der Liste der "ausländischen Agenten" (Externer Link: http://unro.minjust.ru/NKOForeignAgent.aspx). Von den über 200 NROs, die seit 2013 in das Verzeichnis der "ausländischen Agenten" aufgenommen worden waren, sind Dutzende bereits aufgelöst, der Druck auf die restlichen wird stetig größer. Öffentliche Demonstrationen gegen den Krieg werden generell verboten und ihre Teilnehmer zu Tausenden verhaftet. Wie schon bei den Nawalnyj-Demonstrationen des letzten Jahres wird auch in diesen Wochen deutlich, dass der Führer Russlands die jüngere Generation zum großen Teil bereits verloren hat. Die prominentesten Oppositionspolitiker wurden mit verbrecherischer Skrupellosigkeit verfolgt, ermordet wie Boris Nemzow 2015, oder wie Alexej Nawalnyj – eben noch einem Giftanschlag entkommen – 2021 ins Lager verbannt. Verfolgt werden regierungskritische Journalisten schon lange, besonders solche der Ende März 2022 geschlossenen Zeitung "Nowaja Gaseta". Die gegenwärtig gesteigerte Repressions-Maschinerie, die Schließung der letzten unabhängigen Medien, der Erlass immer neuer Gesetze, mit denen willkürlich oppositionelle oder auch nur kritische Meinungen und Handlungen gegenüber dem Staat und besonders der Armee strafrechtlich verfolgt werden, die immer strenger werdende Zensur – dies alles lässt das Land auf eine veritable Führer-Diktatur totalitärer Art zusteuern. Lehrer und Schüler sowie Eltern werden in gesonderten Kursen indoktriniert, um die lügnerische Sprache des Regimes zu übernehmen, in der sein Krieg gegen die Ukraine als "militärische Sonderoperation" zwecks "Entnazifizierung" zu verstehen ist. Die früher benutzten Begriffe der Regimeklassifizierung "defekte Demokratie", "gelenkte Demokratie" oder "hybrides Regime" erscheinen längst veraltet. Der von vielen Intellektuellen bei Putins Machtübernahme befürchtete Übergang zum Autoritarismus begann bereits seit den ersten Jahren mit der Einrichtung des strikten Zentralismus ("Machtvertikale"), also der Abschaffung des Föderalismus in einem Prozess sukzessiver Entmachtung der föderalen Institutionen zugunsten der Präsidialadministration sowie der Personalisierung der politischen Macht auf Wladimir Putin. Die Unterwerfung der wichtigsten gesellschaftlichen Machtpotentiale erfolgte gleichzeitig unter dem Signum des "Kampfes gegen die Oligarchen" und der Unterstellung des öffentlichen Fernsehens unter die Staatskontrolle und bald auch der wesentlichen Wirtschaftskonzerne unter Staatskontrolle durch Delegierung der Repräsentanten der Sicherheitsdienste in ihre Leitungen, wodurch die Wirtschaftselite konsequent ausgetauscht wurde. Die ständige Manipulation von Wahlen und die Einschränkung der parlamentarischen Repräsentation auf sogenannte "System-Parteien" wurden bis etwa 2012 perfektioniert. Zu diesem Zeitpunkt erklärte Putin seine Loslösung von den postsowjetischen Versprechen einer Entwicklung zu Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft: "Wir haben nun die postsowjetische Periode abgeschlossen. Ein neues Entwicklungsstadium Russlands steht vor uns." (Externer Link: http://sputniknews.com/voiceofrussia/2012_04_14/71750194/?print=1). So bereiteten seit Beginn seiner dritten Präsidentschaft konsequente Maßnahmen auf mehreren Ebenen den Weg zur Errichtung der Führerdiktatur: die Vereinheitlichung der politischen Elite ("Nationalisierung der Eliten"), die Bildung der riesigen Prätorianergarde des Präsidenten (Nationalgarde) im Jahr 2016, die großdimensionale Militarisierung von Staat und Gesellschaft, die immer umfassender werdende Repressionspolitik gegen die Zivilgesellschaft, schließlich die zunehmende Beherrschung der sozialen Medien und die Zensur sowie die auf die fortgesetzte Präsidentschaft Putins zugeschnittenen Verfassungsänderungen. Es könnte sein, dass die historische Empirie dieses neuen Systems die politologischen Modelle des Totalitarismus (von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzeziński sowie anderen Autoren) neu herausfordert. Ausblick Wenn die freie Kommunikation einer Gesellschaft derart zerstört worden ist, dass die Menschen keine Möglichkeit mehr haben, sich zu verständigen, wenn der Terror zur Verhinderung jeglicher selbständiger sozialer Handlung schließlich allgemein wird, kann man von einer sich anbahnenden "totalitären Herrschaft" sprechen (Hannah Arendt). Die entscheidenden Schritte in diese Richtung werden jetzt gegangen. Mit Putins pogromartigen Aufrufen gegen "Nationalverräter", die "Fünfte Kolonne", hat er die Perspektive auf ein Mobilisierungsregime eröffnet, dessen Führer nun als Kriegsherr seine Legitimität in immer neuen Siegen suchen muss. Bar aller Korrektive scheint seine Hybris auch im Äußeren keine Grenzen mehr zu kennen. Seine Drohung mit dem Atomkrieg gegen jeden, der sich ihm in den Weg stellt und der Kriegsterror, mit dem er die ukrainische Bevölkerung überzieht, hat ihn aus dem menschlich-zivilisatorischen Zusammenhang geworfen. Die Brutalitäten und Gräuel gegen die Zivilbevölkerung werden unterdessen in offiziellen Medien als notwendige "Umerziehung" des ukrainischen Volkes und "unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem" legitimiert (Externer Link: https://ria.ru/20220403/ukraina-1781469605.html). "Die Einsätze der russischen Elite sind hoch. Für sie ist es ein existenzieller Krieg", erklärte vor einigen Wochen der langjährige Berater des Präsidenten und graue Eminenz unter den Außenpolitik-Experten des Landes Sergei Karaganow im Interview (Externer Link: https://www.newstatesman.com/world/europe/ukraine/2022/04/russia-cannot-afford-to-lose-so-we-need-a-kind-of-a-victory-sergey-karaganov-on-what-putin-wants). Existenzgefährdend wäre gewiss für Putin und seine Diktatur ein Scheitern in der Ukraine. Es wird sich zeigen, ob die selbst gewählte solitäre Position als Diktator, die Leere und der tausendfache Tod, die er um sich verbreitet, von dem Land mitgetragen wird, von dessen Eliten er weiter geduldet wird, denen er zumutet, den völligen Niedergang sowie weltweite Isolation und Ächtung mit ihm zu teilen. Quellen / Literatur Lesetipps Chiozza, Giacomo und Stoyanov, Dragomir: The Myth of the Strong Leader in Russian Public Opinion. In: Problems of Post-Communism, Band 65, Nr. 6 (2017), S. 419–433. Ennker, Benno: Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion. In: Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Band 22 (1997). Köln, Wien. Ennker, Benno: Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts – eine Synthese. In: Ennker, Benno und Hein-Kircher, Heidi (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts. Forschungen zu Kult und Herrschaft der Führer-Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Analysen, Konzepte und Vergleiche (2010), Marburg, S. 347–378. Schneider, Irmela: Tele-Dialog und das Stimmrecht des Mediennutzers. In: Schneider, Irmela und Eppinger-Jäger, Cornelia (Hg.): Formationen der Mediennutzung III: Dispositive Ordnungen im Umbau (2015), Bielefeld, S. 147–169. Brown, Archie: The Myth of the Strong Leader: Political Leadership in the Modern Age (2014). Fischer, Sabine: Russland auf dem Weg in die Diktatur. In: SWP-Aktuell, Nr. 31 (2022), Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Externer Link: https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A31_Russland_Diktatur.pdf García Doell, David Ernesto: Moscow sociologist Greg Yudin on Putin’s unleashed power apparatus and the political motives behind the attack on Ukraine. In: Analyse und Kritik (1.4.2022). Externer Link: https://www.akweb.de/politik/putin-war-in-ukraine-a-fascist-regime-looms-in-russia/ Goode, Paul: How Russian Television Prepared the Public for War. In: PONARS Eurasia Policy Memo No. 761 (2022). Externer Link: https://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war Lepsius, M. Rainer: Das Modell der charismatischen Herrschaft und die Anwendbarkeit auf den "Führerstaat" Adolf Hitlers. In: Lepsius, M. Rainer: Demokratie in Deutschland (1993), Göttingen, S. 95–118. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986), München. Lesetipps Chiozza, Giacomo und Stoyanov, Dragomir: The Myth of the Strong Leader in Russian Public Opinion. In: Problems of Post-Communism, Band 65, Nr. 6 (2017), S. 419–433. Ennker, Benno: Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion. In: Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Band 22 (1997). Köln, Wien. Ennker, Benno: Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts – eine Synthese. In: Ennker, Benno und Hein-Kircher, Heidi (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts. Forschungen zu Kult und Herrschaft der Führer-Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Analysen, Konzepte und Vergleiche (2010), Marburg, S. 347–378. Schneider, Irmela: Tele-Dialog und das Stimmrecht des Mediennutzers. In: Schneider, Irmela und Eppinger-Jäger, Cornelia (Hg.): Formationen der Mediennutzung III: Dispositive Ordnungen im Umbau (2015), Bielefeld, S. 147–169. Brown, Archie: The Myth of the Strong Leader: Political Leadership in the Modern Age (2014). Fischer, Sabine: Russland auf dem Weg in die Diktatur. In: SWP-Aktuell, Nr. 31 (2022), Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Externer Link: https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A31_Russland_Diktatur.pdf García Doell, David Ernesto: Moscow sociologist Greg Yudin on Putin’s unleashed power apparatus and the political motives behind the attack on Ukraine. In: Analyse und Kritik (1.4.2022). Externer Link: https://www.akweb.de/politik/putin-war-in-ukraine-a-fascist-regime-looms-in-russia/ Goode, Paul: How Russian Television Prepared the Public for War. In: PONARS Eurasia Policy Memo No. 761 (2022). Externer Link: https://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war Lepsius, M. Rainer: Das Modell der charismatischen Herrschaft und die Anwendbarkeit auf den "Führerstaat" Adolf Hitlers. In: Lepsius, M. Rainer: Demokratie in Deutschland (1993), Göttingen, S. 95–118. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986), München.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-06-30T00:00:00"
"2022-06-28T00:00:00"
"2023-06-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-421/509907/analyse-wladimir-putin-fuehrer-diktator-kriegsherr/
Putins Führerdiktatur nähert sich zunehmend einer totalitären Herrschaft an. Die "Nationalisierung der Eliten", Repressionen sowie die Militarisierung von Staat und Gesellschaft werden vorangetrieben.
[ "Russland", "Russland", "Russland", "Innere Sicherheit und Geheimdienste", "politische Kultur", "Politisches System", "Wirtschaftslobbies", " Oligarchen" ]
31,135
Aktueller Stand der Einwanderungspolitik | Vereinigte Staaten von Amerika | bpb.de
Nicht-amerikanischen Staatsbürgern kann nach drei Hauptkategorien dauerhaft Aufenthalt im Land gewährt werden: Familienzusammenführung, arbeitsmarktorientierte Einwanderung und Fälle humanitärer Hilfe. Die Zahl der Menschen, denen jedes Jahr ein dauerhafter Aufenthaltsstatus gewährt wird, setzt sich zusammen aus Neuankömmlingen sowie Personen, deren befristete Aufenthaltsgenehmigung in eine unbefristete umgewandelt worden ist. Permanente Einwanderer (Legal Permanent Residents, LPRs, auch bekannt als Inhaber einer "Green Card") genießen viele Rechte in den USA: sie können unbefristet im Land wohnen und arbeiten, Eigentum erwerben, öffentliche Schulen und Hochschulen besuchen, zum Militär gehen und die US-Staatsbürgerschaft beantragen. Die Familienzusammenführung stellt bei weitem den häufigsten Zugangsweg dar, über den mehr als die Hälfte der LPRs in die USA gelangt. Die anderen Haupteinwanderungswege führen über die arbeitsmarktorientierte Einwanderung (employment-based immigration), Flüchtlings- und Asylanträge (siehe das Kapitel über Flucht und Asyl) und das so genannte "Vielfaltslotto" (Diversity Lottery, siehe unten). Familienzusammenführung kommt vor allem für zwei Personengruppen in Frage: direkte Verwandte von US-Staatsbürgern sowie Familienmitglieder, die gemäß den Präferenzkategorien gefördert werden. Die erste Gruppe umfasst Ehegatten und Kinder von US-Staatsbürgern und ist zahlenmäßig unbegrenzt; in der Regel gehören 40% der in einem Jahr zugelassenen LPRs dieser Kategorie an. Die zweite Gruppe teilt sich in vier Präferenzkategorien, von denen drei die Zusammenführung von US-Staatsbürgern regeln und eine weitere den Zugang für Ehegatten und unverheiratete Kinder von Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus (LPRs). Insgesamt sind die Zulassungen in allen vier Präferenzkategorien auf 226.000 bis 480.000 pro Jahr begrenzt. Darüber hinaus dürfen in keiner Kategorie mehr als 7% der Genehmigungen auf ein einziges Land entfallen. Ein anderer Weg zur dauerhaften Niederlassung führt über die arbeitsmarktorientierte Einwanderung, die für hochqualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte, abgestuft in vier verschiedenen Kategorien, gleichermaßen möglich ist. Meist wird ein konkretes Angebot eines Arbeitgebers vorausgesetzt. In einer fünften Kategorie werden Einwanderungsvisa für Personen ausgestellt, die ein Unternehmen gründen oder in ein Unternehmen investieren wollen. Die Zulassungen für Arbeitskräfte sind auf 140.000 pro Jahr begrenzt, wobei diese Zahl um die Zahl der ungenutzten LPR-Zulassungen für Familienangehörige (falls vorhanden) erhöht werden kann. Hier dürfen ebenfalls nicht mehr als 7% der Genehmigungen auf ein Land entfallen. Schließlich werden über ein Losverfahren (Diversity Lottery) jährlich 55.000 Visa an Bewerber erteilt, aus deren Heimatländern in den vergangenen fünf Jahren nicht mehr als 50.000 Menschen in die USA eingewandert sind. Eine Liste mit entsprechenden Ländern wird jedes Jahr vor Beginn des Losverfahrens vom Ministerium veröffentlicht. Im Jahr 2011 lag das Zulassungslimit bei 3.500 Personen pro Land. Zahl der Personen, die in den Jahren 1995-2011 eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhielten. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Über diese Zuwanderungsmöglichkeiten hinaus gibt es eine Vielzahl von Visumskategorien innerhalb derer befristete Aufenthaltsgenehmigungen an so genannte "Nicht-Immigranten" (nonimmigrants [sic!]) erteilt werden können. Die Zahl dieser Visa ist begrenzt. So werden beispielsweise jedes Jahr 65.000 befristete Visa für hochqualifizierte Arbeitskräfte (H-1B-Visa) ausgegeben (plus 20.000 zusätzliche Visa für ausländische Absolventen von US-Universitäten) sowie 66.000 Arbeitsvisa (H-2B-Visa) für Saisonarbeiter bzw. Arbeitskräfte, die benötigt werden, um einen vorübergehenden Arbeitskräftemangel in folgenden Bereichen auszugleichen: Baugewerbe, Gesundheitswesen, Landschaftsgärtnerei, Forstwirtschaft, Fertigung, Nahrungsmittelverarbeitung und Hotelgewerbe. Nach Schätzungen des Heimatschutzministeriums wurden 2011 159 Millionen "Nicht-Immigranten" zugelassen. Von diesen waren 85% Touristen und Geschäftsreisende. Einwanderungsbewegungen Die Zahl der Personen pro Jahr, die eine permanente Aufenthaltserlaubnis erhalten, steigt seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich an. In den 1950er Jahren waren es durchschnittlich 250.000 Personen im Jahr; im Zeitraum von 2000 bis 2011 lag diese Zahl vierfach höher, bei knapp über einer Million pro Jahr. Im Jahr 2011 erteilte permanente Aufenthaltsgenehmigungen (LPR-Status) nach Zulassungskategorie (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Im Jahr 2011 erhielten 1.062.040 Personen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung (LPR status). Von diesen waren 481.948 (45,4%) Neuzuwanderer. Die übrigen 580.092 Personen (54,6%) hatten bereits mit einem anderen Aufenthaltstitel in den USA gelebt und vollzogen lediglich einen Statuswechsel. Insgesamt 688.089 (64,8%) Personen erhielten einen dauerhaften Aufenthaltsstatus im Zuge der Familienzusammenführung, 139.339 Personen (13,1%) im Rahmen der arbeitsmarkorientierten Zuwanderung, 50.103 (4,7%) im Zuge des Losverfahrens (Diversity Lottery), weitere 168.460 (15,9%) im Rahmen der Bestimmungen für Flüchtlinge und Asylberechtigte, der Rest entfiel auf eine andere Einwanderungskategorie (vgl. Abb.). Die drei häufigsten Geburtsländer von neuen Daueraufenthaltsberechtigten (LPRs) waren Mexiko (14%), China (8,2%) und Indien (6,5%). Dieser Artikel ist Teil des Länderprofils Interner Link: Vereinigte Staaten von Amerika. Zahl der Personen, die in den Jahren 1995-2011 eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhielten. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Im Jahr 2011 erteilte permanente Aufenthaltsgenehmigungen (LPR-Status) nach Zulassungskategorie (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Im Bereich der Einwanderungspolitik ist das US-Geschäftsjahr (von Oktober bis September) gemeint. Dieser Abschnitt basiert auf Jefferys (2007b). Die tatsächliche Quote wird jedes Jahr auf eine komplizierte Weise errechnet. Die Kalkulationen berücksichtigen die Zahl der Personen, die im vorigen Jahr in bestimmten Zulassungskategorien (z.B. direkte Verwandte von US-Bürgern, für die es keine Zulassungsbegrenzung gibt) den LPR-Status bekommen haben. Die Zulassungsquote für die Präferenzkategorien der Familienzusammenführung darf nicht geringer als 226.000 sein. Wenn die berechnete Quote weniger als 226.000 beträgt, wird sie standardgemäß bei 226.000 festgelegt. Siehe Jefferys (2007b). Monger/Yankay (2012).
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Nicholas Parrott
"2022-01-12T00:00:00"
"2012-09-07T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/143981/aktueller-stand-der-einwanderungspolitik/
Nicht-amerikanischen Staatsbürgern kann nach drei Hauptkategorien dauerhaft Aufenthalt im Land gewährt werden: Familienzusammenführung, arbeitsmarktorientierte Einwanderung und Fälle humanitärer Hilfe.
[ "Länderprofil USA", "Vereinigte Staaten von Amerika", "US-amerikanische Migrationspolitik", "Einwanderung", "Einwanderung und Bevölkerungsstruktur" ]
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Impressum | Regieren jenseits des Nationalstaates | bpb.de
Impressum Herausgeberin Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Adenauerallee 86, 53113 Bonn, Fax-Nr.: 02 28/99 515-309, Internetadresse: Externer Link: http://www.bpb.de/izpb, E-Mail: E-Mail Link: info@bpb.de Redaktion Christine Hesse (verantwortlich/bpb), Jutta Klaeren, Magdalena Langholz (Volontärin) Redaktionelle Mitarbeit Sascha Brünig, Marburg; Fabian Flatten, Euskirchen; Tessa Gütschow, Hamburg; Valentin Persau, Mainz; Yvonne Windel, Kiel Gutachten Prof. Dr. Markus Jachtenfuchs, Professor of European and Global Governance an der Hertie School of Governance, Berlin; Prof. Dr. Andreas Nölke, Professur für Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt Titelbild KonzeptQuartier® GmbH, Fürth; unter Verwendung von fotolia (Nadalina, nyul); iStock. (acilo, AdrianHuncu, dan_prat, FooTToo, H-Gall, Hung_Chung_Chih, Kaszojad, Nikada, PhilAugustavo, rui_noronha, travenian); ullstein bild – Reuters / ANTONIO PARRINELLO, UN Photo / Eskinder Debebe Umschlag-Rückseite KonzeptQuartier® GmbH, Fürth Gesamtgestaltung KonzeptQuartier® GmbH, Art Direktion: Linda Spokojny, Schwabacher Straße 261, 90763 Fürth Druck STARK Druck GmbH + Co. KG, 75181 Pforzheim Vertrieb IBRo, Verbindungsstraße 1, 18184 Roggentin Erscheinungsweise vierteljährlich ISSN 0046-9408, Auflage dieser Ausgabe: 500.000 Redaktionsschluss dieser Ausgabe März 2015 Text und Fotos sind urheberrechtlich geschützt. Der Text kann in Schulen zu Unterrichtszwecken vergütungsfrei vervielfältigt werden. Der Umwelt zuliebe werden die Informationen zur politischen Bildung auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Anforderungen bitte schriftlich an Publikationsversand der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Postfach 501055, 18155 Rostock Fax: 03 82 04/66-273 oder E-Mail: E-Mail Link: bestellungen@shop.bpb.de Absenderanschrift bitte in Druckschrift. Abonnement-Anmeldungen oder Änderungen der Abonnementmodalitäten bitte melden an E-Mail Link: informationen@abo.bpb.de Informationen über das weitere Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb erhalten Sie unter der o. g. bpb-Adresse. Für telefonische Auskünfte (bitte keine Bestellungen) steht das Infotelefon der bpb unter Tel.: 02 28/99.515-115 Montag bis Donnerstag zwischen 8.00 Uhr und 16.00 Uhr und freitags zwischen 8.00 Uhr und 15.00 Uhr zur Verfügung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-07T00:00:00"
"2015-04-15T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/regieren-jenseits-des-nationalstaates-325/204726/impressum/
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Das Europa der Bürgerinnen und Bürger nach vorne bringen | Presse | bpb.de
Thomas Krüger Europa steht vor wichtigen Entscheidungen. Der Post-Nizza-Prozess erschien zunächst vielen als eine nur notdürftig verhüllte Krise der EU. Diese Krise barg aber auch die Chance eines Lernprozesses in sich. Das wichtigste Ergebnis dieses öffentlichen Lernens war die Einberufung des EU-Verfassungskonvents. Erstmals diskutierten damit nicht nur Beamte und Regierungsmitglieder über die Zukunft der EU, sondern auch die Vertreter der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments. Und ein weiterer demokratischer Fortschritt ist zu vermerken: Auch die Beitrittskandidaten konnten mit sprechen und damit Einfluss nehmen. Mit dem Konvent gelangten die Kräfte, die mit der Erweiterung der EU auch deren Erneuerung anstrebten, in die Vorhand. Diese Konferenz wird sich genau den Ergebnissen dieses Prozesse widmen und nach dem Beitrag der Bürgerinnen und Bürger zur Zukunft Europas fragen. Wenn man sich die jüngsten Auseinandersetzungen um eine gemeinsame Position Europas in dem Konflikt um den Irak ansieht, scheint allerdings die Krise der EU doch noch nicht überwunden zu sein. Der Weg der EU von einem gemeinsamen Binnenmarkt mit soliden Grenzmauern zu einer politischen Gemeinschaft, die auf globaler Ebene mit einer Zunge sprechen kann, ist noch weit. Zwar gingen von Europa für eine Kultur der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen schon einige Impulse aus. Zum Beispiel die Bemühungen um internationale friedliche Konfliktregelung oder die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes. Immer wieder aber gibt es innereuropäische Dissonanzen, wie zum Beispiel im Falle des von den USA formulierten Widerspruchs zwischen einem angeblich alten und neuen Europa. Manche interpretierten diese Uneinigkeit als Ergebnis einer Manipulation durch die amerikanische Regierung. Andere sehen in der Zustimmung einiger Beitrittsländer zur jetzigen Linie der USA und Großbritanniens im Irak-Konflikt so etwas wie einen Verrat, zumindest als überflüssige Unterwerfungsgeste unter die einzig verbliebene Supermacht. Ungeachtet solcher Irritationen sollten wir im Westen aber vorsichtig sein mit einer vorschnellen Verurteilung der "Neuen" aus dem Osten oder gar mit der Drohgeste, Wohlverhalten als Preis für eine Aufnahme in die EU zu reklamieren. Was uns bisher fehlt ist nicht eine Anpassung des Ostens an irgendeinen anderen großen Staat des Westens, sondern eine überzeugende gemeinsame europäische Außenpolitik, die eine glaubwürdige und kräftige Alternative zu einer Konfliktregulierung mittels militärischer Gewaltandrohung darstellt. Damit die EU-25 nicht als vielstimmig und schwach erscheint, sind ein solideres Fundament gemeinsamer Werte und stärkere Institutionen der politischen Gemeinschaft erforderlich. Der EU-Konvent leistet gerade auf diesem Feld eine sehr beachtenswerte, von wenigen vorher für möglich gehaltene Arbeit des konstruktiven Neuanfangs und der Vertiefung der Grundlagen der Gemeinschaft. Was kann politische Bildung auf diesem Feld leisten? Die Bundeszentrale für politische Bildung, beschreitet als Teil des europäischen Netzwerkes "politeia" auch mit dieser Tagung Wege zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements in den europäischen Angelegenheiten. Nach dem 2. Weltkrieg wurde unsere Institution gegründet, um den obrigkeitsfixierten Deutschen die Demokratie als eine politische Ordnung aktiver Bürger nahezubringen. Heute sind die Aufgaben natürlich andere: wir unterstützen interessierte Bürgerinnen und Bürger dabei, sich mit Politik zu befassen, sich in politischen und gesellschaftlichen Feldern zu engagieren. Wir wollen das Verständnis für politische Sachverhalte fördern, das demokratische Bewusstsein festigen und die Bereitschaft zur politischen Partizipation stärken. Und zunehmend geht es heute dabei nicht nur um eine Mitarbeit auf kommunaler und nationaler Ebene, sondern darüber hinaus im Kontext europäischer Fragen und Entwicklungen. Es geht um active citizenship. Bezogen auf Europa benötigen wir mehr als bisher die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Und wir benötigen eine Zusammenarbeit nicht nur im Rahmen der EU-15, sondern angesichts der bevorstehenden Erweiterung schon heute im Rahmen der EU-25 oder sogar darüber hinaus. Diese Konferenz soll Zusammenarbeit fördern, Anstöße zu europäischem bürgerschaftlichem Engagement geben und möglichst auch neue Projekte auf europäischer Ebene anstoßen. Wir wollen einer der Orte sein, an dem die europäische Bürgergesellschaft den Konvent in seiner Arbeit kritisch begleitet. Auf dem Konvent ist eine ganze Menge für die Stärkung der demokratischen Grundlagen der EU geleistet worden. Die Prozesse der Verfassungsdiskussion laufen in aller Öffentlichkeit ab. Die Dokumente des Konvents werden veröffentlicht. Die Entwicklung des institutionellen Dreiecks der EU aus Rat, Kommission und Parlament wird die Öffentlichkeit des Gesetzgebungsprozesse erheblich stärken. Besonders wichtig ist die Stärkung des Europäischen Parlaments, desjenigen Organs der EU, auf dessen Zusammensetzung die Bürgerinnen und Bürger Europas den größten direkten Einfluss haben. Auch Formen direkter Demokratie bei Entscheidung auf europäischer Ebene werden in Erwägung gezogen. Das sind bedeutsame Anzeichen für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit. Es ist zu überlegen, auf welchen Wegen die Infrastruktur für die grenzübergreifende europäische Meinungsbildung gestärkt werden kann. Aktive europäische Bürgerinnen und Bürger benötigen den Austausch und den Vergleich über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus. Ohne vielfältige zivilgesellschaftliche Netzwerkbildung wird Europa weder eine eigenständige Identität für seine Bürger annehmen noch genügend demokratische Legitimation erwerben können. In diesem Sinne soll unsere Tagung auch dazu beitragen, die Zusammenarbeit im Rahmen des europäischen Netzwerkes der politischen Bildung "politeia" zu fördern und Partner in den neuen Mitgliedsländern der EU dafür zu gewinnen. Ich möchte nicht schließen, ohne mich für die Unterstützung der Tagung durch eine Reihe von Initiativen, Universitäten, Stiftungen zu bedanken, die alle im einzelnen in unserem Programm erwähnt worden sind. Jetzt bleibt mir nur noch, uns allen einen lebendigen, streitbaren, produktiven Verlauf der Beratungen unseres Kongresses in Budapest zu wünschen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51214/das-europa-der-buergerinnen-und-buerger-nach-vorne-bringen/
Europa steht vor wichtigen Entscheidungen. Mit seiner Rede während des Kongresses "Europe United?" betonte bpb-Präsident Thomas Krüger, dass in europäischen Fragen das zivilgesellschaftliche Engagement an Bedeutung gewinnt.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Kommentar: Wie der Kreml den Eurovision Song Contest zur Mausefalle machte | Ukraine-Analysen | bpb.de
Am 22. März 2017 untersagten die ukrainischen Behörden der russischen Vertreterin für den Eurovision Song Contest die Einreise in die Ukraine. Das dreijährige Einreiseverbot macht den Auftritt Julia Samoylowas bei dem vom 9. bis zum 13. Mai in Kiew stattfindenden Wettbewerb unmöglich. Der Grund für das vom ukrainischen Geheimdienst SBU verhängte Verbot ist, dass Samoylowa 2015 auf der Krim aufgetreten ist. Weil Russland die Krim 2014 illegal annektiert hat, müssen Künstler, die die Halbinsel besuchen wollen, nach ukrainischem Gesetz zuvor eine spezielle Genehmigung bei den ukrainischen Behörden einholen. Ohne diese gilt für sie ein Einreiseverbot und – sofern es sich um Sänger handelt – dürfen ihre Songs im ukrainischen Radio oder Fernsehen nicht gespielt werden. Auf Grundlage dieser Bestimmung hat die Ukraine bereits Dutzenden russischer und anderer ausländischer Künstler die Einreise ins Land verweigert, darunter etwa Gérard Depardieu und Steven Seagal. Wie zu erwarten reagierte das offizielle Moskau wütend. Russlands Stellvertretender Außenminister Grigori Karasin nannte den ukrainischen Zug "einen weiteren ungeheuerlichen, zynischen und inhumanen Akt der Kiewer Behörden". Maria Sacharowa, eine Sprecherin des Außenministeriums, schrieb auf Facebook: "Die derzeitigen ukrainischen Behörden haben erneut gezeigt, dass sie ein von russophober Paranoia und nationalistischen Komplexen infiziertes Regime sind." Und sie fügte hinzu: "Kiew hat offensichtlich große Angst vor einem gebrechlichen Mädchen." Sacharowas Bemerkung über Samoylowas "Gebrechlichkeit" ist offenkundig ein Verweis auf deren Behinderung: Samoylowa ist seit ihrer Kindheit auf den Rollstuhl angewiesen. Die Sängerin wiederholte Sacharowas Bemerkungen, indem sie ihre Überraschung darüber zum Ausdruck brachte, dass Kiew anscheinend eine Bedrohung in "einem kleinen Mädchen wie mir" sehe. Die ukrainische Entscheidung ist zwar rechtmäßig, mit dem Einreiseverbot schadet die Ukraine jedoch ihrem internationalen Ansehen. Die europäische Rundfunkunion EBU, die den Eurovision Song Contest produziert, veröffentlichte eine zweideutige Stellungnahme, in der es heißt, dass man "die lokalen Gesetze des Gastgeberlandes respektieren müsse", über die Entscheidung der Ukraine für das Einreiseverbot gegen Samoylowa jedoch "schwer enttäuscht" sei. Sie habe den Eindruck, "es widerspreche sowohl dem Geist des Contests als auch der Idee der Inklusion, die seinen Werten zugrunde liegt". Auch einige internationale Medien schienen mit Samoylowa zu sympathisieren und stellten deren Behinderung in den Mittelpunkt. So berichtete etwa die BBC: "Grund für den hiesigen entsetzten Aufschrei ist auch, dass die mit dem Einreiseverbot belegte Sängerin seit ihrer Kindheit auf den Rollstuhl angewiesen ist und das Motto des Eurovision Song Contest "Diversität feiern" lautet". Auch in den Äußerungen anderer großer Medien kamen die Worte Rollstuhl und Einreiseverbot im gleichen Satz vor, wobei impliziert wurde, dass die Entscheidung der Ukraine in ethischer Hinsicht fragwürdig sei. Die in die Ecke gedrängte Ukraine Derartige Reaktionen der großen internationalen Medien hat Moskau jedoch offenkundig erwartet und die Wut des Kreml scheint ein abgestimmter Akt des Informationskriegs zu sein, in dem sich Putins Regime als Teil seiner übergeordneten Strategie der hybriden Kriegsführung gegen die Ukraine befindet. Das offizielle Moskau wusste, dass Samoylowa auf der Krim aufgetreten ist und die Ukraine solchen Künstlern die Einreise verwehrt. Und es machte eine Person mit Behinderung zur russischen Vertreterin beim Eurovision Song Contest – in dem vollen Bewusstsein, dass die Ukraine gezwungen sein würde, ihr die Einreise zu verweigern und damit ihrem internationalen Ansehen zu schaden. Denn nach einiger Zeit wird das internationale Publikum sich zurückblickend eher daran erinnern, dass die Ukraine einer Person mit Behinderung die Einreise verwehrt hat, als an die legitimen Gründe dafür. Die Moskauer Offiziellen wenden mit diesem Vorgehen einen Trick aus dem sowjetischen Informationskrieg an, die "reflexive Kontrolle". Der Militärexperte Timothy L. Thomas definiert sie "als Mittel, bei dem einem Partner oder Gegner spezifisch aufbereitete Informationen enthüllt werden, um ihn dazu zu verleiten, freiwillig eine vom Initiator der Aktion bestimmte und erwünschte Entscheidung zu treffen". Der Kreml präsentierte der Ukraine zwei Möglichkeiten, beides Mausefallen: Ließe sie Samylowa einreisen, verletzte sie ihre eigenen Gesetze und würde den "russischen Status" der Krim stillschweigend anerkennen. Hielte sie sich an die Rechtsstaatlichkeit und verweigerte ihr die Einreise – und das tat sie –, würde sie indirekt ihr Ansehen als ein europäischen Werten verpflichtetes Land schädigen. Sollte die Ukraine dem internationalen Druck nachgeben und das Einreiseverbot aufheben, wäre das für den Kreml umso besser, denn dann könnte er die Ukraine als Handlanger des Westens hinstellen. Dass der Kreml seine Nominierung für den Eurovision Song Contest in Kiew zu politisieren versuchen würde, war bereits seit langem erwartet worden. Schließlich konnte sich Moskau keinesfalls die Chance entgehen lassen, auf den Sieg der Ukraine beim letztjährigen Eurovision Song Contest mit einem Gegenschlag zu reagieren. Letztes Jahr hat die ukrainische Sängerin mit krimtatarischen Wurzeln Jamala den Wettbewerb gewonnen, mit einem Song namens "1944", der allgemein als politisch aufgeladen wahrgenommen wurde: 1944 ordnete der sowjetische Diktator Joseph Stalin die Deportation der Krimtataren von der Krim an (siehe Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 169). Der Verweis auf Russlands Annexion der Krim war allzu offensichtlich. (Einige russische Politiker und Offizielle schlugen sogar einen Boykott des diesjährigen Wettbewerbs in Kiew vor.) Der reflexiven Kontrolle begegnen Sieht man vom bösen Willen des Kreml einmal ab, so macht die derzeitige Lage ein Versagen der Ukraine in zweierlei Hinsicht deutlich. Zum einen hat der SBU seine Arbeit nur unzureichend erledigt, zum anderen ist ein Mangel an Kreativität im Umgang mit dem heimtückischen Gegner festzustellen. Erstens war es Aufgabe des SBU, alle nichtukrainischen Künstler, die auf der von Russland annektierten Krim auftreten und dabei ukrainisches Recht brechen, zu registrieren und sie unverzüglich mit einem Einreiseverbot in die Ukraine zu belegen. Hätte die Ukraine Samoylowa schon 2015, nachdem diese auf der Krim aufgetreten war, die Einreise in die Ukraine verweigert, hätte Moskau sie nicht für den Eurovision Song Contest ausgewählt und die Ukraine befände sich nicht in einer derart unangenehmen Situation. (Es besteht kaum Zweifel, dass Moskau auf andere Weise versucht hätte, der Ukraine zu schaden, aber das wäre eine andere Geschichte.) Das Allermindeste wäre aber gewesen, dass der SBU die potentiellen russischen Vertreter während des dortigen Auswahlprozesses beobachtet und abgeklärt hätte, ob sie ukrainische Gesetze gebrochen haben. In dem Fall wäre Samoylowa mit einem Einreiseverbot belegt worden, bevor sie die Vertreterin Russlands beim Eurovision Song Contest wurde. Zweitens war schon die Einstellung der Ukraine, dass es nur zwei mögliche Antworten auf Moskaus Nominierung gibt, ein Zeichen für den Erfolg der reflexiven Kontrolloperation des Kreml. Nach dem Akzeptieren der von Moskau diktierten Spielregeln konnte die Ukraine nicht mehr gewinnen. Sie hätte allerdings den durch die Informationskriegsoperation des Kreml entstandenen Schaden begrenzen oder gar den Spieß umdrehen können. Die Ukrainer hätten, wie Sergej Sumlenny, Leiter der Kiewer Heinrich-Böll-Stiftung, auf Facebook schrieb, den Kreml überlisten können: "So hätte zum Beispiel Jamala die russische Sängerin am Flughafen abpassen und sagen können: Liebes Kind, du weißt offenbar gar nicht, was auf der Krim bisher passiert ist. Ich würde dich gern zu mir nach Hause einladen und dir die Geschichte meines Volks erzählen. Dann hätte es in den Medien Bilder davon gegeben, wie Jamala Julia die wahre Geschichte erzählt und auch das, wovon der Kreml nicht will, dass es erzählt wird." Die Ukraine hätte auch, wie ein anderer Kommentator vorschlug, ein Treffen der russischen Sängerin mit ukrainischen Soldaten arrangieren können, die als Folge von Verletzungen, die sie sich bei der Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression zugezogen haben, nun mit Behinderungen leben. Noch viele andere Ideen hätte die Ukraine haben können. Sie wären allesamt unleugbar politischer Natur gewesen, angesichts der Umstände gibt es jedoch keinen unpolitischen Weg, auf die reflexive Kontrolloperation des Kreml zu reagieren. Heute scheint es keine Lösung des Problems der russischen Eurovision-Vertreterin zu geben. Nach der Verhängung des Einreiseverbots bot die EBU Russland in einem bislang unbekannten Schritt an, dass Samoylowa per Satellit am Wettbewerb teilnehmen könne. Dies würde, so führte sie aus, "dem Geist der Eurovision-Werte von Inklusion und dem diesjährigen Motto, Diversität feiern, entsprechen". Moskau lehnte das Angebot ab. Bis zu einem gewissen Grad verbessert das die reichlich unangenehme Situation der Ukraine, ist es nun doch vor allem Russland, das Sand in die Eurovision-Maschine streut. Dennoch ist die Gesamtsituation weit von einer Lösung entfernt und Moskau wird wohl weiterhin versuchen, dem internationalen Ansehen der Ukraine zu schaden. Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt Der Beitrag erschien zunächst auf Englisch in der Reihe "Transit Online" des Externer Link: Wiener Instituts für die Wissenschaft vom Menschen (IWM). Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt dem Autor für die Erlaubnis zum Nachdruck.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-04-27T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/247350/kommentar-wie-der-kreml-den-eurovision-song-contest-zur-mausefalle-machte/
Das Einreiseverbot der russischen Teilnehmerin am Eurovision Song Contest in die Ukraine sorgt für Aufruhr. Auf der einen Seite wird der Regierung die Diskriminierung der körperlich behinderten Julia Samoylowa vorgeworfen, auf der anderen Seite eine
[ "Kreml", "Eurovision Song Contest", "Ukraine", "Ukraine" ]
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Die Suezkrise | Krisenjahr 1956 | bpb.de
Einleitung Der Herbst 1956 war reich an einschneidenden politischen Ereignissen auf internationaler Ebene. Bundeskanzler Konrad Adenauer sprach in seiner Regierungserklärung vom 8. November zum einen von Entwicklungen, die Gegensätze überwinden halfen, um zu einem "gesunden Gleichgewicht" zu gelangen. Zu ihnen zählte er insbesondere den Luxemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956, in dem Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland die Rückgliederung des Saarlandes als Bundesland ab dem 1. Januar 1957 vereinbarten und damit einen "Zankapfel" aus dem Weg räumten, der die bilateralen Beziehungen immer wieder belastet hatte. Zum anderen sah er Spannungen und Konflikte, die in Teilen derWelt "in willkürlicher und unverantwortlicher Weise" die "Unordnung" gefördert hätten. Explizit nannte er die Volksaufstände in Polen und Ungarn, die er wie den 17. Juni 1953 in der DDR als "elementare Kundgebungen des Freiheitswillens der unterdrückten Völker gegen eine unerbittliche, unmenschliche und auf ausländische Machtmittel gestützte Diktatur" wertete. Zurückhaltender war sein Urteil zu den Ereignissen während der Suezkrise, in die nicht nur die Verbündeten Frankreich und Großbritannien involviert waren, sondern zugleich auch Israel und Ägypten. Das besondere Verhältnis der Bundesrepublik zum jüdischen Staat erschwerte eine offene Verurteilung, doch konnte es sich der Kanzler nicht leisten, einseitig Partei für die westlichen Partner zu ergreifen, gehörte Ägypten doch zu den führenden blockfreien Nationen, um die beide deutsche Staaten warben. Die Suezkrise von 1956 hat Jost Dülffer als "Initiative zu einer für die westliche Staatenwelt nach dem Zweiten Weltkrieg einzigartigen Verschwörung zum Krieg" bezeichnet. Die Unverhältnismäßigkeit der eingesetzten machtpolitischen Mittel spricht dafür, dass es sich bei der Militäraktion nicht alleine um den Versuch handelte, die Kontrolle über den Suezkanal zurückzugewinnen, nachdem der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser diesen nationalisiert hatte. Um den multiplen Dimensionen der Krise auf die Spur zu kommen, soll in einem ersten Schritt erklärt werden, welchen Verlauf die Krise nahm und wie es schließlich zu einem französisch-britischen Fiasko auf diplomatischer Ebene kam, um dieses Ereignis im Anschluss im Rahmen der Dekolonisation, des Ost-West-Konflikts und der deutsch-französischen Beziehungen zu verorten. Die strategische Bedeutung des Suezkanals Die große strategische Bedeutung einer künstlichen Wasserstraße zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer hatte bereits der französische Diplomat und Ingenieur Ferdinand de Lesseps im 19. Jahrhundert entdeckt, ersparte er der Seefahrt doch auf dem Weg von Europa nach Asien die Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas. Unter der Leitung der französischen Suez-Kanal-Gesellschaft wurde der Bau des 163 Kilometer langen Kanals in Angriff genommen. Der künstliche Wasserweg wurde am 16. November 1869 für die Schifffahrt freigegeben. Nach seiner Inbetriebnahme wurde er von der Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez betrieben, die im Abkommen von 1888 eine Konzession auf 99 Jahre erhielt. An dieser Gesellschaft war Ägypten durch seinen Vize-König Muhammad Said in großem Umfang beteiligt worden, doch sein Nachfolger Ismail Pascha musste die Anteile aufgrund der hohen Staatsverschuldung an die Briten verkaufen, sodass Ägypten praktisch zum britischen Protektorat wurde. Auch nach der Rückgewinnung der Eigenständigkeit blieb die Gesellschaft von Franzosen und Briten dominiert und somit zugleich der Kanal mit einem breiten Uferstreifen komplett in ausländischer Hand. Seine strategische Rolle war durch die wachsende Bedeutung des Erdöls auf der arabischen Halbinsel nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gestiegen. Anfang der fünfziger Jahre begannen Diskussionen um seine Zukunft nach Ablauf der Konzession. Die Gesellschaft strebte nach einer nicht-ägyptischen Lösung, hielt sie das Land doch für unfähig, ein solches Geschäft in eigener Regie zu führen. Hinter dieser spätimperialistischen Haltung verbarg sich die Sorge, weiter an Einfluss in der Welt zu verlieren. Immer deutlicher hatte sich nach 1945 abgezeichnet, dass Großbritannien nicht über ausreichend Ressourcen verfügte, um das Empire zu konsolidieren. Vor dem Hintergrund der nationalistischen Bewegungen in der "Dritten Welt" kam Ägypten wachsende Bedeutung zu, verfügten die Briten in der Suezkanalzone doch über einen Militärstandort infolge eines 1936 ausgehandelten Vertrages. Als die ägyptische Regierung unter König Faruk am 23. Juli 1952 durch einen Putsch von Offizieren abgelöst wurde, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Ägypten und Großbritannien weiter. Nachdem die bisherige Führung kooperative Beziehungen mit den europäischen Mächten unterhalten hatte, verfolgte die neue Regierung einen eher nationalistischen, panarabischen und antiisraelischen Kurs, mit dem sie sich dem Ostblock annäherte. Dieser Richtungswechsel verschärfte zum einen die regionalen Konflikte im Nahen Osten, sah sich Israel doch nicht zuletzt durch einen von Nasser unterzeichneten Waffenlieferungsvertrag mit der Tschechoslowakei herausgefordert, der im Westen wiederum als Beginn der kommunistischen Unterwanderung Ägyptens interpretiert wurde. Ferner drohte ein Konflikt mit Großbritannien und Frankreich, die an der Kontrolle über den Suezkanal festhielten und Nassers Forderung nach einer nationalen Lösung für die Wasserstraße ablehnten, was Georges-Henri Soutou nicht alleine mit wirtschaftlichen und strategischen Interessen erklärt: "Neben den ökonomischen Interessen war der Kanal ein Symbol für die franko-britische Präsenz im Nahen Osten und für das ganze imperiale Zeitalter." Die Spannungen konnten vorläufig durch das Suez-Abkommen vom 19. Oktober 1954 beigelegt werden, in dem sich Großbritannien verpflichtete, innerhalb von 20 Monaten die eigenen Streitkräfte aus der Suezkanalzone abzuziehen. Ägypten garantierte im Gegenzug, die Militärstandorte zu erhalten und den Briten im Kriegsfall zur Verfügung zu stellen; gleichzeitig erkannte es das internationale Statut der Zone an. Im Juni 1956 waren die britischen Truppen abgezogen. Alles schien auf eine friedliche Lösung hinzudeuten. Der Weg in die Krise Überraschend verkündete Nasser am 26. Juli 1956 die Verstaatlichung des Suezkanals, um so den Bau eines Staudamms bei Assuan zu finanzieren, nachdem die Amerikaner ihr Kreditangebot zurückgezogen hatten. Mit seiner Entscheidung hatte er internationales Recht gebrochen, denn sie stellte das in den Statuten der Internationalen Kanal-Gesellschaft verankerte freie Durchfahrtsrecht in Frage. Obwohl er Garantien für die freie Fahrt durch den Kanal abgab und sich bereit erklärte, die Anteilseigner an der Gesellschaft zu entschädigen, an der Frankreich die Mehrheit hielt und britische Banken bzw. Unternehmen zu 45 Prozent beteiligt waren, beschwor er mit seiner Rede eine schwere Krise herauf. Die Kolonialmächte sahen sich herausgefordert, umso mehr, als Frankreich seit 1954 gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung Krieg führte und sich gezwungen gesehen hatte, nach Marokko auch Tunesien unter der Führung von Habib Bourguiba in die Unabhängigkeit zu entlassen. Zwar billigten die USA auf drei internationalen Konferenzen die Nationalisierung des Kanals, doch weder Großbritannien noch Frankreich waren bereit, sich damit abzufinden. Zudem spitzte sich der arabisch-israelische Konflikt erneut zu, denn zum einen hatte Nasser, Symbolfigur des neuen arabischen Nationalismus, seit seinem Machtantritt nie einen Hehl aus seiner Feindschaft gegen Israel gemacht, zum anderen war das Land durch die Blockade der Straße von Tiran am Ausgang des Golfes von Akaba zum Roten Meer und der Sperrung des Suezkanals für israelische und nach Israel fahrende Schiffe von den asiatischen und afrikanischen Handelspartnern abgeschnitten. Hinzu kamen vermehrte Terrorattacken durch Palästinenser, die von Ägypten aus agierten. Die israelische Regierung hoffte, mit einer Besetzung des Sinai die Sicherheit des jüdischen Staates entscheidend zu verbessern. Auch die französische Politik zielte nun auf Krieg. Paris unterstellte Nasser, die algerische Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Anders als in Frankreich war die öffentliche Meinung in Großbritannien einem solchen Abenteuer jedoch nicht gewogen. Premierminister Anthony Eden wollte als Gegner der Appeasement-Politik Chamberlains in der Zwischenkriegszeit seine Landsleute durch die Erinnerung an die Münchener Konferenz von 1938 umstimmen und verglich Nasser mit Hitler und Mussolini. Während Nasser heute als charismatischer Führer erscheint, "der durch außenpolitische Erfolge sein armes Land zum Fortschritt westlicher Prägung führen wollte", blieb das politische Denken von Eden ganz auf "München" fixiert. Am Geheimplan zu einer Militäraktion waren zunächst nur Frankreich und Großbritannien beteiligt. Bei ersten Überlegungen im Juli 1956 gingen beide von einer gemeinsamen Operation gegen Ägypten aus, doch der Plan mündete in die Absicht, die bewaffnete Auseinandersetzung als pacification des Konflikts zwischen Israel und Ägypten zu verkaufen. Zu diesem Zweck kam es zu einem Geheimtreffen zwischen Frankreich, Großbritannien und Israel vom 22. bis 24. Oktober in Sèvres bei Paris, bei dem Guy Mollet, Christian Pineau, David Ben-Gurion, Schimon Peres, Mosche Dajan und Selwyn Lloyd ein machiavellistisches Szenario entwarfen: Die ägyptisch-jordanischen Kriegsvorbereitungen sollten Israel den Vorwand für einen Angriff gegen Ägypten liefern, auf den Paris und London mit einem Ultimatum an die kriegführenden Parteien reagieren wollten, in dem der Rückzug der Truppen aus der Kanalzone gefordert werden sollte. Die vorherzusehende Weigerung Kairos, sich diesem Ultimatum zu beugen, sollte der Vorwand für die französischen und britischen Militärs sein, den Kanal zu "befreien", Nasser zu stürzen und eine britisch-französische Streitmacht am Kanal um Port Said zu stationieren. Frankreich und Großbritannien erklärten sich zugleich zu Waffenlieferungen an Israel bereit; Paris sagte außerdem den Schutz des israelischen Luftraums und der Küste zu und wollte mit seinem Veto im UN-Sicherheitsrat eine gegen Israel gerichtete Resolution verhindern. Von den Geheimplanungen war sowohl auf französischer als auch auf britischer Seite nur ein enger Kreis unterrichtet. Ebenso wenig wurde der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower in Kenntnis gesetzt, der sich in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfes befand. Briten und Franzosen wussten um dessen ablehnende Haltung, denn Eisenhower wollte seine Wiederwahl nicht durch einen Krieg gefährden und keine neuen Spannungen mit Moskau heraufbeschwören. Doch während Briten und Franzosen die Bedeutung des Kanals für Europa in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellten, dominierte im amerikanischen politischen Denken die Ost-West-Auseinandersetzung. Die CIA war in der Entourage von Nasser gut vertreten, und auch die Eisenhower-Administration unterhielt enge Kontakte zu Nasser und wollte ihn nicht in die Arme der Sowjets treiben. Diese wechselseitigen Fehlperzeptionen und Kommunikationsprobleme innerhalb des westlichen Lagers deuteten auf ein gestörtes Vertrauensverhältnis in den transatlantischen Beziehungen hin, die sich während der Ereignisse am Suezkanal zu einer handfesten Krise ausweiteten. Auf dem Höhepunkt der Krise Die "Operation Musketier" begann am 29. Oktober 1956 mit dem Einmarsch israelischer Truppen in den Gazastreifen und auf die Sinai-Halbinsel. Rasch stießen die Israelis zum Kanal vor. Großbritannien und Frankreich forderten den Rückzug beider Seiten und drohten mit einer Intervention, um das Gebiet als Pufferzone zu besetzen und einen Waffenstillstand zu erzwingen. Nach Plan verlief auch die Ablehnung des Ultimatums durch Nasser, der sich bei dieser Entscheidung auf die Unterstützung seines Volkes stützen konnte, das die Verstaatlichung des Kanals bejubelt hatte. Daraufhin begannen Großbritannien und Frankreich am 31. Oktober mit der Bombardierung der Kanalzone und ägyptischer Flughäfen. Am 5. November landeten Fallschirmeinheiten am Flughafen Gamil. Einheiten der Royal Marines landeten am folgenden Tag an der ägyptischen Küste. Port Said wurde durch Brände fast vollständig zerstört. Briten und Franzosen waren dem militärischen Sieg nahe, doch hatten sie nicht mit dem Widerstand Eisenhowers gerechnet, der sich außenpolitisch trotz des Wahlkampfs handlungsfähiger zeigte als vermutet. Er warf Briten und Franzosen vor, durch ihre eigenmächtige Aktion einen Propagandafeldzug gegen das sowjetische Vorgehen in Ungarn verhindert zu haben. Am 2. November, vier Tage vor der Präsidentschaftswahl, legten die USA dem UN-Sicherheitsrat eine Entschließung vor, die die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verlangte. In den folgenden Tagen geriet die britische Währung an der New Yorker Börse in gefährliche Kursschwankungen, und Washington erhöhte den Druck auf Premierminister Eden. Dieser hatte nicht nur ignoriert, dass Großbritannien als Folge des Zweiten Weltkriegs von den USA finanziell abhängig war, sondern auch die amerikanische Haltung zur Entkolonialisierung falsch eingeschätzt. Die Amerikaner waren im Kontext der Rivalität mit der Sowjetunion an guten Beziehungen zu den Staaten der "Dritten Welt" interessiert, und außerdem standen Wirtschaftsinteressen auf dem Spiel. Das sich abzeichnende Fiasko ruinierte Edens Ruf, sodass er Ende 1956 von Harold Macmillan zum Rücktritt gedrängt wurde. Unterschätzt hatten Briten und Franzosen auch die Rolle der Sowjetunion, die nach dem Ende der Unruhen in Polen nun gegen die ungarische Revolution vorging. Das hinderte sie nicht daran, am 6. November, zwei Tage nach dem Einmarsch sowjetischer Panzertruppen in Budapest, ein Ultimatum an Paris und London zu richten, in dem sie für den Fall, dass die Kämpfe am Suezkanal nicht eingestellt würden, "mit der Gefahr schrecklicher Verwüstungen" drohte. Die französisch-britische Intervention kam den Sowjets nicht ungelegen, konnte sie mit ihrem Ultimatum doch von ihrem eigenen Vorgehen in Ungarn ablenken. Schließlich mussten sich Frankreich, Großbritannien und Israel dem Druck durch die USA, die UdSSR und die UNO beugen. Am 6. November wurde das Feuer eingestellt. Am 3. Dezember erklärten sie sich bereit, ihre Truppen vom Kriegsschauplatz abzuziehen, die in der Folge von "Blauhelmen" der UNO ersetzt wurden. DerRückzug der Truppen erfolgte bis zum 22.Dezember. Die Folgen waren weitreichend. Die Durchfahrt des Kanals blieb infolge der von Ägypten versenkten Schiffe noch bis 1957 versperrt. Die USA und die Sowjetunion nahmen im Nahen Osten den Platz der ehemaligen Kolonialmächte ein. Eisenhower sagte jenen Ländern finanzielle und materielle Unterstützung zu, die sich gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell entschieden. Moskau unterzeichnete ein Abkommen mit Nasser, in dem es finanzielle Unterstützung für den Bau des Assuanstaudamms zusagte. Mit dieser Übereinkunft avancierte Ägypten für mehr als 20 Jahre zum sowjetischen Hauptverbündeten in der arabischen Welt. Für Großbritannien und Frankreich endete das militärische Engagement am Suezkanal mit einer diplomatischen Demütigung. Beiden Ländern war schmerzhaft vor Augen geführt worden, dass sie keine Weltmächte mehr waren. Großbritannien stellte 1957 seine Atomstreitkraft unter amerikanische Kontrolle. Frankreich hingegen forcierte den Aufbau einer unabhängigen nuklearen "Force de frappe". Diese Entscheidung erklärt sich zum einen mit dem französischen Selbstverständnis nach 1945, das eigene politische Handlungsfeld nicht alleine auf die westliche Hemisphäre beschränken zu wollen, zum anderen mit der schwierigen Situation der Armee, die nach dem zwei Jahre zuvor erfolgten Rückzug aus Indochina und infolge des sich hinziehenden "schmutzigen Krieges" in Algerien dringend eines Erfolges bedurfte. Die aus Algerien abgezogenen Kräfte hatten kehrtmachen müssen, bevor sie in Suez zum Einsatz kommen konnten. Nachdem bereits Indochina und Algerien den Franzosen den wachsenden Widerstand der Staaten der "Dritten Welt" gegen die Kolonialmächte demonstriert hatten, verdeutlichte der Ausgang der Militäraktion am Suezkanal, dass sich Frankreichs Rolle als Kolonialmacht ihrem Ende näherte. Die Suezkrise beendete in diesem Sinne das 19. Jahrhundert. Was waren die französischen Motive, das Suez-Abenteuer zu wagen? Die Regierung unter Guy Mollet war fest davon überzeugt gewesen, dass die Aufstände in Algerien unmittelbar von Ägypten gesteuert wurden, sodass einem Triumph über Nasser der Sieg über die algerische Unabhängigkeitsbewegung folgen würde. Zudem war das "München-Syndrom" virulent. Am 5. September 1956 hatte Mollet im Parteivorstand der französischen Sozialisten davor gewarnt, einem Diktator freie Hand zu lassen: "Natürlich ist Nasser nicht Hitler, aber er wendet seine Methoden an. Wir dürfen ihm daher keinen ersten Erfolg erlauben, denn dieser könnte bei ihm neue Machtgelüste auslösen." Kurz nach dem Beginn der Militärintervention erklärte er öffentlich: "Unsere Väter (...) haben uns als Vermächtnis die Lehre mitgegeben, dass es mehr wert ist, zu sterben, als die Knechtschaft und die Demütigung zu akzeptieren." Noch 1970 wies Mollet in einem Interview auf den Zusammenhang zwischen "München" und "Suez" hin, den sein britischer Kollege Anthony Eden genauso gesehen habe wie er: "Wir Sozialisten haben 1938 zu sehr gelitten, weil wir nicht eingeschritten sind, sodass wir es nicht ein zweites Mal zulassen konnten, eine kleine Demokratie zermalmt zu sehen (...). Wir konnten es nicht billigen, dass hier ein Abenteurer, dieser Hitler auf kleinem Fuß, weiter heranreift, denn das war zu riskant." Beide Kolonialmächte hatten sich in die Defensive manövriert. Aus dieser gedachte Charles de Gaulle mit einer auf nationale Unabhängigkeit ausgerichteten Außenpolitik nach 1958 ("Vom Atlantik bis zum Ural") herauszukommen, die ihn auf Distanz zu den USA brachte. Wer den französischen Antiamerikanismus der V. Republik und die von Frankreich zu verantwortenden Auflockerungserscheinungen im westlichen Bündnis während der sechziger Jahre verstehen will, wird die Ursprünge auch in der Suezkrise zu suchen haben. Kalter Krieg und europäische Integration Die USA und die Sowjetunion waren seit Beginn des Kalten Krieges darum bemüht gewesen, den eigenen Einflussbereich zu konsolidieren. Während es Washington nicht zuletzt infolge seiner wirtschaftlichen Macht gelang, seine Integrationspolitik mit der Aussicht auf Prosperität im Westen konsensfähig zu machen, musste Moskau aufgrund der mangelnden Legitimation der Volksdemokratien immer wieder zur Gewalt greifen. Volksaufstände wie in der DDR am 17. Juni 1953 bedrohten nicht nur die Autorität der sowjetischen Besatzungsmacht, sondern gefährdeten das Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West. Angesichts des nuklearen Waffenpotenzials und der sich daraus ergebenden atomaren Gefahr für den Erdball nahm in Moskau wie in Washington die Einsicht zu, sich um den Abbau der Spannungen zu bemühen. Zwar konnten bei den Gipfelgesprächen und der Außenministerkonferenz in Genf im Oktober und November 1955 keine Abrüstungsvereinbarungen erzielt werden, doch die Beteuerungen zur Kooperationsbereitschaft ließen Beobachter vom "Geist von Genf" sprechen. Ausdruck dieses Geistes war nicht zuletzt die von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 verkündete "friedliche Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme", die zwar nicht den Sieg des Sozialismus aus den Augen verlor, diesen jedoch auf friedlichem Wege erringen wollte: "Entweder friedliche Koexistenz oder der zerstörerische Krieg in der Geschichte - einen dritten Weg gibt es nicht." Dieser Wille zur Entspannung erklärt, warum die Amerikaner auf die ungarische Revolution am 23. Oktober zurückhaltend reagierten und sich selbst nach deren blutiger Niederschlagung durch die sowjetischen Truppen auf Protestresolutionen der UN-Vollversammlung beschränkten. Ähnliche Motive sind auch hinter dem amerikanischen Druck auf Großbritannien und Frankreich zu entdecken. Als diese am Kanal eingriffen, war es konsequent, dass die USA über UN-Voten sowie währungs- und handelspolitische Sanktionen einen Waffenstillstand durchsetzen konnten. Die amerikanischen Pressionen auf die Verbündeten fanden im Kreml Unterstützung, der Briten und Franzosen zumindest indirekt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohte, wenn sie die Kampfhandlungen gegen Ägypten nicht einstellten. Dabei spielte es eine untergeordnete Rolle, dass die sowjetischen Atomwaffen für einen solchen Schlag gar nicht einsatzbereit waren. Das Pokerspiel funktionierte und bestärkte Chruschtschow in der Überzeugung, auch in Zukunft mit nuklearem Bluff internationale Politik machen zu können. Die Suezkrise stellt in diesem Sinne einen elementaren Bestandteil in der Vorgeschichte der Berlin- und Kubakrise dar. Für den Moment hatten die beiden europäischen Kolonialmächte keine andere Wahl, als sich zurückzuziehen: Sie hatten die Erfahrung machen müssen, "wie eng inzwischen die Grenzen (...) im Kräftespiel zwischen Ost und West gezogen waren". Während die französische Regierung am 6.November über das Ultimatum beriet, traf Bundeskanzler Konrad Adenauer in Paris ein. Die Reise war bereits im September vereinbart worden, doch gab es in Bonn Stimmen, die dem Kanzler angesichts der Suezkrise nahe legten, den Termin für das Zusammentreffen mit Guy Mollet zu verschieben. Auch das Auswärtige Amt riet dem Bundeskanzler ab und plädierte für einen neutralen Kurs, um das "bislang so erfolgreiche Navigieren zwischen den Klippen von westlichem Mißtrauen in die Zuverlässigkeit des neuen Deutschlands und der Flucht der arabischen Welt in die nur zu aufnahmebereiten Arme der DDR" fortsetzen zu können. Adenauer begegnete den Amerikanern mit kritischer Distanz, unterstellte er ihnen doch mit Blick auf die deutsche Frage, sich mit dem Kreml über die Aufteilung der Welt in zwei exklusive Einflusssphären geeinigt zu haben. Er setzte auf die europäische Karte und nutzte die Suezkrise, um gemeinsam mit Frankreich die europäische Integration zu vertiefen. Die französische Öffentlichkeit hatte es dem Bundeskanzler hoch angerechnet, dass er der in die diplomatische Defensive geratenen französischen Regierung seine demonstrative Solidarität erklärt und sich als Alliierter gezeigt hatte. Mollet wie Adenauer zeigten sich in ihren Gesprächen erschüttert über die "Ohnmacht Europas" und gelobten, "die Einigung der Sechser-Gemeinschaft dans un esprit de totale confiance voranzubringen". Zudem beflügelten die Sperrung des Suezkanals und die sich erschwerenden Öltransporte nach Europa die Politiker in Westeuropa, die Entwicklung neuer Energiequellen zu fördern. Diese neuen Initiativen mündeten in dieUnterzeichnung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) am 25. März 1957. Noch spektakulärer erscheint die hinter dem Rücken der Briten und der Amerikaner vollzogene Einigung zwischen Frankreich, der Bundesrepublik und Italien, ein gemeinsames europäisches Atomwaffenpotenzial aufzubauen, das nicht nur als Druckmittel gegen die USA gedacht war, sondern für viele Politiker in den drei Ländern auch einen Selbstzweck besaß. Das deutete zugleich auf den Willen Adenauers, einen "Finger an den Abzug" der Atombombe zu bekommen. Noch eindeutiger stellt sich die Situation beim Gemeinsamen Markt dar, konnten sich Mollet und Adenauer doch auf einen Fahrplan einigen. Die Suezkrise bedeutet daher nicht nur eine wichtige Etappe auf dem Weg der deutsch-französischen Annäherung, sondern zugleich für die Integrationsbestrebungen in Westeuropa bzw. die Unterzeichnung der Römischen Verträge am 27. März 1957. Erklärung der Bundesregierung zur weltpolitischen Entwicklung, abgegeben von Bundeskanzler Adenauer, 8.11. 1956, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, III. Reihe/Bd. 2 (1.1. bis 31.12. 1956), 2. Halbband, Bonn-Berlin 1963, S. 873ff. Vgl. Jost Dülffer, Atomkriegsgefahr 1956? - Die Suez- und Ungarn-Krise, in: ders., Im Zeichen der Gewalt. Frieden und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2003, S. 219-237, hier: S. 223. Vgl. David Carlton, Britain and the Suez Crisis, London 1981; William R. Louis/Roger Owen (Hrsg.), Suez 1956. The Crisis and its Consequences, Oxford 1992; Maurice Vaïsse (Hrsg.), La France et l'opération de Suez de 1956, Paris 1997; Winfried Heinemann/Nobert Wiggershaus (Hrsg.), Das internationale Krisenjahr 1956, München 1999. Vgl. einleitend Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Der Elysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003, München 2005. Vgl. Peter Fischer, 125 Jahre Suezkanal, Berlin 1994. Vgl. John Darwin, Diplomacy and Decolonization, in: Journal of Imperial and Commonwealth History, 28 (2000) 2, S. 5-24. Georges-Henri Soutou, La Guerre de Cinquante Ans. Les relations Est-Ouest 1943-1990, Paris 2001, S. 337. Vgl. Alfred Grosser, Affaires extérieures. La politique de la France 1944/1984, Paris 1984, S. 135. Vgl. Dietrich Rauschning, Der Streit um den Suezkanal, Hamburg 1956; Herbert von Broch (Hrsg.), Die großen Krisen der Nachkriegszeit, München 1994. Vgl. Gamal Abdel Nasser, Egypt's Liberation, Washington 1955. J. Dülffer (Anm. 2), S. 221. Vgl. Tony Shaw, Eden, Suez and the mass media, London-New York 1996. Vgl. Jean-Yves Bernard, La genèse de l'expédition franco-britannique de 1956 en Égypte, Paris 2003. Vgl. Stanislas Jeannesson, La guerre froide, Paris 2002, S. 52. Vgl. Anthony Eden, Mémoires, Bd. 3: 1945 - 1957, Paris 1960, S. 598. Vgl. Henry Laurens, Le Grand Jeu. Orient arabe et rivalités internationales, Paris 1991. Vgl. A. Grosser (Anm. 8), S. 136 Vgl. Ernst Weisenfeld, Geschichte Frankreichs seit 1945, München 1997(3), S. 117. Vgl. Marc Ferro, Suez, Naissance d'un tiers-monde, Brüssel 1982. Vgl. Yves Bénot, La décolonisation de l'Afrique française (1943-1962), in: Marc Ferro (Hrsg.), Le livrenoir du colonialisme. XVIe-XXIe siècle: de l'extermination à la repentance, Paris 2003, S. 689 - 741, hier: S. 722. Zitate nach Jacques Bariéty, Le mythe de Munich, la France et l'"Affaire de Suez", 1956, in: Fritz Taubert (Hrsg.), Mythos München, München 2002, S. 237-253. Jean Lacouture, Nasser, Paris 1971, S. 154. Vgl. zum Überblick Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, München 2003; Rolf Steininger, Der Kalte Krieg, Frankfurt/M. 2003; Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945 - 1990, München 2004. Vgl. Wilfried Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998, S. 55. Zit. nach ebd., S. 51. Vgl. Wladislaw Subok/Konstantin Pleschakow, Der Kreml im Kalten Krieg, Hildesheim 1997, S. 270ff. Stefan Martens, Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Ernst Hinrichs (Hrsg.), Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2006, S. 433. Rolf Pfeiffer, Ein erfolgreiches Kapitel bundesdeutscher Außenpolitik: Die Adenauer-Regierung und die Suez-Krise von 1956, in: Historische Mitteilungen, 13 (2000), S. 213 - 232, hier: S. 225. Ulrich Lappenküper, Diplomatische Faktoren: Die deutsch-französische Annäherung im europäischen und transatlantischen Zusammenhang 1950-1958, in: Hélène Miard-Delacroix/Rainer Hudemann (Hrsg.), Wandel und Integration. Deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre, München 2005, S. 69 - 86, hier: S. 84; vgl. ausführlicher ders., Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-1963. Von der "Erbfeindschaft" zur "Entente élémentaire", München 2001, S. 914ff. Vgl. Marie-Thérèse Bitsch, Histoire de la construction européenne, Brüssel 1999, S. 114. Vgl. R. Pfeiffer (Anm. 28), S. 231. Vgl. Georges-Henri Soutou, L'alliance incertaine. Les rapports politico-stratégiques franco-allemands, 1954 - 1996, Paris 1996, S. 55ff. Vgl. Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart 2002, S. 113f. Vgl. Jean-Paul Cahn/Klaus-Jürgen Müller, La République fédérale d'Allemagne et la guerre d'Algérie (1954-1962), Paris 2003, S. 86ff. Wichtige Absprachen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich für die Römischen Verträge waren bereits bei den Verhandlungen in La Celle-Saint-Cloud im Oktober 1954 erfolgt; vgl. Guido Thiemeyer, Vom "Pool Vert" zur Europäischen Gemeinschaft. Europäische Integration, Kalter Krieg und die Anfänge der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik 1950-1957, München 1999, S. 127ff.
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Pfeil, Ulrich
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29789/die-suezkrise/
Im Schatten der Revolution in Ungarn machten Frankreich und Großbritannien am Suezkanal die Erfahrung, wie eng die Spielräume im Ost-West-Konflikt geworden waren.
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Kultur und Markt | teamGLOBAL | bpb.de
Rechnerisch besitzt fast jeder vierte Mensch einen Fernseher. Foto: EC Der Welthandel mit kulturellen Gütern – Kinofilmen, Bildern, Radio- und Fernsehproduktionen, Zeitschriften, Büchern, Musik und Kunst ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Allerdings kommt der Großteil dieser Güterströme aus wenigen Ländern, allen voran den USA. Aber auch die in Indien produzierten Bollywood-Filme kommen auf eine beeindruckende Reichweite zumindest in Bezug auf die erreichten Menschen. Die weltweite Dominanz von US-Filmproduktionen ist aber nur ein Aspekt der Verbreitung westlicher Kultur. Neue Satellitentechnik ermöglichte seit Anfang der 1980er Jahre den Aufbau von globalen Nachrichtensendern wie CNN. Nach eigenen Angaben erreicht CNN heute mit seinen Themenkanälen mehr als 200 Millionen Haushalte in über 200 Ländern. Konsummuster wurden im Zuge dieser Entwicklung zunehmend globalisiert. Auch wenn jede Region ihre eigenen Konsumgewohnheiten und Vorlieben hat – wie manche Unternehmen schmerzlich feststellen mussten, die ihre Marketing-Strategien nicht an die jeweiligen kulturellen Bedingungen angepasst hatten – bildeten sich über die letzten 20 Jahre in vielen Bereichen globale Lebensstile und Marken heraus. Insbesondere die jüngere Generation bewohnt zunehmend einen globalen Raum, in dem sich Musikgeschmack, Kleidung, die Vorliebe für teure Turnschuhe, kleine aber multifunktionale Handys, Coca Cola, etc. zu einem ähnlichen Lifestyle verdichten. Es war der weltweit größte Musiksender selbst, der Kulturkritikern die Formel lieferte, in der ihre Bedenken Ausdruck fanden. "One Planet – One Music", versprach MTV, und für manchen klang das eher nach Drohung als nach Verheißung. Die großen Unternehmen der Musikwirtschaft, Time Warner, Sony BMG Entertainment, Vivendi und EMI sind gekennzeichnet durch weltweite geographische Ausdehnung, zunehmende Interaktionsdichte von Organisationsformen und entsprechende unternehmerische Strategien. Es handelt sich um börsennotierte Unternehmen, die durch ihren immensen Verflechtungsgrad in den transnational integrierten Konzernen ihre ökonomische Macht zu stärken suchen. Sie sind laut dem Soziologen Ulrich Beck Motor und Resultat der "informations- und kommunikationstechnologischen Dauerrevolution" und produzieren und vertreiben einen nicht unwesentlichen Teil der jeweils aktuellen Klang- und Bilderströme. Rechnerisch besitzt fast jeder vierte Mensch einen Fernseher. Foto: EC
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67378/kultur-und-markt/
Aufgrund der Dominanz amerikanischer Unternehmen in der globalen Medien- und Unterhaltungsindustrie und dank moderner Satellitentechnik wird der westliche Lebensstil mittels Filmen, Fernsehen und Musik bis in den letzten Winkel der Erde ausgestrahlt.
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Was bedeutet für dich Europa? | Themen | bpb.de
Europa bedeutet für mich... ...Frieden statt Krieg, Freiheit statt Unterdrückung, Demokratie statt Tyrannei, Gleichheit statt Ungerechtigkeit... Christian Gonder, 17 Jahre Interner Link: Zum Kurz-Interview ... eine einmalige und grenzenlose Idee, die in einem endlosen und verbindenden Projekt umgesetzt wird... Judith Papenfuß, 19 Jahre Interner Link: Zum Kurz-Interview ... viel mehr als "nur" die EU... Jan-Philipp Wagner, 20 Jahre Interner Link: Zum Kurz-Interview ... die Gewährleistung von Freiheit und Demokratie, Europa ist Heimat... Moritz Bartsch, 20 Jahre Interner Link: Zum Kurz-Interview Was Europa genau für die vier bedeutet und was besonders schwer zu vermitteln ist - zu den kompletten Interviews geht´s hier entlang: Interner Link: Christian Gonder Interner Link: Judith Papenfuß Interner Link: Jan-Philipp Wagner Interner Link: Moritz Bartsch YEP - Europa gestalten! Das Young European Professionals (kurz: YEP) Netzwerk versteht sich als Zusammenschluss junger Multiplikatoren/innen, die anderen jungen Menschen Europa, die EU und deren Politik näher bringen wollen. Das Netzwerk ist ein Peer-to-Peer Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung, das 2005 in Zusammenarbeit mit der regionalen Vertretung der Europäischen Kommission in Bonn ins Leben gerufen wurde. Die Altersspanne der Netzwerkmitglieder reicht von 16 bis 24 Jahren. Die gegenwärtig rund 50 aktiven Mitglieder des Netzwerks fungieren als Multiplikatoren/-innen für europapolitische Themen und Fragestellungen, die für die Lebenswelt junger Menschen von Bedeutung sind. Das YEP-Netzwerk lebt von dem aktiven Engagement seiner Mitglieder. Bei regelmäßig stattfindenden Ausbildungsworkshops erweitern sie ihre Kenntnisse, reflektieren aktuelle Entwicklungen und pflegen den Austausch im Netzwerk. Interner Link: Weitere Informationen gibt es hier. Christian Gonder (17 Jahre), Schüler aus Alsfeld Christian Gonder (© privat) Was bedeutet Europa für dich? Ein vereintes Europa – das bedeutet für mich Frieden statt Krieg, Freiheit statt Unterdrückung, Demokratie statt Tyrannei, Gleichheit statt Ungerechtigkeit und nicht zuletzt Selbstbehauptung in einer Welt, in der die vergleichsweise kleinen europäischen Nationalstaaten alleine auf weiter Flur chancenlos wären. Was ist besonders schwierig an der EU zu vermitteln und warum? Wie könnte man das verbessern? Der Prozess der europäischen Integration ist einzigartig. Denn bei der EU handelt es sich um eine Organisation sui generis, die momentan beides ist: Staatenbund und Bundesstaat. Dementsprechend besteht ihre institutionelle Architektur aus einem komplexen Gefüge supranationaler und intergouvernementaler Organe. Außerdem geht es um einen beispiellosen Machttransfer, der nur nachzuvollziehen ist, wenn man die konzeptionellen und historischen Grundlagen der Integration kennt. Welche Rolle spielen dabei das EP-Parlament und die anstehenden Europawahlen? Noch ist es etwas Zeit, bis die Bürger Europas wieder an die Wahlurnen gerufen werden. Aber nie zuvor war die Europawahl von solch einer Bedeutung. Denn das Klischee des machtlosen Parlaments stimmt mit der Realität kaum mehr überein. Als einziges demokratisch legitimiertes Organ der EU nimmt das EP-Parlament eine herausragende Rolle ein – und muss so vor allem in der Öffentlichkeit mehr Zuspruch erfahren. Was sagen die Teilnehmer eurer Seminare über Europa? So reizvoll die europäische Idee sein mag, zu viele Bürger lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Machtlosigkeit zurück. Nicht wenige Jugendliche fühlen sich weder in Europa beheimatet noch von den Brüsseler Institutionen repräsentiert. Die Distanz und das Misstrauen gegenüber dem bürokratisch organisierten "Brüssel-Europa" wachsen. Vielerorts ist sogar von einem "Monster Europa" die Rede. Wie siehst du die Zukunft Europas? Wir stehen vor Weichenstellungen, die womöglich entscheiden, ob die Geschichte der Integration auch nach den nächsten 60 Jahren als erfolgreich bewertet werden kann. In Zeiten zunehmender Ungleichheit gilt es, einen Interessensausgleich zu organisieren, der den inneren Frieden sichert. Auf institutioneller Ebene müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, die es uns ermöglichen, politische Verantwortung klar zu lokalisieren und zwischen politischen Alternativen zu wählen. Um dies möglich zu machen, brauchen wir einen Konsens. Es ist die womöglich wichtigste Aufgabe für uns YEP‘s, eine überparteiliche europäische Plattform zu schaffen! Judith Papenfuß (19 Jahre), Abiturientin aus Bonn Judith Papenfuß (© privat) Was bedeutet Europa für dich? Europa ist für mich eine einmalige und grenzenlose Idee, die in einem endlosen und verbindenden Projekt umgesetzt wird, das immer so weit gebaut wird, wie die menschliche Vorstellungskraft reicht. Bei euren Seminaren: Was sagen die Teilnehmer über Europa? Was äußern sie an Kritik bzw. an Vorurteilen? Es gibt zwei Formen der aufkommenden Kritik: Zum einen die sehr oberflächliche Kritik, die häufig mit Unwissenheit oder Politikverdrossenheit im Allgemeinen zu tun hat. Sie wird in Form folgender Kritikpunkte geäußert: Die EU ist viel zu fern von den Menschen; ich habe keinen Einfluss auf Europa; Europa schränkt meine Freiheiten ein, ohne, dass ich etwas dagegen tun kann. Die zweite Form der Kritik ist jene von „Europa-Experten“, die sich auf sehr konkrete Projekte oder Aspekte bezieht. Beispiele hierfür sind die Euro-Politik, die nicht ausreichend verfasste Legitimation der EU in die Souveränität der Staaten einzugreifen (fehlende Verfassung) oder Ähnliches. Was ist besonders schwierig an der EU zu vermitteln und warum? Wie könnte man das verbessern? Was besonders schwer zu vermitteln ist, kommt auf die Zielgruppe an. Grundsätzlich ist es aber immer schwer, die abstrakten Aspekte Europas zu vermitteln, also alles, was nicht unmittelbar von den Bürgern gespürt wird, bzw. nur teilweise wahrgenommen wird, zum Beispiel die Euro-Politik, die Institutionen oder Gesetzgebungsverfahren. Alles, was man sich nicht vorstellen kann, weil man keinen Bezug dazu hat, ist auch immer schwierig zu erklären und anschaulich zu machen. Hinzu kommt, dass es gerade bei den abstrakten Themen aus Unwissenheit viele Missverständnisse oder Vorurteile gibt. Hierbei wäre es wichtig, die Themen in den Medien (hierbei vor allem in den Hauptnachrichten und den Medien, die am meisten genutzt werden) anschaulicher und vor allem vielseitiger zu beleuchten, um Vorurteile abzubauen, Aggressionen zu mindern und Verständnis zu schaffen. Wissen bedeutet Macht. Verständnis bedeutet Frieden! Welche Rolle spielen dabei die Europawahl bzw. das Europaparlament? Die Institutionen, deren Arbeit und deren Wahl, so auch die Europawahl 2014, sind leider für die meisten Jugendlichen immer noch ein recht abstraktes Thema, obwohl sie so greifbar sind. Das Bewusstsein dafür, dass die Europawahl nicht weniger wichtig ist für meine persönliche Zukunft und meinen persönlichen Alltag als die Bundestagswahl oder die Entscheidung, welche Ausbildung ich anstrebe, muss deutlicher geschaffen werden. Hierfür müssen die Kanäle, die von Jugendlichen Aufmerksamkeit erfahren, viel massiver genutzt werden! Facebook, Istagram und Co. müssen europäisch sprechen! Wie siehst du die Zukunft Europas? Die Zukunft von Europa hängt ganz alleine an uns und unserer Vorstellungskraft. Alles ist möglich, in jede Richtung. Ich persönlich wünsche mir, dass Europa alle Zeit friedlich bleiben wird. Dass ich, meine Kinder, Enkel und alle folgenden Generationen in einem stabilen und unerschütterlichen Frieden leben können! Jan-Philipp Wagner (20 Jahre), Student in Dundee/Schottland Jan-Philipp Wagner (© privat) Was bedeutet für dich Europa? Europa ist viel mehr als "nur" die EU! Es ist wichtig, dass wir das nicht vergessen, denn sonst benachteiligen wir diejenigen europäischen Staaten, die keine EU-Mitglieder sind, und diejenigen Menschen, die keine EU-Bürger sind. Das Spannungsfeld zwischen der EU und dem restlichen Europa birgt sowohl Chancen als auch Gefahren und es ist wichtig, dass wir über den Tellerrand der EU schauen. Bei euren Seminaren: Was sagen die Teilnehmer über Europa? Die meisten Teilnehmer haben keine vorgefestigten Vorurteile oder Kritik mit Bezug auf die EU. Sie sind offen und möchten etwas erfahren, um sich selbst eine Meinung bilden zu können. Aber natürlich gibt es auch kritische Äußerungen. Diese richten sich häufig an die Finanzierung der EU, an die Repräsentation der Bürger innerhalb der EU und an die Wirtschaftspolitik der EU in der Krise. Kritische Einstellungen der Teilnehmer führen normalerweise zu sachlichen und lösungsorientierten Diskussionen, in denen die verschiedenen Sichtweisen auf eine Thematik aufgezeigt werden, damit die Teilnehmer ihren Horizont erweitern und sich eine Meinung bilden können. Was ist besonders schwierig an der EU zu vermitteln und warum? Wie könnte man das verbessern? Es ist immer schwierig zu erklären, wie die EU im Detail funktioniert. Was gibt es für Institutionen? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wer hat wieviel Macht und warum, und wie kann diese Entscheidungsmacht genutzt werden? Was können wir als Bürger der EU machen, um die politischen Entscheidungsprozesse zu unseren Gunsten zu beeinflussen? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht immer leicht zu finden und auch nicht leicht zu vermitteln. Wenn wir uns aber darauf konzentrieren, den Menschen zu zeigen, wie groß die Rolle der EU in ihrem alltäglichen Leben ist, erleichtert das den Vermittlungsprozess. Welche Rolle spielt dabei die Europawahl bzw. das Europäische Parlament? Die Europawahlen sind immer sehr wichtig. Denn durch sie können die Bürger der EU aktiv die politische Entwicklung und Zukunft der EU beeinflussen. Die Wahl 2014 ist die erste nach der Wirtschafts- und Schuldenkrise, die die verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU unterschiedlich stark getroffen hat. Es wird interessant sein, zu sehen, wie die EU-Bürger auf die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, die die Krise mit sich gebracht hat, reagieren. Wie siehst du die Zukunft Europas? Die Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2014 wird richtungsweisend sein. Ich vermute, dass die europaskeptischen Parteien im neuen Parlament stärker vertreten sein werden, was natürlich die Prozesse der europäischen Integration verlangsamen und verschleppen wird. Insgesamt ist es, glaube ich, wichtig, dass wir überdenken, wieviel EU wir wollen, wieviel EU richtig ist und was an der EU für uns wichtig ist. Europäische Integration und die Verteilung der Kompetenzen innerhalb des politischen Systems der EU sollte überdacht werden um die EU besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Besonders im Bereich der Migrationspolitik muss sich die EU zeitnah weiterentwickeln und einen gemeinsamen Lösungsweg erarbeiten. Moritz Bartsch (20 Jahre), leistet Europäischen Freiwilligendienst in Crowthorne/Großbritannien Moritz Bartsch (© privat) Was beutetet Europa für mich? Europa ist für mich die Gewährleistung von Freiheit und Demokratie, Europa ist Heimat; Europa ist dort, wo ich mich respektiert und ernst genommen fühle. Hier kann ich so sein, wie ich bin. Diese Ideen von Menschen- und Bürgerrechten, Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität finden in Europa unsere Umsetzung. Wir sind Europa - in Vielfalt geeint! Europa ist mehr als ein Kontinent, mehr als Krisengipfel. Europa ist die Zukunft als Antwort auf die Vergangenheit - die Jugend Europas ist aufgefordert, diese aktiv zu gestalten. Welche Rolle spielt die Europawahl? Wenn 2014 ein neues Parlament gewählt wird, warten auf seine neue Mitglieder die größten Herausforderungen in der neueren Geschichte Europas. Die Fliehkräfte in Europa sind kritisch, Europa muss sich entscheiden. Nur ein starkes Parlament kann das Einläuten der Phase der Postdemokratie verhindern. Nur ein starkes Parlament kann ein demokratisches Europa sicherstellen. Die Liste der zu lösenden Fragen ist lang: Wie können wir die Wirtschaftskrise überwinden? Wie können wir die Jugendarbeitslosigkeit abbauen? Wie können wir die Staatsverschuldung zurückfahren? Wie können wir mit den Herausforderungen des demographischen Wandels umgehen? Wie können wir die richtigen Antworten auf den Klimawandel, den Terrorismus und endlichen Rohstoffe finden? Von der Stärke des Parlamentes hängt auch ab, wie wir die Zukunft Europas gestalten. Nur eine hohe Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europaparlament kann seinen gewählten Repräsentanten die notwendige Autorität an die Hand reichen, Mut zur Gestaltung zu haben. Wie sehe ich die Zukunft Europas? Die Zukunft dieser Idee von der Unversehrtheit der Würde einer Person, ein Europa der Menschen- und Bürgerrechte, kann eigentlich nur in eine Richtung führen - in eine gemeinsame Richtung zu mehr gemeinsamer Verantwortung, mehr supranationaler Zusammenarbeit. Die Fragen der Zukunft sind globale Fragen, sie müssen auch global beantwortet werden. Ein Rückbesinnen auf ausschließlich nationale Interessen würde zu einer Stagnation, zu einer Rezession des Intellekts führen. Die Staaten Europas sind unsere Freunde und auf Freunde schießt man nicht - diese simple Wahrheit droht in Vergessenheit zu geraten. Freunden hilft man! Man hilft auch und gerade dann, wenn es mal nicht so rund läuft. Solidarität und Brüderlichkeit sind Tugenden! Gute Freunde erkennt man daran, ob sie einem auch noch die Hand reichen, gleichwohl ein Malheur passiert ist. Diese Krise hilft uns, über Europa zu diskutieren, verschiedene Ansichten zu überprüfen und zu bewerten. Vielleicht müssen wir auch in einigen Jahren bestimmte Argumente und Standpunkte neu überdenken. Die Zukunft ist kein abgeschlossener Zustand, sondern vielmehr ein Prozess des Gestaltens. Ich sehe nur eine gemeinsame Zukunft für diese alte Idee - ohne Kooperation haben wir keine Chance. Es geht immer um Macht und Herrschaft - nur gemeinsam als ein vereintes und geeintes Europa können wir sicherstellen, dass wir auch in Zukunft nach unserer Meinung gefragt werden. Das Young European Professionals (kurz: YEP) Netzwerk versteht sich als Zusammenschluss junger Multiplikatoren/innen, die anderen jungen Menschen Europa, die EU und deren Politik näher bringen wollen. Das Netzwerk ist ein Peer-to-Peer Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung, das 2005 in Zusammenarbeit mit der regionalen Vertretung der Europäischen Kommission in Bonn ins Leben gerufen wurde. Die Altersspanne der Netzwerkmitglieder reicht von 16 bis 24 Jahren. Die gegenwärtig rund 50 aktiven Mitglieder des Netzwerks fungieren als Multiplikatoren/-innen für europapolitische Themen und Fragestellungen, die für die Lebenswelt junger Menschen von Bedeutung sind. Das YEP-Netzwerk lebt von dem aktiven Engagement seiner Mitglieder. Bei regelmäßig stattfindenden Ausbildungsworkshops erweitern sie ihre Kenntnisse, reflektieren aktuelle Entwicklungen und pflegen den Austausch im Netzwerk. Interner Link: Weitere Informationen gibt es hier. Christian Gonder (© privat) Judith Papenfuß (© privat) Jan-Philipp Wagner (© privat) Moritz Bartsch (© privat)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-03-28T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europawahlen/europawahlblog-2014/178657/was-bedeutet-fuer-dich-europa/
Frieden statt Krieg, eine einmalige und grenzenlose Idee, viel mehr als nur die EU: "Europa" kann für vieles stehen. Wir haben junge Engagierte aus dem bpb-Projekt Young European Professionals (YEPs) gefragt.
[ "Europa", "Europaparlament", "EU", "Wahl", "Europawahl", "Umfrage" ]
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Notizen aus Moskau: #MeToo, Leonid Slutzkij und der Untergang des Abendlandes | Russland-Analysen | bpb.de
10. April 2018 Lange Zeit sah es so aus, als ob die #MeToo-Kampagne am neuen Russland abprallen würde. Zwar wurde in fast allen Medien ausführlich über den Weinstein-Skandal und #MeToo berichtet und in den sozialen Netzwerken heftig diskutiert, aber diejenigen, die mit den belästigten und vergewaltigten Frauen fühlten, blieben nur wenige. Es dominierte, besonders natürlich in den staatlichen Medien, aber auch sonst, die Auffassung, das sei ein typisch "westliches" Phänomen, eine Art politisch korrekte Hysterie, die vor allem zweierlei zeige: die Meinungsdiktatur eines Mainstreams der "political correctness" und die fortschreitende Degradierung westlicher Gesellschaften, ihr Abweichen von einem "natürlichen" Weg. Russische Männer und Frauen, so die ebenso stereotype wie vorherrschende Meinung, seien dagegen noch "echte Männer" und "richtige Frauen". Doch dann geschah im Februar etwas Unerwartetes. Drei in der Staatsduma, dem Parlament, akkreditierte Journalistinnen beschuldigten anonym den stellvertretenden Dumavorsitzenden Leonid Sluzkij, sie in den vergangenen Jahren sexuell belästigt zu haben. Sluzkij – ein einflussreicher Mann, soweit das im System Putin mit einem nicht sehr einflussreichen Parlament überhaupt möglich ist – wies die Anschuldigen zurück. Damit schien auch diese Sache aus der Welt. Doch diesmal klappte nicht, was bisher noch immer geklappt hatte. Die Journalistinnen fanden Unterstützung, und zwar nicht nur von den üblichen Verdächtigen, der liberalen Öffentlichkeit, NGOs und Feministinnen. So stellte sich die, wenn es um den Westen geht, meist zynische und erbarmungslose Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa auf ihre Seite. Sie sei einst ebenfalls von Sluzkij bedrängt worden, sagte sie öffentlich. Kurze Zeit später verließ eine vierte Journalistin, Jekaterina Kotrikadse vom Auslandsfernsehsender "RTVI", den Schutz der Anonymität. Sie beschuldigte Slutzkij, er habe sie bereits 2011 während eines Interviews in seinem Büro angefasst und versucht zu küssen. Sie habe sich damals losgemacht und sei fortgelaufen. Geschwiegen habe sie bisher, weil sie Schwierigkeiten befürchtet habe. Kotrikadse fügte hinzu, sie wisse, dass sexuelle Belästigung von Journalistinnen ein weit verbreitetes Phänomen in unterschiedlichen staatlichen und Regierungsinstitutionen sei, aber niemand es wage, den Mund aufzumachen. Der Chefredakteur von "RTVI" Alexej Piwowarow unterstützte seine Mitarbeiterin und forderte die anderen belästigten Journalistinnen auf, ihre Namen ebenfalls öffentlich zu machen. Im Parlament selbst gab es fast ausschließlich Unterstützung für Sluzkij. Nur eine Abgeordnete, die prominente ehemalige Fernsehmoderatorin Oksana Puschkina, unterstützte ihre ehemaligen Kolleginnen nach den Anschuldigungen. Sie forderte, einen seit 2003 im zuständigen Parlamentsausschuss ruhenden Gesetzentwurf zu reaktivieren, mit dem, sollte er Gesetz werden, sexuelle Belästigung eine Straftat wird. Aber nur eine weitere von 450 Abgeordneten schloss sich dieser Forderung öffentlich an. Ein erst jüngst im Parlament eingerichteter "Frauenklub" nannte die Vorwürfe der Journalistinnen gegen Slutzkij dagegen eine "gezielte Provokation". Die Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Familie, Frauen und Kinder, Tamara Pletnjowa, bezweifelte ebenfalls die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen und sagte, ganz im Geist des propagierten Andersseins: "Wir sind hier doch nicht in Amerika oder Europa. Warum sollen wir alles nachmachen? Eine Frau, die das nicht will, wird auch nicht belästigt." Der mächtige Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin, vormals stellvertretender Leiter für Innenpolitik der Präsidentenadministration, fragte die Journalistinnen öffentlich polemisch: "Es ist gefährlich in der Duma zu arbeiten? Dann wechselt doch den Arbeitsplatz." Drei der Journalistinnen, Jekaterina Kotrikadse, sowie Farida Rustamowa und Darja Schuk vom unabhängigen Internetsender "TV Rain" und der Medienholding "RBK", beschwerten sich schließlich beim ständigen Ethikausschuss des Parlaments. Der kam Ende März nach einer getrennten und nicht öffentlichen Anhörung erst mit den beiden Beschwerdeführerinnen und dann mit Sluzkij wenig überraschend zu dem Schluss, dass es an Slutzkijs Verhalten nichts zu rügen gebe. Daraufhin beschlossen die Redaktionen der belästigten Journalistinnen fortan die Duma-Berichterstattung zu boykottieren. Zahlreiche andere Redaktionen, vor allem Zeitungen und Internetmedien schlossen sich an. Im Gegenzug entzog der Pressedienst der Staatsduma den beteiligten Medien die Akkreditierung im Parlament. Der Kreml hatte sich derweil öffentlich zurückgehalten. Erst recht spät wurden Äußerungen von Präsidentensprecher Dmitrij Peskow bei einem halböffentlichen Auftritt vor Studenten einer Moskauer Hochschule bekannt. Er verglich die russischen Journalistinnen mit den Schauspielerinnen, die über die Nachstellungen von Harvey Weinstein geklagt hatten. Diese hätten viel dafür getan, um "Stars zu werden". Und weiter: "Es kann sein, dass Weinstein ein Dreckskerl ist, aber niemand ist ja zur Polizei gegangen und hat gesagt: Weinstein hat mich vergewaltigt. Nein. Sie wollten 10 Millionen Dollar verdienen. Wie heißt eine Frau, die für 10 Millionen Dollar mit einem Mann schläft? Kann es sein, dass man sie, grob gesagt, eine Prostituierte nennt?" Diese Äußerung Peskows, der als enger Putinvertrauter als einer der einflussreichsten Männer in Russland gilt, illustriert gut und erschreckend das Niveau des herrschenden Geschlechterdiskurses in Russland. Dass es sich aber auch in Russland schon um Abwehrgefechte handelt (wenn auch grobe und noch leicht zu gewinnende) zeigt ein Artikel von Wladislaw Surkow. Der ehemalige Chef-Spindoctor des Kremls zeichnete sich schon immer durch ein besonders feines Gespür für tektonische Verschiebungen und ebenso für die sich daraus ergebenden manipulativen Möglichkeiten aus. Selten ist klar, wieviel er von dem glaubt, was er sagt oder schreibt. Alles wirkt immer postmodern verspielt. Der Text, um den es mir hier geht, wurde schon vor dem Sluzkij-Skandal veröffentlicht, ausgerechnet und sicher nicht zufällig am 14. Februar, dem Valentinstag. Er ist mit "Walentinka in purpurnen Tönen" (Externer Link: http://ruspioner.ru/honest/m/single/5725) überschrieben und kann durchaus als Kommentar zur #MeToo-Debatte gelesen werden. In seinem Artikel hebt Surkow die Geschlechterfrage auf eine grundsätzliche Ebene. Erst fragt er, ob sich irgendjemand überhaupt an Frauen erinnern könne, die Großes geschaffen hätten, natürlich nur, um die Frage gleich zu verneinen. Denn die Sphäre, in der Großes geschaffen wird, sei eine Männerdomäne. Warum, fragt Surkow weiter, würden dann "plötzlich Frauen in diese männliche Welt aufgenommen?", um sogleich eine überraschende Antwort zu geben: Weil wir vor dem Untergang der abendländischen Welt stünden, wie wir sie kennen. Es gebe, so behauptet er (es geht in Russland anscheinend nicht ohne Oswald Spengler) "alle Anzeichen eines Untergangs Europas (besser, Euramerikas)". Der wachsende öffentliche weibliche Einfluss sei nämlich nicht der Grund für irgendetwas, sondern lediglich ein Symptom, eine "Manifestation der Dekadenz". In politischen Systemen, so führt Surkow weiter aus, die sich nach wildem Wachstum erschöpften, sozusagen in ihre letzte Phase einträten, neigten die klügeren Männer dazu, Frauen an die Führung zu lassen. Sie überließen es dann diesen Frauen das untergehende System abzuwickeln, während sie, also "die klugen Männer", keine Kraft mehr in eine verlorene Sache steckten, sondern schon mit "echten Männerdingen" beschäftigt seien, nämlich damit, "eine neue Realität zu erfinden und zu konstruieren". Man könnte das als intellektuelle Jämmerlichkeit abtun, wenn ein Mann behauptet, dass eigentlich immer noch Männer führen, auch wenn Frauen an der Führung sind, wäre damit nicht ein wunder Punkt bei vielen russischen Männern getroffen. Die große Verunsicherung darüber, was heute einen Mann ausmacht, trifft sie mindestens ebenso unvorbereitet wie ihre westlichen Geschlechtsgenossen vor 50 Jahren. Auf diese Verunsicherung legt sich aber zusätzlich noch das Leiden am Abstieg des eigenen Landes von der Weltmacht zu etwas, das noch nicht ganz ausgemacht, aber ganz sicher weniger groß, weniger prächtig und weniger mächtig ist. Mit diesen Sentimenten spielt Surkow, egal ob er den Unsinn seines Textes nun selbst glaubt oder nicht. Viele andere Männer (und auch einige Frauen) meinen das in Russland aber sehr ernst, mitunter todernst. Doch aufzuhalten dürfte #MeToo (und überhaupt die Veränderung der Geschlechterverhältnisse) auch in Russland trotzdem nicht sein. Vorige Woche wurde bekannt, dass sich eine russische Nachwuchsbiathletin über die sexuelle Nötigung ihres Trainers beschwert hatte. Noch bevor der Skandal öffentlich wurde, war der Mann gefeuert. #MeToo wirkt – auch in Russland. Dieser Beitrag von Jens Siegert erschien in seinem Blog (Externer Link: russland.boellblog.org/). Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, weiterhin Beiträge von Jens Siegert veröffentlichen zu dürfen und dankt für die Erlaubnis zum Abdruck. Die Redaktion der Russland-Analysen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-05-08T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-354/268852/notizen-aus-moskau-metoo-leonid-slutzkij-und-der-untergang-des-abendlandes/
Schien es, als würde die #MeToo-Debatte an Russland ohne große Wirkung bleiben, änderte sich das mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung an den stellvertretenden Dumavorsitzenden Leonid Sluzkij. Über Erklärungsversuche und Abwehrgefechte der #MeToo-D
[ "#metoo", "Leonid Slutzkij", "sexuelle Belästigung", "Russland" ]
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Wenn sich Wissen im Plural trifft | Wikipedia | bpb.de
Wikipedia, das größte Online-Lexikon und gleichzeitig das größte von Nutzern erstellte Wissensangebot im Internet, lässt sich als reiner Datenbestand auffassen, als umfangreiche Sammlung unstrukturierter Elemente, die unterschiedliche Erschließungspfade und Sortierungen erlauben. In jeder der zirka 270 Sprachfassungen der Wikipedia können die Inhalte anders sortiert sein, da ihre Ordnung nicht durch die Datenbanksoftware, sondern durch die Beiträge der Wikipedia-Autoren bestimmt ist. Diese schreiben, bearbeiten und organisieren Artikel,verlinken sie untereinander und nutzen die von den Usern erstellten Kategorien. Tatsächlich greifen wir nie unmittelbar auf einen reinen Datenbestand zu, sondern immer vermittelt durch ein Verfahren zur Hierarchisierung und Kategorisierung. Doch die Vorstellung des reinen Datenbestands hat Einfluss darauf, wie wir ihn und seine Funktion verstehen. Es gäbe keine Wikipedia, hätten ihre Gründer es nicht für möglich gehalten, alle Elemente der Externer Link: Gesamtheit des menschlichen Wissens in eine Datenbank einzustellen und die Nutzer unterschiedliche Erschließungspfade anlegen zu lassen, um dieses Wissen zu nutzen. Was ist Wissen im Sinne der Wikipedia? Da Wikipedia das Prinzip der nutzergenerierten Inhalte und Kategorien vertritt, wird Wikipedia-Inhalt als offen zugängliches Wissen wahrgenommen, das gemeinsam produziert, organisiert und bearbeitet sowie für jedermann frei verfügbar gemacht wird. Im Wikipedia-System kann alles "menschliche Wissen" zum Wikipedia-Inhalt werden. Geschieht dies nicht, liegt es an den Grenzen der Autoren. Was ist Wikipedia-Wissen? Der englischsprachigen Wikipedia zufolge ist: "Knowledge is a familiarity with someone or something, which can include facts, information, descriptions, or skills acquired through experience or education. It can refer to the theoretical or practical understanding of a subject. It can be implicit (as with practical skill or expertise) or explicit (as with the theoretical understanding of a subject); and it can be more or less formal or systematic”. (Quelle: Externer Link: en.wikipedia.org/wiki/Knowledge) "Wissen die Vertrautheit mit einem Gegenstand, seien es Fakten, Informationen, Beschreibungen oder durch Erfahrung oder Bildung erworbene Fähigkeiten; dieses Wissen kann sich auf das theoretische oder praktische Verstehen des Gegenstandes beziehen. Wissen kann also implizit (wie bei praktischen Fertigkeiten oder Kenntnissen) oder explizit sein (wie beim theoretischen Verständnis des Gegenstandes); und es ist mehr oder weniger formal oder systematisch." In den Wikipedia-Redaktionsgrundsätzen heißt es, es könne nur eine maßgebliche Version eines Artikels geben. Mag man dieser Definition von Wissen nicht zustimmen, kann man sie ändern und eine neue maßgebliche Version verfassen. Ist es wirklich so einfach? Kann alles menschliche Wissen zu offen zugänglichem Wissen in Wikipedia werden? Wichtigster Grundsatz für Wikipedia-Inhalt ist nach der englischen Fassung der "Neutrale Standpunkt": We strive for articles that document and explain the major points of view in a balanced and impartial manner. We avoid advocacy and we characterize information and issues rather than debate them. In some areas there may be just one well-recognized point of view; in other areas we describe multiple points of view, presenting each accurately and in context, and not presenting any point of view as "the truth" or "the best view". All articles must strive for verifiable accuracy: unreferenced material may be removed, so please provide references. Editors' personal experiences, interpretations, or opinions do not belong here.” (Quelle:Externer Link: en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Five_pillars) "Ziel sind Artikel, die die wichtigsten Standpunkte ausgewogen und unvoreingenommen dokumentieren und erläutern. Wir vermeiden, selbst einen Standpunkt zu vertreten, und beschreiben Informationen und Gegenstände statt sie zu diskutieren. In manchen Bereichen mag es nur einen allgemein anerkannten Standpunkt geben, in anderen beschreiben wir mehrere Standpunkte, wobei jeder genau und im Kontext dargestellt wird. Wir stellen keinen Standpunkt als einzig "gültig" oder "wahr" dar. Alle Artikel sind der überprüfbaren Richtigkeit verpflichtet. Nicht belegte Stellen können entfernt werden, daher bitte Quellen angeben. Die persönlichen Erfahrungen, Interpretationen oder Auffassungen der Bearbeiter gehören nicht hierher." Der Neutrale Standpunkt definiert und grenzt ab, was in Wikipedia als Wissen gilt Problematisch ist dies beispielsweise beim Stichwort "Indigenes Wissen". Indigene Gemeinschaften besitzen oft eine mündlich tradierte Kultur – dies erschwert es, das dem Neutralen Standpunkt eigene Prinzip der überprüfbaren Richtigkeit (verifiable accuracy) einzuhalten. Wie erfasst Wikipedia "Indigenes Wissen"? Ich wollte "Indigenes Wissen" in Wikipedia nachschlagen. Der Artikel Externer Link: Indigene Völker der englischen Wikipedia enthält einen Link "Indigenes Wissen". Klickt man ihn an, wird man jedoch zum Artikel Externer Link: Traditionelles Wissen weitergeleitet. Es gab jedoch bereits zuvor einen Artikel "Indigenes Wissen". Externer Link: Er erschien erstmals im April 2005 in der Kategorie Indigene Völker, beschrieb schwerpunktmäßig die unterschiedlichen Aspekte indigenen Wissens und wies auf einige spannungsreiche Beziehungen zwischen indigenem und nicht-indigenem Wissen und Traditionen hin. Der Artikel "Traditionelles Wissen" erschien erstmals im Dezember 2005. Nach einer einleitenden Definition widmete er sich vor allem dem Schutz traditionellen Wissens durch Organisationen (insbesondere die Weltorganisation für geistiges Eigentum, WIPO) und den Gesetzen zum Schutz des geistigen Eigentums sowie internationale Abkommen. Den Begriff "traditionelles Wissen" verwendet z.B. die WIPO. Der Artikel gehörte zur Kategorie Geistiges Eigentum. Hier werden also zwei verschiedene Begriffe für das Wissen indigener Völker verwendet, nämlich "indigenes Wissen" und "traditionelles Wissen". Das ist zunächst wenig überraschend, weil die beiden Artikel unterschiedliche Perspektiven einnehmen und zu verschiedenen Kategorien gehören. Einige Tage später jedoch entschied der erste Autor des Artikels "Traditionelles Wissen" (ein Wikipedia-Autor mit besonderen Privilegien) die beiden Artikel zu einem zusammenzufassen. Dabei wurde eigentlich nur der Begriff "Indigenes Wissen" in den Artikel "Traditionelles Wissen" aufgenommen, der Artikel "Indigenes Wissen" gelöscht. Keiner der Autoren hatte Einwände gegen das Verschwinden dieses Artikels, auch wurden seitdem keine Vorschläge für einen neuen Artikel zu diesem Stichwort gemacht. Auch wenn man die Begriffe "traditionelles Wissen" und "indigenes Wissen" oftmals gleichbedeutend verwendet, wird häufig eher letzterer benutzt, weil viele mit "traditionell" meist etwas Vergangenes ohne Bedeutung für die Zukunft verbinden. Bei den Vereinten Nationen, zum Beispiel in internationalen Vereinbarungen wie dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt, verwendet man den Begriff "indigenes Wissen". Auch zeigt die Formulierung im Wikipedia-Artikel über traditionelles Wissen, dass nicht alles traditionelle Wissen gleichzeitig indigenes Wissen ist. "Offen zugängliches Wissen" als Wissen im Rahmen der Ordnungsprinzipien der Wikipedia Die Marginalisierung indigenen Wissens in der Wikipedia ist Folge der Art und Weise, wie hier Wissen geordnet wird. Ich gehe dazu kurz auf drei Ordnungsprinzipien bei Wikipedia ein. Das erste ist die Kategorisierung. Jeder Wikipedia-Artikel hat seinen Platz im Externer Link: Kategoriensystem. Der Artikel "Traditionelles Wissen" ist mit fünf Kategorien verlinkt, wovon eine ebenfalls "Traditionelles Wissen" heißt. Diese Kategorie verweist auf eine Seite, auf der man alle Seiten und Unterkategorien finden kann, die der Kategorie "Traditionelles Wissen" zugeordnet sind. In Wikipedia gibt es keine Kategorie oder Unterkategorie "indigenes Wissen", die eine Verknüpfung aller Artikel zu indigenem Wissen und mit Beispielen dazu ermöglichen würde. Olson und Ward bezeichnen die Zersplitterung marginalisierter Gruppen in Bibliothekssystematiken mit dem Begriff "diasporiert". Ähnlich kann man die Diasporierung indigenen Wissens im Wikipedia-Datenbestand auffassen: Es gibt keine "Schnittstelle", die es dem Nutzer ermöglicht, sich diesen fragmentierten Wissenskorpus zu erschließen. Das zweite Ordnungsprinzip sind die Wikipedia-Redaktionsgrundsätze. Die elementaren Grundsätze, die den Wikipedia-Inhalt definieren, sind laut englischer Fassung die "Five Pillars of Wikipedia" und die drei zentralen Grundprinzipien: Neutraler Standpunkt, Überprüfbarkeit und keine originäre Forschung. Die Forderung nach Überprüfbarkeit besagt, dass mündliche oder auch andere Quellen wie persönliche Erfahrungen und Empfindungen nicht als gültig anerkannt werden. Drittes Organisationsprinzip sind die Wikipedia-Templates, also die Vorlagen des Wiki-Seitensystems, die beispielsweise den Text eines Artikels anordnen. Möchte nun ein Träger indigenen Wissens einen Aspekt seiner Wissensgemeinschaft vermitteln, muss dieser Gegenstand zum Aufbau der Artikelvorlage passen, die jedoch mit ihrer Linearität und ihrem Detailbezug von der Printkultur bestimmt ist. Nur Wissen, das diesen drei Organisationsprinzipien untergeordnet werden kann, entspricht der Wikipedia-Vorstellung von "offen zugänglichem Wissen". Offen zugängliches Wissen erst durch offene Ordnungsprinzipien Eine Anregung, Aufgeschlossenheit für die Vielfalt des Wissens herzustellen, wäre beispielsweise, die Enzyklopädie umzugestalten – von einem zentralisierten "Datenbehälter" mit Regeln zur Organisation und Nutzung des Raums hin zu einem Autorensystem. Wikipedia wäre dann ein Instrument, das indigene Gemeinschaften nutzen könnten, um eigene Schnittstellen und Erschließungspfade zu ihren eigenen Datenbeständen zu entwickeln. Die Frage wäre dann, wie manVerknüpfungen zwischen diesen Datenbeständen herzustellen könnte. Derzeit verknüpft Wikipedia die Sprachfassungen auf der Artikelseite. Liest man beispielsweise den Artikel über den Externer Link: Wolf, sieht man auf der linken Randleiste die Sprachfassungen, die den "Wolf" ebenfalls mit einem Artikel behandeln. Klickt man eine dieser Sprachfassungen an, wird man zum entsprechenden Artikel in anderen Sprachen weitergeleitet. Alle diese Artikel beantworten die Frage: Was ist ein Wolf? Sie ist wohl für die meisten Leser sinnvoll, aber – Was wenn Wölfe zum Alltag gehören? In einigen indigenen Gemeinschaften wäre daher wichtiger zu fragen: "Wer ist ein Wolf?" In diesen Kulturen ist die Kenntnis des Verhaltens wichtiger als eine Beschreibung und Klassifizierung von "Wolf" nach Carl von Linnés biologischer Systematik . Wenn nun ein Artikel über den Wolf nicht nur mit anderen Sprachfassungen verknüpft wäre, sondern auch mit anderen Arten von Wissen über den Wolf? Eine solche Enzyklopädie würde zur Plattform unterschiedlicher Wissensgemeinschaften und unterschiedlicher Wissensarten – sie würde die Wissensvielfalt dieser unser aller Welt fördern und kultivieren. Das Wikipedia-Ideal, die Gesamtheit menschlichen Wissens verfügbar zu machen, ist derzeit nicht zu verwirklichen, aus mindestens zwei Gründen: Erstens ermöglicht der derzeitige Stand der Informationstechnologie die Kodifikation nur bestimmter Aspekte menschlichen Wissens. Es kann eben nur Wikipedia-Inhalt werden, was sich in Text-, Video-, Audio- oder Bildform fassen lässt. Zweitens ist "offen zugängliches Wissen" nur so offen wie die den Datenbestand regelnden Ordnungsprinzipien. Der Wissensvielfalt – das heißt: anderen Formen von Wissen über die Welt – dienen die Wikipedia-Prinzipien nicht. Was nun nicht heißen soll, das Wikipedia-Projekt aufzugeben. Es ist schließlich das bedeutendste und erfolgreichste Online-Projekt zahlloser freiwilliger Autoren – und bietet uns vielleicht die beste Möglichkeit, eine Online-Plattform für unterschiedliche Wissensgemeinschaften und neue Formen der Zusammenstellung und Verknüpfung von Wissen zu schaffen. Der Text basiert auf einem englischen Beitrag aus dem Reader zur Konferenz "Wikipedia: Ein kritischer Standpunkt" Externer Link: Geert Lovink and Nathaniel Tkacz (Hrsg.)(2011): Critical Point of View: A Wikipedia Reader Manovich, L. (2001). The Language of New Media. Cambridge, Mass: MIT Press. Stand des Abrufs aller Quellen: 6. April 2012 Lovink, G. and N. Tkacz (2011). ‘The ‘C’ in CPOV: Introduction to the CPOV Reader’, in Critical Point of View: A Wikipedia Reader. Amsterdam: Institute of Networked Cultures, pp. 9-13. Olson, H.A. and D. B. Ward (1997). ‘Ghettoes and diaspora in classification: Communicating across the limits’, Bernd frohmann (ed.), Communication and Information in Context: Society, technology, and the Professions. Proceedings of the 25th Annual Conference/Association canadienne des sciences de l’information: Traveaux du 25e congrès annuel, Toronto: Canadian Association for Information Science, pp. 19-31. St. Clair, R. (2000). Visual Metaphor, Cultural Knowledge, and the New Rhetoric. In Learn in Beauty: Indigenous Education for a New Century. Flagstaff, Arizona: Northern Arizona University, pp. 85-101. Available at: Externer Link: http://jan.ucc.nau.edu/~jar/LIB/LIB8.html [accessed 6 April 2012]. Aikenhead, G. (2001).‘Integrating Western and Aboriginal Sciences: Cross-Cultural Science Teaching’, Research in Science Education, 31, 3, pp. 337-355.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-10-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/wikipedia/145819/wenn-sich-wissen-im-plural-trifft/
Möglichst viel vom Wissen der Welt soll in nur einer Datenbank zusammenfließen. Was aber wenn indigenes Wissen grundsätzlich anders funktioniert. Wenn Wikipedia in seiner Ordnung des Wissens sogar die falschen Fragen stellt?
[ "Wikipedia", "Enzyklopädie", "Wissenskultur", "indigenes Wissen" ]
31,144
Glossar | Digitalisierung | bpb.de
Agenda Setting das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird Algorithmus eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Anthropomorphismus Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden Bandbreite auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann Big Data große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken binär Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. Black-Hat-Hackerin /-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen Bring your own Device (BYOD) bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen Chatbot technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Client-Server-Kommunikation Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. Cloud IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden Crowdworkerinnen/-worker selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien Cyberkrieg kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Cyberkriminalität Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden Cybersicherheit auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit Cyberspionage das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen Darknet nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Datenhoheit Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. digital divide auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren digital literacy / Medien- und Digitalkompetenz Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen DDoS-Attacke Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt Doxing das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen E-Government Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Feed Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites Filterblase auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Gig-Economy Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Hack / Hacking Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren Hackathon leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen Hackerin / Hacker ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Hardware Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. Hassrede, Online-Hassrede auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Homeschooling Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden HTTP (Hypertext Transfer Protocol) Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden Hybride Kriegsführung feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen Industrie 4.0 verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Influencerin und Influencer Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. interaktives Whiteboard weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht Intermediäre auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. Internet der Dinge auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen Internet Governance im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. Internet Protocol (IP) weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. Internet Service Provider (ISPs) auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind IT-Forensik Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Kritische Infrastruktur Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Künstliche Intelligenz (KI) Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. Malware schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Marktortprinzip Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Medienpädagogik Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Microtargeting Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden MOOC Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Open Educational Resources Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen PC, Desktop-PC, Personal Computer (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen Peer-to-Peer (P2P)-Kommunikation kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind personenbezogene Daten Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen Phishing E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Picker Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Plattformökonomie Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht Quantified Self auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Robotik Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Scoring Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Server Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Sharing-Economy Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Smart Cities Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Smart Objects Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Smartwatches Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen Social Bot (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Social Web Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Software Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Stakeholder Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist Streaming gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Technikdeterminismus Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Tracking Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden Trojaner heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Überwachungskapitalismus Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden Wearables technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Whistleblower Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken White-Hat-Hackerin/-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können World Wide Web über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Zivilcourage, digitale Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-12T00:00:00"
"2020-11-16T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/digitalisierung-344/digitalisierung-344/318924/glossar/
Auf dieser Seite finden Sie das Glossar zur Ausgabe.
[ "IZPB", "Digitalisierung" ]
31,145
NECE-Konferenz: „Reconnecting in a post-pandemic world - Citizenship education for democracy and sustainability“ | Presse | bpb.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb organisiert die digitale NECE-Konferenz 2020 zum Thema: „Reconnecting in a post pandemic world. Citizenship education for democracy and sustainability“. Die Konferenz findet vom 5. bis 7. November 2020 digital und in englischer Sprache statt. Wie verändern die Klimakrise und die Pandemie politische Bildung? Wie wichtig ist eine aktive Zivilgesellschaft in dieser Zeit? Die Konferenz wird die Vielfalt und Kreativität der politischen Bildung in einer von Pandemie und ökologischen Risiken geprägten Welt aufzeigen. Dabei soll auch die Frage diskutiert werden, welche Beiträge politische Bildung leisten kann, um Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen mit den Bedürfnissen der Menschen in einen besseren Einklang zu bringen. Anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft findet die Konferenz mit Live-Übertragungen aus Berlin statt. Zu den mehr als 15 Workshops und Panels tragen das Goethe-Institut, die Stiftung Mercator, das Zentrum Liberale Moderne und viele andere Netzwerke mit Angeboten bei. Im Laufe der drei Tage sind Live-Übertragungen, Videokonferenzen und Online Plattformen zur digitalen Vernetzung zugänglich. Maja Göpel, Direktorin von „The New Institute", wird die Konferenz am 5.11. um 17 Uhr mit einer Keynote zum Thema "Rethinking our World – Reconciling Climate Change and Democracy" eröffnen. Im Anschluss folgt eine Debatte mit Grace Maingi (Uraia Trust, Kenia). Die NECE - Networking European Citizenship Education Plattform ist eine nicht-institutionalisierte europäische Initiative für politische Bildung. NECE bietet ein Forum für Debatten über relevante Entwicklungen in Europa und neue Themen und Herausforderungen für die politische Bildung. Die digitale NECE Konferenz 2020 findet statt in Kooperation mit dem Goethe Institut, dem Prince Claus Fund, dem Progressiven Zentrum, DARE, dem Zentrum Liberale Moderne, dem Varieties of Democracy Institute und MERICS (Mercator Institute for China Studies) sowie mit Unterstützung der Stiftung Mercator und der Robert Bosch Stiftung. Weitere Informationen befinden sich unter www.nece-conference.eu sowie bei NECE auf Externer Link: Facebook und Externer Link: Twitter.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-07-29T00:00:00"
"2020-11-03T00:00:00"
"2021-07-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/318220/nece-konferenz-reconnecting-in-a-post-pandemic-world-citizenship-education-for-democracy-and-sustainability/
Digitale Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung vom 5. bis 7. November 2020 / Interaktive Online-Angebote und Live-Übertragungen aus Berlin
[ "NECE-Konferenz", "Online-Angebot", "Nachhaltigkeit" ]
31,146
Global Health Governance (GHG) | Globalisierung | bpb.de
Global Health Governance (GHG) beschreibt die Handlungen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure im globalen Mehrebenensystem. Inhaltlich konzentriert sich GHG auf die Bekämpfung armutsbedingter (Infektions-)Krankheiten. Die internationale Gesundheitspolitik wird stark von der Weltbank und der Weltgesundheitsorganisation beeinflusst. Neuere GHG-Akteure wie Global Public-Private Partnerships (GPPPs) schaffen einen Rahmen für unterschiedliche Akteure und Politikebenen. Zwei der bekanntesten GPPP sind die Impfallianz Gavi und der Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria. Fakten Die globale Gesundheitslage beziehungsweise die armutsorientierte Krankheitsbekämpfung haben sich zu einem eigenständigen globalen Politikfeld entwickelt: Global Health Governance (GHG). Nicht nur moralische Überlegungen haben zur Entwicklung der GHG beigetragen, sondern auch die Erkenntnis, dass die massiven Gesundheitsprobleme in den armen Regionen ein potenzielles Risiko für die globale Stabilität und Sicherheit darstellen. Insbesondere HIV/AIDS ist zu einem Thema geworden, das international auf den höchsten politischen Ebenen behandelt wird. Beispielsweise behandelte der UN-Sicherheitsrat im Jahr 2000 zum ersten Mal ein Gesundheitsthema – "The impact of AIDS on peace and security in Africa" – und verabschiedete die Resolution "HIV/AIDS and International Peacekeeping Operations". Weiter berücksichtigte die UN-Generalversammlung das Thema AIDS in der Millenniumserklärung. Im Jahr 2001 wurde eine Sondersitzung (UN Special Session of the General Assembly – UNGASS) speziell zu HIV/AIDS einberufen und die "Declaration of Commitment" verfasst. In den Jahren 2006, 2008 sowie 2011 hat die UN-Generalversammlung ein "High Level Meeting on AIDS" einberufen. Die Bekämpfung von AIDS ist auch Teil der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs), die 2015 bei dem UN-Gipfel für nachhaltige Entwicklung vereinbart wurden. Schließlich fand 2016 erneut ein "High Level Meeting on AIDS" statt. GHG beschreibt die Handlungen im globalen Mehrebenensystem (global, regional, national und lokal), die – unter Beteiligung staatlicher und nicht-staatlicher Akteure – auf die nationalen Gesundheitssysteme einwirken. Inhaltlich konzentriert sich GHG auf die Bekämpfung armutsbedingter (Infektions-)Krankheiten. Die internationale Gesundheitspolitik wird stark von der Weltbank und der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) beeinflusst. Während sich die Weltbank zur wichtigsten internationalen Organisationen bei der Finanzierung gesundheitsbezogener Projekte entwickelt hat, ist die WHO die zentrale Organisation für internationale Gesundheitsfragen und nimmt durch globale Normsetzung sowie technische und politische Beratung Einfluss auf die globale Gesundheitspolitik. Weitere Akteure von GHG sind Netzwerke und Global Public-Private Partnerships (GPPPs). Sie gehören zu den neueren Formen politischer Steuerung in einer globalisierten Welt, da sie einen Rahmen für unterschiedliche Akteure und Politikebenen schaffen. Zwei der bekanntesten GPPP im Gesundheitsbereich sind die im Jahr 2000 entstandene Impfallianz Gavi und der 2001/2002 geschaffene Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria (GFATM). Gavi hat das Ziel, Menschen durch Impfungen gegen vermeidbare Krankheiten zu schützen. Bei der Impfallianz arbeiten Regierungen, die WHO, UNICEF, die Weltbank, die Bill & Melinda Gates Stiftung, Impfstoffhersteller, Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens und Nichtregierungsorganisationen zusammen. Mit dem GFATM verbinden sich nach wie vor große Hoffnungen beim Kampf gegen die drei wichtigsten armutsbedingten Krankheiten AIDS, Tuberkulose und Malaria. Zwei Aspekte sind dafür hauptverantwortlich: Zum einen die Praxis der Mittelvergabe, die die Empfängerstaaten dazu auffordert, eigene Strategien und damit Strukturen im Kampf gegen die Epidemien zu entwickeln. Zum anderen das große Finanzvolumen bei einem vergleichsweise kleinen Verwaltungsapparat – 2015 beliefen sich die Betriebsausgaben auf 2,3 Prozent der verwalteten Beihilfen. Die Organisationsstruktur des GFATM unterscheidet sich von traditionellen Hilfsinstitutionen: Nicht nur Regierungen sind beteiligt und können über Projekte bestimmen, sondern auch private lokale Akteure. Öffentliche und private Akteure der Empfängerstaaten entwickeln eigene, auf sich zugeschnittene Programme, die der GFATM nach Prüfung finanziert. Zudem wird überprüft, ob mit den erhaltenen Geldern messbare und nachhaltige Ergebnisse erzielt werden konnten. Auch in Zukunft wird sich der Fond beim Auf- bzw. Ausbau von Gesundheitssystemen engagieren. Bereits heute gehen 40 Prozent der Investitionen des Fonds in diesen Bereich. Ende 2016 war der Fond mit 421 Programmen in mehr als 100 Staaten aktiv. In dem Zeitraum 2002 bis Anfang 2017 stellte der Fonds weltweit Finanzmittel in Höhe von insgesamt 33,8 Milliarden US-Dollar zur Verfügung (HIV/AIDS: 17,4 Mrd. US-Dollar / Malaria: 9,5 Mrd. US-Dollar / Tuberkulose: 5,4 Mrd. US-Dollar). Bis Ende 2016 wurde damit rund 10,0 Millionen HIV-Positiven eine antiretrovirale Therapie ermöglicht, 16,6 Millionen Menschen wurden gegen Tuberkulose behandelt und im Rahmen von Malaria-Programmen wurden rund 713 Millionen Moskitonetze verteilt. Nach Angaben des Fonds wurden zwischen 2012 und Ende 2015 146 Millionen HIV-, Tuberkulose - und Malaria-Infektionen abgewendet. Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen GHG – Global Health Governance GFATM – Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria Gavi – Global Alliance for Vaccines and Immunization UNGASS – United Nations General Assembly Special Session WHO – World Health Organization UNICEF – United Nations International Children's Emergency Fund ILO – International Labour Organization HIV – Human Immunodeficiency Virus (Menschliches Immunschwäche-Virus) ist die Bezeichnung für ein Virus, das nach einer unterschiedlich langen, meist mehrjährigen Inkubationsphase zu AIDS führt – eine unheilbare Immunschwächekrankheit. Eine vollständige Entfernung des HI-Virus aus dem menschlichen Körper ist nicht möglich. Bei einer Minderheit (< 5 Prozent) – den sogenannten Long Term Non-Progressors – bricht die Krankheit aus bisher noch nicht geklärten Gründen erst nach Jahrzehnten oder möglicherweise nie aus. AIDS – Acquired Immune Deficiency Syndrome (erworbenes Immun-Defekt-Syndrom) ist eine Immunschwächekrankheit und die Folge einer Infektion mit dem HI-Virus. HIV-positiv bedeutet, dass das HI-Virus im Blut und anderen Körperflüssigkeiten enthalten ist. Erst wenn das Immunsystem so stark geschädigt ist, dass es sich gegen Krankheiten verschiedenster Art nicht mehr zur Wehr setzen kann, wird von aidskrank gesprochen. Quellen / Literatur Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS): www.unaids.org; Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria (GFATM): www.theglobalfund.org; Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ): www.bmz.de; eigene Darstellung Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS): www.unaids.org; Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria (GFATM): www.theglobalfund.org; Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ): www.bmz.de; eigene Darstellung
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-14T00:00:00"
"2012-01-10T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52826/global-health-governance-ghg/
Global Health Governance beschreibt die Handlungen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure im globalen Mehrebenensystem. Inhaltlich konzentriert sich GHG auf die Bekämpfung armutsbedingter (Infektions-)Krankheiten. Die internationale Gesundheitspol
[ "Zahlen und Fakten", "Globalisierung", "Global Governance", "Global Health Governance", "Gesundheitspolitik", "Krankheiten", "AIDS", "HIV", "Global Public-Private Partnerships", "Global Public-Private Partnership", "GPPP", "GHG" ]
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Materialien & Methoden für den Unterricht in der Sekundarstufe | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Neben aktuellen Unterrichtsmaterialien, die sich mit islamistischer Radikalisierung und mit Auswirkungen des Extremismus befassen, werden auch solche vorgestellt, die Themen wie Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität und Toleranz oder die Religion Islam und vielfältige Lebensweisen von Muslimen in Deutschland behandeln. Sie können im Rahmen der universellen Präventionsarbeit eine wichtige Rolle spielen. Die Sortierung erfolgt unter thematischen Kategorien und dann in alphabetischer Reihenfolge der Publikationstitel. Die Infodienst-Handreichung "Interner Link: Schule und religiös begründeter Extremismus" beinhaltet Materialien, die bis Ende 2020 erschienen sind. Sie können sie kostenfrei herunterladen und als Print-Version bestellen. Die Materialien im Überblick Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Islamismus, Radikalisierung, Extremismus & Prävention Interner Link: Alternativen aufzeigen! Modul "Salafismus": Schwestern und Brüder im Islam?Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg und ufuq.de, 2018 Interner Link: Den Extremismus entzaubernViolence Prevention Network e. V., Beratungsstelle Hessen Interner Link: Extremismus im InternetBundeskriminalamt – Forschungsstelle Terrorismus / Extremismus, 2018 Interner Link: Jamal al-Khatib X NISAturn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention, 2018 und 2019 Interner Link: Jamal al-Khatib: Terror – Diskussionsteaserufuq.de/turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention, 2021 Interner Link: Jugendliche im Fokus salafistischer PropagandaLandesinstitut für Schulentwicklung, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2018 Interner Link: Junge Menschen stärken – Radikalisierung vorbeugenPolizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes, 2021 Interner Link: Kleine Große Schritte: Umgang mit Ausgrenzung und Extremismus erprobenplanpolitik, 2022 Interner Link: Prävention und Gesellschaftlicher ZusammenhaltDeutscher Volkshochschul-Verband e. V., Projektteam Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt, 2019 Interner Link: Salafismus OnlineKlicksafe, 2018 Interner Link: TerrorismusWochenschau Verlag, 2019 Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität & Toleranz Interner Link: Begegnen-ReiheBundeszentrale für politische Bildung, 2020 Interner Link: Bildungsbausteine gegen antimuslimischen RassismusBildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. Interner Link: Standhalten. Rassismuskritische UnterrichtsmaterialienMarcin Michalski, Ramses Michael Oueslati, 2019 Interner Link: Zwischentöne: OnlineportalLeibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut Islam & muslimisches Leben in Deutschland Interner Link: digital-salam.deZentrum für Islamische Theologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2018 Interner Link: Islamic-Art: Bildungsmaterialien zu Islam, Migration und DiversitätMuseum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, 2022 Interner Link: Von Abraham bis Zuckerfest: Glossar mit Praxisheft für den interreligiösen DialogMultikulturelles Forum e. V., 2018 Interner Link: Was glaubst du denn?! Muslime in DeutschlandBundeszentrale für politische Bildung, 2020 Interner Link: Wie wollen wir leben? Methoden für die pädagogische Arbeit zu Islam, Antimuslimischem Rassismus und Islamismusufuq.de, 2019 Nahostkonflikt Interner Link: Nahost: Geschichte, Konflikt, WahrnehmungenZentrum polis – Politik Lernen in der Schule, 2022 Interner Link: Über Israel und Palästina sprechen. Der Nahostkonflikt in der Bildungsarbeitufuq.de, 2023 Islamismus, Radikalisierung, Extremismus & Prävention Alternativen aufzeigen! Modul "Salafismus": Schwestern und Brüder im Islam? Persönliche, politische und religiöse Perspektiven auf Salafismus als jugendkulturellem Phänomen In vier Kurzvideos und zugehörigen Unterrichtsmaterialien wird das Thema Salafismus aufgegriffen. Anhand konkreter Personen und Beispiele werden Motive für die Hinwendung zum Salafismus oder die Instrumentalisierung von Religiosität und politischen Konflikten durch salafistische Akteure thematisiert. Die Filme und Übungen bieten Gesprächsstoff und regen zum Nachdenken und Positionen-Entwickeln an. Die Materialien bieten vier durchgeplante Unterrichtseinheiten mit Zeitangaben, didaktischen und methodischen Kommentaren und Arbeitsblättern als PDFs zum Download. Bei ufuq.de gibt es weitere Module von "Alternativen aufzeigen!", zum Beispiel zum Thema Comedy. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf ufuq.de Herausgeber: Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg und ufuq.de, 2018 Autorinnen: Deniz Ünlü, Mariam Puvogel Medium: 4 Videos (je 7–9 min., online und zum Download), Unterrichtsmaterialien als PDFs zum Download (je 11–14 S.), kostenlos verfügbar unter Externer Link: www.ufuq.de Themen: Salafismus, Motive für die Hinwendung, Instrumentalisierung von Religiosität und politischen Konflikten Zielgruppe: Klasse 8 bis 13, Lehrkräfte Zeitaufwand: 4 unabhängige Module, je Modul zwischen 90 und 130 min. Unterrichtsfächer: Politik, Gemeinschaftskunde, Religion, Ethik, Philosophie, Deutsch Adressierte Kompetenzen: (kritische) Medienkompetenz, Sozialkompetenzen, Fachkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Analysekompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Den Extremismus entzaubern Ein Methodenhandbuch zur präventiven politischen Bildungsarbeit mit jungen Menschen Das Methodenhandbuch stellt bewährte Methoden aus dem Modellprojekt "Den Extremismus entzaubern" der Beratungsstelle Hessen von Violence Prevention Network vor. Die Methoden reichen von Rollenspielen über Bild- und Filmanalysen bis zu Diskussionen. Sie werden übersichtlich und verständlich beschrieben, sind thematisch sortiert nach den Themen Kennenlernen und Identität, Gesellschaft, Religion und Extremismus und können nach dem Baukastenprinzip eingesetzt werden. Die pädagogischen Ziele sind: Wissen über Identität, Interreligiosität und religiös begründeten Extremismus soll erweitert werden; eine Sensibilisierung für Rekrutierungstrategien von Extremist/-innen und Stigmatisierung von Gruppen soll erreicht werden; die Jugendlichen sollen zu einer Positionierung in der pluralistischen Gesellschaft befähigt werden (Grenzen von Toleranz, Anerkennung gemeinsamer Wertebasis). Externer Link: Zum kostenfreien Download auf violence-prevention-network.de Herausgeber: Violence Prevention Network e. V., Beratungsstelle Hessen Medium: Broschüre (17 S.), PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de Themen: Identität, Zugehörigkeit, Gesellschaftspolitik, Religion, Extremismus Zielgruppe: ab Klasse 8, Lehrkräfte, außerschulische Pädagoginnen und Pädagogen Zeitaufwand: 13 voneinander unabhängig einsetzbare Methoden, jeweils 30–120 min. Unterrichtsfächer: Politik, Deutsch, Religion, Philosophie Adressierte Kompetenzen: (kritische) Medienkompetenz, Sozialkompetenzen, Fachkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Analysekompetenzen, Präsentationskompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Extremismus im Internet Drei Lernarrangements zur Förderung von Medienkritikfähigkeit im Umgang mit Internetpropaganda in der Schule Die medienpädagogische Broschüre umfasst drei aufeinander aufbauende Lernarrangements für den Einsatz im Schulunterricht als eine Art "Präventionsprogramm". Ziel ist die Förderung von Medienkritikfähigkeit im Hinblick auf extremistische Propaganda wie Hate Speech oder Fake News im Internet. Es gibt vielfältige Anbindungsmöglichkeiten an Unterrichtsfächer. Ausführliche Hinweise zum Einsatz im Unterricht, zu pädagogischer Haltung und didaktischen Prinzipien sind ebenso Bestandteil der Publikation, die im Rahmen des Forschungsprojekts CONTRA entwickelt wurde. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf project-contra.org Herausgeber: Bundeskriminalamt – Forschungsstelle Terrorismus /Extremismus, 2018 Autorinnen: Julian Ernst, Josephine B. Schmitt, Diana Rieger, Hans-Joachim Roth u. a. Medium: Broschüre (66 S.), PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de Themen: extremistische Online-Propaganda, Hate Speech, Fake News, Counter Speech, Grundrechte, Demokratie, Medienkritikfähigkeit Zielgruppe: Klasse 8 bis 13, Lehrkräfte Zeitaufwand: 3 aufeinander aufbauende Lernarrangements, jeweils 90 min. Unterrichtsfächer: Politik, Deutsch, Philosophie Adressierte Kompetenzen: (kritische) Medienkompetenz, Sozialkompetenzen, Fachkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Analysekompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Jamal al-Khatib X NISA Pädagogische Pakete Die pädagogischen Pakete mit Materialien für die päda­gogische Praxis basieren auf den Webvideo-Reihen Jamal al-Khatib Staffel 1 und 2 und NISA. Die Webvideos der Reihe Jamal al-Khatib erzählen die Geschichte eines fiktiven jungen Mannes, der sich aus der dschihadistischen Szene zurückgezogen und sich von der dschihadistischen Ideologie distanziert hat. Er will sich dafür einsetzen will, andere Jugendliche davor zu bewahren, die gleichen Fehler zu machen wie er. Im Zuge der Arbeit an der zweiten Staffel wurde gemeinsam mit Mädchen und jungen Frauen das Videoformat "NISA x Jana" entwickelt. Darin werden patriarchale Strukturen infrage gestellt und Gegenerzählungen geschaffen. Religiöse Inhalte spielen in den Videos von Jamal al-Khatib – Mein Weg! eine wichtige Rolle, das Projekt widmet sich jedoch vor allem der politischen Bildung im weiteren Sinne: Es werden Fragen aufgegriffen, die sich muslimische Jugendliche im Alltag stellen, die aber zugleich auch für nicht muslimische Jugendliche relevant sind, und mit allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Themen verknüpft.Die Pakete bieten sowohl theoretische Hintergründe als auch Arbeitsmaterialien für die pädagogische Praxis in informellen oder Schul-Settings. Die Materialien umfassen Diskussionsfragen, Übungen und Arbeitsblätter. Die Einheiten können modular und auch unabhängig voneinander eingesetzt werden. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf turnprevention.com und Interner Link: auf bpb.de Herausgeber: turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention, Wien 2018 und 2019 Medium: PDF (40 S.), kostenlos zum Download unter Externer Link: www.turnprevention.com/materialien und Interner Link: www.bpb.de/jamal Themen: Islam, Religion, Jugendkultur, Ehre, Extremismus, Rassismus, Rolle von Frauen und Mädchen, Demokratie, Empowerment Zielgruppe: ab 14 Jahre / Klasse 8, Lehrkräfte, Sozialpädagoginnen / -pädagogen, Streetworker/-innen Zeitaufwand: 6 Einheiten für je 45–120 min. Unterrichtsfächer: Politik, Deutsch, Religion, Philosophie Adressierte Kompetenzen: Medienkompetenz, Analysekompetenz, Methodenkompetenz, Argumentationsfähigkeiten, (politische) Urteilsfähigkeit, Fachwissen zu o.g. Themen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Jamal al-Khatib: Terror Diskussionsteaser für das Thema "Schweigeminute in Schulen nach terroristischen Anschlägen" ufuq.de gibt in diesem Beitrag Tipps, wie das Video "Terror" aus der dritten Staffel der Online-Videoreihe "Jamal al-Khatib" im Unterricht eingesetzt werden kann. Es geht um den Umgang mit Schweigeminuten, den Unterschied zwischen Krieg und Terror, aber auch um das Gefühl junger muslimischer Menschen, unter Generalverdacht gestellt zu werden – oder keine Antwort auf eigene Fragen zu bekommen. Das Video kann als Diskussionsanreiz dienen und bietet ein "alternatives Narrativ". Denn die fiktive Figur Jamal zeigt Jugendlichen auf, dass man eine traditionelle muslimische Identität nicht aufgeben muss, um sich Gehör zu verschaffen. Externer Link: Zum Beitrag auf ufuq.de Herausgeber: ufuq.de/turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention, 2021 Medium: Video (8 Minuten) und eine Unterrichtseinheit, kostenlos verfügbar unter Externer Link: www.ufuq.de Themen: Terrorismus, Umgang mit Anschlägen Zielgruppe: ab Klasse 9, Lehrkräfte Zeitaufwand: 90–180 min Unterrichtsfächer: Politik, Religion, Ethik, Geschichte, Deutsch Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenz, (kritische) Medienkompetenz, politische Urteilsfähigkeit, Methodenkompetenz Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Jugendliche im Fokus salafistischer Propaganda Unterrichtseinheiten und Unterrichtsmaterialien – Teilband 2.2 Vier fachspezifische exemplarische Unterrichtseinheiten mit detaillierten Unterrichtsplänen, Materialien und Aufgabenstellungen wurden für die Publikation erarbeitet. Sie zeigen, wie eine thematische Auseinandersetzung mit präventionsrelevanten Themen im Fachunterricht aussehen kann. Die Einheiten wurden für Unterricht in den Fächern Geschichte, Ethik und islamischen Religionsunterricht sunnitischer Prägung entwickelt. Themen: Kreuzzüge, Menschenrechte, Kriegsverse im Koran und Antisemitismus. Ergänzt werden sie durch eine Übersicht an Unterrichtsmaterialien zum Thema Islamismus und Salafismus. Die anderen Teilbände der Publikationsreihe werden auf S. 70 vorgestellt. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf lpb-bw.de Herausgeber: Landesinstitut für Schulentwicklung, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Stuttgart 2018 Medium: Broschüre (106 S.), bestellbar und kostenlos zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de Themen: Kreuzzüge, Menschenrechte im Islam, Kriegsverse im Koran, Antisemitismus als Verschwörungsglaube am Beispiel der "Protokolle der Weisen von Zion" Zielgruppe: Klasse 7 bis 13 Zeitaufwand: 4 verschiedene Unterrichtseinheiten, je 90 min. bzw. 180 min. Unterrichtsfächer: Politik, Gemeinschaftskunde, Geschichte, Ethik, islamischer Religionsunterricht Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenz, Methodenkompetenz, Argumentationsfähigkeiten, (politische) Urteilsfähigkeit und Fachwissen zu o. g. Themen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Junge Menschen stärken – Radikalisierung vorbeugen Medienpaket für die Prävention in Schule, Jugendarbeit und Polizei zum Thema Islamismus und Islamfeindlichkeit Das Medienpaket soll Fachkräfte aus Schule, Jugendarbeit und Polizei in der Präventionsarbeit mit Jugendlichen zu den Themen Islamismus und Islamfeindlichkeit unterstützen. Das Paket umfasst Hintergrundinformationen, Videoclips, Materialien und konkrete Vorschläge zur Gestaltung von Vorträgen und Diskussionen. Ein schneller Praxiseinstieg wird durch verschiedene exemplarische Szenarien mit Impulsen für den Einsatz der Materialien ermöglicht. Das Medienpaket sowie die Videos stehen kostenfrei zum Download bereit oder können als Printversion (mit DVD) bestellt werden. Externer Link: Zum kostenfreien Medienpaket auf www.polizei-beratung.de Herausgeber: Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes, 2021 Autorinnen: ufuq.de Medium: Handreichung (130 S.), als PDF kostenlos zum Download sowie Medienpaket (Heft und DVD) kostenlos bestellbar unter Externer Link: www.polizei-beratung.de Themen: Islamismus, Islamfeindlichkeit, Sensibilisierung Zielgruppe: Jugendliche, Lehrkräfte, Fachkräfte aus Jugendarbeit und Justiz Zeitaufwand: verschiedene Module, jeweils zwischen 1,5 und 4 Stunden Unterrichtsfächer: Politik, Ethik, Religion Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenz, (kritische) Medienkompetenz, (politische) Urteilsfähigkeit, Sozialkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Kleine Große Schritte: Umgang mit Ausgrenzung und Extremismus erproben Online-Bildungsmaterialien zum Umgang mit Vorurteilen, Rechtsextremismus und Islamismus Das Projekt „Kleine Große Schritte“ umfasst Online-Bildungsmaterialien zum Umgang mit Vorurteilen, Rechtsextremismus und Islamismus für Multiplikatorinnen, Multiplikatoren und Lehrkräfte. Die Materialien ermöglichen die eigenständige Durchführung von ganztägigen Workshops oder mehreren 90-Minuten-Einheiten mit Kindern und Jugendlichen ab 10 Jahren. Kurzfilme, interaktive Übungen, Rollenspiele und moderierte Gespräche sensibilisieren die Teilnehmenden für Vorurteile und Ausgrenzungspraktiken und regen zum kritischen Denken an. Eigene Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit rechtsextremen und islamistischen Ansprachen werden erprobt. Die drei Module bauen aufeinander auf. Eine Handreichung für Lehrkräfte sowie alle Materialien und Arbeitsblätter stehen zum Download zur Verfügung. Zur Durchführung ist ein Smartboard mit Internetzugang nötig, die Teilnehmenden benötigen keine mobilen Endgeräte. Externer Link: Zur Projektseite und zu den kostenfreien Materialien auf kleine-grosse-schritte.de Herausgeber: planpolitik, Berlin 2022 Medium: Kurzfilme und Arbeitsmaterialien, kostenlos zum Download auf Externer Link: www.kleine-grosse-schritte.de Themen: Vorurteile, Extremismus, Islamismus Zielgruppe: Kinder und Jugendliche ab 10 Jahren, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte Zeitaufwand: drei verschiedene eintägige Workshops bzw. neun Module á 90 min. Unterrichtsfächer: Politik, Ethik, Religion, Deutsch Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, Sozialkompetenzen, Reflexionskompetenzen, Handlungskompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt Materialien im Projekt des DVV Im Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verbandes werden Kurskonzepte mit Unterrichtseinheiten entwickelt und erprobt. Sie sollen junge Menschen unter anderem gegen extremistisch motivierte Ansprachen stärken. Die Konzepte beinhalten Hintergrundinformationen, didaktische Hinweise, Zeitpläne und Arbeitsmaterialien. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf volkshochschule.de Was bedeutet RADIKAL?!? – Thematisierung von Radikalisierungsmotiven Das Kurskonzept ist gegliedert in drei Unterrichtseinheiten und dient der Prävention von Radikalisierungsprozessen junger Menschen. Zunächst findet eine Annäherung an den Begriff "radikal" statt anhand verschiedener Situationen. Anschließend wird der Austausch intensiviert und es geht um Radikalisierungsprozesse, um abschließend mögliche Handlungsoptionen zu erarbeiten. Was bedeutet RADIKAL?!? für junge Erwachsene mit Deutsch als Zweitsprache Das Kurskonzept "Was bedeutet RADIKAL?!?" wurde für den Einsatz in Kursen für junge Erwachsene mit Deutsch als Zweitsprache (z. B. Integrations- und Orientierungskurse) angepasst. Es umfasst zwei Kurseinheiten à 90 Minuten und eine Kurseinheit à 45 min. Wer hat das letzte Wort‘ im Netz? – Digitale Lebenswelten mitgestalten Die Handreichung zum Kurskonzept bietet einen Einstieg in die Thematik Online-Extremismus. Sie richtet sich an (Volkshochschul-)Lehrende und kann außerdem als Grundlage zur Unterrichtsgestaltung im Bereich Medienkompetenzförderung verwendet werden. Aus der Rolle (ge)fallen!? Jugendliche für die geschlechtsspezifische Ansprache durch Extremist*innen sensibilisieren In drei Kurseinheiten können sich Jugendliche und junge Erwachsene kritisch mit eigenen und gesellschaftlichen Geschlechterrollen auseinandersetzen. Sie lernen geschlechtsspezifische Anwerbestrategien von religiösen und politischen Extremistinnen und Extremisten als solche zu erkennen und werden dagegen gestärkt. Ergänzt wird das Konzept durch Hintergrundinformationen zum Thema Gender. Herausgeber: Deutscher Volkshochschul-Verband e. V., Projektteam Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bonn 2019 Medium: diese und weitere PDF-Broschüren (36 bis 84 S.), kostenlos zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de Themen: Radikalisierung, Extremismus, Islamismus, Internet-Propaganda, Grundrechte, Geschlechterrollen Zielgruppe: Jugendliche ab Klasse 8, junge Erwachsene, Kursleiter /-innen, Lehrkräfte Zeitaufwand: jeweils 3 bis 5 Einheiten à 90 oder 45 min. Unterrichtsfächer: Politik, Deutsch, Religion, Ethik Adressierte Kompetenzen: (kritische) Medienkompetenz, Sozialkompetenzen (Persönlichkeitsentwicklung), Fachkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Salafismus Online Propagandastrategien erkennen – Manipulation entgehen. Materialien für Schule und außerschulische Jugendarbeit Diese Broschüre möchte Lehrkräfte dabei unterstützen, das Thema Salafismus im Unterricht aufzugreifen und einen Beitrag zur Prävention religiös extremistischer Einstellungen und Haltungen zu leisten. Die Broschüre enthält pädagogische Hinweise und Hintergrundinformationen über Salafismus in Deutschland und zentrale Themen der Szene. Es wird erläutert, wie Jugendliche im Internet mit salafistischen Ansprachen in Kontakt kommen – und wie man darauf reagieren kann. Im Serviceteil werden Ansprechpartner/-innen und hilfreiche Internetseiten aufgeführt und in Gesprächen mit Expertinnen und Experten einzelne Facetten des Themas vertieft. Es gibt zudem konkrete Unterrichtsvorschläge und Arbeitsblätter. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf klicksafe.de Herausgeber: Klicksafe, Berlin 2018 Autorinnen: Birgit Kimmel, Stefanie Rack, Franziska Hahn u. a. Medium: Broschüre (110 S.) als PDF zum Download unter Externer Link: klicksafe.de Themen: Salafismus, Radikalisierung, Online-Propaganda, Gegenstrategien Zielgruppe: ab Klasse 7, Lehrkräfte Zeitaufwand: keine Zeitangaben Unterrichtsfächer: Politik, Ethik, Religion, Deutsch, Medienbildung Adressierte Kompetenzen: (kritische) Medienkompetenz, Sozialkompetenzen, Fachkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Analysekompetenz Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Terrorismus Vertiefungsheft Das Themenheft der Reihe "WOCHENSCHAU - Politik und Wirtschaft im Unterricht" verfolgt das Ziel, am Beispiel des Rechtsterrorismus und des islamistischen Terrorismus die Dimensionen, Ursachen, Folgen sowie die Bedeutung von Terrorismus zu beleuchten. Hierbei spielt sowohl die internationale als auch die europäische und nationale Ebene eine Rolle. Die einzelnen Kapitel (1. Terrorismus zwischen Symbol- und Realpolitik, 2. Rechtsterrorismus, 3. Islamistischer Terrorismus, 4. Terrorismus im Zeitalter der Digitalisierung, 5. Der Kampf gegen den Terrorismus) sind in sich abgeschlossen und können im Unterricht als Themenblöcke einzeln behandelt werden. Das Themenheft kann aber auch zur Durchführung einer Unterrichtsreihe zum Thema Terrorismus genutzt werden. Das Heft umfasst Fotos, Grafiken, Quellen und Arbeitsvorschläge für den Unterricht. Zusätzlich bietet ein Download-PDF ausführliche didaktische und methodische Hinweise für Lehrkräfte. Externer Link: Für 17,90 Euro auf wochenschau-verlag.de bestellbar Herausgeber: Wochenschau Verlag, Frankfurt am Main 2019 Autor Hannes Kliewer Medium: Heft (32 S.), Print 17,90 Euro, ab 8 Expl. je 8,90 Euro, PDF 12,99 Euro, bestellbar unter Externer Link: kurz.bpb.de Themen: Terrorismus, Islamismus, Rechtsextremismus, Rolle der Medien, Cyberterrorismus, Sicherheit vs. Freiheit, Polizeiaufgaben Zielgruppe: ab Klasse 11, Lehrkräfte Zeitaufwand: 5 abgeschlossene Kapitel, keine Zeitangaben Unterrichtsfächer: Politik, Deutsch, Ethik, Religion Adressierte Kompetenzen: Fachkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Argumentationsfähigkeiten, Analysekompetenzen, (kritische) Medienkompetenz Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität & Toleranz Begegnen-Reihe Handreichung zu Info-Filmen Die Handreichung zu den kurzen Erklärfilmen der Begegnen-Reihe stellt Methoden und Aktivitäten vor, mit denen man in Gruppen pädagogisch zu verschiedenen Aspekten von Diskriminierung (Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie etc.) arbeiten kann. Übersichtlich und kompakt werden Möglichkeiten aufgezeigt, mit denen die Filme in Workshops und im Unterricht diskutiert werden können und somit Vorurteilsstrukturen begegnet werden kann. Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020 Medium: Broschüre (28 S.), kostenlos bestellbar und zum Download unter Interner Link: www.bpb.de/312061 Themen: Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Rassismuskritik Zielgruppe: ab Klasse 8, Lehrkräfte Zeitaufwand: mehrere Übungen á 15-45 min. Unterrichtsfächer: Religion, Ethik, Politik, Deutsch Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, (kritische) Medienkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Sozialkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Bildungsbausteine gegen antimuslimischen Rassismus Online-Methodensammlung Die Online-Plattform bietet Hintergrundinformationen und Methoden zum Themenfeld antimuslimischer Rassismus. Den Materialien liegt eine rassismuskritische Perspektive zugrunde. Lehrkräfte und Teamende sollen befähigt werden, Rassismus macht- und selbstreflexiv gegenüberzutreten. Die Methoden setzen sich mit Diskriminierungen und Rassismus auseinander und verfolgen empowernde Ansätze. Sie werden begleitet von ausführlichen pädagogischen Hinweisen und Leitlinien. Externer Link: Zur Online-Plattform bausteine-antimuslimischer-rassismus.de Herausgeber: Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V., Berlin Medium: Online-Plattform mit digitalen Methoden, Übungen und pädagogischen Hinweisen unter Externer Link: www.bausteine-antimuslimischer-rassismus.de Themen: Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Rassismuskritik Zielgruppe: ab Klasse 5, Lehrkräfte Zeitaufwand: verschiedene Methoden, 10 min. bis zu mehrtägigen Workshops Unterrichtsfächer: Religion, Ethik, Politik Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, (kritische) Medienkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Sozialkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Standhalten Rassismuskritische Unterrichtsmaterialien und Didaktik für viele Fächer Die Broschüre bietet umfangreiche pädagogische und didaktische Hinweise zum Thema rassismus- und diskriminierungskritische Schule. Ein von Schülerinnen und Schülern produzierter Kurzfilm thematisiert Mobbing und Rassismus in der Schule. Er ist Basis für die Unterrichtsmaterialien, die in mehreren Bausteinen Filmsequenzen bearbeiten und Inhalte vertiefen. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf li.hamburg.de Herausgeber: Marcin Michalski, Ramses Michael Oueslati, Hamburg 2019 Medium: Broschüre (68 S.) mit DVD mit Kurzfilm und Unterrichtsmaterialien zum kostenlosen Download unter Externer Link: li.hamburg.de Themen: Rassismus, Diskriminierung, Mobbing Zielgruppe: ab Klasse 5, flexibel einsetzbar Zeitaufwand: flexibel einsetzbare Bausteine und Aufgaben Unterrichtsfächer: Politik, Gemeinschaftskunde Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenz, Methodenkompetenz, Argumentationsfähigkeiten, (politische) Urteilsfähigkeit und Fachwissen zu o. g. Themen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Zwischentöne: Onlineportal Materialien für Vielfalt im Klassenzimmer Das Onlineportal www.zwischentoene.info bietet Anregungen, wie die konstruktive Auseinandersetzung mit Vielfalt in der Gesellschaft im Unterricht gelingen kann. Schülerinnen und Schüler werden zu einem konstruktiven Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden angeregt. In der Auseinandersetzung mit gesellschaft­licher Diversität werden die Handlungs- und Urteilskompetenzen von Jugendlichen gefördert. Dabei sollen Fragestellungen und Perspektiven aufgenommen werden, die in Schulbüchern oft zu kurz kommen. Die Module bestehen aus Hintergrundinformationen, Ablaufplänen und Materialien wie Videos, Fotos, Texten, Grafiken und Arbeitsblättern. Es gibt drei Themenbereiche: Religionen & Weltanschauungen: Woran glauben wir? (9 Unterrichtsmodule), Identitäten − Wer ist "wir"? (20 Unterrichtsmodule) und Deutsche Geschichte, globale Verflechtungen (13 Unterrichtsmodule). Es kommen immer wieder neue Module hinzu. Herausgeber: Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut Medium: Online-Module und PDFs zum kostenlosen Download unter Externer Link: zwischentoene.info Themen: Zahlreiche Einzelthemen in drei Themenbereichen: "Religionen & Weltanschauungen: Woran glauben wir?", "Identitäten − Wer ist 'wir'?", "Deutsche Geschichte, globale Verflechtungen". Im Kontext von Islamismus und Radikalisierungsprävention können zum Beispiel folgende Module von Interesse sein: Facetten von Glaube und Zugehörigkeiten. Wer ist hier eigentlich Muslim? Externer Link: kurz.bpb.de Im Islam ist das so – oder etwa nicht? Das Kopftuch und die Vielfalt religiöser Traditionen Externer Link: kurz.bpb.de Was steckt hinter Muslimfeindlichkeit? Mit Zivilcourage gegen muslimfeindliche Vorurteile und Ausgrenzung Externer Link: kurz.bpb.de Wie funktioniert politischer Salafismus? Kritische Auseinandersetzung mit radikal-religiösen Strömungen Externer Link: kurz.bpb.de Zielgruppe: ab Klasse 7, Lehrkräfte Zeitaufwand: flexibel einsetzbare Online-Module Unterrichtsfächer: Politik, Gemeinschaftskunde, Religion, Ethik, Deutsch Adressierte Kompetenzen: Medienkompetenz, Analysekompetenz, Argumentationsfähigkeiten, Fachwissen, (politische) Urteilsfähigkeit Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Islam & muslimisches Leben in Deutschland digital-salam.de Unterrichtsmaterialien zu Online-Videos und Islam Das Portal versammelt Unterrichtsmaterialien, Konzepte und Videos, die einen vielfältigen Blick auf Islam in Deutschland werfen. Sie sollen einen Beitrag leisten, vereinfachten Weltbildern und Islamverständnissen, zum Beispiel durch islamistisch-ideologisierende Online-Ansprachen, entgegenzuwirken. Das Projekt vereint politisch-bildnerische, religions- und medien­pädagogische Lernziele. Online-Videos bilden die Basis jedes Bausteins, dazu wurden Fragestellungen und Methoden zum Einsatz im Unterricht entwickelt. Die Bausteine können einzeln angewandt oder flexibel kombiniert werden. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf digital-salam.uni-muenster.de Herausgeber: Zentrum für Islamische Theologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster 2018 Autoren: Bernd Ridwan Bauknecht, Marcel Klapp Medium: Online-Portal mit Videos und Unterrichtsmaterialien, Externer Link: digital-salam.uni-muenster.de Themen: Muslimsein in Deutschland, Frau im Islam, Internet-Dschihadismus, Scharia, Islam und Comedy, Fragen zum Islam Zielgruppe: ab Klasse 7, Lehrkräfte Zeitaufwand: flexibel einsetzbare Module und einzelne Videos Unterrichtsfächer: Politik, Gemeinschaftskunde, Religion, Ethik Adressierte Kompetenzen: Medienkompetenz, Analysekompetenz, Argumentationsfähigkeiten, Fachwissen, (politische) Urteilsfähigkeit Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Islamic-Art Bildungsmaterialien zu Islam, Migration und Diversität Das Museum für Islamische Kunst stellt auf einer Online-Plattform kostenfreie Bildungsmaterialien zu den Themen Islam, Islamische Kunst, Migration, Transkulturalität, Diversität, Ausgrenzung und Inklusion bereit. Es handelt sich unter anderem um Unterrichtsmaterialien für den (lehrplankonformen) Schulunterricht und ein Spiel im Escape-Game-Stil. Externer Link: Zur kostenfreien Bildungsplattform auf smb.museum Herausgeber: Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, 2022 Medium: Online-Plattform mit digitalen Unterrichtsmaterialien unter Externer Link: www.islamic-art.smb.museum Themen: Islam, islamische Kunst, Architektur, Musik, Geschichte, Migration, Transkulturalität, Diversität, Inklusion Zielgruppe: ab Klasse 5, Lehrkräfte Zeitaufwand: 1–27 Stunden (einzelne Unterrichtsstunden bis mehrtägige Workshops) Unterrichtsfächer: Kunst, Geschichte, Religion, Ethik, Deutsch, Politik Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, (kritische) Medienkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Sozialkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Von Abraham bis Zuckerfest Glossar mit Praxisheft für den interreligiösen Dialog Das Glossar erklärt Begriffe aus verschiedenen Religionen (Islam, Judentum, Alevitentum, Christentum) und arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Begleitend gibt es ein Praxisheft mit partizipatorischen und interaktiven Methoden für den Einsatz in Schule und Bildungsarbeit mit jungen Menschen. Es geht dabei vor allem um interreligiösen Dialog, Begegnungen auf Augenhöhe, Verständigung und Sensibilisierung. Externer Link: Zum Glossar und Praxisheft Herausgeber: Multikulturelles Forum e. V., Lünen 2018 Medium: Broschüren (33 S. und 9 S.) als PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: multikulti-forum.de Themen: Religion, interreligiöser Dialog, Verständigung, Islam, Judentum, Christentum, Alevitentum, Feiertage, Religiöses Leben, Diversität Zielgruppe: ab Klasse 7, Lehrkräfte Zeitaufwand: 1–4 Stunden Unterrichtsfächer: Religion, Ethik Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Sozialkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Was glaubst du denn?! Muslime in Deutschland Das Buch zur Ausstellung Mit Comics und interaktiven Stationen, Fotoinstallationen, Videos und Animationsfilmen lädt die Wanderausstellung "Was glaubst du denn?! Muslime in Deutschland" zum Nachdenken über Identitäten, Zuschreibungsprozesse und Vorurteile ein. Das grafisch aufwendig gestaltete Buch ermöglicht es, diese Themen ohne den Besuch der Ausstellung im Unterricht zu behandeln. Die Bilder, Videos und Texte werden mit didaktischen Hinweisen, Fragestellungen und Aufgaben verknüpft. Sämtliche Videos, Filme und Comics der Ausstellung sowie zahlreiche Kopiervorlagen für den Unterricht können online abgerufen werden. Dem Buch sind drei Poster beigefügt. Die Publikation wirft Fragen auf und will zum Gespräch anregen. Interner Link: Für 1,00 Euro auf bpb.de bestellbar Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020 Autorinnen Anja Besand, Petra Grüne, Petra Lutz u. a. Medium: Buch (240 S.) und 3 Poster bestellbar für 1,00 Euro unter Interner Link: www.bpb.de Internetseite der Ausstellung: Externer Link: www.wasglaubstdudenn.de Themen: muslimisches Leben in Deutschland: Menschen, Wissen, Vorstellungen: Alltag, Religion, Identität, Muslimfeindlichkeit, religiöser Extremismus, "die Anderen" usw. Zielgruppe: Klasse 6 bis 13, Lehrkräfte Zeitaufwand: keine Angaben, offen gehalten Unterrichtsfächer: Politik, Gemeinschaftskunde, Religion, Ethik Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenz, Methodenkompetenz, Medienkompetenz, Argumentationsfähigkeiten, (politische) Urteilsfähigkeit und Fachwissen zu o. g. Themen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Wie wollen wir leben? Methoden für die pädagogische Arbeit zu Islam, Anti­muslimischem Rassismus und Islamismus Die Broschüre stellt Methoden vor, die der Verein Ufuq in zahlreichen Workshops mit Jugendlichen erprobt hat. Die Übungen haben das Ziel, sich mit dem Zusammenleben in einer heterogenen Migrationsgesellschaft auseinanderzusetzen. Reflexionsprozesse werden angestoßen und die Jugendlichen werden in ihrer Sprechfähigkeit und Ambiguitätstoleranz gestärkt. Themenfelder sind: Islam und Diversität, Gender, antimuslimischer Rassismus und Islamismus. Die Übungen können von Lehrkräften an Schulen, pädagogischen Fachkräften in der offenen Jugendarbeit und geschulten Teamerinnen und Teamern in Workshops durchgeführt werden. Sie sind sehr vielfältig, ausführlich beschrieben und können unabhängig voneinander eingesetzt werden. Einige Übungen arbeiten mit Videos, die online zur Verfügung stehen, und die Broschüre enthält einige Arbeitsblätter als Kopiervorlagen. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf ufuq.de Herausgeber: ufuq.de, Berlin 2019 Autorinnen Jenny Omar, Aylin Yavaş Medium: Broschüre (52 S.), PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: ufuq.de Themen: Islam, antimuslimischer Rassismus, Islamismus, Salafismus, Diskriminierung, Diversität, Gender Zielgruppe: ab Klasse 8, Lehrkräfte Zeitaufwand: 12 unabhängig voneinander durchführbare Übungen, Dauer zwischen 10 und 90 min. Unterrichtsfächer: Politik, Deutsch, Religion, Ethik, Philosophie Adressierte Kompetenzen: (kritische) Medienkompetenz, Sozialkompetenzen, Fachkompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit, Analysekompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Nahostkonflikt Nahost: Geschichte, Konflikt, Wahrnehmungen Handreichung für Schule und politische Bildung Die Ausgabe der Reihe "polis aktuell" geht der Frage nach, wie der Nahostkonflikt angemessen in Schule und politischer Bildung behandelt werden kann. Die Beiträge beschäftigen sich mit den Wahrnehmungen des Konflikts sowie seinen Auswirkungen. Angesprochen werden auch Themen wie israelbezogener Antisemitismus oder Flucht und Migration. Verschiedene Autorinnen und Autoren geben didaktische Hinweise und stellen eine Reihe von Unterrichtsmaterialien mit Anwendungsmöglichkeiten vor. Das Heft bietet einen thematischen Einstieg für Lehr- und Fachkräfte, die das Thema im Unterricht behandeln möchten. Externer Link: Zum kostenfreien Heft auf politik-lernen.at Herausgeber: Zentrum polis – Politik Lernen in der Schule, Wien 2022 Autorinnen: Mehmet Can, Jamina Diel, Mathis Eckelmann u. a. Medium: Heft (21 S.) bestellbar für 3,50 Euro und als PDF kostenlos zum Download auf Externer Link: www.politik-lernen.at Themen: Nahostkonflikt, Israel, Palästina, Antisemitismus, Islam, Flucht und Migration Zielgruppe: Lehrkräfte Zeitaufwand: mehrere Module, je 90–180 min. Unterrichtsfächer: Politik, Geografie, Geschichte, Deutsch, Religion Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, Reflexionskompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Über Israel und Palästina sprechen. Der Nahostkonflikt in der Bildungsarbeit Arbeitshilfe für Lehrkräfte Der Nahostkonflikt ist in besonderer Weise mit Deutschland verbunden und berührt den Alltag vieler Schülerinnen und Schüler. Die Arbeitshilfe soll Lehrkräfte dabei unterstützen, das Thema samt seiner Kontroversen und Komplexitäten im Unterricht aufzugreifen. Dabei geht es vor allem darum, Verständnis für unterschiedliche Erfahrungen, Blickwinkel und damit verbundene Interessen zu fördern sowie daraus Handlungsperspektiven zu entwickeln. Externer Link: Zur kostenfreien Arbeitshilfe auf ufuq.de Herausgeber: ufuq.de, 2023 Medium: Hintergrundinformationen und Anregungen für den Unterricht, als PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: www.ufuq.de Themen: Nahostkonflikt, Israel, Antisemitismus, Friedenspädagogik, Migration, Streitkultur Zielgruppe: ab Klasse 7, Lehrkräfte Zeitaufwand: sehr unterschiedlich, einzelne Fragen und Übungen (ab 20 min.) bis zu mehrtägigen Projekten Unterrichtsfächer: Politik, Geschichte, Ethik, Religion Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-08-03T00:00:00"
"2021-05-14T00:00:00"
"2023-08-03T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/333179/materialien-methoden-fuer-den-unterricht-in-der-sekundarstufe/
Zu Islamismus und Radikalisierung: Vollständig ausgearbeitete Unterrichtseinheiten mit druckfertigen Arbeitsblättern, Kurzfilme auf DVD oder Online-Videos, Fotos und Texte.
[ "Islamismus", "Salafismus", "religiös begründeter Extremismus", "Sekundarstufe", "Schule", "Radikalisierungsprävention", "Unterricht", "Lehrkräfte", "Unterrichtsmaterialien", "Arbeitsblätter", "außerschulische Bildungsarbeit" ]
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Wachstum ohne Ende? | bpb.de
Tourismus gilt als eine der möglichen Leitökonomien des 21. Jahrhunderts. Das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend konstante Wachstum, die räumlich relativ breit gestreute Beschäftigungswirkung und die Beiträge zur regionalen Wertschöpfung – auch in peripheren ländlichen Räumen mit ansonsten geringen ökonomischen Wachstumsträgern – lassen den Tourismus an vielen Orten als möglichen Motor für die Regionalentwicklung erscheinen. Weltweit hängt etwa jeder zehnte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Die touristischen Aktivitäten tragen in etwa gleichem Umfang, nämlich mit einem Zehntel, auch zur globalen Wertschöpfung bei. Gleichzeitig steht der Wirtschaftsbereich Tourismus intensiv im Blickpunkt der öffentlichen Diskussion. Dies gilt vor allem für den Beitrag des touristischen Flugverkehrs zum Klimawandel sowie – unter dem Schlagwort overtourism – für die Überlastungsphänomene an stark frequentierten Destinationen. Die negativen Folgen touristischer Erschließung sind bereits seit den 1970er Jahren Gegenstand der sogenannten Tourismuskritik: ökologische Schäden, insbesondere in sensiblen Schutzgebieten, werden dabei genauso thematisiert wie soziokulturelle Auswirkungen, vornehmlich in Ländern des Globalen Südens. Erhoffte positive ökonomische Effekte stehen somit oftmals im Kontrast zu befürchteten oder wahrgenommen negativen Wirkungen. Das Austarieren und Finden einer Balance im Sinne eines ökologisch und sozial verträglichen Tourismus, der gleichzeitig Arbeitsplätze schafft und Wertschöpfung generiert, ist seit Jahrzehnten eine Herausforderung für Tourismuswirtschaft, Tourismuspolitik und Tourismuswissenschaft. Zum besseren Verständnis dieser Zusammenhänge werden im Folgenden zunächst einige Entwicklungslinien des globalen Wirtschaftszweigs Tourismus skizziert. Anschließend geht es um regionalökonomische Effekte und aktuelle Strukturdaten in Deutschland, ehe im dritten Teil auf die Übertourismus-Diskussion eingegangen wird. Den Abschluss bilden einige Reflexionen zu tourismuspolitischen Ansätzen zum Umgang mit dem Wachstumsdruck. Weltweite Entwicklung Voraussetzung für touristische Aktivitäten ist einerseits Freizeit – dass also zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen, die nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgewendet werden müssen –, andererseits bedarf es ebenso frei disponibler finanzieller Mittel. Touristische Aktivitäten gab es in begrenztem Umfang bereits in der Antike, in der Neuzeit galten sie als Privileg der Adeligen. Auf breiterer Ebene ist die Entwicklung des Tourismus eng verbunden mit der technischen Entwicklung von Fortbewegungsmitteln seit der Industrialisierung sowie der allgemeinen Wohlstandsvermehrung vor dem Zweiten Weltkrieg. Als Massenphänomen hat der Tourismus indes erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts richtig an Fahrt aufgenommen. Die Möglichkeit, touristisch zu reisen, beschränkte sich dabei lange Zeit vor allem auf die Industrieländer des Globalen Nordens. Abbildung 1: Entwicklung der internationalen Ankünfte und Einnahmen aus dem internationalen Tourismus zwischen 1950 und 2020 (© UNWTO, Yearbook of Tourism Statistics, Madrid div. Jahrgänge) Das globale Wachstum im Tourismus lässt sich anhand der Daten der Weltorganisation für Tourismus der Vereinten Nationen (UNWTO) gut nachvollziehen: So haben sich die internationalen Ankünfte von Reisenden zwischen 1950 und Ende der 1970er Jahre von 25 Millionen auf 250 Millionen verzehnfacht (Abbildung 1). "Internationale Ankünfte" heißt dabei, dass nur über Grenzen Reisende erfasst werden, Reisen im jeweils eigenen Land bleiben in der UNWTO-Statistik unberücksichtigt. In den nächsten rund 30 Jahren bis 2011 erfolgte eine weitere Vervierfachung auf dann eine Milliarde Ankünfte, wobei es krisenbedingt – etwa durch die Ölkrisen der 1970er Jahre, den Golfkrieg 1990/91, die Anschläge vom 11. September 2001 oder die Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 – auch immer wieder Schwankungen im allgemeinen Wachstumstrend gab. Das starke Wachstum hielt auch im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends an, mit einer weiteren Delle 2015, die auf diverse Terroranschläge und den Ausbruch des Mers-Virus in Südostasien zurückzuführen ist, sodass 2019 knapp 1,5 Milliarden internationale Ankünfte registriert wurden. Europa ist dabei nach wie vor der größte Zielmarkt des internationalen Tourismus. Trotz der Zunahme von Fernreisen in den vergangenen Jahrzehnten entfallen mehr als die Hälfte der internationalen Ankünfte auf europäische Destinationen, während etwa in Afrika nur 5 Prozent der internationalen Ankünfte registriert wurden. Zugleich ist Europa auch der größte Quellmarkt: Zwar hat die Reisetätigkeit aus China, Indien oder den Golfstaaten zugenommen, aber noch immer stammt knapp die Hälfte der international Reisenden aus Europa. Die Sondersituation der Corona-Pandemie mit Grenzschließungen und strengen Reiseauflagen hat 2020 allerdings zu einem dramatischen Einbruch geführt: Bei den internationalen Reisen gingen die Ankünfte weltweit um 73 Prozent zurück, die Einnahmen sanken um 64 Prozent. In Deutschland betrug der Rückgang von Gästen aus dem Ausland im Vergleich zum Vorjahr knapp 70 Prozent, während die Ankünfte von inländischen Gästen um "nur" 43 Prozent zurückgingen, da zwar insgesamt weniger gereist wurde, gleichzeitig aber ein höherer Anteil der Urlaube im eigenen Land verbracht wurde. Auch wenn es nach über eineinhalb Jahren Pandemie kaum möglich ist, belastbare Prognosen für die künftige Entwicklung abzugeben, spricht die ungebrochene "Reiselust" bei Privatreisen dafür, dass auch die Corona-Krise nur eine Delle im größeren Trend sein wird – wenn auch eine sehr viel gravierendere als vorherige. Lediglich für den Geschäftsreisetourismus, der in Deutschland etwa ein Fünftel der touristischen Wertschöpfung ausmacht, kann davon ausgegangen werden, dass digitale Möglichkeiten für Besprechungen etwa ein Viertel der früheren Geschäftsreisen langfristig ersetzen dürften. Anzeichen dafür, dass allein durch die Pandemie das Wachstum dauerhaft gebrochen wird, sind aktuell nicht erkennbar. Volkswirtschaftliche Effekte in Deutschland Die Ankunfts- beziehungsweise Übernachtungszahlen der öffentlichen Statistiken sind nur einer von mehreren Indikatoren für die volkswirtschaftliche Bedeutung der Tourismusbranche. Die genauen ökonomischen Effekte des Tourismus sind aus mehreren Gründen nicht so leicht fassbar wie zum Beispiel die Umsätze in der Automobilindustrie. Dies liegt zum einen daran, dass die Ausgaben für Übernachtungen oder Flüge, die noch relativ einfach auswärtigen Besucher:innen zuzuordnen sind, den kleineren Teil der touristischen Ausgaben ausmachen – bei ausländischen Übernachtungsgästen in Deutschland nur etwa ein Viertel. Der größere Teil der Ausgaben entfällt auf die Gastronomie, den lokalen und regionalen Transport, diverse Dienstleistungen, Eintritte für Museen und kulturelle Veranstaltungen sowie auf Einkäufe. Da zum Beispiel bei Tankstellen und vielen anderen Geschäften nicht differenzierbar ist, ob Einnahmen auf Einwohner:innen oder Besucher:innen zurückgehen, lassen sich die touristisch motivierten Ausgaben nur schwer abschätzen. Zum anderen werden bei mehrtägigen Reisen zwar die Ankünfte beziehungsweise Übernachtungen erfasst, der große Bereich des Tagestourismus bleibt in der amtlichen Statistik aber unberücksichtigt. Gleiches gilt für den ebenfalls nicht kleinen Bereich der privaten Übernachtungen. Schätzungen für deutsche Großstädte wie Berlin und München ergaben, dass neben den registrierten Übernachtungen in gewerblichen Betrieben etwa genauso viele unregistriert bei Privatbesuchen stattfinden. Auch der Graubereich der sogenannten Sharing Economy, der sich in den vergangenen Jahren über Plattformen wie Airbnb stark ausgeweitet hat, wird nur partiell in der amtlichen Statistik abgebildet. Um die volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismus ermessen zu können, werden immer wieder Modellberechnungen erstellt. Für die Bundesrepublik Deutschland wurde vor einigen Jahren in einer vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Studie geschätzt, dass sich die gesamten Konsumausgaben der touristischen Besucher:innen 2010 auf 278,3 Milliarden Euro beliefen. Die Herstellung der von Tourist:innen in Deutschland nachgefragten Güter und Dienstleistungen löste demnach eine Bruttowertschöpfung von 97 Milliarden Euro aus, was einem direkten Anteil von 4,4 Prozent an der gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung entspricht. Zählt man die indirekten Effekte hinzu, beträgt der Anteil sogar 9,7 Prozent. Der unmittelbare Beitrag des Wirtschaftsfaktors Tourismus an der Bruttowertschöpfung ist somit vergleichbar mit dem des Baugewerbes und liegt über dem der Automobilindustrie und der Finanzwirtschaft. Derselben Studie zufolge entfallen von der Wertschöpfung etwa vier Fünftel auf den freizeitorientierten Tourismus, also Privatreisen, wohingegen der Geschäftsreisetourismus nur etwa ein Fünftel ausmacht. Bei den Privatreisen im Binnentourismus beläuft sich der Anteil des – in der offiziellen Übernachtungsstatistik ja überhaupt nicht erfassten – Tagestourismus an den Ausgaben auf etwa 60 Prozent. Ausländische Tourist:innen tragen zu etwa einem Siebtel zu den tourismusbedingten Umsätzen bei. Etwa ein Viertel der Wertschöpfung wird in Bereichen erwirtschaftet, die nicht primär auf den Tourismus ausgerichtet sind, nämlich im Einzelhandel und bei sonstigen Dienstleistungen. Allein die direkte Beschäftigungswirkung der 2,9 Millionen dem Tourismus zuzuordnenden Beschäftigten in Deutschland entspricht einem Anteil von 7 Prozent der Erwerbstätigen. Insgesamt entspricht die volkswirtschaftliche Bedeutung des Wirtschaftsbereiches Tourismus in Deutschland damit in etwa dem globalen Durchschnitt. Nachfrage in Deutschland Die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus ist jedoch nicht in jeder Region in Deutschland dieselbe. Vielmehr hängt sie im Wesentlichen von der touristischen Attraktivität ab – sei es für den freizeitorientierten Urlaubstourismus oder den Geschäftsreisetourismus, sei es für Inländer:innen oder Ausländer:innen. Auch hierfür soll mangels anderer regional differenzierter Angaben wieder ein Hilfsindikator herangezogen werden: Die Zahl der Übernachtungen bezogen auf die Einwohner:innen in einer Destination, das heißt die sogenannte Tourismusintensität. Karte 1: Tourismusintensität in Deutschland 2019 (© Datengrundlage: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2020) Auf Karte 1 ist die Tourismusintensität für die deutschen Reisegebiete im Jahr 2019 dargestellt. Darin wird deutlich, dass ländliche Räume abseits der Ballungsräume in vielen Fällen eine relativ hohe Tourismusintensität aufweisen. Neben der Nord- und Ostseeküste sowie dem Alpenvorland gilt dies insbesondere für viele Mittelgebirgsregionen: Vom Bayerischen Wald über den Schwarzwald, den Hunsrück, die Eifel, die Rhön, den Thüringer Wald, den Frankenwald, die Sächsische Schweiz bis hin zum Harz und dem Sauerland zeichnen sich die ländlich geprägten Mittelgebirgsregionen durch eine überproportionale Tourismusintensität aus. Aber auch andere landschaftlich attraktive ländliche Räume wie das Altmühltal, das fränkische Seenland, die Mosel, das Weserbergland oder die Lüneburger Heide und die Mecklenburgische Seenplatte weisen eine besondere touristische Nachfrage auf. Schwerpunkte der Tourismuswirtschaft liegen somit vielfach im ländlichen Raum. Dieser profitiert oftmals nicht nur durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, die in peripheren Lagen ansonsten spärlicher verfügbar sind als in (groß-)städtischen Kontexten, sondern auch von den Besucher:innen selbst: Manche Angebote überschreiten erst durch die touristische Nachfrage die sogenannte Tragfähigkeitsschwelle. Während in großstädtischen Kontexten zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr, Kultur- oder Freizeitmöglichkeiten allein aufgrund der Binnennachfrage der Einwohner:innen angeboten werden können, ist es im dünner besiedelten ländlichen Raum oftmals so, dass die Binnennachfrage für einen tragfähigen Betrieb nicht ausreicht. Angebote, die durch die zusätzliche touristische Nachfrage entstehen, können auch die Lebensqualität der einheimischen Bevölkerung verbessern. Karte 2: Gästeübernachtungen in Deutschland 2019 (© mr-kartographie, Gotha 2021) Betrachtet man hingegen das absolute Volumen der touristischen Nachfrage in Deutschland, zeigt sich, dass die Großstädte bevorzugte Reiseziele sind (Karte 2). Die meisten Übernachtungen verzeichnen Berlin, München und Hamburg, weitere Schwerpunkte liegen in Frankfurt am Main, Köln und Düsseldorf. Die Nachfragekonzentration in den Großstädten liegt zum einen an dem dort meist höheren Anteil von Geschäftsreisenden, zum anderen zieht es viele ausländische Privatreisende eher in die größeren Städte. Demgegenüber können viele der ländlich geprägten Destinationen – insbesondere in den östlichen Bundesländern sowie an Nord- und Ostsee – nur relativ wenige ausländische Tourist:innen ansprechen. Das touristische Angebot im ländlichen Raum, zum Beispiel für den Fahrrad- und Wandertourismus, zieht in Deutschland vorwiegend einheimische Gäste an. Eine für ländliche Regionen überproportionale Anziehungskraft auch für ausländische Gäste haben lediglich die Eifel, die Mosel und der Rhein in Rheinland-Pfalz, das Sauerland, der Schwarzwald sowie partiell der Alpenvorraum. Dabei profitieren die Destinationen in Rheinland-Pfalz und im Sauerland von der Nähe zu den Niederlanden und Belgien, woher sie die meisten ausländischen Gäste verzeichnen. Etwas verkürzt kann festgehalten werden: Sogenannter incoming tourism, also von Reisenden aus dem Ausland, ist in Deutschland zum überwiegenden Teil Städtetourismus. Sein Anteil ist in den vergangenen Jahren merklich gewachsen: Mitte der 1990er Jahre lag er in gewerblichen Übernachtungseinrichtungen noch bei etwa 15 Prozent. Bis 2019 konnte der Anteil ausländischer Gäste auf rund 21 Prozent gesteigert werden. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass sich Deutschland in den zurückliegenden drei Jahrzehnten im internationalen touristischen Wettbewerb erfolgreich positionieren konnte, was unter anderem auf vermehrte Anstrengungen in diesem Wirtschaftssektor zurückzuführen ist. Ein Teil der durch die partielle Deindustrialisierung verlorengehenden Arbeitsplätze wird durch neue Arbeitsmöglichkeiten im Tourismus kompensiert. Auch hier kann etwas holzschnittartig festgehalten werden: Während die Deutschen in den Jahren des "Wirtschaftswunders" Devisen durch Industrieprodukte erlösten und diese als "Reiseweltmeister" im Ausland ausgeben konnten, werden die nächsten Jahrzehnte sicherlich auch dadurch gekennzeichnet sein, dass der incoming tourism zunehmend zur Handelsbilanz beitragen wird, um wegfallende Industriegüterexporte und zunehmende Importe zu kompensieren. Städtetourismus: Motor des Wachstums Seit den 1990er Jahren ist ein regelrechter Boom des Städtetourismus zu konstatieren. Insbesondere die Großstädte können deutlich wachsende Besuchszahlen verzeichnen. Dabei steht hinter der dynamischen Entwicklung ein sich veränderndes Reiseverhalten: Der Städtetourismus profitiert in starkem Maß vom Trend, dass neben dem Hauptjahresurlaub vermehrt (kürzere) Zweit- und Drittreisen unternommen werden. Rahmenbedingungen für diesen Trend sind soziodemografische Entwicklungen wie der wachsende Anteil von Ein- und Zweipersonenhaushalten ohne Kinder, das Anwachsen der Altersgruppe der Über-50-Jährigen sowie mehr frei verfügbares Einkommen in einem signifikanten Teil der Bevölkerung. Abbildung 2: Indexentwicklung der Übernachtungszahlen in Deutschland insgesamt, in allen Großstädten sowie in Berlin, München und Hamburg (© Statistisches Bundesamt, Tourismus in Zahlen 2019, Wiesbaden 2020 sowie www.destatis.de) Die dynamische Entwicklung des Städtetourismus wird besonders deutlich, wenn die Übernachtungszahlen in Großstädten (Städte mit über 100.000 Einwohner:innen) den Übernachtungszahlen in Deutschland insgesamt gegenübergestellt werden (Abbildung 2). Die Übernachtungen in Deutschland haben seit 1995 um gut 50 Prozent zugenommen; demgegenüber verzeichneten die Großstädte fast eine Verdreifachung der Übernachtungszahlen. Dieses Wachstum wird insbesondere von den großen Metropolen getragen. Berlin etwa erfuhr in den zurückliegenden 25 Jahren bei den Übernachtungen einen Anstieg auf das Viereinhalbfache – eine Entwicklung, die fast als disruptiv zu charakterisieren ist. Auch in Hamburg lag der Anstieg auf das Dreieinhalbfache noch leicht über dem Durchschnitt der deutschen Großstädte. Lediglich München – eine traditionelle städtetouristische Destination, die schon immer hohe Zahlen aufwies – hat eine Zunahme zu verzeichnen, die in etwa im Mittel aller deutschen Großstädte liegt. Die robuste Dynamik im freizeitorientierten Städtetourismus spricht jedenfalls dafür, dass die infolge der Corona-Pandemie zu erwartenden dauerhaften Rückgänge im Geschäftsreiseverkehr mittelfristig durch privat reisende Städtetourist:innen ausgeglichen werden können. Wenn die Stimmung kippt: Overtourism Abbildung 3: Tourismusintensität in Dubrovnik, Venedig und Barcelona sowie Berlin, München und Hamburg, Übernachtungen pro 100 Einwohner:innen 2019 (© Andreas Kagermeier, Overtourism, Tübingen 2021, S. 5.) Gerade in den Städten, die in den vergangenen Jahren von einer gravierenden Zunahme der Besuchszahlen gekennzeichnet sind, manifestieren sich seit einigen Jahren zunehmend Unmutsäußerungen der lokalen Bevölkerung gegen die touristische Überprägung ihrer Lebensumwelt. Dieser "Aufstand der Bereisten" wird meist unter dem Schlagwort overtourism geführt. Die Diskussion hat sich dabei ursprünglich vor allem an den drei Kreuzfahrtdestinationen Barcelona, Dubrovnik und Venedig entzündet. Gruppen von Kreuzfahrttourist:innen fallen aufgrund ihres räumlich und zeitlich konzentrierten Auftretens besonders stark auf und führen in engen historischen Altstädten zu massiven Überlastungen (crowding). Die klare Überschreitung der physischen Belastungsgrenzen lässt sich in Venedig und Dubrovnik auch am Indikator der Tourismusintensität ablesen (Abbildung 3). Artikulationen gegen als "zu viele" empfundene Besucher:innen gibt es aber inzwischen auch in Städten, in denen noch kein crowding zu beobachten ist. Zudem wird bei vergleichbarer Tourismusintensität die subjektive Tragfähigkeit teilweise unterschiedlich eingestuft. So errechnet sich für die drei größten deutschen städtetouristischen Destinationen Berlin, München und Hamburg eine ähnliche Tourismusintensität von etwa 1.000 Übernachtungen pro 100 Einwohner:innen. Während es in Berlin bereits 2011 unter dem Slogan "Hilfe, die Touristen kommen" zu ersten deutlichen Unmutsbekundungen kam, sind solche bislang in München so gut wie nicht und in Hamburg nur sehr eingeschränkt zu beobachten. Umgekehrt bedeutet dies, dass es schlicht keine klare objektive Grenze der Tourismusintensität gibt, ab der die Stimmung in einer Stadtbevölkerung kippt. Damit rückt die subjektiv empfundene carrying capacity in den Vordergrund, also die wahrgenommene Tragfähigkeit für Tourismus, der von der lokalen Bevölkerung akzeptiert wird. Diese ist ein multidimensionales Konstrukt, das nicht einfach anhand von objektiv messbaren Besuchszahlen zu fassen ist. Untersuchungen zu München legen nahe, dass neben der Art der Tourist:innen die Geschwindigkeit der Veränderung für die subjektive Wahrnehmung der Bewohner:innen eine Rolle spielt. So werden Partytourist:innen, die vor allem in Berlin in großer Zahl vertreten sind, stärker als irritierend empfunden als kulturorientierte Städtetourist:innen, die in München dominieren. Im Unterschied zu Berlin, in dem nach der deutschen Vereinigung und der Wiedererlangung der Hauptstadtfunktion ein sprunghafter Anstieg der Besuchszahlen zu verzeichnen war, ist München in den vergangenen Jahrzehnten als städtetouristische Destination kontinuierlich gewachsen, sodass ein gewisser Lern- beziehungsweise Gewöhnungseffekt bei der Bevölkerung angenommen werden kann. Aber auch die Befindlichkeit der gesamten Stadtgesellschaft scheint eine wichtige Rolle zu spielen – ob sie also eher in sich ruhend und relativ stabil oder von signifikanten Transformationen, Spannungen und Friktionen gekennzeichnet ist. Ebenso dürfte dem Erhalt von Rückzugsräumen für die lokale Bevölkerung, insbesondere in den Wohnquartieren, eine besondere Bedeutung für die Herausbildung oder Aufrechterhaltung einer gewissen Resilienz gegenüber größeren Besuchszahlen zukommen. Dieser Aspekt ist in den vergangenen Jahren durch die zunehmenden Übernachtungsangebote durch Plattformen wie Airbnb verstärkt in den Blickpunkt geraten. Die Nachfrage nach Übernachtungsoptionen der Sharing Economy steht gleichzeitig auch in Beziehung mit der zunehmenden Bedeutung des new urban tourism, bei dem sich die Besucher:innen bewusst außerhalb der "Touristenblase" beziehungsweise off the beaten track bewegen. Damit begegnen Tourist:innen der Wohnbevölkerung nicht mehr nur im öffentlichen innerstädtischen Raum, sondern bisweilen auch im privaten Wohnumfeld. Neben manchen nächtlichen Lärmbelästigungen kann auch dies bei den in den Quartieren wohnenden Bewohner:innen zu Irritationen führen. Perspektiven für tourismusorientierte Managementansätze Als Reaktion auf Proteste gegen overtourism ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von – teilweise etwas hektisch anmutenden – Steuerungs- und Limitierungsansätzen erprobt worden. Diese Ansätze erscheinen jedoch nur sehr eingeschränkt geeignet, die Akzeptanz von Besucher:innen bei der lokalen Bevölkerung dauerhaft zu erhöhen. Es ist schlicht zu spät, wenn erst reagiert wird, wenn die Stimmung bereits gekippt ist und sich in Protesten manifestiert. Zugleich ist ein flächendeckendes "Demarketing" – also Maßnahmen, um die touristische Nachfrage gezielt zu verringern – nach wie vor nicht erkennbar. Um ein Umkippen der Stimmung in Stadtgesellschaften proaktiv zu vermeiden, dürfte eine intensive Fokussierung auf die Beteiligung der Bevölkerung sowie ein Ernstnehmen von ersten subjektiven Unwohlgefühlen notwendig sein. Damit müsste auch die Rolle der sogenannten Destinationsmanagementorganisationen (DMO) neu definiert werden. DMO sind privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Einrichtungen, die in Reisegebieten für Management und Marketing zuständig sind – zum Beispiel Landestourismusverbände oder Stadtmarketingagenturen. Diese verstehen sich bislang vor allem als dem quantitativen Wachstum verpflichtete Akteure, deren Handeln in erster Linie auf die Ansprache von potenziellen Besucher:innen orientiert ist. Zukünftig müsste in mindestens gleichem Maß darauf abgestellt werden, als Mediator mit Blick auf die lokalen Akteure zu fungieren. Damit wäre ein zentraler Paradigmenwechsel von touristischer Governance verbunden. Dabei sollte – mit dem Ziel der Förderung von Resilienz – nicht nur sektoral auf das Tourismusgeschehen und dessen Folgen geachtet werden, sondern es gilt, die gesamte Stadtgesellschaft mit all ihren Herausforderungen und Spannungen einzubeziehen. Bislang sind allerdings kaum Anzeichen dafür erkennbar, dass die unfreiwillige "Atempause" infolge der Corona-Pandemie von den relevanten Akteuren in der Tourismuspolitik und im Destinationsmanagement genutzt worden wäre, um einen solchen Paradigmenwechsel – weg von der ökonomisch getriebenen Wachstumsorientierung hin zu einer holistischen Herangehensweise – einzuleiten. Tourismus als Teil des gesamtgesellschaftlichen Systems zu verstehen und gleichberechtigt auch soziale und ökologische Dimensionen zu berücksichtigen, wird damit auch nach Corona ein Desiderat beziehungsweise eine tourismuspolitische Herausforderung bleiben. Da keine Anzeichen dafür erkennbar sind, dass sich die Wachstumsdynamik im Tourismus aufgrund nachlassender Nachfrage von selbst abschwächt, scheinen politische Steuerungsmaßnahmen des Gesetzgebers notwendig. Letztendlich dürften sich diese aber nicht auf den Tourismus beschränken, sondern müssten wohl auch eingebettet sein in einen grundsätzlicheren Politikwandel: weg von hierarchisch ausgerichteten Steuerungsansätzen und hin zu einer stärker kooperativ ausgerichteten Governance, wie sie für regionale Entwicklungsansätze bereits seit vielen Jahren diskutiert wird. Abbildung 1: Entwicklung der internationalen Ankünfte und Einnahmen aus dem internationalen Tourismus zwischen 1950 und 2020 (© UNWTO, Yearbook of Tourism Statistics, Madrid div. Jahrgänge) Karte 1: Tourismusintensität in Deutschland 2019 (© Datengrundlage: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2020) Karte 2: Gästeübernachtungen in Deutschland 2019 (© mr-kartographie, Gotha 2021) Abbildung 2: Indexentwicklung der Übernachtungszahlen in Deutschland insgesamt, in allen Großstädten sowie in Berlin, München und Hamburg (© Statistisches Bundesamt, Tourismus in Zahlen 2019, Wiesbaden 2020 sowie www.destatis.de) Abbildung 3: Tourismusintensität in Dubrovnik, Venedig und Barcelona sowie Berlin, München und Hamburg, Übernachtungen pro 100 Einwohner:innen 2019 (© Andreas Kagermeier, Overtourism, Tübingen 2021, S. 5.) Vgl. World Tourism Organization (UNWTO), Tourism Highlights. 2016 Edition, Madrid 2016, S. 3. Vgl. etwa Andreas Kagermeier, Tourismus in Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und Umwelt. Einführung, Tübingen 20202, S. 28ff. Vgl. UNWTO, Yearbook of Tourism Statistics, Madrid div. Jahrgänge. Vgl. UNWTO Global Tourism Dashboard, 4.10.2021, Externer Link: http://www.unwto.org/country-profile-inbound-tourism. Vgl. UNWTO, International Tourism Highlights, 2019 Edition, Madrid 2019, S. 15. Vgl. Statistisches Bundesamt, Ankünfte und Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben: Deutschland, Jahre, Wohnsitz der Gäste, Stand: 5.11.2021, www-genesis.destatis.de. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) (Hrsg.), Wirtschaftsfaktor Tourismus Deutschland. Kennzahlen einer umsatzstarken Querschnittsbranche, Langfassung, Berlin 2012, S. 34f. Vgl. Berlin Tourismus & Kongress GmbH, Wirtschaftsfaktor 2016 für Berlin, Berlin 2017, S. 8; Landeshauptstadt München, Tourismus. Jahresbericht 2011, München 2012, S. 9. Vgl. BMWi (Anm. 7), S. 4. Vgl. ebd. Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 6). Genauer bei Kagermeier (Anm. 2), S. 224ff. Vgl. Kreuzberger protestieren gegen "Touristifizierung", 1.3.2011, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-748314.html; Sabine Buchwald, Schaut auf diese Stadt. Jedes Jahr ein Besucherrekord und Tausende neue Hotelbetten: Der Tourismus in München boomt, doch von Auswüchsen wie in Venedig oder Barcelona ist hier noch wenig zu spüren, in: Süddeutsche Zeitung, 13.4.2019, S. 37; Albert Postma/Dirk Schmücker, Understanding and Overcoming Negative Impacts of Tourism in City Destinations: Conceptual Model and Strategic Framework, in: Journal of Tourism Futures 2/2017, S. 144–156. Vgl. Andreas Kagermeier/Eva Erdmenger, Overtourism: Ein Beitrag für eine sozialwissenschaftlich basierte Fundierung und Differenzierung der Diskussion, in: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft 1/2019, S. 65–98. Vgl. Natalie Stors/Andreas Kagermeier, Crossing the Border of the Tourist Bubble: Touristification in Copenhagen, in: Tatjana Thimm (Hrsg.), Tourismus und Grenzen, Mannheim 2013, S. 115–131. Vgl. z.B. UNWTO (Hrsg.), Overtourism? Understanding and Managing Urban Tourism Growth beyond Perceptions, Madrid 2018. Genauer bei Andreas Kagermeier, Overtourism, Tübingen 2021, S. 183ff. Vgl. z.B. Dietrich Fürst/Jörg Knieling, Innovation und Konsens – ein Widerspruch? Lösungsstrategien für die Regionalentwicklung, in: Raumforschung und Raumordnung 4–5/2004, S. 280–289.
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, Andreas Kagermeier
"2022-02-10T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
"2022-02-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/344465/wachstum-ohne-ende/
Tourismus gilt als eine mögliche Leitökonomie des 21. Jahrhunderts. Die Entwicklung der Branche ist von stetem Wachstum geprägt, woran auch die Corona-Pandemie längerfristig nichts ändern wird. Erscheinungen des Overtourism erfordern jedoch ein Umden
[ "Reisen", "Tourismus", "Urlaub", "Wirtschaft", "Ordnungspolitik", "Corona", "Pandemie", "Rüge" ]
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Potenziale von Spielen, Spieleentwicklung und Raum in der Bildung – Erfahrungen und Reflexion | Kulturelle Bildung | bpb.de
Lernprozesse fanden während des Workshops auf verschiedenen Ebenen statt: Zum einen im Prozess der Spieleentwicklung – Themen und Stories wurden entwickelt, Methoden und Mechaniken ausprobiert und zu einem Spiel zusammengeführt. Zum anderen ermöglichten die entstandenen Spiele den Spieler/-innen Lernerlebnisse, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit den Themen und Rollen oder in der Reflexion der Spiele. Welches Potenzial bieten Spiele in der Bildung? Welches Potenzial hat die Spieleentwicklung in der Bildung? Welches Potenzial hat der Raum für Spiele in der Bildung? In verschiedenen Reflexionsrunden kamen diese Leit-Fragestellungen während der drei Tage des Workshops immer wieder zur Sprache. Stichpunktartig werden hier die Standpunkte, Erfahrungen und weiterführende Fragestellungen aufgeführt. Welche Potenziale bieten Spiele in der Bildung? Spiele geben einen Einstieg in ein ThemaSpiele lassen Inhalte leichter vermittelnMit Spielen kann man Themen simulieren und ausprobierenSpiele können abstrakte Themen in Prinzipien überführen und nachvollziehbar machen (z.B. digitale Phänomene)Themen können emotionalisiert werden (z.B. in Rollenspielen)Mit Tun und Erleben verknüpfte Inhalte bleiben besser in Erinnerung als frontal vermittelteSpiele sorgen dafür, dass einen Dinge angehen, sie motivieren mit verschiedenen Faktoren (gewinnen/etwas schaffen/etwas herausfinden …)In der politischen Bildung stellt sich oft die Frage: Wie können Menschen aktiviert werden? Spielen an sich ist eine Aktivität, die am Anfang stehen kann und motiviert, sich mit Themen auseinanderzusetzen Welche Potenziale hat die Spieleentwicklung in der Bildung? Während der Spieleentwicklung finden umfassende Bildungsprozesse statt: körperlich, sinnlich, kognitiv und inhaltlich, rezeptiv und produktivLernen als einzelne/-r und in der GruppeSehr gewinnbringende Methode im SeminarkontextEine Form des Empowerments: die Teilnehmenden werden dazu befähigt, selbst Spiele zu entwickeln und ihre Fähigkeiten und ihr Wissen weiterzugebenAbstrakte Themen vereinfachen, in Prinzipien überführen und erfahrbar machenThemen aneignen, durchdringen, wenn man ein Spiel dazu entwickelt (z.B. Rollen- und Planspiele)Auseinandersetzung mit menschlicher Kommunikation: was läuft emotional und verbal ab?Der Prozess hilft zu abstrahieren und zu verallgemeinernSich mit Funktionsweisen und Formen der Spiele selbst auseinanderzusetzen; Kennenlernen der 3 Faktoren Mechanik, Dynamik und ThemaArbeit an den Regeln als wichtiges Moment für die anschließende ReflexionEmpfehlung: Entwicklung von Spielen mit Methoden/Mechanismen, die der Zielgruppe geläufig sind (z.B. Handyspiele)?Ergebnisorientiert: Es entsteht ein Produkt; Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden, Stolz, Erfolg Welches Potenzial hat der Raum für Spiele in der Bildung? Räume können mit Spielen erschlossen und körperlich-sinnlich erfahren werden (z.B. Rallyes, Stadtquiz, Schnitzeljagd)Spiele können neue Räume erschaffen, vorhandene Räume verändernVerknüpfung von Themen mit RäumenDer kreative Prozess selbst kann als Raum verstanden werden; im kreativen Prozess, im "Flow" geht das Zeitgefühl verloren; großes Potenzial zum nachhaltigen LernenSpiele können einen sozialen Raum sichtbar machen, z.B. eine von Jugendlichen erstellte Rallye zum Stadtraum mit Erwachsenen spielenRäume beeinflussen, wie Spiele ablaufen; die Inszenierung des Raums kann z.B. helfen, besser in das Spiel zu finden, eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen (Bei Rollen- aber auch bei Brettspielen, Quiz etc.), Raumänderungen zur Einleitung und zum Ausstieg aus dem SpielIm Museumskontext spielen inszenierte Räume eine wichtige Rolle – häufig stellt sich die Frage: Wie viel gibt man vor?(Lern-, Seminar-)Räume gemeinsam mit Teilnehmenden verändern als Form von Partizipation?Größe von Seminarräumen nimmt Einfluss auf Bildungsprozess Welche Herausforderungen gibt es für Spiele und Spieleentwicklung in der Bildung? Das Spiel ist eine Kommunikationssituation und darf nicht "überpädagogisiert" werdenStellenwert der Story/der Erzählung: Was möchte ich vermitteln? Was steht im Vordergrund? Die Story oder das Spiel?Nicht zu viel Inhalt in ein Spiel packen, die Reflexion sollte eher im Anschluss an das Spiel stattfindenWenn Teilnehmer/-innen merken, dass sie spielen, um etwas bestimmtes (Inhalt) zu lernen, macht es ihnen oft nicht mehr so viel SpaßSpieleentwicklung ist u.U. voraussetzungsreich: Es ist hilfreich, wenn Teilnehmende viele Spiele kennen (wenn nicht: vorab Phase des Spielens, um verschiedene Spiele und Mechanismen kennenzulernen bzw. ansetzen bei Handyspielen etc.)Im Spieleentwicklungsprozess gibt es immer Teile, die nicht steuerbar sind.Manchen Formaten (Quiz, Schnitzeljagd) haftet ein verstaubtes Image an. Doch: Auch diese können gut gemacht sein Weiterführende Fragen für Spiele in der Bildung Wird Bildung vom Subjekt her gedacht? (Subjektorientierung, Interessenorientierung, Stärkenorientierung, Berücksichtigung subjektiver Sichtweisen)Wird bei der Spielentwicklung der Bildungsprozess reflektiert?Wird das Wechselspiel von Selbst und Welt in den Prozessen gestaltet?Inwiefern könnte Kunst eine Rolle spielen? Wird Welt oder Raum durch und in den Künsten angeeignet? Werden die Künste zum Zugang zur Welt und zum Weltverstehen?Hat das Spiel/Projekt eine politische Dimension? (kulturelle, soziale, politische Teilhabe, Partizipation, Zielgruppenerreichung, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, der Bürger/die Bürgerin als Citoyen/Citoyenne, gesellschaftspolitisches Thema)Ergeben sich Handlungsperspektiven? (z.B. andere Nutzung/Umgestaltung des Raumes)Ist der/die Einzelne bzw. eine Gruppe/ein Kollektiv im Fokus der Vermittlerin/des Vermittlers?Ist der (öffentliche) Raum Bildungsort? (Überwindung formaler Bildungssettings, offen, frei, informell)Welche Rolle spielen der Realraum (= Ort) und v. a. der von den Teilnehmenden wahrgenommene/empfundene (Real-)Raum? (Wo sind die Angebote räumlich verortet:Dort, wo die Teilnehmenden "sind" oder dort, wo durch die Teilnehmenden neue/unbekannte Räume erschlossen werden? Ist der Realraum Impulsgeber für Fragen?Welche Rolle spielt die Zeit bzw. die Veränderungen von Räumen durch Zeit?)Welche Rolle spielen der Realraum (= Ort) und v. a. der von den Teilnehmenden wahrgenommene/empfundene (Real-)Raum? (Wo sind die Angebote räumlich verortet: Dort, wo die Teilnehmenden "sind" oder dort, wo durch die Teilnehmenden neue/unbekannte Räume erschlossen werden? Ist der Realraum Impulsgeber für Fragen? Welche Rolle spielt die Zeit bzw. die Veränderungen von Räumen durch Zeit?)Wird "Raum" als pädagogischer Raum genutzt?
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-05-09T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/269033/potenziale-von-spielen-spieleentwicklung-und-raum-in-der-bildung-erfahrungen-und-reflexion/
Welche Potenziale bieten Spiele und Spielentwicklung und Raum für Bildungsprozesse? Die Diskussionen und Reflexionen während der drei Workshoptage in Stichworten.
[ "Medien", "Pädagogik", "Spiel", "Spieleentwicklung", "Bildung", "Workshop" ]
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Duldung Deluxe | Sinti und Roma | bpb.de
Die Fotografien auf den folgenden Seiten stammen aus meinem Fotoprojekt "Duldung Deluxe" über geduldete und aus Deutschland abgeschobene Roma-Jugendliche und junge Erwachsene. Das Projekt wurde durch die Allianz Kulturstiftung unterstützt und war von November 2010 bis April 2011 im European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) Berlin zu sehen. Ab November 2011 ist "Duldung Deluxe" Teil der Ausstellung "Reconsidering Rroma - Aspects of Roma and Sinti-Life in Contemporary Art" im Studio 1, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin. Ich habe Politische Wissenschaften und Journalismus an der Universität Sarajevo studiert und gleichzeitig als Fotojournalist und Künstler gearbeitet. Seit 1988 bin ich als freier Fotograf in verschiedenen Kunstfotoprojekten und Fotostudien in Italien, Belgien, Großbritannien und den USA tätig. Seit 1992 realisiere ich Projektarbeiten in Berlin, unter anderem für das Kulturamt Friedrichshain-Kreuzberg, die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, das Museum Europäischer Kulturen und die Allianz Kulturstiftung. Meine Arbeiten spiegeln die persönlichen Geschichten der Menschen wider, die ich treffe. Ich tauche ein in den Mikrokosmos des Urbanen und zeige zeitlose Dokumente einer Gesellschaft, die durch eine bewegte Geschichte an der Schnittstelle von Ost und West geprägt ist. Mit meinem Blick auf die Gesellschaft verweise ich auf unterschiedliche ethnische und kulturelle Einflüsse und schaue hinter die Fassaden der Städte. In meinen Bildern halte ich alltägliche und flüchtige Situationen fest und zeige damit die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens. Eldar Ahmetović (22), seit 17 Jahren in Berlin. Als JPG herunterladen (62.4kB) Radosav Sajn (18), seit 13 Jahren in Berlin. Als JPG herunterladen (57.9kB) Roma-Flüchtlingslager Osterode (Česmin Lug), im Hintergrund Berge mit Millionen Tonnen giftigem Bleierz, Nord Mitrovica, Kosovo. Als JPG herunterladen (69.6kB) Indira Kurteshi (19), Plemetina, Kosovo. Als JPG herunterladen (69.8kB) Alija Kurteshi (25), Plemetina, Kosovo. Als JPG herunterladen (73.7kB) Eldar Ahmetović (22), seit 17 Jahren in Berlin. Als JPG herunterladen (62.4kB) Radosav Sajn (18), seit 13 Jahren in Berlin. Als JPG herunterladen (57.9kB) Roma-Flüchtlingslager Osterode (Česmin Lug), im Hintergrund Berge mit Millionen Tonnen giftigem Bleierz, Nord Mitrovica, Kosovo. Als JPG herunterladen (69.6kB) Indira Kurteshi (19), Plemetina, Kosovo. Als JPG herunterladen (69.8kB) Alija Kurteshi (25), Plemetina, Kosovo. Als JPG herunterladen (73.7kB)
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Nihad Nino Pušija
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-06T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33289/duldung-deluxe/
Fotografien aus dem Fotoprojekt "Duldung Deluxe" über geduldete und aus Deutschland abgeschobene Roma-Jugendliche und junge Erwachsene.
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Kommentar: Poroschenko ist kein Demokrat | Ukraine-Analysen | bpb.de
Nein, große Illusionen gab es auch vor drei Jahren nicht, als Petro Poroschenko ins Amt des ukrainischen Präsidenten gewählt wurde. Als einer der bemerkenswertesten Vertreter der großen Wirtschaft sowie als Veteran der modernen ukrainischen Politik konnte der heute 51-Jährige gerade bei den Ukrainern nicht erfolgreich als echter Demokrat rüberkommen. Die Hoffnungen im In- und Ausland waren trotzdem gewaltig. Schließlich konnte es sich Poroschenko nach der Maidan-Revolution trotz seiner fragwürdigen Vergangenheit nicht erlauben, in einer ähnlichen Manier wie sein Vorgänger Wiktor Janukowitsch zu regieren. Zugegeben: Dies ist auch drei Jahre später nicht erfolgt. Denjenigen, die Poroschenko als besten Präsidenten in der Geschichte der Ukraine bezeichnen, ist nur wenig entgegenzuhalten, obwohl das allein angesichts der Konkurrenz kein Kompliment ist. Doch während Poroschenko bei seinen Auslandsbesuchen in die EU und die USA ständig die liberalen Werte beschwört und demokratische Reformen lobt, ist von diesen in Kiew und Umgebung nur wenig zu spüren. Im Gegenteil: Je länger Poroschenko und seine Präsidialverwaltung an der Macht sind, desto merkwürdiger scheint deren Verständnis von Demokratie zu sein. Ein Paradebeispiel dafür ist die neuerliche Entscheidung, den Zugang zu mehreren russischen Webseiten, darunter die sozialen Netzwerke VK und Odnoklassniki sowie die Google-Pendants Mail.ru und Yandex zu sperren. Am Tag vor der Veröffentlichung des entsprechenden Erlasses sprach Poroschenko noch von der "beispiellosen Meinungsfreiheit", die in der Ukraine herrsche. Dann, am späten Montagabend, folgte die völlig überraschende Entscheidung. Natürlich gibt es berechtigte Argumente für die Sperrung russischer Webseiten. Dass russische Geheimdienste Zugang zu Daten von VK oder Yandex haben, ist offensichtlich. Allerdings muss man dabei zum einen bedenken, dass die gleichzeitige Sperrung von vier Webseiten der Top Ten des ukrainischen Internets selbst die Zensurmaßnahmen übertrifft, die Russland im Internet anwendet. Zum anderen ist hier nicht die Entscheidung an sich das Hauptproblem, sondern die Art und Weise, wie sie getroffen wurde. Leider ist es längst zum Stil der Präsidialverwaltung geworden, wichtige Entscheidungen ohne jegliche öffentliche Diskussion zu treffen. Schließlich wurde der umstrittene Entschluss, der viel Aufsehen erregt hat, einen Tag lang von keinem Offiziellen kommentiert. Bis heute hat niemand, auch Poroschenko nicht, die Gründe der Sperrung ausführlich erklärt. Viel mehr als "russische Cybergefahr" ist aus der Präsidialverwaltung sowie aus dem Sicherheitsrat nicht zu hören. Dass Poroschenko deutlich autoritärer regiert, dass seine Präsidialverwaltung frei nach dem russischen Beispiel oft eine größere Rolle spielt als die eigentliche Regierung, ist zumindest merkwürdig. Dabei lässt sich aus inhaltlicher Sicht keine allgemeine Strategie des Präsidenten feststellen. So bleibt etwa Poroschenkos Handeln während der von proukrainischen Aktivisten organisierten Donbass-Blockade unverständlich. Rund drei Monate lang haben Poroschenko und Ministerpräsident Hrojsman die Organisatoren der Blockade hart kritisiert. Letztlich unterstützte der Staat das Handelsverbot mit den besetzten Gebieten im Donbass, doch Hrojsman und Poroschenko sprechen noch immer vom negativen Einfluss der Blockade auf die ukrainische Wirtschaft. Eine klar erkennbare Logik steckt dahinter nicht. Allerdings wird in letzter Zeit immer deutlicher, dass Poroschenko und seine Präsidialverwaltung zunehmend auf den politisch aktiven patriotischen Teil der Zivilbevölkerung setzen. Dieser wird seinerseits in der Einstellung gegenüber Russland radikaler – und fordert härtere Maßnahmen als bisher. Zudem achtet Poroschenko zwei Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen deutlich stärker auf die Umfragewerte, bei denen er an Beliebtheit einbüßt – mittlerweile liegt Julia Timoschenko leicht vor ihm. Natürlich hat der 51-Jährige immer noch die besten Chancen, sein großes Ziel zu erreichen – er will 2019 unbedingt wiedergewählt werden. Dafür muss er jedoch bereits jetzt liefern. Dabei gibt es mindestens zwei Probleme, die über die Person Poroschenko hinausreichen. Das Machtsystem, das er aufbaut, hat immer weniger mit Demokratie zu tun. Und es geht nicht nur um die Intransparenz beim Treffen richtungsweisender Entscheidungen. Poroschenko und sein Team versuchen offensichtlich, sich eine de facto nicht existierende Mehrheit im Parlament durch Manipulation zu beschaffen. Außerdem werden teils erfolgreiche Versuche unternommen, noch weitere Medien unter die Kontrolle des Präsidenten zu bringen. Ob man deswegen von Poroschenko als dem Demokraten sprechen kann, als den er sich in Brüssel oder in Berlin so gerne ausgeben möchte? Eher nicht. Auf der anderen Seite braucht die Ukraine heutzutage, drei Jahre nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass, eine emotionslose und rationale Politik. Mit seinem Versuch, ukrainische Patrioten und ihre Emotionen anzusprechen, handelt Petro Poroschenko nicht unbedingt richtig. Denn ein Präsident, der in einen offenen Wettbewerb mit ukrainischen Hardlinern einsteigt, ist das Letzte, was die Ukraine heute gebrauchen kann.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-06-20T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/250430/kommentar-poroschenko-ist-kein-demokrat/
Die Hoffnungen waren groß: Als Petro Poroschenko vor drei Jahren zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, erwarteten viele demokratische Reformen. Aber befindet sich die Ukraine derzeit auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie? Dieser Frage geht De
[ "Ukraine-Analyse", "V-Kontakte", "Yandex", "Odnoklassniki", "Sanktionen", "Präsidialerlass", "Petro Poroschenko", "Zensur", "Ukraine", "Russland" ]
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Der Rat der Europäischen Union – Zusammensetzung und Aufgaben | Deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 | bpb.de
* Den Rat "Auswärtige Angelegenheiten" leitet der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 714 035) Worum handelt es sich beim Rat der EU? Der Rat der EU, auch Ministerrat genannt, ist eines der Hauptorgane der Europäischen Union und dient der Repräsentation der Mitgliedstaaten. Im Unterschied zu den supranationalen (überstaatlichen) Organen – der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament (EP) – ist der Rat eine intergouvernementale Institution, das heißt, hier vertreten wie bei klassischen internationalen Organisationen die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre nationalen Interessen. Sie sind dafür ihren jeweiligen Parlamenten gegenüber verantwortlich. Der Rat der EU hat keine feste Zusammensetzung. Vielmehr kommen dort jeweils diejenigen Ministerinnen und Minister zusammen, die in ihren Ländern für den zur Verhandlung anstehenden Politikbereich zuständig sind. So treffen sich beispielsweise die Außenministerinnen und -minister im "Rat für Auswärtiges", die Ministerinnen und Minister für Wirtschaft und Finanzen im Rat für Wirtschaft und Finanzen. Insgesamt gibt es zehn unterschiedliche Formationen, die sich solchermaßen auf Ministerebene im Rat der EU zusammenfinden. Der "Rat für Allgemeine Angelegenheiten", hat neben der Behandlung verschiedener bereichsübergreifender Themen die Tagungen des Europäischen Rats vor- und nachzubereiten. Dieser Europäische Rat ist das Gremium, in dem sich die Staats- und Regierungschefs der EU versammeln, um die politischen Leitlinien in der EU festzulegen. Nicht mit ihm zu verwechseln und eine eigenständige Organisation außerhalb der EU ist der "Europarat". Ihm gehören 47 Mitgliedstaaten an, darunter auch viele Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz, die Türkei oder Russland. Die Treffen des Rates finden üblicherweise in Brüssel statt; in den Monaten April, Juni und Oktober versammeln sich die Ministerinnen und Minister hingegen in Luxemburg. Wie oft die Zusammenkünfte stattfinden, unterscheidet sich je nach Ratsformation und politischer Lage. Der Außenministerrat tagt in der Regel am häufigsten (15–18-mal pro Jahr). Danach folgten in den letzten Jahren der Rat für Wirtschaft und Finanzen – besonders ab 2010, als eine Staatsschulden-, Banken- und Wirtschaftskrise ("Eurokrise") die Europäische Währungsunion ergriff – und der Rat für Justiz und Inneres – vor allem als 2015 ein starker Anstieg der Migration in die Europäische Union ("Flüchtlingskrise") zu verzeichnen war. Hinzu kommen noch die "informellen Treffen" – bei denen also keine formellen Beschlüsse getroffen werden können – in dem Land, das gerade die Ratspräsidentschaft innehat. Die Abstimmungen zur EU-Gesetzgebung finden mittlerweile öffentlich statt. Bei solchen Ratssitzungen sind meistens fünf bis 20 unterschiedliche Themen auf der Agenda. Ein typisches Treffen des Rates für Auswärtige Angelegenheiten behandelt beispielsweise die Positionen der EU zu den USA, Russland, dem Westbalkan, dem Syrien-Konflikt, dem Iran, Venezuela, Mali, Sahel und Libyen. Diese verschiedenen Themen können allein aus Zeitgründen nicht in jedem Detail zwischen den 27 Außenministerinnen und -ministern ausgehandelt werden. Geschäftsordnung des Rates, eigene Zählung der Treffen 2019. Die Eurogruppe ist ein Sonderformat des Rates für Wirtschaft und Finanzen, in dem sich nur die entsprechenden Minister und Ministerinnen der Eurostaaten treffen. (© eigene Zählung der Treffen 2019) Unterhalb der Ministerebene werden daher alle Treffen des Rates so gründlich von den Mitgliedstaaten vorbereitet, dass die Minister und Ministerinnen nur noch über die umstrittensten und wichtigsten Punkte beraten müssen. Das zentrale Vorbereitungsgremium hierfür ist der "Ausschuss der Ständigen Vertreter" (AStV). Der AStV setzt sich aus den EU-Botschafterinnen und -Botschaftern der Mitgliedstaaten zusammen. Diese prüfen vor allen Tagungen des Rates die Agenda und versuchen soweit wie möglich Einigkeit herzustellen. Vor dem AStV befassen sich noch verschiedenste Ratsarbeitsgruppen mit allen Themen der anstehenden Ratssitzung. Die Ratspräsidentschaft führt auch den Vorsitz im AStV sowie, mit wenigen Ausnahmen, bei allen Ratsarbeitsgruppen. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament ist der Rat das Hauptbeschlussorgan der EU. Er hat fünf zentrale Aufgaben: die Abstimmung und Verabschiedung von EU-Gesetzgebung, die Koordination der Mitgliedstaaten, Entscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU, die Zustimmung zu internationalen Abkommen sowie, gemeinsam mit dem EP, die Verabschiedung des EU-Haushalts. Wie im Rat diese Entscheidungen getroffen werden, variiert je nach Politikbereich. In den meisten Bereichen entscheidet der Rat nach dem Verfahren der qualifizierten Mehrheit. Hier sind für die Annahme eines Beschlusses 55 Prozent der Mitgliedstaaten (also derzeit 15 von 27) notwendig, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren. Deutschland hat mit 18,5 Prozent den größten Anteil an der EU-Bevölkerung und damit das größte Stimmrecht, am kleinsten sind Malta (0,11 %) und Luxemburg (0,14 %). Eigene Berechnung auf Grundlage offizieller Informationen der EU. Nur öffentliche Abstimmungen wurden erfasst. (© Eigene Berechnung auf Grundlage offizieller Informationen der EU. Nur öffentliche Abstimmungen wurden erfasst.) Für besonders sensible Bereiche ist weiterhin Einstimmigkeit notwendig, wie etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik oder zur Steuerharmonisierung. Hier haben also alle EU-Mitgliedstaaten ein Veto-Recht. Ratsbeschlüsse mit qualifizierter Mehrheit sind auch für die Mitgliedstaaten bindend, die mit Nein stimmen. In der Praxis streben die Verhandelnden im Rat trotzdem in den meisten Fällen einen Kompromiss an, dem am Ende alle nationalen Regierungen zustimmen können. Im Durchschnitt wurden in den vergangenen Jahren daher über 80 Prozent der Abstimmungen im Rat im Konsens getroffen, also ohne Gegenstimme. Abstimmungen, bei denen mehrere Mitgliedstaaten überstimmt werden, sind dagegen eher eine Seltenheit. Am umstrittensten in den letzten Jahren war der Ratsbeschluss von 2015 zur Verteilung von Geflüchteten in der EU. In einer nicht-öffentlichen Abstimmung stimmten fünf EU-Staaten – Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Rumänien – dagegen, Finnland enthielt sich. * Den Rat "Auswärtige Angelegenheiten" leitet der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 714 035) Geschäftsordnung des Rates, eigene Zählung der Treffen 2019. Die Eurogruppe ist ein Sonderformat des Rates für Wirtschaft und Finanzen, in dem sich nur die entsprechenden Minister und Ministerinnen der Eurostaaten treffen. (© eigene Zählung der Treffen 2019) Eigene Berechnung auf Grundlage offizieller Informationen der EU. Nur öffentliche Abstimmungen wurden erfasst. (© Eigene Berechnung auf Grundlage offizieller Informationen der EU. Nur öffentliche Abstimmungen wurden erfasst.)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-04T00:00:00"
"2020-07-10T00:00:00"
"2022-02-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/312680/der-rat-der-europaeischen-union-zusammensetzung-und-aufgaben/
Im Rat der EU vertreten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre nationalen Interessen. Neben dem Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, und der Eurogruppe gibt es zehn Formationen auf Ministerebene, die gemeinsam über
[ "EU", "Rat der Europäischen Union" ]
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Jamal al-Khatib – My Path! (English) | Jamal al-Khatib X NISA | bpb.de
„I want to write a book to prevent other young people from going to Syria and joining the so-called Islamic State!“ These were the words of a young man in prison who was mentored by a social worker from the Jamal al-Khatib project team. Once part of the jihadi scene in Austria, he wanted to prevent other young people from repeating the mistakes he had made. This initiative gave rise to the Interner Link: web video project "Jamal al-Khatib - My Path!“ in 2017. Other formers, as well as young people who had shown resilience to jihadist narratives during the "high phase" of the so-called Islamic State joined the team. Their experiences form the basis for the contents of the project. The initial project team of social workers and Islamic scholars was joined by experts from fields such as political science, sociology, psychology, psychotherapy, educational science, filmmaking, digital content management and more. Jamal al-Khatib - My Path! was created, a participatory online P/CVE project which addresses ideologies of political inequality based on authentic alternative narratives. Between 2019 and 2022, the second, third and fourth seasons of Jamal al-Khatib - My Path! were launched on behalf of the Federal Agency for Civic Education (Bundeszentrale für politische Bildung/bpb). In the course of the project, different online formats were produced, such as longer autobiographical videos as well as animations and interview formats. The contents question the propaganda of jihadist-Islamist movements and counter them with alternative narratives. At the same time, a low-threshold youth social work program was created offline, not least to do justice to the methodological approach of empowering youths and young adults to have their own say and to take part in a discourse that is relevant to them. The project has three main target groups: Offline target group: The project sees itself as a multi-professional association in which online videos and other content are produced based on texts that are developed together with young adults, some of them formers from the jihadi scene. The content is disseminated via social media online campaigns, kicking off the start of digital youth and social work. Online target groups: The Jamal al-Khatib - My Path! online phase is intended to reach adolescents and young adults who are vulnerable to jihadist online propaganda for various reasons; particularly those that may come across extremist content(s), online channels and networks via search queries on topics related to their everyday lives. In addition, the aim is to reach young people who already sympathise with jihadist groups and narratives and dwell in social media filter bubbles specific to the islamist-jihadist scene. Furthermore, the content of the project is intended to support practitioners in addressing the issues raised in different pedagogical settings. This includes digital youth and social workers who can use the content in the course of online P/CVE. In 2020, the project received the BRaVE Award by a consortium of experts from universities and civil society organisations from across Europe, whose aim was to explore how and why violent extremism develops and what can be done to best respond to it. The award highlighted the best projects seeking to counter polarisation and violent extremism through resilience-building. The award money has now been used to translate and re-record four of the project’s most important videos into English. The videos are Takfir, Shirk & Democracy, Resistance & BESA, and Terror: all autobiographical short films with documentary elements that are weighted differently depending on the video. Additionally, educational material was produced, so that practitioners can use the videos in different educational settings. Find more information in this Interner Link: file on „Theoretical and pedagogical handout for the participatory online P/CVE project in the field of extremism prevention“. Videos Takfir Shirk & Democracy Resistance & BESA Terror
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-07-17T00:00:00"
"2023-06-16T00:00:00"
"2023-07-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/webvideo/jamal/522071/jamal-al-khatib-my-path-english/
Thanks to the BRaVE Award the project received, we were able to translate and re-record four of the videos into English and produce an English version of the accompanying educational material.
[ "Islamismus", "Antisemitismus", "Extremismus", "Rechtsextremismus", "Djihadismus", "Salafismus", "Islamischer Staat" ]
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Respekt. Eine Frage der Ehre? | Presse | bpb.de
Der Begriff "Respekt" spielt in der Jugendsprache und im jugendlichen Alltag in unterschiedlichen Facetten eine große Rolle. Und obwohl Respekt gerade für Jugendliche ein wertvolles Gut darstellt, ist ein respektvoller Umgang untereinander und die gegenseitige Anerkennung im Alltag nicht immer angesagt. Respekt hat in der Sprache der Jugendlichen viele Bedeutungen, u. a. Achtung, Fairness, Anerkennung, Toleranz, Vorsicht und Prestige. Respektloses Verhalten dagegen kann mit den Begriffen Geringschätzung, Demütigung, Kränkung oder Misshandlung beschrieben werden. Respekt entfaltet seine Wirkung aber nicht nur im privaten Raum oder unter Freunden: Auch die Grundlagen einer funktionierenden Gesellschaft basieren auf reinem respektvollen Miteinander, auf Gleichheit und Gerechtigkeit. Die neue Ausgabe "Respekt. Eine Frage der Ehre?" der Reihe "Entscheidung im Unterricht" der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb beleuchtet deshalb das Thema "Respekt" und seine Bedeutung für jugendliche Lebenswelten und unsere Gesellschaft. "Entscheidung im Unterricht" ist ein integriertes Lernkonzept von WDR Planet-Schule und der bpb, das besonders für den Einsatz im Politikunterricht an Haupt- und Berufsschulen entwickelt wurde. Das Unterrichtspaket mit einem Lehrerheft und einer DVD (beinhaltet "Problem-Film", "Info-Module" und "Ergebnis-Film") ist variabel einsetzbar und bietet die Möglichkeit, das jeweilige Thema in ein bis vier Unterrichtsstunden zu behandeln. Das Konzept greift Themen unmittelbar aus dem Leben der Jugendlichen auf. Es geht um Freundschaft und Konflikte, um Gewalt und Drogen, Lehrstellensuche und Schulden – kurz: Probleme, die die Jugendlichen tatsächlich zu lösen zu haben. Den Ausgangspunkt für "Entscheidung im Unterricht" liefern immer wahre Begebenheiten. Entscheidung im Unterricht Nr.02/2011 – Respekt. Eine Frage der Ehre Erscheinungsdatum: 02.02.2012 Bestellnummer: 2478 Bereitstellungspauschale: 1,50 Euro Interner Link: www.bpb.de/talkshow Kontakt für inhaltliche Rückfragen Wiebke Kohl Fachbereich Politikferne Zielgruppen E-Mail Link: wiebke.kohl@bpb.de Interner Link: Pressemitteilung (PDF-Version: 78 KB) Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-08T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/62486/respekt-eine-frage-der-ehre/
Die neue Ausgabe "Respekt. Eine Frage der Ehre?" der Reihe "Entscheidung im Unterricht" der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb beleuchtet das Thema "Respekt" und seine Bedeutung für jugendliche Lebenswelten und unsere Gesellschaft.
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Hindernisse auf dem Weg zur Wahl | USA | bpb.de
Während die föderalen Wahlrechtsreformen der 1960er Jahren bewirken sollten, dass alle US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürger wählen können, hat sich in den letzten 15 Jahren das Blatt gewendet: Immer mehr Bundesstaaten haben zahlreiche Restriktionen umgesetzt. Öffentlich als Schritte zur Wahrung der Legitimität der Wahlen und Abwendung von Wahlbetrug dargestellt, verfolgen diese Einschränkungen jedoch oftmals das Ziel, spezifischen Teilen der Bevölkerung die Teilnahme an Wahlen zu erschweren. Der Flickenteppich des US-amerikanischen Wahlrechts Die Hürden auf dem Weg zur Wahl (Interner Link: Grafik als PDF zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Entsprechend Artikel 1, Abschnitt 4 der Verfassung dürfen die Einzelstaaten darüber bestimmen, wie sie Wahlen durchführen und wie sie den Kongress besetzen. Zwar kann die Bundeslegislative Vorgaben stellen, doch in der Realität verfügen die Einzelstaaten über ein großes Maß an Handlungsspielraum. Ein zentrales Dokument der letzten Jahrzehnte zum Schutz des Wahlrechts von Minderheiten lässt sich im Voting Rights Act (VRA) von 1965 finden. Als einer der zentralen Pfeiler sollte sich folgende Vorgabe herausstellen: Spezifische Einzelstaaten und Landkreise, in denen Minderheiten die Teilnahme an Wahlen bis in die 1960er Jahre größtenteils verwehrt worden war, mussten sich nach 1965 für jede Änderung ihres Wahlrechts vom Justizministerium in Washington, D.C. die vorherige Zustimmung einholen (Preclearance). Ein Ende fand diese Vorgabe im Sommer 2013 aufgrund der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) im Fall Shelby County v. Holder: Der Vorsitzende argumentierte, die Methode zur Festlegung der "Preclearance"-Einzelstaaten basiere auf nunmehr überholten Daten bezüglich der Diskriminierung von Minderheiten. Als Beweis des diesbezüglichen Rückgangs wurde die enorm gestiegene Zahl registrierter schwarzer Wählerinnen und Wähler in den entsprechenden Regionen eingebracht; Teile des VRA, die einen föderalen Eingriff hinsichtlich lokaler Änderungen des Wahlrechts ermöglichten, wurden folglich als verfassungswidrig deklariert. Ein Vergleich zwischen 2 Staaten (Interner Link: Grafik als PDF zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Kritische Stimmen wiesen darauf hin, dass hingegen der durch das Justizministerium gewährleistete Schutz heute insbesondere im US-amerikanischen Süden relevanter als in den Jahren des späten 20. Jahrhunderts ist. Bis Ende der 1990er Jahre regierten in den Südstaaten insbesondere auch dank der Unterstützung schwarzer Wählerinnen und Wähler auf der Landesebene die Demokraten. Der stete Aufstieg der Republikaner in der Region führte hingegen zur Jahrtausendwende zu einem dortigen Wechsel der Mehrheitsverhältnisse. Schwarze Wählerinnen und Wähler befanden sich fortan in einer für sie nachteiligen Situation, denn die Partei an den Hebeln der Macht besaß ein grundlegendes Interesse daran, die afro-amerikanische Teilnahme an Wahlen zu erschweren. Die Kritikerinnen und Kritiker des Supreme Court-Urteils sollten Recht behalten. Innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Bekanntgabe wurden in fünf der neun Staaten, die vormals die Einwilligung des Bundesjustizministeriums einholen mussten, restriktivere Vorgaben hinsichtlich ihres Wahlrechts umgesetzt. In den Folgejahren wurden in den nunmehr von der föderalen Aufsicht befreiten Einzelstaaten ebenso prozentual mehr Wählerinnen und Wähler aus den Landeswahlregistern gestrichen als im Rest des Landes. Umsetzung von Restriktionen in den letzten beiden Jahrzehnten Die wochenlange Unsicherheit über den Wahlausgang nach der Präsidentschaftswahl 2000 zeigte die Notwendigkeit grundlegender Neuregelungen des Wahlprozesses auf. 2002 verabschiedete der Kongress den Help America Vote Act (HAVA), dessen Autorinnen und Autoren vom Vorsatz geleitet waren, die Teilnahme an Wahlen zu erleichtern und gleichzeitig Wahlbetrug zu erschweren. Dank HAVA können Einzelstaaten bis heute Bundesmittel bei der Modernisierung ihrer elektoralen Infrastruktur erhalten. Gleichzeitig schrieb der Akt parallel die Erstellung von Wahlregistern auf Landesebene vor. Ebenso verfügt HAVA, dass Erstwählerinnen und Erstwähler, die sich über den Postweg für die Teilnahme an Wahlen registriert haben, im Wahllokal bei ihrem ersten Urnengang einen Ausweis vorzeigen müssen. Verschiedene Einzelstaaten haben seitdem eine restriktive Handhabung der Ausweisung am Wahltag umgesetzt. 2005 führten Indiana und Georgia als erste Einzelstaaten eine "strikte" Pflicht zur Vorlage eines Lichtbildausweises ein – ohne diesen sollte die Teilnahme an Wahlen verwehrt bleiben. Mitte 2020 ließen sich insgesamt sechs Einzelstaaten vorfinden, in denen solch eine Vorgabe existiert. Die Mehrheit der Bundesstaaten schreibt zwar eine Ausweisung vor, jedoch können potenzielle Wählerinnen und Wähler beispielsweise durch eine eidesstattliche Erklärung zur Bestätigung ihrer Identität die Vorlage eines Lichtbildausweises oder Dokuments umgehen. Die Hürden auf dem Weg zur Wahl (Interner Link: Grafik als PDF zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Ein Vergleich zwischen 2 Staaten (Interner Link: Grafik als PDF zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Ein anderer Weg, Personen von der Wahlurne fernzuhalten, ist die Entfernung des Namens aus dem Wahlregister. Diese werden in regelmäßigen zeitlichen Abständen "bereinigt" und somit aktualisiert. Manche Bundestaaten betreiben diese Löschung potenzieller Karteileichen jedoch besonders aggressiv. So beispielsweise der klassische Swing State Ohio. Nehmen dortige Wählerinnen und Wähler an zwei aufeinanderfolgenden Wahlen innerhalb von zwei Jahren nicht teil, erhalten sie einen Brief mit der Aufforderung, die aktuelle Adresse zu bestätigen. Bleibt eine Antwort aus und nimmt die betroffene Person weiterhin an Wahlen für die darauffolgenden vier Jahre nicht teil, erlischt der Eintrag im Wahlregister. Überproportional betroffen sind dementsprechend Gruppen, deren Wahlbeteiligung traditionell geringer ist: Ethnische Minderheiten oder auch Personen aus prekären sozialen Verhältnissen. Die Interpretation des Wahlrechts als Grundrecht oder andererseits Privileg, für dessen Ausübung gewisse Hürden in Kauf genommen werden sollten, spaltet die US-amerikanische Politik auf der Basis der parteipolitischen Zugehörigkeit. So wurden beispielsweise zwischen 2005 und 2015 alle Gesetze zur Einführung einer strikten Vorlage des Lichtbildausweises in Einzelstaaten mit Republikanischen Mehrheiten umgesetzt. Allgemein sehen die beiden großen politischen Lager die Ausübung des Wahlrechts aus grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven: Während sich Demokratische Wählerinnen und Wähler mehrheitlich für eine Erleichterung der Teilnahme an Wahlen aussprechen, befürworten Anhängerinnen und Anhänger der Republikaner eine deutlich restriktivere Handhabung. Fast 80 Prozent aller Demokraten unterstützen beispielsweise ein System der automatischen Registrierung zu Wahlen, entsprechend dessen Interaktionen mit bestimmten staatlichen Behörden automatisch zur Hinzufügung des Namens in das Landeswählerregister führen. Die Konsequenzen der Einschränkungen des Wahlrechts Ein genauer Blick legt offen, dass die Vorgabe der "strikten" Ausweispflicht gerade ethnische Minderheiten vor eine weitere Hürde bei der Nutzung des Wahlrechts stellt. Während acht Prozent aller weißen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner nicht über einen von einer staatlichen Behörde ausgestellten Lichtbildausweis verfügen, liegt dieser Anteil unter Afro-Amerikanerinnen und Afro-Amerikanern bei 25 Prozent. Insgesamt gaben in einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2018 sowohl schwarze US-Amerikanerinnen und -Amerikaner als auch Hispano-Amerikanerinnen und -Amerikaner häufiger als ihre weißen Pendants an, dass ihnen die Wahl aus verschiedenen Gründen erschwert wird. Von der Möglichkeit, Tage oder Wochen vor der Wahl bereits die Stimme abzugeben (dem sogenannten Early Voting), machen ebenso eher Minderheiten Gebrauch: In Ohio war 2012 der Anteil der vorzeitigen Wählerinnen und Wählern unter der schwarzen doppelt so hoch wie innerhalb der weißen Wählerschaft. Early Voting ist gerade dadurch relevant, dass die Wahlen werktags stattfinden und somit die Werktätigkeit mit der Stimmabgabe kollidieren kann. Auch hier haben in den letzten Jahren Republikanische Landeskammern oftmals eine Reduzierung umgesetzt. In Florida wurde 2011 das Zeitfenster der frühen Stimmabgabe von 14 auf 8 Tage reduziert, eine Maßnahme die insbesondere unter Minderheiten die Wahlbeteiligung reduzierte. In North Carolina entschied 2018 die dortige Republikanischen Mehrheit die Zahl der Wahllokale für die vorzeitige Wahlteilnahme um 20 Prozent zu reduzieren. InfoDer Ausbau der Briefwahl inmitten der Corona-Pandemie Vor dem Ausbruch des COVID-19-Virus konnten in 34 Einzelstaaten sowie Washington, D.C. Briefwahlunterlagen ohne die Angabe von Gründen angefordert werden. Mitte August 2020 ließen sich andererseits weiterhin sieben Einzelstaaten vorfinden, in denen Briefwahlunterlagen nur mit einem validen Grund (beispielsweise ein Aufenthalt außerhalb des Wohnortes am Wahltag) angefordert werden konnten und in denen gesundheitliche Bedenken hinsichtlich der Pandemie als nicht ausreichender Anlass gesehen wurden. Zu diesem Zeitpunkt betraf dies ungefähr 52 Millionen Wählerinnen und Wähler, die im Falle einer Wahlteilnahme potenziell keine andere Option besitzen, als persönlich in einem Wahllokal zu erscheinen. Insgesamt hatten bis Mitte August bereits 20 Einzelstaaten und Washington, D.C. als Reaktion auf die Pandemie die Teilnahme an Wahlen auf dem Postweg erleichtert. So entschied sich beispielsweise mit Kalifornien der bevölkerungsreichste Staat der USA, die anstehenden Wahlen (fast) vollständig über die Briefwahl zu organisieren. Eine der grundlegenden Herausforderungen dieser Reformen hinsichtlich der Wahrung der demokratischen Legitimität stellt der vergleichsweise hohe Anteil an abgelehnten Briefwahlstimmen dar (beispielsweise aufgrund des Fehlens der Unterschrift oder eines Poststempels, der den rechtzeitigen Versand bestätigt). Im Falle eines knappen Wahlausganges könnten mehrere Wochen verstreichen, bis Klarheit hinsichtlich des Siegers der Präsidentschaftswahl herrscht. Im Bundesstaat New York dauerte es in den dortigen Vorwahlen im Sommer beispielsweise sechs Wochen, bevor amtliche Endergebnisse vorlagen. Zudem werden aller Voraussicht nach erheblich mehr Demokratische als Republikanische Wählerinnen und Wähler per Brief abstimmen. Dies könnte potenziell Wochen nach dem Wahltag zu Verschiebungen der Mehrheitsverhältnisse führen. Fußnoten National Conference of State Legislatures (2020): States with No-Excuse Absentee Voting. Externer Link: https://www.ncsl.org/research/elections-and-campaigns/vopp-table-1-states-with-no-excuse-absentee-voting.aspx. Stand: 15. August 2020. RABINOWITZ, Kate / MAYES, Brittany Renee (2020): At least 77% of American voters can cast ballots by mail in the fall. In: Washington Post, 27. Juli. Externer Link: https://www.washingtonpost.com/graphics/2020/politics/vote-by-mail-states/. WHITE, Jeremy B. (2020): California becomes first state to switch November election to all-mail balloting. In: Politico, 8. Mai. Externer Link: https://www.politico.com/states/california/story/2020/05/08/california-becomes-first-state-to-make-november-an-all-mail-ballot-election-1283238. SHINO, Enrijeta u. a. (2020): Here’s the problem with mail-in ballots: They might not be counted. In: Washington Post, 21. Mai. Externer Link: https://www.washingtonpost.com/politics/2020/05/21/heres-problem-with-mail-in-ballots-they-might-not-be-counted/. SIEGEL, Benjamin (2020): Why President Trump keeps talking about a New York Democratic primary. In: ABC News, 11. August, Externer Link: https://abcnews.go.com/Politics/president-trump-talking-york-democratic-primary/story?id=72172120. HASEN, Rick (2020): In Pennsylvania’s Recent Primary, More Democrats Voted by Mail and More Republicans in Person: Big National Implications for November. Election Law Blog, 18. Juni. Externer Link: https://electionlawblog.org/?p=112359. Eine weitere fundamentale Einschränkung lässt sich bei dem Entzug des Wahlrechts für Schwerverbrecherinnen und Schwerverbrecher ("Felons") finden. Einzig Maine und Vermont erlauben inhaftieren Felons weiterhin von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Nur 16 Einzelstaaten geben ihnen nach dem Ende der Haft unverzüglich ihr Wahlrecht wieder zurück, während zwölf Einzelstaaten auf der Basis der Schwere des Verbrechens manchen ehemaligen Inhaftierten dauerhaft das Wahlrecht entziehen. Im Jahr 2016 wurde somit über sechs Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern aufgrund krimineller Handlungen die Nutzung des Wahlrechts verwehrt. Auch hier sind schwarze Bürgerinnen und Bürger besonders betroffen: Entsprechend Daten aus dem Jahr 2016 hatten über sieben Prozent der potenziell wahlberechtigen Afro-Amerikanerinnen und Afro-Amerikaner auf diesem Weg ihr Wahlrecht verloren. Unter allen anderen US-Bürgerinnen und -Bürgern lag dieser Wert hingegen bei 1,8 Prozent. Wahlbetrug – ein größtenteils irrelevantes Problem In einem Land ohne Meldepflicht besteht das Potenzial der mehrfachen Teilnahme an Wahlen, sollten Bürgerinnen und Bürger beispielsweise in verschiedenen Einzelstaaten auf den jeweiligen Wahlregistern stehen. "Strikte" Ausweisvorschriften zur Unterbindung der Wahlteilnahme mit einer falschen Identität adressieren jedoch ein nicht-existentes Problem: Bei einer Milliarde abgegebenen Stimmen in allen US-amerikanischen Wahlen zwischen den Jahren 2000 und 2014, ließen sich nur 31 solcher Fälle vorfinden. Trotz dieser Beweislage wird das Thema der Nutzung des Wahlrechts einer der großen Streitpunkte zwischen Demokraten und Republikanern bleiben – mit den damit verbundenen grundlegenden Konsequenzen für den Zustand der US-amerikanischen Demokratie. Vor dem Ausbruch des COVID-19-Virus konnten in 34 Einzelstaaten sowie Washington, D.C. Briefwahlunterlagen ohne die Angabe von Gründen angefordert werden. Mitte August 2020 ließen sich andererseits weiterhin sieben Einzelstaaten vorfinden, in denen Briefwahlunterlagen nur mit einem validen Grund (beispielsweise ein Aufenthalt außerhalb des Wohnortes am Wahltag) angefordert werden konnten und in denen gesundheitliche Bedenken hinsichtlich der Pandemie als nicht ausreichender Anlass gesehen wurden. Zu diesem Zeitpunkt betraf dies ungefähr 52 Millionen Wählerinnen und Wähler, die im Falle einer Wahlteilnahme potenziell keine andere Option besitzen, als persönlich in einem Wahllokal zu erscheinen. Insgesamt hatten bis Mitte August bereits 20 Einzelstaaten und Washington, D.C. als Reaktion auf die Pandemie die Teilnahme an Wahlen auf dem Postweg erleichtert. So entschied sich beispielsweise mit Kalifornien der bevölkerungsreichste Staat der USA, die anstehenden Wahlen (fast) vollständig über die Briefwahl zu organisieren. Eine der grundlegenden Herausforderungen dieser Reformen hinsichtlich der Wahrung der demokratischen Legitimität stellt der vergleichsweise hohe Anteil an abgelehnten Briefwahlstimmen dar (beispielsweise aufgrund des Fehlens der Unterschrift oder eines Poststempels, der den rechtzeitigen Versand bestätigt). Im Falle eines knappen Wahlausganges könnten mehrere Wochen verstreichen, bis Klarheit hinsichtlich des Siegers der Präsidentschaftswahl herrscht. Im Bundesstaat New York dauerte es in den dortigen Vorwahlen im Sommer beispielsweise sechs Wochen, bevor amtliche Endergebnisse vorlagen. Zudem werden aller Voraussicht nach erheblich mehr Demokratische als Republikanische Wählerinnen und Wähler per Brief abstimmen. Dies könnte potenziell Wochen nach dem Wahltag zu Verschiebungen der Mehrheitsverhältnisse führen. Fußnoten National Conference of State Legislatures (2020): States with No-Excuse Absentee Voting. Externer Link: https://www.ncsl.org/research/elections-and-campaigns/vopp-table-1-states-with-no-excuse-absentee-voting.aspx. Stand: 15. August 2020. RABINOWITZ, Kate / MAYES, Brittany Renee (2020): At least 77% of American voters can cast ballots by mail in the fall. In: Washington Post, 27. Juli. Externer Link: https://www.washingtonpost.com/graphics/2020/politics/vote-by-mail-states/. WHITE, Jeremy B. (2020): California becomes first state to switch November election to all-mail balloting. In: Politico, 8. Mai. Externer Link: https://www.politico.com/states/california/story/2020/05/08/california-becomes-first-state-to-make-november-an-all-mail-ballot-election-1283238. SHINO, Enrijeta u. a. (2020): Here’s the problem with mail-in ballots: They might not be counted. In: Washington Post, 21. Mai. Externer Link: https://www.washingtonpost.com/politics/2020/05/21/heres-problem-with-mail-in-ballots-they-might-not-be-counted/. SIEGEL, Benjamin (2020): Why President Trump keeps talking about a New York Democratic primary. In: ABC News, 11. August, Externer Link: https://abcnews.go.com/Politics/president-trump-talking-york-democratic-primary/story?id=72172120. HASEN, Rick (2020): In Pennsylvania’s Recent Primary, More Democrats Voted by Mail and More Republicans in Person: Big National Implications for November. Election Law Blog, 18. Juni. Externer Link: https://electionlawblog.org/?p=112359. National Conference of State Legislatures (2020): States with No-Excuse Absentee Voting. Externer Link: https://www.ncsl.org/research/elections-and-campaigns/vopp-table-1-states-with-no-excuse-absentee-voting.aspx. Stand: 15. August 2020. RABINOWITZ, Kate / MAYES, Brittany Renee (2020): At least 77% of American voters can cast ballots by mail in the fall. In: Washington Post, 27. Juli. Externer Link: https://www.washingtonpost.com/graphics/2020/politics/vote-by-mail-states/. WHITE, Jeremy B. 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Externer Link: https://electionlawblog.org/?p=112359. Siehe das Urteil des Supreme Court vom 25. Juni 2013, Externer Link: https://www.supremecourt.gov/opinions/12pdf/12-96_6k47.pdf (Abruf am 25.7.2020). NEWKIRK II, Vann R. (2018): How Shelby County v. Holder broke America. In: The Atlantic, 10. Juli, Externer Link: https://www.theatlantic.com/politics/archive/2018/07/how-shelby-county-broke-america/564707/ (Abruf am 25.7.2020). CHILDRESS, Sarah (2013): With Voting Rights Act out, states push Voter ID laws. In: PBS, 26. Juni, Externer Link: https://www.pbs.org/wgbh/frontline/article/with-voting-rights-act-out-states-push-voter-id-laws/ (Abruf am 25.7.2020). Siehe die sogenannten "Purge Rates" in MORRIS, Kevin (2019): Voter purge rates remain high, analysis finds. In: Brennan Center for Justice, 21. August, Externer Link: https://www.brennancenter.org/our-work/analysis-opinion/voter-purge-rates-remain-high-analysis-finds (Abruf am 17.7.2020). Commission on Federal Election Reform (2005): Building confidence in U.S. elections, S. 2, Externer Link: https://www.legislationline.org/download/id/1472/file/3b50795b2d0374cbef5c29766256.pdf (Abruf am 25.7.2020). United States Government Accountability Office (2014): Issues related to state voter identification laws, S. 2. UNDERHILL, Wendy (2020): Voter identification requirements. In: National Conference on State Legislatures, 7. Juli, Externer Link: https://www.ncsl.org/research/elections-and-campaigns/voter-id.aspx (Abruf am 18.7.2020). Im Sommer 2018 ließen sich neun Einzelstaaten vorfinden, die aufgrund der Nichtteilnahme an Wahlen den Prozess des Entfernens aus dem Wahlregister einleiteten. CAPUTO, Angela / HING, Geoff / KAUFFMAN, Johnny (2018): They didn’t vote ... now they can’t. In: American Public Media Reports, 19. Oktober, Externer Link: https://www.apmreports.org/story/2018/10/19/georgia-voter-purge (Abruf am 19.7.2020). BORUCKI, Isabelle (2020): Häufig gestellte Fragen zur US-Präsidentschaftswahl 2020. Interner Link: https://www.bpb.de/internationales/amerika/usa/313407/faq (Abruf am 19.08.2020). SULLIVAN, Andy / SMITH, Grant (2016): Use it or lose it: Occasional Ohio voters may be shut out in November. In: Reuters, 2. Juni, Externer Link: https://www.reuters.com/article/us-usa-votingrights-ohioinsight/use-it-or-lose-it-occasional-ohio-voters-may-be-shut-out-in-november-idUSKCN0YO19D (Abruf am 18.7.2020). HIGHTON, Benjamin (2017): Voter Identification laws and turnout in the United States. In: Annual Review of Political Science 20, S. 146-167, hier S. 153. Für weitere diesbezügliche Informationen siehe Brennan Center for Justice (2019): Automatic Voter Registration, a summary. 10. Juli, Externer Link: https://www.brennancenter.org/our-work/research-reports/automatic-voter-registration-summary (Abruf am 18.7.2020). JOHNSON, Theodore R. / FELDMAN, Max (2020): The new voter suppression. In: Brennan Center for Justice, 16. Januar, Externer Link: https://www.brennancenter.org/our-work/research-reports/new-voter-suppression (Abruf am 15.7.2020). American Civil Liberties Union (2020): Cutting early voting is voter suppression, Externer Link: https://www.aclu.org/issues/voting-rights/cutting-early-voting-voter-suppression (Abruf am 15.7.2020). HERRON, Michael C. / SMITH, Daniel A. (2014): Race, party, and the consequences of restricting early voting in Florida in the 2012 general election. In: Political Research Quarterly 67(3), S. 646-665. PETERSON, Blake (2018): Bipartisan furor as North Carolina election law shrinks early voting locations by almost 20 percent. In: ProPublica, 24. September, Externer Link: https://www.propublica.org/article/bipartisan-furor-as-north-carolina-election-law-shrinks-early-voting-locations-by-almost-20-percent (Abruf am 15.7.2020). UGGEN, Christopher / LARSON, Ryan / SHANNON, Sarah (2016): 6 million lost voters: State-Level estimates of felony disenfranchisement, 2016. In: The Sentencing Project, 6. Oktober, Externer Link: https://www.sentencingproject.org/publications/6-million-lost-voters-state-level-estimates-felony-disenfranchisement-2016/ (Abruf am 18.7.2020). Für mehr Informationen zum sogenannten "Double Voting" siehe National Conference of State Legislatures, Externer Link: https://www.ncsl.org/research/elections-and-campaigns/double-voting.aspx (Abruf am 15.7.2020). LEVITT, Justin (2014): A comprehensive investigation of voter impersonation finds 31 credible incidents out of one billion ballots cast. In: Washington Post, 6. August, Externer Link: https://www.washingtonpost.com/news/wonk/wp/2014/08/06/a-comprehensive-investigation-of-voter-impersonation-finds-31-credible-incidents-out-of-one-billion-ballots-cast/ (Abruf am 15.7.2020).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-05T00:00:00"
"2020-08-24T00:00:00"
"2022-02-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/314474/hindernisse-auf-dem-weg-zur-wahl/
Wählen ist in den USA Ländersache – und in vielen Bundesstaaten alles andere als einfach. Was für die einen ein Grundrecht ist, ist für die anderen ein Privileg. Die Interpretation des Wahlrechts spaltet bis heute die politischen Lager.
[ "Wahlen", "US-Präsidentschaftswahl", "US-Wahl", "Wahlrecht", "US-Bundesstaaten" ]
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Einfach war gestern. Zur Strukturierung der politischen Realität in einer modernen Gesellschaft - Essay | Extremismus | bpb.de
Einleitung Unmittelbar nach dem Passus über Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Privatpiloten erklären die Regierungsparteien im aktuellen Koalitionsvertrag, sie wollten gewalttätige und extremistische Formen der politischen Auseinandersetzung nicht hinnehmen und "Extremismen jeder Art, seien es Links- oder Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Islamismus", entgegentreten, um die "Grundwerte der pluralen Gesellschaft, insbesondere die freie Entfaltung der Person, Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit" als konstitutive Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung "zu schützen und zu verteidigen". In einem Koalitionsvertrag muss Extremismus nicht erklärt werden, da davon ausgegangen wird, dass der Begriff im öffentlichen politischen Diskurs besetzt ist. Zur Begrifflichkeit tragen Berichte über Polizisten, die aus Demonstrationen heraus mit Sprengkörpern "Marke Eigenbau" beworfen werden, ebenso bei wie Bilder randalierender rechtsextremistischer Demonstranten oder Mutmaßungen über Jugendliche islamischen Glaubens, die als Anhänger einer radikalen Richtung des Islam wie des militanten Salafismus als potenzielle islamistische Terroristen gelten. Wenn dann ein oberstes Gericht dem Verfassungsschutz bestätigt, dass der Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke in Thüringen Bodo Ramelow öffentlich beobachtet werden darf, weil es in dessen Partei organisierten politischen Extremismus gäbe, dann verfestigt sich der Eindruck, dass "politischer Extremismus" einen Feind bezeichnet, gegen den angegangen werden muss, weil sonst die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt werden würde. Kann dieser Begriff deshalb tabuisiert werden - oder ist er nicht doch entbehrlich? Offensichtlich ist Extremismus im politischen Kontext ein eindeutig interessengeleiteter Begriff zur Auseinandersetzung mit diversen politischen Phänomenen. Ist er das als sozialwissenschaftlicher Begriff auch? Ist politischer Extremismus als Schnittmenge aller Extremismen die Grundlage dafür, eine Identität von sogenannten linken und rechten Extremismen zu behaupten? Politisch motivierte Gewaltausübung gegen Sachen wie gegen Personen kann nicht akzeptiert werden. Was jedoch haben sowohl polemische bis abfällige Äußerungen über die Verfassung als auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern verschiedener politischer Richtungen mit der Gefährdung der Demokratie zu tun? Werden dadurch nicht strafrechtlich zu verfolgende Taten zu politischen aufgewertet und damit das Selbstverständnis der jeweiligen Akteure bedient? Extremismusbegriff Extremismus geht auf "extremus" und "extremitas" zurück. Ersteres bedeutet äußerst, entferntest, aber auch der ärgste, gefährlichste; letzteres bedeutet der äußerste Punkt, Rand. Eine Position gilt als umso extremer, je weiter entfernt sie von einer - ideellen - Mitte ist. In jeder Gesellschaft gibt es individuelle extreme Positionen, doch als politisch extremistisch gelten im politischen Kontext solche, die sich - als politische Strömungen - an den Rändern des politischen Spektrums befinden oder sich in diese Richtung bewegen. Diese Vorstellung basiert auf der Annahme, dass das politische Spektrum einer Gesellschaft linear auf einer eindimensionalen Recht-Links-Achse abgebildet werden kann. Zwar ordnen bei Befragungen Wähler sowohl sich selbst als auch die Parteien nach diesem Schema ein, aber damit sind die Probleme dieses Modells nicht gelöst. Es wird der Komplexität der Gesellschaft nicht gerecht, da es statisch ist und mit der Reduktion auf "rechts" und "links" die Konfliktstruktur der Gesellschaft nur bedingt widerspiegelt. Politischer Extremismus wird nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern als Randphänomen verortet und die - tatsächlich oder vermeintlich - von ihm ausgehende Bedrohung für den Kern der Verfassungsordnung zu seinem Alleinstellungsmerkmal gemacht. Zudem wird nicht deutlich, nach welchen Kriterien die Übergänge zwischen der jeweiligen extremen Position und der Mitte bestimmt werden, wie also im rechten Spektrum die Positionen zwischen den beiden Extremen "Mitte" und "rechter Rand" verortet werden und wie sich der Übergang zu radikalen und weiter zu extremen Positionen vollzieht. Denn die Mitte wird selbst zur extremen Position, wenn auf der Achse die beiden Teilspektren links und rechts abgetragen werden. Wer sich als Mitte definiert, erhebt zugleich den Anspruch, diese und damit zugleich die Mehrheit zu repräsentieren. Ob diese Mitte oder Mehrheit tatsächlich "gut" ist, kann bezweifelt werden. Denn auch sie können zu extremen Positionen tendieren: "Fühlt die Mehrheit sich gefährdet, ist sie bereit, alle Vernunft und Gesetzlichkeit über Bord zu werfen, wie die Akzeptanz des Nationalsozialismus zeigt." Schließlich ist der Nationalsozialismus aus der Mitte der deutschen Gesellschaft heraus groß geworden, und auch heute entspringt der Rechtsextremismus zum Teil der Mitte der Gesellschaft, das heißt dem Ort, an welchem die sind, die durch Verunsicherung, Zukunftsangst und Orientierungsprobleme veranlasst sind, sich rechtsextremistischen Deutungs- und Problemlösungsangeboten zu öffnen. Politischer Extremismus ist kein Sammelbegriff für alle extremen Positionen im politischen Spektrum. Eine Partei mit strikter marktliberaler Orientierung, die allein dem Markt die Regelung letztlich auch der gesellschaftlichen Verhältnisse überlassen will, gilt keineswegs als politisch extrem, selbst wenn in diesem Fall die Politik faktisch durch die Ökonomie dominiert wird. Als extremistisch gelten explizit die Positionen im Links-Rechts-Spektrum, denen unterstellt wird, dass sie sich programmatisch wie auch rhetorisch gegen den "demokratischen Verfassungsstaat" richten. Diese Auffassung wird durch das Konzept der "wehrhaften" oder "streitbaren" Demokratie legitimiert. Der Staatsrechtler Carlo Schmid hatte 1946 bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates über das Grundgesetz gefragt, ob Freiheit und Gleichheit "auch denen eingeräumt werden (sollen), deren Streben ausschließlich darauf geht, nach der Ergreifung der Macht die Freiheit selbst auszurotten". Seine Antwort war, dass dann, wenn man den Mut habe zu glauben, dass die Demokratie "etwas für die Würde des Menschen Notwendiges sei", auch "den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen (muss), die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen". Diese Haltung wurde von den Erfahrungen der Weimarer Republik, der entstehenden Blockkonfrontation, der Existenz einer politisch aktiven kommunistischen Partei und Zweifeln an der Akzeptanz der von den Besatzungsmächten initiierten Entwicklung zur Demokratie geprägt. Verfassungswidrigkeit als Kriterium 1952 definierte das Bundesverfassungsgericht im Verbotsurteil zur neonationalsozialistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) acht Prinzipien als Kern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Diese sind Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit der Parteien einschließlich Oppositionsfreiheit. 1956 verbot das Bundesverfassungsgericht die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und führte aus, dass eine Partei nicht bereits "dann verfassungswidrig ist, wenn sie diese obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt, sie ablehnt, ihnen andere entgegensetzt. Es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen, sie muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen". Das zentrale Kriterium für das Verbot der Parteien war wie in den Diskussionen um ein Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) die Verfassungswidrigkeit. Von rechtsextremistisch oder linksextremistisch war nicht die Rede. Bis 1973 wurde amtlich nicht von politischem Extremismus, sondern von Rechts- beziehungsweise Linksradikalismus geredet. Der Wechsel wurde damit begründet, dass der Begriff "extremistisch" der Tatsache Rechnung trage, "dass politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine bestimmte nach allgemeinem Sprachgebrauch 'radikale', das heißt eine bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben". In der Politik und in der Publizistik galt der Begriff bis in die 1980er Jahre "für Ideologie und Praxis von politischen Akteuren". Dazu zählten Parteien, Parteipolitiker und Publizisten, welche "die politisch-rechtliche Grundordnung verändern wollten". Bis heute wird die Fortgeltung der Formel der "wehrhaften Demokratie" erklärt, obwohl die Demokratie in Deutschland insgesamt als stabil gilt. So konnte es dem Bundesverfassungsgericht 2005 leicht fallen, zu bestätigen, dass die "bloße Kritik an Verfassungswerten und Verfassungsgrundsätzen nicht als Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzuschätzen (ist), wohl aber darüber hinausgehende Aktivitäten zu deren Beseitigung". Selbst Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen sei ebenso erlaubt wie die "Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern". Politischer Extremismus ist also kein Rechtsbegriff. Er wird im politischen Diskurs als Kampfbegriff zur Charakterisierung bestimmter politischer Kräfte gebraucht. Im Kontext der Arbeit des Verfassungsschutzes fungiert er als Sammelbezeichnung für Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder gerichtet sind oder darauf abzielen, die Amtsführung der Verfassungsorgane oder ihrer Mitglieder in Bund und in den Ländern auf ungesetzliche Weise zu beeinträchtigen. Amtlicher versus wissenschaftlicher Extremismusbegriff Der amtliche Begriff ist nicht der der Sozialwissenschaften. In politikwissenschaftlichen Lexika bezeichnet Extremismus "politische Einstellungs- und Verhaltensmuster, die auf der für die Operationalisierung politischer Orientierungen üblichen Rechts-Links-Skala an den äußeren Polen (...) angesiedelt" sind. Es wird versucht, nach Zielen und Werten oder nach Mitteln und Normen zu unterscheiden. Dabei wird offen gelassen, ob mit diesen Positionen zugleich die "völlige Ablehnung" der existierenden politischen und sozialen Ordnung verbunden ist. Forscher, die sich auf den amtlichen Extremismusbegriff stützen, haben ein strikt normatives Verständnis von der Gesellschaft und ihrer politischen Verfasstheit, weshalb sie per se unterstellen, dass Vertreter extremistischer Positionen die gegebene Ordnung beseitigen wollen. Oft wird davon ausgegangen, dass der Wortlaut eines Programms die politische Praxis der Partei determiniert. Interesse an der Erforschung der unterschiedlichen Ursachen für das Entstehen beispielsweise rechtsextremer Einstellungen sowie an den Voraussetzungen ihrer Umsetzung in politisches Handeln ist oft kaum erkennbar. Doch weil es in den Sozialwissenschaften um die Analyse von gesellschaftlichen und politischen Sachverhalten geht, muss ein wissenschaftlicher Arbeitsbegriff so operationalisiert werden können, dass er sowohl zur Analyse von gesellschaftlichen und politischen Phänomenen als auch zur Entwicklung von Strategien zur politischen Auseinandersetzung taugt. Das kann ein solch normativ bestimmter Ansatz nur bedingt leisten. Die Wissenschaft folgt auch nicht der Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus unter dem Oberbegriff des politischen Extremismus. Zum einen, weil keine Identitäten behauptet werden sollen und zum anderen, weil Rechtsextremismus ein eigener und Linksextremismus kein eigener Forschungsgegenstand ist. Bereits die amtlichen Definitionen von Rechts- wie von Linksextremismus zeigen beachtliche Differenzen. Rechtsextremismus wird als "Weltbild" definiert, das "von nationalistischen und rassistischen Anschauungen geprägt (wird). Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse entscheide über den Wert eines Menschen". Rechtsextremisten wollen ein durch einen Führer angeführtes autoritäres politisches System, in dem das ethnisch homogene Volk mit dem Staat zur Volksgemeinschaft verschmilzt. Parlamentarische Kontrolle wie politische Opposition seien überflüssig, denn der oder die Führer würden nach dem von ihnen repräsentierten vermeintlich einheitlichen Willen des Volkes handeln. Der Linksextremismus will zwar auch die bestehende Ordnung abschaffen, aber damit hat die Gemeinsamkeit der Ziele ein Ende. Linksextremisten richten ihr politisches Handeln an "revolutionär-marxistischen" oder anarchistischen Vorstellungen aus und streben "ein sozialistisches bzw. kommunistisches System oder eine 'herrschaftsfreie' anarchistische Gesellschaft an". Während der Rechtsextremismus sich in verschiedene nationalistische und anders geprägte Strömungen ausdifferenziere, organisiere sich der Linksextremismus, in dem besonders die gewaltbereiten Linksextremisten auffällig seien, in unterschiedlichen Aktionsfeldern: "Antirepression", "Antimilitarismus" und "Antifaschismus". Die "Antifaschismusarbeit" ziele dabei vordergründig auf die Bekämpfung rechtsextremistischer Strukturen ab, das eigentliche Ziel sei es, "die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden, um die dem 'kapitalistischen System' angeblich innewohnenden Wurzeln des Faschismus zu beseitigen". Trotzdem sich Autonome (vereinzelt) um klare politische Positionen bemühen, sei das autonome Selbstverständnis von der Vorstellung eines freien, selbstbestimmten Lebens innerhalb "herrschaftsfreier Räume ('Autonomie')" geprägt. Als Vertreter dieser sozialen Bewegung werden die "Traditionellen Anarchisten" dem linksextremen Spektrum zugeschlagen. Dass Autonome, Anarchisten und Kommunisten unter einem Begriff subsumiert werden, was sowohl weder die einen noch die anderen akzeptieren würden, ist eine der Schwierigkeiten, die Systematik der Kategorie "Linksextremismus" zu verstehen. Zudem bevorzugen Kommunisten in der Regel hierarchische und nicht selten auch autoritäre Strukturen. Den Autonomen sind sie zuwider; ihr Ziel ist Herrschaftslosigkeit. Sie bilden keine Parteistrukturen und sind Marxisten-Leninisten, Trotzkisten und insbesondere Stalinisten äußerst suspekt. Autonome, die sich nicht als "Gesetzlose" stilisieren, sondern in die Tradition des Anarchismus als soziale Bewegung stellen, können ihre "autonomen Räume" nur in pluralistischen demokratischen Systemen entfalten. Denn nur diese bieten die rechtlichen als auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie Schutz der individuellen Rechte und - mit einiger Wahrscheinlichkeit - gesellschaftliche Toleranz. Manche gewalttätigen Aktivisten, die als "Autonome" zur linken Szene gezählt werden (dank dieser Tatsache brauchen sie nicht den Nachweis zu führen, dass sie überhaupt links sind), sehen sich vielleicht in der historischen Nachfolge anarchistischer Gewalttäter. Dass dieses "organisierungs- und hierarchiefeindliche radikale linksextremistische Spektrum" politische Aktivitäten mit dem Ziel des gewaltsamen Umsturzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entfalten könnte, erstaunt. Die der Szene zurechenbaren gewalttätigen Aktionen, dies haben sie mit gewaltbereiten und -tätigen Rechtsextremen gemein, sind deshalb nicht zu relativieren, könnten jedoch primär ein Problem der öffentlichen Sicherheit und ein strafrechtliches sein. In den empirischen Sozialwissenschaften gibt es eine etablierte und differenzierte Rechtsextremismusforschung. Rechtsextremismus ist nach der Definition von Richard Stöss "kurz gesagt (...) völkische(r) Nationalismus". Nach Hans-Gerd Jaschke bezeichnet Rechtsextremismus "die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität der Völker verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen". Dieser Begriff orientiert sich nicht an amtlichen Bedrohungsszenarien, summiert die unterschiedlichen Ansätze sowie relevante, die Forschung leitende Fragen über den Rechtsextremismus und weist auf dessen unterschiedliche Dimensionen - Einstellungen und Verhalten - sowie deren Inhalte - von Nationalismus bis Sexismus sowie von Protest bis zum Terror - hin. Ähnlich konzise Definitionen eines Linksextremismus liefert die sozialwissenschaftliche Forschung nicht. Sie befasst sich primär mit politikwissenschaftlichen, historischen Ansätzen und empirischen sozialwissenschaftlichen Methoden mit Revolutions-, Kommunismus-, Bewegungs- und Anarchismusforschung, jedoch nicht mit Linksextremismus als eigenem Forschungsgegenstand. Das Verständnis von Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft führt dazu, die Faktoren zu erforschen, die die Demokratie stärken - und bei der Erforschung jener, die sie schwächen, sich auf den Rechtsextremismus zu konzentrieren. Auch hinsichtlich der Gemeinsamkeiten der "Extremismen" werden wesentliche Differenzen zwischen dem amtlichen und dem wissenschaftlichen Extremismusbegriff sichtbar: Einerseits handele es sich um gänzlich unterschiedliche Phänomene, andererseits seien sie in Bezug auf ihre politischen Ziele, ihre Mittel und ihre Organisationsstrukturen ähnlich. Wenn Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen rechts- und linksextremistischen Positionen auftauchen, dann in dem Punkt, der die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei beiden Parteiverboten bestimmt hat: Demokratiefeindlichkeit. Politischer Extremismus als System findet sich im rechtsextremistischen Führerstaat und der Ideologie des völkischen Nationalismus; bei Linksextremisten findet er sich bei den Anhängern der Diktatur des Proletariats als politische Form der Herrschaft der Arbeiterklasse. Die Protagonisten des nationalsozialistischen Regimes wie auch der stalinistischen Diktatur weichen mit ihrer Orientierung an der Vergangenheit einer adäquaten Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft aus. Die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs sowie Zweifel an seiner Angemessenheit tragen dazu bei, dass er infrage gestellt wird. So wird beklagt, dass der Extremismusansatz die Gewaltorientierung von nazistischen Organisationen unter dem "Zerrbild der Auseinandersetzung zwischen linken und rechten Jugendgruppen" verschleiert; dass er keine Klarheit über die Relevanz verschiedener antidemokratischer Einstellungen schafft; dass er den Blick für die reale Gefährdung der staatlichen Institutionen wie der demokratischen Alltagskultur trübt und dass er wenig hilfreich sei für die Auseinandersetzung "mit antidemokratischen und menschenfeindlichen Einstellungen". Daher spricht etliches für eine Überprüfung, da die damaligen Voraussetzungen für das Konzept der "wehrhaften Demokratie" zwanzig Jahre nach der deutschen Einheit und dem Ende der Blockkonfrontation nicht mehr existieren. Laut Bundesverfassungsgericht verträgt eine gefestigte Demokratie durchaus Kritik und begreift sie nicht als Gefährdung ihrer Existenz. Die repräsentative Demokratie erweitert durch Volksabstimmungen und Volksentscheide die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. Wahlenthaltung wird nicht als Bekenntnis gegen die demokratische Ordnung, sondern unter anderem als Kritik an deren Leistungsfähigkeit gewertet. Neue politische Konfliktkonstellationen Darüber hinaus hat der soziale Wandel zu einer neuen Struktur der gesellschaftlichen Konflikte geführt. Mit der alten Industriegesellschaft hat sich zugleich das Zeitalter der Klassenkämpfe aus der politischen Organisation der Gesellschaft weitgehend verabschiedet. Die Konfliktstruktur der nachindustriellen Gesellschaft ist nicht mehr durch den Konflikt von Arbeit (Sozialismus) und Kapital (Kapitalismus) gekennzeichnet, sondern durch gegensätzliche Wertvorstellungen oder politische Ziele. Die maßgebliche politische Konfliktkonstellation verläuft nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen einer sozial-libertären und einer neoliberal-autoritären Politikkonzeption. Der alte Klassenkonflikt wurde abgelöst durch einen Konflikt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Grundüberzeugungen, also einen Wertekonflikt, in dem sich die jeweiligen Ziele nicht grundsätzlich ausschließen: Bei Befragungen zeigt es sich, das Personen, die sich als "links" einstufen, sozial und libertär eingestellt sind, während Personen, die sich als "rechts" bezeichnen, zwar betont autoritär disponiert sind, aber zugleich auch soziale Gerechtigkeit anstreben. Auf der politischen Achse stehen sich Libertarismus (Links) und Autoritarismus (Rechts) gegenüber, das heißt einerseits libertäre postmaterialistische Werte (wie direkte Demokratie, Ökologie, Gleichberechtigung der Geschlechter, Multikulturalität) und andererseits autoritäre Werte (wie nach innen und außen starker Nationalstaat, Patriotismus, Sicherheit und Ordnung). Es kann durchaus zu Wertesynthesen kommen, also jemand für Verteilungsgerechtigkeit und zugleich für Leistungsdenken sein, oder im Umweltbereich libertäre, in Fragen der inneren Sicherheit jedoch autoritäre Positionen vertreten. Das entspricht den komplexen Denkmustern und Wertorientierungen der Menschen in modernen Gesellschaften, die sich geschlossenen Ideologien entziehen. Somit wird durch die Veränderung der Konfliktstruktur in der Folge des sozialen Wandels die Bedeutung der Begriffe "rechts" und "links" zur Strukturierung der politischen Realität erheblich eingeschränkt. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass in der Bevölkerung sehr unterschiedliche Vorstellungen über deren Bedeutung bestehen. Wer sich als "rechts" oder als "links" einstuft, folgt bestimmten sozio-politischen Orientierungen. Sie beziehen sich auf Persönlichkeitseigenschaften (wie Autoritarismus, Selbstbewusstsein), auf Wertorientierungen und Einstellungen zu den politischen oder sozialen Verhältnissen in der Bundesrepublik. Dabei kontrastieren zwei Grundmuster: demokratische versus autoritäre Überzeugungen. Demokratische Überzeugungen sind eine Kombination aus politischem Selbstbewusstsein, freiheitlichen libertären Werten und demokratischen Einstellungen. "Links" ist jemand, der von der Demokratie als System überzeugt ist und dieses mit einem libertären Selbstverständnis verknüpft sowie ein Bedürfnis nach politischer Partizipation hat. Bei autoritären Überzeugungen verbinden sich autoritäre Persönlichkeitsmerkmale, autoritäre Werte und restriktive Demokratievorstellungen. Von dieser "rechten" Position aus können diejenigen anfällig für Rechtsextremismus werden, die diese Überzeugungen mit Unzufriedenheit über wirtschaftliche, soziale und/oder politische Verhältnisse verknüpfen. Es dürfte traditionelle Linke, die kapitalismuskritisch oder gar antikapitalistisch eingestellt sind und sich einen starken Staat wünschen, durchaus irritieren, wenn sie plötzlich feststellen müssen, dass beide Positionen auch von Rechten eingenommen werden. "Politischer Extremismus" ade? Angesichts dieser Komplexität ist ein Begriff wie politischer Extremismus für die Wissenschaft unterkomplex und als Arbeitsbegriff ungeeignet. Es geht vielmehr darum, die weiteren Auswirkungen des fortschreitenden sozialen Wandels auf politische Einstellungen und Orientierungen angemessen zu analysieren. Die Verwendung des Begriffs durch den und im Umfeld des Verfassungsschutzes signalisiert, dass er sich nur zögerlich den Herausforderungen stellt, die von der inzwischen erreichten Kompliziertheit politischer Strukturen, von der Komplexität politischen Denkens und von den veränderten Rahmenbedingungen politischen Handelns ausgehen. Die Missbilligung eines Verfassungsgrundsatzes ist weder ein strafrechtlicher Tatbestand noch Ausdruck politischen Extremismus. Sachbeschädigungen, Gewalttätigkeiten oder Körperverletzungen durch angeblich oder tatsächlich politisch motivierte Akteure sind strafrechtliche Tatbestände, die vom polizeilichen Staatsschutz untersucht werden und für die im Fall einer Verurteilung kein Tatbestandsmerkmal eines politischen Extremismus konstruiert wird. Daher könnte überlegt werden, ob der Begriff nicht hinfällig geworden ist. Denn letztlich soll der amtliche Verfassungsschutz nicht einen begrifflich unscharfen politischen Extremismus bekämpfen, sondern organisierte Aktivitäten, durch die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt oder in ihrer Funktion beeinträchtigt werden soll. Zugleich sollte in einem öffentlichen Diskurs ein Verständnis über die Grundrechte hergestellt werden, welches zu ihrer offensiven Auslegung führt. Dadurch würde es der Zivilgesellschaft leichter fallen, mit Unterstützung staatlicher Institutionen oder diese unterstützend gegen einzelne extremistische Einstellungen anzugehen und damit die Demokratie zu stärken. Vgl. Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, online: www.csu.de/dateien/partei/beschluesse/091026_koalitionsvertrag.pdf (10.10.2010), S. 99f. Vgl. Berliner Morgenpost vom 16.6.2010 und vom 30.8.2010. Vgl. Petra Brendel, Extremismus, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, München 20022, S. 222. Vgl. das Extremismusmodell bei Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 20072, S. 19. Vgl. ARD-Deutschlandtrend, Februar 2008, online: www.infratest-dimap.de/uploads/media/dt0802.pdf (20.9.2010). Eberhard Tiefensee, Extremismus aus philosophischer Sicht, Erfurt 2001, online: www.extremismus.com/texte/philex.htm (20.9.2010). "Der politische Extremismus (...) zeichnet sich dadurch aus, dass er den demokratischen Verfassungsstaat ablehnt und beseitigen will." Eckhart Jesse, Extremismus, Bonn 2003, online: www.bpb.de/wissen/04533837686809612704313150200958,0,0,Extremismus.html (20.9.2010). Zit. nach: R. Stöss (Anm. 4), S. 15. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 17. So der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer im Vorwort des Verfassungsschutzberichts von 1974, herausgegeben vom Bundesministerium des Innern (BMI), Bonn 1975. Andreas Klärner/Michael Kohlstruck, Thema der Öffentlichkeit und Gegenstand der Forschung, in: dies. (Hrsg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006, S. 17. Die Stabilität ist sowohl durch mangelnde Angebote für demokratische Partizipation als auch durch die Zunahme von Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit und Sozialdarwinismus gefährdet. Vgl. Oliver Decker et al., Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010, S. 152, S. 140. Leitsätze zu dem Beschluss des Ersten Senats vom 24.5.2005, Randziffer 70, online: www.bverfg.de/entscheidungen/rs20050524_1bvr107201.html (20.9. 2010). Ebd., Randziffer 72. Everhard Holtmann et al. (Hrsg.), Politiklexikon, München-Wien 19942, S. 165. Vgl. P. Brendel (Anm. 3). Programme werden erst durch ihre Interpretation wirksam, wenn sie zur Begründung der religiösen oder politischen Praxis durch die entsprechenden Akteure als Anleitung zum Handeln ausgelegt werden. BMI (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009, Vorabfassung, Berlin 2010, S. 49, online: www.verfassungsschutz.de/download/SHOW/vsbericht_2009.pdf (20.9.2010). Vgl. ebd. Ebd., S. 126. Ebd. Ebd., S. 133f. Vgl. ebd., S. 150. Vgl. Peter Lösche, Anarchismus, in: D. Nohlen/R.-O. Schultze (Anm. 3), S. 19f. BMI (Anm. 19), S. 149. Richard Stöss, Neuere Entwicklungstendenzen des Rechtsextremismus in Deutschland, in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 21 (2010) 2, S. 117. Hans-Gerd-Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe Positionen - Praxisfelder, Opladen 2001, S. 30. Vgl. Gero Neugebauer, Extremismus-Linksextremismus-Rechtsextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 24ff. Vgl. P. Brendel (Anm. 3). Vgl. BMI (Hrsg.), Bedingungsfaktoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Berlin 2009, S. 63. Als weiteres Beispiel wird auch die Behauptung genannt, dass "Verschwörungstheorien, Utopismus und Absolutheitsanspruch" nur Merkmale des Extremismus wären, obwohl sie in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden sind. Vgl. Grit Hanneforth/Michael Nattke/Stefan Schönfelder, Einführung, in: Kulturbüro Sachsen et al. (Hrsg.), Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti-)demokratischen Einstellungen, Dresden 2010, S. 7.
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, Gero Neugebauer
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
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Extremismus ist ein interessengeleiteter Begriff. Durch die Veränderung der Konfliktstruktur in der Folge des sozialen Wandels ist die Bedeutung der Begriffe "rechts" und "links" zur Strukturierung der politischen Realität eingeschränkt.
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Neue Politiker braucht das Land? Attraktivität und Besetzung politischer Ämter | Das Amt | bpb.de
Derzeit häufen sich die Krisendiagnosen für die westlichen Demokratien. Sie weisen im Kern auf eine Krise der Repräsentation hin. Diese findet ihren Ausdruck darin, dass viele Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in ihre Repräsentanten verloren haben. In den sozialen Netzwerken ist derzeit – in Abwandlung eines Songtitels von Ina Deter – die Forderung omnipräsent: Neue Politiker braucht das Land. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Beschäftigung mit der Attraktivität und Besetzung politischer Ämter an Brisanz. Sie erfolgt hier in drei Schritten: Zunächst ist zu klären, welche Faktoren diese Ämter erstrebenswert machen. Im empirischen Teil interessiert, wie sich Berufspolitiker rekrutieren und auf welchen Pfaden sie in die jeweiligen Ämter gelangen. Daran schließt sich die knappe Auseinandersetzung mit der Kritik an der derzeitigen Ämterbesetzung und dem etwaigen Reformbedarf an – zugleich der Versuch einer Antwort auf die im Titel formulierte Frage. Kreis politischer Ämter Auch wenn sich über einzelne Positionen schnell Einigkeit erzielen lässt – eine allgemein akzeptierte Vorstellung von einem politischen Amt existiert nicht. Schwierigkeiten der Abgrenzung ergeben sich auch dadurch, dass sich politische Ämter in der Schnittmenge von parteilich geprägter Konkurrenzdemokratie und verwaltungsdominierter Ämterdemokratie befinden. Zieht man den Kreis eng, gehören dazu ausschließlich hochrangige staatliche Positionen in der Exekutive. Einen Sonderfall stellt die Gruppe der sogenannten politischen Beamten dar, die in einem besonderen Loyalitätsverhältnis zur Regierung stehen und daher jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können, zum Beispiel Staatssekretäre. Ergänzt man diesen Kern in konzentrischen Kreisen, so lassen sich zunächst die Parlamentarier hinzufügen. Strenggenommen haben diese durch Wahlen ein Mandat gewonnen; zudem unterscheidet sich ihre Rechtsstellung von jener oben genannter Amtsträger. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht den Amtscharakter des Mandats bestätigt. Ohnehin ist es sinnvoll, die Abgeordneten in die Analyse der Attraktivität und Besetzung politischer Ämter einzubeziehen. Sie bilden einen wichtigen Rekrutierungspool für das Kabinett. Im äußeren Kreis befinden sich Parteipositionen sowie Ehrenämter etwa in kommunalen Vertretungskörperschaften. Reserviert man den Begriff des Amtes für den staatlichen Bereich, sind Führungsfunktionen in Parteien davon nicht erfasst; sie werden in der Regel auch nicht vergütet. Durch das Grundgesetz mit der politischen Willensbildung beauftragt, sind die Parteien jedoch eng mit dem Staat und seinen Entscheidungsträgern verbunden. Parteiführungspositionen sind insofern relevant, um zu verstehen, wie Ämter in den ersten beiden Kreisen besetzt werden. Legt man ein weites Verständnis politischer Ämter zugrunde, können diese anhand von drei Kriterien differenziert werden: danach, ob sie hauptamtlich ausgeübt werden, ob es sich um staatliche Positionen handelt und wie die Besetzung erfolgt. Die in Rede stehenden Ämter werden in aller Regel hauptamtlich ausgeübt und weisen die Amtsträger als Berufspolitiker aus. Ausnahmen bestätigen diese Regel, wie der Fall der Bürgermeister in kleineren Gemeinden illustriert. Diese sind ehrenamtlich und insoweit als informierte Amateure tätig. Die Hauptamtlichkeit beinhaltet eine amtsangemessene Vergütung und die Einordnung in die jeweilige Hierarchie. Berufspolitiker treffen in ihren jeweiligen Ämtern allgemein verbindliche Entscheidungen. Entsprechend gilt, dass politische Ämter öffentliche Ämter sind; sie sind Teil der staatlichen Sphäre. Daraus ergeben sich besondere Rechenschaftspflichten gegenüber der Allgemeinheit, ein Amtsethos und vor allem Anreizstrukturen, die sich systematisch von denen des privat(wirtschaftlich)en Bereichs unterscheiden. Einen Sonderfall stellen die sogenannten Parteiämter dar, deren Anreizstrukturen deswegen teils andere sind als im staatlichen Bereich. In demokratischen Gesellschaften werden politische Ämter grundsätzlich auf Zeit vergeben, regelmäßig durch Wahl oder Ernennung. Auch die Ausübung von durch Ernennung besetzten Ämtern ist oftmals vom Wahlausgang abhängig. Ein Beispiel dafür sind die Ministerämter, die spätestens nach der folgenden Wahl im Zuge der Kabinettsbildung neu vergeben werden. Es liegt auf der Hand, dass die spezifischen Merkmale eines politischen Amtes maßgeblich zu seiner Attraktivität beitragen. Gleichwohl werden hier vorrangig die Faktoren in den Blick genommen, die generell Anreize bieten, ein politisches Amt anzustreben. Warum ist Politik als Beruf erstrebenswert? Ob durch Los oder Erbfolge, nach Alter oder aufgrund besonderer Fähigkeiten – die Besetzung politischer Ämter hat sich im Zeitverlauf verändert und variiert zudem zwischen politischen Systemen. Das Amt des Staatspräsidenten beispielsweise ist in den USA bei Weitem attraktiver als in Deutschland. Derartige Unterschiede verdeutlichen, dass die Attraktivität politischer Ämter durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen bestimmt wird – und politischer Steuerung zugänglich ist. Die Attraktivität der Ämter bestimmt in erheblichem Maß die Zusammensetzung sowie die Qualität des politischen Führungspersonals. Generell bestimmt sich die Attraktivität im Vergleich zu anderen relevanten beruflichen Positionen – und sie variiert je nach individuellen Präferenzen und Ambitionen. In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren die ökonomischen Anreize, die immer wieder Anlass für eine Skandalisierung sind. Zu diesen Anreizen gehört in erster Linie die unmittelbare Vergütung der Amtsträger. Hinzu kommen geldwerte Leistungen, die an die Amtsinhaber fließen wie etwa die Nutzung von Dienstwagen, Freifahrtscheine oder Zuschüsse für Unterkünfte. Neben diese materiellen Anreize können immaterielle treten. Insbesondere der Zugriff auf personelle Ressourcen ist dabei relevant. Zu den unmittelbaren ökonomischen Vorteilen, die mit dem Amt verbunden sind, treten die Möglichkeiten von Nebentätigkeiten. Noch wichtiger dürften die mit dem Amt verbundenen Optionen sein, attraktive berufliche Perspektiven für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Amt etwa durch Etablierung von Netzwerken zu erschließen. Derartige Elemente politischer Patronage sind für bestimmte Ämter bedeutsam, quantifizierbar sind sie selbstredend nicht. Zudem sind die Versorgungsbezüge und Übergangsgelder bei Ausscheiden aus dem Amt einzubeziehen. Betrachtet man allein die monetären Leistungen, so muss die Vergütung selbst politischer Spitzenämter im Vergleich zu Leitungspositionen in größeren Unternehmen als bescheiden gelten. Die Grundvergütung der Bundeskanzlerin von derzeit monatlich knapp 19.000 Euro etwa liegt unter dem Gehalt der meisten Vorstandsvorsitzenden der öffentlich-rechtlichen Sparkassen. Dieses Beispiel zeigt, dass ökonomische Anreize allein oft nicht maßgeblich für das Einschlagen einer politischen Karriere sein dürften. Das systemspezifische Medium der Politik ist nicht Geld, sondern Macht. Die Möglichkeiten der Einflussnahme auf politische Entscheidungen differieren je nach der Art des Amtes und der territorialen Ebene, auf der es angesiedelt ist. Beispielsweise gehen die Handlungsmöglichkeiten im Amt des Finanzministers weit über die im Amt eines Finanzdezernenten hinaus. Wie diese Chancen genutzt werden, hängt mit der Amtsausführung zusammen und unterscheidet sich zwischen den Amtsinhabern. Der Führungsstil Willy Brandts hat sich beispielsweise deutlich von dem Kurt Georg Kiesingers und dieser wiederum von dem Angela Merkels abgehoben. Ohnehin gibt es abseits der formalen Hierarchie kein klares Ranking der Ämter. Ein Landtagsmandat etwa muss nicht attraktiver sein als das Amt eines Bürgermeisters. Auch auf derselben Ebene sind die Ämter nicht klar gereiht. So streben viele Parlamentarier ein Ministeramt an. Gleichwohl kann der Vorsitz einer Bundestagsfraktion attraktiver sein als die Leitung eines randständigen Ressorts. Bei der Attraktivität politischer Ämter ist zu berücksichtigen, dass sie – dem Anspruch nach – nicht um ihrer selbst willen angestrebt werden. Die Besetzung von Ämtern ist immer auch ein Instrument zur Umsetzung (partei-)politischer Programme. Das office-seeking der Politiker, also ihr Streben nach der Besetzung von Führungsämtern, steht folglich in einem engen Zusammenhang mit dem policy-seeking, dem Streben nach Durchsetzung der eigenen politischen Agenda. Da die Vergabe politischer Ämter in aller Regel an den Ausgang von Wahlen geknüpft ist, stellt das vote-seeking den dritten Teil der handlungsleitenden Trias von Politikern und Parteien dar. Zu den Gefahren der Berufspolitik gehört, dass sich das office-seeking gegenüber dem policy-seeking verselbstständigt. Es geht dann nur noch um Machtgewinn beziehungsweise Machterhalt. Wenn sich dieses Verhaltensmuster parteiübergreifend etablieren würde, entstünde eine abgeschottete, allein auf die Wahrung eigener Interessen bedachte politische Klasse. Prestige und Privilegien sind gleichfalls relevant für die Attraktivität eines politischen Amtes, ebenso wie die Verbleibs- und Aufstiegschancen. Trotz der – Umfragen zufolge – geringen Wertschätzung des Politikerberufs ist mit dem Amt oftmals ein höherer sozialer Status verbunden als in früheren beruflichen Positionen. Hinzu kommen Privilegien, die dem Träger das Gefühl der Bedeutsamkeit vermitteln: Einladungen zu Empfängen, Gesprächsbitten von Verbänden, vor allem aber ein frühzeitiger Zugang zu Informationen. Neben die bereits genannten Anreizen, ein politisches Amt zu übernehmen, treten weitere Motive. Diese reichen vom Abwechslungsreichtum der Aufgaben über die Möglichkeit, Bürgeranliegen aufgreifen zu können, bis hin zur Freude an der öffentlichen (Selbst-)Inszenierung. Unzweifelhaft sind Anforderungsprofil und Anreizstrukturen der Berufspolitik so beschaffen, dass sie manche gesellschaftliche Gruppen stärker ansprechen als andere. Wie diese Strukturen wirken, lässt sich an der Zusammensetzung und Rekrutierung des politischen Führungspersonals ablesen. Die Besetzung dieser Ämter ist allerdings nicht allein von der Attraktivität abhängig, sondern auch von der Verfügbarkeit und Erreichbarkeit. Verfügbarkeit meint dabei die Möglichkeit des rechtlichen Zugangs zum jeweiligen Amt, Erreichbarkeit die Chance, dieses auch in Konkurrenz mit anderen zu erreichen. Wer wird Berufspolitiker? Typische Rekrutierungsmuster sind auch das Ergebnis von Pfadabhängigkeiten. Dazu gehört in Deutschland etwa die Sozialfigur des alimentierten Vollzeitpolitikers, die sich während der Weimarer Republik herausgebildet hat. Zentrale Bedeutung im Rekrutierungsprozess kommt den Parteien zu. Für die parlamentarischen Demokratien gilt mit nur schwachen Abstufungen, dass es kaum möglich ist, ohne die Unterstützung einer Partei in ein politisches Amt zu gelangen. Am Beginn einer politischen Karriere steht daher eine Entscheidung, die ein britischer Parlamentsforscher einmal mit sarkastischem Unterton zum Aufsatztitel gemacht hat: "First choose your party …" Für die bundesdeutsche Berufspolitik ist die "Ochsentour" durch die Parteigremien charakteristisch. Demnach folgt die Übernahme politischer Ämter einer längeren Sozialisationsphase in verschiedenen, zusehends wichtigeren Parteifunktionen. Bei Parlamentariern geht dem ersten Mandat eine durchschnittlich 10- bis 15-jährige Parteimitgliedschaft und mehrheitlich die Erfahrung in mindestens einem Parteiamt auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene voraus. Aus der Sicht der Parteien ermöglicht die "Ochsentour" ein Screening der Kandidaten für politische Ämter, während derer sie ihre Loyalität beweisen können. Parteipositionen als Sprungbrett für politische Ämter zu bezeichnen, ist jedoch falsch, da das Brett üblicherweise nicht verlassen wird. Die Amtsinhaber bleiben Parteipolitiker, auch nachdem sie das jeweilige Amt übernommen haben. Führungsfunktionen in einer Partei sind dabei in doppelter Hinsicht attraktiv: Sie bieten politische Gestaltungsmöglichkeiten und erhöhen – als notwendige, keineswegs aber hinreichende Bedingung – die Chance auf eine längere Karriere in der beruflichen Politik. Neben der innerparteilichen "Ochsentour" begünstigt das langjährige kommunalpolitische Engagement die Rekrutierung in politische Ämter. Ehrenamtliche politische Aktivitäten in der Kommune wie die Mitgliedschaft im Stadtrat sind nicht nur eine Voraussetzung für das Erreichen hauptamtlicher Positionen auf dieser Ebene. Sie qualifizieren auch für die Übernahme eines Amtes auf einer höheren territorialen Ebene. Erfolg versprechend ist insbesondere die Kombination von Partei- und kommunalen Funktionen. Vielfach werden kommunale Ehrenämter parallel zum Hauptamt weitergeführt oder neue übernommen. Die vertikale und horizontale Ämterhäufung hat auch die Funktion, den Verbleib in der jeweiligen Position über die Wahl- beziehungsweise Amtsperiode hinaus zu sichern oder den Wechsel in ein (subjektiv) höherrangiges Amt vorzubereiten. Im deutschen Mehrebenensystem haben sich dabei typische Karriereverläufe herauskristallisiert. Dazu gehört der Weg aus der Kommunalpolitik in den Bundestag oder ein Landesparlament, seltener und eher in späteren Jahren der Wechsel aus einem Parlament in die kommunale Exekutive, zum Beispiel als Bürgermeister. Einen ausgetretenen Karrierepfad stellt auch der Aufstieg von Parlamentariern in ein Ministeramt dar, oftmals über die Zwischenstation einer innerparlamentarischen Führungsfunktion. Ebenenwechsel zwischen Ämtern auf Landes-, Bundesebene und europäischer Ebene kommen ebenfalls vor, sind aber nicht der Regelfall. Im Ergebnis der skizzierten Karrierewege gelangen überwiegend erfahrene Partei- und Kommunalpolitiker in politische Ämter. Diese Muster der Auswahl des politischen Personals finden sich auch in Ostdeutschland. Der Grad der politischen Professionalisierung des politischen Personals ist daher bundesweit hoch. Er korrespondiert mit der Professionalisierung der Ämter, wie sie etwa in deren Ausstattung zum Ausdruck kommt. Die bundesweit etablierten Rekrutierungs- und Karrierewege erschweren Quer- und Seiteneinsteigern die Übernahme eines politischen Amtes. Der Anteil erfolgreicher Unternehmer, Wissenschaftler oder Journalisten, die in die berufliche Politik wechseln, ist entsprechend überschaubar. Die gängigen Rekrutierungsmechanismen führen häufig dazu, dass bestimmte soziale Gruppen in politischen Ämtern überrepräsentiert sind. Dazu gehören die mittleren und etwas älteren Alterskohorten, Männer, vor allem aber diejenigen mit hohen Bildungsabschlüssen. Notorisch sind die hohen Anteile von Angehörigen des öffentlichen Dienstes in der Berufspolitik. In den Parlamenten sind insbesondere Lehrerinnen und Lehrer stark vertreten, wenngleich ihr Anteil seit Jahren rückläufig ist. Dagegen steigt der Anteil der aus Parteien und Interessenverbänden Rekrutierten. In der Exekutive stellen die Juristinnen und Juristen einen hohen Anteil der Amtsträger. In ihrer sozialen Zusammensetzung zeichnet sich die Gruppe der Berufspolitiker durch eine gewisse Homogenität und große Stabilität aus. Beides mag auch damit zusammenhängen, dass die nominierungsrelevanten Parteiorgane Kandidaten bevorzugen, die ihnen selbst in Herkunft und Lebensweg ähnlich sind. Deutliche Veränderungen haben sich hingegen beim Geschlechterverhältnis ergeben: Der Frauenanteil in den Parlamenten liegt seit einigen Legislaturperioden oberhalb von 30 Prozent – mehr als doppelt so hoch wie in den 1980er Jahren. In den Kabinetten ist der aktuelle Wert noch höher, und auch bei den Staatssekretären gehört das Gruppenbild mit einzelner Dame längst der Vergangenheit an. Deutlich niedriger liegen die Frauenanteile in den Bürgermeister-, Landrats- und Dezernentenämtern. Der stark gestiegene Frauenanteil liegt unter anderem in den innerparteilichen Geschlechterquoten begründet. Er geht zugleich – ebenso wie die verstärkte Rekrutierung von Migrantinnen und Migranten – auf die veränderten Erwartungen der Wählerschaft zurück. Ungeachtet dieser empirisch beobachtbaren Öffnung des Zugangs zu politischen Ämtern gilt auch hier der aus der Elitenforschung bekannte Befund der wachsenden Disproportionalität: Je höher das politische Amt, desto stärker unterscheidet sich die soziale Stellung der Träger vom Bevölkerungsdurchschnitt. Entsprechend haben einfache Arbeiter und Angestellte Seltenheitswert in der Berufspolitik. Im Vergleich mit vielen anderen Sektoren gilt die Politik gleichwohl weiterhin als einigermaßen durchlässig. Der Weg des Sohns einer verwitweten Putzfrau in eine Spitzenposition (Gerhard Schröder) ist untypisch, in der Politik aber eher möglich als etwa in der Wirtschaft. Während für manche der Weg in politische Ämter kaum erreichbar scheint, ist er für andere unattraktiv, zum Beispiel für Top-Manager. Grund dafür ist einerseits die geringe Planbarkeit politischer Karrieren, andererseits sind es die Strategien, die ergriffen werden müssen, um diese strukturelle Unsicherheit zu begrenzen. Dazu gehört vor allem die Mobilisierung innerparteilicher Unterstützung. Kollektiv können die Amtsinhaber das Risiko des ungewollten Karriereendes zudem durch die Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen beeinflussen, etwa durch starre Wahllisten oder die Ermöglichung der mehrfachen Wiederwahl. Empirisch funktioniert die Absicherung je nach Amt unterschiedlich gut. Sehr gute Chancen zum Verbleib haben etwa Bundestagsabgeordnete; sie erreichen bei erneuter Nominierung Wiederwahlquoten von durchschnittlich knapp 90 Prozent. Dass Minister nach einer Wahl im Amt verbleiben, ist hingegen selbst dann weit weniger wahrscheinlich, wenn es nicht zu einem Regierungswechsel kommt. Braucht es Reformen? Weite Teile der Bevölkerung bezweifeln, dass die Ämter mit den "Richtigen" besetzt sind und zeigen entsprechend geringes Vertrauen in die Amtsträger. In der Kritik stehen neben den Anreizstrukturen die Zusammensetzung und Verhaltensmuster der Politiker sowie der Modus der Ämterbesetzung. Reformbedarf wird verschiedentlich bei der Ausstattung politischer Ämter erkannt. Beispielhaft dafür stehen Forderungen nach der vollständigen Offenlegung von Nebeneinkünften oder der Einbeziehung der Berufspolitiker in die gesetzliche Rentenversicherung. Die Amtsträger sollen durch Transparenz und den Abbau von Privilegien vom Verdacht der Selbstbereicherung befreit werden. In eine ähnliche Richtung geht die Forderung nach Karenzzeiten nach Ausscheiden aus dem Amt, wie sie 2015 für Minister und Staatssekretäre im Bund eingeführt worden sind. Deutlicher verhaltensbezogen sind die Initiativen zu Ethik- oder Verhaltenskodizes. Weitere Vorschläge setzen bei den Rekrutierungspfaden der Politiker an. Eine direkte Wirkung auf die Zusammensetzung hätten zum Beispiel Mindestquoten bei innerparteilichen Auswahlverfahren, wie sie für Migranten oder politische Seiteneinsteiger erwogen worden sind. Ziel relevanter Vorschläge zur Wahlrechtsreform hingegen ist es, den Einfluss der Parteien zurückzudrängen. Dieser Effekt ließe sich beispielsweise durch offene Listen bei Parlamentswahlen erreichen. Vielfach wird Abhilfe von zusätzlichen direkt-demokratischen Verfahren erwartet. Sie sollen den Bürgern sach- und themenbezogen einen unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen ermöglichen. Sieht man von spezifischen Varianten wie Referenden ab, die Parlamente oder Regierungen nach eigenem Ermessen initiieren können, schränken diese die Gestaltungsmacht der amtierenden Politiker und Parteien zumindest in (wichtigen) Einzelfragen ein. Von den bisher aufgeführten Reformüberlegungen zu unterscheiden, sind Ansätze, nach denen die Ämterbesetzung gänzlich neu gestaltet werden soll. Eine Variante solcher Fundamentalkritik richtet sich gegen die Wahl als Modus zur Besetzung politischer Ämter. Danach sind Wahlen in der heutigen Zeit ungeeignet zur politischen Entscheidungsfindung, da sie lediglich ein Surrogat für genuine Bürgerbeteiligung darstellten und die Wählerinnen und Wähler leicht manipulierbar seien. Daher sollten die Parlamente durch ein per Losverfahren besetztes deliberatives Bürgergremium ergänzt werden, in dem Lösungen für zentrale gesellschaftliche Fragen diskutiert werden. In eine andere Richtung gehen Vorschläge, Entscheidungen in Expertengremien zu verlagern, um die fachliche Expertise gegenüber der Logik der Parteipolitik zu stärken. Beiden Ansätzen gemeinsam ist das Vertrauen in die Kraft der Rationalität expertengestützter Deliberation. Idealerweise würde sich die repräsentative Demokratie dadurch in eine Bürger- und Expertendemokratie wandeln. Empirisch lässt sich jedoch zeigen, dass die erhoffte Erweiterung der sozialen Rekrutierungsbasis der Politik nicht erreicht wird und die soziale Schieflage bei der Beteiligung an Referenden größer ist als bei Wahlen. Generell ist festzuhalten, dass die den Reformvorschlägen zugrunde liegenden normativen Kriterien selten offengelegt und unerwünschte Nebenwirkungen mitunter kaum reflektiert werden. Wege aus der Krise? Die repräsentative Demokratie sieht sich derzeit mit massiven Herausforderungen konfrontiert – und mit ihr die sie kennzeichnenden Ämter, Akteure und Verfahren. Der eingangs zitierte Befund einer Krise der Repräsentation resultiert auch aus der vielstimmigen, zusehends im Tonfall des Populismus vorgetragenen Kritik. Dabei bietet selbst grundlegende Kritik auch Chancen. Sie zwingt die Akteure der repräsentativen Demokratie zur Auseinandersetzung mit Defiziten und Problemlagen. Sie kann Lernprozesse anstoßen und letztlich die Selbstreflexion der Demokratie stimulieren. Zudem können konkrete Reformvorschläge genutzt werden, um eine lebendigere Demokratie zu erreichen. Per Los besetzte Bürgergremien sind dafür eine Option, zumal auf der kommunalen Ebene. Auffällig ist, dass einige Reformvorschläge dem Trend der Professionalisierung politischer Ämter entgegenstehen. Kurzfristig mögen damit Erwartungen an eine größere soziale Öffnung des Zugangs zu politischen Ämtern befriedigt werden. Langfristig ist fraglich, ob die Ergebnisse der Deprofessionalisierung von Politik die Mehrheit der Repräsentierten zufriedenstellen können. Zwar verfügen zufällig zusammengesetzte Bürgerforen und Expertengremien über beachtlichen Sachverstand, Sachverständige für politische Kompromisse und deren Durchsetzung sind sie jedoch nicht. Die Professionalisierung der Politik mag – wie es in einem Buchtitel heißt – ein Ärgernis darstellen. Manche Alternativen dazu allerdings dürften einer Plage gleichkommen. Zudem ist manche Kritik eher dazu angetan, Rekrutierungsprobleme zu verschärfen als sie zu lösen. Durch eine maßlose und maßstabslose Fundamentalkritik werden politische Ämter noch weniger attraktiv, wenn nicht sogar beschädigt. Die Entstehung einer elitenfeindlichen Bewegung dürfte für die Übernahme politischer Verantwortung abschreckend sein. Ohnehin gilt dies für die zuletzt massiv gestiegene Zahl von Verbalinjurien und Gewalttaten gegen Politiker. In etlichen Kommunen lassen sich die Folgen derartiger Entwicklungen längst besichtigen: Es fehlt dort an Kandidaten für die Ämter der ehrenamtlichen Bürgermeister oder die Gemeinderäte. Womöglich braucht das Land nicht so sehr neue Politiker, sondern eine Kultur, die politisches Engagement – inner- wie außerhalb von Parteien – anerkennt und dazu ermutigt. Vgl. Paula Diehl, Die Krise der repräsentativen Demokratie verstehen, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 26/2016, S. 327–333. Siehe hierzu auch den Beitrag von Jörn Fischer in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Siehe hierzu auch den Beitrag von Utz Schliesky in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Beispielhaft Hans-Herbert von Arnim, Die politische Klasse – selbstbezogen und abgehoben, München 1997. Empirisch ist die Machtorientierung des politischen Spitzenpersonals gut belegt. Vgl. David G. Winter, Personality Profiles of Political Elites, in: Leonie Huddy et al., (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Psychology, Oxford 2013, S. 423–458. Vgl. Karlheinz Niclauß, Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, Wiesbaden 20153. Vgl. Wolfgang C. Müller/Kaare Strøm, Policy, Office or Votes? How Political Parties in Western Europe Make Hard Decisions, Cambridge 1999. Vgl. Jens Borchert, Die Professionalisierung der Politik, Frankfurt M.–New York 2003, S. 95–132. Vgl. Jens Borchert, Drei Welten politischer Karrieremuster in Mehrebenensystemen, in: Michael Edinger/Werner Patzelt (Hrsg.), Politik als Beruf, Wiesbaden 2011, S. 273–296, hier S. 275. Michael Rush, Career Patterns in British Politics: First Choose Your Party …, in: Parliamentary Affairs 47/1994, S. 566–582. Vgl. Heinrich Best et al., Karrieremuster und Karrierekalküle deutscher Parlamentarier, in: Edinger/Patzelt (Anm. 9), S. 168–191; Michael Edinger, Profil eines Berufsstands, in: Helmar Schöne/Julia von Blumenthal (Hrsg.), Parlamentarismusforschung in Deutschland, Baden-Baden 2009, S. 177–215. Zur Unterscheidung der Professionalisierung von politischen Ämtern, Akteuren, Institutionen und System vgl. Borchert (Anm. 8), S. 24–30. Vgl. Moritz Küpper, Politische Seiteneinsteiger in Deutschland, Halle 2013. Beispiele dafür sind der einstige Turn-Weltmeister Eberhard Gienger und der Medizinprofessor Karl Lauterbach als langjährige MdB. Ein prominentes Beispiel für einen misslungenen Wechsel ist die Journalistin Susanne Geschke, die 2013 nach knapp einem Jahr als Oberbürgermeisterin von Kiel zurücktrat. Siehe Benjamin Höhne/Melanie Kintz, Soziale Herkunftslinien von Abgeordneten im Wandel, in: Elmar Wiesendahl (Hrsg.), Parteien und soziale Ungleichheit, Wiesbaden 2017, S. 259–285. Vgl. Robert D. Putnam, The Comparative Study of Political Elites, Englewood Cliffs 1976. Vgl. Michael Hartmann, Politische Eliten und soziale Ungleichheit, in: Wiesendahl (Anm. 14), S. 287–299, hier S. 297f. Daten zu den MdB bei Edinger (Anm. 11), S. 203f. Die Verweildauer der Bundesminister im Kabinett liegt bei durchschnittlich etwa fünf Jahren. Vgl. André Kaiser/Jörn Fischer, Linkages Between Parliamentary and Ministerial Careers in Germany, 1949–2008, in: German Politics 18/2009, S. 140–154, hier S. 150. Vgl. Viktoria Kaina, Declining Trust in Elites and Why We Should Worry About It – With Empirical Evidence from Germany, in: Government and Opposition 43/2008, S. 405–423. Vgl. Andreas Kost, Direkte Demokratie, Wiesbaden 20132. Siehe etwa David Van Reybrouck, Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016. Wolfgang Merkel/Claudia Ritzi, Theorie und Vergleich, in: dies. (Hrsg.), Die Legitimität direkter Demokratie. Wie demokratisch sind Volksabstimmungen?, Wiesbaden 2017, S. 9–48, hier S. 24–30. Vgl. Borchert (Anm. 8).
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, Michael Edinger
"2021-12-07T00:00:00"
"2017-03-29T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/245586/neue-politiker-braucht-das-land-attraktivitaet-und-besetzung-politischer-aemter/
In etlichen Kommunen fehlen Kandidaten für die Ämter der ehrenamtlichen Bürgermeister oder die Gemeinderäte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Faktoren ein politisches Amt erstrebenswert machen. Wer wird heutzutage noch Berufspolit
[ "Elitenforschung", "Politikverdrossenheit" ]
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Geschichte und Gegenwart von Laïcité und "hinkender Trennung" | Religionspolitik | bpb.de
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron erklärte im April 2018 in einer Grundsatzrede vor französischen Bischöfen, die katholische Kirche und den Staat miteinander versöhnen zu wollen, und streckte sogleich die Hand aus: Der Säkularismus habe "nicht die Funktion, das Spirituelle zu leugnen", die Fragen, die die Kirchen stellten, würden nicht nur diese betreffen, sondern die Gesellschaft als Ganze. Die Initiative, den strikten Laizismus als republikanische Prämisse neu zu diskutieren, zog scharfen Protest nach sich. In Deutschland verfügte wenige Wochen später die Bayerische Staatsregierung, dass ab Juni 2018 in jeder der 1100 Behörden des Freistaates "deutlich wahrnehmbar" ein Kreuz "als sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Bayern und Deutschland" anzubringen sei. Ministerpräsident Markus Söder erntete für diesen Vorstoß heftige Kritik. Diese beiden Schlaglichter zeigen: In Frankreich wie in Deutschland ist Religion beziehungsweise das Verhältnis von Staat und Religion wieder ein Politikum – nicht nur im akademischen Diskurs oder in den Bekenntnisgemeinschaften selbst, sondern auch in den Regierungszentralen, den Parteien und im Wahlkampf. Galten Frankreich und Deutschland bislang als weit voneinander entfernt auf der Skala möglicher Ausprägungen des Verhältnisses von Staat und Religion, scheinen sich aktuell die politischen Stimmungen eher anzugleichen. Beiden Phänomenen möchte ich im Folgenden nachgehen, um mögliche Pfadabhängigkeiten und aktuelle Potenziale gegenwärtiger Religionspolitik historisch auszuloten. Liberté, Egalité, Fraternité, Laïcité Artikel 1 der französischen Verfassung von 1958 legt fest: "Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik." Solche Bestimmungen finden sich auch in der chinesischen, mexikanischen und türkischen Verfassung, aber in Frankreich wird sie vergleichsweise strikt umgesetzt: Es hängen keine Kreuze in Schulen, Kopftücher in öffentlichen Gebäuden sind verboten. Es gibt keinen Religionsunterricht, keine theologischen Fakultäten, Vorsteher von Gemeinden oder auch Bischöfe werden nicht staatlich anerkannt. Öffentlich über seinen Glauben zu sprechen ist verpönt, zwischen Schülern und Lehrern ist es sogar gesetzlich untersagt. Es gibt keinen zweiten Weihnachtsfeiertag und keinen Karfreitag. Laïcité zählt zum französischen Selbstverständnis wie liberté, égalité und fraternité. Tatsächlich wurden die wesentlichen Elemente einer Trennung von Kirche und Staat in den Revolutionsjahren ab 1789 angedacht. Wie keine zweite Institution war die katholische Kirche in Frankreich mit der nun entmachteten Monarchie verbunden, sodass die Revolutionäre und neuen Machthaber sich dazu verhalten mussten: In der Nationalversammlung verfolgten die dominierenden Girondisten zunächst den Kurs hin zu einer gallikanischen, von Rom unabhängigen Staatskirche. Mit der Abschaffung der Kirchensteuer wie der Verstaatlichung von Kirchenbesitz verband sich auch die Forderung an die katholischen Priester, einen Eid auf die französische Verfassung abzulegen. In der Folge spaltete sich der Klerus: Während der höhere, meist adlige Klerus den Eid verweigerte und damit nicht nur dem Papst, sondern in gewisser Weise auch dem Ancien Régime treu blieb, suchten viele Angehörige des niederen Klerus den Weg in die Staatskirche und schworen den zivilen Eid. Der Versuch, den Weg in die Staatskirche zu gehen, erwies sich aber als vergeblich: Nachdem die jetzt als "Konvention" bezeichnete Nationalversammlung 1792 die Republik ausrief, setzte man verstärkt auf ein Konzept der Trennung von Kirche und Staat, bemühte sich um die Etablierung eines eigenen Kultes, plünderte dazu Kirchen und belegte die Eidverweigerer mit der Todesstrafe. Der antiklerikale Kurs setzte sich endgültig durch, als mit Danton und später Robbespierre zwei Jakobiner das entscheidende Exekutivorgan, das Comité de salut public (Wohlfahrtssausschuss), unter ihre Kontrolle brachten. In der Folgezeit wurden Dekrete verabschiedet, die es der Republik untersagten, Religionsgemeinschaften zu finanzieren, ihnen Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen oder Geistliche anzuerkennen. Das damit angelegte Trennungsmodell setzte sich nach mehreren restaurativen Phasen erst mit dem "Schulstreit" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig durch. Die bislang insbesondere an den Grundschulen unterrichtenden Geistlichen wurden durch weltliches Personal ersetzt und Religionsunterricht als solcher abgeschafft. Mit der Verbannung der Kirche aus den Schulen war ein großer Schritt in Richtung Trennung der beiden Institutionen getan, sodass sich Vertreter weitergehender Forderungen ermutigt fühlten. Verschiedene Gesetzesinitiativen schränkten den Einfluss der Kirche in der Gesellschaft weiter ein, indem sie die Sonntagsruhe wie auch kirchliche Feiertage oder religiöse Zeremonien zur Eröffnung des Parlaments abschafften und die konfessionelle Trennung auf Friedhöfen aufhoben. All das deutete auf das Trennungsgesetz von 1905 voraus, das schließlich die Kündigung des Konkordats, eine Streichung der staatlichen Kirchenfinanzierung und die Organisation der Religionsgemeinschaften in nichtöffentlichen Kultusvereinen festschrieb. Der Begriff laïcité gewann in dieser Zeit seine bis heute aktuelle Prägung: Wurde zunächst in der religiösen Sprache der Laie vom Priester unterschieden, markierte der republikanische Sprachgebrauch nun das religiös Indifferente und Nicht-Glaubensorientierte als eine eigene, von der Politik zu schaffende und zu bewahrende Sphäre. Bis heute genießt das Prinzip der laïcité eine hohe Akzeptanz: 2017 bewerteten in Meinungsumfragen 84 Prozent der Franzosen dieses Prinzip als positiv, zugleich sahen es 81 Prozent als gefährdet an. Aufgeklärter Laizismus in Gefahr? Blickt man hinter die Kulissen dieses Idealtyps, so zeigen sich rasch Ausnahmen von der Laizität, die historisch wie auch aus der Sache heraus begründet sind: Sowohl in den französischen Überseegebieten als auch in den linksrheinischen Departements gelten die staatskirchenrechtlichen Konkordate und Ordonanzen weiter, die vor 1905 in Kraft waren. Das beim Innenministerium angesiedelte Bureau central des cultes (Zentrales Kultusbüro) ernennt Priester und Seelsorger für Militär und Justiz und regelt steuerrechtliche Erleichterungen für Religionsgemeinschaften. Auch bei der Errichtung von Kirchen finanziert der Staat gelegentlich indirekt mit, wenn er etwa Erbpachtverträge gewährt oder angegliederte Kulturzentren finanziell unterstützt. Seit ihrer Verabschiedung kann die Geschichte der Trennungsgesetze als eine "Geschichte stetiger staatlicher Rückzüge" beschrieben werden. Auch wenn der laizistische Staat die katholische Kirche auf den Status einer privaten Vereinigung beschränken kann, so behält diese als unabhängige Körperschaft und gestützt auf den Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz der französischen Verfassung die Möglichkeit, ihre Ziele wirksam zu entfalten. Über viele Jahrzehnte waren diese Arrangements unbestritten und entwickelten sich eher hin zu einer pragmatisch praktizierten Trennung. Von diesen Tendenzen ist man heute weit entfernt: Stattdessen wird in politischen Diskussionen häufig wieder eine striktere Abgrenzung zwischen Religionsgemeinschaften und Staat gefordert. Dabei sind weniger die Linken als die bisherigen Verteidiger der laïcité diejenigen, die das Prinzip in die Diskussion rücken, sondern der rechte Rand. Im Präsidentschaftswahlkampf 2017 setzte insbesondere die Kandidatin und Vorsitzende des rechtspopulistischen Front National, Marine Le Pen, auf eine klare Abgrenzung insbesondere zum Islam. Sie gab den Ton der politischen Debatte vor, als sie in ihren Spots zum Präsidentschaftswahlkampf 2017 eine "Rückkehr zur laïcité" forderte. Nach jedem der islamistisch motivierten Anschläge, die Frankreich in den vergangenen Jahren trafen, fand diese Erzählung vom Islam als Gefahr besonders viel Zustimmung. Was zunächst nur am allerrechtesten Rand geäußert wurde, spiegelt sich zunehmend in unterschiedlich starker Ausprägung im gesamten politischen Spektrum wider. Oftmals wird dabei die Angst vor dem Verlust nationaler Werte und des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit der Diskussion des Verhältnisses zwischen Staat und Religion verbunden. Die Verfechter eines aufgeklärten Laizismus als befriedendes Prinzip sind dagegen seltener zu vernehmen. Der Sozialist und ehemalige Minister für Soziales und Integration, Jean-Louis Bianco, der die vom Parlament 2013 eingesetzte Laizismus-Beobachtungsstelle leitet, sieht vor allem die gefühlte Bedrohung des Laizismusprinzips mit Sorge: Ängste, die der islamistisch motivierte Terrorismus verstärkt habe, die aber auch von politischen Scharfmachern geschürt würden. Das Laizismusprinzip verteidige weder eine französische Volksidentität noch sei es eine Kampfansage gegen alles Religiöse oder den Islam. Wer das Laizismusgesetz dazu umdeuten wolle – ob Rechtsnationale oder linke Hardliner – pervertiere es. "Wenn wir anfangen, Gesetze zu machen gegen den Islam oder das Kopftuch im öffentlichen Raum: Wer sagt mir, dass morgen nicht eine andere Religion oder eine politische Überzeugung, die angeblich nicht die richtige ist, in der Öffentlichkeit verboten wird? Auch deshalb ist ein aufgeklärter Laizismus so wichtig, als eine Form der Freiheit." Deutsches Kooperationsmodell Wenn die französische laïcité das eine Ende der Skala möglicher Beziehungen von Staat und Religionsgemeinschaften markiert, dann ist die Staatskirche als substanzielle Einheit von politischen und religiösen Institutionen das andere. Im Trennungsmodell, wie es neben Frankreich auch die Vereinigten Staaten praktizieren, behandelt der Staat jede Religionsgemeinschaft unabhängig von ihrer Größe und inneren Verfasstheit im Sinne eines "Glaubensvereins". Tendenziell drängt der Staat die gelebte Frömmigkeit in die Privatsphäre ab und verzichtet konsequenterweise darauf, sich religiöse Sinnressourcen zu eigen zu machen. Im Staatskirchenmodell, wie es in Dänemark, England, aber auch bis 2000 in Schweden bestand, decken sich politische und religiöse Strukturen. Die religionspolitische Situation in Deutschland ist zwischen diesen beiden Konstellationen zu verorten und lässt sich als Kooperationsmodell beschreiben. In diesem in Europa häufigen, aber auch beispielsweise in Australien praktizierten Arrangement ist eine Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften pragmatisch-pluralistisch angelegt. Das Modell erlaubt es beiden Akteuren, trotz einer prinzipiellen Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften bestimmte Aufgaben kooperativ zu gestalten und die wechselseitig vorhandenen Ressourcen zu nutzen. So gibt es in Deutschland insbesondere im Schulwesen, aber auch im karitativen Bereich Sonderregelungen, durch die die Kirchen öffentlichen Trägern gleichgestellt werden. Caritas und Diakonie sind als kirchennahe Organisationen in der Krankenversorgung und Pflege die größten nichtöffentlichen Arbeitgeber. Auch in vielen anderen Bereichen arbeiten Staat und Kirchen eng zusammen: Christliche Feiertage werden staatlich geschützt; in den Ländern ist der konfessionelle Religionsunterricht reguläres Schulfach. Die staatlichen Universitäten unterhalten theologische Fakultäten, die in ihrer Ausrichtung an die Weisung der Kirchen gebunden sind, zugleich betreiben die Kirchen eigene Hochschulen. Mit der Gründung der Bundeswehr wurde den beiden christlichen Kirchen die Militärseelsorge juristisch garantiert und praktisch übertragen. In den Rundfunk- und Fernsehmedien der staatlichen Anstalten haben Kirchenvertreter ebenso Sitz und Stimme wie in politisch initiierten Enquetekommissionen und Ethikräten. Eine Besonderheit des Verhältnisses von Staat und Religion in Deutschland ist das Kirchensteuersystem, das religiösen Gemeinschaften, die den Rang einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangt haben, erlaubt, eine Steuer zu erheben, die von den staatlichen Finanzbehörden gegen ein Entgelt direkt vom Lohn der Beschäftigten einbehalten wird. Bis heute gelten die christlichen Religionsgemeinschaften in Deutschland im internationalen Vergleich als besonders reiche Kirchen. Wie sich Staat und Religionsgemeinschaften miteinander arrangieren, ist in der Regel keine Entscheidung im Sinne der skizzierten Idealtypen, sondern resultiert aus kontingenten Ereignissen, spezifisch historischen Umständen sowie aus politischen und religiösen Interessen und Kräfteverhältnissen. In Frankreich war die Ablösung und Behauptung der Republik gegen die eng mit der absoluten Monarchie verbundene katholische Kirche der Hauptmovens für die Entwicklung. In Deutschland prägten hingegen der Bikonfessionalismus und die notwendige Befriedung der religionspolitischen Konstellation wesentlich die Entwicklung. "Fürstenrevolution", Kulturkampf, Kompromiss Die religiöse Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten wurde im Augsburger Religionsfrieden von 1555 politisch zementiert, in dem das Bekenntnis des Fürsten als ausschlaggebend für die jeweilige Bevölkerung erklärt wurde. In den souveränen Territorialstaaten herrschte gemäß dem Leitsatz cuius regio eius religio konfessionelle Einheitlichkeit, während auf der Reichsebene die Parität der Konfessionen als Gestaltungsprinzip vorherrschte. Diese Konstellation wurde nicht wie in Frankreich im Namen einer Revolution des Volkes oder der Nation aufgebrochen, sondern im Zuge einer "Fürstenrevolution": Um die weltlichen Fürsten für ihre linksrheinischen Gebietsverluste an Frankreich zu entschädigen, verfügte der Reichstag 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluss die Auflösung der zuvor geistlichen Herrschaftsstrukturen, und fast das gesamte Vermögen der säkularisierten Fürstentümer ging in staatliche Hände über. Zugleich war es den Fürsten erlaubt, zur "Erleichterung ihrer Finanzen" auch sonstiges Kircheneigentum zu säkularisieren. Fast fünf Millionen Menschen erhielten im Zuge dieser Veränderung neue Landesherren. Religionspolitisch musste vor allem nach dem Wiener Kongress 1815 eine Politik der Toleranz einsetzen, sahen sich die Landesherren doch durch die territorialen Neuordnungen gezwungen, von ihrem Prinzip der konfessionellen Geschlossenheit abzuweichen und auch Bevölkerungsteile mit anderem religiösen Bekenntnis zu tolerieren. Parallel zur Säkularisierung des kirchlichen Besitzes und zur Entflechtung der Religion von der politischen Herrschaft entwickelten sich kirchliche Autonomieansprüche und -bedürfnisse. Insbesondere die katholische Kirche pochte auf Unabhängigkeit zum Staat und ein Selbstbestimmungsrecht. Wie konnte sowohl die Religionsfreiheit des Einzelnen als auch die Autonomie der religiösen Organisationen geschützt werden? Wie konnte zugleich garantiert werden, dass diese Strukturen der weltlichen Herrschaft ein- und untergeordnet blieben? Insbesondere im Kulturkampf der 1870er Jahre fochten preußische Liberale und katholische Kirche um diese Frage. Die in den Kirchenartikeln zur Weimarer Verfassung (WRV, Art. 136 bis 141) erdachte "Kompromissformel" setzte darauf, den Kirchen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuzuerkennen – ein von Beginn an "rätselhafter Ehrentitel", wie die zeitgenössischen politischen wie staats- und kirchenrechtlichen Diskussionen zeigen. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann gelten, dass man sich damit gegen das französische Trennungsmodell entschieden hatte und die Kirchen nicht auf die Rolle als ausschließlich private Vereinigungen verwies, sondern ihnen eine mit der Sphäre des Hoheitlichen verbundene Aufgabe zuwies. Denn als Körperschaft des öffentlichen Rechts können Religionsgemeinschaften zumindest partiell hoheitlich tätig werden und insbesondere nach Art. 137 Abs. 6 WRV Steuern erheben. Sie können kirchliche Beamte beschäftigen oder Stiftungen gründen. Zudem sind sie von der Pflicht zur Entrichtung von Körperschafts-, Vermögens- und Grundsteuer entbunden. Den Religionsgemeinschaften stehen damit die Handlungsformen des öffentlichen Rechts zu, ohne dass sie aber als Teil des Staates anzusehen wären. Art. 137 Abs. 1 WRV verbietet diese Gleichsetzung explizit: Es herrscht eine strikte Trennung von Kirche und Staat, was sich unter anderem darin realisiert, dass die so definierten Körperschaften vollumfänglich grundrechtsfähig bleiben; hingegen sind sie nicht grundrechtsgebunden. Insofern zeigt sich ein starker dogmatischer Unterschied zu anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts wie Universitäten oder Rundfunkanstalten, bei denen der Bezug zum Staat deutlich stärker ist. Die Weimarer Kirchenartikel wurden fast wortwörtlich ins Grundgesetz für die Bundesrepublik übernommen – und mit einer Politik umgesetzt, die noch viel kirchennäher war als die der ersten deutschen Demokratie. Es wird ein Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft praktiziert, bei der eine formale und juristische Trennung von Staat und Kirche einhergeht mit einer großen Nähe von staatlichen Institutionen insbesondere zu den zwei großen christlichen Konfessionskirchen, aber auch zu zahlreichen anderen Religionsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt bekommen haben. Angesichts eines immer stärker säkularisierten und pluralisierten religiösen Feldes wird dieses Arrangement allerdings zunehmend zur Herausforderung, gilt es doch, die religiös-weltanschauliche Neutralität des Verfassungsstaates zu wahren und keine Religionsgemeinschaft, aber auch keine religiös ungebundenen Menschen zu diskriminieren. Gleichheitsversprechen oder Exklusionsmechanismus? Im Rahmen der Weimarer Verfassung blieb der Körperschaftsstatus der sogenannten altkorporierten Religionsgesellschaften nach 1919 erhalten. Zugleich aber legte der bis heute gültige Art. 137 Abs. 5 WRV fest, dass auf Antrag auch "anderen Religionsgesellschaften (…) gleiche Rechte zu gewähren [sind], wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten." Der Status steht somit allen Gemeinschaften offen, bei denen aufgrund der Altersstruktur und Organisationsform eine Prognose für ein längeres Bestehen abgegeben werden kann. Konstitutiv für eine Religionsgesellschaft ist also in erster Linie das personale Substrat, sprich: die Mitgliedschaft natürlicher Personen. Umstritten ist, inwiefern auch die innere Verfassung der Religionsgemeinschaft zu prüfen ist und welcher Grad von Verfassungskonformität anzusetzen ist. Die Liste der Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus in Deutschland ist lang: Baden-Württemberg kennt mindestens 28 solcher Vereinigungen, Bayern 17 plus 97 Ordensgemeinschaften und Klöster, Nordrhein-Westfalen 20, Schleswig-Holstein 27. Die Gesamtliste der entsprechend anerkannten Religionsgemeinschaften ist "ein veritables Kompendium religiöser Pluralität in Deutschland": Neben den einschlägigen Gliederungen der katholischen Kirche ist der Rechtsstatus so unterschiedlichen Gemeinschaften wie der Herrnhuter Brüdergemeinde, den jüdischen Kultusgemeinden, den verschiedenen protestantischen Freikirchen, Methodisten, Unitariern, Humanisten, Mormonen und seit 2005 auch den Zeugen Jehovas zuerkannt. Es ist jedoch augenfällig, dass die meisten islamischen Organisationen und Kultusgemeinden ebenso wie die fernöstlichen Glaubensbewegungen nicht repräsentiert sind. In der Tat baut das juristische Instrument der Körperschaft öffentlichen Rechts insbesondere für den Islam Hürden auf, die für ihn theologisch, religionsintern und organisatorisch kaum zu überwinden sind – wie etwa soll eine Religionsgemeinschaft, die theologisch keine justiziablen Ein- und Ausschlusskriterien kennt, wie eine Organisation Mitgliedschaften ausweisen? Zwar erlaubt der Körperschaftsstatus, unterschiedlichen Interessen der Religionsgemeinschaften in besonderer Weise Rechnung zu tragen und sie vor der Indienstnahme durch den Staat ebenso zu schützen wie die Instrumentalisierung des Staates durch religiöse Kräfte zu verhindern. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Religionspolitik in Deutschland sind aber stark auf die beiden christlichen Großkirchen zugeschnitten. Auch wenn sich seit dem Ende der 1960er Jahre bestimmte enge Bindungen gelöst haben und sich die religiöse Landschaft durch die Wiedervereinigung grundlegend geändert hat, sind "die bis dahin geschaffenen Fundamente und Bausteine dieses Programms" erhalten geblieben. Erst langsam zeigen sich Ansätze zu einer Aufhebung der "hinkenden Trennung" von Staat und christlichen Kirchen, indem Religiösen unterschiedlicher Bekenntnisse nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch gleiche Möglichkeiten eingeräumt werden und – auch das ist eine wichtige Aufgabe – die wachsende Gruppe der Nichtreligiösen Beachtung findet. Die Zuerkennung des Körperschaftsstatus an die muslimische Gemeinde Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) in Hessen 2013, der bundesweit erste reguläre Islamunterricht in Nordrhein-Westfalen, der Vertrag zwischen dem Stadtstaat Hamburg und der islamischen Gemeinschaft wie auch die Einrichtung von drei Zentren für islamische Theologie an deutschen Universitäten sind erste Schritte in Richtung einer politischen Gleichberechtigung der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Zukunftstaugliche Konzepte? Sowohl das französische Konzept der strikten laïcité als auch das deutsche Arrangement der "hinkenden Trennung" stehen seit einigen Jahren neuen Herausforderungen gegenüber. Dazu zählt neben dem Bedeutungsverlust von Religion für das Leben von immer größeren Teilen der Bevölkerung insbesondere auch eine stärkere öffentliche Präsenz muslimischer Gruppen in Deutschland wie in Frankreich. In beiden Ländern reagieren rechtspopulistische Bewegungen wie auch ein Teil der übrigen Parteien mit einer Haltung der "cultural defense": Um die vermeintliche Bedrohung eigener Identitäten zu kompensieren, werden religiöse Bekenntnisse in einer kulturchristlichen Façon stark gemacht und mit nationalen und xenophoben Prämissen verbunden. Diese politischen Allianzen sind vor allem auf die Abwehr des Fremden ausgerichtet. Ein besonderes Gewicht bekommen diese Aktivitäten dann, wenn sich das übrige politische Feld diese Forderungen zu eigen macht und Migration sowie die damit einhergehende religiöse Pluralisierung vor allem als Thema von Sicherheit, Abgrenzung und zum Teil Fremdenfeindlichkeit diskutiert. Können die religionspolitischen Konstellationen in Frankreich und Deutschland darauf adäquat reagieren? Vielleicht war es in Frankreich der Abgrenzung wegen historisch angemessen, in Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche staatlicherseits religiöse Überzeugungen weitgehend zu ignorieren und zur Privatangelegenheit zu erklären. Im Fall des Islams als einer mittlerweile quantitativ stark vertretenen Minderheitenreligion muss es eher darum gehen, die Ausübung des religiösen Bekenntnisses positiv zu ermöglichen. In Deutschland bot die "hinkende Trennung" von Staat und christlichen Kirchen in den 1950er und 1960er Jahren eine Win-win-Situation, war die Bevölkerung doch überwiegend christlich geprägt. Ob hingegen heute und in Zukunft das die vergangenen Jahrzehnte prägende "Weiter so" in den etablierten Formen der Religionspolitik angebracht ist, erscheint aufgrund der starken Veränderungen des religiösen Feldes höchst fraglich. Zit. nach Tom Schmidtgen, Macrons Spiel mit dem Laizismus, 10.4.2018, Externer Link: http://www.faz.net/-15535080.html. Zit. nach Christian Gschwendtner/Jens Schneider, Söder im Kreuzfeuer, 25.4.2018, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/-1.3957162. Siehe auch den Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Die Französische Revolution, München 20134. Vgl. Christian Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen 2006, S. 95. Vgl. Pierre Ognier, La laïcité scolaire dans son histoire, in: Jean Baubérot et al. (Hrsg.), Histoire de la laïcité, Besançon 1994, S. 71ff., hier S. 73. Zit. nach Fabian Federl, Der Islam gehört zu Frankreich, 21.4.2017, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/laizismus-frankreich-islam-elsass-wahlkampf/komplettansicht. Hans Maier, Religion, Staat und Laizität – ein deutsch-französischer Vergleich, in: Zeitschrift für Politik 2/2011, S. 213–222, hier S. 216. Ebd., S. 219. Zit. nach Margit Hillmann, Laizismus von Links, 13.3.2018, Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/frankreich-laizismus-von-links.886.de.html?dram:article_id=412606Ebd. Vgl. Walter (Anm. 5), S. 98. Rudolf Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 1/1951, S. 1–14, hier S. 9. Für eine Skizze der parlamentarischen Debatte vgl. Walter (Anm. 5), S. 121f. Vgl. Walter (Anm. 5), S. 125f. Für eine kurze Skizze und weiterführende Literatur vgl. Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013, S. 50ff. Vgl. die Skizze der Diskussion bei Kathrin Groh, Das Verhältnis von Staat und Kirche aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Thomas Bohrmann/Gottfried Küenzlen (Hrsg.), Religion im säkularen Verfassungsstaat, Münster 2012, S. 23–38. Vgl. dazu die einschlägige und teilaktualisierte Datenbank des Instituts für Europäisches Verfassungsrecht in Trier, Externer Link: http://www.uni-trier.de/index.php?id=26713. Hans Michael Heinig, Der Körperschaftsstatus nach Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV. Ein Gleichheitsversprechen, in: Astrid Reuter/Hans Kippenberg (Hrsg.), Religionskonflikte im Verfassungsstaat, Göttingen 2010, S. 93–118, hier S. 114. Vgl. Ulrich Willems, Weltanschaulich neutraler Staat, christlich-abendländische Kultur und Laizismus. Zu Struktur und Konsequenzen aktueller religionspolitischer Konflikte in der Bundesrepublik, in: Manfred Walther (Hrsg.), Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004, S. 303–328, hier S. 308. Steve Bruce, Status and Cultural Defense: The Case of the New Christian Right, in: Sociological Focus 3/1987, S. 242–246.
Article
, Thomas Großbölting
"2022-02-17T00:00:00"
"2018-07-05T00:00:00"
"2022-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/272105/geschichte-und-gegenwart-von-laicite-und-hinkender-trennung/
Das Verhältnis von Staat und Religion resultiert aus kontingenten Ereignissen, spezifisch historischen Umständen sowie aus politischen und religiösen Interessen und Kräfteverhältnissen. Seit einigen Jahren stehen die Arrangements in Deutschland und F
[ "Religionspolitik", "Religion", "Religionsfreiheit", "Deutschland", "Frankreich", "Laizität", "Kirche", "Christentum", "Islam", "Judentum" ]
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Postsowjetische Migranten in Deutschland. Perspektiven auf eine heterogene "Diaspora" | Fremd in der Heimat? | bpb.de
Im Januar 2016 demonstrierten bundesweit bis zu 10.000 Menschen anlässlich der angeblichen Vergewaltigung der damals 13-jährigen Lisa F. aus Berlin-Marzahn durch wahlweise "Ausländer", "Flüchtlinge", "Araber" oder "Südländer". Da die Demonstrantinnen und Demonstranten je nach Bericht "Russlanddeutsche", "Russischstämmige" oder "Menschen russischer Herkunft" waren und ihrer Mobilisierung eine entsprechende Falschmeldung des Ersten Kanals des russischen Fernsehens vorausgegangen war, verbreitete sich rasch der Verdacht, hier habe der Kreml seine Hand im Spiel gehabt. So schrieb etwa die "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ), die "russische Propaganda" wolle die "russischsprachigen Bevölkerungsgruppen in Deutschland (…) missbrauchen, um Druck auf die deutsche Regierung auszuüben". Alles "Russischsprachige"? Die Bezeichnung "russischsprachige Bevölkerungsgruppen" ist relativ neu im deutschsprachigen Diskurs. Es handelt sich augenscheinlich um eine Übersetzung des russischen Begriffs russkojazyčnye, der in Russland bereits seit den 1990er Jahren von offizieller Seite als Bezeichnung für die "Landsleute" (sootečestvenniki) im Ausland verwendet wird. Im russischen Kontext sind damit sowohl russischsprachige Minderheiten im "nahen Ausland" – den ehemaligen Sowjetrepubliken – gemeint als auch Emigranten in westlichen Ländern. Im deutschen Kontext hat der Begriff ebenfalls eine Doppelfunktion: zum einen als Selbstbeschreibung bestimmter organisierter Personengruppen wie etwa des Bundesverbands russischsprachiger Eltern, zum anderen findet er – wie in dem zitierten NZZ-Artikel – zunehmend Verwendung als Sammelbegriff für verschiedene Zuwanderergruppen aus der ehemaligen Sowjetunion. Schwerpunktmäßig sind damit russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler, jüdische Kontingentflüchtlinge sowie deren Angehörige gemeint – ungeachtet dessen, dass etwa Repräsentanten der organisierten Russlanddeutschen die Bezeichnung "russischsprachig" für sich vehement ablehnen. Über die Russischsprachigen in diesem umfassenden Sinne wurde im Nachgang zum "Fall Lisa" viel geschrieben. An genauerem Wissen über diese heterogene Migrantengruppe mangelt es allerdings. Dies beginnt schon bei der fundamentalen Frage ihrer Größe. In verschiedenen Publikationen finden sich Zahlenangaben von drei bis sechs Millionen Russischsprechern in Deutschland. Die deutschsprachige Wikipedia verbreitet letztere Zahl. Sie wird immer wieder ungeprüft zitiert, obwohl sie sich explizit auf eine Definition des russischen Außenministeriums bezieht, gemäß der Russischsprecher Personen seien, die das Russische "in unterschiedlichem Maße (v toj ili inoj stepeni)" beherrschten. "Russischsprachig" impliziert hier also keine muttersprachlichen oder auch nur fließende Kenntnisse des Russischen, von Lese- und Schreibkenntnissen ganz zu schweigen. Damit ist klar, dass die Zahl von sechs Millionen Russischsprechern in Deutschland in jedem Fall übertrieben ist. Aber auch die übrigen Angaben von mindestens drei Millionen russischsprachigen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland entbehren einer soliden statistischen Grundlage. In diesem Beitrag sollen die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion daher mit der besser geeigneten Sammelbezeichnung "postsowjetische Migranten" gefasst werden – ein Begriff, der auf der statistisch erfassten Kategorie des Herkunftslandes basiert und nicht auf dem unscharfen Kriterium der Sprache. Gleichwohl werde ich versuchen, die Zahl der Russischsprecher unter den postsowjetischen Migrantinnen und Migranten genauer zu fassen, um diesbezüglichen Spekulationen belegbare Daten entgegenzusetzen. Ziel dieses Beitrags ist es, die unklar konturierte Großgruppe "postsowjetische Migranten" genauer zu vermessen. Insbesondere über die zahlenmäßig dominanten russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler und ihre Angehörigen liegen wenige verlässliche Daten vor. Bisherige quantitative Forschungen haben die (Spät-)Aussiedler in der Regel als rechtlich definierte Kategorie ohne gesonderte Berücksichtigung der geografischen Herkunft untersucht, also unter Einbeziehung der aus Polen und Rumänien stammenden Deutschen. Erkenntnisse über die Russlanddeutschen lassen sich hieraus nur bedingt ableiten. Im Folgenden werden daher die materielle und "ideelle" Situation sowie die Integration der postsowjetischen Migranten in Deutschland im Allgemeinen und der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler im Speziellen skizziert. Dazu werden Daten aus dem Mikrozensus von 2015 analysiert, die ein besseres Verständnis der sozialen Lage der Zuwanderer aus der ehemaligen UdSSR erlauben. In einem weiteren Schritt werden dann auf Grundlage einiger kürzlich erschienener Studien der Sprachgebrauch, der Medienkonsum, die politischen Einstellungen sowie das Verhältnis der postsowjetischen Zuwanderer zu Russland in den Blick genommen – Aspekte, die seit dem "Fall Lisa" kontrovers, aber wenig faktenbasiert diskutiert wurden. Unterschiedliche Gruppen und ihre Größe Die Präsenz postsowjetischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland ist das Ergebnis von Zuwanderungsbewegungen vor allem der zurückliegenden drei Jahrzehnte. Die gemäß Zuzugsstatistik umfangreichste Kategorie sind die rund 2,3 Millionen (Spät-)Aussiedler aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten, die schwerpunktmäßig seit 1987 in der Bundesrepublik Aufnahme fanden. Es handelt sich hierbei um Russlanddeutsche und ihre oft anders-ethnischen Familienangehörigen. Sie emigrierten in der Regel aus Sibirien oder aus zentralasiatischen Republiken wie Kasachstan und Kirgisien, wo sie infolge der Deportation ihrer Vorfahren während des Zweiten Weltkriegs seither gelebt hatten. Seit 1990 fanden auch rund 215.000 Juden oder Menschen jüdischer Abstammung mit ihren Angehörigen Aufnahme in der Bundesrepublik. Sie immigrierten unter einem speziellen Aufnahmeregime und erhielten den Status des "Kontingentflüchtlings". Sie kamen in den meisten Fällen aus den europäischen Republiken der ehemaligen UdSSR, und dort insbesondere aus großen Städten wie Moskau, Sankt Petersburg, Riga, Kiew, Dnepropetrowsk und Odessa. Weiterhin leben in Deutschland einige Tausend oder Zehntausend Migranten aus der ehemaligen UdSSR, die durch andere Kanäle in die Bundesrepublik kamen, etwa als Arbeits-, Bildungs- oder Heiratsmigranten oder als Flüchtlinge. Für diese "Anderen" lässt sich kein scharfes Herkunftsprofil zeichnen. Im Verhältnis zu den genannten Gruppen fallen sie zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Tabelle 1: Anzahl postsowjetischer Migranten in Deutschland (© bpb) Jenseits der Zuzugsstatistiken liefert der Mikrozensus von 2015 aktuelle Daten zur Anzahl der heute in Deutschland lebenden postsowjetischen Migranten. Auf Grundlage dieser Zahlen lässt sich auch abschätzen, wie viele Russischsprecher in Deutschland leben. Die rund drei Millionen Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund sind sowohl selbst zugewanderte Personen als auch ein Teil ihrer in Deutschland geborenen Nachkommen (Tabelle 1). Angehörige der zweiten Generation, die nicht mehr mit ihren Eltern in einem Haushalt leben, werden in dieser Kategorie nicht erfasst. Somit ist die Zahl drei Millionen einerseits zu niedrig, wenn wir über die Gesamtheit der Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund sprechen, andererseits ist sie zu hoch, wenn uns die Zahl der Russischsprecher interessiert. Eine sinnvolle Definition von "russischsprachiger Bevölkerung" in Deutschland kann sich nur auf diejenigen Menschen beziehen, die Russisch auf muttersprachlichem Niveau beherrschen. Dies kann man denjenigen Migranten unterstellen, die selbst noch in der ehemaligen UdSSR gelebt und dort zumindest in Teilen Schulbildung in russischer Sprache erhalten haben. Davon kann man bei den 1,95 Millionen ausgehen, die bei Einreise in die Bundesrepublik mindestens zehn Jahre alt waren. Diese – und nur diese – können wir umstandslos als "Russischsprecher" bezeichnen. Jegliche Zahlen darüber hinaus sind spekulativ, denn über die Russischkenntnisse der Nachkommen postsowjetischer Migranten, die im Kindesalter nach Deutschland kamen oder schon hier geboren sind, liegen keine systematischen Erkenntnisse vor. Man kann ihnen jedenfalls nicht automatisch fließende Russischkenntnisse unterstellen, zumal sie in der Regel über keine institutionalisierte Möglichkeit zum Spracherwerb verfügten. Studien in diesem Bereich legen rückläufige Kenntnisse des Russischen bei der zweiten Generation nahe, zumal sich viele russlanddeutsche Eltern bemühten, ihren Kindern bevorzugt das Deutsche nahezubringen. Folglich lässt sich die Anzahl der Russischsprecher in Deutschland realistisch nur als "zwei Millionen plus X" beziffern, wobei "X" aufgrund der begrenzten Möglichkeiten und auch des begrenzten Interesses vieler postsowjetischer Migranten an der Vermittlung des Russischen an die nächste Generation auf jeden Fall unter einer Million liegen dürfte. Die Gesamtzahl liegt somit deutlich unterhalb aller verbreiteten Schätzungen. Soziale Zusammensetzung Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei den postsowjetischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland um eine heterogene Gruppe, deren Untergruppen sich nach Rechtsstatus sowie ethnischer und geografischer Herkunft unterscheiden. Bei einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer in Deutschland von 18,3 Jahren (Stand 2015) lohnt sich inzwischen auch der Blick auf die seitdem entstandene soziale Differenzierung innerhalb dieser statistischen Großgruppe sowie zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Integration. Auch hierfür bieten die Daten des Mikrozensus von 2015 eine gute Grundlage. Um einen möglichst differenzierten Blick zu erhalten, werden hier drei Gruppen miteinander verglichen: 1) die Gesamtheit der postsowjetischen Migranten (russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler, Kontingentflüchtlinge und andere); 2) die darin enthaltene Gruppe der Immigranten aus Kasachstan; und 3) die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (die "Einheimischen"). Die Werte für kasachstanstämmige Migranten können hierbei als Näherungswert für die Gruppe der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler gelesen werden – zwar kommen Letztere nicht alle aus Kasachstan, aber fast alle kasachstanstämmigen Menschen in Deutschland sind russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler. Sie bilden somit quasi ein statistisch "reines" Sample (Stichprobe), das auch deswegen aussagekräftig für die Gesamtgruppe der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler ist, weil nicht von systematischen Unterschieden zwischen (Spät-)Aussiedlern aus Kasachstan und solchen aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken auszugehen ist. Alle diese Samples beziehen sich ausschließlich auf die erste Generation von Zuwanderern, da nur für diese die Daten vollständig sind. Abbildung 1: Bildungsabschlüsse nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb) Eine für den Integrationsverlauf prinzipiell wichtige Voraussetzung sind die mitgebrachten Bildungsabschlüsse. Hier sieht man bei den postsowjetischen Zuwanderern deutliche Unterschiede innerhalb der Großgruppe wie auch im Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (Abbildung 1). Während die postsowjetischen Migranten insgesamt ein besseres formales Bildungsniveau mitbringen als die "einheimische" Bevölkerung, fällt auf, dass die Zuwanderer aus Kasachstan deutlich seltener Abitur oder Fachabitur haben als die beiden Vergleichsgruppen, dafür umso häufiger das Äquivalent von Real- oder Hauptschulabschluss. Dass die Gesamtgruppe der postsowjetischen Migranten hier trotzdem so gut abschneidet, dürfte vor allem dem hohen Bildungsniveau der jüdischen Kontingentflüchtlinge geschuldet sein. Tabelle 2: Erwerbslosenquote und Abhängigkeit von Transferleistungen (in Prozent) (© bpb) Jedoch übersetzt sich ein höheres Bildungsniveau nicht automatisch in größeren Arbeitsmarkterfolg. Im Gegenteil: Die vergleichsweise weniger hoch gebildeten Kasachstanstämmigen sind seltener erwerbslos und von Transferleistungen abhängig als die Gesamtgruppe der postsowjetischen Migranten (Tabelle 2). Hier bildet sich das oft beklagte Problem ab, dass Zuwanderer mit höherer Qualifikation lange Zeit Schwierigkeiten hatten, ihre Abschlüsse anerkannt zu bekommen. Die hohe Quote von Sozialhilfeempfängern unter den postsowjetischen Migranten sticht besonders hervor. Hier spiegelt sich die Problematik der wachsenden Altersarmut unter Kontingentflüchtlingen sowie unter denjenigen Spätaussiedlern wider, die ihre Arbeitsjahre in der ehemaligen Sowjetunion nicht oder nicht in vollem Umfang angerechnet bekamen und daher im Rentenalter in die Grundsicherung rutschen. Dieses Problem wird sich auf absehbare Zeit noch verschärfen – ein Umstand, auf den auch die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland inzwischen hinweist. Tabelle 3: Arten von Beschäftigung (in Prozent) (© bpb) In der Beschäftigungsstruktur derjenigen postsowjetischen Migranten, die sich in Arbeit befinden, fällt die überdurchschnittliche Konzentration insbesondere kasachstanstämmiger Männer im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe, Baugewerbe) auf (Tabelle 3). Sowjetunion- und kasachstanstämmige Frauen hingegen arbeiten zu ähnlichen Anteilen wie "einheimische" Frauen im tertiären Sektor (Dienstleistungsbereich). Bei ihnen fällt wiederum der hohe Anteil von ausschließlich geringfügig Beschäftigten auf, der fast doppelt so hoch liegt wie bei den Frauen ohne Migrationshintergrund. Niedrig ist hingegen der Anteil der Selbstständigen, insbesondere bei den Kasachstanstämmigen. Ihr Anteil liegt nur bei etwa einem Drittel der Quote der "einheimischen" Bevölkerung, aber auch deutlich niedriger als etwa bei den in der Tabelle 3 nicht aufgeführten türkeistämmigen Migranten (8,8 Prozent). Abbildung 2: Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Euro) (© bpb) Ein Vergleich der durchschnittlichen Haushaltseinkommen zeigt nur geringe Differenzen zwischen Haushalten mit mindestens einem postsowjetischen beziehungsweise kasachstanstämmigen Mitglied und Haushalten von Menschen ohne Migrationshintergrund (Abbildung 2). Während sie beim Gesamteinkommen um die 90 Prozent des "einheimischen" Niveaus erreichen, zeigen sich jedoch deutlichere Unterschiede bei den Haushaltseinkommen pro Kopf, wo die entsprechenden Werte nur bei gut zwei Dritteln liegen. Dies hat mit der Haushaltsgröße zu tun: Postsowjetische Haushalte sind mit 2,43 Personen im Schnitt größer als die der "Einheimischen", die bei 1,89 Personen liegen. Haushalte von Kasachstanstämmigen bestehen durchschnittlich aus 2,62 Personen. Entsprechend müssen in diesen Haushalten von einem ähnlich hohen Einkommen mehr Münder ernährt werden. Zugleich verweist dieser Umstand auf das erfolgreiche Zusammenlegen mehrerer relativ niedriger individueller Einkommen zu einem ausreichenden Haushaltseinkommen (pooling). So lassen sich auch die erwähnten hohen Anteile ausschließlich geringfügig beschäftigter Frauen erklären, deren Minijobs für sich genommen nicht zum Leben reichen, die aber einen wichtigen Beitrag zum Familienbudget leisten. Abbildung 3: Streuung der Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb) An der Streuung der absoluten Haushaltseinkommen über verschiedene Einkommenssegmente lässt sich schließlich sowohl die ökonomische Integration der postsowjetischen Migranten als auch ihre fortgeschrittene Binnendifferenzierung ablesen (Abbildung 3). Die postsowjetische Bevölkerung weist grundsätzlich eine ähnliche Streuung auf wie die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Auffällig sind allerdings gewisse Verschiebungen: Sowjetunionstämmige und Kasachstanstämmige sind beide im hohen Einkommenssegment über 4.500 Euro unterrepräsentiert. Doch während sich die Differenz bei den Kasachstanstämmigen im Segment direkt darunter (2.600 bis 4.500 Euro) wiederfindet, sind die Sowjetunionstämmigen insgesamt vor allem im sehr niedrigen Segment unter 900 Euro, also am Existenzminimum, überrepräsentiert. Die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler sind also in höherem Maße in der Mittelschicht angekommen als die Gesamtgruppe. Zugleich wird deutlich, dass es eine breite Streuung von Lebenslagen gibt, die allzu pauschalisierende Aussagen über die Situation "der" postsowjetischen Migranten oder auch "der" Russlanddeutschen nicht zulassen. Sprachgebrauch Nach dem "Fall Lisa" wurde viel über den Sprachgebrauch wie auch den Medienkonsum der postsowjetischen Migranten in Deutschland gemutmaßt. Zu beiden Fragen liefert die im Herbst 2016 erschienene Studie "Russians in Germany" der Boris-Nemtsov-Stiftung Anhaltspunkte. Mit "Russians" sind in dieser Untersuchung postsowjetische Migrantinnen und Migranten unterschiedlicher Hintergründe gemeint. Befragt wurden 606 Personen, davon 95 Prozent Angehörige der ersten Migrantengeneration. 78 Prozent der Befragten gaben an, (Spät-)Aussiedler zu sein. Bezüglich Sprachkenntnissen und Sprachgebrauch kam die Studie zu dem Ergebnis, dass 88 Prozent der Befragten Russisch als Muttersprache (61 Prozent) oder fließend (27 Prozent) beherrschen. Gemäß ihrer Selbsteinschätzung sprechen etwa zwei Drittel der Befragten Deutsch auf muttersprachlichem Niveau (21 Prozent) oder fließend (43 Prozent). 28 Prozent gaben mittelmäßige ("intermediate") Kenntnisse an, 7 Prozent Grundkenntnisse. Insofern ist es nicht überraschend, dass Russisch beziehungsweise ein Mix aus Russisch und Deutsch als Familiensprache überwiegt: 42 Prozent der Befragten sprechen zu Hause vor allem Russisch, 32 Prozent Deutsch und Russisch, 24 Prozent vor allem Deutsch. Gemischt ist das Bild auch beim Medienkonsum, allerdings mit anderer Gewichtung. Insbesondere seit dem "Fall Lisa" ist viel davon die Rede gewesen, dass sich die Russlanddeutschen und Russischsprachigen überwiegend aus russischsprachigen Medien informierten und von diesen gegen die deutsche Politik aufgehetzt würden. Die Nemtsov-Studie legt hingegen nahe, dass sich die Befragten aus russisch- und deutschsprachigen Medien informieren, wobei die deutschsprachigen Medien hier zum Teil deutlich überwiegen. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Sprache des Mediums noch nichts über den Inhalt aussagt: Auch RT Deutsch ist ein deutschsprachiges Medium, der unabhängige Sender TV Dožd‘ hingegen ein russischsprachiges. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die russische Sprache bei den postsowjetischen Migranten im privaten Bereich noch eine wichtige Rolle spielt; wenn es um Medien und Information geht, dominiert aber zunehmend das Deutsche. Politische Einstellungen Angesichts der seit dem "Fall Lisa" verbreiteten Sorgen um die vermeintliche Anfälligkeit der Russlanddeutschen beziehungsweise Russischsprachigen für Rechtspopulismus lohnt sich schließlich ein Blick auf die (wenigen) vorhandenen Daten zu ihren politischen Einstellungen. Aktuelle Studien relativieren den lange vorherrschenden Befund, dass (Spät-)Aussiedler im Allgemeinen und Russlanddeutsche im Besonderen politisch eher rechts der Mitte zu verorten seien und den Unionsparteien zuneigten. Eine im Oktober 2016 erschienene Untersuchung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Migration und Integration zu den Parteipräferenzen von Migranten zeigt, dass sich die (Spät-)Aussiedler insgesamt (also nicht nur die Russlanddeutschen) den Präferenzen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund angenähert haben (Tabelle 4). Tabelle 4: Parteipräferenzen (in Prozent) (© bpb) Die Studie weist jedoch darauf hin, dass unter den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion die Zustimmungsraten zur Union höher liegen als beim Durchschnitt der (Spät-)Aussiedlerbevölkerung, sie gleichzeitig aber auch stärker der Linken zuneigen. Die bestehenden Differenzen zu den "Einheimischen" lassen sich somit nicht durchgehend als eine stärkere Verortung rechts der Mitte lesen. Bemerkenswert sind die erhöhten Zustimmungsraten unter den (Spät-)Aussiedlern zur AfD – wohlgemerkt in einem Erhebungszeitraum (März bis August 2015), als die AfD ihre Wandlung zur populistischen Antiflüchtlingspartei noch nicht vollzogen hatte. Hier handelt es sich um ein starkes Indiz dafür, dass an dem oft gemutmaßten erhöhten Zuspruch der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler zur AfD tatsächlich etwas dran ist. Allerdings ist dieser Zuspruch nicht zwingend als Funktion eines bestimmten "mitgebrachten" autoritären Politikverständnisses zu interpretieren. Plausibel erscheint vielmehr eine soziale Erklärung: Wie Studien gezeigt haben, findet die AfD überdurchschnittlichen Zuspruch bei Arbeitslosen und Arbeitern sowie Menschen mit niedrigen und mittleren Bildungsabschlüssen. Diese Kategorien sind, wie gesehen, unter den postsowjetischen Migranten und den Russlanddeutschen überrepräsentiert, was auch ihren verstärkten Zuspruch zur AfD wahrscheinlich werden lässt. Hier fehlen allerdings aktuellere Daten, die die Zustimmung zur "neuen" AfD von Petry und Co. deutlicher abbilden. Diasporanationalismus? Seit dem "Fall Lisa" geistert außerdem immer wieder der Verdacht durch den öffentlichen Raum, dass die postsowjetischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland besonders anfällig für einen russischen "Diasporanationalismus" seien und sich in diesem Sinne vom Kreml instrumentalisieren ließen. Ohne die Stichhaltigkeit dieses Verdachts hier ausführlich erörtern zu können, sei darauf hingewiesen, dass man in diesem Zusammenhang unbedingt diasporische Praktiken – in den Worten der Forscherin Natalia Kühn: "gelebte Transnationalität" – und staatliche Diasporapolitik auseinanderhalten sollte. Zur "gelebten Transnationalität" gehören grenzüberschreitende Familien- und Freundschaftsnetzwerke, die heutzutage insbesondere in der virtuellen Sphäre gepflegt werden können, etwa in den russischsprachigen sozialen Netzwerken wie VK und Odnoklassniki. Dazu gehört auch die Existenz einer lebhaften russischsprachigen Presselandschaft in Deutschland. Zur staatlichen Diasporapolitik hingegen gehören Russlands seit den 1990er Jahren zu beobachtende Bemühungen um die Vereinnahmung "seiner" Diaspora im postsowjetischen und zunehmend auch im europäischen Ausland und darüber hinaus. Aus diesem Werben kann man aber nicht zwingend schließen, dass es vonseiten der Emigranten auch erwidert wird, selbst wenn sie an transnationalen Strukturen partizipieren. Dabei ist zu bedenken, dass der Großteil der postsowjetischen Migranten die ehemalige UdSSR nicht als "Russen" verließ, sondern als Angehörige kulturell russifizierter ethnischer Minderheiten. Insofern wäre es ein Trugschluss, postsowjetische Herkunft und den Gebrauch der russischen Sprache automatisch mit der Identifikation mit Russland gleichzusetzen. Zugleich ist eine Re-Identifikation der zweiten Generation mit Russland insbesondere im Falle anhaltender Diskriminierung als "Russen" durchaus denkbar, trotz rückläufiger russischer Sprachkenntnisse. Zwangsläufigkeiten gibt es aber keine. Trotz der Rede von der "Instrumentalisierung" der "Diaspora" ist diese kein willenloses Instrument, sondern besteht aus realen Menschen mit eigener Handlungsmacht. Tabelle 1: Anzahl postsowjetischer Migranten in Deutschland (© bpb) Abbildung 1: Bildungsabschlüsse nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb) Tabelle 2: Erwerbslosenquote und Abhängigkeit von Transferleistungen (in Prozent) (© bpb) Tabelle 3: Arten von Beschäftigung (in Prozent) (© bpb) Abbildung 2: Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Euro) (© bpb) Abbildung 3: Streuung der Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb) Tabelle 4: Parteipräferenzen (in Prozent) (© bpb) Christian Weisflog, Wie Putins Propaganda die Russlanddeutschen aufhetzt, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 25.1.2016, Externer Link: http://www.nzz.ch/1.18683335. Vgl. Rogers Brubaker, Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1995, S. 142f. Deutsche Zuwanderer aus Osteuropa wurden gemäß Bundesvertriebenengesetz bis Ende 1992 als Aussiedler bezeichnet, seitdem als Spätaussiedler. Hier sind in der Regel Angehörige beider Kategorien gemeint. So etwa der Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in der Verbandszeitschrift: Waldemar Eisenbraun, Auf ein Wort, in: Volk auf dem Weg 11/2016, S. 3. Die Zahl von drei Millionen wird genannt von: Natalia Kühn, Die Wiederentdeckung der Diaspora. Gelebte Transnationalität russischsprachiger MigrantInnen in Deutschland und Kanada, Wiesbaden 2012. Karl Schlögel sprach in einem bereits vor dem "Fall Lisa" erschienenen Beitrag für "Die Zeit" von "wohl mehr als vier Millionen russischsprachigen Bürgern" in Deutschland: Stiefmütterchen Berlin, 12.1.2016, Externer Link: http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/russen-in-deutschland-berlin-charlottenburg-russlanddeutsche-wuensdorf. Im eingangs zitierten NZZ-Artikel ist von sechs Millionen die Rede. https://de.wikipedia.org/wiki/Russischsprachige_Bevölkerungsgruppen_in_Deutschland. Vgl. Susanne Worbs et al., (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Forschungsbericht 20, Nürnberg 2013. Vgl. ebd., S. 30f. Zu ihrer Geschichte siehe Viktor Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler: Eine Geschichte der Russlanddeutschen, Bonn 2015. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Migrationsbericht 2014, Berlin 2016, S. 81. Vgl. Kühn (Anm. 5), S. 167. Vgl. ebd., S. 144f. Die im Folgenden genannten Zahlen aus dem Mikrozensus sind entnommen aus: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2015, Wiesbaden 2016. Vgl. Worbs et al. (Anm. 7), S. 145f. Vgl. Kühn (Anm. 5), S. 170f. Vgl. ebd., S. 172; Worbs et al. (Anm. 7), S. 62f. Vgl. Altersarmut unter den Deutschen aus Russland. Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, 2.11.2016, Externer Link: http://lmdr.de/stellungnahme_altersarmut. Vgl. Boris Nemtsov Foundation, Russians in Germany, Berlin 2016. Vgl. ebd., Folie 12. Vgl. ebd., Folie 17. Vgl. Worbs et al. (Anm. 7), S. 114f. Vgl. Martin Kroh/Karola Fetz, Das Profil der AfD-AnhängerInnen hat sich seit Gründung der Partei deutlich verändert, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW-Wochenbericht 34/2016, S. 711–719, hier S. 715. Vgl. Anastasia Kharitonova-Akhvlediani, Russischsprachige Printmedien und Integration, Berlin 2011.
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, Jannis Panagiotidis
"2021-12-07T00:00:00"
"2017-03-08T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/243862/postsowjetische-migranten-in-deutschland-perspektiven-auf-eine-heterogene-diaspora/
In Deutschland leben laut Mikrozensus rund 2,4 Millionen Menschen, die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken stammen. Diese post-sowjetischen Migranten sind eine sehr heterogene Gruppe, die in der Öffentlichkeit jedoch vielfach als einheitlich wahrgeno
[ "Aussiedler", "Spätaussiedler", "Russland", "Kasachstan", "Integration" ]
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Abstieg der Parteiendemokratie | Parteiendemokratie | bpb.de
Einleitung Seitdem der Begriff "Politikverdrossenheit" Anfang der 1990er Jahre Karriere gemacht hat, ist es üblich geworden, über Parteien fast durchweg kritisch zu urteilen. Von den "krakenhaften Armen" und der "Klüngelwirtschaft der modernen Parteien" (Erwin K. Scheuch) war damals die Rede. In einer Vielzahl von Publikationen hat seither der Verwaltungswissenschaftler Hans Herbert von Arnim Günstlingswirtschaft, Versorgungsmentalität und Handeln von Politikern zuerst im eigenen Interesse moniert. Und als vor einiger Zeit Arnulf Baring und Meinhard Miegel gegen angeblich selbstbezogene und führungsschwache Parteipolitiker zur Gründung von Bürgerkomitees aufriefen, war der Initiative die öffentliche Aufmerksamkeit gewiss. Das war und ist nur die intellektuelle Speerspitze einer weit verbreiteten Haltung, die Politikern und Parteien im eigenen Interesse fast alles, bei der Problemlösung für das Gemeinwesen aber nur noch wenig zutraut. Seit Jahren vermelden die Demoskopen immer neue Tiefstände im Ansehen der Politiker. Die Grundregel der Parteiendemokratie, nach der die Schwäche der einen immer die Stärke der anderen sei, ist darüber längst dem Befund einer allgemeinen Schwäche der Parteien gewichen. "Ratlose Riesen" hat sie der Politologe Rudolf Wildemann schon 1992 genannt. Tatsächlich liefert ein Blick auf den inneren Zustand der Parteien besorgniserregende Befunde. So hat die SPD allein in den Jahren der Regierung Schröder mehr als ein Viertel ihrer Mitglieder verloren. Verglichen mit dem Mitgliederhöchststand 1976 (1,02 Mio.) hat die SPD von heute nur noch gut die Hälfte des damaligen Mitgliederbestandes (Ende 2006: 560.000). Der CDU geht es nicht viel besser. Auch sie hat mit Mitgliederverlusten zu kämpfen. Gemessen am Rekordstand von 1990 (778 000) hat sie seither ein Viertel ihrer Parteianhänger eingebüßt (Ende 2006: 561.000). 1989 hatte allein die westdeutsche CDU 100.000 Mitglieder mehr als die gesamtdeutsche Union von heute. Noch mehr fällt die Überalterung beider großen Volksparteien ins Gewicht: Weniger als fünf Prozent der SPD-Mitglieder sind heute unter 30, gerade acht Prozent unter 35, dafür 43 Prozent über 60 Jahre alt. 1975 dagegen war jeder dritte Sozialdemokrat jünger als 35. Auch hier schneidet die CDU nicht viel besser ab. Zwar liegt der Anteil der Jüngeren etwas höher, aber Ende 2006 betrug das Durchschnittsalter der Parteimitglieder 56 Jahre. Auch der CSU, die ihren Mitgliederbestand seit 1990 ungefähr halten konnte, droht Überalterung. Zwar haben FDP wie GRÜNE einen höheren Anteil Jüngerer und meldet die neue Linkspartei allerhand Eintritte. Dennoch besteht die alte PDS-Mitgliedschaft in der Mehrzahl aus Rentnern. Insgesamt haben also auch die Kleineren Mühe, ihren Stand einigermaßen zu halten. Auch andere Anzeichen sprechen für einen Einflussverlust der Parteien. Offensichtlich ist die rückläufige Bedeutung von Parteitagen als zentralem Ort der politischen Willensbildung. Aus Foren der Auseinandersetzung um wichtige gesellschaftliche Zukunftsfragen sind Veranstaltungen geworden, die überwiegend unter medialen Wirkungsaspekten durchkomponiert werden. Zwar ist der Begriff der "Mediokratie" zur Charakterisierung der modernen Demokratieentwicklung in der Wissenschaft umstritten. Ganz gewiss aber sind im Verhältnis von Politik und Medien Veränderungen eingetreten, die zu Lasten der Politik gehen. Heute bestimmen die Medien die Themen der politischen Debatte (Agenda-Setting). Selbst die innerparteiliche Kommunikation wird weitgehend von ihnen übernommen. Die Politiker reagieren darauf mit Flucht in Symbolik und einer steigenden Tendenz, Politik vornehmlich mit Mitteln der Public Relations zu vermarkten. Auf Stimmenmaximierung angelegte kommunikative Kunstprodukte ersetzen das Programmangebot früherer Weltanschauungsgemeinschaften. Woher kommen diese Schwächezeichen? Wie sind sie im Kontext der Geschichte einzuordnen? Was bedeuten sie für die Zukunft der Demokratie? Geschichte In Deutschland beginnt die Geschichte der Parteien mit dem Paulskirchen-Parlament. Zwischen 1848 und 1871 bilden sich die großen Grundströmungen heraus, die die Parteiengeschichte lange geprägt haben: Die Liberalen, die sich bald in die wirtschaftsnahen Nationalliberalen und die freisinnigen Linksliberalen spalteten, die Sozialisten, bis zum Ersten Weltkrieg allein unter dem Dach der systemkritisch agierenden Arbeiterpartei SPD, die Konservativen, die sich im Kaiserreich auf zwei Parteien verteilten, die beide den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat stützten und schließlich das Zentrum als klassen- und schichtenübergreifende politische Interessenvertretung des Katholizismus. Die "bürgerlichen" Parteien des 19. Jahrhunderts waren keine Mitgliederparteien, sondern eher Vereinigungen von Honoratioren mit einem Apparat, der meist nur aus lokalen Wahlkampf-Unterstützungskomitees bestand. Allein die Sozialdemokraten wurden bald zur Massenpartei, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg mehr als eine Million Mitglieder anzog. Am nächsten kam ihnen das Zentrum, das ähnlich wie die SPD auf ein breites Umfeld von christlichen Gewerkschaften, Jugendverbänden, Kultur-, schließlich auch Sportvereinen und einer entsprechenden Presse rechnen konnte. Dass sich Parteien seinerzeit trotz wachsender Verankerung in der Gesellschaft nicht eben großen Ansehens erfreuten, kann im Rahmen des allenfalls halbdemokratischen, autoritären Regimes, wie es das Kaiserreich war, nicht überraschen. In der Verfassung von 1871 kamen sie gar nicht vor. Prägend für das Staatsverständnis in Deutschland war eine Vorstellung, in welcher der Staat eine über der Gesellschaft angesiedelte Sphäre darstellte, in der kein Platz sein sollte für "kleinliches Gezänk" der verschiedenen Parteien und Interessengruppen. Diese skeptische Sicht auf die Parteien fand sich auch in der Verfassung der Weimarer Republik wieder. Während sich die vier politischen Grundformationen von Liberalen, Konservativen, Sozialisten und Zentrum in erstaunlicher Kontinuität zum untergegangenen Kaiserreich in der ersten deutschen Demokratie unter meist neuen Namen wiederfanden - DDP und DVP als links- bzw. nationalliberale Parteien, die DNVP als Hort eines antidemokratischen Konservatismus, das Zentrum organisatorisch fast unverändert (bis auf die "Abspaltung" der BVP in Bayern), die Sozialisten die Spaltung in Kommunisten und Sozialdemokraten hinzunehmen hatten und am rechten Rand die Nazis zunächst nur eine Nebenrolle spielten -, ließ auch die neue Weimarer Reichsverfassung Parteien praktisch unerwähnt. Auch die Sonderrechte des direkt gewählten Reichspräsidenten, der am Parlament vorbei Gesetze in Kraft setzen und Reichskanzler ernennen konnte, können als Ausdruck von Skepsis gegenüber den Parteien verstanden werden. Dass diese Skepsis und die Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung ebenso zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie beigetragen haben wie die Schwäche der demokratischen Parteien in der krisenhaften Entwicklung zu Beginn der 1930er Jahre selbst, gehört zum unbestrittenen Grundbestand der Forschung. Die Resonanz, die Hitler und die Nationalsozialisten mit ihren aggressiven Attacken gegen die so genannte "Schwatzbude" Reichstag fanden, beruhte jedenfalls nicht nur auf dem Eindruck aktueller Schwäche des politischen Systems. Die Nationalsozialisten artikulierten damit in aggressiver Zuspitzung auch eine tief sitzende Reserve gerade des bürgerlichen und konservativen Spektrums gegenüber den vermeintlichen Niedrigkeiten des Parteienstreits. Die relative Lautlosigkeit, mit der die deutsche Gesellschaft die Ausschaltung der Parteien jenseits der NSDAP schon wenige Monate nach Hitlers Machtergreifung hinnahm, zeigt vielleicht am deutlichsten, wie verbreitet dieses Denken war. Parteien und Grundgesetz Erst das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat mit dieser Geringschätzung der Parteien Schluss gemacht. Nicht nur, dass sie im Artikel 21 erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte ausdrücklich erwähnt werden; der Artikel hebt sie auch in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution. Der mit dem GG verbundenen Aufwertung der Parteien entspricht zugleich ihre stärkere Bindung an die Grundregeln der Demokratie. Nicht nur, dass Art. 21 die Möglichkeit eines Parteienverbots bei aggressiv-kämpferischer Haltung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung festlegt: Auch die konkreten Regelungen des in den 1960er Jahren geschaffenen Parteiengesetzes verpflichten die Parteien strenger als andere gesellschaftliche Vereinigungen auf die demokratischen Spielregeln. Die besondere Stellung der Parteien in der Rechtsordnung des GG, das "Parteienprivileg", legitimiert sich vor dem Hintergrund ihrer Aufgabenbeschreibung im Rahmen demokratischer Willensbildung. Ausgehend vom obersten Verfassungsgrundsatz, dass "alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht", ist ihnen bei der Ausübung dieser Staatsgewalt eine zentrale Rolle zugedacht. Wahlen und Abstimmungen zur Feststellung des Volkswillens sind ohne Parteien nicht denkbar. Denn da der Einzelne als Staatsbürger seine Auffassungen kaum alleine durchsetzen, sich ohne das gebündelte Programmangebot von Gruppen nicht einmal sinnvoll politisch orientieren kann, müssen Parteien in einem Programmangebot verschiedene gesellschaftliche Interessen bündeln und sich als Gesamtbild von Politik gegen andere Angebote zur Wahl stellen. Gleichzeitig sollen Parteien dafür sorgen, dass für die Besetzung der höchsten und wichtigsten Staatsämter qualifiziertes Personal zur Verfügung steht, so dass die Wähler zwischen verschiedenen Ensembles von geeigneten Personen auswählen können. Schließlich fungieren sie als Bindeglied zwischen Bürger und politischem System, indem sie dem Bürger durch Engagement in Parteien eine über den Wahlakt selbst hinausreichende Beteiligung am politischen Prozess ermöglichen. Die Väter und Mütter des GG wollten die Demokratie stabilisieren, indem sie die Parteien aufwerteten und ihnen zugleich relativ strenge Auflagen machten. Ganz im Sinne dieser neuen Betonung der Rolle der Parteien für die demokratische Ordnung hat sich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik im politischen Denken wie in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen der Einfluss einer Parteienstaatstheorie niedergeschlagen, die am markantesten von dem Staatsrechtler Gerhard Leibholz vertreten worden ist. Danach sind Wahlen vor allem inhaltliche Richtungsentscheidungen zwischen Parteien, diese die eigentlichen Handlungseinheiten des politischen Prozesses und die gewählten Parlamentsabgeordneten eher "gebundene Parteibeauftragte". Auch wenn dieser Auffassung schon in den 1960er Jahren von Verfassungsrechtlern und Politologen entgegengehalten worden ist, dass Wahlen weniger inhaltliche Richtungsentscheidungen als vielmehr bloßer Akt der Anvertrauung von Mandaten an Personen darstellten, die frei Herrschaft auf Zeit ausübten, demnach Parteien nur Organisationen zur Beschaffung von Personal und zur Organisierung von Wahlen seien, hat die Parteienstaatstheorie das Verständnis von der deutschen Nachkriegsdemokratie lange geprägt. Die damit verbundene positive Wendung in der öffentlichen Wahrnehmung der Parteien verdankte sich entscheidend dem praktischen Erfolg und der Stabilität der deutschen Nachkriegsdemokratie. Der Erfolg der Nachkriegsdemokratie Begünstigt durch das beginnende Wirtschaftswunder entwickelte sich in den 1950er Jahren ein hohes Maß an Systemzufriedenheit unter den anfangs mit der Demokratie wenig vertrauten Deutschen. Dabei hat die Stabilität des gegenüber Weimar auf relativ wenige Akteure konzentrierten Parteiensystems die Popularisierung der parteienstaatlichen Grundvorstellung fraglos erleichtert. Nachdem durch die FDP die Spaltung des Liberalismus überwunden war, die Wiedergründer des katholischen Zentrums gegenüber der neuen überkonfessionell-christlichen Sammlungsbewegung CDU den Kürzeren gezogen hatten, die SPD im linken Spektrum nach Einflussverlust und Verbot der KPD konkurrenzlos war und die kleineren bürgerlichen Parteien nach und nach von der Union geschluckt waren, war schon 1957 der Weg zu einem Drei-Parteien-System im Wesentlichen abgeschlossen. Sicher konnte sich dieses System in den fünfziger Jahren kaum auf breites Bürgerengagement stützen. Das politische Interesse hielt sich in Grenzen. 1960 zählte die regierende CDU gerade einmal 250.000 Mitglieder. Aber die Bürger gingen zur Wahl, und die Systemzustimmung war groß. So festigte sich trotz manch sorgenvoller Rede über den "Mangel an Gemeinsinn" (Heinrich Lübke) der Eindruck, dass die Parteien die ihnen zugedachten Aufgaben leidlich erfüllten, und es vollzog sich mit der allmählichen Gewöhnung der (West-)Deutschen an die Demokratie auch eine Revision der alten Geringschätzung des Parteienwesens. Je vertrauter die Abläufe unseres Wahlrechts wurden, desto stärker setzte sich eine Sichtweise durch, nach der Wahlen in erster Linie Parteienwahlen waren. Gewiss ist die Person des amtierenden Bundeskanzlers in Wahlkampfzeiten auch damals schon herausgestellt worden, und die Union konnte mit Adenauer 1953 und 1957 einen Kanzlerbonus für sich verbuchen. Auch in der sozialdemokratischen Wahlkampf-Fokussierung auf einen 1961 erstmals eigens nominierten "Kanzlerkandidaten" Brandt lässt sich ein früher Zug zur Personalisierung erkennen. Aber gewählt wurden in erster Linie doch die Parteien. Zwar waren diese Parteien inzwischen weniger deutlich unterscheidbar, nachdem die Sozialdemokraten mit dem Godesberger Programm endgültig ihren Frieden mit Marktwirtschaft und Westbindung gemacht hatten. Gleichwohl konnte von einem Verschwimmen der Konturen noch nicht die Rede sein. Erstens überwog noch bei weitem der Typ des Stammwählers mit fester parteipolitischer Präferenz. 1960 lag die Zahl der "Wechselwähler" bei einem Viertel des heutigen Anteils. Zweitens blieb trotz allem sozialdemokratischen Pragmatismus lange selbstverständlich, dass es sich bei der SPD um die linkere, die Volkspartei der kleinen Leute handelte. Die erste Welle einer grundsätzlichen politischen Kritik, die sich mit der APO in den späten sechziger Jahren gegen den angeblich oligarchischen Charakter der parteienstaatlichen Herrschaft richtete und von einer kurzatmigen Wiederbelebung rätedemokratischer Konzepte begleitet war, hat die etablierten Parteien im Ergebnis zunächst deutlich gestärkt. Denn die folgende Politisierung der Gesellschaft führte zu einer in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Eintrittswelle in diese Parteien. Während die Sozialdemokraten ihren Mitgliederbestand zwischen 1960 und 1975 von 650.000 bis auf eine Million steigern konnten und jetzt ganz überwiegend junge Leute aus dem intellektuellen Milieu anzogen, was den Charakter der alten Arbeiterpartei nachhaltig und irreversibel verändert hat, konnte auch die CDU von der Politisierungswelle profitieren: Bis 1975 hatte sich die Mitgliederzahl der Union mehr als verdoppelt. Aus dem als betulich verschrienen "Kanzlerwahlverein" war eine moderne Massenpartei geworden, deren Mitgliederbestand bis 1980 bis auf 700.000 anwuchs. Die Glanzzeit der Parteiendemokratie Bei allen Schattenseiten, welche die Politisierungswelle dieser Zeit auch hatte und die sich in einer starken Reideologisierung und Polarisierung niederschlug, von der besonders die Sozialdemokraten betroffen waren, wo jetzt viele Junge von "antikapitalistischen Systemreformen" träumten: In jener Zeit ist die Politik in der Bundesrepublik dem parteiendemokratischen Idealbild, nach dem Parteien die verschiedenen Strömungen einer aktiven und partizipationsgeneigten Bürgerschaft bündeln und im Angebot alternativer Politikkonzepte der Wählerschaft zur Entscheidung vorlegen, wohl am nächsten gekommen, zumal das Innenleben dieser Parteien selbst in hohem Maße von öffentlich nachvollziehbaren Debatten über Grundorientierungen geprägt war. Das galt besonders für die SPD. Natürlich ist der überragende Wahlsieg der Sozialdemokraten 1972 auch der persönliche Erfolg von Willy Brandt gewesen; fraglos aber war diese Wahl vor allem ein Plebiszit über die Ostpolitik und den innenpolitischen Reformkurs. (Fast) jeder wusste, worum es ging. Die beispiellose Identifikation und Gegenidentifikation in der bundesdeutschen Gesellschaft von damals, die zu einer bis heute nie wieder erreichten Wahlbeteiligung von 92 Prozent führte, verlief ziemlich genau entlang der voneinander unterscheidbaren politischen Angebote. Kein hochgejazztes Kandidatenduell war dazu nötig - und nur wenige Spin-Doctors. Das Ende des Dreiparteiensystems Mit der Entstehung der GRÜNEN aus außerparlamentarischen Protestbewegungen war um die Wende zu den 1980er Jahren neben dem Ende des Dreiparteien-Systems auch eine neue Welle parteienstaatlicher Institutionenkritik verbunden. Die GRÜNEN taten sich zunächst schwer mit ihrer Selbstanerkennung als Partei. Wohl formierten sich ihre Anhänger als solche, verbanden das aber mit dem Anspruch, ganz anders zu sein als alle anderen Parteien. Von einer "Anti-Parteien-Partei" hat Petra Kelly 1982 gesprochen. Damit war die Ablehnung jeder Art von Parteienoligarchie gemeint, verbunden mit allerhand Kritik am Repräsentationsgedanken selbst. "Wir vertreten uns jetzt selbst", "wir machen Politik für die Betroffenen", "wir machen Politik in der ersten Person" - hieß das damals. Um die Entstehung einer solchen Oligarchie zu verhindern, hatte man sich allerhand Vorkehrungen ausgedacht: Die Rotation der Abgeordneten, Unvereinbarkeit von Parteiamt und Parlamentsmandat, die Ablieferung erheblicher Teile der Abgeordnetendiäten. Keine Macht für niemand - so lässt sich das Organisationsideal der Anti-Parteien-Partei von damals zusammenfassen. Von diesen Vorstellungen, deren gesellschaftliches Idealbild das von daueraktiven Bürgerinitiativen war, ist nicht viel übrig geblieben. Nachdem die parlamentarisierten GRÜNEN die Erfahrung gemacht hatten, dass ihre schwachen organisatorischen Strukturen vor allem zum Wettbewerbsnachteil gegenüber den parteipolitischen Konkurrenten wurden, hat sich die Partei von diesen "basisdemokratischen" Gründungsvorstellungen nach einigen inneren Kämpfen gründlich gelöst. Folgenreich beeinflusst haben die GRÜNEN die deutsche Politik gewiss, kaum aber mit ihren direktdemokratischen Ideen der Gründerzeit. So ist mit ihnen kein neuer Typus von politischer Organisation entstanden; vielmehr haben sie den gleichen Weg von der Bewegung zur Partei zurückgelegt wie andere vor ihnen auch. Als Parteiorganisation ähneln sie heute strukturell der FDP. Krise der Parteiendemokratie Mit der Entstehung der GRÜNEN verbindet sich die letzte große Politisierungswelle der (west-)deutschen Gesellschaft. Schon kurz nach ihrer Parlamentarisierung ließ die Politisierung nach. Breiter wahrgenommen wurde das allerdings erst in den Jahren nach der Deutschen Einheit, als sich Verdruss und Enttäuschung breit machten. "Politikverdrossenheit" hieß das Wort des Jahres 1992. Bald zeigte sich das auch in den Parteien selbst: Der Mitgliederbestand der beiden großen Volksparteien ging deutlich zurück. Während die einsetzende Debatte um die Folgen der Globalisierung und einer "Krise des Wirtschaftsstandorts Deutschland" zu wachsenden Zweifeln an der Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit moderner Politik führte, wurde das Bild von Politik in der Gesellschaft jetzt immer stärker von den Medien und besonders vom Fernsehen bestimmt. Das Fernsehen aber durchlief in jenen Jahren einen Wandlungsprozess, der mit dem Siegeszug der Privaten zur Etablierung der Einschaltquote als wichtigstem Gradmesser einer Sendung auch bei den Öffentlich-Rechtlichen geführt hat. Und da vor allem Unterhaltung Quote bringt, sollte jetzt auch die Politikberichterstattung unterhaltender werden. Ein neues Wort wurde kreiert: Politainment. Es begann der Siegeszug von Talkshows und Boulevardfernsehen. In den Folgejahren setzte sich in der Gesellschaft der Eindruck fest, eigentlich sei keine Partei imstande, die Folgeprobleme der Deutschen Einheit und die bald bis zum Überdruss diskutierten Zukunftsfragen des Wirtschaftsstandorts und Sozialstaats Bundesrepublik zu bewältigen. So wurden Verdruss und Zweifel zur Grundlage regionaler Wahlerfolge der Opposition, gepaart mit vagen, eher unspezifischen Veränderungswünschen, die mehr symbolhaft unterfüttert als in klare programmatische Alternativen übersetzt wurden ("Innovation und Gerechtigkeit"). In dieser Stimmungslage kam es zum Machtwechsel von Kohl zu Schröder. War dieser Wechsel anfangs noch mit Hoffnungen auf neuen politischen Schwung verbunden, wich der verhaltene Optimismus in der Gesellschaft bald einer neuerlich kritischen Grundstimmung. Zwar gelang der rot-grünen Regierung mit einigem Glück und dem Rückenwind durch ihre Ablehnung der amerikanischen Irak-Politik 2002 die Wiederwahl. Doch schon kurz darauf verfestigte sich wieder der Eindruck, dass Rot-Grün mit den vor allem arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Problemen überfordert sei. Nachdem Schröder mit der Agenda 2010 die Flucht nach vorn gesucht hatte und in Konflikt mit der eigenen Partei geraten war, erlitt die SPD eine Kette von Wahlniederlagen, was am Ende in die vorgezogene Bundestagswahl führte. Zwar konnten sich die Sozialdemokraten dabei besser behaupten als erwartet, doch für ein neues rot-grünes Mandat reichte das Ergebnis nicht. Da andere Mehrheitsbildungen nicht zustande kamen, blieb am Ende nur die Große Koalition. Nach anfänglicher Skepsis schien sich Anfang 2006 eine positivere Grundstimmung im Lande auszubreiten. Schon im Spätsommer des Jahres aber hatte sich unter dem Eindruck der Debatten um die Gesundheitsreform wieder die seit langem vertraute, verdrossene Grundstimmung eingestellt. Ob der wirtschaftliche Aufschwung daran Grundlegendes verändern kann, wird sich noch zeigen müssen. Zwar erzielt die Kanzlerin beachtliche Umfragewerte. Eine "Trendwende" im Ansehen von Parteien und Politikern aber steht noch aus. Im Gegensatz zur sozialliberalen Ära in den 1970er Jahren war die Kanzlerschaft Schröders keine Zeit der Politisierung und eines wachsenden gesellschaftlichen Engagements. Wie immer die Leistungsbilanz von rot-grün insgesamt beurteilt werden mag: Zur Stärkung der Parteiendemokratie konnte sie nichts beitragen, im Gegenteil: Die SPD hatte im Herbst 1998 780.000 Mitglieder; sieben Jahre später waren es noch 580.000. Auch die GRÜNEN mussten Mitgliederverluste hinnehmen. Trotz Spendenskandal und schwarzer Kassen sind die Mitgliederverluste der CDU im gleichen Zeitraum geringer ausgefallen. Die CSU hält sich seit Jahren relativ stabil bei 170.000 bis 180.000 Mitgliedern. Kernprobleme der Demokratieentwicklung heute Im Einflussverlust der Parteien heute spiegeln sich vor allem drei wesentliche Veränderungen gegenüber den ersten Jahrzehnten der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Erstens hat sich der Gestaltungsspielraum nationalstaatlicher Politik in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen, die den Rahmen bilden für sozialpolitisches Handeln, aufgrund der viel beschriebenen internationalen Verflechtungen und offener Märkte vermindert. Kompetenzverlagerungen nach Brüssel, europäischer Binnenmarkt und Anpassungszwänge der Globalisierung - dass nationalstaatliche Politik Steuerungskraft verloren hat, ist nicht zu bestreiten. Da aber die nationale Politik Adressat für Wünsche und Ansprüche der Bürger bleibt, entsteht in der Gesellschaft der Eindruck einer gleichermaßen alternativlosen wie schwachen Politik, die bei Kernfragen der gesellschaftlichen Entwicklung oft nur noch kommentieren und lamentieren, aber kaum noch gestalten kann. Zweitens hat sich das Bild von Politik in der Gesellschaft nachhaltig verändert, wobei das veränderte Verhältnis von Politik und Medien eine zentrale Rolle spielt. Durch den sozialen Wandel und die gewachsene Mobilität sind die politischen Einstellungen der Bürger immer weniger von Tradition und Milieubindung bestimmt. So ist eine unstete Wählerschaft entstanden, deren Stimmungsausschläge der Demoskopie Rätsel aufgeben. Ganz gleich, ob die dafür maßgeblichen gesellschaftlichen Veränderungen mit Begriffen wie "Wertewandel", "Individualisierung" oder "Erlebnisgesellschaft" beschrieben werden, im veränderten Verhältnis zwischen Bürgerschaft und politischen Parteien spiegeln sich Veränderungen von säkularer Dimension wider: "Die Individualisierung destabilisiert das Großparteiensystem von innen her, weil sie Parteibindung enttraditionalisiert, entscheidungsabhängig oder (...) herstellungsabhängig macht, was bei der Zersplitterung der Interessen, Meinungen und Themen dem Versuch gleichkommt, einen Sack Flöhe zu hüten." Gleichzeitig wird das Politikbild der Bürger vor allem durch die Medien und insbesondere vom Fernsehen geprägt. Einerseits ist damit ein Zugewinn an demokratischer Kontrolle verbunden. Durch den Rückgang des Parteijournalismus, vor allem aber durch die gewachsene Konkurrenz um Aufmerksamkeit, Auflage und Einschaltquote, werden heute auch die dunklen und unerfreulichen Seiten des Politikbetriebs gründlicher und erbarmungsloser ausgeleuchtet als früher. Hofberichterstattung findet nicht mehr statt, geschont wird niemand, transparent ist (fast) alles. Trotz mancher Übertreibung und gelegentlich ärgerlicher Maßstabslosigkeit in der Darstellung von Fehlverhalten kann man darin einen Demokratiegewinn sehen. Andererseits aber wird dieser Gewinn mehr als nur aufgezehrt durch die mit diesem hektischen Kampf um Quoten und Auflage verbundene Tendenz, Politik mit den Mitteln des Boulevardjournalismus und möglichst unterhaltend zu präsentieren. Denn auf diese Weise wird Politik zum Bestandteil einer "Eventkultur", in der Eindruck und Ereignis zählen, weniger das Ergebnis. Das dramaturgische Darstellungsprinzip des Fernsehens prägt zunehmend das Politikbild der Gesellschaft. Dieses Darstellungsprinzip aber ist bestimmt von Emotionalisierung, Moralisierung und Personalisierung. Nicht Ideen, Werte und Ergebnisse zählen, sondern Menschen und ihre Geschichten, Prominenz und Aufmerksamkeitsproduktion. Die boulevardeske Politikpräsentation erzeugt eher hysterische Aufregungskonjunkturen und politvoyeuristische Neugier, kaum aber Maßstäbe zur Beurteilung politischer Sachverhalte. Hinzu kommt der Wandel politischer Diskussionssendungen zu Showveranstaltungen, deren Mittelpunkt die Moderatoren und Moderatorinnen selbst sind. Der Einflussverlust des Parteijournalismus früherer Jahrzehnte und der Siegeszug des "investigativen" Journalismus hat dazu beigetragen, dass die von konservativer Seite gern monierte "Linksneigung" im Journalismus einer stärkeren Orientierung an "professionellen Nachrichtenwerten" gewichen ist. Eher verstärkt aber hat sich dadurch das Funktionieren des Massenkommunikationssystems als stark selbstreferenziell-geschlossenes System, dessen Mitglieder sich vor allem aneinander orientieren. So ist durch die Vervielfältigung des Medienangebots keine breitere Pluralisierung des Informations- und Meinungsangebots entstanden, eher eine Vervielfältigung desselben. Alle folgen den gleichen Nachrichtenwert-Kriterien, orientieren sich an den gleichen Leitmedien, behandeln die gleichen Themen, skandalisieren die gleichen Sachverhalte - und wenden sich dann ebenso rasch wie geschlossen einem anderen Thema zu. Geblieben ist aus der Zeit des Richtungsjournalismus das Rollenverständnis des aktiv-kritischen Akteurs, der sich jetzt keiner politischen Seite mehr verpflichtet fühlt, umso mehr aber eine mediale Gegengewalt-Funktion für sich beansprucht, deren Herkunft aus den Kindertagen der Demokratie weithin unreflektiert auf die heutige Zeit übertragen wird. Was die eher schwache demokratische Herrschaftsausübung von heute aber noch mit der politischen Gewalt von Fürstenhöfen gemein hat, bleibt dabei im Dunklen. Es genügt, wenn sich die Zeitungen verkaufen, die Sendungen gesehen werden, Produktionsgesellschaften und Verlage Gewinne abwerfen. Die Politik reagiert auf ihren eigenen Bedeutungsverlust mit einer Mischung aus Ignoranz, Hilflosigkeit und Anpassung. Erstaunlich wenig wird reflektiert, was es bedeutet, wenn sich in der politischen Berichterstattung die Medienwelt zunehmend selbst inszeniert. Zugleich entsteht ein neuer Politikertypus, der sich an die Gesetze dieser Medienwelt anzupassen sucht und deshalb in wachsendem Maße dazu neigt, vornehmlich sein öffentliches Image zum Maßstab des Handelns zu machen. Eine Art virtueller Politkommunikator mit nur noch flüchtigen Bindungen an Ideen, Überzeugungen, Werte und Ziele ersetzt den mehr oder weniger soliden Polithandwerker von früher. Soft und political correct tritt er auf, fragt den Spin-Doctor, wie er "rübergekommen" ist und den angeheuerten Demoskopen, mit welchem programmatischen Setting und welcher Inszenierung man die nächste Wahl gewinnen könnte. Dass derlei Flüchtigkeiten bei Politikern und Medien auf Kosten der Glaubwürdigkeit gehen, scheint kaum jemand zu bemerken. So werden Politiker zu Stars in einem Mediengewerbe, das statt um Wahrheit mehr um Aufmerksamkeit ringt und in dem die Grenzen zwischen Nachrichten, Werbung und Unterhaltung fließend werden. Eine boulevardisierte Öffentlichkeit, in der sich Belangvolles und Belangloses, Tiefsinn und Unsinn zu einem medialen Reizüberflutungsteppich vermischen, entfernt sich immer weiter vom Ideal einer kritisch-räsonierenden Öffentlichkeit, in der die Kraft der besseren Argumente zur Entfaltung kommen sollte. Als Teil dieses Bilder- und Klangteppichs, der wahllos die Gesundheitsreform neben Klatsch- und Tratschgeschichten einsortiert, muss sich seriöse Politik schwer tun. Drittens leiden Politik und Parteien an einem Mangel an glaubwürdigen Leitideen, die sie identifizierbar und unverwechselbar machen könnten. Nun sind Ideologien und Programme nie so wichtig gewesen, wie es den Historikern mitunter vorkommt. Aber die Wähler konnten mit Adenauer und Erhard doch treffend eine Mischung von marktwirtschaftlichen mit christlich-sozialen Vorstellungen verbinden, mit der Brandt-Regierung neben der polarisierenden Ostpolitik eine auf Chancenmehrung für die kleinen Leute gerichtete Reformpolitik im Inneren. Auch wenn die Gesetzgebungsarbeit nie bloß Umsetzung großer programmatischer Entwürfe gewesen ist, war die politische Großrhetorik im Handeln doch wiederzufinden. Das schuf Identifikation und Opposition. Dass dies heute anders ist, hinterlässt Verunsicherung und Orientierungsprobleme. Es scheint, als sei mit dem Scheitern der sozialistischen Utopie die orientierende Kraft der politischen Großideen der europäischen Geistesgeschichte - Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus - an ein Ende gekommen. So folgerichtig aber der neue Pragmatismus der Mitte vor dem Hintergrund der Geschichte sein mag: Die Identifizierbarkeit der Parteien nimmt darüber ab. Das aber verstärkt ihren Bindungsverlust in der Gesellschaft und das begünstigt den Hang zur Politik als Inszenierungstheater von Personen. Und dass der neue Pragmatismus der Mitte, den im Kern fast alle teilen, gleichzeitig weiter als polarisierte und lärmende Streitdramaturgie von Freund und Feind daherkommt, verleiht vielen politischen Debatten heute den Eindruck einer künstlichen Aufgeregtheit ohne wirkliche Bedeutung. Nie in der deutschen Parteiengeschichte ist weniger klar gewesen als heute, wofür die einzelnen Parteien wirklich stehen und worum sie jenseits des Ziels Machterwerb eigentlich streiten. Konsequenzen Fraglos ist es der Demokratieentwicklung gut bekommen, dass die Deutschen nach 1945 ihre lange Reserve gegenüber dem "Parteiengezänk" überwunden haben. Ebenso gewiss ist aber auch, dass wir uns in einem Prozess der Aushöhlung der Parteiendemokratie befinden. Ob der Begriff der "Mediokratie" nun eine Übertreibung ist oder nicht: Nicht zu leugnen ist eine Mediatisierung der Politik, mit der sich das Politikbild der Gesellschaft verändert hat. Mag sein, dass die Medien den "volatilen Wähler", der mal hierhin und mal dorthin will, nicht hervorbringen. Ganz sicher aber entsprechen sie ihm mit ihrem Fliegen und Flüchten von einem Trend zum anderen ziemlich genau. Maßstäbe und Orientierung vermitteln sie kaum. Diese Entwicklung fällt zusammen mit dem Verlust der orientierenden Kraft glaubwürdiger politischer Leitideen, was wachsende Schwierigkeiten bei der politisch-programmatischen Identifizierung von Parteien zur Folge hat. Nimmt man die durch Mitgliederverluste prekärer werdende Funktion der Personalrekrutierung und den Funktionswandel von Parteitagen zu Orten der Inszenierung einer Politmarke hinzu, stellt sich die Frage, ob die Parteien die Zentralfunktionen, die ihre besondere Stellung in der Demokratie begründen, überhaupt noch zureichend erfüllen. Natürlich wirken Kräfte auf diese Entwicklungen ein: Digitalisierung und neue Medien, veränderte Freizeitgewohnheiten, Traditionsverlust, Individualisierung. Doch so wenig ins Zeitalter der Adenauers und Brandts, Strauß und Helmut Schmidts zurückführt - das Zerbröseln der Parteiendemokratie ist nicht zwangsläufig. Dazu müsste Politik freilich stärker, handlungsfähiger, identifizierbarer werden; zugleich müsste sich das mediale Bild von Politik verändern. Weniger Wahltermine, weniger Wahlkämpfe, Parteien, die identifizierbarer und kompromissfähiger zugleich sein müssten, weniger Umfragen, Politik- und Medienberater. Eine Partei ist keine Marke und Stimmenmaximierung kein Selbstzweck. Und Politainment erzeugt eher die Illusion von demokratischer Beteiligung, weil Entscheidungen Standpunkte und Maßstäbe voraussetzen, die im Unterhaltungsprogramm nicht zu gewinnen sind. Dabei ist die den Parteien verlorengegangene Macht keineswegs bei Journalisten, Chefredakteuren und Talkmastern angekommen. Denn die Medienleute sind ihrerseits weniger Gestalter als Getriebene in einem Windhundrennen um Aufmerksamkeit und Geld. Es sind die anonymen Gesetze eines von keinem Medienrecht oder ungeschriebenen Seriositätsgrenzen gebändigten Marktes, die hier wirken. Wer Demokratie zuerst durch die Grundwerte Freiheit und Volkssouveränität definiert, sieht die Freiheit durch den Einflussverlust der Parteien erst einmal kaum bedroht. Im Gegenteil fällt der Abstieg der Parteien mit einer historisch beispiellosen Ausweitung von Handlungsoptionen in einer individualisierten "Multioptionsgesellschaft" zusammen. Freilich setzt die sinnvolle Nutzung von Optionen immer auch Wert- und Beurteilungsmaßstäbe voraus. Die aber vermittelt die mediale Aufmerksamkeitshascherei mit ihrer permanenten Suche nach dem Massengeschmack kaum. Richtig prekär aber wird es, wenn man Demokratie mit Abraham Lincoln ("government of the people, by the people and for the people") zuerst über Volkssouveränität definiert. Denn das setzt eine an den öffentlichen Angelegenheiten halbwegs interessierte Bürgerschaft voraus, die mindestens bei Grundfragen der politischen Gestaltung in der Lage ist, auf der Basis rationaler Kriterien zwischen Handlungsalternativen zu entscheiden. Von diesem demokratischen Ideal sind wir heute weiter entfernt als in den besten Jahren der Parteiendemokratie. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Demokratischer aber wird es nicht zugehen, wenn sich der Abstieg der Parteiendemokratie fortsetzt. Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M. 1993, S. 223. Vgl. z.B. Siegfried Weischenberg u.a., Merkmale und Einstellungen von Journalisten, in: Media Perspektiven, (1994), S. 154ff.; Simone Christine Ehmig, Generationenwechsel im deutschen Journalismus, Freiburg 2000. Grundsätzlich Hans Matthias Kepplinger, Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, Freiburg 1998.
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Kleinert, Hubert
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30270/abstieg-der-parteiendemokratie/
Folgende Veränderungen sind im Parteiensystem festzustellen: Verlust an politischer Gestaltungskraft der nationalen Politik, ein verändertes Verhältnis von Politik und Medien sowie ein Mangel an glaubwürdigen Ideen.
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Fanny Hensels Kreuz | Geteilte Geschichte | bpb.de
Das Objekt Fanny Hensel - Gemälde, 1842, von Moritz Daniel Oppenheim. (© picture-alliance/akg) Dieses Kreuz kam in die Familie Mendelssohn, als Fanny Mendelssohn Hensel, die Schwester des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und Enkelin des jüdischen Philosophen der Aufklärung Interner Link: Moses Mendelssohn, es im Jahr 1845 auf einer Reise nach Italien erwarb. Es ist auf einem Aquarell des Musikzimmers von Fanny Hensel zu sehen, das nach ihrem Tod 1847 gemalt wurde. Wahrscheinlich blieb das Kreuz bis zum Jahr 2010 im Besitz der Familie, als ein Nachfahre es dem Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz schenkte. Es ist heute in der Dauerausstellung der Mendelssohn-Remise in der Jägerstraße 51 in Berlin zu sehen. Der Ort ist die ehemalige Kassenhalle des Stammhauses der Mendelssohnschen Privatbank; später wurde sie zur Kutschremise für die Familie umgebaut. Historischer Kontext Fanny Mendelssohns Kreuz war ein Andenken an ihre glücklichste und produktivste Zeit in Italien Im Jahr 1845 war Fanny Hensel 40 Jahre alt, als Komponistin und Konzertpianistin tätig, und außerdem Ehefrau, Mutter und treusorgende Schwester ihres gefeierten Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy. Ihr Leben war voller Widersprüche. Sie war Mitglied der berühmtesten jüdischen Intellektuellen-Familie der Zeit und Enkelin von Interner Link: Moses Mendelssohn. Gleichzeitig hatten ihre Eltern sie taufen lassen, als sie 11 Jahre alt war, und allein schon der Kauf des Kreuzes bezeugt ihre innere Neigung zum Christentum. Ihre musikalische Begabung wurde gelegentlich von ihrer Familie gefördert, doch Interner Link: untersagte ihr Vater ihr eine musikalische Karriere. Porträt von Fanny Mendelssohn im Mendelssohn Haus in Leipzig. (© picture-alliance/dpa) Fanny war 1845 nach Florenz gereist, um ihre Schwester Rebecka zu besuchen, die dort krank geworden war – sie begleitete ihren Ehemann, den Mathematiker Peter Gustav Lejeune Dirichlet. Als Fanny nach Berlin zurückkehrte, platzierte sie das Kreuz an hervorgehobener Stelle in ihrem Musikzimmer. Betrachten wir ihren vorherigen langen Aufenthalt in Italien, fünf Jahre vor der Erkrankung ihrer Schwester, können wir ein Verständnis der Bedeutung des Kreuzes gewinnen als Symbol ihrer persönlichen Identität und ihres Glaubens. Im November 1839 waren Fanny Mendelssohn Hensel, ihr Ehemann Wilhelm Hensel und ihr neun Jahre alter Sohn Sebastian in Rom angekommen, wo sie mehrere Monate Aufenthalt nehmen wollten. Es gab zahlreiche Gründe für sie, in der Stadt zu wohnen. Ihr Bruder Felix hatte in den Jahren 1830 und 1831, als er durch die Hauptstädte Europas gereist war, in Rom gewohnt. Wilhelm, ein Maler, hatte sich in Rom fünf Jahre lang dem Studium der alten Meister gewidmet, bevor er im Jahr 1829 Fanny heiratete. Fannys Aufenthalt in Rom im Jahre 1839 fand gegen Ende eines Jahrzehnts voller persönlicher und professioneller Herausforderungen statt und bot ihr zumindest zeitweilig eine Ruhepause von ihrem luxuriösen, aber auch eingezwängten Leben in Berlin. Der Tod Carl Friedrich Zelters im Jahr 1832 war für verschiedene Mitglieder der Familie Mendelssohn Anlass zur Trauer. Mit großer Leidenschaft hatte Zelter die Wiederbelebung der evangelischen Choralmusik betrieben und damit das Ziel verfolgt, in einer schwierigen Phase der deutschen Geschichte Begeisterung für den Einigungsnationalismus zu wecken. Über Jahrzehnte hatte Zelter als Leiter der Sing-Akademie, einer renommierten Chorvereinigung, die musikalischen Auftritte von Felix Mendelssohn Bartholdy unterstützt, wie auch die von Sara Itzig, die ebenfalls einer prominenten jüdischen Familie in Berlin entstammte. Obwohl Zelter bei bedeutenden öffentlichen Musikdarbietungen eng mit Felix zusammengearbeitet hatte, offenbarte seine Korrespondenz einige seiner negativen Empfindungen, die er im Innern gegen die Familie Mendelssohn hegte. Als im Jahr nach seinem Tod Zelters Briefwechsel mit dem berühmten Dichter Johann Wolfgang von Goethe veröffentlicht wurde, konnten Freunde wie Feinde der Familie in dem Band seine abfälligen Bemerkungen über die Mendelssohns lesen. Und dann hatte Felix nach Zelters Tod mit seiner Bewerbung 1833 um den Posten des Direktors der Sing-Akademie keinen Erfolg. Seine Eltern waren empört und beendeten ihre finanzielle Unterstützung dieser herausragenden Institution des Berliner Musiklebens. Darüber hinaus hatte es für Fanny seit Mitte der 1830er Jahre immer wieder erhebliche Rückschläge in ihrem Privatleben gegeben. Sie erlitt eine Fehlgeburt, auf die möglicherweise eine weitere folgte, und musste den Verlust von Freunden und Freundinnen verkraften, die aus der Stadt fortzogen oder starben. Felix konnte sich den Kompliziertheiten und Einengungen der hochkultivierten Mendelssohnschen Atmosphäre durch Reisen an andere Orte entziehen; diese Möglichkeit stand seiner Schwester nicht offen. Fanny Hensel, Vier Lieder für das Piano. (© picture-alliance/akg) Schließlich waren da noch die musikalischen Herausforderungen, denen sie sich im Jahr 1839 gegenübersah. Sie arbeitete mühevoll daran, sich von ihrem Lieblingsgenre des klavierbegleiteten Sololieds weiter zu entwickeln und Chormusik für größere Ensembles zu komponieren. Für sie und Felix und viele ihrer Freunde war es seit den 1820er Jahren ein wichtiges Anliegen, mit den Mitteln der Musik zur Schaffung einer moralischen und nationalen Gemeinschaft beizutragen. Tatsächlich war die Aufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach im Jahr 1829 ein Familienprojekt gewesen. Ihre Großmutter Bella Salomon hatte Felix eine Abschrift der Partitur geschenkt und Felix war die treibende Kraft hinter der berühmten Aufführung gewesen. Ein weiterer Kummer für Fanny war es, dass nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1835 ihre Familie nicht mehr die beliebten Sonntagsmusiken im Gartensaal ihres luxuriösen Stadthauses ausrichtete. Diese halböffentlichen Veranstaltungen hatten ihr die Gelegenheit gegeben, auch eigene Kompositionen aufzuführen – zu einer Zeit, in der sowohl ihr Vater als auch ihr Bruder Felix sie unter Druck setzten, nur im privaten Kontext zu konzertieren und ihre Kompositionen nicht zu veröffentlichen. Rom in den sechs Monaten des Winters 1839/40 mit Wilhelm und Sebastian war eine Idylle von fast schon ekstatischer Freude für Fanny gewesen. An erster Stelle stand, dass sie dort als Komponistin und Pianistin von berühmten Musikern der Académie de France à Rome in der Villa Medici gewürdigt wurde. Ihre musikalischen Erlebnisse in Italien inspirierten ihr im Herbst 1841 fertig gestelltes Werk "Das Jahr", mit dem Untertitel "12 Charakterstücke für das Forte-Piano". In diesen Stücken finden sich Zitate evangelischer Kirchenchoräle; das einzige Autograph wurde von Wilhelm Hensel illustriert. Heute erfreut sich dieser Zyklus vor den anderen ihrer überlieferten Kompositionen großer Beliebtheit. Fanny Hensels Musikraum in ihrer Wohnung in der Leipziger Str. 3 in Berlin. - Gemälde von Julius Helfft. (© Public Domain, Wikimedia) Das Aquarell von Julius Helft, das er 1849 von Fannys Arbeitszimmer anfertigte, zwei Jahre nach ihrem Tod im Jahr 1847, zeigt das Kreuz an hervorgehobener Stelle auf einem der Tische im Raum stehen. Die Bedeutung des Kreuzes in diesem persönlichen Raum von Fanny Hensel legt nahe, dass der evangelische Glaube mehr als eine bloße Fassade war, sondern eine tiefe empfundene und künstlerisch inspirierende innere Überzeugung. Wie so viele andere Belege aus ihrem gesellschaftlichen und musikalischen Umfeld steht das italienische Kreuz dem Verständnis entgegen, dass Fanny sich selbst als im Inneren eine Jüdin begriff. Ihre Eltern Lea und Abraham Mendelssohn hatten im Jahr 1816 alle vier ihrer Kinder taufen lassen und traten sechs Jahre später ebenfalls zum Christentum über. Trotz der Bemühungen der Historiker bleiben ihre Motive für die Konversion im Dunkeln. Lea gestand in einem Familienbrief ein, sie wünschte, man würde in der nahen und weiter entfernten Familie "mit dieser Scheinheiligkeit" der Taufen aufhören. Abraham wiederum schrieb Fanny, der Übertritt der Familie sei Ausdruck seiner eigenen universalistischen und relativistischen Ansicht der modernen Religionen und erklärte, die Taufen seien notwendig gewesen wegen dessen, "was die Gesellschaft von uns verlangt". Die Glaubensentscheidungen von Fanny und vielen Mitgliedern der Großfamilie offenbaren einiges über die deutsch-jüdische Erbe ihrer Zeit. Zahlreiche Gründe lassen den Schluss zu, dass die Synergie diverser Leidenschaften, die für die Religion, die Musik, die Moral oder den Einigungsnationalismus brannten, für den erweiterten Clan der Mendelssohns unwiderstehlich war. Der Verlust für die jüdische Zivilisation war herzzerbrechend, insbesondere, da ihre Aufgabe des Judentums auf die zukünftigen Entwicklungen in Deutschland und Europa verwies. Persönliche Geschichte Familie Mendelssohn verlässt das Judentum, Familie Beer reformiert das Judentum Eine der dringendsten Fragen, die sich bei der Betrachtung des Glaubensübertritts der Kinder und Enkelkinder von Moses Mendelssohn stellt, ist die, ob ihre Entscheidung, das Judentum zu verlassen, für ihre kulturellen Leistungen und ihren gesellschaftlichen Aufstieg von größerem Belang war. Eine wahrhaft religiöse Motivation ist nicht festzustellen. Sicherlich wurden Lea und Abraham Mendelssohn von einem ästhetischen Nationalismus zu ihrer Entscheidung geführt. In ihrem gesellschaftlichen Umfeld waren viele der Überzeugung, die evangelische Kirchenmusik drücke leidenschaftliches Nationalgefühl und moralische Erhabenheit in einer Zeit aus, die einen Scheideweg für die Geschichte Deutschlands darstellte. Auf die Melodien des deutschen Sprachraumes zurückgreifende Musik drückte das kollektive Ethos der besten und talentiertesten deutschen Musikschaffenden, Dichtenden und Denkenden aus, die in ihren gesellschaftlichen Kreisen verkehrten. Über die pragmatischen Gründe für diesen Schritt wissen wir weniger. Waren sie der Ansicht, dass eine für die Öffentlichkeit angenommene evangelische Identität für die musikalische Karriere ihres Sohnes Felix notwendig sei? Ein Vergleich mit einer anderen jüdischen Familie, die eine ebenso prominente Rolle in der Hochkultur Berlins spielte wie die Mendelssohns, die Familie Beer, bietet in dieser Hinsicht einige Einsichten. Porträt der Amalie Beer von Johann Karl Heinrich Kretschmar (© Public Domain, Wikimedia/Anagoria) Amalia und Jacob Herz Beer hatten außerordentlich viel mit den Mendelssohns gemein. Beide Familien waren wohlhabend, beide pflegten sie scheinbar echte Freundschaften mit prominenten Christinnen und Christen. Lea und Amalia folgten beide nicht den jüdischen Traditionen bezüglich Haartracht und Kleidung. Und in beiden Familien gab es einen über alle Maßen talentierten Sohn: Giacomo bei den Beers und Felix bei den Mendelssohns. Tatsächlich waren die Parallelen zwischen den beiden Wunderkind-Komponisten so eng, dass viele Zeitgenossen Felix mit Giacomo verwechselten. Das machte Felix wütend, und es heißt, er frisierte sich fortan anders, um Vergleiche dieser Art zu vermeiden. Sowohl Giacomo als auch Felix studierten an der Universität zu Berlin; beide machten schließlich ihre musikalische Karriere andernorts: Felix in Leipzig und Giacomo in Paris. Auf grundlegenderer Ebene jedoch reagierten die beiden Elternpaare sehr unterschiedlich auf die Interner Link: Krise des Judentums in ihrer Zeit. Es waren die Jahre, in denen die Übertritte zum christlichen Glauben exponentiell zunahmen und die Synagogen von Jahr zu Jahr leerer wurden. Während Lea und Abraham Mendelssohn in dieser Zeit beschlossen, sich eine evangelische Identität zusammen zu basteln, verschrieben sich Amalia und Jacob Herz Beer ganz dem Bemühen um eine Erneuerung der jüdischen religiösen Praxis. Sie hatten eine Vorahnung, dass die Voraussetzung für ein Gesetz zur Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden eine Modernisierung seitens der jüdischen Gemeinde ihrer religiösen und schulischen Institutionen war. Im Jahr 1817 ließen sie ihre elegante Stadtvilla umbauen, um dort Raum für wöchentliche Gottesdienste zu schaffen. Über die folgenden sechs Jahre, bis zur Schließung der neuen Privatsynagoge durch die Behörden, nahmen knapp 1.000 Berliner Jüdinnen und Juden an den Gottesdiensten nach reformiertem Ritus teil – ein Drittel der Erwachsenen unter der jüdischen Bevölkerung Berlins. Giacomo Meyerbeer (Public Domain, Bibliothèque nationale de France/Wikimedia) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de Der Lebensweg von Giacomo Meyerbeer widerlegt die Vorstellung, dass in diesem Umfeld eine Taufe erforderlich war, um in der Musik Erfolg zu haben. Darüber hinaus entzogen die Mendelssohns mit ihrer Abkehr vom Judentum denjenigen, die sich um eine Reform des Judentums bemühten, die Talente, den Geist und nicht zuletzt auch den Wohlstand ihrer so bedeutenden Familie. Dieser Schritt schützte auch ihre Nachfahren nicht vor dem Antisemitismus des 20. Jahrhunderts, in dem das nationalsozialistische Regime zwei Mitglieder der Familie Mendelssohn in den Selbstmord trieb und dafür sorgte, dass die Werke von Felix Mendelssohn nicht mehr gespielt wurden. Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin. Fanny Hensel - Gemälde, 1842, von Moritz Daniel Oppenheim. (© picture-alliance/akg) Porträt von Fanny Mendelssohn im Mendelssohn Haus in Leipzig. (© picture-alliance/dpa) Fanny Hensel, Vier Lieder für das Piano. (© picture-alliance/akg) Fanny Hensels Musikraum in ihrer Wohnung in der Leipziger Str. 3 in Berlin. - Gemälde von Julius Helfft. (© Public Domain, Wikimedia) Porträt der Amalie Beer von Johann Karl Heinrich Kretschmar (© Public Domain, Wikimedia/Anagoria) Giacomo Meyerbeer (Public Domain, Bibliothèque nationale de France/Wikimedia) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-31T00:00:00"
"2021-09-03T00:00:00"
"2022-01-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/geteilte-geschichte/339746/fanny-hensels-kreuz/
Für die musikalisch begabte Enkelin des berühmtesten jüdischen Philosophen in Berlin war ein hölzernes Kreuz nicht nur ein Symbol religiöser Überzeugung, sondern auch künstlerischer Freiheit.
[ "Giacomo Meyerbeer", "19. Jahrhundert", "Fanny Hensel", "Kreuz", "Holzkreuz", "Shared History", "Judentum", "Juden", "jüdisch", "deutsch-jüdische Geschichte", "Jüdische Geschichte", "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", "Leo-Baeck-Institut", "Antisemitismus", "Akkulturation", "Diaspora", "Migration", "Inklusion", "Ausgrenzung", "Verfolgung", "Holocaust", "Shoah", "Italien", "Deutschland", "Berlin", "Florenz", "Rom" ]
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Vom Extrem zur Alternative? Ein Blick auf die rechtsextreme US-Szene | Rechtsextremismus | bpb.de
Am 17. Juni 2015 wurden in Charleston im US-Bundesstaat South Carolina neun Mitglieder einer Methodistengemeinde ermordet. Das als Charleston church massacre bekannt gewordene Verbrechen hatte einen hohen Symbolwert: Es traf die älteste schwarze Methodistengemeinde des amerikanischen Südens. Medienberichten zufolge habe der Täter Dylann Roof, der im Januar 2017 zum Tode verurteilt wurde, mit der Tat einen "Rassenkrieg" auslösen wollen. Er war Anhänger der Ideologie einer »Weißen Überlegenheit« (White Supremacy) und aktiver Nutzer der neonazistischen Internet-Seite Stormfront. Und im Gegensatz zu früheren Gewalttätern aus den Reihen der US-amerikanischen äußersten Rechten hatte er sich nicht sichtbar auf Kundgebungen und Meetings radikalisiert, sondern verborgen in Chatrooms und über Websites, vor allem Internet-Radio- und -Video-Kanälen. Darin unterscheidet sich die Entwicklung des Täters zu beispielsweise Timothy McVeigh, dem Attentäter des verheerenden Bombenanschlags von Oklahoma City 1995. Der Amerika-Historiker Norbert Finzsch stellt das Verbrechen von Charleston daher in den Kontext einer modernisierten politischen Praxis der extremen Rechten: Die "Tat und die ihr entsprechende Gesinnung sind Teil einer technischen und diskursiven Infrastruktur, die seit den 1990er Jahren massiv aufgerüstet wurde. Immer häufiger bedienen sich amerikanische Neonazis nicht nur der Sozialen Medien, um ihre Botschaft zu verbreiten. Sie zeichnen auch verantwortlich für eine Reihe von Foren auf [sic] dem Internet, die dem Zugriff des Staates entzogen sind und regelmäßig zu Gewalttaten aufrufen". Charleston zeigte, dass die Hassobjekte der extremen amerikanischen Rechten unverändert geblieben sind – doch haben sich Milieu und Vorgehensweise verändert. An die Stelle straffer rechtsterroristischer und neonazistischer Organisationen ist ein breiteres und inhaltlich diffuseres Spektrum getreten, das einen Tätertypus wie Roof hervorbringt. Wichtiger als feste Strukturen ist das Internet geworden, durch das Weltanschauungen jenseits des eigenen Milieus effektiv verbreitet werden können. Die amerikanische Soziologin Jessie Daniels bezeichnet die White-Supremacy-Szene daher als "early adopters". Daniels untersucht exemplarisch die Nutzerzahlen von Stormfront für 2006 und ermittelt einen durchschnittlichen Wert von täglich 129.000 Nutzern. Im Vergleich dazu ist die einstmals wichtigste Organisation der amerikanischen extremen Rechten, der Ku-Klux-Klan, von ca. 10.000 Mitgliedern im Jahr 1982 auf ca. 3.000 Mitglieder im Jahr 2001 geschrumpft. Noch in den 1920er-Jahren hatte der KKK ca. fünf Millionen Mitglieder. Der Zugang zu einschlägigen Inhalten ist zudem über das Internet erheblich leichter als die Aufnahme in eine Organisation. Daraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass die rassistischen und neonazistischen Gruppen in den USA heute an Bedeutung verloren haben, ihre Inhalte jedoch zugleich größeren Widerhall finden als früher. Diversifizierung der US-Rechten und Obama-Schock Nicht erst der Wahlkampf Donald Trumps 2016 hat zu einer Renaissance des Rassismus' geführt. Bereits in den letzten Jahren zeichnete sich ein Comeback des äußersten rechten Rands der US-amerikanischen Politik ab. Diese Entwicklung vollzog sich jedoch unter anderen Bedingungen als zuvor. Die US-amerikanische Gesellschaft hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt, sie war erheblich diverser geworden. Der Anteil der nicht-weißen Bevölkerung war gestiegen, mit Barack Obama wurde 2009 erstmals ein Nicht-Weißer zum Präsidenten gewählt. Nach Ende des Kalten Krieges schienen sich die Ziele des historischen Civil Rights Movements langsam zu erfüllen. Die traditionellen, öffentlich agierenden Hate Groups hatten seit den 1980er Jahren mehr und mehr an Einfluss verloren. Etablierte Strukturen wie die dritte Neugründung des Ku Klux Klans (KKK) oder das 1974 gegründete National Socialist Movement (NSM), ein Erbe der American Nazi Party George L. Rockwells (ANP), wurden zu Randerscheinungen, während in der Reagan-Ära die fundamentalchristliche Rechte an Bedeutung gewann. Der Politologe Michael Minkenberg beschreibt diesen "Wandel der amerikanischen Rechten von einer durch rassistische Gruppen geprägten ‚Bewegungsfamilie’ zu einem von den Gruppen des religiösen Fundamentalismus dominierten Spektrums". Doch bereits in der Reaktion auf die Präsidentschaft Obamas zeigte sich wieder die andere Seite der USA. Die Gedankenwelt eines "Rassenkrieges" kehrte unter der Fahne eines "weißen Nationalismus" (white nationalism) zurück. Dessen Spektrum umfasst heute mehr als nur amerikanische Neonazis. Im Gegensatz zu früheren Strömungen können sich hinter diesem ethnischen Separatismus und nationalen "drittem Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus (third position) sowohl eine gewaltaffine extreme Rechte als auch konservative Anhänger der Rassentrennung sammeln. Ihrer Forderung nach räumlicher Trennung der Ethnien in je eigenen Staaten wird von extremen Rechten international aufmerksam als zukunftsweisend erachtet. Dem US-Soziologen Michael Kimmel zufolge war die Wahl Barack Obamas 2008 für dieses Milieu "der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte". Ein schwarzer Präsident bestätigte lagerübergreifend die paranoide Weltsicht: "Amerika hatte sich in der Wahlkabine den Kräften ausgeliefert, die den Staat ohnehin schon vollständig unter ihre Kontrolle bringen wollten: Schwarze, Juden, Frauen, Schwule und Einwanderer." Somit hatte die Wahl Obamas "eine hohe symbolische Wirkung" für die extreme Rechte der USA. Entsprechend hatte NSM-Führer Jeff Schoep schon vor Obamas erster Amtszeit frohlockt, dessen Wahlsieg bringe die Bewegung voran. Es entstand eine Sammlungsbewegung, die Inhalte der extremen Rechten vom Narrensaum in die etablierte Politik führte. Verschwörungstheorien über eine despotische Zentralregierung, die Mitte der 1990er Jahre noch im militanten Milieu des Oklahoma-Attentäters zu finden waren, wirkten nun bis in die Basis der Republikanischen Partei. Ausdruck fand diese systematischen Delegitimierung Washingtons vor allem in der Frage staatlicher Steuerhoheit und im Phänomen der Birther, die anzweifelten, dass Präsident Obama gebürtiger Amerikaner sei. Ihre Protagonisten verstanden es, den sozialen und ökonomischen Abstieg der weißen unteren Mittelschicht in einen Kampf der Rassen und Kulturen umzudeuten: "Sie leben in einer Volkswirtschaft, die sie als ‚Walmart-Ökonomie’ bezeichnen, und sehen sich von einem ‚Nanny-Staat’ regiert, der ihr Geburtsrecht unverdient an undankbare Einwanderer verteilt." Auf den Druck von digitaler Revolution, Automatisierung und Globalisierung sowie des Wandels in der US-amerikanischen Demografie entstand eine "America-First"-Bewegung, die ihre Rhetorik von amerikanischen Isolationalisten der 1940er Jahre übernahm. Der amerikanische Historiker Rick Perlstein sieht in der Präsidentschaftswahl von 2016 zugleich Ende wie auch Konsequenz der Modernisierung durch einen "gemäßigten Rechtskurs", den die Republikanische Partei seit der historischen Wahlniederlage Barry Goldwaters 1964 eingeschlagen hatte. Entsprechend hat sich die staatsoffizielle Rhetorik verändert und klassische Topoi der äußersten Rechten aufgenommen. Der Politologe Dietmar Herz spricht von einer »Radikalisierung der dunklen Seiten der amerikanischen Geistesgeschichte durch die Maßnahmen und Rhetorik der Trump-Regierung «. Cyber Racism und die Rückkehr der Hate Groups Im Schatten dieser Ereignisse meldeten sich die traditionellen Gruppierungen des US-Neonazismus wieder zurück. Die US-Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center (SPLC) verzeichnete einen sichtbaren Anstieg im Rahmen der Einwanderungsdebatten nach der Jahrtausendwende und einen Wiederanstieg nach dem Amtsantritt Barack Obamas 2009. Differenziert nach inhaltlicher Ausrichtung beziffert das SPLC für das Jahr 2016 die Zahl der aktiven neonazistischen Gruppen in den USA auf 99, der KKK-Gruppen auf 130 (2000: 110, 2006: 165) und anderer White Nationalists auf 100. Hinzu kommen zahlreiche weitere Hate Groups mit rassistischen, christlich-fundamentalistischen oder ähnlichen Ausrichtungen. Abzüglich der Black Separatists nennt das SPLC eine Gesamtzahl der mehrheitlich weißen Hate Groups 2006 von 756 und für 2016 von 724. Insgesamt hat ihre Zahl – nach zwischenzeitlichem Einbruch – über ein Jahrzehnt wenig nachgelassen. Als Reaktion auf die Präsidentschaft Obamas wurden in diesem Milieu Strategiedebatten geführt und Allianzen erwogen. Verschwunden war die Idee einer weißen, nichtjüdischen Nation ohnehin nie, ihre Renaissance profitierte nun von der digitalen Revolution. Sie konnte sich im Cyberspace regenerieren und ihre Inhalte verbreiten. Doch bei aller technischen Modernisierung steht nach wie vor der Konflikt eines sich als "weiß" verstehenden Nationalismus mit den nicht-weißen Teilen der Nation und Einwanderern im Zentrum. Für Überleben und Comeback der "White Supremacy" war der Cyberspace essenziell. Die im Vergleich zu Europa traditionell dezentrale Struktur der US-Rechten kam dieser Entwicklung noch entgegen. Bereits mit dem Niedergang der großen rassistischen Organisationen wie dem KKK oder der American Nazi Party wurden hier die notwendigen Schritte zur Reorganisation in Form eines "Cyber Racism" eingeleitet. Das im Kontext mit den Morden in Charleston genannte US-Internet-Portal Stormfront ist eine der ältesten Online-Plattformen der extremen Rechten. Sie bietet Neonazis ebenso eine Heimat wie Anhängern des KKK, Rassisten, Antisemiten oder Verschwörungstheoretikern. Ihre Geschichte führt in die klassischen Strukturen der extremen US-Rechten. Stormfront wurde 1995 durch Don Black gegründet und sukzessive zum professionellen Forum ausgebaut. Black kam aus dem Ku Klux Klan und war eng mit dem Gründer und Grand Wizard der Louisiana Knights of the KKK, David Duke, verbunden. Dukes eigene Aktivitäten auf Stormfront steigerten die Attraktivität des Angebots für die extreme Rechte. Stormfront ist ein Beispiel dafür, dass sich die US-Amerikanische White-Supremacy-Szene schon früh mit den neuen Kommunikationstechnologien vertraut machte. Lange vor dem Web 2.0 schuf das interaktive Portal erfolgreich eine "virtuelle Gemeinschaft". Zugleich stehen Akteure wie Duke für einen strategischen Imagewechsel und den "Übergang vom ‚old fashioned racism’ zum neuen kulturell argumentierenden Rassismus", der neue Anhänger zu erschließen vermag. So war Duke 1989-1992 Abgeordneter der Republikaner im Repräsentantenhaus von Louisiana und kandidierte 1990 erfolglos für das Amt des Senators. Obgleich er Außenseiter ohne Unterstützung der Parteioffiziellen war, erreichte er beachtliche Stimmanteile. 1992 scheiterte er in den Vorwahlen für eine republikanische Präsidentschaftskandidatur. 2012 gab er an, von Unterstützern der Tea Party zu einer erneuen Kandidatur aufgefordert worden zu sein, trat aber nicht an. Er kann als Indikator dafür gesehen werden, wie weit sich die Republikaner auch dem äußersten rechten Rand zu öffnen bereit waren. Im Wahlkampf 2016 geriet Donald Trump unter Druck, weil der sich nicht von der Unterstützung durch Duke distanzierte. Das Konzept eines eigenen Online-Mediums nach dem Vorbild von Stormfront machte Schule. 2013 schuf der amerikanische Neonazis Andrew Anglin die Website Daily Stormer, deren Namensgebung sich an die NS-Propagandazeitschrift Stürmer anlehnte. Sie hat Stormfront mittlerweile als führendes Onlinemedium abgelöst. Ebenfalls als Pionier im Cyberspace wirkte die 1974 gegründeten National Alliance (NA) aus West Virginia. Nach Angaben des SPLC war sie über Jahrzehnte die bestorganisierte und gefährlichste Neonazi-Organisation in den USA. Sie nutzte das Internet bereits vor der Jahrtausendwende intensiv zur Kommunikation und zum Vertrieb von Propagandamaterial. Ihr Gründer William Pierce, ein ehemaliger Funktionär der American Nazi Party, war unter dem Pseudonym Andrew Macdonald mit den Turner Diaries und Hunter zum internationalen Starautor der extremen Rechten geworden. Die Bücher handelten von einem terroristischen Netzwerk, das in den USA einen "Rassenkrieg" führt, der auf Auslöschung von nicht-weißen Menschen angesetzt ist. Sie gelten als Quelle des Konzepts eines "führerlosen Widerstands" und waren Blaupausen für mehrere Terroranschläge: Sie inspirierten das Attentat von Timothy McVeigh, bei dem 1995 in Oklahoma City 168 Menschen starben, wie auch den deutschen NSU. Durch den Aufkauf des Musikverlag Resistance Records 1999 entfaltete die National Alliance großen Einfluss in der internationalen Rechtsrockszene. Das damit erreichte subkulturelle Milieu (Skinheads u. ä.) ist traditionell ein wichtiges Rekrutierungsfeld. Doch mit dem Tod von Pierce 2002 begann der Zerfall der Organisation. 2005 kam es zu einer kurzlebigen Abspaltung unter dem Namen National Vanguard (NV), bis die NA sich schließlich 2013 in ihrer bisherigen Form auflöste. Auch die Bedeutung anderer Gruppen sank. Der 1982 von KKK-Mitgliedern gegründete White Aryan Resistance war nach ihrem wirtschaftlichen Konkurs handlungsunfähig geworden. Die Neonazi-Organisation Aryan Nations, ebenso wie die NA vom FBI als terroristische Bedrohung eingestuft, verlor ebenfalls einen Millionenprozess und zerfiel anschließend. Hinsichtlich der offen gewalttätigen Gruppen erwies sich die Strategie der Bürgerrechtler, mit Schadensersatzprozessen den Gerichtsweg zu gehen, als äußerst wirkungsvoll. Als größte Neonazi-Organisation der USA blieb dagegen das National Socialist Movement (NSM) aktiv. Es konnte zum Teil die anderen Organisationen beerben, hatte jedoch ebenfalls mit internen Schwierigkeiten zu kämpfen. 2006 geriet es in die Krise, als Verbindungen zu Satanisten bekannt wurden. Kurz darauf machten Verwandte des verunglückten NSM-Führers Bill Hoff publik, dass er ein direkter Nachfahre von Sklaven war. Doch noch 2009 verfügte die Bewegung über 61 Unterorganisationen in 35 US-Staaten. 2011 erlitt sie einen beträchtlichen Imageschaden, als Jeffrey Russell Hall, eine NSM-Führungsfigur, aufgrund häuslicher Gewalt von seinem zehnjährigen Sohn erschossen wurde. Die New York Times bezifferte in diesem Jahr die Zahl der Mitglieder des NSM auf 400. Bis 2016 führte das NSM ein Hakenkreuz im Wappen, das dann von einer Odalsrune ersetzt wurde. Es bleibt die wichtigste der nazistischen Gruppen in den USA. Antisemitismus Unverändert ist die zentrale Rolle des Antisemitismus für amerikanische Neonazis. Die Menschenrechtsorganisation Anti-Defamation League registrierte nach den Wahlen 2016 einen signifikanten Anstieg von Terrordrohungen gegen jüdische Einrichtungen in den USA. Der Kampf gegen eine angeblich "von Zionisten okkupierte Regierung" (Zionist Occupied Governement) eröffnet Brücken sogar von Neonazis zu Islamisten. Michael Kimmel beschreibt, wie in der neonazistischen Szene der USA die Anschläge vom 11. September 2001 begrüßt wurden. Er zitiert Bill Roper von der NA mit den Worten: "Jeder, der bereit ist, ein Flugzeug in ein Gebäude zu fliegen, um Juden zu töten, ist für mich in Ordnung." Rocky Suhayda von der America Nazi Party (einer unbedeutenden Nachfolgeorganisation der ANP) beklagte, im eigenen Land "nur so wenige Leute [zu] haben, die bereit wären, das Gleiche zu tun" wie die Islamisten. 2005 wurde bekannt, dass sich die Aryan Nation um ein Bündnis mit Al Quaida bemühte. Solche Verbindungen blieben keineswegs auf Splittergruppen beschränkt. David Duke trat 2006 als Referent bei der Teheraner Holocaust-Leugner-Konferenz auf, zu der der damalige iranische Staatspräsidenten Mahmoud Ahmadinejad geladen hatte. Die Bürgerrechtsgruppe SPLC berichtet, dass es 2016 nach einem islamistischen Massaker 2016 in einem überwiegend von homosexuellen Menschen frequentierten Club in Orlando mit 49 Todesopfern Beifall in den Reihen der extremen Rechten gab. Vor dem Hintergrund der Bedeutung antimuslimischer Ressentiments für die amerikanische Rechte insgesamt zeigt dies, wie diffus die Positionen in der äußersten US-Rechten sind. Fazit Insgesamt agieren gerade US-Neonazis in einem widersprüchlichen Rahmen. Als eine der Siegernationen des Zweiten Weltkrieges grenzt sich das historische Selbstverständnis der Gesellschaft einerseits von Nationalsozialismus und Faschismus ab und betont die demokratischen Errungenschaften von Unabhängigkeit und Bürgerrechtsbewegung. Andererseits weist die Landesgeschichte selbst eine lange Tradition rassistischer Organisationen und Praktiken unabhängig von europäischen Vorbildern auf. Die äußerste amerikanische Rechte vermag beide Eigenarten miteinander zu kombinieren. Sie beruft sich auf die Tradition der "Weißen Nation" und genießt dabei den Schutz durch den ersten Zusatz der amerikanischen Verfassung, der ihnen die Meinungsfreiheit garantiert und sie so auch über die Staatsgrenzen bis nach Deutschland wirken lässt. Die technische Infrastruktur hat indessen nur das Überleben der Weltanschauung gesichert. Strukturen und Organisationen des US-Nazismus sind heute vergleichsweise geschrumpft und haben an Einfluss verloren. Der Cyberspace kompensiert dies jedoch durch die Möglichkeit, die Reichweite der eigenen Propaganda zu vergrößern. Allerdings besteht angesichts der hohen Zahl rechter Konkurrenzangebote unterschiedlichster Provenienz auch kein Anspruch mehr auf ein Meinungs- und Deutungsmonopol, wie es noch mit der Mitgliedschaft in einer Organisation verbunden war. Auch unter der Präsidentschaft Donald Trumps ist zu bezweifeln, dass die Splittergruppen des US-Neonazismus wieder Bedeutung erlangen werden. Neue Formen einer "alternativen Rechten" (Alternative Right) haben ihr Erbe angetreten. In ihnen kommen die hier beschriebenen Wandlungen besonders zum Tragen, denen der äußerste rechte Rand der USA unterworfen war. Die Alternative Right fühlt sich dem Gedanken eines "White Nationalism" näher als dem der "White Supremacy". Sie orientiert sich damit weniger am Nationalsozialismus als die US-Neonaziszene, sie agiert offener, flexibler und moderner und gleicht damit eher ihrer europäischen Entsprechung, der "Neuen Rechten". Ihr nahe stehende Medienformate wie Breitbart News haben darüber hinaus die Bedeutung des Internet für das gesamte rechte Milieu bestätigt und schon im Wahlkampf Donald Trumps eine offensive Rolle gespielt. Mit dem ehemaligen Breitbart-Chef Steve Bannon ist ein Förderer der Alternative Right in den Beraterstab des US-Präsidenten aufgerückt. Richard Spencer, Direktor des National Policy Institutes (NPI) und Alternative-Right-Thinktanks, quittierte den Wahlsieg Donald Trumps unmissverständlich mit "Sieg-Heil-" und "Heil-Trump"-Rufen. Die "alternative Rechte" widmet sich aggressiv der Einwanderungsfrage, beschwört die Gefährdung des weißen Amerikas und plädiert für ein neues historisches Selbstbewusstsein der weißen Führungsschicht des Landes. Mögen auch die Symbole des KKK und die Hakenkreuz-Tätowierungen der alten Rechten in den Hintergrund getreten sein: Die Themen und Thesen der alten Neonazis finden sich derzeit im weit nach rechts geöffneten Feld des Sagbaren wieder. http://www.emanuelamechurch.org/pages/staff/ http://edition.cnn.com/2015/06/19/us/charleston-church-shooting-main/. Auf einer Website, die unter Dylann Roofs Namen registriert wurde, äußerte sich mutmaßlich Roof folgendermaßen: „Wir haben keine Skinheads, keinen echten Ku-Klux-Clan, im Internet tun alle nichts, außer zu reden. Nun, jemand muss den Mut haben, es in die reale Welt zu bringen, und ich schätze, dieser jemand muss ich sein .” / „we have no skinheads, no real KKK, no one doing anything but talking on the internet. Well someone has to have the bravery to take it to the real world, and I guess that has to be me.” Norbert Finzsch, Americannazi.com. In: Geschichte der Gegenwart v. 5. April 2017. URL: http://geschichtedergegenwart.ch/americannazi-com Jessie Daniels, Cyber Racism. White Supremacy Online and the new Attack on Civil Rights. Latham u.a. 2009, S. 3. Ebd. S. 48 Thomas Grumke, Rechtsextremismus in den USA. Wiesbaden 2001, S. 155. Michael Minkenberg, Die neue radikale Rechte im Vergleich. USA, Frankreich, Deutschland. Opladen u, Wiesbaden 1998, S. 24. Vgl. das Interview der NPD-Zeitung »Deutsche Stimme« mit William Johnson von der American Freedom Party, die 2010 als „American Third Position“ gegründet wurde: »Den Niedergang der westlichen Kultur hat die amerikanische Elite zu verantworten.« Deutsche Stimme 6/2017, S. 3-4. Michael Kimmel, Angry White Men. Die USA und ihre zornigen Männer. Bonn 2016, S. 283. Carl Kinsky, »White Supremacy« gegen Obama. In: Der Rechte Rand 161/2016, S. 14-15, hier S. 14. https://archive.is/HIWpm Vgl. Philipp Schläger, Amerikas Neue Rechte. Tea Party, Republikaner und die Politik der Angst. Berlin 2012. Kimmel 2016, S. 296. Vgl. America First Commitee. In: American Conservatism. An Encyclopedia. Wilmington 2006, S. 21-23. https://www.nytimes.com/2017/04/11/magazine/i-thought-i-understood-the-american-right-trump-proved-me-wrong.html?_r=2 http://www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-dunkle-quellen-1.3549268 https://www.splcenter.org/hate-map Das Southern Poverty Law Center listet derzeit 917 Hate Groups in den USA: https://www.splcenter.org/hate-map. Als Hassgruppen werden solche Gruppen definiert, die Überzeugungen haben oder Praktiken ausleben, die eine ganze Klasse von Menschen angreifen oder verleumden, typischerweise für ihre Hautfarbe, Ethnie, ihre Nation, Religion, ihr Geschlecht, ihre geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung. https://www.splcenter.org/hate-map http://www.huffingtonpost.com/entry/white-supremacist-groups_us_5722407ce4b01a5ebde4ca74 Jessie Daniels, Cyber Racism. White Supremacy Online and the new Attack on Civil Rights. Latham u.a. 2009. Jessie Daniels 2009, S. 105. Minkenberg 1998, S. 249. https://www.splcenter.org/fighting-hate/intelligence-report/2017/eye-stormer, https://www.adl.org/news/article/andrew-anglin-five-things-to-know https://www.splcenter.org/fighting-hate/extremist-files/group/national-alliance http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/600876.stm http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/135578/der-nsu-im-lichte-rechtsradikaler-gewalt?p=all. https://archives.fbi.gov/archives/news/testimony/the-terrorist-threat-confronting-the-united-states https://archives.fbi.gov/archives/news/testimony/the-terrorist-threat-confronting-the-united-states https://www.splcenter.org/fighting-hate/extremist-files/group/national-socialist-movement http://www.nytimes.com/2011/05/11/us/11nazi.html https://www.adl.org/news/article/bomb-threats-to-jewish-institutions-in-2017 Michael Kimmel, Angry White Men. Die USA und ihre zornigen Männer. Bonn 2016, S. 282. http://edition.cnn.com/2005/US/03/29/schuster.column/ https://www.splcenter.org/fighting-hate/intelligence-report/2017/49-murdered-orlando-club-and-extremists-celebrate http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-12/alt-right-bewegung-usa-rechtsextremismus-donald-trump/komplettansicht Vgl. unter anderem: http://www.sueddeutsche.de/medien/us-wahl-trump-und-breitbart-triumphieren-ueber-das-establishment-1.3241193 https://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/11/richard-spencer-speech-npi/508379/
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-31T00:00:00"
"2017-07-28T00:00:00"
"2022-01-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/253409/vom-extrem-zur-alternative-ein-blick-auf-die-rechtsextreme-us-szene/
Der US-amerikanische Rechtsextremismus spielt international eine wichtige Rolle – auch für die deutsche Szene. In den vergangenen Jahren hat er sich tiefgreifend gewandelt: Während Neonazi-Organisationen in der Bedeutungslosigkeit versanken, finden d
[ "US-amerikanischer Rechtsextremismus", "Ku Klux Klan", "NSM", "Antisemitismus", "Hass", "USA", "Charleston" ]
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Global Sozial? | Presse | bpb.de
Die WTO-Verhandlungen in Cancun haben es deutlich gezeigt: zwischen den Entwicklungsländern und den industrialisierten Ländern liegt eine zur Zeit nicht zu überbrückende Kluft. Unter anderem sollte in Cancun die weitere Liberalisierung des Dienstleistungssektor verhandelt werden. Diese Verhandlungen sind gescheitert, doch das Prinzip der zunehmenden Liberalisierung macht trotzdem keinen Halt vor so heiklen Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Trinkwasserversorgung, Umweltschutz, öffentlicher Verkehr, Energieversorgung, Kommunikation und Finanzdienstleistungen. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass die sozialen Sicherungssysteme und die Armutsprävention den globalen Entwicklungen angepasst werden müssen. Auch Deutschland steht hier vor neuen Herausforderungen. Das bisher gewohnte Modell des "Wohlstandes für alle" droht zusammenzubrechen und muss reformiert werden. Asien hingegen steht vor der Aufgabe, soziale Sicherheitssysteme zu entwickeln. Der Ausgang dieser beiden Prozesse ist noch ungewiss. Prognosen dagegen können bereits gewagt werden. Unter dem Titel "Global Sozial? - Strategien sozialer Sicherheit in Asien und Deutschland", veranstaltet die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Kooperation mit dem Asienhaus eine dreitägige Tagung zu diesem Thema. Vom 8. bis 10. Oktober 2003 werden im KonferenzCentrum Brühl Vertreter und Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen aus Indien, Sri Lanka, Malaysia, China, Indonesien und Thailand sowie deutsche Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik Gemeinsamkeiten und Differenzen in der gesellschaftlichen und sozialen Debatte untersuchen. Ziel ist es, die Zukunft sozialer Sicherung und Armutsbekämpfung in den Zeiten fortschreitender Globalisierung genauer zu bestimmen. Wir möchten Sie zu dieser Konferenz sehr herzlich einladen. Datum 8. - 10. Oktober 2003 Ort KonferenzCentrum Brühl Bundeszentrale für politische Bildung Willy-Brandt-Str. 1 50321 Brühl Bei Interviewwünschen wenden Sie sich bitte an: Christoph Müller-Hofstede E-Mail: E-Mail Link: cmuelhof@fhbund.de Das Programm und weitere Informationen finden Sie unter Global sozial? Informationen und Anmeldung KonferenzCentrum Brühl Bundeszentrale für politische Bildung Christoph Müller-Hofstede Willy-Brandt-Straße 1 50321 Brühl Tel.: +49 (0) 1888 - 629 8260 Fax: +49 (0) 1888 - 629 9020 E-Mail: E-Mail Link: cmuelhof@fhbund.de Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Swantje Schütz Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50897/global-sozial/
Die Globalisierung stellt soziale Sicherungssysteme und Armutsvorsorge sowohl in den asiatischen Entwicklungsländern als auch in den europäischen Wohlfahrtsstaaten vor neue Herausforderungen. Hierzu veranstaltet die bpb eine internationale Konferenz.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Lernen in der Multifunktions-Bibliothek | Lernorte | bpb.de
Wie sieht Lernen in der Bibliothek aus und was macht eine Bibliothek zu einem guten Lernort? Darüber haben wir uns mit Teilnehmenden der Next Library Conference im September 2018 in Berlin unterhalten: Hier finden Sie das Interner Link: Transkript des Beitrags als PDF. Hintergrundinformationen zum Beitrag: Die Umfrage entstand im Rahmen der Externer Link: Next Library® Conference 2018, die vom 12. bis 15. September 2018 in Berlin stattfand. Sie wurde ausgerichtet von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit Kulturprojekte Berlin GmbH. Ziel der jährlich stattfindenden, internationalen Konferenz ist es, die Rollen und Potenziale öffentlicher Bibliotheken in der Gesellschaft auszuloten und zu innovativ zu gestalten. In der Umfrage kommen folgende Konferenzteilnehmende zu Wort: Boryano Rickum, Leiter der Stadtbibliothek Tempelhof-Schöneberg in Berlin Patrick Jonas, Bibliothekar in der Stadtbibliothek Berlin-Reinickendorf und Projektbegleiter von Externer Link: AVA Friederike Mertel, Dimplom-Bibliothekarin bei der Fachstelle für das öffentliche Bibliothekswesen beim Regierungspräsidium Freiburg Die Umfrage entstand im Rahmen der Externer Link: Next Library® Conference 2018, die vom 12. bis 15. September 2018 in Berlin stattfand. Sie wurde ausgerichtet von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit Kulturprojekte Berlin GmbH. Ziel der jährlich stattfindenden, internationalen Konferenz ist es, die Rollen und Potenziale öffentlicher Bibliotheken in der Gesellschaft auszuloten und zu innovativ zu gestalten. In der Umfrage kommen folgende Konferenzteilnehmende zu Wort: Boryano Rickum, Leiter der Stadtbibliothek Tempelhof-Schöneberg in Berlin Patrick Jonas, Bibliothekar in der Stadtbibliothek Berlin-Reinickendorf und Projektbegleiter von Externer Link: AVA Friederike Mertel, Dimplom-Bibliothekarin bei der Fachstelle für das öffentliche Bibliothekswesen beim Regierungspräsidium Freiburg
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"2022-10-07T00:00:00"
"2018-11-22T00:00:00"
"2022-10-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/280731/lernen-in-der-multifunktions-bibliothek/
Der öffentliche Coworking-Space im eigenen Stadtteil mit intelligenten Möbeln und weniger Büchern – sieht so die Bibliothek der Zukunft aus? Wir haben uns zum Lernort Bibliothek einmal umgehört.
[ "Umfrage", "Next Library Conference", "Bibliothek", "Intelligente Möbel", "Coworking" ]
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Ökologische Nachhaltigkeit am Beispiel Wasser | teamGLOBAL | bpb.de
Anders als in den Industrienationen haben in vielen Entwicklungsländern große Bevölkerungsteile keinen Zugang zu gesundem Trinkwasser. Bild: EC/T. Dorn Die Vereinten Nationen haben in den Millennium Entwicklungszielen im Jahr 2000 das Ziel formuliert, bis zum Jahre 2015 die Zahl derjenigen Menschen, die keinen Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser haben, zu halbieren. Mittlerweile haben nach Angaben von WHO und UNICEF zwar 89 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser. Gleichzeitig ist die Trinkwasserproblematik in vielen Entwicklungsländern weiter akut. Rund 884 Millionen Menschen haben nach wie vor kein sauberes Wasser. Verunreinigtes Trinkwasser stellt weltweit die Hauptursache für Cholera und Durchfallerkrankungen dar. Zudem verfügen 2,6 Milliarden Menschen weiterhin über keine einfachen sanitären Anlagen. Nur 80 Prozent der städtischen Bevölkerung in Entwicklungsländern haben Zugang zu sanitären Anlagen. In den Entwicklungsländern werden etwa 90% der Abwässer ohne jegliche Behandlung den Flüssen und Seen zugeführt. Diese Zahlen verdeutlichen die dramatische Lage sowohl für die Gesundheit der Weltbevölkerung, als auch für die Belastung der Umwelt. Diese Situation könnte sich in Zukunft weiter verschärfen. Das liegt zum einen an der steigenden Weltbevölkerung, zum anderen aber auch an klimatischen Veränderungen sowie politischen Spannungen, die nicht selten unmittelbaren Einfluss auf die Wasserversorgung einer Region haben. In jüngster Zeit verstärkt sich zudem die Diskussion um bislang als harmlos betrachtete Schadstoffe, wie etwa Medikamente, die in das Grundwasser gelangen und sich dort immer weiter anreichern, da sie nicht oder nur langsam abgebaut werden. Das Thema "Wasser" ist zweifelsohne eine Daueraufgabe, die der Weltgesundheit, der Welternährung, der Nachhaltigkeit und der Friedenssicherung dient. Die wachsende Weltbevölkerung, Migration, Urbanisierung, Klimawandel und Naturkatastrophen können dazu führen, dass Regionen mit heute guter Wasserversorgung in der Zukunft zu Problemregionen werden. Nicht wenige Wissenschaftler/innen gehen deshalb davon aus, dass es in naher Zukunft zu einem Migrationsdruck aufgrund von Wassermangel kommt und kriegerische Auseinandersetzungen um das Wasser wahrscheinlicher werden. Das grenzüberschreitende Wassermanagement kann aber auch Kooperationen zwischen benachbarten Staaten befördern. Zahlen: UNESCO (2012) Weltwasserbericht 2012 Anders als in den Industrienationen haben in vielen Entwicklungsländern große Bevölkerungsteile keinen Zugang zu gesundem Trinkwasser. Bild: EC/T. Dorn
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67335/oekologische-nachhaltigkeit-am-beispiel-wasser/
Der gesicherte Zugang zu qualitativ hochwertigem Trinkwasser ist eine Grundvoraussetzung für die Gesundheit und Ernährung der Weltbevölkerung sowie für eine nachhaltige ökologische und ökonomische Entwicklung. Anders als in den Industrienationen habe
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Wirtschaftssystem und ordnungspolitische Prozesse seit 1990 | Polen | bpb.de
Einleitung Schon wegen seiner Rolle als Pionier der Systemtransformation in Mittel- und Osteuropa verdient Polen Aufmerksamkeit. Ein weiterer wichtiger Grund dafür ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung nach der Einleitung des "Balcerowicz-Plans" am 1. Januar 1990 – einer radikalen marktwirtschaftlichen Transformation. Bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre wurde Polen – in Anspielung an Großbritannien in den 1960er und 1970er Jahren – als der "kranke Mann" des sozialistischen Europas bezeichnet. Die Volkswirtschaft stagnierte seit dem Jahr 1979. Nach dem tiefen Rückgang der volkswirtschaftlichen Produktion in den Jahren 1980/81 ist es bis zum Jahr 1988 nicht gelungen, das pro Kopf gerechnete Niveau des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Vorkrisenjahres 1979 wieder zu erreichen. In den 1990er Jahren wendete sich das Blatt: Das Land an der Weichsel wurde in den Medien als Primus unter den postsozialistischen Transformationsländern herausgestellt. Nach einer vorübergehenden Wachstumsschwäche in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts kehrte Polen seit 2005 wieder auf den Pfad hoher Wachstumsraten des BIP von fünf bis sieben Prozent jährlich zurück. Im Krisenjahr 2009 ging die Wachstumsrate des BIP auf bescheidene 1,7 Prozent zurück, was Polen trotzdem eine Ausnahmestellung unter allen europäischen Ländern sicherte: Es war das einzige Land, das eine positive Wachstumsrate vorweisen konnte. 20 Jahre nach Einleitung der marktwirtschaftlichen Transformation ist es so gelungen, einen Nachweis für ihren nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg zu liefern. Transformationspolitik Das Leitbild des Transformationsprozesses wurde in Polen – im Unterschied zu einigen anderen postsozialistischen Ländern – von Anfang an unmissverständlich formuliert. In zahlreichen Äußerungen Leszek Balcerowiczs, des "geistigen Vaters" der polnischen Transformation und bekannten Wirtschaftsprofessors der Warschauer Handelshochschule, wie auch in Regierungsprogrammen hieß es immer wieder, dass man die Implementierung einer Wirtschaftsordnung "westlichen Typs" anstrebe. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs, ab 1989 Berater der polnischen Regierung, formulierte den Standpunkt der politischen und ökonomischen Eliten des Landes: "Polen ist zu arm, um wirtschaftspolitisch zu experimentieren. Wir werden daher bewährten Modellen folgen." Er empfahl den Staaten des ehemaligen Ostblocks marktwirtschaftliche "Schocktherapien": eine Politik der radikalen Privatisierung und Liberalisierung. Diese Politik wurde allerdings von einigen linksorientierten polnischen Nationalökonomen u. a. mit Berufung auf die Idee des "Dritten Weges" zwischen Kapitalismus und Sozialismus stark kritisiert. Balcerowicz lehnte jedoch ordnungspolitische Experimente mit dem noch nirgendwo praktisch umgesetzten Konzept des "Dritten Wegs" entschieden ab. Zu der ordnungspolitischen Klarheit der politisch Verantwortlichen trugen mehrere Faktoren bei: In den Vordergrund rückte der Wunsch nach der Integration Polens in die Europäische Union – die Parole "Rückkehr nach Europa" war weit verbreitet. Ihre praktische Umsetzung in den späteren Beitrittsverhandlungen mit der EU-Kommission wurde von Deutschland auch gegen den Widerstand einiger Unionsmitglieder im Mittelmeerraum, die die Konkurrenz um Zuwendungen aus dem EU-Haushalt fürchteten, tatkräftig unterstützt. Nach mehr als 40 Jahren sozialistischer Misswirtschaft strahlten Länder wie Deutschland, Frankreich oder die USA den verführerischen Charme des materiellen Wohlstands aus. Vielen Polen, ähnlich wie den Bürgern der anderen postsozialistischen Länder, erschienen damals materieller Wohlstand, Marktwirtschaft und Freiheit fast wie Synonyme. Der freiheitliche marktwirtschaftliche Geist von Adam Smith, Friedrich August von Hayek, Milton Friedman, Walter Eucken und Ludwig Erhard verdrängte die marxistisch-leninistischen Lehren immer mehr. In der damaligen Aufbruchstimmung von großer Bedeutung war die Unterstützung des Internationalen Währungsfonds für die konsequente marktwirtschaftliche Umwandlung der postsozialistischen Länder. Zusätzlich noch wichtig aus polnischer Sicht war, dass die entschiedene Transformationspolitik das Ansehen des hoch verschuldeten Landes unter den westlichen Gläubigern verbesserte. Die Ausgangsbedingungen für die Einleitung der Transformationsstrategie in Polen waren mit wenigen Ausnahmen schlecht. In der Dekade der 1980er Jahre gab es eine langjährige galoppierende Inflation; das bedeutet, dass die Preise jährlich um deutlich mehr als zehn Prozent stiegen. Trotzdem blieb die Nachfrage auf fast allen Gütermärkten größer als das Angebot, woraus sich für die Bevölkerung und die Betriebe deutlich spürbare Versorgungsengpässe ergaben. Der Preisanstieg beschleunigte sich noch im Verlauf des Jahres 1989. Im August dieses Jahres verkündete die letzte kommunistische Regierung Polens unter Ministerpräsident Rakowski überraschend die Freigabe der Preise für Agrarprodukte. Dem Anstieg der Lebensmittelpreise in drei Monaten um 500 Prozent folgten massive Lohnforderungen der Arbeitnehmerschaft – die Lohn-Preis-Spirale begann, sich immer schneller nach oben zu drehen. Zugleich war Polen im Ausland hoch verschuldet. Im Jahr 1989 waren es 41,4 Milliarden US-Dollar, was mehr als das Fünffache der jährlichen Exporte in westlichen Währungen ausmachte. Die Arbeitsproduktivität in der Industrie wurde Ende der 1980er Jahre auf ungefähr 10–15 Prozent der Produktivität in der westdeutschen Industrie geschätzt. Der voranschreitende Verfall der sozialistischen Ordnung ging allerdings mit einer zügigen Entwicklung des Privatsektors einher. Im Jahr 1989 machte dieser Sektor circa 29 Prozent des BIP aus, bei der Beschäftigung sogar 29,6 Prozent. Nach Schätzung der Nationalbank verfügten die privaten Haushalte Ende der 1980er Jahre über beachtliche Ersparnisse außerhalb des staatlichen Bankensystems: ungefähr sieben Milliarden US-Dollar, die in der Bevölkerung nicht auf einige wenige reiche Haushalte konzentriert, sondern breit gestreut waren. Das im Oktober 1989 veröffentlichte Wirtschaftsprogramm der ersten nicht-kommunistischen Regierung unter Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Finanzminister Leszek Balcerowicz enthält folgende Formulierung: "Gleichzeitig mit den Vorhaben, die die Bekämpfung der Inflation und die Stabilisierung der Wirtschaft zum Ziele haben, unternimmt die Regierung Schritte, die zu bahnbrechenden Veränderungen im Wirtschaftssystem führen. Sie bestehen in der Einführung von Institutionen der Marktwirtschaft, erprobt in den entwickelten Ländern des Westens." Die Transformationsstrategie sah folgende zusammenhängende Maßnahmenpakete vor: Liberalisierung der Tätigkeit mikroökonomischer Wirtschaftssubjekte (Betriebe, Unternehmen, selbstständige Dienstleister) durch Freigabe der Preise; Abschaffung der staatlichen Regulierung der Gütermärkte, Freiheit der Wirtschaftstätigkeit einschließlich der Außenhandelsgeschäfte; Abschaffung des staatlichen Außenhandels- und Devisenmonopols; Selbstständigkeit und Selbstfinanzierung der Staatsbetriebe; Einführung der Umtauschbarkeit der inländischen Währung in andere Währungen (Konvertibilität der Währung); Makroökonomische Stabilisierung und Bekämpfung der Inflation durch Ausgleich des Staatshaushalts; eine auf die Verringerung der umlaufenden Geldmenge zielende restriktive Geldpolitik; fester Wechselkurs des Zloty zum US-Dollar und Strafsteuer auf Lohnzuwächse in den Staatsbetrieben, welche die von der Regierung festgelegte Obergrenze des Lohnanstiegs überschreiten; Ordnungspolitische Maßnahmen mit einem mittelfristigen und langfristigen Zeithorizont, das heißt Umgestaltung der Eigentumsordnung zugunsten des Privatsektors, Schaffung von Wettbewerbsstrukturen auf der volkswirtschaftlichen Ange-botsseite, Aufbau eines leistungsfähigen Banken- und Versicherungswesens, Einführung eines marktkonformen Steuersystems, Schaffung eines funktionsfähigen Arbeits-, Kapital- und Bodenmarktes, marktwirtschaftliche Gesetzgebung und Anpassung der gesamten institutionellen Struktur des Landes an die Erfordernisse des EU-Beitritts. QuellentextSchocktherapie für die Wirtschaft Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk erschien auf seiner letzten Pressekonferenz (2009, Anm. d. R.) vor einer Karte der Europäischen Union. Auf ihr leuchtete Polen grün, während alle anderen Länder in rot gehalten waren. Die Botschaft: Polen war 2009 das einzige EU-Land mit Wirtschaftswachstum – 1,7 Prozent. [...] Er wurde nicht müde, den "Vater des polnischen Wirtschaftswunders" zu loben, den damaligen Finanzminister Leszek Balcerowicz. Zum Jahreswechsel 1989/90 war dieses Wunder allerdings nicht abzusehen. Die meisten Polen mussten immer noch, oft stundenlang, beim Einkaufen Schlange stehen. [...] Wohl nur eine kleine Minderheit machte sich in jener Silvesternacht Gedanken darüber, was das Reformprogramm des neuen Finanzministers, des erst 42 Jahre alten Universitätsdozenten Leszek Balcerowicz, bedeuten würde. [...] Lech Walesa, damals auf dem Höhepunkt seiner Popularität, hatte immer wieder erklärt, auf das Land kämen "Blut und Schweiß" zu. […] Balcerowicz hatte in den letzten Wochen des alten Jahres nüchtern die Lage des Landes dargelegt: rasende Inflation, zuletzt 680 Prozent, mit 40 Milliarden Dollar an Auslandsschulden war Polen faktisch pleite. Die Industrie war marode, die Telefon-, Straßen- und Schienennetze waren ebenso wie das Gesundheitswesen in beklagenswertem Zustand. In den meisten Städten war das Leitungswasser ungenießbar, Weichsel und Oder waren stinkende Kloaken. Das durchschnittliche Monatsgehalt war zum Schwarzmarktkurs nur 30 Dollar wert. Der Finanzminister erklärte seinen Landsleuten wohlweislich nicht, dass die ersten Schritte seiner Schocktherapie für Millionen eine Lohnkürzung und den Verlust des Großteils ihrer Ersparnisse bedeuten würde. Zum 2. Januar 1990 wurde der Devisenhandel erlaubt, mit der Einschränkung, dass der Wechselkurs des Dollars für 16 Monate von der Regierung festgeschrieben wurde. Dies bedeutete zunächst einen weiteren Absturz des Zloty, bis er sich nach ein paar Monaten auf niedrigerem Niveau stabilisierte. Zudem wurden die Preise für Konsumgüter freigegeben. Als die Polen einkaufen gingen, trauten sie ihren Augen nicht: Die Preise für Fleisch oder Butter hatten sich über Neujahr verdreifacht, dafür gab es aber schlagartig alles, die Schlangen waren verschwunden.[...] So begann bald ein großes Privatisierungsprogramm, gleichzeitig wurden die Subventionen für die Industrie zusammengestrichen. Die erste Konsequenz: Es gab Massenentlassungen. Ende 1990 belief sich die Zahl der Arbeitslosen bereits auf 1,1 Millionen, zuvor hatte es offiziell überhaupt keine gegeben. [...] Noch andere Probleme musste der Finanzminister bewältigen: Bis Ende 1989 gab es in Polen keine Girokonten, keine Börse, kein Handelsregister, kein ausge-bildetes Steuersystem, keine Finanzgerichte, keine privaten Versicherungen, keine Kredit- und Investitionsbanken. Im Eilverfahren setzte Balcerowicz Gesetze durch, die den Mangel beseitigten [...]. Erst nach mehr als einem Jahr regte sich massiver Protest gegen die Schocktherapie. Die Gewerkschaft Solidarität forderte auf Demonstrationen: "Balcerowicz muss gehen!" Der hielt sich noch bis Ende 1991 im Amt, insgesamt also fast zweieinhalb Jahre. […] 1997 kehrte Balcerowicz unter Jerzy Buzek [...] für drei Jahre auf seinen alten Posten zurück, nun schon als Sieger: Die Wirtschaft brummte, die Arbeitslosigkeit sank, die Realeinkommen hatten sich vervielfacht, das Land erlebte einen beispiellosen Modernisierungsschub. Thomas Urban, "Wirtschaftswunder an der Weichsel", in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3. Januar 2010 Marktorientierte Transformation Die transformationspolitische Konzeption beruhte auf einer neoliberalen Philosophie, die entschieden auf die Selbstheilungs- und Selbstregulierungskräfte des Marktes setzte und den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft reduzierte. Im Zentrum des Interesses stand dabei die Gesundung der in einem desolaten Zustand befindlichen monetären Sphäre der Volkswirtschaft: Ein sich beschleunigender Preisanstieg, Nachfrageüberhänge und die zügig voranschreitende Verdrängung des polnischen Zloty durch den US-Dollar und die Deutsche Mark als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel kennzeichneten die Lage. Aus der monetären Sphäre sollten die entscheidenden Impulse zur Verbesserung der Funktionsweise der Realsphäre (Produktion und Güter) ausgehen. Der im Sozialismus gänzlich unbekannte Druck der eingeschränkten volkswirtschaftlichen Nachfrage, der Notwendigkeit, eigene Ausgaben durch auf dem Markt erzielte Einnahmen zu finanzieren, und des immer intensiver werdenden Anbieterwettbewerbs sollte die Hersteller zur Kostenreduzierung, zur Senkung der Verkaufspreise und zu Innovationen zwingen. Dabei hat man folgerichtig auch den Abbau von Arbeitsplätzen in den Staatsbetrieben in Kauf genommen, die sich in den Zeiten der sozialistischen Planwirtschaft durch Überbeschäftigung ausgezeichnet hatten – sie sollten dazu gebracht werden, sich auf den Märkten wie kapitalistische Produzenten zu verhalten. Diese Verhaltensweisen der Anbieter sollten gemäß der neoliberalen Transformationskonzeption die bisherigen Preisrelationen verändern. Die Folge wären Veränderungen in der Nachfragestruktur: Einerseits eine Ausweitung der Nachfrage nach den im Verhältnis zu anderen Gütern billiger gewordenen Produkten und andererseits die Einschränkung der Nachfrage nach relativ teurer gewordenen Gütern. Die Anbieter würden sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen mit ihrem Angebot an die veränderten Preisrelationen und die daraus folgende veränderte Nachfragestruktur anpassen. QuellentextEnde der Schuhfabrik von Krapkowice Krapkowice ist klein, und es schrumpft. Heute leben noch knapp über 17 000 Menschen hier. Aber der Ort war in ganz Polen bekannt. An einem Sonntag im April 1930 hatte der damals größte Schuhmagnat der Welt, der tschechische Unternehmer Toma´š Bat´a, dort Land gekauft, um eine Fabrik zu bauen. Er zog Fabrikhallen hoch, legte Straßen an und eine Arbeitersiedlung mit Wohnungen im Stil des Bauhaus-Architekten Le Corbusier, der in den zwanziger Jahren bei Bata gelernt hatte. In den Kriegsjahren diente die Fabrik den Nationalsozialisten. Zwangsarbeiter aus Polen hielten die Produktion am Laufen. 1948 ging die Fabrik in staatlichen polnischen Besitz über. Was Bata angelegt hatte, entwickelte sich zur sozialistischen Mustersiedlung: Zur Schuhfabrik gehörte alles, was ein Menschenleben brauchte. Schule, Kino, Hotel, Stadion, die Handballmannschaft am Ort, die in den siebziger Jahren die Landesmeisterschaften gewann – mit der Mutter des deutschen Fußballnationalspielers Miroslav Klose in der Mannschaft. [...] Es gab keine Familie in dieser Stadt, deren Leben nicht mit der Fabrik verflochten war. Die Schuhe waren der Stolz von Krapkowice; aus dem sieben Stunden entfernten Warschau reisten Studenten an, um ein Paar zu kaufen. Täglich verließen damals volle Züge Krapkowice, beladen mit gut verarbeiteten Lederschuhen, made in Poland, die von Danzig aus in den Westen verschifft wurden – immerhin gingen 95 Prozent der Produktion in den Westen. [...] Zu den besten Zeiten der Fabrik arbeiteten knapp 5000 Menschen in Krapkowice allein in der Produktion. Als das Unternehmen in den neunziger Jahren abgewickelt wurde, endeten Arbeiterbiografien, die nie über diesen Ort hinausgereicht haben. Von der Fabrik ist heute nur ein Rest übrig. Eine kleine Firma führt den Namen Otmet fort, mit kaum 50 Arbeitern. Das ehemalige Gelände ist teils Ruine; zwischen leer stehenden Lagerhallen und eingeschlagenen Fensterscheiben aber haben sich gut zwei Dutzend Unternehmen niedergelassen, auch aus Deutschland. Fast 1000 Menschen arbeiten wieder auf dem früheren Fabrikgelände. Doch die Schienen, auf denen früher die Züge Richtung Danzig fuhren, sind längst mit Gras überwachsen. Alice Bota, "Zurück nach Krapkowice", in: Die Zeit Nr. 46 vom 5. November 2009 Ein grundsätzlicher Schwachpunkt bei der Umsetzung der Transformationskonzeption war jedoch von Anfang an kaum zu übersehen: In den Jahren 1990/91 kam es unter dem Druck der Inflation und immenser Nachfragüberhänge zu einer Überbetonung von stabilitätspolitischen Maßnahmen, die sich auf die Eindämmung der volkswirtschaftlichen Nachfrage richteten. Die Regierung hatte keine Alternative dazu, diese Maßnahmen zur höchsten mittel- und langfristigen wirtschaftspolitischen Priorität zu erklären. Die Umgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens der Volkswirtschaft, also vor allem die gewünschte zügige Überführung von Staatsbetrieben in Privatunternehmen, geriet infolgedessen in Verzug. Das Hinterherhinken der Ordnungspolitik hinter der mikroökonomischen Liberalisierung und makroökonomischen Stabi-lisierung der Volkswirtschaft stellt bis in die Gegenwart eine Problematik des asymmetrischen Verlaufs des polnischen Transformationsprozesses dar. In das dadurch entstandene ordnungspolitische Vakuum stieß seit Anfang der 1990er Jahre die für Polen so charakteristische spontane Ordnungsentwicklung. Ein besonders hervorstechendes Beispiel für spontane Entwicklungen des Ordnungsrahmens ist die Tatsache, dass sich die Privatisierung der Volkswirtschaft vorwiegend nicht durch die Überführung der Staatsbetriebe in Privateigentum, sondern durch hunderttausende Neugründungen von Privatbetrieben vollzog. Die imposante Gründerwelle der ersten Transformationsjahre brachte in Einklang mit der außenwirtschaftlichen Öffnung der Volkswirtschaft eine Intensivierung des Wettbewerbs auf der Anbieterseite mit sich. Dies bescherte der Volkswirtschaft nach einer im Vergleich zu anderen postsozialistischen Ländern relativ kurzen, zweijährigen Transformationsrezession ab 1992 starke Wachstumsimpulse und kaschierte zumindest teilweise die negativen Auswirkungen der Verzögerungen bei der Privatisierung von Staatsbetrieben, beim Aufbau von marktkonformen Wirtschaftsinstitutionen und bei der Etablierung einer marktkonformen Gesetzgebung. Für den beachtlichen Erfolg der spontanen Ordnungsentwicklung in den bisher 20 Jahren der polnischen Systemtransformation musste allerdings ein hoher Preis bezahlt werden. Die Kehrseite der Medaille war das Fortbestehen eines Großteils des Staatssektors in Form von schwerindustriellen Großbetrieben. Dieser bis in den heutigen Tag existierende postsozialistische Sektor erwies sich als ein sprichwörtlicher "Klotz am Bein" der sich in Richtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung entwickelnden Volkswirtschaft. Das Überleben einiger dieser Betriebe auf den Märkten wurde vorwiegend durch Subventionen aus dem Staatshaushalt gesichert. Dies ist wiederum ein wesentlicher Grund für die verhältnismäßig großen Haushaltsdefizite und die wachsende Verschuldung des Landes, was wiederum den Regierungen Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen im sozialen Bereich aufzwang. An der empfindlichen Nahtstelle zwischen Staatssektor und den privaten Betrieben gedieh und gedeiht die Korruption. Nach Auffassung des prominenten Nationalökonomen und Wirtschaftspolitikers Grzegorz Kodko nutzte die polnische Volkswirtschaft in den bisherigen zwei Dekaden der Systemtransformation nur circa zwei Drittel ihres vorhandenen Wachstumspotentials. Die Erfolge auf dem Weg zur angestrebten Annäherung des BIP an den EU-Durchschnitt hätten in diesem Zeitrahmen – seiner Meinung nach – viel größer sein können. Ergebnisse der Transformation BIP-Wachstum, real, 2001-2011 Nach einer im Vergleich zu allen anderen postsozialistischen Ländern Europas relativ kurzen Anpassungsrezession der Jahre 1990/91, die einen Rückgang des BIP um 18 Prozent mit sich brachte, begann ein Jahr später die volkswirtschaftliche Produktion wieder zu steigen. Polen gelang es im Jahr 1992 als dem ersten europäischen Transformationsland, die Talsohle der Rezession zu durchschreiten und auf den Pfad des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums überzugehen. Im Jahr 1996 überschritt Polen als erstes Transformationsland die Größe des BIP aus dem letzten Vortransformationsjahr 1989. Die Spitzenposition auf dem Feld des Wirtschaftswachstums behielt Polen bis in die Gegenwart, wenn dieses als kumuliertes Wachstum des realen BIP im Vergleich zum Basisjahr 1989 gerechnet wird. Im Jahr 2006 waren es schon 158 Prozent der Basisgröße vor Estland mit 145 und Albanien mit 144 Prozent. In den darauf folgenden Jahren erreichten die Wachstumsraten der polnischen Volkswirtschaft jeweils 6,8 und fünf Prozent, um im Krisenjahr 2009 schließlich auf 1,7 Prozent zurückzugehen. In allen anderen postsozialistischen Ländern gab es allerdings im Jahr 2009 einen tiefen wirtschaftlichen Einbruch: In Estland ging das reale BIP um mehr als zehn Prozent zurück und in Albanien wurde die Krise schon im Jahr 2008 mit einem Rückgang des BIP um circa drei Prozent eingeleitet. Mit einem kumulierten BIP-Wachstum von circa 180 Prozent im Vergleich zu 1989 lag Polen 2010 an der Spitze der europäischen Transformationsstaaten. Inflation, 2001-2011 Es ist beachtlich, dass es in Polen gelungen ist, kontinuierlich eine Politik der "ruhigen Hand" bei der makroökonomischen Stabilisierung der Volkswirtschaft durchzusetzen. In anderen mittel- und osteuropäischen Ländern verliefen die Prozesse der makroökonomischen Stabilisierung dagegen wesentlich turbulenter. Als ein krasses Gegenbeispiel kann die Krise des russischen Rubels im August/September 1998 mit ihren verheerenden makroökonomischen Folgen aufgeführt werden. Polen setzte seine ruhige Stabilisierungspolitik in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts fort. Die jährliche Inflationsrate sank von 10,1 Prozent im Jahr 2000 auf ein Prozent im Jahr 2006. Allerdings bewegte sie sich in den darauf folgenden Jahren – vor allem wegen der gestiegenen Preise für Energieträger – wieder zwischen drei und vier Prozent. Für das Jahr 2011 wird ein Anstieg des Preisniveaus um 3,2 Prozent prognostiziert. Herausforderung Arbeitsmarkt Nach der Anpassungsrezession der Jahre 1990/91 stieg die Arbeitslosenquote im Jahr 1993 mit 16,4 Prozent auf den höchsten Stand der 1990er Jahre. Der Schock der unter der sozialistischen Planwirtschaft völlig unbekannten Massenarbeitslosigkeit führte zu sozialen Unruhen, politischer Radikalisierung und schließlich 1994 zum Regierungswechsel. Die hohe Wachstumsdynamik der Volkswirtschaft in den darauf folgenden Jahren trug allerdings zur Verringerung der Massenarbeitslosigkeit bei. Bis 1998 gelang es, diese Quote auf 10,4 Prozent zu drücken. Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums an der Wende zum 21. Jahrhundert führte dazu, dass diese Quote 2002 das beunruhigende Niveau von 19,8 Prozent erreichte und in den zwei darauf folgenden Jahren dort verharrte. Nach Überwindung der vorübergehenden Wachstumsschwäche und vor allem durch den im Jahr 2004 erfolgten EU-Beitritt Polens kam die Wende. Im Jahr 2005 fiel die Arbeitslosenquote auf 17,6 Prozent. Danach ging sie kontinuierlich zurück, um schließlich 2008 auf 9,5 Prozent zu fallen. Diese Reduzierung der Arbeitslosenquote um mehr als zehn Prozentpunkte im Vergleich zum Höhepunkt im Jahr 2003 kann zusammen mit dem Wachstum der polnischen Volkswirtschaft als Erfolg der marktwirtschaftlichen Transformation bewertet werden. Die starke Abhängigkeit des Arbeitsmarkts von einem hohen Wirtschaftswachstum ist im Krisenjahr 2009 allerdings wieder mit voller Deutlichkeit in Erscheinung getreten. Trotz der Wachstumsrate des BIP von 1,7 Prozent ist die Arbeitslosenquote auf 11,9 Prozent gestiegen, und erreichte im Jahr 2010 das Niveau von 12,3 Prozent. Für 2011 prognostiziert das Wirtschaftsministerium eine Verringerung der Arbeitslosenquote auf 10,5 Prozent. Soziale Lage und Einkommensverteilung Arbeitslosenquote 2002-2011 Trotz der unbestreitbaren Wachstums- und Stabilitätserfolge sowie einer Besserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt wird die soziale Lage der polnischen Bevölkerung in dem bisherigen Verlauf der Transformation von prominenten Nationalökonomen kritisch eingeschätzt. Seine Bewertung sozialer Konsequenzen der neoliberalen Transformationspolitik brachte der Wirtschaftstheoretiker Tadeusz Kowalik deutlich zum Ausdruck: "Es musste die Frage gestellt werden, wem dient das Wirtschaftswachstum? Die Antwort ist, es dient nur einer Minderheit. Nur die Hälfte der Bevölkerung im produktiven Alter findet eine Beschäftigung. Nur jeder Achte unter den Arbeitslosen bekommt Arbeitslosengeld. Vor dem Exodus der jungen Generation in Richtung Westen blieben 40 Prozent der jungen Menschen ohne Arbeit. Es gab und gibt für sie keine billigen Wohnungen. Die Hälfte der Arbeitslosen bleibt länger als ein Jahr ohne Beschäftigung. In drei Vierteln der Wirtschaft, vorwiegend im Privatsektor, eliminierte man die Gewerkschaften mit passiver Beteiligung der Behörden vollständig. Alle diese lange andauernden, übrigens mit unterschiedlicher Intensität auftretenden Einzigartigkeiten bewogen mich vor zehn Jahren zu der Meinung, dass in Polen eine der ungerechtesten sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist. [...] Die weiteren Entwicklungen in diesem Bereich haben mich in dieser Meinung nur noch weiter bestätigt." Durchschnittsverdienst ausgewählter Industrieländer Die von Kowalik erwähnte niedrige, weil nur unwesentlich 50 Prozent überschreitende Beschäftigungsquote der polnischen Bevölkerung im produktiven Alter (15–65 Jahre) in Verbindung mit lange anhaltenden zweistelligen Arbeitslosenquoten trug im Verlauf der Transformation entscheidend zur hohen Ungleichheit der Einkommen und verbreiteter Armut bei. Der Gini-Koeffizient, ein statistisches Maß zur Ermittlung von Ungleichverteilungen, stieg in Polen von 0,28 in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre 20 Jahre später auf 0,35, was die wachsende soziale Ungleichheit widerspiegelt. Neben diesem Koeffizienten gilt als Indikator für die Ungleichheit der Einkommensverteilung auch das Verhältnis zwischen den 20 Prozent der Bevölkerung mit dem höchsten Einkommen zu den 20 Prozent mit dem niedrigsten Einkommen. Nach den Angaben des Statistischen Amts betrug im Jahre 2007 das pro Person im Haushalt umgerechnete Einkommen der Großverdiener (obere 20 Prozent) das 6,2fache des Einkommens der Gruppe mit den niedrigsten Einkommen (untere 20 Prozent). Somit lag Polen bei der Einkommensdifferenzierung deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Mit dieser großen Ungleichheit bei der Einkommensverteilung geht eine verbreitete Armut einher. Die Messung des gesetzlichen Existenzminimums, das zum Bezug von staatlichen Hilfsleistungen berechtigt, wird erst seit dem Jahr 1997 durchgeführt. Der Anteil der Personen unterhalb dieser Armutsschwelle bewegt sich auf hohem Niveau zwischen 13,3 Prozent im Jahr 1997, 19,2 Prozent im Jahr 2004 und 14,6 Prozent im Jahr 2007. Subjektiv schätzten sich in Polen im oben genannten Zeitraum im Durchschnitt mehr als 20 Prozent der Bevölkerung als arm ein. QuellentextFernweh und Einsamkeit: junge Arbeitsmigranten ... Das schlechte Gewissen hat Marta Jarosz zurück in die Heimat getrieben. Zimmermädchen und Kellnerin – das macht sich auf Dauer nicht gut in einer Erwerbsbiographie, die auf eine ordentliche Anstellung zusteuern soll. […] Vor drei Monaten ist sie aus Island zurückgekehrt, mit dem festen Vorsatz im Gepäck, sich ausbilden zu lassen. Zurzeit lernt sie an einer Krakauer Privatschule Computergrafik. Ohne große Begeisterung. Direkt nach der Schule, sie war gerade 18 Jahre alt geworden, hatte Marta [...] das Weite gesucht. [...] Zunächst auf Zypern, dann in Island, Spanien und schließlich noch einmal in Island hat sie zum Teil das Achtfache dessen verdient, was in vergleichbaren Positionen in Polen gezahlt wird. In Island, wo sie die längste Zeit verbracht hat, empfing sie an der Rezeption eines Hotels die Gäste, manchmal half sie auch im Restaurant aus. Marta ist zurück in die Kleinstadt Wadowice gezogen, fünfzig Kilometer von Krakau entfernt. Aber das ist nicht mehr das Zuhause, das sie verlassen hat. Das Leben der Familie, der Freunde und Bekannten ist ohne sie weitergegangen. "Nur zwei Freunde sind noch da." [...] Nicht nur die Reiselust treibt junge Polen wie Marta ins Ausland. "Es ist viel einfacher, eine gutbezahlte Arbeit zu finden, als hier", sagt sie. [...] In Polen beträgt der Durchschnittslohn etwa 3000 Zloty, das Mindesteinkommen 1317 Zloty, umgerechnet 300 Euro. Auch gutausgebildete Polen suchen das Glück jenseits der Grenze, da die guten Jobs in der Heimat rar sind. Marta kennt einen Anwalt, der in Polen als Kletterlehrer arbeitet. "Das zieht mich runter", sagt sie. [...] Unter den europäischen Ländern sind Großbritannien, wo 43,5 Prozent der Auswanderer leben, und Irland mit 9,5 Prozent am beliebtesten; Deutschland und Holland, wo jeweils neun Prozent Arbeit suchen, folgen. […] Anstreicher, Küchenhilfe, Reinigungskraft, Erntehelfer oder Zimmermädchen: Die Mehrzahl der Migranten übt im Ausland anspruchslose Tätigkeiten aus, für die eine niedrige oder durchschnittliche Qua- lifikation genügt. Für Migranten mit höherer Ausbildung kann die Arbeit im Ausland zur Falle werden. Wenn sie dort nicht in ihrem erlernten Beruf tätig waren, tun sie sich nach der Rückkehr schwer, eine ihrer ursprünglichen Qualifikation angemessene Stelle zu finden. Es klafft eine Lücke im Lebenslauf. [...] Ein Drittel der jungen Rückkehrer im Alter von 20 bis 25 Jahren sucht länger als ein halbes Jahr nach Arbeit. In der Heimat stoßen sie auf Gleichaltrige, denen es nicht besser geht. In der Altersgruppe bis 25 Jahre liegt die Arbeitslosenquote bei entmutigenden 22 Prozent. Viele gehen deshalb bald wieder weg. Auch Marta überlegt, Polen wieder zu verlassen. [...] Natürlich war sie im Ausland mitunter auch einsam. Besonders in Madrid, wo sie kaum jemanden kannte. "Echte Freunde, die alles von mir wissen, habe ich am meisten vermisst", sagt sie. [...] "Immer wieder anfangen ist hart", sagt sie. "Irgendwann möchte ich auch einmal ankommen. Aber w" … und Familien ohne Väter Grobla wächst. Wie kleine Zuckerwürfel stehen die Häuser des Dorfes vierzig Kilometer vor dem Ortsschild von Krakau in der sumpfigen Landschaft. Gegenüber baut ein Nachbar, der das halbe Jahr im Ausland arbeitet, sein Haus aus. Nebenan hat der zweitjüngste Sohn der Adamskis mit seinem eigenen Heim begonnen, der Malermeister arbeitet zurzeit in Schweden, daher geht es mit dem Eigenheim nicht recht voran. [...] Hinter dem Haus parkt der Lastwagen von Pawel Adamski, dem ältesten Sohn der Familie. Er hat neun Jahre lang auf dem Obst- und Gemüsehof Wendel in Zwingenberg bei Darmstadt Spargel gestochen, die Saisonarbeit aber aufgegeben, um sich in der Heimat selbstständig zu machen. […] Zwei Lastwagen zählen zu seiner kleinen Spedition, die er vor einem Jahr gegründet hat. "Der Anfang ist immer schwierig", sagt er. "A.I.S." steht in weißen Buchstaben auf dem roten Lack. Adamski i synowie, Adamski und Söhne. Zwar hat Pawel noch keine Kinder. Aber da musste der Vater eben zur Namensgebung herhalten. Für solche Anschaffungen bückt sich Pawels Vater Marek Adamski seit 16 Jahren im Frühjahr über die weißen Gemüsestangen, die ihre Köpfe durch die südhessische Erde stecken. [...] In den ärmlichen Regionen im Südosten rund um Rzezow oder in Schlesien gibt es nicht nur Dörfer ohne Männer, sondern ganze Landstriche, wo ein Großteil der Bewohner jenseits der Grenze sein Geld verdient. [...] Für 5,55 Euro, den tariflich gesicherten Stundenlohn, arbeiten etwa 300 Rumänen und Polen in der Hochsaison sieben Tage in der Woche auf Wendels Spargelhof. Herr Adamski verdient dort doppelt so viel, wie er für eine vergleichbare Arbeit in Polen bekäme. Acht Monate sticht er Spargel, bildet ungelernte Arbeiter aus und hilft bei der Erdbeerernte. Von den Ersparnissen kann die Familie den Rest des Jahres leben. [...] "Die Zeit der Trennung wird mit dem Alter einfacher", glaubt Pawel Adamski. Als der Vater zum ersten Mal nach Deutschland ging, war Pawel sieben Jahre und sein jüngster Bruder erst acht Monate alt. "Als mein Vater einmal nach langer Abwesenheit zurückkehrte, hat mein Bruder ihn nicht erkannt und ,Herr‘ zu ihm gesagt." Auf der Fahrt von Grobla nach Krakau gleitet Pawels alter weißer Mercedes, der schon 300000 Kilometer hinter sich [...] hat, an Feldern mit Gewächshäusern vorbei. Unter den Planen wird Kohl angebaut, auf manchen Feldern auch Spargel. "Der wird in die Slowakei verkauft", sagt Pawel. "Und die Erntehelfer kommen aus der Ukraine." Beide Texte:Rainer Schulze, "Wanderer ohne Ziel", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2010 Globale Wirtschaftskrise und Perspektiven Die Volkswirtschaft Polens wurde im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 bis 2009 verhältnismäßig wenig beeinträchtigt. Dies scheint allerdings nur teilweise der Wirtschaftspolitik der polnischen Regierung geschuldet, weil zur glimpflichen ökonomischen Entwicklung in den drei Krisenjahren auch einige von der Wirtschaftspolitik kaum beeinflussbare Faktoren beitrugen. Sie federten die Auswirkungen der Weltkrise auf Polen wesentlich ab. Unter allen postsozialistischen EU-Ländern besitzt das Land an der Weichsel mit 38,1 Millionen Einwohnern und einem in Kaufkraftparitäten gerechneten BIP pro Kopf der Bevölkerung in Höhe von 17 500 US-Dollar (2008) den größten Binnenmarkt. Daraus folgt eine, gemessen am Anteil der Exporte am BIP, geringere Abhängigkeit der Volkswirtschaft vom Außenhandel als bei anderen Ländern dieser Gruppe. In Polen sind das nur 36 Prozent, während es beispielsweise in Tschechien 67, in Ungarn 70 und in der Slowakei sogar 83 Prozent sind. Darüber hinaus zeichnet sich der polnische Binnenmarkt durch einen "nachholenden Konsum" aus. Bei zurzeit noch zahlenmäßig starken Jahrgängen junger Menschen im Alter unter 40 ist ein hoher Grad an Konsumlust vorhanden, der folgerichtig mit einer geringen Sparneigung einhergeht. Die Nachfrage nach dauerhaften Konsumgütern wie Eigentumswohnungen, Wohnhäusern, Möbeln, PKWs, Haushalts-elektronik usw. ging auch während der Krisenjahre nicht zurück. Der Konsumgütermarkt übernahm so die Aufgabe eines Konjunkturstabilisators. Im Verlauf des Jahres 2009 wurde die Nachfrageseite der Volkswirtschaft zusätzlich durch die Abwertung des polnischen Zloty gestützt, deren Hauptursache der Abzug westlichen Kapitals infolge der Weltfinanzkrise war. Im Jahr 2009 betrug der durchschnittliche jährliche Wechselkurs des Zloty zum Euro 4,3273 zu 1. Im Vergleich zum vorhergehenden Jahr verlor die einheimische Währung somit um 23,1 Prozent an Wert. Die EU-Mitgliedschaft brachte polnischen Unternehmen einen freien Zugang zu europäischen Märkten und stabilisierte gemeinsam mit dem Binnenmarkt die Konjunktur. Infolge der Abwertung des Zloty gegenüber dem Euro erhöhte sich die Exportwettbewerbsfähigkeit auf den EU-Märkten, was den Rückgang der Exporte im Jahr 2009 zwar nicht verhindern, aber abbremsen konnte. Die polnischen Wirtschaftsexperten rechneten damit, dass unter der krisenbedingten Nachfragerestriktion in Deutschland, Frankreich und anderen hoch entwickelten westeuropäischen Ländern die Verbraucher wachsendes Interesse für billigere Exportprodukte aus Polen zeigen würden. Diese Rechnung ging zumindest teilweise auf. Bei allgemeiner Schrumpfung der Außenhandelsumsätze Polens in den EU-Raum gingen im Jahr 2009 die Exporte deutlich weniger als die Importe zurück, d. h. jeweils um 17,1 Prozent und 26,3 Prozent. Der Rückgang der Exporte fiel somit im Vergleich zu den meisten EU-Ländern moderater aus und die Schrumpfung der Importe um mehr als ein Viertel schuf bei einem immerhin noch um 1,7 Prozent wachsenden BIP erhöhte Absatzchancen für einheimische Produzenten. Sehr vorteilhaft erwies sich für die polnische Autoindustrie überdies die deutsche Abwrackprämie, die im Jahr 2009 die Exporte von preisgünstigen Klein- und Mittelklassewagen in Richtung Westen begünstigte. Weitere Verstärkung erhielt der für die polnische Volkswirtschaft positive Nachfrageeffekt durch Mittel aus den EU-Strukturfonds. Ende November 2008 wurde ein EU-Rettungspaket zur Stützung der volkswirtschaftlichen Nachfrage im EU-Raum verabschiedet. Daraus ergaben sich für Polen Handlungsspielräume, um insbesondere bei Infrastrukturprojekten, beispielsweise zur Vorbereitung auf die Fußball-Europameisterschaft 2012, zusätzliche Finanzmittel zügiger als ursprünglich geplant einzusetzen. Neben einem Rückgang der Industrieproduktion um 3,2 Prozent stiegen im Jahr 2009 zugleich die Produktion und Beschäftigung im Baugewerbe um jeweils 3,7 und 5,3 Prozent. Die dynamische Entwicklung des Baugewerbes ist im Lande an vielen neu gelegten Straßen und vor allem in den Großstädten an neu gebauten, oft imposanten Gebäuden deutlich sichtbar. Neben diesen exogenen Einflussfaktoren trug die Wirtschafts- und Geldpolitik vor allem dadurch zur Eindämmung der Folgen der Weltkrise auf Polen bei, indem sie für die Stabilität des Bankwesens sorgte. Die Geschäftsbanken blieben im Großen und Ganzen im Rahmen des traditionellen Bankengeschäfts, d. h., sie nahmen Einlagen der Sparer auf und vergaben Kredite an Wirtschaft und Privatpersonen. Im Vergleich zu vielen US-amerikanischen und westeuropäischen Geldinstituten waren sie kaum oder nur in geringem Maße in spekulative Transaktionen, in sogenannte innovative Finanzprodukte der Wall Street und anderer internationaler Börsen, involviert. Daher ist es ihnen auch gelungen, die finanziellen Verluste zu vermeiden oder zumindest zu minimieren, die auf den Zusammenbruch der Investment-Bank Lehman Brothers im September 2008 folgten. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer im Bankwesen erreichten "Rente der Rückständigkeit". Mit ihren Regeln zur Aufnahme von Krediten in ausländischen Währungen (wegen der niedrigen Verzinsung besonders beliebt waren Schweizer Franken) verordnete die Nationalbank noch vor 2007 eine Vergabepraxis, die ganz im Gegensatz zu der laschen Vergabe der berüchtigten Hypothekendarlehen in den USA stand, die ohne Rücksicht auf die finanzielle Solidität der Darlehensnehmer gewährt wurden. Die Bonität der Kreditnehmer musste von der Kredit erteilenden Geschäftsbank sorgfältig und streng geprüft werden. Auf diese Weise wollte man u. a. einkommensschwächere Kreditnehmer sowie Banken vor der Gefahr der Zahlungsunfähigkeit im Falle einer starken Abwertung des Zloty gegenüber dem Franken oder dem Euro schützen. Darüber hinaus griff die Wirtschaftspolitik auf das Mittel der Steuersenkungen zurück, um so die Kauflust der Bevölkerung noch zusätzlich zu stützen. Als Ergebnis der in den Jahren 2008/09 durchgeführten Änderungen der Einkommensteuer und der starken Senkung der Rentenabgaben mussten die Bürger ungefähr 35 Milliarden Zloty (circa neun Milliarden Euro) weniger an den Staat abführen. Die Einkommensteuer wurde 2009 vereinfacht: Die bis dahin gültigen drei Einkommensschwellen zur Festlegung der Steuersätze wurden auf zwei verringert, die Sätze wurden auf 18 bzw. 32 Prozent reduziert. Im Jahr 2008 verringerte man auch den Rentenbeitrag der Versicherten von 13 Prozent auf sechs Prozent des Bruttolohns. Diese "Geschenke" an die abgabenpflichtigen Bürger vergrößerten trotzdem nicht das Defizit des Staatshaushalts. Sogar das Gegenteil trat ein: Das Defizit sank von 24,6 Milliarden Zloty im vorhergehenden Jahr auf 23,8 Milliarden im Jahr 2009. Dieses im europäischen Kontext des Krisenjahres 2009 überraschende Ergebnis weist indirekt darauf hin, dass zur Eindämmung und Überwindung der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise die keynesianische Lehre der antizyklischen Konjunkturpolitik des "deficit spending" in Polen nicht zum Einsatz gekommen ist. Die immer noch stark vom neoliberalen Geist beeinflusste Regierungsmannschaft um Ministerpräsident Donald Tusk und Finanzminister Jacek Rostowski setzte in ihrer Politik vor allem auf den starken Binnenmarkt. Andererseits profitierte Polen von den konjunkturellen Rettungspaketen vor allem in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, um durch Exporte in diese Länder auch die polnische Wirtschaft am Laufen zu halten. Ohne also selbst auf dieses konjunkturpolitische Instrumentarium zurückzugreifen, hat die polnische Wirtschaft als eine Trittbrettfahrerin indirekt von den keynesianischen Konjunkturprogrammen der westeuropäischen Länder profitiert. Der beachtliche Erfolg Polens bei der Eindämmung der negativen Auswirkungen der Krise wäre – aller Wahrscheinlichkeit nach – ohne die Konjunkturprogramme in Westeuropa nur schwer oder gar nicht realisierbar gewesen. Die erfolgreiche Eindämmung der Konsequenzen der Weltfinanzkrise und die geschickte Wirtschaftspolitik der Regierung verbreiteten Optimismus hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bis zum Jahr 2030. In Fachkreisen und im Regierungslager wird darauf verwiesen, dass Polen zurzeit vor einer einmaligen Entwicklungschance steht: Nach mehr als drei Jahrhunderten des ständigen Zurückbleibens hinter den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen im westeuropäischen Raum könnte das Land im Zeitrahmen von zwei Dekaden zügig aufholen. In diesem Zusammenhang werden solche emotional positiv geprägten Begriffe wie "zivilisatorischer Sprung" und die "goldene polnische Dekade 2010–2020" verwendet. Für diesen Optimismus scheinen einige stichhaltige Argumente zu sprechen. Erstens: Die seit 1990 immer enger werdende Anbindung des Landes an Westeuropa, die im Mai 2004 im EU-Beitritt Polens gipfelte, bietet große Vorteile. Neben der Öffnung der EU-Märkte und den Fördermitteln aus den EU-Fonds wird die stärkere infrastrukturelle Anbindung Polens mit Autobahnen, schnellen Flug-, Bahn- und Telekommunikationsverbindungen an den westeuropäischen Wirtschaftsraum hervorgehoben. Zweitens: Polen verfügt derzeit immer noch über eine günstige demographische Struktur, die sich allerdings nach 2020 allmählich verschlechtern wird. Die zahlenmäßig starken Jahrgänge der in den 1970er und 1980er Jahren geborenen jungen Menschen sind im Durchschnitt viel besser ausgebildet als die älteren Generationen. Der Anteil von Personen mit einem mittleren bzw. höheren Schulabschluss und der Hochschulabsolventen stieg seit 1990 kontinuierlich an. Auch mental bringt die jüngere Generation vor allem durch deutlich bessere Fremdsprachenkenntnisse, zahlreiche Auslandserfahrungen und die damit einhergehende größere Weltoffenheit günstige Voraussetzungen für die erfolgreiche Nutzung einer offenen marktwirtschaftlichen Ordnung in der EU. QuellentextGrenzüberschreitender Aufschwung Über [Lothar Meistrings] Schreibtisch hängt eine große Deutschlandkarte. Vorpommern, an dessen östlichem Rand Löcknitz liegt, ist gerade noch drauf, ganz oben rechts. Meistring, 59, ist gelernter Matrose, studierter Gesellschaftswissenschaftler und ehrenamtlicher Bürgermeister des 3000-Seelen-Städtchens. Ob Löcknitz nur eine Randerscheinung sei, das komme eben auf die Perspektive an. "Entweder wir sehen uns als das Ende Deutschlands", sagt er, "oder als den Anfang einer Großstadt." Der Mann spricht von Stettin, das 19 Kilometer östlich von Löcknitz beginnt. Zu der polnischen Stadt mit ihren mehr als 400000 Einwohnern gehört der zweitgrößte Seehafen des Nachbarlandes, von hier aus starten Direktflüge nach London und Dublin. "Ohne Stettin", sagt der Bürgermeister, "säßen wir hier doch am Arsch der Welt – wenn ich das mal so drastisch sagen darf." Das darf er, denn die Lage im Landkreis Uecker-Randow ist nur mit drastischen Worten zu beschreiben. Er gehört zu den ärmsten Landkreisen ganz Deutschlands. […] Und doch ist in Löcknitz ein kleines Wunder geschehen. […] Die Wende brachte der Beitritt Polens zur EU. Seit dem Wegfall der Grenzkontrollen [...] geht es in Löcknitz und den benachbarten Gemeinden deutlich aufwärts. [...] Es sind Polen aus dem boomenden Stettin, die in der ärmsten Region Deutschlands für neues Leben sorgen. [...] Sie kaufen Häuser und gründen Betriebe, schicken ihre Kinder auf die Schulen. […] Die meisten umzugswilligen Polen schätzen traditionelle deutsche Tugenden. Bei den Behörden, betont die Krankenschwester, wisse man, woran man sei. Es gebe weniger Kriminalität und Korruption als zu Hause. Sie und andere Einwanderer aus Stettin stammen zumeist aus dem Mittelstand, aber es sind auch Besserverdiener dabei [...]. Für die Deutschen entlang der Grenze bringt diese neue Art der Nachbarschaft den Abschied von lange gepflegten Urteilen und Vorurteilen. Die Polen, das waren für sie die armen Schlucker, die ungeliebten Konkurrenten, die für jeden Lohn in Deutschland arbeiteten. Nun verkehren sich die Verhältnisse. Ein Schweißer kann auf einer Werft in Stettin 1200 Euro im Monat verdienen. Da auf deutscher Seite in vergleichbaren Jobs oft schlechter bezahlt wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann Deutsche in Stettin anheuern. Michael Sontheimer, "Abschied von Vorurteilen", in: Der Spiegel Nr. 9 vom 25. Februar 2008 Es ist für die Zukunft Polens vielversprechend, dass mit dem sich ausbreitenden Optimismus auch eine Diskussion um die Ausgestaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung einhergeht. Denn führende Nationalökonomen sind der Meinung, dass der Prozess der ordnungspolitischen Umwandlungen in den bisher 20 Jahren der Systemtransformation keineswegs abgeschlossen worden ist. Die schon am Anfang des Transformationsprozesses sich abzeichnende Asymmetrie der Transformationspolitik wirft ihren Schatten bis in die Gegenwart. Das seit der Wende zum 21. Jahrhundert wachsende Interesse für die Ordnungspolitik hat mehrere Gründe. Einer der wichtigsten ist der Artikel 20 der Verfassung Polens aus dem Jahr 1997: "Die Soziale Marktwirtschaft, gestützt auf die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit, Privateigentum und Solidarität, Dialog und Zusammenarbeit der sozialen Partner, bildet die Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Republik Polen." Ein weiterer gewichtiger Grund sind die Versäumnisse der Vergangenheit. Auf diese wies mehrmals kritisch der hoch verdiente Nestor der liberalen polnischen Nationalökonomen, Waclaw Wilczynski, hin. Die Asymmetrie im Verlauf des polnischen Transformationsprozesses erschien in der Vergangenheit allerdings den wirtschaftspolitisch Verantwortlichen eigentlich als eine unter Umständen mehr oder weniger zu vernachlässigende Größe. Der neoliberale Glaube an die Selbstregulierungs- und Selbstheilungskräfte der Märkte dominierte das ökonomische Denken. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 erschütterte jedoch die Fundamente dieses Glaubens zutiefst und veranlasste sowohl Wirtschaftspolitiker als auch Wirtschaftstheoretiker zur Suche nach neuen Konzeptionen und neuen Wegen in der Wirtschaftspolitik. Es zeigte sich, dass die ökonomisch und gesellschaftlich gewünschte Funktionsweise des Marktes nur dann gewährleistet werden kann, wenn die Volkswirtschaft mit einem angemessenen Ordnungsrahmen ausgestattet ist. Im Bereich der Ordnungspolitik werden in den bevorstehenden Jahrzehnten intensive Anstrengungen notwendig sein. Zu den wichtigsten und politisch schwer durchsetzbaren Aufgaben gehört der dringend notwendige Umbau des Steuer- und Abgabensystems. Vor allem müssen die für den Staatshaushalt kostspieligen und sozial ungerechten Privilegien für einzelne mächtige und einflussreiche Bevölkerungsgruppen (Landwirte, Bergleute, Polizei, Streitkräfte, Wissenschaftler und Geistliche) abgebaut werden. Dadurch könnte das ganze Steuer- und Abgabensystem einfacher, stabiler und gerechter werden. Zu den ordnungspolitischen Aufgaben werden auch die Stärkung der Konkurrenz auf dem polnischen Binnenmarkt und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit einheimischer Betriebe auf den EU-Märkten und in der ganzen Welt gezählt. Weitere Aufgaben sind es, die Qualität der wirtschaftsrelevanten Gesetzgebung zu erhöhen, die Bürgergesellschaft durch die Förderung von Partnerschaften zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft zu stärken sowie die Umstellung auf die Erfordernisse der nachhaltigen Entwicklung im ökologischen und sozialen Sinne einzuleiten. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk erschien auf seiner letzten Pressekonferenz (2009, Anm. d. R.) vor einer Karte der Europäischen Union. Auf ihr leuchtete Polen grün, während alle anderen Länder in rot gehalten waren. Die Botschaft: Polen war 2009 das einzige EU-Land mit Wirtschaftswachstum – 1,7 Prozent. [...] Er wurde nicht müde, den "Vater des polnischen Wirtschaftswunders" zu loben, den damaligen Finanzminister Leszek Balcerowicz. Zum Jahreswechsel 1989/90 war dieses Wunder allerdings nicht abzusehen. Die meisten Polen mussten immer noch, oft stundenlang, beim Einkaufen Schlange stehen. [...] Wohl nur eine kleine Minderheit machte sich in jener Silvesternacht Gedanken darüber, was das Reformprogramm des neuen Finanzministers, des erst 42 Jahre alten Universitätsdozenten Leszek Balcerowicz, bedeuten würde. [...] Lech Walesa, damals auf dem Höhepunkt seiner Popularität, hatte immer wieder erklärt, auf das Land kämen "Blut und Schweiß" zu. […] Balcerowicz hatte in den letzten Wochen des alten Jahres nüchtern die Lage des Landes dargelegt: rasende Inflation, zuletzt 680 Prozent, mit 40 Milliarden Dollar an Auslandsschulden war Polen faktisch pleite. Die Industrie war marode, die Telefon-, Straßen- und Schienennetze waren ebenso wie das Gesundheitswesen in beklagenswertem Zustand. In den meisten Städten war das Leitungswasser ungenießbar, Weichsel und Oder waren stinkende Kloaken. Das durchschnittliche Monatsgehalt war zum Schwarzmarktkurs nur 30 Dollar wert. Der Finanzminister erklärte seinen Landsleuten wohlweislich nicht, dass die ersten Schritte seiner Schocktherapie für Millionen eine Lohnkürzung und den Verlust des Großteils ihrer Ersparnisse bedeuten würde. Zum 2. Januar 1990 wurde der Devisenhandel erlaubt, mit der Einschränkung, dass der Wechselkurs des Dollars für 16 Monate von der Regierung festgeschrieben wurde. Dies bedeutete zunächst einen weiteren Absturz des Zloty, bis er sich nach ein paar Monaten auf niedrigerem Niveau stabilisierte. Zudem wurden die Preise für Konsumgüter freigegeben. Als die Polen einkaufen gingen, trauten sie ihren Augen nicht: Die Preise für Fleisch oder Butter hatten sich über Neujahr verdreifacht, dafür gab es aber schlagartig alles, die Schlangen waren verschwunden.[...] So begann bald ein großes Privatisierungsprogramm, gleichzeitig wurden die Subventionen für die Industrie zusammengestrichen. Die erste Konsequenz: Es gab Massenentlassungen. Ende 1990 belief sich die Zahl der Arbeitslosen bereits auf 1,1 Millionen, zuvor hatte es offiziell überhaupt keine gegeben. [...] Noch andere Probleme musste der Finanzminister bewältigen: Bis Ende 1989 gab es in Polen keine Girokonten, keine Börse, kein Handelsregister, kein ausge-bildetes Steuersystem, keine Finanzgerichte, keine privaten Versicherungen, keine Kredit- und Investitionsbanken. Im Eilverfahren setzte Balcerowicz Gesetze durch, die den Mangel beseitigten [...]. Erst nach mehr als einem Jahr regte sich massiver Protest gegen die Schocktherapie. Die Gewerkschaft Solidarität forderte auf Demonstrationen: "Balcerowicz muss gehen!" Der hielt sich noch bis Ende 1991 im Amt, insgesamt also fast zweieinhalb Jahre. […] 1997 kehrte Balcerowicz unter Jerzy Buzek [...] für drei Jahre auf seinen alten Posten zurück, nun schon als Sieger: Die Wirtschaft brummte, die Arbeitslosigkeit sank, die Realeinkommen hatten sich vervielfacht, das Land erlebte einen beispiellosen Modernisierungsschub. Thomas Urban, "Wirtschaftswunder an der Weichsel", in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3. Januar 2010 Krapkowice ist klein, und es schrumpft. Heute leben noch knapp über 17 000 Menschen hier. Aber der Ort war in ganz Polen bekannt. An einem Sonntag im April 1930 hatte der damals größte Schuhmagnat der Welt, der tschechische Unternehmer Toma´š Bat´a, dort Land gekauft, um eine Fabrik zu bauen. Er zog Fabrikhallen hoch, legte Straßen an und eine Arbeitersiedlung mit Wohnungen im Stil des Bauhaus-Architekten Le Corbusier, der in den zwanziger Jahren bei Bata gelernt hatte. In den Kriegsjahren diente die Fabrik den Nationalsozialisten. Zwangsarbeiter aus Polen hielten die Produktion am Laufen. 1948 ging die Fabrik in staatlichen polnischen Besitz über. Was Bata angelegt hatte, entwickelte sich zur sozialistischen Mustersiedlung: Zur Schuhfabrik gehörte alles, was ein Menschenleben brauchte. Schule, Kino, Hotel, Stadion, die Handballmannschaft am Ort, die in den siebziger Jahren die Landesmeisterschaften gewann – mit der Mutter des deutschen Fußballnationalspielers Miroslav Klose in der Mannschaft. [...] Es gab keine Familie in dieser Stadt, deren Leben nicht mit der Fabrik verflochten war. Die Schuhe waren der Stolz von Krapkowice; aus dem sieben Stunden entfernten Warschau reisten Studenten an, um ein Paar zu kaufen. Täglich verließen damals volle Züge Krapkowice, beladen mit gut verarbeiteten Lederschuhen, made in Poland, die von Danzig aus in den Westen verschifft wurden – immerhin gingen 95 Prozent der Produktion in den Westen. [...] Zu den besten Zeiten der Fabrik arbeiteten knapp 5000 Menschen in Krapkowice allein in der Produktion. Als das Unternehmen in den neunziger Jahren abgewickelt wurde, endeten Arbeiterbiografien, die nie über diesen Ort hinausgereicht haben. Von der Fabrik ist heute nur ein Rest übrig. Eine kleine Firma führt den Namen Otmet fort, mit kaum 50 Arbeitern. Das ehemalige Gelände ist teils Ruine; zwischen leer stehenden Lagerhallen und eingeschlagenen Fensterscheiben aber haben sich gut zwei Dutzend Unternehmen niedergelassen, auch aus Deutschland. Fast 1000 Menschen arbeiten wieder auf dem früheren Fabrikgelände. Doch die Schienen, auf denen früher die Züge Richtung Danzig fuhren, sind längst mit Gras überwachsen. Alice Bota, "Zurück nach Krapkowice", in: Die Zeit Nr. 46 vom 5. November 2009 BIP-Wachstum, real, 2001-2011 Inflation, 2001-2011 Arbeitslosenquote 2002-2011 Durchschnittsverdienst ausgewählter Industrieländer Das schlechte Gewissen hat Marta Jarosz zurück in die Heimat getrieben. Zimmermädchen und Kellnerin – das macht sich auf Dauer nicht gut in einer Erwerbsbiographie, die auf eine ordentliche Anstellung zusteuern soll. […] Vor drei Monaten ist sie aus Island zurückgekehrt, mit dem festen Vorsatz im Gepäck, sich ausbilden zu lassen. Zurzeit lernt sie an einer Krakauer Privatschule Computergrafik. Ohne große Begeisterung. Direkt nach der Schule, sie war gerade 18 Jahre alt geworden, hatte Marta [...] das Weite gesucht. [...] Zunächst auf Zypern, dann in Island, Spanien und schließlich noch einmal in Island hat sie zum Teil das Achtfache dessen verdient, was in vergleichbaren Positionen in Polen gezahlt wird. In Island, wo sie die längste Zeit verbracht hat, empfing sie an der Rezeption eines Hotels die Gäste, manchmal half sie auch im Restaurant aus. Marta ist zurück in die Kleinstadt Wadowice gezogen, fünfzig Kilometer von Krakau entfernt. Aber das ist nicht mehr das Zuhause, das sie verlassen hat. Das Leben der Familie, der Freunde und Bekannten ist ohne sie weitergegangen. "Nur zwei Freunde sind noch da." [...] Nicht nur die Reiselust treibt junge Polen wie Marta ins Ausland. "Es ist viel einfacher, eine gutbezahlte Arbeit zu finden, als hier", sagt sie. [...] In Polen beträgt der Durchschnittslohn etwa 3000 Zloty, das Mindesteinkommen 1317 Zloty, umgerechnet 300 Euro. Auch gutausgebildete Polen suchen das Glück jenseits der Grenze, da die guten Jobs in der Heimat rar sind. Marta kennt einen Anwalt, der in Polen als Kletterlehrer arbeitet. "Das zieht mich runter", sagt sie. [...] Unter den europäischen Ländern sind Großbritannien, wo 43,5 Prozent der Auswanderer leben, und Irland mit 9,5 Prozent am beliebtesten; Deutschland und Holland, wo jeweils neun Prozent Arbeit suchen, folgen. […] Anstreicher, Küchenhilfe, Reinigungskraft, Erntehelfer oder Zimmermädchen: Die Mehrzahl der Migranten übt im Ausland anspruchslose Tätigkeiten aus, für die eine niedrige oder durchschnittliche Qua- lifikation genügt. Für Migranten mit höherer Ausbildung kann die Arbeit im Ausland zur Falle werden. Wenn sie dort nicht in ihrem erlernten Beruf tätig waren, tun sie sich nach der Rückkehr schwer, eine ihrer ursprünglichen Qualifikation angemessene Stelle zu finden. Es klafft eine Lücke im Lebenslauf. [...] Ein Drittel der jungen Rückkehrer im Alter von 20 bis 25 Jahren sucht länger als ein halbes Jahr nach Arbeit. In der Heimat stoßen sie auf Gleichaltrige, denen es nicht besser geht. In der Altersgruppe bis 25 Jahre liegt die Arbeitslosenquote bei entmutigenden 22 Prozent. Viele gehen deshalb bald wieder weg. Auch Marta überlegt, Polen wieder zu verlassen. [...] Natürlich war sie im Ausland mitunter auch einsam. Besonders in Madrid, wo sie kaum jemanden kannte. "Echte Freunde, die alles von mir wissen, habe ich am meisten vermisst", sagt sie. [...] "Immer wieder anfangen ist hart", sagt sie. "Irgendwann möchte ich auch einmal ankommen. Aber w" … und Familien ohne Väter Grobla wächst. Wie kleine Zuckerwürfel stehen die Häuser des Dorfes vierzig Kilometer vor dem Ortsschild von Krakau in der sumpfigen Landschaft. Gegenüber baut ein Nachbar, der das halbe Jahr im Ausland arbeitet, sein Haus aus. Nebenan hat der zweitjüngste Sohn der Adamskis mit seinem eigenen Heim begonnen, der Malermeister arbeitet zurzeit in Schweden, daher geht es mit dem Eigenheim nicht recht voran. [...] Hinter dem Haus parkt der Lastwagen von Pawel Adamski, dem ältesten Sohn der Familie. Er hat neun Jahre lang auf dem Obst- und Gemüsehof Wendel in Zwingenberg bei Darmstadt Spargel gestochen, die Saisonarbeit aber aufgegeben, um sich in der Heimat selbstständig zu machen. […] Zwei Lastwagen zählen zu seiner kleinen Spedition, die er vor einem Jahr gegründet hat. "Der Anfang ist immer schwierig", sagt er. "A.I.S." steht in weißen Buchstaben auf dem roten Lack. Adamski i synowie, Adamski und Söhne. Zwar hat Pawel noch keine Kinder. Aber da musste der Vater eben zur Namensgebung herhalten. Für solche Anschaffungen bückt sich Pawels Vater Marek Adamski seit 16 Jahren im Frühjahr über die weißen Gemüsestangen, die ihre Köpfe durch die südhessische Erde stecken. [...] In den ärmlichen Regionen im Südosten rund um Rzezow oder in Schlesien gibt es nicht nur Dörfer ohne Männer, sondern ganze Landstriche, wo ein Großteil der Bewohner jenseits der Grenze sein Geld verdient. [...] Für 5,55 Euro, den tariflich gesicherten Stundenlohn, arbeiten etwa 300 Rumänen und Polen in der Hochsaison sieben Tage in der Woche auf Wendels Spargelhof. Herr Adamski verdient dort doppelt so viel, wie er für eine vergleichbare Arbeit in Polen bekäme. Acht Monate sticht er Spargel, bildet ungelernte Arbeiter aus und hilft bei der Erdbeerernte. Von den Ersparnissen kann die Familie den Rest des Jahres leben. [...] "Die Zeit der Trennung wird mit dem Alter einfacher", glaubt Pawel Adamski. Als der Vater zum ersten Mal nach Deutschland ging, war Pawel sieben Jahre und sein jüngster Bruder erst acht Monate alt. "Als mein Vater einmal nach langer Abwesenheit zurückkehrte, hat mein Bruder ihn nicht erkannt und ,Herr‘ zu ihm gesagt." Auf der Fahrt von Grobla nach Krakau gleitet Pawels alter weißer Mercedes, der schon 300000 Kilometer hinter sich [...] hat, an Feldern mit Gewächshäusern vorbei. Unter den Planen wird Kohl angebaut, auf manchen Feldern auch Spargel. "Der wird in die Slowakei verkauft", sagt Pawel. "Und die Erntehelfer kommen aus der Ukraine." Beide Texte:Rainer Schulze, "Wanderer ohne Ziel", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2010 Über [Lothar Meistrings] Schreibtisch hängt eine große Deutschlandkarte. Vorpommern, an dessen östlichem Rand Löcknitz liegt, ist gerade noch drauf, ganz oben rechts. Meistring, 59, ist gelernter Matrose, studierter Gesellschaftswissenschaftler und ehrenamtlicher Bürgermeister des 3000-Seelen-Städtchens. Ob Löcknitz nur eine Randerscheinung sei, das komme eben auf die Perspektive an. "Entweder wir sehen uns als das Ende Deutschlands", sagt er, "oder als den Anfang einer Großstadt." Der Mann spricht von Stettin, das 19 Kilometer östlich von Löcknitz beginnt. Zu der polnischen Stadt mit ihren mehr als 400000 Einwohnern gehört der zweitgrößte Seehafen des Nachbarlandes, von hier aus starten Direktflüge nach London und Dublin. "Ohne Stettin", sagt der Bürgermeister, "säßen wir hier doch am Arsch der Welt – wenn ich das mal so drastisch sagen darf." Das darf er, denn die Lage im Landkreis Uecker-Randow ist nur mit drastischen Worten zu beschreiben. Er gehört zu den ärmsten Landkreisen ganz Deutschlands. […] Und doch ist in Löcknitz ein kleines Wunder geschehen. […] Die Wende brachte der Beitritt Polens zur EU. Seit dem Wegfall der Grenzkontrollen [...] geht es in Löcknitz und den benachbarten Gemeinden deutlich aufwärts. [...] Es sind Polen aus dem boomenden Stettin, die in der ärmsten Region Deutschlands für neues Leben sorgen. [...] Sie kaufen Häuser und gründen Betriebe, schicken ihre Kinder auf die Schulen. […] Die meisten umzugswilligen Polen schätzen traditionelle deutsche Tugenden. Bei den Behörden, betont die Krankenschwester, wisse man, woran man sei. Es gebe weniger Kriminalität und Korruption als zu Hause. Sie und andere Einwanderer aus Stettin stammen zumeist aus dem Mittelstand, aber es sind auch Besserverdiener dabei [...]. Für die Deutschen entlang der Grenze bringt diese neue Art der Nachbarschaft den Abschied von lange gepflegten Urteilen und Vorurteilen. Die Polen, das waren für sie die armen Schlucker, die ungeliebten Konkurrenten, die für jeden Lohn in Deutschland arbeiteten. Nun verkehren sich die Verhältnisse. Ein Schweißer kann auf einer Werft in Stettin 1200 Euro im Monat verdienen. Da auf deutscher Seite in vergleichbaren Jobs oft schlechter bezahlt wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann Deutsche in Stettin anheuern. Michael Sontheimer, "Abschied von Vorurteilen", in: Der Spiegel Nr. 9 vom 25. Februar 2008
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Piotr Pysz
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-09-13T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/polen-311/23328/wirtschaftssystem-und-ordnungspolitische-prozesse-seit-1990/
Polen steht derzeit vor einer einmaligen Chance: Nachdem es mehr als dreihundert Jahre lang hinter den westeuropäischen Ländern zurückblieb, hat das Land in nur zwei Jahrzehnten gesellschaftlich und wirtschaftlich aufgeholt. Zuletzt gelang es, die Ko
[ "Informationen zur politischen Bildung", "311", "Polen", "Wirtschaftssystem", "ordnungspolitische Prozesse", "marktwirtschaftliche Transformation", "Arbeitsmigration", "Jugendarbeitslosigkeit", "Wirtschaftskrise" ]
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Wesensmerkmale des Populismus | Populismus | bpb.de
Einleitung Während man außerhalb Europas seit langem mit Populismus vertraut ist, trat er in Europa in nennenswertem Umfang als überwiegend rechtes Phänomen erst seit den 1970er Jahren auf. Als Unterscheidungskriterium für linken oder rechten Populismus können die Begriffe Inklusion und Exklusion herangezogen werden. Linker Populismus strebt durch Partizipation und Ressourcenumverteilung die Inklusion unterprivilegierter Bevölkerungsschichten in ein parastaatliches, direkt an die Person des "Führers" gebundenes, parlamentarisch nicht kontrolliertes Klientelsystem an. Rechter Populismus betreibt umgekehrt die Exklusion von Menschen ("Sozialstaatsschmarotzer", Immigranten, Asylbewerber, ethnische Minderheiten) und reserviert politische und soziale Teilhaberechte nur für die eigene, autochthone Bevölkerung. Die erste große Welle rechtspopulistischer Parteien - der Aufstieg der Fortschrittsparteien in Dänemark und Norwegen, der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der französischen Front National (FN), des belgischen Vlaams Belang - setzte in den 1970er Jahren ein und ist, anders als frühere populistische Bewegungen, nicht abgeklungen. Vielmehr gehören diese Parteien teilweise zu den stärksten ihrer Länder. In den 1990er Jahren kam es zu einer weiteren Welle mit der schwedischen Neuen Demokratie, den Wahren Finnen, der Lega Nord in Italien, der älteren, aber erst von Jörg Haider seit 1986 zu einer ethnonationalistischen Partei transformierten Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), der niederländischen Lijst Pim Fortuyn, der Dänischen Volkspartei als Abspaltung von der Fortschrittspartei sowie zahlreichen mittel- und osteuropäischen Parteien. Einige haben entweder nicht überlebt oder Nachfolgeorganisationen wie die niederländische Partei für die Freiheit unter Geert Wilders hervorgebracht. In Deutschland ist das rechtspopulistische Feld fragmentiert, aber auch hier ist es seit den 1990er Jahren zu etlichen, teilweise wieder untergegangenen Bewegungen gekommen wie der von ehemaligen FDP-Mitgliedern gegründeten Offensive für Deutschland und dem Bund Freier Bürger, dessen Vorsitzender enge Kontakte zu Haiders FPÖ pflegte, der Schill-Partei, der Pro-Bewegung und der Partei Die Freiheit unter dem ehemaligen CDU-Mitglied René Stadtkewitz. Obwohl diese Parteien oft ältere Wurzeln haben, stellen sie eine neue Herausforderung für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie dar, gelingt es ihnen doch, ein weit verbreitetes Unbehagen unter dem Signum von Anti-Parteien zu bündeln und vorrangig gegen die "Parteienherrschaft", die EU und die Immigration zu kanalisieren. Populismus: ein Relationsbegriff Populismus ist kein Substanz-, sondern ein Relationsbegriff. Versteht man seit Aristoteles unter Substanz etwas, das zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf, so hat der Populismus keine Substanz im Sinne eines zentralen, nur ihm eigenen Wertesystems. Der Politikwissenschaftler Paul Taggart definiert den Populismus daher als "inhärent unvollständig"; er habe ein "leeres Herz", was seine Schwäche, aber auch seine Flexibilität ausmache. Als zyklisches Phänomen, das oft mit einem Chamäleon verglichen wird, passt er sich permanent neuen Bezugssystemen an und setzt sich zu ihnen in eine Anti-Beziehung. Was David Hume über die Seele gesagt hat, gilt auch für den Populismus: Er ist ein "bloßes Bündel von Vorstellungen" ohne einen beharrenden Träger (Substanz) seiner Akzidenzien, die gleichwohl eine beharrliche Gleichförmigkeit aufweisen. Populismus lässt sich daher nicht essentialistisch definieren und auf eine kohärente Doktrin festlegen. Seine programmatische Variationsbreite hat dazu geführt, ihn lediglich als eine Strategie des Machterwerbs zu definieren. Versteht man indessen unter Strategien Verfahrensweisen zur Erreichung beliebiger Ziele, so ist Populismus keine bloße Strategie, sondern ein Set von bestimmten (nicht beliebigen) Merkmalsbestimmungen, die aber nicht substanziell determiniert werden, sondern sich erst in unterschiedlichen Kontexten aktualisieren. Auch wenn sich Populismus nur in Relation zu einem akuten Gegner bestimmen lässt, verfügt er über ein ideologisches Minimum, das auf einer vertikalen Achse von "Volk" und "Elite" beruht. Um diese Achse gruppiert sich ein Bündel nicht variabler Vorstellungen, die nicht politisch, sondern moralisch verankert sind. Der Populismusforscher Cas Mudde definiert Populismus daher als "eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische Gruppen getrennt ist, das 'reine Volk' und die 'korrupte Elite', und die geltend macht, dass Politik ein Ausdruck der volonté générale oder des allgemeinen Volkswillens sein soll". Zur Bestimmung des Populismus als Ideologie ohne gesellschaftstheoretisches Substrat ist der vom Ideologietheoretiker Michael Freeden geprägte Begriff einer "dünnen Ideologie" hilfreich. Im Unterschied zu Hochideologien wie dem Liberalismus oder dem Sozialismus gelten Ideologien dann als "dünn", wenn sie wie der Nationalismus, die Ökologiebewegung oder der Feminismus ein spezifisches Ziel verfolgen, sich aber in anderen Politikfeldern an eine komplexere Ideologie anlehnen, die Freeden als Wirtsideologie (host-ideology) bezeichnet. Auch der ideologisch "dünne" Populismus geht mit solchen Wirtsideologien Verbindungen ein, die von Fall zu Fall variieren. So vertreten die Wahren Finnen ein traditionell konservatives Weltbild und einen soziokulturellen Autoritarismus, der mit Ethnonationalismus verbunden wird. Dagegen propagierte der Niederländer Fortuyn einen soziokulturellen Libertarismus und richtete seine Koordinaten nicht mehr national-ethnisch, sondern westlich-kulturell aus. Merkmale des Populismus Populismus zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Berufung auf den common sense, Anti-Elitarismus, Anti-Intellektualismus, Antipolitik, Institutionenfeindlichkeit sowie Moralisierung, Polarisierung und Personalisierung der Politik. Das Grundaxiom ist die Berufung auf den common sense. Aus populistischer Sicht ist der "gesunde Menschenverstand" dem Reflexionswissen von Intellektuellen nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen, weil er auf konkreter, lebensweltlicher Erfahrung beruhe, noch nicht vom Virus des modernen Skeptizismus infiziert sei und daher noch einen unverfälschten, "gesunden" Zugang zu Recht und Wahrheit habe. Dazu meinte Timo Soini, Vorsitzender der Wahren Finnen: "Gelehrte Theoretiker, arrogante Bürokraten, kaltherzige Technokraten, verständnislose Zentralisierer, Anbeter des großen Geldes und aalglatte Avantgarde-Denker trauen dem Volk nicht. Sie missachten die Ansichten des Volkes, weil sie glauben, das Volk sei dumm und abgestumpft und die Weisheit liege bei Experten und einer vom Alltagsleben abgeschotteten Elite." Ähnlich erklärte in den USA der Populist George C. Wallace den "durchschnittliche(n) Taxifahrer in diesem Land, die Kosmetikerin, de(n) Arbeiter in der Stahl-, der Gummi- oder der Textilindustrie" für instinktiv den Eliten überlegen. Ihnen werde man zeigen, "dass der durchschnittliche Amerikaner die Nase voll hat von all den Eierköpfen und übergebildeten Typen im Elfenbeinturm, die hochnäsig auf uns herabblicken". Populismus beruht - unabhängig von seiner Verortung auf einer Rechts-Links-Skala - auf der Aversion gegen die "Bevormundung" des Volkes durch Funktionseliten. Diese Aversion ist aber scheinemanzipatorisch, wird doch Mündigkeit nicht als Prozess der Selbstwerdung, sondern als ein statisches Apriori verstanden. Populismus betreibt keine bloße Aufwertung des Volkes, sondern eine Umpolung der Wertigkeiten von Volk und Elite und ist nur in einem instrumentellen Sinne anti-elitär. Er richtet sich lediglich gegen die jeweils herrschende Elite, strebt aber den Aufstieg einer neuen, moralisch überlegenen Elite von homines novi an. Ein weiteres Merkmal ist die Antipolitik. Populisten mobilisieren vor allem bildungsferne, unpolitische Teile der Bevölkerung, die Politik schlechthin für ein "schmutziges Geschäft" halten. Sie treten daher als antipolitische Sprachrohre und Seismografen des common sense auf, sei es als grobschlächtiger, im Dialekt sprechender "Mann von der Straße" wie Umberto Bossi (italienische Lega Nord), als "einfache" Hausfrauen wie Pia Kjaersgaard (Dänische Volkspartei) und Sarah Palin (Tea Party-Bewegung in den USA) oder als antipolitischer Unternehmer wie Silvio Berlusconi (Popolo della Libertà in Italien): "Ich bin kein Politiker, ich kümmere mich nicht um Kritik. Ich sage das, was die Leute denken." Die Berufung auf den common sense bedingt die Institutionenfeindlichkeit des Populismus. Da sich im Anspruch auf Bildung des politischen Willens nur der Herrschaftswille gegenüber dem Volk manifestiere, fordern Populisten eine ungefilterte politische Willensartikulation und lehnen intermediäre Organe als Instrumente der "Bevormundung" ab. Aber im Unterschied zu direktdemokratischen Verfahren, die auf der Kontrolle (dem gebundenen Mandat) der Delegierten durch die Delegierenden beruhen, befürworten sie einen spontanen Voluntarismus in einer Akklamationsdemokratie. In Europa treten sie für Plebiszite und Referenden ein, halten es aber in der Schwebe, ob diese die parlamentarisch-repräsentative Demokratie lediglich ergänzen oder nicht eher ersetzen sollen. Der Populismus agiert daher in einer Grauzone zwischen loyaler und illoyaler Opposition und postuliert einen Demokratismus, der es darauf anlegt, die Verklammerung von Rechtsstaatlichkeit und Mehrheitswillen zu zerbrechen. Er sei, so der Politikwissenschaftler Andreas Schedler, ein Borderline-Phänomen in einem Kontinuum zwischen Anti-Establishment- und Anti-System-Parteien. Zu den konstitutiven Merkmalen des Populismus gehört ferner die Moralisierung der Politik. Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung gelten die Eliten als korrupt, doppelzüngig, eigennützig, abgehoben und arrogant. Dagegen verbürge die moralische Überlegenheit des Volkes ein jedem diskursiven Rechtfertigungszwang enthobenes Wissen über das, was recht und unrecht, wahr und falsch ist. So erklärte der Vorsitzende der FPÖ Heinz-Christian Strache 2008 im österreichischen Nationalrat: "Sie entmündigen die Österreicher und verhöhnen sie gleichzeitig auch noch, sind abgehoben und präpotent, indem Sie hergehen und sagen: Wir hier im Parlament haben die Gescheitheit mit dem Löffel gefressen! (...) Sie haben Angst vor dem Volk, das Volk hat aber ein gutes Gespür für Recht und Unrecht. Und dort, wo Unrecht zu Recht wird, werde ich meine Stimme laut erheben, und da wird Widerstand zur Pflicht!" Populistisches heartland als rückwärtsgewandte Utopie Gegen die Bestimmung des Populismus über den Volksbegriff hat Taggart eingewandt, dieser sei zu diffus und zu unbestimmt. Es sei daher falsch, Populisten beim Wort zu nehmen und im "Volk" das vereinheitlichende Prinzip des Populismus zu sehen: "Die Festlegung auf das 'Volk' ist vielmehr eine abgeleitete Folge aus der impliziten oder expliziten Festlegung auf ein 'heartland'." Mit heartland bezeichnet Taggart die rückwärtsgewandte Utopie einer romantisierten, unhistorischen, idealen Welt wie "Middle America" oder "La France profonde", für den im Deutschen der Begriff der "Lebenswelt" steht. Die "Lebenswelt" ist ein nicht begründbarer Zustand vor aller Theorie oder, in den Worten des Philosophen Edmund Husserl, das "Universum der Selbstverständlichkeit". Für den Philosophen Hans Blumenberg ist sie "die Fata Morgana einer Welt, in der sich leben lässt und in der ganz unvorstellbar ist, dass man sie aus freien Stücken verlässt". Sie enthält die Anweisung, "eine Welt zu denken, die rückwärts gegen den Prozess der geschichtlichen Distanz gefunden wird, eine Welt also (...), in der Begründungen nicht benötigt, nicht gesucht, nicht einmal entbehrt werden". Common sense und heartland (beziehungsweise "Lebenswelt") sind im Populismus primordiale, das Ur-Ich (Husserl) betreffende Kategorien und unerlässlich für dessen Verständnis. Im Unterschied zu Taggart hält die Verfasserin den Begriff des "Volkes" für keine aus dem heartland abgeleitete Kategorie, sondern für unterschiedliche Aspekte ein und derselben Sache. Als soziale Kategorie ist das "Volk" zwar diffus, nicht aber als Topos, bezeichnet es doch im Populismus das unpolitische Element der Beharrung in einem "Lebenswelt" genannten (Ideal-)Zustand. Nicht dieser ist begründungspflichtig, sondern die modernistische Abkehr von ihm. Wird aber dieses heartland von Krisen und inneren oder äußeren Feinden - darunter auch den Eliten als Agenten des gesellschaftlichen Wandels - bedroht, formiert sich Populismus als reaktive, defensive Kraft. Es wäre aber falsch, Populisten für Antimodernisten zu halten. Ihr Ziel ist vielmehr ein anderer, organisch von "unten" gewachsener, nicht von "oben" oktroyierter, technokratischer Weg in die Moderne. Wie gehen Populisten vor? Der Politikwissenschaftler Pierre-André Taguieff unterscheidet analytisch zwischen Protest- und Identitätspopulismus. Protestpopulismus tritt als Ein-Thema-Bewegung, oft als Steuerstreik, auf, wendet sich aber auch gegen bestimmte Modernisierungsvorhaben in Verbindung mit ökonomischer und politischer Machtkonzentration. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es diesen Protest von Gruppen mittlerer sozialer Lagen, die sich von zu raschen Modernisierungsschüben bedroht fühlen, sei es vom Eisenbahnbau in den USA Ende des 19. Jahrhunderts oder von den Warenhäusern und Großhandelsketten der modernen Konsumindustrie im Poujadismus im Frankreich der 1950er Jahre. In den 1990er Jahren trat der französische Bauernpopulist José Bové mit provokanten Aktionen gegen genmanipuliertes Getreide und das Eindringen von Fast-Food-Ketten in französische Lebensgewohnheiten an. In jüngster Zeit zeigt sich dieser monothematische Bürgerprotest bei "Stuttgart 21" oder der Occupy-Bewegung, die gegen die moralisch ungehemmte Gier der Banker an der Wallstreet mobilisiert. Protestpopulisten treten außerparlamentarisch durch "direkte Aktion" (Demonstrationen, Straßenblockaden, Rallyes, Besetzungen) auf, wenn sie davon überzeugt sind, dass keine politische Kraft sich ihrer annimmt und sie zu den "Vergessenen" gehören. Das Gefühl von Machtlosigkeit trieb in den USA den forgotten man und treibt heute die "Empörten" (indignados) auf die Straße und zur Selbsthilfe. Da protestpopulistische Bewegungen aber thematisch und meist auch lokal begrenzt sind, gehen sie entweder rasch unter oder werden von einer komplexeren Partei absorbiert. In einem fließenden Kontinuum kann Protestpopulismus in Identitätspopulismus übergehen, denn häufig berufen sich auch Protestpopulisten auf ihre regionale oder nationale, traditionalistisch verstandene Identität. Vorherrschend ist heute der Identitätspopulismus. Er zeigt sich in einer Radikalisierung und Essentialisierung der kulturellen Zugehörigkeit durch Abwertung der "Anderen". Ein Beispiel bietet die Äußerung Geert Wilders' in Berlin im Jahr 2010 als Gast der Partei Die Freiheit: "Eines der Dinge, die zu sagen uns nicht mehr erlaubt wird, ist, dass unsere Kultur bestimmten anderen Kulturen überlegen ist." Im Unterschied zum Protestpopulismus tritt der Identitätspopulismus durch Symbol- und Erinnerungspolitik mehrdimensional und auf parlamentarischer wie auch außerparlamentarischer Ebene auf. In der Schweiz hat beispielsweise die Jugendorganisation der SVP im März 2011 die "Aktion Wilhelm Tell" gestartet, bei der landesweit Ortsnamensschilder mit dem Untertitel "Gemeinde Europas" mit Plakaten in der Landesfarbe und der Aufschrift "Schweizer Gemeinde" überdeckt wurden. Im österreichischen "Ortstafelsturm" von 2002 trat der damalige Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider der Forderung des Verfassungsgerichtshofs entgegen, in Kärntner Ortschaften mit einer slowenischen Minderheit zweisprachige Ortsschilder aufzustellen. Haider sprach von einem "Wiener Diktat", stellte die Legitimität der Institutionen infrage und forderte, die Verfassungsrichter müssten "zurechtgestutzt" werden. Aktionistische Symbolpolitik geht Hand in Hand mit Erinnerungspolitik, in deren Zentrum identitätsstiftende Freiheitshelden oder Gründerväter wie Wilhelm Tell oder Arnold Winkelried in der Schweiz, Andreas Hofer in Österreich, Simon Bolívar in Venezuela, Jeanne d'Arc in Frankreich oder die Founding Fathers in der Tea Party-Bewegung stehen. Populismus als Krisensymptom "Der Populismus entsteht nicht aus dem Nichts, sondern stets im Gefolge einer gesellschaftlichen Krise und einer allgemeinen Ernüchterung. (...) Das seit Jahrzehnten zu beobachtende Wiederaufleben des Populismus signalisiert eine Krise der repräsentativen Demokratie." Als Krisensymptom reagiert der Populismus auf die Verengung von Politik auf technokratische Governance, auf deliberative Absprachen zwischen politischen Entscheidungsträgern und demokratisch nicht legitimierten Experten sowie die vermeintliche Alternativlosigkeit der Volksparteien. Der Erfolg eines Pim Fortuyn beruhte nicht zuletzt darauf, dass er die Bürgerferne abgeschotteter Eliten, aber auch die mangelnde Effizienz öffentlicher Dienste angeprangert und damit einen Nerv vieler seiner Landsleute getroffen hat: "Die niederländische politische und Führungselite (...) ist eine geschlossene Welt mit autistischen Zügen, mit einem völlig eigenen Blick auf die Wirklichkeit und sogar mit einem völlig eigenen Jargon, der für Außenstehende praktisch nicht nachvollziehbar ist." Populisten treten als agenda setter auf, die tabuisierte, unliebsame oder vernachlässigte Themen aufgreifen und insofern nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine produktive Herausforderung darstellen können. Ihre positive Funktion als "nützliches Korrektiv" (Frank Decker) wird vor allem darin gesehen, dass sie die intrinsische Spannung der modernen Demokratie zwischen zwei Pfeilern - dem Konstitutionalismus (Rechtsstaatlichkeit) und der Volkssouveränität - thematisieren. Die konstitutionelle Säule ist dem periodisch durch Wahlen ermittelten Volkswillen entzogen und garantiert die liberalen Freiheitsrechte von Individuen und Minderheiten sowie unabhängige Institutionen wie die Justiz. Da der Konstitutionalismus aber von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Selbstgesetzgebung des souveränen Volkes geprägt ist, hat er eine elitäre Schlagseite und macht geltend, das stets wankelmütige, manipulationsanfällige (Wahl-)Volk werde nicht von Vernunft, sondern von Leidenschaften getrieben und neige (wie etwa in der Strafgesetzgebung) zu autoritären Lösungen wie der Wiedereinführung der Todesstrafe. Daher müsse die Demokratie durch liberale Aufklärungseliten und die Stärkung des konstitutionellen Pfeilers vor der "Tyrannei der Mehrheit" geschützt werden. Geraten nun die zwei Säulen der modernen Demokratie in ein Ungleichgewicht, kann Populismus auch als Frühwarnsystem gegen Verkrustungstendenzen der Politik wirken. Populisten prangern die "Parteienherrschaft" als selbstreferenziell an und wären weitaus weniger erfolgreich, wenn darin nicht ein Körnchen Wahrheit läge. Bürgernähe wird heute zunehmend durch Kommunikationstechniken ersetzt. Werden Zielvorgaben an der Wahlurne nicht honoriert, so seien diese den "begriffsstutzigen" Menschen "draußen im Lande" von spin doctors und Kommunikationsexperten nur nicht richtig "kommuniziert" worden. Eine solche Sichtweise ist Wasser auf die Mühlen des Populismus, dessen positive Funktion darin liegen kann, politische Sklerosierung aufzubrechen, die Kartellisierung der "politischen Klasse" infrage zu stellen und apathische, passive Bevölkerungsschichten politisch zu aktivieren - wenn auch um den Preis der Mobilisierung von Wut, Empörung und anderen "Leidenschaften". Sinkende Wahlbeteiligung, Mitgliederschwund in den etablierten Parteien und eine wachsende Zahl von Nichtwählern, vor allem in den unteren sozialen Segmenten, verweisen heute auf ein demokratisches Defizit, das durch die Mehrebenenpolitik im Zuge der europäischen Vereinigung noch verstärkt wird. Das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber intransparenten Prozessen war immer schon und ist auch heute ein günstiger Nährboden für Populismus. Liberaler Rechtspopulismus oder populistischer Liberalismus? Während der organisierte Liberalismus unter einer Glaubwürdigkeitskrise leidet, artikuliert sich das genuin liberale Verlangen nach Selbstbestimmung und Freiheit von Bevormundung heute über das Ventil des Populismus, sei es in (links-)liberalen Bürgerprotestbewegungen oder im Rechtspopulismus. Dieser hat den von etablierten Parteien vakant gelassenen Raum zwischen Rechtsextremismus, Nationalkonservatismus und Nationalliberalismus mit dem Thema der "nationalen Identität" besetzt und zu einem geschlossenen, gegen äußere Einflüsse immunen Regelkreis verengt. Dabei bediente sich schon der Marketingexperte Fortuyn des aus der Werbung bekannten branding, der Konstruktion eines unverwechselbaren, vom "Establishment" tabuisierten Markenzeichens: der Islamophobie. Während Berlusconi aus innenpolitischen Gründen noch unzeitgemäß gegen die "kommunistische Gefahr" Front machte, haben die Trendsetter Fortuyn und Wilders den Manichäismus von Freund und Feind aktualisiert und zu einem Weltanschauungskampf zugespitzt: Freiheit gegen Totalitarismus (den des Islams). 2010 erklärte Wilders den Islam zum funktionalen Äquivalent des Kommunismus: "Der Islam ist der Kommunismus der Gegenwart." Rechtspopulistische Parteien und neue Bewegungen wie die English Defense League sind - mit Ausnahme mittel- und osteuropäischer Parteien, die gegen andere Minderheiten mobilisieren - inzwischen auf Wilders' Anti-Islam-Kurs eingeschwenkt, auch wenn es, etwa in der FPÖ, Vorbehalte gegen den Selbstdarstellungsdrang, den Philosemitismus und die dezidiert pro-amerikanische Weltsicht des missionarischen Niederländers gibt. Freeden untersucht die Struktur der Beziehungen zwischen den Begriffen, welche die Morphologie einer Ideologie ausmachen, und unterscheidet zwischen zentralen, angrenzenden und peripheren Begriffen. Der zentrale Begriff des Populismus (Volk) ist plastisch und erhält erst durch angrenzende Begriffe wie Patriotismus oder Anti-Imperialismus sowie periphere Begriffe wie Freiheit oder soziale Gerechtigkeit politische Konturen. Seit der "Fortuyn-Revolte" in den Niederlanden vor rund zehn Jahren ist im Rechtspopulismus eine Veränderung der Beziehungsstruktur zwischen den Begriffen festzustellen. Schon Fortuyn vermied den Begriff des Volkes und sprach nur vom "mündigen Bürger". Aber erst sein Nachfolger Wilders hat den populistischen Kernbegriff Volk durch den der Freiheit ersetzt und damit eine Bresche zum Liberalismus geschlagen. Der vertikale Gegensatz zwischen "unten" (Volk) und "oben" (Elite) spielt nur noch eine periphere, nachgeordnete Rolle; zentral sind dagegen auf einer horizontalen Ebene die Pole Freiheit und Unfreiheit, gleichbedeutend mit Innen und Außen. Die von Fortuyn initiierte und von Wilders vorangetriebene morphologische Veränderung der populistischen Ideologie zielt darauf ab, in der liberalen Mitte der Gesellschaft Fuß zu fassen, aus der sie selbst hervorgegangen sind. Dabei gilt "das gesamte Establishment, die Elite - Universitäten, Kirchen, Gewerkschaften, die Medien, Politiker -" als homogenes Bevormundungskartell, das die ethnokulturelle äußere Bedrohung verdränge und verleugne. Anlässlich einer Großdemonstration unter dem Motto "Marsch für die Freiheit" rückte die Fraktionsvorsitzende von ProKöln Judith Wolter im Mai 2011 in einer Täter-Opfer-Umkehr die Eliten in die Nähe des Nationalsozialismus: "Wir haben es einfach satt, dass uns täglich von den Blockwarten der Political Correctness vorgeschrieben wird, was man sagen darf und was nicht. Zur Demokratie gehört das (sic!) auch für Freiheitliche, Patrioten und Islamkritiker das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit." Populismus ohne Volk? Freiheitlich, patriotisch, islamkritisch - in dieser Reihenfolge tritt heute der Rechtspopulismus als Populismus ohne Volk auf. Aber trotz seiner Erfolge zeigt er auch Schwächen und Unwägbarkeiten wie die Parteienlandschaft insgesamt: Fluktuation, Fragmentierung, Abspaltungen, Führungs- und Richtungskämpfe, kurze Halbwertzeiten (vor allem in Deutschland) sowie temporäre, teilweise starke Wählereinbußen wie bei der Lega Nord, der FPÖ und der FN. Wählersoziologisch sind im Rechtspopulismus zwei Segmente überrepräsentiert: mittelständische Gruppen (kleine Kaufleute, Handwerker, andere, durchaus prosperierende Selbstständige) und Arbeiter im privaten Sektor, die zuvor eher links gewählt haben, sich aber von den zur "neuen Mitte" drängenden Parteien der Linken nicht mehr repräsentiert, ja sogar betrogen fühlen. Sie tragen unvereinbare Erwartungen an diese Parteien heran: mehr oder weniger Staat, höhere oder geringere Steuern, Abbau oder Verteidigung des Sozialstaats. Ein Bündnis dieser heterogenen Wähler kann nur durch übergreifende Themen geschmiedet werden, die auf der Bedrohungsskala für alle Gruppen Vorrang haben: innere Sicherheit, Immigration und die EU. Die Bedrohungen werden zu einem Syndrom gebündelt und, aktuell, auf den Islam als Generalfeind externalisiert. Islamophobie ist die Kohäsionsformel dieses neuen Populismus ohne Volk. Er trägt dem Individualisierungsschub in den westlichen Gesellschaften Rechnung und appelliert nicht mehr an Volk und heartland, sondern an das "mündige" Individuum, das den Begriff der Freiheit wie eine Monstranz vor sich her trägt. Ist die Wiederbelebung der Freund-Feind-Konstellation des Kalten Kriegs unter antiislamischem Vorzeichen aber noch mit der vertikalen Polarisierung des genuinen Populismus vereinbar? Schon 1968 hat der Politiktheoretiker Isaiah Berlin zwischen echtem und falschem Populismus unterschieden. Populismus ohne Volk ist falscher Populismus, der von anderen politischen Kräften instrumentalisiert und auf eine Mobilisierungstechnik reduziert wird, für die es einen adäquateren und präziseren Begriff gibt: Demagogie. Vgl. Paul Taggart, Populism and Representative Politics in Contemporary Europe, in: Journal of Political Ideologies, 9 (2004) 3, S. 274f. Vgl. Karin Priester, Definitionen und Typologien des Populismus, in: Soziale Welt, 62 (2011) 2, S. 185-198. Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (2004) 3, S. 543. Häufig wird auch der Konservatismus dazu gezählt, ist aber - ähnlich wie der Populismus - ein Relationsbegriff. Vgl. Michael Freeden, Ideologies and Political Theory, Oxford 1998; ders., Is Nationalism a Distinct Ideology?, in: Political Studies, 46 (1998), S. 748-765. Zit. nach: David Arter, The Breakthrough of Another West European Populist Radical Right Party?, in: Government and Opposition, 45 (2010) 4, S. 489. Zit. nach: Niels Bjerre-Poulsen, Populism - A Brief Introduction to a Baffling Notion, in: American Studies in Scandinavia, 18 (1986), S. 34. Vgl. Andreas Schedler, Anti-Political-Establishment Parties, in: Party Politics, 2 (1996) 3, S. 291-312; Paula Diehl, Populismus, Antipolitik, Politainment, in: Berliner Debatte Initial, 22 (2011) 1, S. 35f. Vgl. zu Sarah Palin: Karin Priester, Populismus in den USA und die Tea Party-Bewegung, in: ebd., S. 87ff. Zit. nach: Matteo Tonelli, Casa, pensioni, Iraq e tante altre autosmentite di Berlusconi, in: La Repubblica vom 15.11.2005. Vgl. A. Schedler (Anm. 8), S. 302f. Rede auf der Nationalratssitzung am 9. April 2008, online: www.wien-konkret.at/politik/europa/verfassung/parlament/strache (18.9.2011). P. Taggart (Anm. 1), S. 274. Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, hrsg. von Manfred Sommer, Berlin 2010, S. 230. Ebd., S. 235. Beispielsweise geriet der Agrarpopulismus der 1920er Jahre in Deutschland (schleswig-holsteinische Landvolkbewegung) und Frankreich (Chemises Vertes/Grünhemden) in den Sog des Faschismus. Dagegen ging die US-amerikanische Populist oder People's Party mehrheitlich in die Demokratische Partei ein. Für welche Wirtsideologie populistische Bewegungen optieren, muss im Einzelfall untersucht werden. Rede im Oktober 2010 in Berlin, online: www.diefreiheit.org/geert-wilders-rede-im-wortlaut (19.10.2011). Vgl. Falter vom 16.1.2002, online: www.falter.at/print/F2002_03_1.php (19.10.2011). Alexandre Dorna, Wer ist Populist?, 25.11.2003, online: www.eurozine.com/pdf/2003-11-25-dorna-de.pdf (11.11.2011). Zit. nach: René Cuperus, Vom Poldermodell zum postmodernen Populismus, Renner-Institut, 2003, S. 8, online: www.renner-institut.at/download/texte/cuperus_d.pdf (19.10.2011). G. Wilders (Anm. 17). "Nachdem die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts überwunden wurden, sieht sich die Menschheit gegenwärtig einer neuen weltweiten totalitären Bedrohung ausgesetzt: dem fundamentalistischen Islam. (...) Wir bekennen uns zu den humanistischen Idealen der Aufklärung, einer absolut notwendigen historischen Entwicklungsphase, die der Islam bisher noch nicht durchlaufen hat." Jerusalemer Erklärung, unterzeichnet von Die Freiheit, FPÖ, Vlaams Belang und Schwedendemokraten, 7.12.2010, online: www.ots.at/presseaussendung/OTS_20101207_OTS0199/fpoe-strache-jerusalemer-erklaerung (22.9.2011). Vgl. auch den anti-islamischen, pro-westlichen Blog "Politically Incorrect": www.pi-news.net (11.11.2011). Vgl. Karin Priester, Populismus, Frankfurt/M. 2007, S. 182-200. Vgl. zu Wilders' Werdegang: Koen Vossen, Vom konservativen Liberalen zum Nationalpopulisten, in: Friso Wielenga/Florian Hartleb (Hrsg.), Populismus in der modernen Demokratie, Münster u.a. 2011, S. 77-103. G. Wilders (Anm. 17). Zit. nach: Städte gegen Islamisierung, 2.5.2011, online: www.citiesagainstislamisation.com/De/1/105 (20.9.2011). Auch die polnische Samoobrona, die Liga polnischer Familien und die Partei für Ungarisches Recht und Leben (MIEP) waren rechtspopulistische Strohfeuer, die heute zwar bedeutungslos sind, in Ungarn aber vom Rechtsextremismus überrundet wurden. Vgl. Elisabeth Ivarsflaten, The vulnerable populist right parties, in: European Journal of Political Research, 44 (2005) 3, S. 465. Am Beispiel der Tea Party-Bewegung zeigt sich, dass beide Tendenzen - die konservative heartland-Fraktion und die libertär-individualistische Strömung - in rechtspopulistischen Bewegungen vertreten sind oder sein können. Vgl. K. Priester (Anm. 9). Vgl. Isaiah Berlin, To define Populism, in: Government and Opposition, 3 (1968) 2, S. 176f.
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, Karin Priester
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-03-07T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/75848/wesensmerkmale-des-populismus/
Populismus ist kein Substanz-, sondern ein Relationsbegriff. Er zeichnet sich aus durch Anti-Elitarismus, Anti-Intellektualismus, Antipolitik, Institutionenfeindlichkeit sowie Moralisierung, Polarisierung und Personalisierung der Politik.
[ "Populismus" ]
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Amöbenrennen | teamGLOBAL | bpb.de
Zum Download der Anleitung klicken (pdf-Dokument 21 KB) Als PDF herunterladen (117.1kB) Kurzbeschreibung: Ein Wettbewerbsspiel. Jede Mannschaft bildet die folgende Amöbe: 8-10 Spieler stellen sich einander abgewandt auf und verhaken die Ellenbogen ineinander und sind so die "Außenwand" der Amöbe. Im Inneren des Kreises bilden 3-4 Spieler den "Zellkern", dabei müssen diese Innereien der Amöbe einen Spieler ("Herz") sitzend, stehend oder liegend tragen. Dann geht das Rennen auch schon los und die erste Amöbe im Ziel gewinnt. Wichtig ist es die Spieler der Amöbenwand darauf aufmerksam zu machen, dass sie nicht zu schnell rennen da sonst der Zellkern leicht hinfällt. Wenn möglich auch auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis achten, damit das Tragen nicht zu schwer fällt. Geeignete TN-Anzahl: Anzahl: ab 16 TN Alter: jedes Zeitbedarf: 10-15 Minuten Lerninhalte und -ziele (Warum einsetzen?): Viel Bewegung, daher gut nach dem Mittagessen. Die TN sollten sich bereits kennen. Variation für weniger Teilnehmer und Mutige: Skorpionrennen Zwei Spieler stehen mit nach oben ausgestreckten Armen nebeneinander, ein Dritter buckelt sich dahinter zusammen und der Vierte steigt auf den Buckel und hält sich an den ausgestreckten Armen fest. Los geht´s! Zum Download: Interner Link: Warm-up: Amöbenrennen Andere Interner Link: Warm-ups zur Bewegung Zum Download der Anleitung klicken (pdf-Dokument 21 KB) Als PDF herunterladen (117.1kB)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67734/amoebenrennen/
Zusammenhalt, Abgrenzung und 'ne Menge Spaß: ein Wettbewerbsspiel.
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"Dann wurdest du kahl geschoren." | Ravensbrück – Überlebende erzählen | bpb.de
Edith Sparmann (© privat) Edith Sparmann Geboren am 28. Oktober 1922, in Liberec (Tschechische Republik) Am 28. Oktober 1922 werde ich als Tochter des Tischlers Max Jahn und seiner Frau Adele im tschechoslowakischen Liberec, Reichenberg, geboren. Meine Eltern gehörten 1921 zu den Gründungsmitgliedern der deutschen Sektion der Kommunistischen Partei der CSR, der Tschechoslowakischen Republik. Von 1928 bis 1936 besuche ich die Volks- und Bürgerschule in Chrastava, Kratzau. Ich gehöre der Pionierorganisation an und werde Ende 1936 aktives Mitglied der Kommunistischen Jugend der CSR. Die hohe Arbeitslosigkeit und fehlende Lehrstellen zwingen mich, jede Arbeit anzunehmen: Ich arbeite unter anderem als Aushilfskraft in einer Druckerei für 75 Kronen die Woche. Erst 1938 kann ich eine Friseurlehre beginnen, die ich 1941 als Gesellin abschließe. 1938 wird mein Vater verhaftet und nach Dachau deportiert. Danach kommt er nach Buchenwald, wo er als Tischler in den Deutschen Ausrüstungswerken (DAW) arbeitet. Bei einem Bombenangriff auf die Gustloff-Werke 1944 wird er schwer verletzt, aber er erlebt die Befreiung im April 1945 mit verheilten Verbrennungen. Häftlingsnummer "8291" 1941 werde ich gemeinsam mit meiner Mutter in Chrastava von der Gestapo verhaftet. Unsere Unterstützung für die Rote Hilfe kann uns zwar nicht nachgewiesen werden – doch allein der Verdacht reicht aus. Etwa sieben Wochen nach meiner Mutter komme ich am ersten November 1941 nach Ravensbrück. So lange meine Mutter in Ravensbrück war, sie wurde später nach Velten verlegt, konnten wir uns manchmal noch sehen. Eingestuft als "Politische" mit der Häftlingsnummer "8291" arbeite ich zunächst als "Verfügbare", dann im Stubendienst und danach in der Effektenkammer. Zwischen 1942 und 1943 wird in Ravensbrück eine Frisierstube für die Aufseherinnen und Frauen der SS-Führer eröffnet, wo ich bis zum Ende des Lageralltags arbeite. Am 28. April 1945 verlasse ich mit einer kleinen Gruppe von Häftlingen wohl als eine der Letzten Ravensbrück. Ziel des Todesmarsch ist Mirow, aber kurz vor Wesenberg nutze ich wie viele aus der Gruppe die Dunkelheit zur Flucht. In Wesenberg erlebe ich dann die Kapitulation Deutschlands und kann endlich wieder als freier Mensch leben. Anfang Juni 1945, auf dem Weg in die Heimat, lerne ich meinen späteren Mann Otto Sparmann kennen, der als Auschwitz-Überlebender ebenfalls auf dem Weg nach Hause ist. Wir heiraten im gleichen Jahr und leben in Dresden. 1949 eröffne ich in Dresden ein Friseurgeschäft und bereite mich intensiv auf die Meisterprüfung vor. 1976 wird unsere Ehe geschieden. 1982 erreiche ich das Rentenalter und gebe mein Friseurgeschäft auf. Ebenfalls beende ich meine Funktion als Sekretärin der Wohnpartei-Organisation, WPO, für die ich 18 Jahre tätig war. Ich intensiviere meine Arbeit für die Dresdener Angehörigen der "Lager-Arbeitsgemeinschaft Ravensbrück" und werde stellvertretende Vorsitzende. Von 1987 bis 2002 bin ich Generalsekretärin des "Internationalen Ravensbrück-Komitees" und bis heute Mitglied des Internationalen Beirats der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Edith Sparmann, Juni 2004 Edith Sparmann (© privat)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-29T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/holocaust/ravensbrueck/60666/dann-wurdest-du-kahl-geschoren/
Edith wächst in Liberec auf. Mit 14 Jahren wird sie Mitglied der Kommunistischen Jugend. 1941 schließt Edith ihre Friseurlehre ab, doch noch im selben Jahr werden sie und ihre Mutter von der Gestapo verhaftet. Edith wird nach Ravensbrück überstellt:
[ "Edith Sparmann", "Überlebende", "Zeitzeuge", "Konzentrationslager", "Nationalsozialismus", "Frau", "Tschechoslowakei", "Deutschland", "Uckermark", "Ravensbrück" ]
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Energie und Klima | teamGLOBAL | bpb.de
So sähe die Welt aus, wenn sich die Größe der Länder an ihrem Ausstoß von Treibhausgasen bemessen würde. (© SASI Group (University of Sheffield) and Mark Newman (University of Michigan)) Ob die bereits spürbaren Folgen der Erderwärmung, historische Höchstpreise für Erdöl und Erdgas oder die Kontroverse um eine verstärkte Nutzung der Kernenergie: Die Themen Klimawandel und Energiesicherheit stehen aktuell auf der politischen Tagesordnung weit oben. Im Rahmen der Vereinten Nationen sollen verbindliche Ziele für die Reduzierung klimaschädlicher Treibhausgase vereinbart und ein Nachfolgeabkommen für das 2012 auslaufende Kyoto-Protokoll unterzeichnet werden, das ab 1. Januar 2013 mit einer zweiten Verpflichtungsperiode verlängert werden soll. teamGLOBAL begleitet den Prozess der internationalen Klimaverhandlungen mit vielfältigen Workshopangeboten für verschiedene Zielgruppen, die Orientierungswissen zu den Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels sowie den gesellschaftlichen wie individuellen Gestaltungsspielräumen für eine nachhaltige Klima- und Energiepolitik vermitteln. Zur Methodensammlung: Interner Link: Energie & Klima So sähe die Welt aus, wenn sich die Größe der Länder an ihrem Ausstoß von Treibhausgasen bemessen würde. (© SASI Group (University of Sheffield) and Mark Newman (University of Michigan))
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67113/energie-und-klima/
Das Workshopthema ''Klimawandel und Energiesicherheit'' greift ein Thema auf, das auch zukünftig auf der politischen Tagesordnung weit oben stehen wird und zu dem teamGLOBAL bereits seit vielen Jahren spannende Workshops anbietet.
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Info 05.08 Ökosteuer | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de
Die Politik versucht, mit weiteren Maßnahmen eine umweltfreundliche Lenkungswirkung zu erzielen. Ein Beispiel dafür ist die von der derzeitigen Bundesregierung im Jahr 1999 eingeführte Öko-Steuer, die in bislang vier Schritten (zuletzt im Jahr 2003) erhöht wurde. Die Ökosteuer verfolgt das Prinzip, den Energieverbrauch und besonders den umweltschädlichen Verkehr zu belasten. Dies geschieht etwa über eine zusätzliche Steuer auf Kraftstoff in Höhe von zurzeit 15,34 Cent je Liter. Gleichzeitig werden die Arbeitskosten durch eine Senkung der Rentenbeiträge entlastet. Die Anreizwirkung besteht darin, Energie zu sparen oder verbrauchsgünstige PKW zu nutzen. Problematisch ist, dass dabei weniger die Höhe der Steuer, sondern die wahrgenommene Höhe der Kraftstoffpreise entscheidend ist. Sie hängt aber neben Steuern noch von anderen Faktoren ab, zum Beispiel von den Rohölpreisen oder der allgemeinen wirtschaftlichen Situation. Diese Faktoren sind von der nationalen Politik aber kaum zu beeinflussen. De facto muss für die Verbraucher beim Kauf eines Automobils zusätzlich zur Umweltfreundlichkeit ein Mehrwert vorhanden sein. Dieser kann in der Kostenersparnis (geringer Verbrauch) oder in weiteren, verbesserten Produkteigenschaften liegen (hohes Drehmoment bei sparsamen Direkteinspritzer-Dieselmotoren). Nur "öko" verkauft sich schlecht - das zeigt etwa der VW Lupo 3-Liter. Die Inkonsequenz der Autofahrer bestätigen Umfragen, in denen vor dem Autokauf die Umweltfreundlichkeit als wichtig eingestuft wird, beim Kauf selbst aber andere Faktoren (wie Preis, Image, Fahrspaß) eine größere Rolle spielen. Wenn dieser Mehrwert geboten wird, gibt es auch für die Automobilindustrie keinen Grund, sich Umweltinteressen und damit Umweltauflagen entgegen zu stellen. Das Argument, diese Auflagen würden Arbeitsplätze vernichten, läuft ins Leere, wenn sie letztlich zur arbeitsplatzfördernden Entwicklung von Innovationen wie dem Partikelfilter oder der Direkteinspritz-Technologie führen. Alle beschriebenen Maßnahmen zur Verbesserung des Umweltschutzes im Verkehrssektor dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie dem stetigen Verkehrswachstum bislang nicht Einhalt gebieten können. Dieses Wachstum betrifft die Industrienationen, in besonderem Maße aber Schwellenländer auf dem Weg zur Industrialisierung wie China. Würde die Volksrepublik mit dem derzeitigen Stand der Technik den selben Motorisierungsgrad erreichen wie westliche Länder, so würde allein der weltweite Kohlendioxidausstoß um mehr als zehn Prozent ansteigen. Entsprechend müssen die Verursacher weiter an den Kosten der Umweltbelastungen beteiligt und Sozial- und Technikinnovationen gefordert und gefördert werden. Aus: Stefan Bratzel: Mobilität und Verkehr, in: Informationen zur politischen Bildung "Umweltpolitik", 2.Quartal 2005, S. 51
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/134850/info-05-08-oekosteuer/
Diskutiert und beschrieben werden Maßnahmen zur Verbesserung des Umweltschutzes im Verkehrsektor ausgehend von der 1999 in der BRD eingeführten Ökosteuer.
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Beats und Bedeutung, Takte und Themen – der Workshopverlauf | Kulturelle Bildung | bpb.de
Interner Link: Link zum Praxisbeispiel "Hip-Hop kann sensibel machen" Die Workshops haben sehr unterschiedliche Formate, sind Teil von Schulprojekttagen, finden im Rahmen von Feriencamps statt, laufen als offene Workshops in Jugendeinrichtungen oder als feste Bandcoaching-Projekte. Die Finanzierung ist ebenso vielfältig, die Angebote sind zum Beispiel integriert in Modellprojekte oder in einen lokalen Aktionsplan, werden von Kreisjugendringen getragen oder in anderen Kontexten über Jugendämter in Zusammenarbeit mit verschiedenen Trägervereinen ermöglicht. Einen Großteil meiner Erfahrung habe ich als Honorarkraft bei cultures interactive e.V., einem Verein für interkulturelle Bildung und Gewaltprävention aus Berlin, erworben. Hier habe ich seit 2007 in sehr unterschiedlichen Projekten mit diversen inhaltlichen Schwerpunkten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 10 und 22 Jahren kennengelernt. Die Workshops fanden in Grund-, Alternativ-, Förder-, Gesamt-, und Berufsschulen, in Gymnasien, Jugendzentren, Mehrgenerationenhäusern und Feriencamps statt. Es gab gemischte, aber auch reine Jungen- oder Mädchengruppen, Teilnehmende aus Familien mit Migrationsbiographien, meistens Rap-Anfänger/-innen, aber auch bereits Rap-erfahrene Teilnehmende. Je nach Zielgruppe des jeweiligen Projekts stelle ich mein Methoden-Repertoire um, um verständlich zu sein, die Jugendlichen zu begeistern und ihnen etwas mitgeben zu können. Oftmals werde ich aber auch von einer Gruppe überrascht und stelle fest, dass eine Mädchengruppe nicht gleich und nur eine Mädchengruppe ist, eine Förderschulgruppe nicht gleich und nur eine Förderschulgruppe usw. Mittlerweile ist ein intersektionaler Ansatz für meine Arbeit unerlässlich. Seit mir deutlich geworden ist, wie wichtig es ist, Mehrfachzugehörigkeiten mitzudenken in der Begegnung mit den jungen Menschen in meiner Arbeit, habe ich das Gefühl, den Teilnehmenden besser gerecht zu werden. Das gilt auch für die Thematisierung bestimmter Inhalte. Letztlich geht es darum, den Interessen der Jugendlichen nachzugehen und ihnen nicht einen Workshop nach meiner Vorstellung aufzudrücken. Die Gender-Thematik interessiert aber eigentlich immer, denn Gender betrifft nun mal alle Menschen auf die eine oder andere Weise. Methodensteckbrief Kurzbeschreibung Der Workshop bietet zum einen eine geschlechtersensible Thematisierung zentraler Themen in diskursdominanten deutschsprachigen Rapsongs (Macht, Straße, Ghetto, Gewalt, Sex, etc.) und führt zudem zahlreiche Techniken zum Verfassen von eigenen Raps ein, sodass die Jugendlichen angehalten werden sich mittels selbstgeschriebener Texte zu artikulieren. ZieleVermittlung von Schreibtechniken zum selbständigen Verfassen von Raptexten sowie Auseinandersetzung mit und Sensibilisierung für die gewaltvolle Darstellung von Geschlechterrollen in Rapsongs und –videos im Rahmen jugendlicher Lebenswelten. Teilnehmerzahl5-10 Altersstufe12-20 Zeitbedarf Mindestens 6 Stunden RaumKlassenraum o.ä. Benötigte Ausstattung / Materialien Stifte, Papier, Computerboxen, Beamer, Projektionsfläche Sparte / Bereich / Feld Musik Aufbau eines Workshops Der Aufbau eines Workshops hängt natürlich sehr stark von der Zeit, und diese von der finanziellen Rahmung ab: Letztlich läuft es aber darauf hinaus ausreichend Raum für die Beziehungsarbeit zu schaffen. So gebe ich den Jugendlichen bei den Kennenlern- und Gruppenbildungsmethoden ganz deutlich die Gelegenheit mich zu allem zu befragen, was sie selbst nicht als unverschämt einschätzen würden. Hierüber initiiere ich die Thematisierung von Respekt ohne einen respektvollen Umgang moralisch-dogmatisch entlang meiner Maßstäbe einzufordern. Zudem mache ich transparent, dass ich nicht mit Wahrheiten und Weisheiten anrücke, sondern, dass ich einen Austausch zu bestimmten Themen suche und dass ich außerdem anbiete zu zeigen, wie man Raps schreibt. Das weitere Vorgehen hängt von der Gruppendynamik und den Wünschen der Jugendlichen ab: Entweder wir arbeiten zunächst inhaltlich, besprechen die aktuellen Rapper und ihre Botschaften, ihre Performance und ihre 'Realness‘ und überlegen, warum es Leute gibt, die sowohl die Frauen- als auch Männerbilder, die Darstellung von Gewalt und die Uneindeutigkeit bestimmter Lyrics in einer Vielzahl von Texten unterschiedlich bewerten. Oder wir nähern uns zuerst dem Verfassen eigener Texte und diskutieren die Inhalte der selbstgeschriebenen Raps, um darüber auf die Vorbilder und deren Inszenierungen zu kommen. Die inhaltliche Arbeit Bei der inhaltlichen Arbeit entlang des Materials bekannter Rapper (sowohl der 'Negativ‘-, 'Positiv‘-, als auch 'Ambivalenzbeispiele‘) geht es vor allem um die kritische Analyse der Themen in den Songs sowie deren Umsetzung mittels der Texte und Videos. Eine besonders wirksame Methode ist der 'Nackte Text‘. Hierbei geht es darum, die Coolness der Rapper in den Songs und Videos zu entzaubern und sich einzig auf den Inhalt zu konzentrieren. Hierfür liegen die Texte den Teilnehmenden ausschließlich gedruckt vor. Kein aufwändig produziertes Video, kein tanzbarer Beat, keine mitreißenden Flows, nur die Worte, nur der Inhalt. Hier lassen sich unterschiedliche Analysefragen stellen, die herauskristallisieren sollen, wo etwa die Grenzen der Jugendlichen sind (das heißt, was sie eigentlich überfordert oder was sie ablehnen, was in den Songs aber cool verpackt ist und zum Mitrappen animiert) oder wie sich ein solcher Text aus Sicht ihrer kleinen Schwester, ihres Lehrers, etc. liest (hierbei geht es um Empathieübernahme und die möglichen unterschiedlichen Wirkungen vor allem nicht-konsensuell sexualisierter oder gewaltdarstellender Inhalte). Wichtig ist es bei einer solchen Methode, nicht mit der Moralkeule zu arbeiten und die Wahrnehmungen der Jugendlichen nicht in Frage zu stellen. Gleichzeitig ist es mir aber wichtig, leidenschaftlich und authentisch von meinen Lesarten zu berichten. Auch bei Videoanalysen gibt es die Möglichkeit verschiedene Rezeptionsaufträge zu stellen. Eine Gruppe konzentriert sich dabei etwa auf die Frage "Gibt es in dem Video Frauen? Wenn ja, wie sehen sie aus, was machen sie?“, eine andere "Welche Gemeinsamkeiten haben die Männer in dem Video mit Männern, die ihr so kennt?“ oder "Für wen könnte der Rapper im Video ein Vorbild sein? Warum?“ Diesen Analysemethoden wohnt die Tendenz inne, die Gender-Performances in den Songs und Videos zu entmystifizieren und ent-idealisieren bzw. ihre positiven Gehalte der Subversion und Vielfalt zu stärken und dafür zu sensibilisieren, dass es sehr unterschiedliche Lesarten solcher Musik gibt. Letztlich geht es wie gesagt darum, den Jugendlichen nahe zu legen, dass es kein hierarchisierendes 'So-sind-echte-Männer‘ und 'So-hat-sich-eine-Frau-zu-verhalten-wenn-sie-respektiert-werden-will‘ gibt, beziehungsweise dass Menschen sehr wohl andere Menschen danach beurteilen und ihnen und sich damit großes Unrecht tun, weil sie sie damit in ihrer Würde beschneiden. Der Praxisteil eines Workshops hat ebenso den Schwerpunkt, die Unterschiedlichkeit der Inhalte und Styles zu begrüßen und die Jugendlichen allein schon dafür zu beglückwünschen, dass sie sich überhaupt trauen, einen Text zu schreiben und womöglich sogar vorzutragen oder aufzunehmen. Andersherum muss ebenso anerkannt werden, wenn Teilnehmende sich entscheiden erst mal zuzuschauen. Hierbei ist es jedoch wichtig abzuklären, dass die ausbleibende aktive Beteiligung nicht in Einschüchterung oder Dominanz begründet ist. Die Jugendlichen lernen im Praxisteil, wie ein 4/4- Takt funktioniert, dass er sich wie ein roter Faden durch den Beat zieht und es deswegen kein Drama ist, wenn man mal 'rauskommt‘. Sie lernen, dass es unterschiedliche Arten von Reimen gibt, wie Synonyme dabei helfen können, den Ausdruck zu intensivieren, wie semantische Felder erschlossen werden können, welche Möglichkeiten es im Satzbau gibt, wie ein Song aufgebaut ist und dergleichen. Zwei wichtige Punkte sind zudem die Beat-Auswahl und die Themenfindung. Auch hierbei lässt sich gendersensitive Pädagogik praktizieren: Beides sind Verfahren, bei denen jede Stimme gehört werden muss und gleich viel wert ist. Erweisen sich Teilgruppen – und hierbei lässt sich in gemischten Gruppen immer wieder eine männliche Dominanz ausmachen, da Hip-Hop als Männerdomäne gilt und Jungs und Mädchen oft mit diesem Bild in die Workshops kommen – als dominant, muss das offengelegt werden. Dies bietet einen Anlass zur Diskussion, warum basisdemokratische Verfahren fair sind und dass alle das gleiche Recht haben, den Workshop zu 'ihrem‘ Workshop zu machen. Die Erfahrung sagt, dass die Teilnehmenden es genießen ernst genommen zu werden und 'erwachsene‘ Entscheidungen zu treffen. Sie genießen es auch, mal nicht rebellieren, widersprechen und schocken zu müssen, die Erfahrung zu machen, dass es Verständnis für Tabubrüche und das radikale Austesten von Grenzen gibt – eigene Grenzen und die der Erwachsenenwelt, in der so manches ziemlich doppelmoralisch anmutet aus Teenagerperspektive. Insgesamt scheint es sich für die allermeisten Jugendlichen schön anzufühlen, wenn es Respekt innerhalb des Kennenlernens gibt, wenn die Bilder voneinander nicht schon vorgefertigt sind, wenn man stolz auf sich ist für einen selbst verfassten Text, insbesondere, wenn man in Deutsch eine Vier hat und es Applaus gibt für den Text. Es wird insgesamt viel applaudiert in den Workshops.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2012-03-21T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/125336/beats-und-bedeutung-takte-und-themen-der-workshopverlauf/
Sookees Rap-Workshops können ganz unterschiedlich ablaufen. Meist gibt es jedoch einen inhaltlichen Teil, in dem über Hip-Hop-Kultur und –Musik gesprochen wird und die Bilder, die dort transportiert werden. Im Praxisteil schreiben die Jugendlichen ei
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Linksextremistische Einflussnahme auf die Klima-Bewegung | Linksextremismus | bpb.de
"System Change, not Climate Change!": Aktivisten besetzen das Kohlekraftwerk Niederaußem in Nordrhein-Westfalen am 15. September 2018. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com) Zu einer Demokratie gehören Protestbewegungen, in denen sich Einwände gegen die Regierungspolitik als Ausdruck von Meinungsfreiheit und Pluralismus artikulieren. Insofern können sie eine Bereicherung für die Demokratie sein und stellen keine Gefährdung für sie dar – falls es sich um demokratisch und friedlich gesinnte Protestbewegungen handelt. Darüber hinaus sollte den Akteuren bewusst sein, dass es hinsichtlich der demokratischen Legitimation durch die Mehrheit der Wähler sehr wohl Unterschiede gibt. Auch wenn bei Demonstrationen viele Menschen auf der Straße sind, stehen die artikulierten Proteste nicht notwendigerweise für den mehrheitlichen Volkswillen. Demgegenüber kann eine gewählte Regierung darauf verweisen, dass sie über eine demokratische Legitimation verfügt. Dies bedeutet aber umgekehrt nicht, dass Protestbewegungen als undemokratisch gelten müssen. Sie sind legitime Akteure in einer pluralistischen Gesellschaft, die politischen Einfluss auf das konkrete Gemeinwohlverständnis nehmen wollen. Extremismus und Protestbewegungen Beim Engagement von Protestbewegungen lassen sich aus demokratietheoretischer Blickrichtung idealtypisch zwei politische Zielsetzungen unterscheiden: einerseits die beabsichtigte Änderung von Politik durch ein demokratisches Verfahren, andererseits die Delegitimierung und Überwindung des demokratischen Verfassungsstaats. Die letztgenannte Absicht prägt das Engagement von Extremisten in Protestbewegungen, geht es ihnen doch nicht primär um das jeweilige Anliegen, sondern um einen politischen Bedeutungsgewinn. Dafür versuchen sie, Einfluss auf Protestbewegungen zu nehmen. Beabsichtigt ist dabei eine Akzeptanzsteigerung im eigenen Interesse, aber auch die Instrumentalisierung der Protestbewegungen. Deren Engagement wird dann mitunter durch ausgeprägten Fanatismus oder Gewalttaten öffentlich wahrgenommen, womit ein enormer Ansehensschaden für demokratischen und legitimen Protest verbunden ist. Klima-Bewegung und Linksextremismus im Verhältnis Diese Einschätzung soll anhand der linksextremistischen Einflussnahme auf die Klimabewegung veranschaulicht werden. Dabei geht es um die Anhänger einer Bewegung, die vor den Gefahren für das Klima öffentlich warnen und entschiedenere Maßnahmen von der Politik einfordern will. Bekannt dafür ist etwa "Fridays for Future" (FFF), eine engagierte Schülerbewegung. Indessen lassen sich der allgemeinen Klimabewegung noch andere politische Strömungen zuordnen. Dazu gehören eigens entstandene Aktivistengruppen wie "Extinction Rebellion", ebenso langjährig existente Protestakteure wie "Campact". Auch die "Grünen" als Parlamentspartei sind in diesen Zusammenhängen aktiv. Da sich die Forderungen der Klima-Bewegung an die Regierungen richten und sie den Umbau der Wirtschaftsstrukturen einschließen, sehen Extremisten auch dort ein Handlungsfeld. Im Folgenden geht es darum, diese Akteure darzustellen, ihre Einflussstrategien zu benennen und die in den Protestbewegungen auszumachenden Reaktionen einzuschätzen. Besonderheiten des Klima-Themas für extremistische Zielsetzungen Zunächst soll aber noch auf die Besonderheiten des Klima-Themas für extremistische Zielsetzungen verwiesen werden: Aus der Forderung nach mehr Klimaschutz ergeben sich weder besondere extremistische noch spezifische weltanschauliche Einstellungen. Ganz im Gegenteil geht es um allgemein akzeptierte Positionen. Denn mit Ausnahme der AfD wird mehr Klimaschutz von allen größeren Parteien gefordert, die Differenzen bestehen lediglich hinsichtlich der konkreten politischen Entscheidungen hin zu diesem Ziel. Damit ergibt sich eine andere Ausgangsposition als bei früheren Protestbewegungen, die sich etwa mit der Ablehnung von Atomkraftwerken oder einer Raketenstationierung grundsätzlich gegen die Regierungspolitik stellten. Ende April 2021 wiederum forderte nunmehr sogar das Bundesverfassungsgericht, dass mehr Klimaschutz die praktische Politik prägen sollte. Insofern gibt es von der Sache her erst mal keine zwingenden Bezüge, die Extremisten eine Instrumentalisierung dieses Themas ermöglichen könnten. Das Feindbild "Kapitalismus" im Klima-Diskurs von Linksextremisten Anders sieht es aus, wenn von extremistischen Gruppen versucht wird, die Klima-Bewegung mit dem Feindbild "Kapitalismus" zu verknüpfen. Dazu bedarf es einer besonderen Deutung, die insbesondere mit dem Feindbild "Kapitalismus" zusammenhängt. Die Klimaprobleme werden monokausal und stereotyp auf diese Wirtschaftsordnung zurückgeführt. Dabei blenden die Linksextremisten in ihrer Propaganda aus, dass ökologische Rückständigkeit zum Beispiel auch die früheren sozialistischen Staaten prägte. Die kursierende Auffassung "System Change, not Climate Change!" legt nahe, dass die Abschaffung des Kapitalismus eine Lösung sei. Eine solche Forderung ist für sich genommen indessen nicht linksextremistisch, sind doch die demokratischen Grundlagen weitgehend wirtschaftspolitisch neutral orientiert. Gleichwohl bietet die erwähnte Auffassung ein linksextremistisches Deutungsmuster, wonach die Kapitalismusüberwindung das Klima rette und auf diesem Weg auch der "bürgerliche Staat" als demokratischer Verfassungsstaat überwunden werden müsse. Erst diese besondere Deutung in Kombination mit einer politischen Konsequenz führt zu einer extremistischen Zielsetzung. Orthodox-kommunistische Kleinparteien in der Klima-Bewegung Deutlich macht dies der Blick auf orthodox-kommunistische Kleinparteien, die politischen Einfluss in der Klimabewegung gewinnen wollen, dort aber nur auf geringe politische Resonanz stoßen. Dies gilt insbesondere für die pro-maoistisch-stalinistische "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" ("MLPD") (2.800 Mitglieder), die wegen ihres penetranten Agierens auf Demonstrationen und der mangelnden Einhaltung von Regeln verstörend auf die übrigen Protestteilnehmer wirkte. Auch die marxistisch-leninistische "Deutsche Kommunistische Partei" ("DKP") (2.850 Mitglieder) beteiligte sich an Klima-Protesten, führte dort aber nur eine geduldete Randexistenz. Da sie sich an die bei den Demonstrationen üblichen Regeln hielt, kam es aber nicht zu ähnlichen Konflikten mit den Veranstaltern. Postautonome Akteure: die "Interventionistische Linke" Einen weitaus größeren Einfluss auf die Klimabewegung konnten "postautonome" Strömungen entfalten. Dazu bedarf es einer Erläuterung: Es geht – wie die auch von den Akteuren genutzte Bezeichnung nahelegt – um Gruppen, die sich dereinst als Autonome verstanden, solche aber in einem klassischen Sinne nicht mehr sein wollen. Einige Aktivisten lehnten eine rechthaberische Selbstisolierung und eine organisatorische Unverbindlichkeit ab. So entstand 2005 nach entsprechenden Auseinandersetzungen die "Interventionistische Linke" ("IL") (850 Anhänger), wobei dies mit einem komplexen Formierungs- und Umbruchprozess verbunden war. Gegenwärtig organisieren sich in der "IL" 32 regionale Ortsgruppen. Über eine einheitliche Programmatik verfügen sie nicht, es existiert nur ein 2014 veröffentlichtes "Zwischenstandspapier". Demnach versteht man sich als "Zusammenschluss linksradikaler Gruppen und Einzelpersonen", die den "revolutionären Bruch" anstreben. Instrumentalisierung von Protestbewegungen als Strategie Darüber hinaus plädiert die "IL" für eine Instrumentalisierung von Protestbewegungen als Strategie, wo sich relativ offene Worte in dem erwähnten "Zwischenstandspapier" finden. Ausgangspunkt der dortigen Betrachtungen ist die Einsicht, dass man "in politische Kämpfe" eingreifen und "auch außerhalb ihrer Subkulturen, Kieze und Freiräume" agieren will. Die "IL" verstehe sich als eine "radikale Linke", die immer wieder "neue Allianzen sucht, die Brüche vertieft". Demnach wird nach einer Ausweitung der Handlungsspielräume gesucht, was eben Kooperationen außerhalb der eigenen isolierten Szene nötig macht. Dabei ist ausdrücklich von einer "strategischen Bündnispolitik" die Rede. Äußerungen zur Gleichrangigkeit der Partner gibt es ebenso wenig wie welche zu Zugeständnissen an sie. Andere sollen für die eigenen Interessen als politische Instrumente dienen – so erhofft man sich eine Ausweitung der eigenen gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten. Denn ein abrupter Umbruch erscheint den "IL"-Autoren unwahrscheinlich, gehe es doch um eine "schrittweise Verschiebung". Konsequenz einer Radikalisierung als Zielsetzung Darüber hinaus bestehen noch weitere Absichten bei der Bündnispolitik, die über die bloße Instrumentalisierung hinausgehen: "Wir wollen mit möglichst vielen Menschen Aktionen machen, die radikalisieren ..." Demnach sollen die Akteure von Protestbewegungen einem Veränderungsprozess ausgesetzt werden. Der hätte eine handlungsbezogene und eine inhaltliche Komponente. Letztere bezieht sich darauf, dass "Ansatz- und Einstiegspunkte" dafür gefunden werden, "wo die immer nur relative Stabilität der herrschenden Verhältnisse aufbricht". Gemeint sind kritikwürdige Gegebenheiten in Gesellschaft und Staat, die hin zu einem "revolutionären Bruch" und einer "radikalen Transformation" interpretiert werden sollen. Damit will man die Ablehnung "des bürgerlichen Staats" verstärken. Gleichzeitig spricht die "IL" von der "Notwendigkeit von Gegenwehr und offensivem Widerstand", ohne das damit Gemeinte exakter zu erläutern. Die Formulierung vom "offensiven Widerstand" kann deshalb auch aktive Gewaltanwendung einschließen, denn an einer klaren Distanzierung von Gewalt als gegenwärtigem Mittel fehlt es. Das Klima-Thema als aktueller Schwerpunkt beim "Themen-Hopping" In dem erwähnten Grundlagenpapier der "IL" kommt "Klima" nur einmal neben anderen Themen vor. Dominantere Aspekte gelten Geflüchteten, Großprojekten wie den "Kämpfen um die Bedingungen des Lebens und Wohnens in den Städten", Rechtsextremismus oder Sexismus. Dieses seinerzeitige Desinteresse für das Klimathema veranschaulicht, dass die "IL" nach Instrumentalisierungspotenzialen für ihr strategisches Vorgehen gesucht hat. So kann auch, je nach Gegebenheiten, von einem "Themen-Hopping" gesprochen werden, wenn der konkrete Anlass des Engagements nach gesellschaftlicher Relevanz gewechselt wird. Angesichts der allgemeinen Bedeutung des Klima-Themas und einer damit einhergehenden Protestbewegung engagierte man sich fortan in diesen Zusammenhängen. Dabei erfolgte die erwähnte Deutung: Der Kapitalismus wird für die Klimaentwicklung verantwortlich gemacht und somit dessen Überwindung gefordert. Bildung von Bündnisorganisationen: Fallbeispiel "Ende Gelände" Um den jeweiligen Einfluss auf Protestbewegungen zu verbreiten, gründeten und gründen Extremisten häufig auch Vorfeldorganisationen. Diese sind meist auf den thematischen Anlass fixiert und wollen demokratische Kräfte integrieren, um eben mit ihnen breiter in die Bewegung wie in die Gesellschaft hineinzuwirken. Dafür steht "Ende Gelände" ("EG"), das seit 2015 als Bündnis unterschiedlicher Gruppen existiert. Diese setzen sich einer Eigendarstellung zufolge aus klimapolitischen Graswurzelinitiativen wie auch aus größeren Umweltorganisationen zusammen. Beim Engagement für mehr Klimaschutz wolle man auch "zivilen Ungehorsam" leisten, wobei das Gemeinte weder genauer erläutert noch legitimiert wird. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Bündnis von gleichrangigen Partnern, sondern um eine Gründung der "IL", wie sie in einer ansonsten nur seltenen Deutlichkeit in einer Selbstdarstellung bekundete: "Mit Ende Gelände haben wir ein unglaublich großes Ding geschaffen, das in der Vorbereitung viel Engagement (…) abverlangt." Handlungs- und ideologiebezogene Effekte der Radikalisierung Der extremistische Einfluss auf die Protestbewegungen artikuliert sich in unterschiedlichen Radikalisierungswirkungen, die sowohl auf die ideologische Deutung als auch auf den konkreten Handlungsstil bezogen sind. Dies soll anhand der Besetzungen im Hambacher Forst veranschaulicht werden, wobei eine dort für den Kohleabbau vorgesehene Waldrodung verhindert werden sollte. Da es hierbei auch um den Klimaschutz ging, gehört dies mit zum Thema. Während zunächst die Anwohner die Proteste dominierten, erweiterte sich der Kreis der Teilnehmer immer mehr, und es kamen aus anderen Regionen jüngere Umweltaktivisten hinzu. Auch Autonome beteiligten sich an den Protesten, wobei es ihnen häufig um eine bewusste Eskalation der Konflikte mit der Polizei ging. So erfolgten gezielt Angriffe auf die Beamten, sei es mit Fäkalien, Pyrotechnik, Steinen oder Zwillen. Darüber hinaus bekundeten Autonome ihre politische Gesinnung auf Transparenten und forderten offen etwa Anarchismus bzw. die Systemauflösung ein. Bedeutung der Extremisten in der Klima-Bewegung Wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit für diese Vorkommnisse kamen in den Medien mitunter schiefe Vorstellungen auf, zum Beispiel wonach die Extremisten im Hambacher Forst dominierten, aber allgemein in der Klima-Bewegung keine Relevanz hätten. Beide Auffassungen, die einander aufgrund ihrer Inhalte ausschließen, sind aufgrund ihrer Einseitigkeit unzutreffend. Denn weder lässt sich die qualitative noch die quantitative Bedeutung von Extremisten in der Klimabewegung genau einschätzen, da sie sich, je nach Definition, aus einem engeren und weiteren Personenkreis zusammensetzt. Bei den Extremisten handelt es sich in der Gesamtschau um Minderheiten, die durch ihre Aktivitäten und Auffassungen allerdings ein negatives Bild der Protestbewegung in der Öffentlichkeit vermitteln. Es gibt mittlerweile aber auch, als "Change for Future", bei FFF eine "Antikapitalistische Plattform", in der die pro-maoistisch-stalinistische Jugendorganisation "Rebell" eine wichtige Rolle spielt. Mangelndes Problembewusstsein in der Protestbewegung Ganz allgemein kann aber in der Protestbewegung ein mangelndes Problembewusstsein für die Extremismus-Potenziale konstatiert werden, wenn mitunter die Forderung nach entschiedenerer Klimapolitik über andere politische Werte gestellt wird. Dies erleichtert den Einflussgewinn von Extremisten, die auf einschlägige Kritik gern mit Spaltungsvorwürfen antworten. Eine offene und selbstkritische Diskussion wird darüber hinaus von der postulierten Notwendigkeit überlagert, breite Bündnisse für kontinuierliche Demonstrationen zu schaffen. Dabei kursieren auch Aussagen wie "System Change, not Climate Change!" oder Forderungen nach "zivilem Ungehorsam", wobei aufseiten großer Teile der Protestbewegung offenkundig keine Klarheit darüber besteht, was diese Schlagwörter konkret bedeuten sollen. Das Bewusstsein dafür, dass solche Aussagen eben auch gegen demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien gerichtet sein können, ist unterentwickelt. Es geht dabei eben mit um den bewussten Bruch geltender Gesetze und die politische Forderung nach einer grundlegenden Systemüberwindung. Aktive Linkextremisten schaden legitimen Protestbewegungen Wie in vielen anderen Fällen in der Geschichte der legitimen Protestbewegungen ist es auch hier so, dass deren politischem Anliegen durch aktive Extremisten öffentlich Schaden zugefügt wird. Dann nimmt man nicht mehr deren Anliegen und Forderungen zur Kenntnis, stattdessen fällt der Blick auf Fanatismus und Gewalthandlungen. Dies haben etwa die Ausschreitungen bei den G-20-Protesten 2017 veranschaulicht, denn nicht die legitime Kapitalismuskritik stand im Fokus der Medien, sondern die Verwüstung von öffentlichem und privaten Eigentum. Demgegenüber wurden Gewalthandlungen bei Klima-Protesten eher seltener praktiziert, kamen aber wie bei den an Baggerfahrzeugen begangenen Brandstiftungen vor. Gleichwohl schaden auch hier aktive Linksextremisten einer legitimen Protestbewegung, was sich aus deren Interesse an Radikalisierung und Resonanzwirkungen erklärt. Den Linksextremisten geht es eben um die Instrumentalisierung engagierter Klima-Aktivisten. Dazu bedarf es öffentlicher Aufmerksamkeit wie einer kritischen Debatte in wie außerhalb der Protestbewegung. Literatur Baron, Udo: Die Klimaschutzbewegung und der Linkextremismus. Eine Analyse von Akteuren und Objekten linksextremistischer Beeinflussungsversuche, in: Hansen, Hendrik/Pfahl-Traughber, Armin (Hg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2019/20 (I), Brühl 2021, S. 300–321. Currle, Philipp: Interventionistische Linke: Motor der Protest-Radikalisierung?, in: Backes, Uwe u. a. (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie. Bd. 32, Baden-Baden 2020, S. 157–166. Inden, Holger: Die Proteste im Hambacher Forst. Eine Analyse der demokratischen und extremistischen Protagonisten, in: Hansen, Hendrik/Pfahl-Traughber, Armin (Hg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2019/20 (I), Brühl 2021, S. 355–388. Interventionistische Linke, IL im Aufbruch – ein Zwischenstandspapier (2014), in: www.interventionistische-linke.org. Pfahl-Traughber, Armin: Linkextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme, 2. Auflage, Wiesbaden 2020, S. 195–208. "System Change, not Climate Change!": Aktivisten besetzen das Kohlekraftwerk Niederaußem in Nordrhein-Westfalen am 15. September 2018. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com) Vgl. https://interventionistische-linke.org/was-uns-eint:"Gleichzeitig vertreten wir politisch und praktisch die Legitimität und die Notwendigkeit von Gegenwehr und offensivem Widerstand. […] Die Überwindung des Kapitalismus ist letztlich eine Machtfrage und wir wissen, dass die Gegenseite ihre Macht mit allen Mitteln verteidigen wird. Zugespitzte gesellschaftliche Bedingungen werden daher auch veränderte Aktions- und Kampfformen benötigen. Wir bewegen uns dabei in dem Widerspruch, dass unsere Politik einerseits darauf gerichtet ist, die Gewalt und die gewalttätigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, und wir andererseits um den Charakter und die Schärfe des weltweiten Kampfes gegen die herrschende Ordnung wissen." Vgl. https://interventionistische-linke.org/beitrag/ende-gelaende-2016
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-26T00:00:00"
"2021-08-12T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/linksextremismus/dossier-linksextremismus/338269/linksextremistische-einflussnahme-auf-die-klima-bewegung/
Protestbewegungen sind Ausdruck von Meinungsfreiheit und Pluralismus in einer Demokratie. Allerdings besteht die Gefahr, dass Extremisten solche friedlichen Bewegungen instrumentalisieren. Eine Analyse anhand der Klima-Bewegung.
[ "Dossier Linksextremismus", "Linksextremismus", "Klimabewegung", "Interventionistische Linke", "Deutschland" ]
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Veranstaltungsreihe "The Celluloid Curtain": Spionagefilme aus der Ära des Kalten Krieges | Presse | bpb.de
Das von den Filmexperten Oliver Baumgarten und Nikolaj Nikitin zusammengestellte zwölfteilige Programm umfasst neben populären auch einige weniger bekannte Genrefilme, die zwischen 1960 und 1974 auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs entstanden sind. Darunter finden sich Klassiker wie die Leinwand-Adaption von John le Carrés "Der Spion, der aus der Kälte kam" mit Richard Burton, aber auch schwer zugängliche Raritäten wie der russische Film "Skvorets i Lira" von 1974; bis heute war er noch nie im Ausland und nur ein einziges Mal im Fernsehen der Sowjetunion zu sehen. In der Hochphase des Kalten Krieges erfreuten sich die Kino-Geschichten aus der Welt der Geheimdienste großer Beliebtheit, boten sie doch den Ängsten der Bevölkerung ein unterhaltsames und spannendes Auffangbecken. Hüben wie drüben politisch und ideologisch aufgeladen, liefern die Filme aus heutiger Sicht einen hohen sozialgeschichtlichen Erkenntnisgewinn. Stereotype Selbst- und Feindbilder, aber auch ironische Brechungen derselben ermöglichen Rückschlüsse auf gesellschaftliche Befindlichkeiten und eine künstlerisch-kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Die im Rahmen von "The Celluloid Curtain" gezeigten Filme wurden in Bulgarien, der Sowjetunion, der BRD, der DDR, Großbritannien, Frankreich, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Spanien und Polen gedreht und thematisieren die geteilte Welt mal als Actionfilm, mal als Psychostudie, inszenierte Ideologie oder subversive Parodie. Die einzelnen Vorführungen werden von namhaften Film- und Kulturwissenschaftlern eingeführt. Begleitend dazu wird es eine prominent besetzte Podiumsveranstaltung sowie ein filmpädagogisch aufbereitetes Schulprogramm geben. "The Celluloid Curtain" ist eine Initiative des Goethe-Instituts London, in Berlin veranstaltet vom Zeughauskino und der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Kooperation mit EUNIC Berlin. Die Filmreihe wird aus Anlass des 50. Jahrestages des Berliner Mauerbaus im Zeughauskino präsentiert. Weitere Fragen zum Programm richten Sie bitte an E-Mail Link: katrin.willmann@bpb.de. Foto: Key Visual aus dem Film "For Eyes Only – Streng geheim" (DDR 1963), der als einer von zwölf Filmen im Rahmen der Reihe vorgeführt wird. Für hochauflösendes Bildmaterial senden Sie bitte eine Email an: E-Mail Link: torre@edition8.de. Das in dieser Pressemitteilung enthaltene Motiv darf im Zusammenhang mit dem Film "For Eyes Only – Streng geheim" bzw. der Reihe "The Celluloid Curtain" verwendet werden. © Foto: Karl Plintznerm, Rechte: PROGRESS Film-Verleih. Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (148 KB) Allgemeiner Pressekontakt Aimée Torre Brons Friesenstr. 8 10965 Berlin Tel +49 (0)30 617896 663 E-Mail Link: torre@edition8.de Pressekontakt bpb Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49882/veranstaltungsreihe-the-celluloid-curtain-spionagefilme-aus-der-aera-des-kalten-krieges/
Vom 1. bis 22. Juni 2011 präsentiert die Bundeszentrale für politische Bildung gemeinsam mit dem Zeughauskino und dem Goethe-Institut London die internationale Spionage-Filmreihe "The Celluloid Curtain" in Berlin.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Linksextremismus im vereinten Deutschland | Linksextremismus | bpb.de
Mit dem Begriff "Linksextremismus" lassen sich jene Formen der Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat auf einen Nenner bringen, die einem radikal-egalitären Politikentwurf verpflichtet sind. Dabei strebt der Kommunismus nach Aufhebung sozial-ökonomischer Ungleichheit (insbesondere zwischen "Kapitalisten" und "Proletariern") in einer "klassenlosen Gesellschaft", der Anarchismus nach Beseitigung politischer Ungleichheit (insbesondere zwischen Regierenden und Regierten) durch eine "herrschaftslose Gesellschaft" der Zukunft. In strategischer Hinsicht kann zwischen parteiförmig organisierten, auf Stimmen- und Mandatsgewinne bei Wahlen zielenden, weithin legal operierenden Formationen und all jenen Gruppierungen unterschieden werden, die Gewalt als Mittel der Politik in ihr Kalkül einbeziehen oder gar in den Mittelpunkt rücken (Backes 2006; Backes/Jesse 2005). Im politischen Raum links von SPD und Bündnisgrünen nahm die 1989/90 durch Umbenennung aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) nach der deutschen Vereinigung eine dominierende Stellung ein. Mit ihrer starken sozialen und organisatorischen Verankerung im östlichen Deutschland, ihrem in der DDR geschulten Führungspersonal und Teilen des Einheitspartei-Apparats besaß sie gegenüber allen ihren Konkurrenten einen wichtigen Wettbewerbsvorteil. Der frühere westdeutsche "Satellit", die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), hatte durch den Wegfall der Transferleistungen aus Ostberlin (noch für 1989 waren 67,9 Mio. DM vorgesehen) einen organisatorischen/finanziellen Kollaps erlitten und war auch aufgrund ideologischer und strategischer Starrheit nicht in der Lage, die einstige Position im westlichen Deutschland zurück zu gewinnen – geschweige denn, sich erfolgreich auf das Territorium der ehemaligen DDR auszudehnen (Hirscher/Pfahl-Traughber 2008). Bei der PDS hingegen gaben ideologisch und strategisch flexiblere Kräfte aus mittleren und unteren SED-Rängen den Ton an. Die Preisgabe des organisatorischen Leninismus ("demokratischer Zentralismus", Fraktionsverbot, Avantgardekonzept, "Diktatur des Proletariats") unter Aufrechterhaltung bedeutender Teile der marxistischen Theorietradition (wie Antifaschismus, Antiimperialismus, Antikapitalismus, Klassenkampf, "historische Mission", teleologisches Geschichtsbild) und die Schaffung innerparteilicher Freiräume ("Plattformen", "Arbeitsgemeinschaften") für eine Pluralität sozialistischer/kommunistischer Konzepte ermöglichte die Integration eines bei SPD und Bündnisgrünen nicht integrierbaren Mikrokosmos links-revolutionärer Gruppierungen (DKP-"Erneuerer", Trotzkisten, Ökofundamentalisten, "Autonome" usw.). Der im Unterschied zu den kommunistischen Staatsparteien Polens und Ungarns ausgebliebene Bruch mit der Vergangenheit (Grzymała-Busse 2002), die innere Heterogenität und Widersprüchlichkeit und die seit 1989 durchlaufenen Akkulturationsprozesse erklären die Schwierigkeiten bei der Einordnung der Partei (Lang 2003; Moreau 2002; Neugebauer/Stöss 1996), die sich von Anfang an in einer Übergangszone zwischen aggressiv-extremistischer Systemverneinung und zumindest semiloyaler Systemakzeptanz bewegte. Im neuen Jahrtausend erschien ein neuer Akteur am linken Flügel des politischen Spektrums. Die nach einem längeren Anlauf Anfang Juli 2004 konstituierte Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) suchte wie die PDS den Protest gegen "Hartz IV" zu kanalisieren, fand bei linken Sozialdemokraten und Gewerkschaftern Anklang. Die PDS-Führung ging nicht auf Konfrontation zu der sich bundesweit ausdehnenden Organisation, sondern machte ihr frühzeitig Avancen, da sich die Chance bot, das Reservoir der mit SPD und Bündnisgrünen unzufriedenen Westlinken anzuzapfen und einen neuen Anlauf bei der bis dato gescheiterten "Westausdehnung" zu unternehmen. Ein Annäherungsprozess zur WASG, die sich am 22. Januar 2005 in Göttingen als Partei konstituiert hatte, wurde durch den Ausgang der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen beschleunigt, wo beide Parteien gegeneinander antraten und jeweils nur bescheidene Ergebnisse erzielten. Unmittelbar nach der überraschenden Ankündigung von Neuwahlen nahmen PDS und WASG Gespräche auf. Auf einem Bundesparteitag am 3. Juli 2005 in Kassel stimmten die Anwesenden in einer Urabstimmung mit 81 Prozent dafür, nicht eigenständig zur Bundestagswahl anzutreten, sondern auf offenen Listen der neu zu bildenden Linkspartei zu kandidieren. Die PDS vollzog daraufhin auf einem Sonderparteitag am 18. Juli 2005 die Namensänderung in Die Linkspartei.PDS (Namenskürzel: Die Linke.PDS). Einer der entschiedenen Befürworter des Zusammengehens mit dem Linksbündnis war der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, der seine Partei ultimativ zur Abkehr vom "neoliberalen Kurs" Bundeskanzler Schröders aufforderte. Die mit Lafontaine und dem an die Spitze der PDS zurückgekehrten Gregor Gysi markierte populistische Öffnung der Linkspartei.PDS wurde bei der Bundestagswahl vom September 2005 mit 8,7 Prozent der Zweitstimmen belohnt. Die Partei erreichte auf Bundesebene den bei weitem höchsten Stimmenanteil ihrer Geschichte. Durch die Zusammenarbeit mit der WASG und Oskar Lafontaine vermochte sie das wahlpolitisch mobilisierbare Potential links von SPD und Bündnisgrünen auch in den westlichen Ländern zu absorbieren. Mit der heftigen Kritik an "Hartz IV" und der "Agenda 2010" wurden Sehnsüchte von Teilen der Wählerschaft nach dem "guten alten Sozialstaat" der Altbundesrepublik geweckt und Ängste vor den Folgen der strukturellen Reformanstrengungen geschürt, die ihnen die großen Parteien in der Überzeugung abverlangten, dass es angesichts der Globalisierung der Märkte und der demographischen Entwicklung kein Zurück mehr geben könne. Die Linkspartei verfügte mit Gysi und Lafontaine über zwei Politiker, die populistisches Gespür mit beachtlicher Medien- und Talk-Show-Tauglichkeit verbanden. Die PDS profitierte im östlichen Deutschland in personeller wie organisatorischer Hinsicht noch von ihrer Einheitspartei-Vergangenheit – trotz chronischer Überalterung und stark geschrumpften Mitgliederpotentials. Die Kooperation mit der WASG trug dazu bei, die organisatorische und personelle Schwäche im Westen auszugleichen. Die Linkspartei vermochte das Negativimage, das ihr im Westen aufgrund der DDR-Vergangenheit anhing, durch die Namensänderung und die Kooperation mit dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden und dessen Anhängern aufzuhellen. In den Medien genoss die Linkspartei schon wegen ihrer stärkeren parlamentarischen Präsenz höhere Aufmerksamkeit und löste keineswegs nur kritisch-ablehnende Kommentare aus. Wahlerfolge in westlichen Ländern erleichterten den formellen Abschluss des Vereinigungsprozesses (Gründung der Partei "Die Linke" am 16. Juni 2007). Trotz unübersehbarer Anpassungsprozesse stellt der innerparteiliche Spagat zwischen reformorientierter Systemloyalität und revolutionärer Fundamentalopposition, den nicht nur die PDS, sondern auch die WASG kennzeichnete, eine gravierende Beeinträchtigung der Bündnisfähigkeit dar. Viele Mitglieder der Linken trügen "ideologische Schlachten von gestern aus" (Brie 2008), beklagte einer der prononciertesten Partei-Reformer noch im Februar 2008. Eine klare Trennung von offen-linksextremen Formationen (wie der Kommunistischen Plattform, dem Marxistischen Forum oder dem Geraer Dialog) birgt für die Partei jedoch auch Gefahren: Sie könnte linksaußen an Integrationskraft einbüßen. Neben den seit langem bestehenden Kooperationsbeziehungen erklärt dieses strategische Kalkül die Kandidatur von DKP-Mitgliedern auf "offenen Listen" der Linken – ein Faktum, das einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, nachdem sich die auf diese Weise in den niedersächsischen Landtag gewählte DKP/Linke-Abgeordnete Christel Wegner im Vorfeld der Hamburgischen Senatswahl vom Februar 2008 zu skandalträchtigen Aussagen über den Mauerbau und die Notwendigkeit eines Staatssicherheitsdienstes beim Aufbau des Sozialismus hatte hinreißen lassen (Panorama vom 14. Februar 2008). Solche Äußerungen konnten Leser des neuen DKP-Parteiprogramms (verabschiedet auf der zweiten Tagung des 17. Parteitages in Duisburg-Rheinhausen am 8. April 2006) indes kaum überraschen. Darin wird der "revolutionäre[n] Bruch mit den kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen" gefordert und das Bekenntnis zu den "von Marx, Engels und Lenin begründeten und von anderen Marxistinnen und Marxisten weitergeführten Erkenntnisse[n] des wissenschaftlichen Sozialismus, der materialistischen Dialektik, des historischen Materialismus und der Politischen Ökonomie" erneuert. So viel Traditionstreue und Dogmatismus erklären die Aussichtslosigkeit eigenständiger Wahlbewerbung und den anhaltenden Rückgang des Mitgliederpotentials (auf rund 4.200 Ende 2006). Nicht weniger dogmatisch erscheinen die hierzulande aktiven trotzkistische Sektionen (Gesamtmitgliederzahl Ende 2006: rund 1.800), deren Sektierertum schon darin zum Ausdruck kommt, dass jede von ihnen einer "Internationale" angehört, die den anderen jeweils den Anspruch bestreitet, sich in authentischer Weise auf das Werk des Lehrmeisters zu berufen. Gemeinsam war und ist ihnen eine Orientierung an rätekommunistischen Ideen und eine entsprechende Distanz zum "real existierenden Sozialismus". Die in den letzten Jahren aktivste Vereinigung, die Gruppe Linksruck, kündigte für den 1. September 2007 ihre Auflösung an und appellierte an die Gesinnungsgenossen, "den Aufbau der Partei DIE LINKE mir ihren marxistischen Positionen zu fördern und die Strömung Sozialistische Linke zu unterstützen, die sich für eine Klassenorientierung und eine Anbindung der Partei an die Gewerkschaftsbewegung einsetzt" (Pressemitteilung). Distanz zur Linken wahrt demgegenüber die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), eine maoistische Kaderpartei mit Ende 2006 rund 2.300 Mitgliedern. Durch ihr permanent desolates Abschneiden bei Wahlen (Bundestagswahl 2005: 0,1 Prozent) lässt sie sich nicht entmutigen. Stolz verkündete der Vorsitzende Stefan Engel die Präsenz der MLPD in 450 Städten (2006). Systematische "Kleinarbeit unter den Massen" in Betrieben und Wohngebieten werde die weitere Parteientwicklung tragen. Zu den mitgliederstärkeren Formationen des linksextremen Spektrums zählt seit Jahren die Rote Hilfe (RH; Ende 2006 4.300 Mitglieder). Sie definiert sich als "Solidaritätsorganisation", die "politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum" unterstützt", und macht dabei die Auswahl der zu Unterstützenden in erster Linie von der Motivation der Handelnden, nicht von der Art ihres Tuns, abhängig. So kommen auch inhaftierte Gewalttäter in den Genuss von Hilfeleistungen. Das Bundeskriminalamt erfasste im Phänomenbereich "Politisch motivierte Kriminalität – links" für das Jahr 2006 insgesamt 2.369 (2005: 2.305) Straftaten mit "extremistischem Hintergrund". Davon waren 862 (2005: 896) Gewalttaten (Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht 2006). Fast die Hälfte der Delikte entfiel auf das Themenfeld "Gewalttaten gegen (vermeintliche) Rechtsextremisten". Der starke Anstieg bei den Körperverletzungsdelikten (von 226 im Jahr 2004 auf 444 2006) deutete auf den Bedeutungszuwachs tätlicher Auseinandersetzungen mit politischen Kontrahenten hin (Backes 2007). Das Gros linksextremistisch motivierter Gewalttaten ging in den letzten beiden Jahrzehnten von der Szene der Autonomen aus. In den 1980er Jahren aus der Sponti-Bewegung hervorgegangen, griffen sie in ihrem Weltbild auf anarchistische wie marxistisch-antiimperialistische Deutungsmuster zurück und traten in der Öffentlichkeit vor allem durch das Agieren des "schwarzen Blocks" Vermummter am Rande von Demonstrationen in Erscheinung. Ende 2006 war die Szene mit annähernd 5500 Aktiven bundesweit verbreitet (BMI 2007). Sie agierte meist dezentral. Wichtigstes verbindendes Element stellten Internet-Plattformen (wie nadir.org) und Zeitschriften wie Interim dar. Versuche überregionaler organisatorischer Bündelung scheiterten in der Vergangenheit. Weder organisatorisch noch ideologisch bildete die Szene eine Einheit; dies zeigten die "Militanzdebatten" ebenso wie die anhaltenden Auseinandersetzungen um das Verhältnis zur Antikriegsbewegung und zum Nahost-Konflikt (bedingungslos proisraelische "antideutsche" gegen israelkritische bis -feindliche Positionen). Gewaltorientierte Gruppierungen orientierten sich überwiegend am Terrorkonzept der Revolutionären Zellen (RZ) der 1970er Jahre, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Roten Armee Fraktion (RAF) auf technisch/legitimatorisch aufwendige und risikoreiche "Aktionen" wie Geiselnahmen und gezielte Tötungen verzichtet und sich statt dessen auf Anschläge gegen Sachen konzentriert hatten. Sie gerieten damit allerdings insofern in ein strategisches Dilemma, als unblutige Sachbeschädigungen in aller Regel nicht das gewünschte Ausmaß an Publizität erzielten, zumal Häufigkeit und Stereotypie der Vorfälle Gewöhnungsprozesse und Indifferenz in der Öffentlichkeit begünstigten. Die strategischen Hauptziele des Gewalteinsatzes: Verunsicherung und Provokation des Gegners sowie Mobilisierung der Sympathisanten, wurden auf diese Weise nur in bescheidenem Maße erfüllt. Dies gilt auch für die militanten gruppe (mg), die seit dem Jahr 2001 eine Reihe von Anschlägen auf Firmenniederlassungen und Behörden im Berliner und Magdeburger Raum verübte. In einem Positionspapier in der Juli-Nummer 2006 des Berliner Szene-Blatts "Interim" warb sie um Anhänger in der Szene radikaler Globalisierungskritiker. Die Brandanschläge im Rahmen der Kampagne zur gebührenden "Vorbereitung" des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007 dürften kein ereignisfixiertes "Aufflackern einer unkoordinierten militanten Praxis" sein, sondern sollten als "Übungsfeld einer zu konkretisierenden militanten Politik im Rahmen eines organisatorisch umfassenderen revolutionären Aufbauprozesses" dienen. Das zentrale Ziel bestehe darin, "die militante Option in den Anti-G8-Mobilisierungen als integralen Bestandteil einzubringen und zu verankern." Vier mutmaßliche Gruppenmitglieder wurden Anfang August 2007 festgenommen. Ihnen wurde u.a. ein versuchter Brandanschlag auf Lastwagen der Bundeswehr in Brandenburg Havel (31. Juli 2007; Pressemitteilung der Generalbundesanwaltschaft 18/2007) zur Last gelegt. Einen anderen thematischen Schwerpunkt des militanten Linksextremismus bildet im neuen Jahrtausend die Auseinandersetzung mit einer vor allem in den östlichen Ländern florierenden, "auf der Straße" präsenten rechtsextremistischen Szene. Auch auf diese Weise strahlen die politischen und sozial-ökonomischen Folgeprobleme der Transformation noch zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung auf Gesamtdeutschland aus. Sie nähren das linksextreme Gewaltreservoir ebenso wie die Rekrutierungs- und Mobilisierungsmasse der legal operierenden Formationen am linken Flügel des politischen Spektrums. Eine nachhaltige Beeinträchtigung des hohen Konsolidierungsstandes der deutschen Demokratie erscheint dennoch unwahrscheinlich. Literatur Backes, Uwe, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006. Backes, Uwe, Rechts- und linksextreme Gewalt in Deutschland – vergleichende Betrachtungen, in: Politische Studien, Themenheft 1/2007, S. 31-43. Backes, Uwe/Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005. BMI/Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2006, Berlin 2007. Brie, André, Interview mit Martin Lutz und Uwe Müller, in: Die Welt vom 12. Februar 2008, S. 2. Grzymała-Busse, Anna M., Redeeming the Communist Past. The Regeneration of Communist Parties in East Central Europe, Cambridge 2002. Hirscher, Gerhard/Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Was wurde aus der DKP? Beiträge zu Geschichte und Gegenwart der extremen Linken in Deutschland, Brühl 2008. Lang, Jürgen, Ist die PDS eine demokratische Partei? Eine extremismustheoretische Untersuchung, Baden-Baden 2003. Moreau, Patrick, Politische Positionierung der PDS – Wandel oder Kontinuität?, München 2002. Neugebauer, Gero/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte, Organisation, Wähler, Konkurrenten, Opladen 1996. Panorama Nr. 693 vom 14. Februar 2008: "Auferstanden aus Ruinen" – Die Wiedergeburt der DKP. Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, hrsg. von Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz, Berlin 2006.
Article
Uwe Backes
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-10-06T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/linksextremismus/dossier-linksextremismus/33615/linksextremismus-im-vereinten-deutschland/
"Linksextremismus" bezeichnet alle Formen der Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat, die einem radikal-egalitären Politikentwurf verpflichtet sind. Welche Gruppen sind heute noch Träger linksextremer Ideologie? Welche Grauzonen gibt es?
[ "Linksextremismus", "Demokratie", "Verfassungsstaat", "Ideologie" ]
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M 02.02 Film "Der Weg unserer Daten" | Digitalisierung - Meine Daten, meine Entscheidung! | bpb.de
(c) Team "Forschen mit GrafStat" und Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Filmerstellung: Team "Forschen mit GrafStat"; Konzeption und Postproduktion: Cornelius Knab ; Drehbuch: Selina Kalms; Sprecherin: Selina Kalms (weitere Informationen s. Interner Link: Film in der Mediathek der bpb) Arbeitsaufträge: Schaut euch den Film genau an und notiert euch Begriffe, die euch unklar sind (z.B. Algorithmus, Datenbroker etc.). Recherchiert anschließend, was diese Begriffe bedeuten. Tipp: Viele Erklärungen zu Begriffen aus dem Themengebiet "Digitalisierung" findet ihr im Interner Link: Glossar Beantwortet folgende Fragen zum Film: Warum sind Unternehmen an den Daten von Nutzerinnen und Nutzern interessiert? Warum können viele Onlinedienste den Nutzerinnen und Nutzern kostenlos zur Verfügung gestellt werden? Was passiert mit den gesammelten Daten? Erkläre in eigenen Worten, was mit den gesammelten Daten gemacht wird und wozu. Welchen Einfluss haben digitale Onlineprofile auf uns als Nutzerinnen und Nutzer? (Konsequenzen, Probleme etc.)
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-11-04T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/digitalisierung-grafstat/318339/m-02-02-film-der-weg-unserer-daten/
Der Erklärfilm zeigt, wie die digitalen Datenspuren, die wir bei unseren Aktivitäten im Internet hinterlassen, von Dienstanbietern und Datenbrokern gesammelt, aufbereitet und gewinnbringend genutzt werden.
[ "Digitalisierung Big Data KI" ]
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Kommentar: "Keine Kompromisse mit dem neofaschistischen Russland" | Ukraine-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Auf einen Kompromiss mit Putins faschistischem Russland zu setzen, wäre ähnlich, wie auf einen Kompromiss mit Nazi-Deutschland zu setzen. Der einzige Ausgang des Krieges, den der Westen anstreben sollte, ist eine Niederlage Russlands. Sollte hingegen die Ukraine im Gegenzug für einen zeitweiligen Waffenstillstand aufhören sich zu verteidigen, werden die Folgen nur noch schwerwiegender sein, sowohl für die Ukraine wie für den Rest der Welt. Auf einen Kompromiss mit Putins faschistischem Russland zu setzen, wäre ähnlich, wie auf einen Kompromiss mit Nazi-Deutschland zu setzen. Der einzige Ausgang des Krieges, den der Westen anstreben sollte, ist eine Niederlage Russlands. Sollte hingegen die Ukraine im Gegenzug für einen zeitweiligen Waffenstillstand aufhören sich zu verteidigen, werden die Folgen nur noch schwerwiegender sein, sowohl für die Ukraine wie für den Rest der Welt. Es ist unglaublich zynisch und dennoch wahr: Im Laufe der großangelegten russischen Invasion hören Ukrainer immer wieder aus einigen Ländern des Westens, und insbesondere auch aus Deutschland, die Frage: "Warum ergebt ihre euch nicht?". Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, wurde in der Fernsehtalkshow Maybrit Illner sogar Externer Link: gefragt, wie viele zivile Opfer die Ukraine bereit sei Externer Link: "in Kauf zu nehmen" (als ob die Ukraine und nicht Russland für Tausende ziviler Opfer auf ukrainischem Boden verantwortlich sei). Andere Varianten des gleichen Narrativs lauten: "Die Ukraine will keinen Waffenstillstand/Kompromiss mit Russland". Das verdeutlicht lediglich die Tatsache, dass Menschen, die diese Ansicht teilen, Russland und dessen wahre Absichten nicht begreifen. Das ist umso ironischer, als dass das heutige Russland viele Ähnlichkeiten mit faschistischen Regimen wie dem Nazi-Regime seinerzeit in Deutschland aufweist – besonders Deutschland sollte das erkennen. Man sollte gut auf die Wortwahl achten. Russland behauptet, es wolle die Ukraine "entnazifizieren". Allerdings wird dieser Begriff pervertiert. Während Russland sein Kriegsziel, die Ukraine, als nazistisch bezeichnet, ist das Land selbst zum Inbegriff des Neofaschismus geworden – in seiner aktualisierten, russischen Form, mit vielen Parallelen zu Hitlers Drittem Reich: Wladimir Putin hat die endgültige "Lösung der ukrainischen Frage" angekündigt, ganz wie Hitler die Lösung der Judenfrage verkündet hatte. Das Volk der Ukrainer:innen wird in Russland als Untermenschen ("Kleinrussen") betrachtet. Und was Russland mit der Ukraine vorhat, ist ein Vernichtungskrieg, mit Gefängnis und vermutlichen Todeslisten für jene, die abweichender Meinung sind. Der Krieg gegen die Ukraine hat auch seine eigenen Symbole hervorgebracht: Das "Z" wird zu einem neuen, hakenkreuzartigen Symbol in Russland. Die Philosophie dieses Krieges ist von Wolodymyr Jermolenko treffend erfasst worden, der Externer Link: beobachtete, dass wenn man für Russland ein Nazi ist, dies einfach bedeutet, dass man eine eigenständige ukrainische Identität hat (in Bezug auf Sprache, Kultur usw.). Gleichzeitig Externer Link: ist Ivan Krastev der Ansicht, dass für Putin diejenigen Nazis sind, die sich dem "ewigen Russland" entgegenstellen. Also haben die Ukrainer:innen aus Sicht Putins keine Wahl: Sie sollen entweder wie Russen sein (und somit aufhören als eigene Nation zu existieren), oder sie sind Nazis und gehören vernichtet. In Wirklichkeit ist es Russland, und nicht die Ukraine, das keinen Kompromiss sucht. Russland will die gesamte Ukraine kontrollieren (und wird womöglich nicht an der ukrainischen Grenze haltmachen). Russlands Ziel gegenüber der Ukraine besteht in einer "Entmilitarisierung" (also einem Ausschluss jeder Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen), einer "Entnazifizierung" (also wie erwähnt einer Beraubung des Landes jeglicher Identität), einer "Neutralität" (also einer Einschränkung seiner Souveränität bei außenpolitischen Entscheidungen) und in einer Anerkennung der Annexion der Krim sowie der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk in der Ostukraine (wodurch die Verletzung der territorialen Integrität des Landes zementiert würde). Russland wird also jeden halben Schritt lediglich als provisorisch betrachten, als eine Pause, die es dazu nutzen kann, sich neu aufzustellen, um dann erneut angreifen zu können. Wir haben das bereits acht Jahre lang beobachten können. Seit der russischen Aggression 2014 hat Russland keine stabile Feuerpause eingerichtet, ganz zu schweigen von einer Entflechtung oder einer Entwaffnung der Truppen im Donbas, was eine der zentralen Bestimmungen der Minsker Abkommen darstellt. Also wird jede Art von Waffenstillstand, falls sich gleichzeitig noch russische Truppen auf ukrainischem Territorium befinden, von Russland dazu genutzt werden, seine Stellungen in den besetzten Gebieten zu festigen und sich auf die nächste, noch heftigere und brutalere Runde des Krieges vorzubereiten. Darüber hinaus könnte Russland versuchen, dem Westen einen solchen "Waffenstillstand" als einen Grund zu verkaufen, die Sanktionen zu lockern. Das ist etwas, was Russland verzweifelt benötigt, um seine siechende Wirtschaft aufrecht zu erhalten Das ist auch der Grund, warum es keine Option sein kann, die euroatlantische Integration der Ukraine bei Verhandlungen zur Disposition zu stellen. Die Neutralität, die Russland von der Ukraine fordert, ist ein wichtiger Schritt, um die Hörigkeit der Ukraine sicherzustellen. Sobald die Ukraine ihr Streben nach euroatlantischer Integration auf Verlangen eines anderen Staates aufgibt, würde dies eine Beschränkung der eigenen Souveränität bedeuten. Es geht nicht um die Frage, ob die NATO bereit ist, die Ukraine aufzunehmen. Es geht um eine unabhängige Entscheidung über die Richtung einer Integration – um den freien Willen der Ukraine, ihre Außenpolitik selbst zu gestalten. Es sei daran erinnert, dass Russland die Ukraine 2014 angriff, als diese neutral war. Somit ist Russlands "Furcht", dass die NATO auf ukrainisches Territorium vorrücken könnte, nichts weiter als ein Vorwand für den jetzigen Angriff, nicht aber dessen wahre Ursache. Erwähnt werden sollte hier auch, dass es bei der russischen Aggression im Donbas keineswegs nur um die Gebiete Donezk und Luhansk gegangen ist. In Wirklichkeit wollte Putin die besetzten Gebiete als Hebel zur Kontrolle der gesamten Ukraine einsetzen. Das ist auch der Grund, warum in den Minsker Abkommen eine de facto-Föderalisierung und Änderungen an der ukrainischen Verfassung vorgesehen sind. Wer der Ansicht ist, ein Waffenstillstand würde weitere Opfer verhindern, liegt falsch. Die Geschichte hält einige Externer Link: Analogien parat: Polen ergab sich 1939 Nazi-Deutschland, nach dem die Zahl der Opfer 100.000 erreicht hatte. Danach kamen weitere 5 Millionen Pol:innen ums Leben. Auch in Dänemark, Belgien und den Niederlanden gab es nach der Kapitulation einen exponentiellen Anstieg der Todeszahlen. Wenn sich die Ukraine jetzt ergibt, würde ihr ein ähnliches Schicksal drohen. Die besetzten Gebiete würden mit Terror überzogen werden. Wer daran zweifelt, sollte sich die Berichte aus den belagerten Städten ansehen: Dem Externer Link: Bürgermeister von Mariupol zufolge sind Tausende Bewohner:innen aus der belagerten Stadt zuerst in Lager verbracht und dann zwangsweise nach Russland deportiert worden. In den besetzten Städten Berdjansk, Nowa Kachowka, Skadowsk, Wolnowacha und Melitopol werden bereits Angehörige des öffentlichen Dienstes, Journalist:innen und Aktivist:innen Externer Link: vermisst (siehe auch Erklärung der Kyjiwer Gespräche in dieser Ausgabe, Anm. d. Red.). Menschen, die die russische Besatzung überlebt haben, berichten von Menschen- und Kriegsverbrechen durch russische Soldaten, etwa von Externer Link: Vergewaltigungen und wahllosen Externer Link: Tötungen von Zivilisten, auch von Kindern. Die jüngste Geschichte der besetzten Teile der Gebiete Donezk und Luhansk ist ebenfalls voll von solchen Beispielen, wobei das Geheimgefängnis "Isolazija" in der "Volksrepublik" Donezk zu einem Symbol für diese Gräueltaten wurde. In dem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Heller Weg. Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbas 2017–2019" ist mehr über diese Untaten zu lesen. Autor ist der preisgekrönte ukrainische Schriftsteller und ehemalige Insasse des Gefängnisses, Stanislaw Asejew. Auch diejenigen, die Russlands militärische Macht fürchten und auf einen militärischen Sieg Russlands in diesem Krieg setzen, liegen falsch. Das Pentagon war bemerkenswert präzise bei der Vorhersage des Zeitpunktes der russischen Invasion, irrte sich jedoch hinsichtlich der Widerstandskraft der Ukraine. Die Hauptstadt Kyjiw hält immer noch stand und ist weit davon entfernt, eingeschlossen oder belagert zu sein, und Russland hat in 25 Tagen des Krieges nur eine Gebietshauptstadt einnehmen können. Dem Chef des Generalstabs der Ukrainischen Streitkräfte zufolge hat Russland in über drei Wochen mehr als 14.500 Militärangehörige verloren, was die russischen Verluste in den beiden Tschetschenienkriegen und die sowjetischen Verluste in dem zehnjährigen Krieg in Afghanistan (1979–1989) übersteigt. Das bedeutet zweierlei: Der Westen hat einerseits die russische Armee erheblich überschätzt und andererseits die ukrainischen Streitkräfte (und das, wozu sie mit westlichen Waffen in der Lage sind) unterschätzt. Auf eine Niederlage der Ukraine zu setzen, wäre also ein Fehler. Ein anderer Fehler wäre es, wenn man glaubt, dass es allein "Putins Krieg" ist, wie Olaf Scholz kürzlich Externer Link: annahm. In Wirklichkeit unterstützt eine große Mehrheit in Russland vehement ihren Anführer beim Krieg gegen die Ukraine, von Universitätsrektoren bis zu olympischen Stars. Dem "Allrussischen Zentrum für die Erforschung der öffentlichen Meinung" (WZIOM) zufolge Externer Link: unterstützen 71 Prozent der Russ:innen den Krieg gegen die Ukraine, der als "Spezialoperation" bezeichnet wird (auch wenn, wie angenommen werden muss, einige Menschen in Russland Angst haben, sich gegen den Krieg auszusprechen, und deshalb lieber schweigen, was sie nichtsdestotrotz mitschuldig macht). Es ist eben nicht Putin, der im Moskauer Luschniki-Stadion russische Flaggen zur Feier des Jahrestages der Krim-Annexion schwenkt, sondern 200.000 Russ:innen. Es ist auch nicht Putin selbst, der die Bomben auf das Theater in Mariupol wirft, vor dem in großen Lettern "Kinder" geschrieben steht, sondern es sind russische Soldat:innen, die diesen Krieg möglich machen (Anm. der Red: Bei dem Angriff auf das Theater sollen mehr als 300 Menschen getötet worden sein). Die Deutschen wissen sehr wohl, was kollektive Verantwortung bedeutet. Diese sollte allerdings klar von kollektiver Schuld unterschieden werden. Die Schuld wird individuell und vor Gericht festgestellt. Die kollektive Verantwortung für die russischen Verbrechen in der Ukraine jedoch muss vom ganzen Volk Russlands übernommen werden. Es wird Jahre brauchen, wie es in Deutschland Jahrzehnte brauchte (und es erfolgte zu großen Teilen durch eine erzwungene "Umerziehung" durch die Alliierten…). Allerdings ist es höchste Zeit, dass Deutschland aufhört, sich von seiner Schuld gegenüber Russland blenden zu lassen. Das heutige Russland könnte an Bösartigkeit womöglich weitergehen als Nazi-Deutschland, wenn man es ließe. Schließlich ist es höchste Zeit, dass die NATO die russischen Drohungen gegenüber dem Bündnis selbst ernstnimmt. Putin hat gefordert, dass sich die NATO auf ihre Grenzen von 1997 zurückzieht. Einer Umfrage der Active Group zufolge würden 86,6 Prozent der Russ:innen eine bewaffnete Invasion in andere europäische Länder unterstützen, und 75,5 Prozent meinen, Polen sollte als nächstes dran sein. Während sich der Krieg im restlichen Europa vor allem in steigenden Lebensmittel- und Heizungspreisen manifestiert, fühlt er sich in der Ukraine bereits wie ein Dritter Weltkrieg an, mit permanentem Beschuss ganzer Städte und Dörfer, Tausenden zivilen Opfern und mehr als zehn Millionen Flüchtlingen. Es gibt nur einen Weg zu verhindern, dass der Krieg in andere europäische Länder überschwappt, nämlich die Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen: Die Ukraine sollte mit modernen Systemen zur Luft- und Raketenabwehr ausgestattet werden, mit Drohnen, Kampfjets, Panzerabwehrraketen und Schiffsabwehrwaffen. Der Ukraine sollte auch den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten, mit einem Eilverfahren für eine Mitgliedschaft. Das würde nicht nur das Signal aussenden, dass die Ukraine kein Teil der Russischen Welt sein wird, es wäre auch ein klares Signal an die ganze Welt, von wem die EU denkt, dass der Krieg gewonnen wird. Wieso sollte man schließlich einem Land einen Kandidatenstatus für die EU verleihen, das alsbald aufhören könnte zu existieren? Weitere Argumente für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine sind in einer Serie von Externer Link: Infografiken des New Europe Centers aufgeführt. Auf einen Kompromiss mit Putins faschistischem Russland zu setzen, wäre ähnlich, wie auf einen Kompromiss mit Nazi-Deutschland zu setzen. Der einzige Ausgang des Krieges, den der Westen anstreben sollte, ist eine Niederlage Russlands. Sollte hingegen die Ukraine im Gegenzug für einen zeitweiligen Waffenstillstand aufhören sich zu verteidigen, werden die Folgen nur noch schwerwiegender sein, sowohl für die Ukraine wie für den Rest der Welt. Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder Quellen / Literatur Lesetipp/Bibliographie: Jason Stanley, Eliyahu Stern: Putin’s Fascism. The admiration of religious traditionalism and hatred of cosmopolitan liberalism is part of the Kremlin’s fascist ideology. Tablet, 21.02.2022, Externer Link: https://www.tabletmag.com/sections/news/articles/putins-fascism. Lesetipp/Bibliographie: Jason Stanley, Eliyahu Stern: Putin’s Fascism. The admiration of religious traditionalism and hatred of cosmopolitan liberalism is part of the Kremlin’s fascist ideology. Tablet, 21.02.2022, Externer Link: https://www.tabletmag.com/sections/news/articles/putins-fascism.
Article
Kateryna Zarembo (New Europe Center, Ukraine)
"2022-04-29T00:00:00"
"2022-04-01T00:00:00"
"2022-04-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-265/506904/kommentar-keine-kompromisse-mit-dem-neofaschistischen-russland/
Russland entwickelt sich immer stärker zu einem neofaschistischen Staat. Auf einen Kompromiss mit Russland zu setzen wäre daher aus mehreren Gründen nicht ratsam, meint die ukrainische Politikwissenschaftlerin Kateryna Zarembo.
[ "Ukraine", "Ukraine", "Ukraine", "Russland", "Russland", "Russland", "Beziehungen zu den Staaten der ehemaligen Sowjetunion", "Beziehungen zur NATO", "Beziehungen zur EU", "Russlands Angriffskrieg 2022" ]
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Chronik: 15. Dezember 2017 – 14. Januar 2018 | Russland-Analysen | bpb.de
15.12.2017 Der russische Inlandsgeheimdienst FSB nimmt in sieben mutmaßliche Mitglieder der Terrororganisation "Islamischer Staat" fest. Sie sollen einen Anschlag auf die Kasaner Kathedrale in St. Petersburg geplant haben. 17.12.2017 Der russische Präsident Wladimir Putin dankt seinem US-amerikanischen Amtskollegen Donald Trump für Informationen der US-Geheimdienste, die bei der Aufdeckung von Anschlagsplänen in St. Petersburg geholfen haben sollen. 18.12.2017 Das Außenministerium der Republik Moldau zieht seinen Botschafter Andrei Neguţa für unbestimmte Zeit aus Russland ab. Als Grund wird eine zunehmende Verfolgung und Einschüchterung von Politikern und offiziellen Vertretern aus Moldau durch russische Behörden genannt. Der moldauische Präsident Igor Dodon bezeichnet die Entscheidung als "Provokation der pro-europäischen Regierung" Moldaus. 18.12.2017 Im Alter von 71 Jahren stirbt der Historiker und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation"Memorial International", Arsenij Roginskij. Er hat die Arbeit der Organisation zur Aufarbeitung des Stalinismus und zum Gedenken an dessen Opfer entscheidend mitgeprägt. 20.12.2017 Die USA verhängen Sanktionen gegen das Oberhaupt der Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow. Kadyrow sei für außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und andere schwerwiegende Verstöße gegen Menschenrechte verantwortlich, heißt es in einer Mitteilung des US-Finanzministeriums. 22.12.2017 Das Zentralkomitee der"Kommunistischen Partei der Russischen Föderation" (KPRF) ernennt den Agrarunternehmer Pawel Grudinin zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Der parteilose Grudinin war bis 2010 Mitglied von "Einiges Russland" und ist seit 1997 Direktor der Lenin-Sowchose im Moskauer Gebiet. 22.12.2017 Die Partei"Jabloko" nominiert Grigorij Jawlinskij als Kandidaten bei den russischen Präsidentschaftswahlen im März 2018. Jawlinskij wird damit zum vierten Mal bei Präsidentschaftswahlen antreten. 24.12.2017 Alexej Nawalnyj wird in Moskau von einer Initiativgruppe als Präsidentschaftskandidat gekürt. Die Zentrale Wahlkommission hatte zuvor jedoch mehrfach betont, dass Nawalnyj aufgrund einer Vorstrafe nicht zu den Wahlen zugelassen werde. 24.12.2017 Die Partei"Gerechtes Russland" teilt mit, bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen keinen eigenen Kandidaten aufstellen zu wollen. Stattdessen werde man die Kandidatur Wladimir Putins unterstützen, so der Parteivorsitzende Sergej Mironow. 24.12.2017 Das Oberhaupt der Republik Tschetschenien Ramsan Kadyrow teilt mit, dass Väterchen Frost erstmals in Tschetschenien erschienen sei und ihn zum Helfer für die gute Sache ernannt habe. 25.12.2017 Der Gouverneur des Gebiets Woronesch, Alexej Gordejew, wird auf eigenen Wunsch von seinem Amt entbunden. Zum kommissarischen Nachfolger wird Aleksandr Gusew ernannt. Gordejew wird zum Vertreter des Präsidenten im Zentralen Föderalbezirk ernannt. Auch im Föderationskreis Nordwest wird mit Alexander Beglow ein neuer Vertreter des Präsidenten bestimmt. 25.12.2017 Beim Unfall eines Linienbusses in Moskau sterben vier Menschen, bis zu 15 Personen werden verletzt. Der Bus war in eine Fußgängerunterführung gefahren. 25.12.2017 Die Zentrale Wahlkommission verweigert Alexej Nawalnyj die Zulassung zu den Präsidentschaftswahlen 2018, da ihm das passive Wahlrecht fehle. 25.12.2017 Im Zusammenhang mit der Doping-Krise im russischen Sport lässt der russische Vizepremier Witalij Mutko sein Amt als Präsident des Russischen Fußballverbands für ein halbes Jahr ruhen. 26.12.2017 Eine Initiativgruppe von Wahlunterstützern nominiert Wladimir Putin als Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im März 2018. 26.12.2017 Mit 92 Jahren stirbt der russische Komponist Wladimir Schainskij in den USA. Seit 1969 hatte Schainskij mit seinen Kinderliedern für sowjetische Trickfilme Bekanntheit im In- und Ausland erlangt. Er schrieb u. a. das Lied des Krokodils Gena. 27.12.2017 Vizepremier Witalij Mutko legt sein Amt als Vorsitzender des Organisationskomitees der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 nieder. Er wird allerdings weiter an der Vorbereitung des Turniers beteiligt sein. 27.12.2017 Bei einer Explosion in einem St. Petersburger Supermarkt werden 13 Menschen verletzt. Russlands Präsident Wladimir Putin stuft dies einen Tag später als Terroranschlag ein. 29.12.2017 Zum 1. Januar 2018 steigt der Mindestlohn in Russland auf 9.489 Rubel und wird damit an das offizielle Existenzminimum angeglichen. Ein entsprechendes Gesetz wird von Präsident Wladimir Putin unterzeichnet. 29.12.2017 Ein Moskauer Gericht verurteilt den Finanzinvestor Bill Browder in Abwesenheit zu neun Jahren Haft. Browder sei des vorsätzlichen Bankrotts und der Steuerhinterziehung schuldig. Der Manager war Mandant des Steueranwalts Sergej Magnitskij. Dieser hatte eine Steuerbetrugsaffäre aufgedeckt, war daraufhin aber selbst verhaftet worden und 2009 in einem Moskauer Gefängnis unter ungeklärten Umständen. Browder hatte intensiv versucht, eine Aufklärung von Magnitskijs Tod zu erreichen. 29.12.2017 Präsident Wladimir Putin unterzeichnet ein Gesetz über eine Steueramnestie. Sie betrifft geschuldete Vermögensteuern natürlicher Personen, die bis 1. 1. 2015 aufgelaufen waren, sowie die Steuerschulden von Einzelunternehmern mit Stand vom 1.1. 2015. 30.12.2017 Der russische Inlandsgeheimdienst FSB nimmt den mutmaßlichen Täter des Bombenattentats in einem St. Petersburger Supermarkt fest. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax handelt es sich um einen russischen Staatsbürger mit nationalistischen Ansichten. 30.12.2017 Wegen anonymer Bombendrohungen werden die Flughäfen in Nischnij Nowgorod und Krasnojarsk evakuiert. Auch Einkaufszentren in Nischnij Nowgorod, Woronesch, Rostow am Don und Wolgograd müssen deshalb geräumt werden. 02.01.2018 Die Zentrale Wahlkommission erlaubt drei weiteren Kandidaten für das Präsidentenamt, mit ihrem Wahlkampf zu beginnen. Das Registrierungsverfahren endet am 12.01. für Parteikandidaten und bereits am 07.01. für parteilose Kandidaten. Zurzeit gibt es 64 Kandidaten – 43 davon sind parteilos. 03.01.2018 Das Verteidigungsministerium meldet, dass am 31.12. ein russischer Militärhubschrauber vom Typ Mi-24 in Syrien abgestürzt sei. Bei dem Unglück starben beide Piloten, ein drittes Besatzungsmitglied wurde gerettet. Als Ursache wird ein technischer Defekt angegeben. Einen Beschuss vom Boden habe es nicht gegeben. 03.01.2018 Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj legt Beschwerde beim Obersten Gerichtshof ein, nachdem dieser am 30.12.2017 die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission, ihn nicht zu den Präsidentschaftswahlen im März zuzulassen, gebilligt hat. 03.01.2018 Lettland verweist den Reporter des staatlichen Fernsehkanals TWZ, Anatolij Kurlajew, außer Landes. Eine offizielle Begründung erfolgt nicht. Kurlajew wurde auf einer Privatreise von den lettischen Behörden festgenommen. Er selbst erklärt sich die Ausweisung mit seiner Arbeit an dem Film "NATO u worot" (dt. "Die NATO vor dem Tor") im Jahr 2015. 04.01.2018 Das Verteidigungsministerium meldet, dass am 31.12.2017 auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt Hmeimim in Syrien zwei russische Soldaten durch Beschuss ums Leben gekommen seien. Über das Ausmaß des Angriffs gibt es unterschiedliche Angaben. Die unabhängige Tageszeitung "Kommersant" berichtet beispielsweise, dass bei dem Angriff auch sieben russische Flugzeuge zerstört wurden.Dies wies das Ministerium zurück. 04.01.2018 Wladimir Putin hebt per Präsidialdekret die Reisebeschränkungen für Ägypten auf. 04.01.2018 Vizepremierminister Witalij Mutko legt offiziell sein Amt als Leiter des Organisationskomitees der WM 2018 nieder. Er hatte am 25.12.2017 seinen Rücktritt erklärt. Vorausgegangen war die Entscheidung des IOC, russische Athleten von den Olympischen Winterspielen 2018 auszuschließen, die auch mit einer lebenslangen Sperre Mutkos verbunden ist. Sein Nachfolger wird Alexander Sorokin. Er ist gleichzeitig Generalsekretär des WM-Organisationskomitees. 05.01.2018 Heute beginnt die landesweite Sammlung von Unterschriften für die Nominierung Wladimir Putins als Präsidentschaftskandidat für die Wahl im März. Wladimir Putin hatte am 06.12.2017 seine Kandidatur erklärt. Da er als parteiloser Kandidat ins Rennen geht, muss er für die Zulassung zur Wahl bis zum 31.01. 300.000 Unterschriften aus mindestens 40 Regionensammeln. 05.01.2018 Maria Sacharowa, Sprecherin des Außenministeriums der Russischen Föderation, fordert Arlem Desiu, den OSZE-Beauftragten für Pressefreiheit, auf, zur Ausweisung russischer Journalisten aus Lettland Stellung zu beziehen. Am 03.01. war Anatolij Kurlajew, Reporter des staatlichen Fernsehkanals TWZ, ohne Angabe von Gründen außer Landes verwiesen worden. 06.01.2018 Das russische Verteidigungsministerium meldet, dass es in der Nacht vom 05. auf den 06.01. zu weiteren Angriffen auf den russischen Luftwaffenstützpunkt Hmeimim und den Marinestützpunkt Tartus in Syrien gekommen sei. Der Angriff sei mit zehn mit Sprengstoff bestückten Drohnen ausgeführt worden, sieben davon wären abgeschossen worden. Wer Urheber dieser Angriffe ist, bleibt zunächst ungeklärt. 06.01.2018 Am Moskauer Flughafen Domodedowo geht erneut eine Bombendrohung ein. Diese bestätigte sich nach Ermittlungen des Katastrophenschutzes nicht. Am 31.12.2017 hatte Präsident Wladimir Putin ein Gesetz unterzeichnet, dass Haftstrafen von bis zu zehn Jahren für "Telefonterrorismus" vorsieht. 06.01.2018 Der Oberste Gerichtshof weist die Beschwerde des Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj zurück und bestätigt damit nochmals die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission als rechtmäßig, ihn wegen einer Bewährungsstrafe nicht als Präsidentschaftskandidaten zuzulassen. Das umstrittene Urteil war im Februar 2017 im sogenannten Kirowles-Prozess gefallen. Nawalnyj und seinem jüngeren Bruder Oleg wurde darin Veruntreuung vorgeworfen. Nawalnyjs Wahlkampfstab kündigt unterdessen an, Beschwerde beim Verfassungsgericht der Russischen Föderation einzulegen. 08.01.2018 US-Sicherheitsberater Herbert McMaster weist auf frühe Anzeichen einer Einmischung Russlands in die im Juli stattfindenden mexikanischen Präsidentschaftswahlen hin. In den USA läuft derzeit eine Untersuchung wegen einer angeblichen Einmischung Russlands in den Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2016. 08.01.2018 Im Handelsstreit zwischen Russland und der EU will das Wirtschaftsministerium der Russischen Föderation nun das Schiedsgericht der WTO anrufen. Grund für den Streit ist eine Forderung der EU an Russland, rund 1,4 Milliarden Euro Schadensersatz zu zahlen. Russland hatte im Januar 2014 einen Importstopp für Schweine aus Polen und Litauen ausgerufen und dies mit dem Ausbruch der Schweinepestbegründet. Als Reaktion auf die von der EU aufgrund der Angliederung der Krim im März 2014 verhängten Sanktionen blieb dieses Importverbot jedoch bestehen und wurde auf die gesamt EU ausgeweitet. 2016 hatte die WTO dies als illegal eingestuft. 08.01.2018 Die britische Marine fängt mehrere russische Kriegsschiffe vor der britischen Küste im Ärmelkanal ab und begleitet sie in französische Gewässer. Die verstärkte Präsenz russischer Schiffe in britischen Hoheitsgewässern sei vermutlich eine Folge des Abzugs aus dem russischen Marinestützpunkt in Syrien, so die deutsche Tageszeitung "Die Welt". 09.01.2018 Die staatliche Agraraufsichtsbehörde Rosselchosnadsor gibt bekannt, dass seit dem Inkrafttreten der Einfuhrverbote für westliche Lebensmittel im August 2015 19.000 Tonnen illegal eingeführter Lebensmittel vernichtet wurden. Das Einfuhrverbot geht auf einen Präsidentenerlass als Reaktion auf die westlichen Sanktionen gegen Russland aufgrund der Angliederung der Krim zurück. Zuletzt hatte Präsident Wladimir Putin das Embargo bis Ende 2018 verlängert. Es ist auch Auslöser für den Handelsstreit zwischen Russland und der EU, der derzeit vor der WTO ausgetragen wird. 09.01.2018 In Grosny wird der Leiter des Regionalbüros der Menschenrechtsorganisation "Memorial", Ojub Titijew, festgenommen. Er verbleibt unter dem Vorwurf des Drogenbesitzes in Haft. 10.01.2018 Ein Moskauer Schiedsgericht weist die Klage der russischen Siemens-Tochtergesellschaft"Siemens Gasturbinen-Technologie" auf Rückgabe der von ihnen laut Vertrag für eine Nutzung auf der südrussischen Halbinsel Taman gelieferten Turbinen ab. "Siemens Gasturbinen-Technologie" hatte die Firma "Technopromexport" auf rechtswidrigen Besitz der Turbinen verklagt, nachdem die gelieferten Turbinen im Juli 2017 auf der Krim aufgetaucht waren und damit gegen das seit 2015 bestehende Embargo verstießen. 11.01.2018 Das staatliche Umfrageinstitut WZIOM meldet, dass die Zufriedenheitswerte mit Präsident Wladimir Putin im Dezember im Schnitt bei 83,6 Prozent lagen. Das sogenannte "Präsidentenrating" wird regelmäßig in repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage "Stimmen Sie der Tätigkeit von XY als Präsident der Russischen Föderation zu?" gemessen. 12.01.2018 Ojub Titijew, Leiter des Regionalbüros der Menschenrechtsorganisation "Memorial" in Grosny, legt Berufung gegen seine Untersuchungshaft ein. Er war am 09.01. festgenommen worden. 14.01.2018 Die Familie des in Tschetschenien inhaftierten Leiters des dortigen Regionalbüro der Menschenrechtsorganisation "Memorial", Ojub Titjew, verlässt aus Sicherheitsgründen die Republik. Dies teilt der Anwalt der Familie, Pjotr Saikin, mit. Sie können die gesamte Chronik seit 1964 auch auf Externer Link: www.laender-analysen.de lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-01-19T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-347/263212/chronik-15-dezember-2017-14-januar-2018/
Die Ereignisse vom 15. Dezember 2017 bis zum 14. Januar 2018 in der Chronik.
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Bildungspolitische Umbrüche in der Türkei | Türkei | bpb.de
Die türkische Bildungspolitik ist eng mit der Gründungsgeschichte und den Modernisierungsprozessen der Türkei verbunden. Wesentlichen Merkmale der türkischen Bildungspolitik gehen dabei zurück auf die Gründungsphase der Republik Türkei und ihre Vorgeschichte, das Osmanische Reich. Sie ist zudem eng verschränkt mit den Transformationsprozessen der Kulturlandschaft und der politischen Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahr 1923, also noch im Jahr der Gründung der Republik Türkei, wollte der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) die landesweit hohe Analphabetismusquote bekämpfen und die strukturelle Bevorzugung von Jungen im Bildungssystem abschaffen. Sein Leitsatz war, dass ein modernes Land es sich nicht leisten könne, Mädchen von Schule und Bildung auszuschließen. Gleichzeitig wurden konfessionelle Bildungseinrichtungen geschlossen. Parallele Schulsysteme und die Verfestigung von Bildungseliten wurden nicht weiter geduldet. Historische Hintergründe Zu den größten Vorhaben des Staatsgründers Atatürk zählte die sogenannte kemalistische Kulturrevolution, die in kürzester Zeit einen modernen Nationalstaat schaffen sollte. Eines der einflussreichsten und kontrovers diskutierten Narrative, ausgehend von der Gründung der Republik Türkei, ist die Behauptung, der staatliche, moderne Schulsektor sei erst durch die kemalistische Kulturrevolution ermöglicht worden, dass durch sie allein die Modernisierung ihren Anfang und ihre Vollendung gefunden hätte. Das ist, wie im folgenden Verlauf noch zu zeigen sein wird, nur bedingt richtig. Das neue Staatsprojekt adressierte alle Lebensbereiche der damals rund 13 Millionen Menschen in der Türkei (im Jahr 2020 zählt die Türkei etwa 83 Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger). Sowohl die Etablierung der lateinischen Schrift als auch die damit verbundene landesweite Alphabetisierungskampagne und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht gehörten zu dem täglich sichtbaren Teil dieses Umbruchs. Ziel war der Aufbau eines modernen türkischen Nationalstaates, der an Europa anschlussfähig sein sollte und dessen Bevölkerung aus fortschrittlich und solidarisch gesinnten Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern bestehen sollte. Knapp skizziert, war zuvor das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert durch zwei Segmente im Bildungssystem gekennzeichnet: Zum einen durch so genannte formale Bildungsinstitutionen, die in ein staatliches und in ein religiös orientiertes Schulwesen unterteilt waren. Zum anderen gabe es militärische Bildungsinstitutionen, die allein Jungen vorbehalten waren. Das staatliche Schulwesen beinhaltete die Grundschule, in denen Kinder im Alter von fünf bis sechs Jahren, also insgesamt vier Jahre lang, unterrichtet wurden. Ihnen wurde das Lesen und Schreiben sowie osmanisches Türkisch als auch die Rezitation des Korans beigebraucht. Mädchen und Jungen wurden geschlechtergetrennt unterrichtet, wobei mehr Jungen als Mädchen am Schulunterricht teilnahmen. Eine allgemeine und verbindliche Schulpflicht existierte im 18. und 19. Jahrhundert des Osmanisches Reiches noch nicht. Daneben gab es weiterführende religiös orientierte Schulen, die medrese, die wiederum in staatliche als auch private Schulen unterteilt waren. In den medrese wurden verschiedene Bereiche unterrichtet, Schwerpunkte waren u.a. der Islam, die Geschichte des Islams sowie naturwissenschaftliche, scholastische und medizinisch ausgerichtete Fächer. Die militärischen Schulen dienten zur Ausbildung der zukünftigen Soldaten im Osmanischen Reich. In diesen Schulen unterrichteten ausschließlich Angehörige des Militärs (Gemici: 2019). Mit der Gründung der Republik Türkei (1923) sollte die Idee der Gleichberechtigung über den Bildungsweg erfolgen, indem die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde: Kein Kind sollte aufgrund seiner sozialen Herkunft, seiner Religionszugehörigkeit, seiner ethnischen Herkunft oder seines Geschlechts von der staatlichen Schulbildung ausgeschlossen werden. Eines der wesentlichen Merkmale dieser Prozesse war die Zurückdrängung der Religion, des Islams, als öffentliches, soziales und politisches Bindeglied. Ein nach wie vor hartnäckiges Rechtfertigungsargument für die rigorose Verdrängung und Auflösung religiöser Institutionen (insbesondere die Verdrängung islamischer Symbole sowie die Schließung von Orten mystischer Heiligenverehrung) fußt auf der Behauptung, Atatürk sei Atheist gewesen und habe eine Aversion gegenüber dem Islam als Religion gehabt. Diese Argumentation wird aus religionskritischen Zitaten Atatürks, seinem säkularen Habitus, der Idee des Laizismus, die mit der Trennung von Religion und Staat einhergeht und seinem persönlichen Lebensstil abgeleitet. Diese Darstellung wird jedoch in der Türkei seit je her kontrovers diskutiert. Nicht weniger wichtig ist in diesem Zusammenhang aber Atatürks, für seine Zeit fortschrittliche, Sicht auf das Prinzip der Staatsbürgerschaft. Hier verfolgte er das sogenannte Geburtsortsprinzip (ius soli): Anders als noch zuvor im Millet-System (siehe Info-Kasten), galt jede in den neuen Staatsgrenzen geborene Person, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, als Türkin oder Türke (Belge 2001: 30–35). An die Stelle der Religion als Bindeglied der Gesellschaft im Osmansichen Reich trat nun die Nationalstaatlichkeit und somit die türkische Staatsbürgerschaft in den Mittelpunkt der identitätsstiftenden Merkmale. Darin liegt einer der größten Brüche zwischen der Gründung der Republik Türkei und dem Osmanischen Reich. InfoMillet-System Das Millet-System war ein fester Bestandteil im Osmanischen Reich, welches sowohl verwaltungsrechtliche als auch religionsrechtliche Bedeutung hatte. Millet war die Bezeichnung für die Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich. Der Begriff stammt vom arabischen Begriff milla ab, was Religion bedeutet. Auf der Basis des islamischen Rechts im Osmanischen Reich konnten die Religionsgemeinschaften im Rahmen einer Selbstverwaltung ihre religiösen Praktiken ausüben. Dazu gehörten beispielsweise Eheschließungen, Gottesdienste, das Zelebrieren von religiösen Feiertagen oder andere rechtliche Aspekte wie zum Beispiel das Erbrecht oder Bestattungsrituale. Die Voraussetzung für das Millet-System war, dass sich die Menschen vorrangig über ihre Religion identifizierten und nicht etwa über ethnische oder nationale Zugehörigkeiten. Zugleich wurde den betroffenen Menschen ein Schutzstatus eingeräumt: Sie wurden als dhimmi bezeichnet. Dieses Konzept betraf Nicht-Musliminnen und Nicht-Muslime (vornehmlich Gläubige von schriftlich festgehaltenen Offenbarungsreligionen) unter islamischem Recht. Dieser Schutzstatus ermöglichte es ihnen, ihre Religion auszuüben, wenn sie eine entsprechende Steuer entrichteten , was für die männlichen erwachsenen und gesunden Religionsangehörigen galt. Frauen, Kinder, Bettler und geistig beeinträchtige Menschen mussten keine ǧizya entrichten. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch lässt sich das Millet-System am besten als Minderheitenpolitik im Rahmen der Glaubens- und Religionsfreiheit übersetzen: Sowohl der Bau von Gotteshäusern als auch die religiöse Selbstverwaltung oblag den Religionsgemeinschaften. Das heißt, dass die Menschen auf den eroberten Gebieten im Osmanischen Reich nicht zur Konversion zum Islam gezwungen wurden. Allerdings waren ihre Freiheiten neben der zu leistenden Steuerzahlung zum Teil eingeschränkt: dhimmis durften keine höheren Verwaltungsämter – außer, sie konvertierter zum Islam - ausüben. Zudem gab es Restriktionen hinsichtlich der Bekleidungsvorschriften. Fußnoten cizye, arabisch; جزية, ǧizya, was als Kopfsteuer oder auch übersetzt wird; weitere Übersetzungen beziehen sich auf die damit einhergehende Wohltat und dem Schutz sowie der Schonung des Lebens der so genannten Schriftbesitzer. Bruchlinien im Übergang vom Osmanischen Reich zur Republik Erste Änderungen im osmanischen Bildungssystem hatte die Tanzimat-Periode (die Reformperiode zwischen 1839 und 1876) hervorgebracht. In dieser Zeit wurde bereits die Alphabetisierung aller Kinder und Jugendlichen geplant. Das bezog sowohl Mädchen als auch Jungen mit ein. Die Tanẓīmāt, abgeleitet aus dem arabischen Begriff niẓām (نِظَام) für "Anordnung", "Regelung" oder "Vorschrift", lässt sich am besten als Konsolidierungsvorhaben beschreiben. In dieser Zeit wurde die Modernisierung der sozialen und politischen Grundlagen des Osmanischen Herrschaftsraums verfolgt. Die Bildungspolitik befand sich in dieser Zeit in einem dynamischen Prozess: Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Mädchen und junge Frauen aus der bürgerlichen, wohlhabenden Oberschicht vermehrt auch von ausländischen Lehrkräften unterrichtet. Es etablierten sich verschiedene religiöse und säkulare Initiativen in und um Konstantinopel (dem heutigen Istanbul), die sich an Mädchen und Frauen richteten und die sich an einem bürgerlich gemäßigten Habitus orientierten. Eine kulturelle und politische Metropole wie Konstantinopel, bzw. Istanbul zeichnete sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine sich etablierende bürgerlich geprägte Bildungslandschaft aus. Armenische und jüdische Lehrkräfte spielten hierbei eine maßgebliche Rolle. Die Soziologin Arus Yumul und der Historiker Rıfat N. Bali weisen diesbezüglich darauf hin, dass sich vor allem im Konstantinopel, bzw. Istanbul des 19. Jahrhunderts in Kreisen der jüdischen und der armenisch-christlichen Bevölkerung eine breit angelegte Organisationsstruktur etabliert hatte. Diese besaß eigene konfessionell orientierte Bildungseinrichtungen, wie etwa Schulen und Stiftungen (wobei die Stiftungen sowohl konfessionelle als auch nicht-konfessionelle Ausrichtungen besaßen). Neben den bereits bestehenden konfessionell orientierten Schulen bildete sich auch ein säkular orientiertes Schulsystem aus.) Als weiteres Beispiel für den damit einhergehenden Säkularisierungsprozess im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert seien zudem auch die veränderten und individualisierten Eheanbahnungsprozesse genannt: Frauen und Männer inserierten in Heiratsannoncen ihre Eheabsichten (Toprak 2014: 50 -57). Der Historiker Zafer Toprak bezeichnet diese Annoncen in seinen Untersuchungen als alafranga (ebd.), also westeuropäisch. Toprak führt das auch auf den heterogenen hohen Anteil von Migranten und Migrantinnen in Konstantinopel, bzw. Istanbul zurück. Folglich trugen diese bereits früh zur Modernisierung der Metropole am Bosporus bei. Westorientierung und Modernisierung, beides später vor allem eng mit dem Namen des türkischen Staatsgründers verknüpft, spielten bereits im 19. Jahrhundert bei unterschiedlichen Intellektuellen und Bildungsträgern eine Rolle (Yumul/Bali 2001: 363 f.). Auch in Zentralanatolien, also außerhalb des modernen Konstantinopels, bzw. Istanbuls, wurden säkular orientierte Schulen insbesondere von der armenischen Minderheit gegründet. Die Angehörigen dieser zivilgesellschaftlichen und politischen Prozesse stammten aus unterschiedlichen Milieus und gehörten dem Bildungsbürgertum des ausgehenden Osmanischen Staates an. Sie waren eng in den Austausch mit Europa eingebunden – sei es durch eigens unternommene Reisen, durch Studienaufenthalte oder die Unterrichtskulturen europäischer Lehrkräfte. Kinder und Jugendliche im Fokus der Bildungspolitik Der politische Umsturz 1923 durch die Gründung der türkischen Republik hat in diesen Vorgeschichten eine seiner Ursprünge. Das gilt insbesondere für die Bildungspolitik und die bildungspolitischen Umbrüche in der Türkei. Atatürk rückte Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt des nationalstaatlichen Projekts. Zwei türkische Nationalfeiertage, der 23. April (Ulusal Egemenlik ve Coçuk Bayramı – Feiertag der Internationalen Volkssouveränität und des Kindes) und der 19. Mai, gehen konkret auf diese Rahmung zurück: Am 23. April 1920 wurde das türkische Parlament, die Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi, TBMM) gegründet. Mit dem 19. Mai wird zum einen an Atatürks Ankunft in Samsun im so bezeichneten "türkischen Befreiungskrieg" von 1919 bis 1923 gegen Großbritannien sowie griechische und armenische territoriale Interessensbestrebungen erinnert. Zum anderen wurde diese Tag zum Feiertag der Jugend und des Sports (Atatürk´ü Anma, Gençlik ve Spor Bayramı; Feiertag der Jugend, des Sports und an das Gedenken an Atatürk), als er das erste Mal am 19. Mai 1926 in Samsun zelebriert wurde und in seiner Gestaltung an die Eröffnungsfeierlichkeiten von Olympischen Spielen erinnerte. Beide Feiertage führen also unterschiedliche politische Ideen und Diskursstränge zusammen – und dieses durchaus mit Bezug zu ähnlichen Konstellationen im Sinne einer international wirksamen, postkolonialen Vision: Befreiung, Moderne, Volkssouveränität, Parlamentarismus, Jugend und nationaler Aufbau. Darüber hinaus erteilen diese Feiertage mittelbar Auskunft über Atatürks persönliche Einstellung gegenüber Kindern und Jugendlichen: Für ihn waren sie die Hoffnungsträgerinnen und -träger der Zukunft. Das mag auf den ersten Blick banal klingen, zumal die begrifflichen Kombinationen aus Kindern, Jugend und Zukunft zuweilen inflationär verwendet werden. In Anbetracht der Familiendynastie, auf der die Osmanische Regentschaft fußte, war diese neue gesellschaftspolitische Perspektive aber bedeutsam: Zum ersten Mal wurden alle Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer Ambitionen gestellt. Kritik Es gibt unterschiedliche Einschätzungen zu den Umsetzungen der bisher erläuterten Zielvorhaben in der jungen türkischen Republik. Kritikerinnen und Kritiker sprechen von einer Konstruktion der Stunde Null, die eng mit der Person des Politikers Mustafa Kemal Atatürk verwoben ist. Dadurch sei auf ihn allein die Modernisierung der Türkei zurückzuführen. Diese Sicht vernachlässige die bereits vorhandenen und früheren infrastrukturellen Bedingungen in der Bildungs-, Kultur- und Stiftungslandschaft für die Umsetzung des Modernisierungsvorhabens und haben daher zunächst keinen Eingang in die Gründungsnarrative gefunden. Politikum: Imam Hatip Schulen Ein besondere Schulform in der Türkei ist die "Imam-Hatip-Schule" (imam hatip liseleri – Imam-Hatip-Gymnasien). Zunächst waren sie als Ausbildungsschulen für die höhere Beamtenlaufbahn - für Religionsbeamte - konzipiert, und zwar mit Blick auf die im Jahr 1924 gegründete Religionsbehörde Diyanet. Das Ziel war es, "aufgeklärte Religionsbeamte" auszubilden. Diese Schulen wurden jedoch einige Jahre später (1929/1930) wegen zu geringer Schülerzahlen geschlossen. Erst ab dem Jahr 1949 wurden sie für (männliche) Schüler wieder geöffnet, die sich als Absolventen der Mittelschule in zehnmonatigen İmam-Hatip-Kursen zu Vorbetern und Predigern ausbilden lassen konnten. Der Schwerpunkt der damaligen Imam-Hatip-Schulen lag in der religiösen Ausbildung und Wissensvermittlung. Im Jahr 1951, im Rahmen der Reformen des damaligen konservativen Ministerpräsidenten Adnan Menderes (DP: Demokrat Parti/Demokratische Partei), wurden sie als vollwertige Schulen wieder gegründet. Diese Wiedereröffnung ging mit einer Wiederherstellung religiöser Sichtbarkeiten in der Öffentlichkeit einher: So wurde etwa der Gebetsruf (Türkisch "ezan") ab dem 16. Juni 1950 erstmals wieder auf Arabisch anstelle von Türkisch gesprochen, was bislang verboten war. Die Mittelstufe der Imam-Hatip-Schulen wurde im Zuge dieser Reformen zudem um die Oberstufe erweitert, so dass das Abitur und ein Hochschulstudium angestrebt werden konnten. In den darauffolgenden nächsten zwei Jahrzehnte erfuhren die Imam-Hatip-Schulen sowohl einen größeren Zulauf als auch eine breitere Unterstützung durch die amtierenden Regierungen. Nach dem Militätputsch im Jahr 1971 erfolgte eine Zäsur, indem die Sekundarstufen an den Imam-Hatip-Schulen geschlossen wurden und den Absolventinnen und Absolventen die Zugangsberechtigung zur Hochschule abgesprochen wurde. Die Wiedereröffnung erfolgte im Jahr 1974. Im Jahr 1976 wurden die Imam-Hatip-Schulen nach einer erfolgreichen Klage betroffener Eltern auch für Mädchen geöffnet. Auch in den folgenden Jahren rissen die Kontroversen um diese Schulform nicht ab. Im Jahr 1997 erfolgte eine weitere Zäsur: Der so genannte "sanfte" Militärputsch gegen die Regierung des damals amtierenden islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan (Refah Partisi, Wohlfahrtspartei) führte zur Abschaffung der Sekundarstufe in den Imam-Hatip-Schulen, was ihre Bedeutung deutlich schmälerte. Mit der Schulreform der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan (AKP) im Jahr 2012/2013 wurde die Sekundarstufe nun wieder eingeführt. Dienten die Imam-Hatip-Schulen bis vor wenigen Jahren "nur" der Imamausbildung, erfuhren sie beginnend mit dem Schuljahr 2012/2013 eine Aufwertung. Zudem ist der Besuch einer Imam-Hatip-Schule seitdem schon ab der Mittelstufe (Türkisch "orta okul") möglich. Sie wurden durchlässiger, da sie nun auch für die Sekundarstufe I geöffnet (obere Mittelstufe) wurden. Die Transformation der Imam-Hatip-Schulen, als Beispiel besonders religiös orientierten Schulen, steht für ideologische Konjunkturen in der Türkei (Tanrıkulu/Uçar: 2019, 20-21). Insgesamt dauern die Diskussionen um Eingriffe in diese Schulform bis heute an, zumal über die generelle Qualität der Imam-Hatip-Schulen Uneinigkeit besteht. Befürworterinnen und Befürworter loben die hochwertige strukturelle Ausstattung der Schulen. Kritikerinnen und Kritiker hingegen zweifeln an der Qualität des Unterrichts, da lediglich 38 Prozent (im Jahr 2018) der Schülerinnen und Schüler die Zulassung für ein Hochschulstudium erreichten (damit ist nicht das Abitur gemeint, sondern die erfolgreiche Teilnahme an der zentralen Prüfung für die Zulassung an eine Hochschule). Eine weitere Kritik wird dahingehend formuliert, dass durch eine Aufwertung der Imam-Hatip-Schulen religiöse Indoktrination zunehmen könnte. Angesichts der schlechten Ausstattung an den staatlichen Schulen, fungierten die Kontroversen über die Imam-Hatip-Schulen zuweilen als Stellvertreterdebatten über das Bildungssystem an sich. Trotz aller Kritik bilden die Imam-Hatip-Schulen heute eine eigene, wichtige, wenn auch nach wie vor umstrittene Schulform. Zusammenfassung Die Bildungspolitik war einer der wichtigsten Bestandteile im Modernisierungsprozess während der Gründung der Türkischen Republik. Die Grundlagen für die Neujustierungen in der Bildungs- und Kulturlandschaft fußten auf den bereits bestehenden strukturellen Veränderungsprozessen des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende. Ein wesentlicher Schritt war dabei die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und die Vereinheitlichung des Schulwesens: Parallel auftretende Schulformen wurden zunächst verboten und erfuhren erst mit der Einführung des Mehrparteiensystems ab dem Jahr 1949 eine Aufwertung. Die Diskussionen um die Ausrichtungen sowie Effekte dieser Schulformen, zu denen auch die Imam-Hatip-Schulen und bis vor kurzem die Schulen und Bildungseinrichtungen der Gülen-Bewegung dazugehörten, dauern weiterhin an. Das Millet-System war ein fester Bestandteil im Osmanischen Reich, welches sowohl verwaltungsrechtliche als auch religionsrechtliche Bedeutung hatte. Millet war die Bezeichnung für die Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich. Der Begriff stammt vom arabischen Begriff milla ab, was Religion bedeutet. Auf der Basis des islamischen Rechts im Osmanischen Reich konnten die Religionsgemeinschaften im Rahmen einer Selbstverwaltung ihre religiösen Praktiken ausüben. Dazu gehörten beispielsweise Eheschließungen, Gottesdienste, das Zelebrieren von religiösen Feiertagen oder andere rechtliche Aspekte wie zum Beispiel das Erbrecht oder Bestattungsrituale. Die Voraussetzung für das Millet-System war, dass sich die Menschen vorrangig über ihre Religion identifizierten und nicht etwa über ethnische oder nationale Zugehörigkeiten. Zugleich wurde den betroffenen Menschen ein Schutzstatus eingeräumt: Sie wurden als dhimmi bezeichnet. Dieses Konzept betraf Nicht-Musliminnen und Nicht-Muslime (vornehmlich Gläubige von schriftlich festgehaltenen Offenbarungsreligionen) unter islamischem Recht. Dieser Schutzstatus ermöglichte es ihnen, ihre Religion auszuüben, wenn sie eine entsprechende Steuer entrichteten , was für die männlichen erwachsenen und gesunden Religionsangehörigen galt. Frauen, Kinder, Bettler und geistig beeinträchtige Menschen mussten keine ǧizya entrichten. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch lässt sich das Millet-System am besten als Minderheitenpolitik im Rahmen der Glaubens- und Religionsfreiheit übersetzen: Sowohl der Bau von Gotteshäusern als auch die religiöse Selbstverwaltung oblag den Religionsgemeinschaften. Das heißt, dass die Menschen auf den eroberten Gebieten im Osmanischen Reich nicht zur Konversion zum Islam gezwungen wurden. Allerdings waren ihre Freiheiten neben der zu leistenden Steuerzahlung zum Teil eingeschränkt: dhimmis durften keine höheren Verwaltungsämter – außer, sie konvertierter zum Islam - ausüben. Zudem gab es Restriktionen hinsichtlich der Bekleidungsvorschriften. Fußnoten cizye, arabisch; جزية, ǧizya, was als Kopfsteuer oder auch übersetzt wird; weitere Übersetzungen beziehen sich auf die damit einhergehende Wohltat und dem Schutz sowie der Schonung des Lebens der so genannten Schriftbesitzer. cizye, arabisch; جزية, ǧizya, was als Kopfsteuer oder auch übersetzt wird; weitere Übersetzungen beziehen sich auf die damit einhergehende Wohltat und dem Schutz sowie der Schonung des Lebens der so genannten Schriftbesitzer. Siehe dazu: Günay, Cengiz (2012): Geschichte der Türkei. Von den Anfängen der Moderne bis heute. Wien. UTB. 154–170. Fığlalı, Ethem Ruhi (1993): Atatürk and the Religion of Islam. Atatürk Araştırma Merkezi Dergisi, Sayı 26, Cilt: IX. Kuyaş, Ahmet (Hg.) (2002): Berkes, Niyazi: Türkiye’de Cağdaşlaşma. Istanbul: Yapı Kredi Yayınları, 229-244. Zafer: Türkiye’de kadın özgürlüğü ve feminizm (1908 – 1935), Istanbul, 153 – 202. Yumul, Arus/Bali, Rıfat N.: Ermeni ve Yahudi Cemmatlerinde Siyasal Düşünceler, in: Tanil, Bora/Gültengil, Murat (Hg.): Cumhuriyet’e Devreden Düşünce Mirası. Tanzimat ve Mesrutiyet’in Birikimi, Iletisim Yayincilik, 2001, 362 – 363. Als gesichert darf laut Yumul und Bali indes gelten, dass die hohe Dynamik in der türkischen Bildungslandschaft durch den Einfluss des westeuropäischen politischen und gesellschaftlichen Liberalismus verstärkt wurde. (An dieser Stelle sei angemerkt, dass es zwischen diesen Prozessen und der Etablierung bildungsbürgerlicher Ideale und bekenntnisfreier Schulen in Deutschland zu Zeiten der Weimarer Republik sehr interessante Parallelen gab; hier müsste noch einmal vertieft auf die damals in Berlin lebende türkische Diaspora geblickt werden. Akşin, Sina (2009): Atatürk Devrimin Felsefesi; Externer Link: https://bilimveutopya.com.tr/index.php/ataturk-devriminin-felsefesi; zuletzt geöffnet am 21.06.2020). Er folgte damit ähnlichen republikanischen und ursprünglich antikolonialen Narrativen anderer großer islamischer Gebiete, etwa etwa Indonesien. Siehe dazu: Externer Link: https://www.cnnturk.com/yasam/ataturkun-cocuklarla-ilgili-soyledigi-sozler?page=1; zuletzt geöffnet am 21. Juni 2020; die hier genannten Zitate stammen von Mustafa Kemal Atatürk, die er an die Kinder und Jugendlichen adressiert, Anm. d. Verf.). Hangi hükümet döneminde kaç tane İmam Hatip açıldı: Externer Link: https://odatv4.com/hangi-hukumet-doneminde-kac-tane-acildi-0301131200.html, 03.01.2013; zuletzt geöffnet am 20. Juli 2020. Karakaş, Burcu: İmam hatip okullarının sayısı kadar başarısı da artıyor mu?: https://www.dw.com/tr/imam-hatip-okullarının-sayısı-kadar-başarısı-da-artıyor-mu/a-49904849, 06.08.2019; zuletzt geöffnet am 20.07.2020.
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Bundeszentrale für politische Bildung
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"2020-09-09T00:00:00"
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https://www.bpb.de/themen/europa/tuerkei/315182/bildungspolitische-umbrueche-in-der-tuerkei/
Die türkische Bildungspolitik ist eng mit der Gründungsgeschichte und den Modernisierungsprozessen der Türkei verbunden. Wesentlichen Merkmale der türkischen Bildungspolitik gehen dabei zurück auf die Gründungsphase der Republik Türkei und ihre Vorg
[ "Bildung", "Bildungspolitik", "Türkei", "Osmanisches Reich", "Mustafa Kemal Atatürk", "Bildungsreform", "Analphabetenrate", "Schulpflicht", "Kemalismus" ]
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Sachanalyse: Mobbing | Mobbing – bei uns nicht?! | bpb.de
Mobbing und Gewalt an Schulen – Relevante Befunde Zwei Jahre lang war Johnny, ein stiller 13-Jähriger, für einige seiner Klassenkameraden ein menschliches Spielzeug. Die Teenager setzten Johnny zu, um an sein Geld zu kommen, sie zwangen ihn, Unkraut zu schlucken und Milch, die mit Waschmittel vermengt war, zu trinken. Sie verprügelten ihn in den Toiletten und legten ihm einen Strick um den Hals, mit dem sie ihn wie ein "Tier an der Leine" herumführten. (Aus: Olweus, D.: Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollten – und tun können. Bern: Huber, 4. Auflage 2006). Jeder kann in einer Gemeinschaft Opfer von Mobbingattacken werden. Daher sollte jede Gemeinschaft dafür sorgen, dass Ansätze von Mobbing frühzeitig entdeckt und verhindert werden. Ein Schüler, der in der Schule gemobbt wird, sollte frühzeitig persönliche Unterstützung erfahren, denn Mobbing schädigt die Psyche des einzelnen, zerstört soziale Beziehungen in der Klasse und schadet dem Ruf der Schule, wenn Mobbingereignisse publik werden. Leider ist die Wahrscheinlichkeit der frühen Hilfe durch professionelle Lehrkräfte jedoch gering, weil die Mobber ihr "Spiel" im Verborgenen treiben, die Gemobbten selbst selten die Kraft zur Gegenwehr besitzen und Lehrpersonen nicht immer über die wünschenswerte Sensibilität für Mobbingvorgänge verfügen, um dann frühzeitig eingreifen zu können. Wenn es daher gelänge, in der Schule ein Frühwarnsystem aufzubauen und auf diese Weise schon im Ansatz erste Mobbingversuche zu erkennen und zu verhindern, könnte diesem schleichenden Gift frühzeitig und wirksam begegnet werden. Die Schule sollte daher nicht erst warten, bis ein "Anfangsverdacht" entsteht, sondern unabhängig vom Einzelfall zu bestimmten Zeitpunkten in ausgesuchten Jahrgangsstufen eine Befragung zu diesem Thema durchführen. So wird das Thema aufgegriffen, jeder Schüler hat die Chance, seine Wahrnehmung und Betroffenheit anonym zu artikulieren, (potentiellen) Mobbern wird klar gemacht, dass ihre Aktivitäten nicht weiterhin verborgen bleiben und die Mehrheit der "Zuschauer" sieht wie wichtig es ist, die passive Haltung zu überwinden und Solidarität mit den Unterdrückten zu zeigen. Mobbingversuchen sollte in der Schule der Nährboden entzogen werden. Relevante Befunde Innerhalb der Schule nehmen in den letzten Jahren schwere physische Gewaltanwendungen (wie Übergriffe gegen Personen mit Verletzungsfolgen und Sachbeschädigung) zwar ab (vgl. Raufunfallstatistik des Bundesverbandes der Unfallkassen und polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes – PKS), aber psychische Gewalt verbaler wie nonverbaler Art - zu der auch das Mobbing gehört - nimmt zu. Physische Gewalt ist zudem in hohem Maße schulformabhängig. An Hauptschulen kommen aggressionsbedingte Unfälle mit 32,8 pro 1000 Schüler fast dreimal so häufig vor wie im Schnitt an anderen Schule (vgl. Jannan 2008, S. 17). Die Häufigkeit einer Gewaltform nimmt mit der Schwere ab. Das heißt: Schubsereien auf dem Schulhof kommen häufiger vor, selten dagegen schwere Prügeleien. Dabei gibt es keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulformen. Beachten sollte man ferner: Jungen sind mit durchschnittlich 15,3 raufbedingten Unfällen pro 1000 Schüler mehr als doppelt so stark beteiligt wie die Mädchen mit 7,1 Unfällen pro 1000 Schülerinnen (vgl. Seyboth-Tesmer 2006). Sicherlich spielt auch der Standort eine wichtige Rolle bei der Identifikation von Gewaltpotential. Schulen in sozialen Brennpunkten haben im Vergleich zu Schulen mit Kindern aus gutbürgerlichen Verhältnissen ein erhöhtes Gewaltpotential zu managen. Gewaltanwendungen können auch Ursache für mangelnde soziale Integration sein. Von daher gilt auch umgekehrt: gewaltpräventive Maßnahmen können auch dazu dienen, soziale Integration zu unterstützen. Rolle von Schule und Medien beim Mobbing Wenn die Schule es nicht versteht, in ihren Räumen Mobbing zu verhindern, besteht die Gefahr, dass diese schulischen Opfer auch im weiteren Berufsleben Opfer von Mobbingattacken werden können, da sie nicht gelernt haben, sich frühzeitig und angemessen zur Wehr zu setzen und/oder Verbündete zu suchen. Außerdem wäre es fatal, wenn die Schule den Tätern ein breites Übungsfeld zur Verfügung stellte, auf dem sie ihre Mobbingattacken erproben und erfolgreich durchsetzen können. Von daher muss Schule darauf achten, dass die Opfer gestärkt und die Täter frühzeitig erkannt werden sowie ihren Aktivitäten der Boden entzogen wird. Die Förderung des sozialen Klimas in der Schule ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass soziale Entwicklung und Integration der Kinder und Jugendlichen möglich werden. Die Ursachen von Konflikten in der Gesellschaft können dadurch sicherlich nicht behoben werden (z.B. Arbeitslosigkeit, familiäre Konflikte, soziale Benachteiligung etc.). Es können aber Formen des sozialverträglichen Umgangs miteinander entwickelt und gefestigt werden. Verbaler Gewalt, insbesondere Mobbing, in der Schule besondere Aufmerksamkeit zu widmen, ist somit aus drei Gründen sinnvoll: Infolge verbaler Gewalt kommen mehr Schüler zu Schaden als durch physische Gewalt. Die psychischen Schäden bei den Opfern können zahlreich und sehr erheblich sein, zumal die Entdeckungs- und Aufdeckungsrate häufig sehr gering ist. Das Konflikt- und Gewaltklima an der Schule kann und sollte an der Stelle bearbeitet werden, wo es am häufigsten stattfindet, auch wenn es schwer zu beobachten und daher nur mit besonderem Aufwand zu bekämpfen ist. Wenn in der Schule frühzeitig interveniert wird, weil alle Akteure eine hohe Sensibilität für Gewaltanwendung jeglicher Art entwickelt haben, kann auch schwerwiegenden Gewaltanwendungen frühzeitig vorgebeugt werden. Bei häufigeren Gewaltformen zu intervenieren, lohnt sich, weil hier der falsche Lerneffekt frühzeitig unterbunden werden kann. Je früher Gewaltanwendungen identifiziert und Akteure in Grenzen gewiesen werden, desto eher gelingt es, Täter in Grenzen zu weisen und Opfer vor fatalen Folgen zu bewahren. Woran lässt sich erkennen, dass z.B. Herumschubsen in den Pausen und verbale Auseinandersetzungen die Grenzen von alltäglichen Konflikten zwischen Gleichaltrigen überschritten haben? Sicher dann, wenn der "Spaß" für einen der Beteiligten erkennbar aufhört. Der Erzieher oder der der Lehrer müsste am Ort des Geschehens in die Gesichter der Beteiligten schauen oder die Beteiligten danach fragen können, wie ernst diese Rauferei für den einzelnen ist. Aber die Größe des Schulsystems, die Aufsplitterung des Unterrichtsstoffes in einzelne Fächer mit 45-Minuten-Takt und der Leistungs- und Konkurrenzdruck führen häufig zu einer Entpersönlichung des Unterrichtsklimas sowie Störung der sozialen Beziehungen. Mancher Lehrer ist froh, wenn er genügend Zeit für seinen Unterichtsstoff findet, in der Hektik des Schulalltags einen Teil der Schüler namentlich ansprechen kann und den Alltagsstress gut bewältigt. Diese Anonymisierung des Schulbetriebes ist ein günstiges Klima dafür, dass Mobbing entsteht und unentdeckt bleibt. Die Schule sollte daher gegenüber Mobbingphänomenen besondere Aufmerksamkeit walten lassen, Problembewusstsein entwickeln und das Aufdecken von Mobbing nicht dem Zufall überlässt, sondern gezielt darauf achtet. Zur Rolle der Medien Die Berichterstattung in den Medien über Gewalt an Schulen führt häufig dazu, dass überwiegend physische Gewaltanwendungen im Mittelpunkt der Wahrnehmungen stehen. Subtilere Formen der alltäglichen gewaltsamen Auseinandersetzung werden folglich vernachlässigt. Hinzu kommt, dass bestimmte Medien den Akteuren selber eine Plattform bieten, um sich dort zu präsentieren frei nach dem Motto. "Ist es nicht einfach toll, via Livekamera im Internet zu erscheinen oder auf Youtube seinen Film einzustellen?" Wenn in der Castinggesellschaft die Selbstdarstellung auf Kosten anderer geht, dann wird Diskriminierung billigend in Kauf genommen. Der Drang, sich in den Medien selbst zu verwirklichen führt bisweilen dazu, dass die Grenzen des Anstandes und des sozialverträglichen Miteinanderumgehens - zunächst nur spielerisch, später dann auch leichtsinnig und unerträglich - überschritten werden. Menschenverachtende Darstellungen und Gewalt verherrlichende Bilder werden so leider schnell "veralltäglicht" und unter Jugendlichen akzeptabel gemacht. "Inwieweit Filme mit gewalttätigem Inhalt tatsächlich zu Gewalt führen, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, die Ergebnisse sind teilweise widersprüchlich. Eindeutig ist jedoch ihr Einfluss auf die Wahrnehmung potentieller Opfer: das Mitgefühl mit ihnen nimmt ab" (Jannan 2008, S. 20). Ähnliches lässt sich auch zu Gewalt verherrlichenden Computerspielen sagen: Das benutzen dieser Ballerspiele führt zu einem Abtrainieren von Hemmungen und zu einer "Konditionierung der Empathielosigkeit" (Wildt/Emrich 2007, S. 534). Die Frage ist also, wie in der Schule zu einem verantwortlichen Umgang mit den Neuen Medien erzogen werden kann. Beispielsweise wäre ein Handyverbot in der Schule eine Möglichkeit, Mobbingformen wie "Happy Slapping" wenn nicht zu unterbinden, so doch zu tabuisieren. Es gilt Signale zu setzen und Grenzen zu ziehen. Ergänzend und ebenso wichtig ist es jedoch, den Schülern anhand anschaulicher Beispiele ein Gefühl dafür zu vermitteln, welche fatalen Folgen diskriminierende Darstellung von anderen Personen in den Medien haben. Hier für Empathiefähigkeit zu sorgen und sich frühzeitig in die Rolle des Opfers und des Betroffenen zu versetzen, ist eine wichtige Aufgabe eines gelungenen medienpädagogischen Unterrichts. Mobbing – begriffliche Differenzierungen Der Begriff "Mobbing" hat sich im deutschen Sprachraum weitgehend durchgesetzt, um damit alle unfeinen Formen des Fertigmachens und Anpöbelns bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu bezeichnen - entsprechend dem englischen Wort "to mob" = fertigmachen, anpöbeln. (In der Wissenschaft wird auch der englische Begriff "Bullying" gebraucht.) Dan Olweus, schwedischer Psychologe und Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Bergen war einer der ersten, der sich seit Beginn der achtziger Jahren wissenschaftlich mit Mobbing und der Gewaltproblematik an Schulen beschäftigt hat. Er definiert Gewalttätigkeit und Mobben wie folgt: "Ein Schüler oder eine Schülerin ist Gewalt ausgesetzt oder wird gemobbt, wenn er oder sie wiederholt und über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist." (Olweus, 1986, 1991) Dabei spezifiziert Olweus "negative Handlungen" als Handlungen bei denen einem anderen Verletzungen oder Unannehmlichkeiten zugefügt werden, was sowohl verbal (Drohen, Spotten, Hänseln, Beschimpfen) als auch körperlich (Treten, Stoßen, Festhalten, Kneifen etc.) oder gar ohne Worte und ohne jeglichen Körperkontakt (Fratzenschneiden, schmutzige Gesten zeigen, jemanden ausschließen etc.) der Fall sein kann. Olweus hat in seinen frühen Untersuchungen zu Beginn der 80er Jahre die begrifflichen Grenzen bewusst weit gezogen und schon kleine Gewaltanwendungen wie z.B. das Auslachen von Mitschülern, das Beleidigen oder Beschimpfen, das Verbreiten von Unwahrheiten, das Verstecken von Sachen, die Zerstörung von persönlichem Eigentum, das Anrempeln, Herumstoßen, Erniedrigen, Ausschließen etc. hinzugezählt. Erst am Ende dieser Tathergänge könnte dann schwere körperliche Gewalt stehen. Zu Recht heißt es daher bei Jannan (2008, S. 22): "Nicht jede Gewalt ist Mobbing, aber Mobbing ist immer Gewalt," denn Mobbing zielt systematisch darauf ab, das Opfer zu demütigen, sein Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen und es sozial zu isolieren. Was sind die typischen Kennzeichen von Mobbing? Für eine genaue Identifikation von Mobbing sind diese vier Merkmale (nach Jannan 2008, S. 26) recht brauchbar: "Kräfteungleichgewicht: Das Opfer steht einem bis mehreren Tätern und deren Mitläufern alleine gegenüber. Damit unterscheidet sich Mobbing klar von dem "rough and tumble play". Hanewinkel und Knaack verdeutlichen dies in ihrer Definition: "Der Begriff des Mobbens wird nicht gebraucht, wenn zwei Schüler bzw. Schülerinnen, die körperlich bzw. seelisch etwa gleich stark sind, miteinander kämpfen oder streiten" (Hanewinkel/Knaack 2004, S. 300). Häufigkeit: Die oben beschriebenen Übergriffe kommen mindestens einmal pro Woche oder häufiger vor. Diese zahlenmäßige Einordnung beruht auf Analysen von Olweus, der viele tausend Mobbing-Fälle ausgewertet und nach Gemeinsamkeiten untersucht hat. Dauer: Die Übergriffe erfolgen über einen längeren Zeitraum (Wochen oder Monate). Ein Konflikt, der erst seit einer Woche besteht, ist also kein Mobbing. Diese Unterscheidung spielt für die Einschätzung durch die Lehrkraft eine große Rolle. Konfliktlösung: Das Opfer ist aus eigener Kraft nicht in der Lage, das Mobbing zu beenden. Neuere Untersuchungen zeigen, dass in den letzten Jahren möglicherweise eine fünfte Qualität hinzugekommen ist: Das Ziel, das Opfer um jeden Preis aus der Lerngruppe zu vertreiben" (Jannan 2008, S. 26). Mögliche Folgen von Mobbingattacken bei Schülern Da die für das Mobben typischen Aktivitäten häufig verdeckt und nicht direkt beobachtbar geschehen (z.B. in Pausen, auf dem Schulweg, in den Klassen, wenn der Lehrer gerade wegschaut) ist es daher wichtig, die Reaktionen und Veränderungen im Verhalten einzelner Schüler genau zu beobachten. Denn diese veränderte Verhaltensweise könnte auf Mobbing zurückzuführen sein. Auf folgende Verhaltensweisen sollten Eltern und Lehrer daher nach Jannan besonders achten (s. a. Interner Link: Info 02.03). Auffällige Verhaltensweisen von Jugendlichen als Folgen von Mobbing (aus: Jannan 2008, S. 27): "Das Kind kommt bedrückt nachhause. Es spricht leise, schweigt häufig, kann andererseits aber unerwartet aggressiv oder übellaunig reagieren. Es ist nervös und angespannt. Es erfindet Ausreden, z.B. für zerstörte oder verloren gegangene Gegenstände. Das Kind wirkt unsicher, sein Selbstwertgefühl nimmt immer mehr ab (erkennbar z.B. bei der Erledigung von Hausaufgaben, die plötzlich "unlösbar" sind). Das Kind zieht sich immer mehr in sich zurück, sowohl in der Schule als auch zuhause. Es kommt zu einem starken Abfall in den schulischen Leistungen. Die Konzentration im Unterricht lässt nach. Vor allem zuhause, vor dem Weg zur Schule zeigt das Kind immer häufiger unspezifische körperliche Beschwerden wie z.B. Bauchweh, Kopfschmerz oder Appetitlosigkeit. Das Kind will nicht mehr in die Schule gehen, kommt auffällig oft zu spät, geht Aktivitäten mit Mitschülern aus dem Weg. Das Kind erhält keine Einladungen zu Kindergeburtstagen. Schüler bleiben nach Unterrichtsende oder in der Pause länger im Klassenzimmer. Das Kind will nicht mehr mit dem Bus zur Schule fahren, es möchte von den Eltern gefahren werden. Albträume treten immer häufiger auf. Das Kind ist müde und schläft schlecht. Das Kind beginnt zu stottern. Das Kind verliert angeblich immer wieder Geld. (Das Geld wird verwendet, um den Täter zu bezahlen)." Wenn solche auffällige Befunde auftreten, ist es geraten, mit dem Schüler und den Eltern ein Erstgespräch zu führen, um allgemein zu eruieren, worauf diese Symptome des Unwohlseins zurückzuführen sein könnten. Nicht immer liegt Mobbing vor, aber Mobbing könnte eine Ursache für diese auffälligen Verhaltensweisen sein. Faktoren, die die Entstehung von Mobbing in der Schule begünstigen Nach Jannan (Jannan 2008, S. 28) begünstigen folgende acht Faktoren aus dem Bereich des Schulklimas die Entstehung von Mobbing: "Das Lehrerengagement ist zu wenig fördernd und unterstützend. Hierzu zählt auch eine resignative Grundhaltung der Lehrkraft ("Macht doch, was ihr wollt! oder "Ihr begreift es nie!"). Unter den Schülern herrschen schlechte soziale Beziehungen. Das betrifft z.B. die Umgangsformen, den Mangel an kommunikativen Fähigkeiten oder die Art und Weise, wie Konflikte gelöst werden. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist gestört. Dazu gehören beispielsweise gegenseitige Abwertung, offensichtliche Ablehnung und fehlende oder unzureichende Kommunikation zwischen den beiden Parteien. Auffällige Jugendliche werden durch Lehrer sozial etikettiert ("So wie du aussiehst, landest du sowieso in der Gosse."). Das Erziehungsverhalten seitens der Schule ist einseitig restriktiv. Wenn Strafen als überwiegendes oder gar willkürliches Instrument eingesetzt werden, lernen Schüler, dass die Ausübung von Macht ein geeignetes Mittel zum Erreichen von Zielen ist. Zudem können Strafen auch zu verstärkter Auflehnung führen. Schul- und Klassenregeln sind zu wenig verbindlich oder sogar beliebig. Eine Schulordnung beispielsweise, die von den Schülern unterschrieben wird, deren Einhaltung aber kein Lehrer kontrolliert, ist wirkungslos. Ähnliche Folgen hat es, wenn das Verhalten der Kollegen inkonsistent ist, der eine also Verstöße bestraft, der andere wegschaut. Schule wird dann als quasi rechtsfreier Raum erlebt, in dem sich jeder seine Regeln selber machen kann. [...] Das Schulgebäude und die Außenanlagen sind reizlos und eintönig, die Klassenräume sind unpersönlich gestaltet und/oder zu eng. Es herrscht eine geringe Verbundenheit mit der Schule (fehlendes "Wir-Gefühl"). Mangelnde Identifikation mit der Schule steigert z.B. auch den Grad der Sachbeschädigung im Gebäude." Typische Mobbingstrukturen in der Lerngruppe Mobbing in der Klasse kann nur verdeckt funktionieren, würde es offensichtlich, würden Lehrer und andere Schüler intervenieren. Mobbing kann zwar nur im Halbdunkel sozialer Beziehungen entstehen, aber Strukturen sind erkennbar. Wiederholtes Thematisieren und offenes Reden über mögliche Befunde in der Klasse sind geeignete Maßnahmen, das Entstehen typischer Mobbingstrukuren in der Lerngruppe zu verhindern. "Grundsätzlich kann Mobbing in Lerngruppen ungestraft nur funktionieren, wenn die Situation und damit die Täter anonym bleiben. Dies ist schon dadurch gewährleistet, dass das Opfer von sich aus meist keine Hilfe sucht. Auf der anderen Seite achten die Täter natürlich darauf, ihre Übergriffe in vom Lehrer unbeobachteten Momenten zu starten." (Jannan 2008, S. 29) Vier Arten von Akteuren lassen sich bei den Schülern unterscheiden (s.a. Schaubild unten): Das Opfer (meistens eine Einzelperson), die Mobber (ca. 3 Personen), die die Mobbingattacken durchführen oder initiieren, die Mitläufer, das sind in der Regel relativ wenige Personen, die sich hin und wieder an den Mobbingattacken beteiligen und die Mobber unterstützen, die Zuschauer: Der Großteil einer Lerngruppe ist an den Mobbingattacken direkt häufig nicht beteiligt, jedoch ist die Reaktion dieser Restgruppe nicht unerheblich, denn sie kann zur Verstärkung und zur sozialen Absicherung der Mobbingattacken in folgender Weise beitragen: Die Schüler schauen fasziniert den Mobbingattacken zu, die sich ihnen täglich bieten. Die Schüler nehmen die Mobbingsituation falsch wahr, meinen, es sei alles nur Spaß. Sie haben selbst Angst gemobbt zu werden, verhalten sich also zurückhaltend und ängstlich. In manchen Fällen lehnen sie Mobbingattacken ab, suchen nach Verbündeten und versuchen, die Situation aufzulösen. Die zentrale Rolle des Lehrers Man kann sagen, dass die Sensibilität des Lehrers für die Entdeckung von Mobbingsituationen unverzichtbar ist und eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass er als zentrale Person im Schulalltag der Schüler dann auch aktiv intervenieren und die Verfestigung von Mobbingsituationen frühzeitig verhindern kann. "Die Tatsache, dass Mobber und Mitläufer im Verhältnis zur restlichen Lerngruppe deutlich in der Minderzahl sind, ist für eine konstruktive Anti-Mobbing-Arbeit entscheidend: Schafft der Lehrer es, diese "gleichgültige Masse" zumindest zum Teil zu motivieren, gegen Gewalt in der Lerngruppe vorzugehen, ist der Erfolg der Intervention mit großer Sicherheit zu erwarten" (Jannan 2008, S. 31). Erfolgt keine Intervention des Lehrers, weil er die Situation nicht richtig einschätzen kann oder weil er die Ernsthaftigkeit nicht erkennt, fühlen die Mobber sich in ihrem Verhalten bestärkt. Der Rest der Klasse sieht, dass Mobber freien Spielraum für ihre unangenehmen Machenschaften und dass die Opfer kaum Hilfe zu erwarten haben. In diesem Fall stellt also die Zurückhaltung des Lehrers einen guten Nährboden für Mobbing dar. Außerdem besteht hier die Gefahr, dass Lehrer und kritisch denkende Schüler den Leidensdruck potentieller Mobbingopfer unterschätzen. Verharmlosung der Situation oder gar tendenzielle Schuldzuweisung an die Opfer sind die Folge (nach dem Motto "Vielleicht hast du ja selber dazu beigetragen. Warum wehrst du dich nicht?" oder "Jetzt sei mal nicht so empfindlich"). Die Opfer spüren, dass sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. In der schulischen Situation finden sie keine Unterstützung. "Den Lehrern kommt eine Schlüsselposition in der Anti-Mobbing-Arbeit zu: Genauso wenig wie das Opfer sich aus eigener Kraft befreien kann, kann der Rest der Lerngruppe von sich aus gegen die Mobbingsituation vorgehen. Manche Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer Interventionspflicht der Lehrkräfte, wenn sie Gewalt oder Mobbing beobachten" (Jannan 2008, S. 32). Weitere Hinweise zur Rolle des Lehrers beim Mobbing finden Sie in Interner Link: Info 02.02. Die Mobbing-Täter Folgende Merkmale sind typisch für Mobber. Sie müssen nicht alle gleichzeitig auftreten, treten aber häufig zusammen in Erscheinung. Mobber zeigen häufig: impulsives Verhalten, setzen ihre Ziele mit aggressiven Mitteln durch, zeigen wenig Empathie, sind sich ihrer körperlichen Stärke bewusst, provozieren das Opfer mit eigenem Verhalten, haben geringes Selbstwertgefühl, verfügen über ein geringes Repertoire an Konfliktlösungsstrategien und haben bisweilen Interesse an instrumentellem Gewinn durch Mobben (Geld, Sachgegenstände). Die Mobbing-Opfer Opfer von Mobbing kann jeder in einer Gemeinschaft werden. Diejenigen, die sich nicht wehren können oder keine Verbündeten haben, werden schneller und häufger Opfer von Mobbingattacken. Hier können einige Merkmale genannt werden, um z. B. dem Lehrer erste grobe Orientierungspunkte an die Hand zu geben, worauf er achten sollte und bei welchen Schülern Mobbingversuche vorliegen könnten. Mobbingopfer... ...haben oft ein schwaches Selbstwertgefühl, ...sie sind in der Klasse oft sehr still, ...sie sind von ihrer Persönlichkeit her eher ängstlich, unsicher, tendenziell sensibler und vorsichtig, ...sind körperlich eher schwächer als der Durchschnitt der Klasse, ...sie reagieren auf Angriffe eher mit Weinen und Rückzug, sie wehren sich nicht. (Vgl. Jannan 2008, S. 36.) Lösungswege Die wichtigsten Ansprechpartner bei Schülermobbing In der Grundschule haben die Lehrer häufig ein sehr persönliches Verhältnis zu ihren Schülern, daher sind sie sicher die wichtigsten Ansprechpartner bei Schülermobbing. In der Sekundarstufe I tritt die Bedeutung des Lehrers mit zunehmendem Alter etwas zurück, wenngleich er auch weiterhin der wichtigste Moderator in dieser Auseinandersetzung ist. An Bedeutung gewinnen die Mitschüler und Freunde (peers) neben Eltern, Streitschlichtern und z.T. die Polizei. In der strategisch wichtigen Rolle obliegt es dem Lehrer z.B., die potentiellen Mitläufer frühzeitig zu sensibilisieren, zu informieren und zu Gegenmaßnahmen zu bewegen. Dazu kann es auch gehören, ein Frühwarnsystem in der Schule (Klasse) aufzubauen und mit Hilfe einer Schüler-Befragung Mobbingfälle frühzeitig aufzudecken und so eindeutige Signale zu setzen sowie dauerhaft ein soziales Klima zu schaffen, in dem Mobbing keine Chance hat. Alternativ kann man auch Aktionen wie "Fit in fair play" gegen Mobbing und für Zusammenhalt durchführen (vgl. das 24-Stunden-Schwimmen am Emsdettener Gymnasium Martinum, mit dem sich die Schule um die Fair-play-Trophy 2011 bewirbt, so die MZ vom 9.4.2011) Dimensionen der Befragung In dem hier vorgelegten Fragebogen wird einerseits das soziale Klima in der Klasse untersucht; zum anderen wird gezielt nach Mobbingphänomenen gefragt. Auf diese Weise ist es möglich, problematische soziale Beziehungen in der Klasse schon in einem Frühstadium zu identifizieren, bevor sie in Mobbingstrukturen umkippen. Außerdem wird im zweiten Teil des Fragebogens direkt an typischen Verhaltensweisen gefragt, die charakteristisch für Mobbing in der Klasse sind. Für eine schul- oder klassenspezifische Befragung kann der Fragebogen modifiziert werden, indem z.B. schwerpunktmäßig der erste Teil erhoben wird und aus dem zweiten Teil nur einige Fragen übernommen werden. Folgende Schwerpunkte werden im Fragebogen operationalisiert: Wohlbefinden in der Schule (allgemein) körperliche und verbale Angriffe in der Schule Mobbing in der Schule (Befunde) Entstehungsgründe Reaktionsweisen Beteiligung Unterstützung, Hilfe Rolle des Lehrers Verwendete Literatur Gugel, G.: Mobbing. Themenblätter im Unterricht Nr. 16, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2002. Jannan, Mustafa: Das Antimobbing-Buch. Gewalt an der Schule – vorbeugen, erkennen, handeln, Weinheim-Basel: Beltz 2008. Kindler, Wolfgang: Man muss kein Held sein, aber...! Verhaltenstipps für Lehrer in Konfliktsituationen und bei Mobbing, Mülheim a.d. Ruhr: Verlag an der Ruhr 2006. Olweus, D: Gewalt in der Schule, Bern: Huber 4. Aufl. 2006. Seyboth-Teßmer, Franziska: Kinder und Gewalt. Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Berlin 2006. te Wildt, T. / Emrich, H. M.: Die Verzweiflung hinter der Wut, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 104, H. 10 2007, S. 533-535 .
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Sander, Wolfgang
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Die Sachanalyse ermöglicht den Lehrkräften eine fachwissenschaftliche Einarbeitung in die Thematik Mobbing und Gewalt: Anhand wissenschaftlicher Studien und Fachliteratur werden Grundlagen zum Phänomen Mobbing sowie Erkenntnisse zur Verbreitung von M
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Redaktion | Der Zweite Weltkrieg | bpb.de
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Globalisierung und Identität | teamGLOBAL | bpb.de
Wer bin ich? Wo geh ich hin? Und was ist morgen für uns drin? (© IPA) Der Titel des Buchs "Ich bin eine seltsame Schleife" von Douglas Hofstaedter steht für die Prämisse: Bewusstsein entsteht durch Interaktion – durch Austausch, Vergleich und Differenz. Wenn wir diesen Ball aufgreifen, dann haben die neuen und zunehmenden Möglichkeiten des Austauschs im Zuge der Globalisierung auch Auswirkungen darauf, wie sich unser Bewusstsein entwickelt und was wir als unsere Identität wahrnehmen. Oder anders ausgedrückt: Die zunehmende globale Vernetzung – vermittelt über Medien, Reisen, wirtschaftlichen Austausch, virtuelle Begegnungen im Netz, etc. – verändert auch die Bedingungen für die Entwicklung persönlicher und kultureller Identität. Unsere Workshops bieten einen niedrigschwelligen und persönlichen Einstieg ins Thema "Globalisierung und (kulturelle) Identität". Sie bieten Raum, um anhand verschiedener Beispiele sowie eigenen Erfahrungen zu erkunden, wie der Prozess der Globalisierung unweigerlich Dinge in unserem tiefsten Inneren bewegt und wie das Verhältnis von Individuum, Kulturgemeinschaft, Staatsbürgerschaft und Weltgesellschaft durch die Globalisierung in Bewegung gerät. teamGLOBAL bietet einen niedrigschwelligen und persönlichen Einstieg in ein uns alle betreffendes Thema. Es geht darum, wie sich junge Menschen unter den Bedingungen fließender Übergänge und unüberschaubar anmutender Wahlmöglichkeiten ihr "Selbst" bewahren und fortentwickeln können. Zur Methodensammlung: Interner Link: Globalisierung und Identität Wer bin ich? Wo geh ich hin? Und was ist morgen für uns drin? (© IPA)
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Die zunehmende globale Vernetzung – vermittelt über Medien, Reisen, wirtschaftlichen Austausch, virtuelle Begegnungen im Netz, etc. – verändert auch die Bedingungen für die Entwicklung persönlicher und kultureller Identität. Auch umgekehrt?!
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WS 19: Erlebte Ungleichheiten sichtbar machen: Geschlechterreflektierende Handlungsansätze in der politischen Präventions- und Jugendbildungsarbeit | 13. Bundeskongress Politische Bildung – Ungleichheiten in der Demokratie | bpb.de
Beschreibung Politische Jugendbildung ist essentieller Bestandteil der Jugendarbeit in ihren unterschiedlichen Strukturen. Damit ist ein Auftrag formuliert: für adäquate Bildungsgelegenheiten zu sorgen bzw. sich auf (politische) Bildung als Bestandteil des pädagogischen Settings einzulassen und an ihr mitzuwirken. Kompetenzen im Rahmen geschlechterreflektierender Ansätze unterstützen Fachkräfte in ihrem Wirken zur Herstellung von geschlechterdemokratischen Begegnungs- und Kommunikationsräumen. Damit geraten Jugendliche als Jungen und Mädchen in den Blick der Pädagog_innen. Als Jungen, welche zwar anwesend sind, aber häufig als wenig bildungsmotiviert wahrgenommen werden und als Mädchen, welche teilweise bildungsaffiner beschrieben werden, in den Projekten aber weit seltener anzutreffen sind. Genderbedingte Inszenierungen und Wahrnehmungen geraten damit in Widerspruch zum Auftrag. Geschlechterreflektierende Jugend(bildungs)arbeit versetzt Fachkräfte in die Lage, sich Geschlechternormierungen oder anderer Stereotypisierungen bewusst zu werden und diese zu vermeiden, pädagogisch auf individuelle Geschlechtsinszenierungen Jugendlicher einzugehen und damit die Motive für eine scheinbare Ablehnung von Bildungsangeboten neu analysieren und Ableitungen für adressat_innengemäße Themen und Strukturen von Angeboten politischer Bildung treffen zu können. Grundlage dafür ist eine vorherige Auseinandersetzung der Fachkräfte selbst mit der eigenen geschlechtlichen Gewordenheit und einhergehenden Aus- und Einschlüssen. Jugendliche bekommen damit die Möglichkeit, die Entwicklung der eigenen geschlechtlichen Persönlichkeit oder Identität, den Umgang mit herangetragenen Anforderungen, aber auch eigenen Auf- und Abwertungserfahrungen, zu reflektieren und Gender als demokratisch und partizipativ zu verhandelndes Thema zu verstehen. Gleichzeitig werden sie damit in die Lage versetzt, ihre politischen Bildungsinteressen und Bedürfnisse gelingender gegenüber Fachkräften zu formulieren. Institution Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Sachsen e.V. Referenten Kai Dietrich und Enrico Glaser Zeit/Ort 20.03. 11.30-13.00 Uhr Format aktive Methoden geschlechterreflektierender Pädagogik
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-01-26T00:00:00"
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https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/13-bundeskongress-politische-bildung-ungleichheiten-in-der-demokratie/199798/ws-19-erlebte-ungleichheiten-sichtbar-machen-geschlechterreflektierende-handlungsansaetze-in-der-politischen-praeventions-und-jugendbildungsarbeit/
Politische Jugendbildung ist essentieller Bestandteil der Jugendarbeit in ihren unterschiedlichen Strukturen. Kompetenzen im Rahmen geschlechterreflektierender Ansätze unterstützen Fachkräfte in ihrem Wirken zur Herstellung von geschlechterdemokratis
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Methodenworkshops | Das Netzwerk Verstärker | bpb.de
Das Netzwerk Verstärker bietet Methodenworkshops für Multiplikator*innen an, um niederschwellige Methoden der politischen Bildung mit Jugendlichen kennenzulernen. In den Workshops werden die Methoden der Aktionsformate von Verstärker gezeigt und gemeinsam erprobt. Erfahrungen aus der Praxis werden ebenfalls geteilt und diskutiert. Im Workshop verschaffen sich Multiplikator*innen einen Einblick in die Methodenvielfalt der Verstärker-Aktionsformate und können später diese Methodenansätze selbst in der Praxis anwenden. Zielgruppen Die Methodenworkshops richten sich an Multiplikator*innen der Sozialen Arbeit und der politischen Bildung, die einen direkten Zugang zur Zielgruppe haben. Vorerfahrungen in der politischen Bildungsarbeit sind nicht zwingend erforderlich. Es können z.B. Interessierte teilnehmen, die Angebote der politischen Bildung mit Jugendlichen neu entwickeln wollen. Je nach beruflichem Hintergrund und Vorerfahrungen der teilnehmenden Multiplikator*innen können Schwerpunkte des Workshops leicht variieren. Wichtig dabei ist, die Erwartungen und gewünschten Schwerpunktthemen des Workshops im Vorfeld zu klären. Da die Methodenworkshops dezentral angeboten werden, richtet sich das Angebot vornehmlich an Multiplikator*innen, die an einer Institution (Träger, Kommune, Stiftung, etc.) angedockt sind. Wir beachsichtigen eine Gruppengröße von mindestens acht Multiplikator*innen pro Workshop. Ziele zielgruppenspezifische Methoden der politischen Bildung kennenlernen Methoden artikulieren und Konzepte umsetzen (am Beispiel der Verstärker-Aktionsformate) Erfahrungswerte mit den Teamer*innen des Verstärker-Netzwerks austauschen und diskutieren. Folgende Fragen bearbeiten: Wie erreiche ich die Zielgruppe? Welche Ressourcen hat diese Zielgruppe und wie können diese Ressourcen aktiviert werden? Warum ist es mit dieser Zielgruppe besonders wichtig, macht- und rassismuskritisch zu arbeiten? Wie kann ich diese Methoden in die Arbeit mit den Jugendlichen einbinden? Was ist bei der Umsetzung von Formaten der politischen Bildung zu beachten? weitere Angebote und Vernetzungsmöglichkeiten aus dem Netzwerk Verstärker kennenlernen Ablauf Bei Interesse an einem Methodenworkshop meldet sich die Institution beim Verstärker-Büro, um evtl. Fragen zu klären oder sendet direkt eine Interessensbekundung (siehe "Anmeldung"). Nach Eingang der Interessensbekundung findet ein telefonisches Vorgespräch statt, um die Ausgangslage der Institution und die Erwartungen der Teilnehmenden zu klären. Danach wird die Institution mit den Teamer*innen direkt in Verbindung gesetzt, um den genauen Ablauf im Vorfeld zu besprechen. Die Methodenworkshops werden von den Teamer*innen des Netzwerks Verstärker vor Ort umgesetzt. Eine digitale Umsetzung ist grundsätzlich möglich, Details dazu werden telefonisch besprochen. Die Regeldauer eines Methodenworkshops beträgt sechs bis acht Stunden. Voraussetzungen/Verantwortung der beteiligten Institutionen und Kosten Wenn Sie Interesse an der Durchführung eines Methodenworkshop in Ihrer Institution haben, stellen Sie eine Ansprechperson zur Verfügung, die bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung des Methodenworkshops mit dem Teamer*innen zusammenarbeitet stellen Sie geeignete Räumlichkeiten und einen Imbiss/Getränke für die Gruppe zur Verfügung. sind Sie für die Bewerbung des Angebots und die Akquise von Teilnehmenden verantwortlich. Die Einbindung der erlernten Methodenansätze in einen langfristigeren politischen Bildungsprozess innerhalb Ihrer Institution ist wünschenswert. Die im Rahmen der Methodenworkshops anfallenden Reise-, Honorar- und Unterkunftskosten für die Teamer*innen werden von der bpb übernommen. Anmeldung Sofern Sie die o.g. Voraussetzungen erfüllen und Sie einen Methodenworkshop buchen möchten, senden Sie das Interner Link: Formular mindestens vier Wochen vor dem gewünschten Durchführungstermin an das Projektbüro von Verstärker zurück (Bitte beachten Sie, dass die Plätze begrenzt sind, frühzeitiges Anmelden wird empfohlen): E-Mail Link: verstaerker@bbj.de Kontakt Projektkoordination i.A. der bpb: BBJ Consult AG Ansprechpartnerin: Lynn-Caroline Meyer Bernburger Straße 27 10963 Berlin Tel. +49 (0)157 35648347 E-Mail Link: verstaerker@bbj.de Kontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Fachbereich Zielgruppenspezifische Angebote Adenauerallee 86 53113 Bonn E-Mail Link: verstaerker@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-04-04T00:00:00"
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"2023-04-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/verstaerker/327940/methodenworkshops/
Die Methodenworkshops richten sich an Multiplikator*innen der Sozialen Arbeit und der politischen Bildung. Im Workshop können sich die Multiplikator*innen einen Einblick in die Methodenvielfalt der Verstärker-Aktionsformate verschaffen und diese Meth
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Ein Weltbürger, der keinem Fürsten dient | Schiller | bpb.de
Einleitung So unterschiedlich die Sicht auf Friedrich Schiller in den neueren Biographien auch ausfällt, so zeigen sie doch, dass das zum Mythos erstarrte Bild eines weltfremden Idealisten differenziert und korrigiert werden muss. Schiller ist nicht nur der klassische Nationaldichter, er wird auch als großer Menschenkenner und als scharfsinniger Psychologe gesehen und - nicht zuletzt - als hoch politischerAutor. Überblickt man das dramatische Werk und die historischen Schriften, fällt rasch auf, dass der deutscheste aller deutschen Dichter am allerwenigsten nationale Stoffe behandelt, sondern - als europäisch denkender Autor - seine Themen und Figuren in der Geschichte der anderen europäischen Länder findet. Dies lässt sich zwar auch mit einem Ausweichen vor den Zwängen der für Schiller bedrohlichen, stets präsenten Zensur erklären, aber es zeigt sich darin vor allem die europäische Dimension seines Denkens, welche die nationale Enge der Kleinstaaterei im Deutschland seiner Zeit überwindet. 1782 flieht Schiller aus Württemberg und spricht fortan von seinem "Dichterberuf" - einen Begriff wählend, der vor ihm nicht existierte. Den steinigen Weg vom Selbstverleger zum freien Schriftsteller geht er kompromisslos. Nichts kann ihn von diesem Ziel abhalten, weder der frühe Erfolg der Mannheimer "Räuber"-Inszenierung und der dadurch auf ihm lastende politische Druck noch gesundheitliche Krisen oder Enttäuschungen wie der Verzicht des Intendanten des Mannheimer Nationaltheaters, Wolfgang Heribert Freiherr von Dalberg, auf eine weitere Zusammenarbeit und das daraus folgende Ende seiner Tätigkeit als Mannheimer Theaterdichter. In denkwürdigen Sätzen resümiert er in der "Ankündigung der Rheinischen Thalia" vom 11. November 1784: "Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient. Früh verlor ich mein Vaterland, um es gegen die große Welt einzutauschen (...). Die Räuber kosteten mir Familie und Vaterland (...). Das Publikum ist mir jetzt alles, mein Studium, mein Souverain, mein Vertrauter." Schiller wiederholt sein politisches Bekenntnis in der Audienzszene des 1787 uraufgeführten "Don Karlos". Zweimal weist Marquis Posa das Angebot König Philipps, in freier Wahl einen Posten am Hofe zu wählen, zurück: "Ich kann nicht Fürstendiener sein." Posa lässt sich durch die Gunstbezeugung des Königs nicht kompromittieren, lehnt einen Kompromiss mit dem Despoten ab. Und dann erhebt er die kühne, ja halsbrecherische Forderung: "Gehen Sie Europens Königen voran. / Ein Federzug von dieser Hand, und neu / Erschaffen wird die Erde. Geben Sie / Gedankenfreiheit." (III. Akt/ 10. Szene) Das Verlangen nach "Gedankenfreiheit" wird nunmehr als öffentliche Forderung erhoben - Schiller schreibt für die großen Ideen der europäischen Aufklärung und wendet sich gegen Zensur und Despotismus im eigenen Land. Schon der Autor der "Räuber" hat aus seiner republikanischen Gesinnung, seiner rebellischen, antiabsolutistischen Einstellung keinen Hehl gemacht und seinen Humanitätsanspruch bis zum letzten Stück, "Wilhelm Tell", beibehalten. Stauffachers Rede formuliert noch einmal das große Freiheitsideal: "Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht." (II/2) Europäische Aufklärung Der Freiheitsanspruch bezieht sich nicht allein auf deutsche Fürstentümer oder Kleinstaaten, Freiheit wird in einer europäischen Dimension verstanden. So wie Schiller die Themen für seine Freiheitsdramen in der italienischen ("Die Verschwörung des Fiesko zu Genua"; "Die Braut von Messina"), spanischen ("Don Karlos"), englischen ("Maria Stuart"), französischen ("Die Jungfrau von Orleans"), russischen ("Demetrius"-Fragment) und schweizerischen Geschichte ("Wilhelm Tell") fand (die "Wallenstein"-Trilogie mit dem historischen Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges soll gesondert betrachtet werden), kaum aber in der deutschen ("Die Räuber"; "Kabale und Liebe"), so verweisen auch die historischen Schriften auf die Geschichte nicht der deutschen, sondern der europäischen Staaten. Das für Schiller zentrale Konzept einer ästhetischen Erziehung definiert sich als Teil des europaweiten Aufklärungsdenkens und seiner Eruption in der Französischen Revolution. Nicht absolutistische Machtgier der deutschen Fürsten und ihre Politik der Kleinstaaterei, nicht der Traum von einem geeinigten Deutschland als Kulturnation stehen im Zentrum von Schillers Denken, sondern die Auseinandersetzung mit der Vielfalt an Erfahrungen mit Freiheit und Unfreiheit, mit Widerstand und Despotismus, mit Inquisition und Aufklärung in ganz Europa. Ein drastisches Beispiel für das Motiv der Tyrannenkritik ist das frühe Gedicht "Die schlimmen Monarchen" aus dem Jahr 1782, das die vielfältigen Ausprägungen des Despotismus, vor allem Verschwendungssucht, Willkür und Unterdrückung, geißelt und auf die mangelnde Kontrolle absolutistischer Machtausübung abzielt. Ein Beispiel euphorisch gestalteter Freiheitsthematik ist das "Reiterlied" aus "Wallensteins Lager": "Wohl auf, Kameraden, auf's Pferd, auf's Pferd / Ins Feld, in die Freiheit gezogen." (I/11) In der Einleitung zur 1788 publizierten historischen Abhandlung "Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung" weist Schiller darauf hin, "daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hülfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Plane an der menschlichen Freiheit zu Schanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hülfsquellen endlich erschöpfen kann". So wie er die Großmachtansprüche des spanischen Königs Philipp II. analysiert, dessen "gefürchtete Übermacht ganz Europa zu verschlingen droht", so erkennt Schiller im Gegenzug die Freiheitsideen der europäischen Aufklärung als einzig mögliche Gegenbewegung gegen die "schwere Zuchtrute des Despotismus". Die Analyse der "Gründung der niederländischen Freiheit" im 16. Jahrhundert, als "die Niederländer ihrem spanischen Tyrannen die Spitze" geboten haben, ist für den Dichter des "Don Karlos" von Gewicht, weil sie ein Licht wirft auf die eigene Zeitgeschichte und die Epoche der Aufklärung und mit ihr auf die uneingelösten Freiheitsideale. Sie werden als "die neue Wahrheit, deren erfreuender Morgen jetzt über Europa hereinbricht", gedeutet. Mit "Don Karlos" will Schiller es sich aller Bedrohung durch die Zensur zum Trotz "zur Pflicht machen, in Darstellung der Inquisition, die prostituierte Menschheit zu rächen, und ihre Schandflecken fürchterlich an den Pranger zu stellen. Ich will - und sollte mein Karlos dadurch auch für das Theater verloren gehen - einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie biß jetzt nur gestreift hat, auf die Seele stoßen." Die verweigerte "Gedankenfreiheit", die Machtbasis des spanischen Tyrannen, wird als das stärkste Hindernis erkannt für den Fortschritt von Vernunft und Erkenntnis. "Die Freiheit blieb das Grundmotiv seines Denkens und Dichtens", so Thomas Mann 1955 in seinem "Versuch über Schiller". Schiller und seine Zeit Betrachtet man Schillers Lebensweg vor der Folie der historischen Entwicklung, sieht ihn mithin als Zeitgenossen, so wird eine besondere, sein politisches Bewusstsein nachhaltig prägende Konstellation deutlich. In seine Schulzeit fiel die Phase der demokratischen Revolution in Nordamerika, in der deutschen Geistesgeschichte und in den Naturwissenschaften vollzog das Bürgertum zwischen 1770 und 1830 seinen Aufbruch, geprägt durch die Hochzeit der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit der Überwindung des einseitigen Rationalismus der Aufklärung in der Literatur, der Pädagogik, auf der politischen Bühne und in religiösen Auseinandersetzungen wurde eine neue Lebens- und Weltsicht entwickelt, die in der Philosophiegeschichte als Epoche des deutschen Idealismus und in der Literaturgeschichte als Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Romantik bezeichnet werden. In seinem 30. Lebensjahr wurde Schiller Zeuge der Französischen Revolution. Die kritische Analyse dieser ersten bürgerlichen Erhebung in der Geschichte hat sein Leben grundlegend bestimmt. Zentrale Themen der Dichtung wie der historischen und philosophischen Abhandlungen waren fortan die Freiheits- und Menschenrechte, die Kritik an absolutistischer Willkür ("Die Räuber", "Don Karlos", "Wilhelm Tell") und an der Ständegesellschaft ("Kabale und Liebe"), die Entstehung einer bürgerlichen Nation ("Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande") und die Entwicklung der Französischen Revolution ("Über die ästhetische Erziehung des Menschen", "Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs", "Wallenstein"). Auch die Rolle der Frau, ihre Position in der Stände- bzw. der bürgerlichen Gesellschaft, wird reflektiert, wobei die großen Frauenfiguren oftmals dem widersprechen, was Schiller in Lyrik und Prosa über Tugend und Würde der Frauen formuliert hat. In der Jungfrau von Orleans, in Elisabeth ("Maria Stuart"), der Gräfin Terzky ("Wallenstein"), in Marina ("Demetrius") und Hedwig (Tells Gattin, Fürsts Tochter) gestaltete er Frauen, die sich durch Stärke, Autonomie, Ehrgeiz, Mut, ja Verwegenheit auszeichnen. Sein umfangreiches, den damaligen Kenntnisstand repräsentierendes Wissen erwarb sich Schiller Zeit seines Lebens durch gezielte Lektüre, durch Quellenstudium und durch Gespräche. Er ist wenig gereist, er lernte Deutschland nur zum Teil kennen, die anderen europäischen Länder gar nicht, nicht einmal die Schweiz seines Wilhelm Tell und erst recht nicht Italien oder gar Griechenland. Aus gesundheitlichen Gründen scheute er Hitze und Reisestrapazen. Doch das, was ihm eine begrenzte Anschauung bot, ergriff er so intensiv, dass es ihm gelang, auch das in seinen Erfahrungshorizont zu integrieren, was er sich durch Studium und fremde Schilderung angeeignet hat. Ein großes Potenzial an gedanklich strukturierter Phantasie und ein hervorragendes Gedächtnis sind hierfür die wesentlichen Voraussetzungen. In seinem eigenen Leistungshorizont hat Schiller stets das Höchste von sich gefordert. "Dasjenige zu leisten und zu seyn, was ich nach dem mir gefallenen Maaß von Kräften leisten und seyn kann, ist mir die höchste und unerläßlichste aller Pflichten", schreibt er Ende 1791 an den dänischen Schriftsteller Jens Immanuel Baggesen. Er strebt das selbst gesetzte Ideal kompromisslos an - ein Grund dafür, dass sich "in seinen Werken so Weniges (findet), was man matt oder mittelmäßig nennen müßte"; es ist Schiller ganz unmöglich, "etwas Unklares oder Ungewisses in seinem Geiste zurückzulassen" (Wilhelm von Humboldt). Selten hat ein Dichter größere Forderungen an sich und seinen Stoff gestellt: "Umformend, wie er sich gegen die Welt verhält, verhält er sich gegen sich selber. (...) Dichtend tut er sich Gewalt, unterwirft sich dem Gesetz einer fordernden Auswahl. (...) Nur so war ihm das Dasein möglich." Obwohl Schiller stets eine gewisse Distanz zur Tagespolitik hält, ist er doch ein sehr genauer Beobachter des Zeitgeschehens. Sein Interesse gilt der sozialen Ordnung, in der er lebt, er analysiert den Umgang mit politischer Macht, er reflektiert den kulturellen und sozialen Zustand seines Landes und vergleicht diesen mit der Entwicklung der anderen europäischen Nationen. Die großen Gestalten seiner Dramen "greifen mit den Machtverhältnissen zugleich Denkstrukturen an; die Geistigkeit der geschichtlichen Verläufe ist diesem Deuter der Geschichte eigen". Schon als Carlsschüler hat Schiller sein außerordentliches Interesse an historischen Themen bewiesen. Da er von hervorragenden Lehrern unterrichtet wird, erwirbt er sich in seiner Schulzeit ein breites Geschichtswissen. Vor allem aber bei den Recherchen für die Stücke liest Schiller die neue Literatur zur europäischen Geschichte. Im April 1786 schreibt er seinem Dresdener Freund Christian Gottfried Körner: "Ich wollte daß ich zehen Jahre hintereinander nichts als Geschichte studiert hätte. Ich glaube ich würde ein ganz anderer Kerl sein." Der Brief dokumentiert eine Wende in Schillers Leben. 1786 ist das Jahr, in dem er sich für lange Zeit auf die Geschichtsschreibung zurückzieht - auf Kosten der Dichtung. Im Zeitalter der Französischen Revolution befasst sich der Historiker mit den großen politischen Brüchen und den gesellschaftlichen Umschichtungen der europäischen Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen sich die Entwicklung zur Moderne ankündigte. Er beginnt die Arbeit an "Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung", eine Analyse des Aufstandes der niederländischen Provinzen gegen die spanischen Besatzer. Der Aufstand wurde 1567 von den Truppen des Herzogs Alba blutig niedergeschlagen. Mit dieser Arbeit - sie erscheint 1788 bei Crusius in Leipzig - tritt Schiller zum ersten Mal als Historiker an die Öffentlichkeit. "Ich muß Ihnen gestehen, dass ich mich durch diesen Schritt dem neuen Fach der Geschichte, dem ich mich angefangen habe zu bestimmen, beim Publikum etwas gut ankündigen möchte", schreibt er seinem Verleger bei Erscheinen der Abhandlung im Oktober 1788. Der erwünschte Erfolg stellt sich ein und ist die Basis dafür, dass Schiller - vor allem durch die Vermittlung von Goethe - eine Professur für Geschichte an der Universität Jena erhält. Am 26. Mai 1789 hält er im größten und völlig überfüllten Hörsaal der Universität seine Antrittsvorlesung: "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte". Seine Vorstellungen kommen dem heutigen, fachübergreifenden Verständnis entgegen: "Eigentlich sollten Kirchengeschichte, Geschichte der Philosophie, Geschichte der Kunst, der Sitten, und Geschichte des Handels mit der politischen in Eins zusammen gefasst werden und dies erst kann Universalhistorie seyn." Mit aufklärerischem Optimismus zeichnet er Geschichte als zielgerichteten Prozess der Entfaltung des Menschen in all seinen Fähigkeiten. Dieser von einem hohen Bildungsanspruch geleitete Entwicklungsprozess soll vorrangig durch die Kunst befördert werden. Gefragt ist der "philosophische Geist", nicht der an Zweckdienlichkeit und Reputation orientierte "Brotgelehrte". Krieg und Frieden in Europa Angeregt durch seinen Verleger Georg Joachim Göschen beginnt Schiller schon 1789 mit der Arbeit an seiner zweiten großen historischen Abhandlung, der "Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs". Seine Leistung ist die in sich geschlossene, den Wissensstand systematisierende Darstellung der Ereignisse des großen Religionskrieges. In einer Mischung aus Fakten und Erzählhandlung stellt er den Verlauf der kriegerischen Handlungen vom Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 bis zum Westfälischen Frieden am 24. Oktober 1648 dar. Bei seinen Quellenstudien steht die Figur des friedländischen Feldherren Wallenstein im Mittelpunkt seines Interesses. In der Darstellung der konfessionellen Auseinandersetzungen, welche die dreißig Jahre währenden kriegerischen Konflikte auslösen, analysiert Schiller das Verhältnis zwischen Glaubenskonflikten und Politik: "Aus einer Rebellion in Böhmen und einem Exekutionszug gegen Rebellen ward ein deutscher und bald ein europäischer Krieg." Schiller richtet den "Blick auf Deutschland und das übrige Europa" und stellt fest, dass sich Europa in "diesem fürchterlichen Kriege (...) zum ersten Mal als eine zusammenhängende Staatengemeinschaft" erkannt hat. Sein Biograph Peter André Alt weist darauf hin, dass die in "Bücher" unterteilte Abhandlung in ihrer Fünfteiligkeit "die formale Ökonomie einer klassischen Tragödie" abbilde, der ein inhaltlicher Spannungsbogen entspreche mit dem einleitenden ersten Buch, "mit der Steigerung im zweiten, dem Höhepunkt im dritten und der durch den Friedensschluß bezeichneten Katharsis in letzten Buch". Besonders in der Sicht auf den mächtigen Feldherrn Wallenstein zeigt sich der aufklärerische Charakter der Abhandlung. Schiller zeigt zum einen die politischen Konsequenzen hybriden Verhaltens, es ist eine Studie über den Umgang mit Macht und über Machtmissbrauch als Ursache des persönlichen Scheiterns in einer historischen Konstellation. Zum anderen zeigt die Schrift die Eigengesetzlichkeit des historischen Prozesses, an dem sich der individuelle Gestaltungswille bricht und der einer Vernunftorientierung und aufklärerischen Vorstellungen Grenzen setzt. In seinem Opus magnum, dem "Wallenstein", mit dem Schiller zur Dichtung zurückkehrt, erfährt dieses Thema eine weitere Ausdifferenzierung. Eine wichtige (wenngleich nicht historische, sondern erfundene) Figur in diesem Zusammenhang ist Max Piccolomini. In ihm gestaltet Schiller die Vision einer neuen europäischen Friedensordnung. Sein Vater, der kaisertreue Octavio Piccolomini repräsentiert die alte Ordnung der kaiserlichen Tradition. Max Piccolomini gibt Schiller Wallensteins Tochter Thekla an die Seite; beide sind sich in Liebe verbunden. Sie unternehmen eine Reise durch die vom Krieg verwüsteten Länder. Ihr Entsetzen über den Zustand des geschundenen Landes führt sie dazu, von Wallenstein die Realisierung seiner Vision eines großen, die politischen und religiösen Fronten überwindenden, europäischen Friedens zu erhoffen. Schiller zeigt in seinem weitgehend zwischen 1796 und 1798 entstandenen dreiteiligen Monumentaldrama Wallenstein als charismatischen Feldherrn und Zauderer, als kühlen Strategen und bedenkenlosen Machtmenschen, als grüblerischen Melancholiker, der bis an den Rand der Selbsttäuschung an die Sterne glaubt und bis zuletzt vor dem Verrat am Kaiser zurückschreckt, der ihm die böhmische Krone bringen soll und ihm statt dessen den Kopf kostet. Der historische Stoff ist für Schiller "Magazin für seine Phantasie", mit dem er frei umgeht. Wallenstein, "des Glückes abenteuerlicher Sohn", ist sein dunkelster Charakter und in seiner ganzen Ambivalenz eine sehr moderne Figur. Trotz ihrer elf Aufzüge und siebeneinhalbtausend jambischen Verse lässt sich die Trilogie, für die Schiller die Nemesis als Titelvignette vorsah, als titanischer Einakter über die letzte Stunde des charismatischen Heerführers lesen. Der Friedländer fällt vom Kaiser ab und schlägt sich auf die Seite der Schweden. Ob der Heerführer jedoch nur scheinbar zum Feind überläuft oder ob umgekehrt seine Vision einer europäischen Friedensordnung nur ein propagandistisches Alibi ist für Ehr- und Rachsucht (so Schillers Resümee in der "Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs"), all dies bleibt für Wallenstein offen. Auch die ideelle Legitimität ist bereits in so hohem Maße fragwürdig geworden, dass sie den Verrat nicht rechtfertigen kann. Das Opfer ist Max Piccolomini, Schillers Identifikationsfigur, der an "der Väter Doppelschuld" zugrunde geht. Wallensteins Glaube an die Gestaltungsmöglichkeit der Geschichte zerbricht. In inhaltlichem Bezug zu Theklas Klage über den Verlust der durch Max verkörperten Liebe ("Wallensteins Tod", IV/12) beklagt auch er in einem großen Erinnerungsmonolog (V/3) im Bewusstsein der Schuld den Verlust seiner Hoffnung und seiner Ideale. Angesichts des Todes von Max blickt Wallenstein noch einmal auf die Idee des Schönen zurück. Seine selbstkritischen Reflexionen erweisen sich indessen als so brüchig, dass das alte hybride Selbstbild schnell wieder die Oberhand gewinnt. Es wird endgültig zum Schweigen gebracht, als ihn die Schergen Buttlers - des Kaisers Befehl vollstreckend - ermorden. Nationale Stoffe hat "dieser größte politische Aktivist der deutschen Literatur" kaum aufgegriffen. Nationale Zersplitterung und Kleinstaaterei verhindern jeden Patriotismus. Schiller wird zu einem Dramatiker der Weltgeschichte, der seinen in der Gegenwart oder in der Geschichte verankerten Gegenstand ins Überzeitliche transponiert, was jedoch nicht bedeutet, dass er Normen festschreiben will oder auf die Aktualisierung eines Stoffes verzichtet. Die Erziehbarkeit des Menschen Die Zeitgenossen haben die politische Botschaft - "Gedankenfreiheit" und Gerechtigkeit als zentrale Motive - unmittelbar verstanden, sie erkannten Schillers republikanischen Gestus und sahen in ihm vor allem den Aufbegehrenden, der das Bestehende nicht nur kritisierte, sondern die Gesellschaft verändern, die soziale Lage verbessern, Erziehung und Bildung jedes Einzelnen entwickeln wollte. Sie spürten die produktive Kraft des Aufrührerischen, das ideale Potenzial, das sich in den Texten artikuliert. Insofern ist dieser Dichter durchaus einer der "wirkungsreichsten Erzieher des deutschen Volkes zur Staatsgesinnung", wie ihn Albert Ludwig in seiner ersten großen Wirkungsgeschichte von 1909 charakterisierte. Seine Dichtung ist in hohem Maße "Reflexionskunst" mit dem Ziel einer "Bestimmung des eigenen Standortes": "das lebendige Produkt einer individuellen bestimmten Gegenwart". Sein rebellischer Geist, sein Freiheitsanspruch, seine sozialen Forderungen, sein unerschütterlicher Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen und nicht zuletzt die Klarheit und poetische Kraft seiner Sprache verleihen Schiller bis in die heutige Zeit höchste Aktualität. Schillers Denkkonzept ist dem deutschen Idealismus verpflichtet; geistige Deutungsmodelle und Werthierarchien gelten ihm als treibende Kraft der kulturellen Entwicklung. Idealismus im Hinblick auf Schiller bedeutet, dass er das Geistige, die Idee als das Medium betrachtet, das eine solche Entwicklung leitet, wobei er von der Autonomie der geistig-kulturellen Entwicklung ausgeht. Eine zentrale Idee Schillers ist die Einheit des Menschen mit sich selbst auf immer höherer Stufe - er begreift sie als Prozess, der, wie in den "Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen" dargestellt, zu keinem Abschluss gelangen kann. Möglich ist immer nur die Annäherung an das Ziel einer Entfaltung der menschlichen Kräfte in absoluter Freiheit. Im vierten Brief heißt es: "Jeder individuelle Mensch (...) trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist." Zwei Wege gebe es, den in seine jeweilige Realität eingebundenen Menschen mit der Idee in Einklang zu bringen: "entweder dadurch, daß der reine Mensch den empirischen unterdrückt, daß der Staat die Individuen aufhebt; oder dadurch, daß das Individuum Staat wird, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt". Für Schiller ist "der Dichter (...) der einzige wahre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Karikatur gegen ihn", wie er im Januar 1795 an Goethe schreibt. Poesie und Philosophie stehen im Mittelpunkt aller Geistestätigkeit, sie repräsentieren den Menschen. Alle anderen Wissenschaften zeigen lediglich, was der Mensch an Kenntnissen besitzt oder sich angeeignet hat. Schillers Denkkonzept lag nicht nur seinen historischen, seinen kunst- und dichtungstheoretischen Schriften, sondern auch seinen Dramen zugrunde. Gemeinsam mit Goethe schuf er, was heute als das Ideendrama der Weimarer Klassik verstanden wird. Stoff, Handlung und Charaktere folgen einer übergeordneten Idee. Gegenstand der Dramen ist "der handelnde Mensch", und dieser ist ideengeleitet: "Wenn Schiller von Idee handelt, handelt er von Tat." Die Idee bedürfe der Umsetzung, und die Umsetzung bedürfe der Idee. Die Idee "als Entwurf zur Tat" erfahre die Brechung in der Unversöhnlichkeit von Idee und Tat. Insofern erscheine der Untergang in Schillers Dramen als die höchste Form der Tat. Europäische Wirkung Die Wirkung, die Schiller schon zu Lebzeiten erzielt, beruht in erster Linie auf seinen historischen Dramen: "Primär durch Schiller und nur sekundär durch andere Dichter, Romanschriftsteller und Historiker ist die Geschichte der Frühen Neuzeit dem Bürgertum vor Augen gestellt worden, sind Philipp II., Wallenstein, Maria Stuart, die englische Königin Elisabeth und die Jungfrau von Orleans historische Bekannte geworden, über die man reflektierte und sich nach Bedarf wissenschaftlich weiterorientierte." Dabei war seine Perspektive immer eine europäische: "Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit bei einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehen. Er kann sich nicht weiter dafür erwärmen, als soweit ihm diese Nation oder Nationalbegebenheit als Bedingung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist", hatte er Körner am 13. Oktober 1789 aus Rudolstadt geschrieben. Eine tiefe - von Goethe geteilte - Skepsis gegenüber nationalstaatlicher Repräsentanz und Größe der Deutschen behielt Schiller lebenslang bei; selten hat er seine Bedenken so deutlich formuliert wie in dem Xenion "Deutscher Nationalcharakter" aus dem Jahre 1797: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es / Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu / Menschen euch aus." Überblickt man die Reihe seiner Dramen, so fällt auf, dass antike und mythologische Stoffe fehlen, dass keines der fertiggestellten Stücke auf die unmittelbare Tagespolitik bezogen ist. Vom ersten bis zum letzten Drama werden politisches Machtstreben und Machtmissbrauch zur Diskussion gestellt, sind Verschwörung und Rebellion ein wiederkehrendes Thema. Auch die Dramen der klassischen Phase, also die der Weimarer Zeit ab 1800, handeln von den politisch-sozialen Konflikten der Zeit, gespiegelt im Bild der Geschichte. Die Rebellion, getragen von den Ideen der europäischen Aufklärung, gewinnt ihre Kraft aus dem Ziel, Menschen- und Freiheitsrechte zu verwirklichen. Die Darstellung der äußeren Welt korrespondiert mit der Erforschung der Innenwelt der handelnden Figuren, woraus die große Bedeutung des Monologs in Schillers Dramatik resultiert. Das Ziel der Umgestaltung absolutistischer Herrschafts- und Machtstrukturen in Europa wird nicht an einen revolutionären Weg gebunden, sondern an die Entwicklung des Bewusstseins. Schillers ästhetische Theorie ist auf Bildung und Erziehung des Menschen gerichtet. Reformen haben in dieser Sichtweise nur Bestand, wenn sie von dem entwickelten und weiterzuentwickelnden Bewusstsein ausgehen. Diese Bildungsidee ist heute von hoher Aktualität. Der Mensch setzt sich als Ziel des Bildungsprozesses. Dies entspricht dem nach wie vor aktuellen Bild der freien Entwicklung der Persönlichkeit, der Entwicklung eines Subjekts, das mit sich selbst identisch und autonom handlungsfähig ist, wie es die heutige Bildungstheorie formuliert. Dieses Ziel gilt für alle Menschen; Bildung für alle als Voraussetzung der Persönlichkeitsentwicklung ist ein zutiefst demokratisches Ziel. Es ist nicht nur in Deutschland, sondern europaweit und darüber hinaus in der westlichen Welt als Grundrecht verankert. Erst Bildung entfaltet Freiheit; Bildung und Freiheit sind die Grundbedingungen jeder menschlichen Persönlichkeitsentfaltung. In diesem Sinn ist Schiller Reformer gewesen mit dem Anspruch einer kontinuierlichen Entwicklung des Bewusstseins. Schiller ist Rebell der Freiheit, nie Revolutionär. Fast alle Dramen sind Tragödien, die zentralen Figuren und mit ihnen die Idee sind zum Scheitern verurteilt. Eine Ausnahme ist sein letztes Stück, "Wilhelm Tell", in dem die Vernunft der Geschichte den Sieg davonträgt. Während Kant die Französische Revolution trotz ihres manifesten Terrors als das signum prognosticum des stets möglichen Fortschritts interpretiert und den Terror als nicht vermeidbare Perversion hinnimmt, zieht Schiller spätestens mit der ihn zutiefst empörenden Ermordung des französischen Königs eine Trennlinie. Wenn er noch erwogen hat, sich für den seit über einem Jahr gefangen gehaltenen und seinen Prozess erwartenden König Ludwig XVI. einzusetzen, so macht die im Januar 1793 erfolgte Hinrichtung diesen Überlegungen ein Ende. Am 8. Februar 1793 schreibt er an seinen Dresdener Freund Christian Gottfried Körner: "Ich habe wirklich eine Schrift für den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da liegt sie mir nun noch da. Ich kann seit 14 Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinderknechte mich an." "Die 'Ästhetische Erziehung des Menschen' ist seine vielleicht umfassendste theoretische Antwort auf die Französische Revolution: gegen Frankreich gedacht und doch Frankreich verpflichtet (...). Der Grundgedanke: innere Wandlung statt des äußeren Umsturzes, ist schon die Moral der 'Räuber` und alte schwäbische Haltung. (...) Das Neue bei Schiller ist der Übergang von religiöser und moralischer Erziehung zu ästhetischer." Es ist diese politische, diese staatsphilosophische Perspektive, die Schiller bis an das Ende der Briefe beibehalten wird. Schlüsselbegriff ist die Erziehung, verstanden als Streben nach dem Ideal der Vollkommenheit. Die Kunst und nur sie erscheint als Weg der Erziehung und zugleich als Werkzeug der Vervollkommnung des Menschen. In der immer fortschreitenden Aufklärung des Verstandes sieht Schiller eine Vereinseitigung, zur Einheit des Menschen gehöre die Ausbildung des Empfindungsvermögens gleichwertig dazu. Autonomie und Würde bestehen in der "inneren Freiheit" des Willens zu einer zielgerichteten Entwicklung; damit ist die Verantwortung des Menschen für eine vernunftgeleitete Erziehung und Selbsterziehung vorgezeichnet. Das Kriterium der Schönheit sieht er in der harmonischen Einheit von Rationalität und Sensualität erfüllt. Mit diesem Entwurf knüpft Schiller an Erkenntnisprozesse an, die im 18. Jahrhundert im Rahmen der europäischen Aufklärung die Emanzipation des Menschen zum Ziel gehabt haben. Auf der Grundlage der bisher gewonnenen Einsichten geht es um eine Veränderung der Gesamtsituation des Individuums. Mit ihrem Postulat Selbstbestimmung des Menschen ist die Aufklärung eine geistige und zugleich eine gesellschaftskritische Bewegung, die mit einem Säkularisierungsprozess einherging. Schiller ist der Dichter des Tragischen; seine Dramentheorie ist Kant und dessen Reflexionen über die Tragödie verpflichtet. Kants Abhandlung "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764) sowie seiner Theorie der sittlich-moralischen Autonomie des Menschen folgend, sah er in der Tragödie das einzig mögliche Argumentationsmedium. Nur im tragischen Konflikt von Ideen und Taten, Pflichten und Neigungen erweise sich die Befähigung des Menschen zur Selbstbestimmung, mithin seine Freiheit. Schiller heute Leidensweg der Idee oder strahlender Augenblick der Geschichte: Was hat uns Schillers Vorstellung von Europa oder sein Freiheitsbegriff noch zu sagen? Natürlich: Europa hat sich weiterentwickelt - als Schauplatz blutiger Weltkriege, aber auch - nach 1945 - als kulturelle, politische und wirtschaftliche Gemeinschaft. Es hat verbindliche Rechtsinstitute geschaffen, die der Sicherung der Freiheit dienen. Jedes der europäischen Länder begreift sich als ein durch Gewaltenteilung garantierter Rechtsstaat, als ein Sozialstaat, in dem jeder Bürger den Anspruch auf Schutz der Persönlichkeit hat, in dem für jeden Bürger der Gleichheitssatz gilt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen sind die für das Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger wichtigsten Menschenrechte. Dem entspricht ein striktes Verbot von Zensur, Willkür und Inquisition in den modernen Demokratien Europas. Es gibt eine gemeinsame Wertbasis, den so genannten acquis communitaire, dem sich vorab auch die Länder unterwerfen müssen, die Mitglied der Europäischen Union werden wollen. Wenngleich also der Freiheitsbegriff als Kern der Demokratie heute unbestritten ist, so ist die in den Grundnormen garantierte Freiheit dennoch auf vielen Ebenen gefährdet. Die Gefährdungslage ist heute allerdings eine grundsätzlich andere. Die dem Anspruch nach freien Medien unterliegen einer extremen Konzentration und Machtfülle, die den Freiheitsanspruch selbst zu unterhöhlen und in sein Gegenteil zu verkehren drohen; Konsumdenken, technischer Fortschritt und ein übersteigertes Diktat der Mode führen zu einem Konformitätsdruck, der auf Kosten einer inneren geistigen Freiheit der Werte und Orientierungen nur noch die äußere Freiheit der Auswahl zwischen vorgegebenen Alternativen zuzulassen scheint. Dieser Konformitätszwang neigt dazu, Störendes und Fremdes auszugrenzen. Diesen die Jetztzeit charakterisierenden Gefährdungen gegenüber entfalten die Schiller'schen Überzeugungen auch heute noch rebellische Gegenkräfte: Dass es gerade die Freiheit ist, die den Menschen zum Menschen macht, die Maßstab und Wertorientierung ist für das politische Handeln und das gesellschaftliche Zusammenleben; dass Bildung und Erziehung hierfür die notwendigen Grundvoraussetzungen sind; dass innere Freiheit und Toleranz die zentralen Werte des Zusammenlebens sind und damit ein Schutz vor jedweder Form von Diskriminierung, Unterdrückung und Despotismus. Welche sind die heutigen Fürsten, denen der kritische und aufgeklärte Bürger den Dienst verweigern könnte? Hier hat der Begriff der Freiheit nach wie vor zentrale Bedeutung: Freiheit gegenüber der Bevormundung durch die Medien, durch Konsum, Mode oder durch die Technik; Gedankenfreiheit gegenüber alten und neuen Formen der Inquisition; Gedankenfreiheit als Basis für das Ziel der ästhetischen Erziehung und Bildung für alle, für die Durchsetzung der noch immer nicht eingelösten Forderungen der Aufklärung nach Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Wenn im Jahre 2005 aus Anlass des 200. Todestages nach der Bedeutung Schillers für das 21. Jahrhundert gefragt wird, so ist festzuhalten: Auch im Zeitalter der Globalisierung wird Schiller nicht nur als Klassiker Geltung beanspruchen können. Die Figuren eines Franz und Carl Moor, eines Ferdinand, eines Karlos und Marquis Posa, der Jungfrau, einer Maria Stuart und eines Wallenstein sind von aktueller Bedeutung. Ihre Niederlagen und ihre Siege vermitteln eine aufklärerische Botschaft. Das in den "Briefen zur ästhetischen Erziehung" entworfene Konzept einer ganzheitlichen Humanität, Schillers kompromissloser Glaube an die Entwicklungsfähigkeit und die Erziehbarkeit des Menschen, hat eine den Kriterien der europäischen Aufklärung verpflichtete Aussagekraft. In Schillers Werk finden wir nicht nur die Postulate humaner Menschlichkeit, es gibt auch Auskunft über die Psychologie politischer Konflikte und die sozialpsychologischen Dimensionen historisch-politischer Kämpfe. Gerade die Europa umgreifende Perspektive zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk. Was Schiller in seinen theoretischen Schriften als Menschenbild entwirft, findet sich untergründiger, widersprüchlicher, differenzierter, aber auch besonders deutlich in seinen Dramen wieder. In den dramentheoretischen Überlegungen und eben in den Dramen selbst erweist er sich nicht nur als scharfsinniger Psychologe, sondern in gleichem Maße auch als ein der Aufklärung verpflichteter Menschenkenner, als ein politisch reflektierter Rebell der Freiheit. Thomas Mann ging in seinem "Versuch über Schiller" im Schiller-Jahr 1955 noch einen Schritt weiter: "Wie stark (...) habe ich das empfunden (...), daß er, der Herr seiner Krankheit, unserer kranken Zeit zum Seelenarzt werden könnte, wenn sie sich recht auf ihn besänne." Als Weltbürger, der sich keinem Fürsten angedient hat, wird Schiller auch für das 21. Jahrhundert der emphatische Anwalt der "Sache des Öffentlichen", der res publica, der Klassiker der Moderne bleiben. Brief an Wilhelm Friedrich Reinwald am 14.4. 1783. Max Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Frankfurt/M. 1962, S. 189. Ebd. Peter André Alt, Schiller. Eine Biographie. Leben - Werk - Zeit. 2 Bde., München 2000, Bd. 1, S. 665. Vgl. dazu Dieter Borchmeyer, Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein, Frankfurt/M. 1988. Walter Muschg, Die deutsche Klassik tragisch gesehen, in: Heinz Otto Burger (Hrsg.), Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen, Darmstadt 1972, S. 174. Albert Ludwig, Schiller. Sein Leben und Schaffen, Berlin 1909. M. Kommerell (Anm. 2), S. 135ff. Ernst Schulin, Schillers Interesse an Aufstandsgeschichte, in: Otto Dann (Hrsg.), Schiller als Historiker, Stuttgart-Weimar 1995, S. 137. Vgl. dazu Walter Müller-Seidel, Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1900, Stuttgart 1963. Vgl. dazu Norbert Oellers, Friedrich Schiller. Zur Modernität eines Klassikers, Frankfurt/M.-Leipzig 1996. Robert Minder, Schiller, Frankreich und die Schwabenväter, in: ders., Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. 5 Essays, Frankfurt/M. 1962, S. 125.
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Haller-Nevermann, Marie
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
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Als Weltbürger, der sich keinem Fürsten angedient hat, kann Schiller als emphatischer Anwalt der res publica, als Klassiker der Moderne gelten.
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Zum Verhältnis von Parlamentarismus und Protest | Protest und Beteiligung | bpb.de
Der Beginn der 2010er Jahre könnte als eine neue Hochzeit des politischen Protests in die Geschichtsbücher eingehen – Proteste in den von der Finanzkrise in der Europäischen Union am härtesten betroffenen Ländern Griechenland, Portugal und Spanien, die von den USA ausgehende Occupy-Bewegung wider den Finanzkapitalismus und die amerikanische Tea-Party-Bewegung, deren antipolitischer Populismus gegen „die in Washington“ gerichtet ist. Hinzu kommt der „Arabische Frühling“, wobei es den Freiheitsbewegungen in den arabischen Ländern indes um elementare Mindestrechte ging und geht, denn keines dieser Länder verfügt auch nur über halbwegs mit westeuropäischen Standards vergleichbare demokratische Strukturen. In Deutschland wiederum avancierte „Stuttgart 21“ zur Chiffre für mangelnde Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger und einen erhöhten Legitimationsdruck politischer Entscheidungen. Das übliche parlamentarische Verfahren politischer Entscheidungsfindung scheint den Bürgern nicht mehr auszureichen; was legal ist, wird offenbar nicht mehr als legitim empfunden. Dagegen wurde auch am Stuttgarter Fall konstatiert, dass sich „die repräsentative Demokratie (…) den kollektiven Emotionen“ ausliefert. Demoskopen wiederum haben ermittelt, dass sich die Haltung der Bürger gegenüber zwar unbeliebten, aber demokratisch legitimierten Entscheidungen nicht stark verändert habe. Die Proteste in Stuttgart sind demnach nicht in einer neuartigen Haltung dem Staat gegenüber begründet, sondern vor allem auf lokal- und landespolitische Ursachen zurückzuführen. Allerdings gibt es einen deutlichen Generationenunterschied bei der Frage, welche Akzeptanz demokratische Entscheidungen finden: Jüngere Menschen sehen es zu zwei Dritteln als legitim an, gegen den Mehrheitsbeschluss eines kommunalen Parlamentes mittels Bürgerinitiativen oder Demonstrationen vorzugehen, während fast die Hälfte der über 60-Jährigen den Beschluss als gegeben hinnehmen. Jedenfalls wird seit dem Aufruhr im „Ländle“ in einer breiten Öffentlichkeit über Bürgerbeteiligung und das Verhältnis von repräsentierenden Politikern und repräsentierten Bürgern debattiert. Dabei sind einige der kritischen Argumente gegenüber der Verfassungswirklichkeit schon Jahrzehnte alt – der Begriff „repräsentativer Absolutismus“, der vor allem auf die starke Stellung der Parteien zielt, existiert beispielsweise schon seit 35 Jahren. Beflügelt wurde das Thema durch weitere Infrastrukturprojekte wie etwa den Aus- beziehungsweise Neubau des Frankfurter und des Berliner Flughafens und im Zuge der angekündigten Energiewende. Hinzu kam der Aufstieg der Piratenpartei, in der vor allem junge Wählerinnen und Wähler eine politische Kraft sehen, die neue Partizipationsformen ermöglicht, während andere Kommentatoren ihr nur den Status einer Protestpartei zugestehen wollen. Unter all dem schwelt seit geraumer Zeit die grundlegende Debatte, ob unsere politischen Institutionen unter dem Einfluss partikularer Interessengruppen an Legitimität verloren haben. Selbst wenn man dieser – prominent von dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem vor allem in Deutschland vielbeachteten Buch „Postdemokratie“ vertretenen – These nicht folgt, muss ein massiver Vertrauensverlust des Politischen konstatiert werden; der im Lande neu erwachte Protest ist eine Folge davon. Unterschiede Um das Verhältnis von Protest und Parlamentarismus zu ergründen, lohnt es, sich zunächst die Unterschiede zu verdeutlichen: Zunächst einmal dürfte der Parlamentarismus bei den meisten Menschen jenseits von Wahltagen, wenn überhaupt, lediglich über die Fernsehnachrichten eine Rolle spielen, während Protest im Kleinen durchaus vor der eigenen Haustür erlebt werden kann. Das Handeln von Abgeordneten unterliegt strengen Regeln, es verlangt viel Fachwissen und hat eigene Codes. Volksvertretungen haben hohe Zugangshürden und sind auf etablierte Verfahren angewiesen, die manchmal schwerfällig sind. Helmut Schmidts Bonmot, dass das Schneckentempo das normale Tempo jeder Demokratie sei, meint vor allem den deutschen Parlamentarismus in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik. Dafür ist im Gegensatz zu außerparlamentarischen Formen politischen Engagements die Legitimationsfrage eindeutig geklärt. Protest hingegen ist oft spontan, er ist ungeregelt, nicht an feste Verfahren gebunden, und er kommt ohne Geschäftsordnung aus. Während er sich gegen diffuse Missstände richten kann, ohne eine konkrete Lösung zu deren Abhilfe parat zu haben, setzt sich parlamentarisches Handeln hingegen meist mit detaillierten Sachverhalten auseinander. Symbolisches Handeln, mit dem Protestbewegungen auf sich aufmerksam machen, bleibt im politischen Prozess meist der Exekutive vorbehalten. Bei dem Vorwurf an „die Politik“, dass sie nichts oder das Falsche tue, wird allerdings zwischen der Regierung, auf welche die Medien fokussieren, und dem sie kontrollierenden Parlament zumeist nicht unterschieden. Der parlamentarische Alltagsbetrieb weckt kaum Emotionen, während Protest oft Ausdruck eines Lebensgefühls ist. Manchmal hat er sogar den Charme eines Happenings. Protest als soziale Bewegung erfüllt die Kriterien, warum Menschen sich engagieren: Man dient einer – in den eigenen Augen guten – Sache, gestaltet das eigene Umfeld, bringt Kompetenzen ein und erlebt soziales Miteinander. Belohnt wird die Mühe mit dem motivierenden Gefühl, selbstwirksam zu sein. Rolle der Medien Protest erfüllt viele der klassischen Aufmerksamkeitskriterien, die für Medien entscheidend sind: Es handelt sich um Konfliktthemen, die oft neuartig sind, sich auf griffige Formeln herunterbrechen lassen und zudem schön bebildert werden können. Er ist insbesondere für Bildmedien einfacher zu transportieren als parlamentarischer Alltag. Nicht, dass dieser in weitesten Teilen nicht öffentlich stattfände, aber als interessant empfunden wird er von den wenigsten Medien und Bürgern. Die tägliche Kompromisssuche ist medial kaum abzubilden. So bleibt die parlamentarische Kärrnerarbeit im Gegensatz zum exekutiven Handeln in aller Regel auf der Strecke. Das gilt beileibe nicht nur für den Deutschen Bundestag im Verhältnis zur Bundesregierung, sondern genauso für Landtage und Ministerpräsidenten oder Stadträte und Oberbürgermeister. Zu den Erfolgskriterien des Protests hingegen, der auch eine Kommunikationsleistung ist, zählt die Simplifizierung, die Reduktion auf einfache Formeln. Zudem haben die elektronischen Medien die Verbreitung von und den Aufruf zu Protesten enorm vereinfacht. Das reicht von harmlos-ironischen Formen wie Flashmobs über schnelle, aber massenhafte Protestformen via Twitter oder mittels Postings (Shitstorm) bis hin zu Youtube-Videos, die eine wichtige Quelle für westliche TV-Sender waren, wenn diese über die Aufstände in der arabischen Welt berichteten. Die einfache mediale Durchsetzbarkeit von Protest dürfte wiederum selbstreproduzierende Effekte zeitigen. Hinzu kommt oft ein Solidarisierungseffekt mit den vermeintlich Schwächeren, die sich eines übermächtigen Gegners erwehren müssen. Generell spielen in der Berichterstattung Machtfragen und Umfrageergebnisse eine immer wichtigere Rolle. Komplexe Fragen, auf die Experten wie Politiker genauso wenig wie Journalisten und Bürger eine Antwort haben, spielen jenseits der absoluten Qualitätsmedien kaum mehr eine Rolle. Enttäuschte Erwartungshaltung Zum Verständnis von vehementen Protesten kann es hilfreich sein, Theorien aus der Psychologie heranzuziehen. So besagt die Frustrations-Aggressions-Hypothese, dass das Erleben von Frustration, hervorgerufen beispielsweise durch die Versagung von Wünschen – etwa infolge überzogener Ansprüche –, die Wahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten steigert. Im Kontext von Protesten liegt es nahe, an den „Wutbürger“ zu denken. Andersherum gefragt: Entstehen Proteste tatsächlich, weil die repräsentative Demokratie nicht, oder nicht mehr, in der Lage ist, sich der berechtigten Anliegen der Bürger anzunehmen? Oder könnte es eventuell mit unrealistischen Erwartungen zu tun haben, dass Hoffnungen enttäuscht werden? Zumindest steht die – durchaus von Politikern geförderte – Erwartungshaltung der Bürger, worum sich „die Politik“ kümmern soll, in einem seltsamen Widerspruch zu dem beständig sinkenden Vertrauen in die Problemlösungskompetenz von Politik. Für den Politikwissenschaftler Herfried Münkler ist der Wutbürger „das Produkt seiner eigenen überzogenen Erwartungen“: Das Problem der Demokratie sei, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten mit Erwartungen überfrachtet worden ist. Tatsächlich ist Politik ein stetig expansiver Prozess, immer mehr gesellschaftliche Themen werden zunehmend detaillierter geregelt. Andererseits ist es für die politisch Verantwortlichen in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft, in der individuelle Anliegen und Bedürfnisse in stetig steigendem Maße als legitim erachtet werden, kaum möglich, diesen Wünschen gerecht zu werden. Der Parlamentarismus wird in seiner unmittelbaren Responsivität auf „den Bürgerwillen“ schon dadurch beschränkt, dass er mit seinem Instrumentarium – der Gesetzgebung – zumindest auf nationaler Ebene kaum dazu in der Lage ist, sich mit Einzelfällen zu befassen. Vielmehr „regeln Gesetze immer angenommene Durchschnittsfälle“, die aber in der Realität kaum je vorkämen, wie es Bundestagspräsident Norbert Lammert einmal ausdrückte. In der Folge jedoch würden Politikerinnen und Politiker in Bürgersprechstunden oder mittels Petitionen mit individuellen Anliegen konfrontiert, denen die betreffende Regelung nicht gerecht wird samt der „erstaunten, meist dann auch empörten Nachfrage, ob das denn ernsthaft so gemeint gewesen sei. Die ehrliche Auskunft lautet dann regelmäßig: natürlich nicht.“ Doch nicht nur fortwährende Enttäuschungen dürften Ohnmachtsgefühle wecken, sondern auch eine politische Rhetorik, die weitreichende Entscheidungen von vornherein als „alternativlos“ etikettiert. Es bleibt ein „Henne-Ei-Problem“ der politischen Sprache: Ist die kritikwürdige Verknappung von Statements in zumeist floskelhafter Sprache eine politische Verschleierungstaktik oder Resultat der immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsfenster, die Bürger wie Medien gewähren? Andererseits wirkt die hölzerne politische Rhetorik, die vorwiegend der Linie der jeweiligen Partei folgt, bestenfalls ermüdend auf das Publikum, während sie im Normalfall die Distanz zwischen Wählern und Gewählten vergrößert. Distanz von Wählern und Gewählten Tatsächlich konstatiert die Politikwissenschaft eine zunehmende Entfremdung von „Politik“ und „Volk“. Doch das Unbehagen dürfte sich weniger gegen den Parlamentarismus und die Demokratie an sich wenden, sondern mehr ein Misstrauen gegenüber „den Politikern“ sein, die in einem undurchsichtigen Geflecht von Abhängigkeiten gefangen seien oder schlicht nicht wagten, ehrlich zu sein. Diese Gefühlslage ist eine Erklärung für den Erfolg von Karl-Theodor zu Guttenberg, dem viele zu Gute hielten, Tabus zu brechen (beispielsweise mit dem Eingeständnis, dass die Bundeswehr in Afghanistan Krieg führe) oder auch Thilo Sarrazin. Die Reaktionen auf dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ hatten vielfach Züge von Protest. Laut einer Auswertung der Leserrezensionen schätzen die Leserinnen und Leser an Sarrazins Buch vor allem die Kritik an den politischen Eliten, die sich „aus genereller Feigheit oder Furcht vor einer Wahlniederlage“ nicht trauten, die Wahrheit zu sagen. So liegt die Vermutung nahe, dass die Entscheidungen der Gewählten nicht hinreichend dem Willen der Wähler entsprechen. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass eine gewisse Distanz konstitutionell zu einem auf Repräsentation beruhenden System gehört. Historisch betrachtet gab es in der Bundesrepublik einige politische Entscheidungen, die gegen den Protest vieler Menschen und entgegen der demoskopisch ermittelten Mehrheitsmeinung getroffen wurden, die aber nach überwiegender Meinung der Zeitgeschichtsschreibung die Geschicke unseres Landes zum Guten wendeten. Genannt werden in diesem Kontext vor allem die Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren sowie der NATO-Doppelbeschluss zu Beginn der 1980er Jahre. Infolge der Proteste gegen die Nachrüstung und im Zuge der Umweltbewegung konnte sich die Partei Die Grünen bundesweit parlamentarisch etablieren. Ironischerweise war – zumindest regional – die nachhaltigste Wirkung der Proteste gegen „Stuttgart 21“ ebenfalls ein parlamentarischer Erfolg, der Wahlsieg der Grünen: Die Partei stellt seit der Landtagswahl vom 27. März 2011 nicht nur zum ersten Mal in der Geschichte einen Ministerpräsidenten, sondern grüne Bewerber konnten bei ihr auch drei der vier Direktmandate in Stuttgart gewinnen, was ebenfalls eine Premiere war. Mehr Bürgerbeteiligung als Allheilmittel? Zweifelsohne ist eine Lehre aus den Ereignissen in Stuttgart, dass die frühe Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger – möglicherweise auch im Sinne einer aktiven Bringschuld von Politik und Verwaltung – nötig ist, um Akzeptanz für weitreichende Vorhaben zu schaffen und damit ein zügiges Verfahren zu garantieren. Viele Unternehmen, die Großvorhaben planen, beziehen die Betroffenen mittlerweile möglichst früh ein – sie sparen schlicht Geld dadurch. Das lohnt sich auch für die öffentliche Hand, die meist an der Finanzierung großer Infrastrukturprojekte beteiligt ist. Die Stadt Mannheim beispielsweise, in der durch den Abzug der amerikanischen Streitkräfte 2015 riesige bislang militärisch genutzte Flächen freiwerden, hat einen Konversionsbeauftragten eingesetzt. Seine Aufgabe ist es, die Stadtentwicklung „nicht nur zu einer Sache der unmittelbar betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu machen, sondern zu einer Gemeinschaftsaktion der gesamten Bürgerschaft“. Dies ist ein praktisches Beispiel, wie Bürgerbeteiligung die repräsentative Demokratie beleben kann. Die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg wiederum hat eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung berufen. Mittlerweile sind die unterschiedlichen Formate, mit denen Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen beteiligt werden können, auch in Deutschland bekannt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit wären etwa Bürgerforen, Open-Space-Konferenzen, Planungszellen, Szenario-Techniken und Zukunftswerkstätten zu nennen. Bundesweite Bekanntheit erlangten vor allem die Bürgerhaushalte in verschiedenen Städten und die auf der amerikanischen Community-Organizing-Idee fußenden Bürgerplattformen Berlin-Schöneweide und Wedding/Moabit. Diese Projekte erlauben die Einbeziehung von bislang dem Politischen fernstehenden Menschen. Sie leben häufig in sozial schwierigen Verhältnissen und verfügen nicht über einen deutschen Pass, weshalb sie nicht wählen dürfen. Der Wermutstropfen ist gleichwohl, dass sich nicht einmal die Hälfte der Bürger vorstellen kann, an den oben genannten Formaten mitzuwirken. Allerdings könnte schon die Möglichkeit, an ihnen teilzunehmen, für mehr Zufriedenheit in der Bevölkerung sorgen – darauf deuten zumindest Befunde aus der Schweiz hin: „Die Möglichkeit der Bürger, mit direktdemokratischen Instrumenten in den politischen Prozess einzugreifen, erweist sich für das subjektive Wohlbefinden als wichtiger als die aktive Nutzung der Volksrechte.“ Bürger in Gesetzgebungsvorhaben einzubeziehen ist jedoch schwieriger, da die Materie meist sehr komplex ist. Trotzdem will das Bundesland Thüringen in diesem Jahr ein Internetforum für Bürgerbeteiligung an Gesetzgebungsverfahren einrichten. Ein Mehr an Information und Transparenz in einer frühen Phase von Gesetzgebungsverfahren ist zweifelsohne hilfreich, denn der Eindruck, dass wichtige Vorhaben hinter verschlossenen Türen ausgehandelt würden, führt zu einem Verlust an Vertrauen in die repräsentative Demokratie. Es kann allerdings gute Gründe dafür geben, im politischen Prozess nicht alle Interessen oder jede Festlegung auf eine Position offenzulegen, beispielsweise wenn dadurch exekutive Verhandlungsmandate zu sehr eingeschränkt würden. Indes sind beim Deutschen Bundestag, dessen Mitglieder gelegentlich unter dem Verdacht stehen, zu sehr undurchsichtiger Einflussnahme ausgesetzt zu sein, selbst die Argumente der nicht-öffentlichen Sitzungen der Ausschüsse weitestgehend nachvollziehbar. Ein anderes Bild ergibt sich beim Bundesrat, vor allem wenn Verfahren in den Vermittlungsausschuss überwiesen werden. Auf europäischer Ebene, wo die Konsensfindung der Staats- und Regierungschefs alles andere als transparent ist, ist kaum zu durchschauen, welche Opportunitäten bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen. Interessant ist das Ergebnis einer Umfrage, nach dem mehr als zwei Drittel der Befragten sagten, dass es ihnen selbst oft kaum möglich sei zu beurteilen, ob der Bau eines Flughafens oder eines Kraftwerks in ihrer Umgebung sinnvoll sei oder nicht, sich aber über die Hälfte gegen ein solches Großprojekt engagieren würde. 63 Prozent schätzen solche Proteste als eine gute Gelegenheit ein, ihrem Unmut gegenüber der Politik Ausdruck zu verschaffen, wobei sie mehrheitlich durchaus bereit sind, ihre eigenen Interessen bei großen Vorhaben hinter das Gemeinwohl zurückzustellen. Wahlen sind am gerechtesten Bei allen Wünschen nach mehr direkten Beteiligungsmöglichkeiten ist zu berücksichtigen, dass diese eine sozial exkludierende Wirkung haben können. Nach wie vor gilt in Deutschland wie in ganz Europa, „dass Wahlen weiterhin das verlässlichste Instrument sind, eine sozial nur gering verzerrte politische Teilhabe zu gewährleisten“. Bürgerschaftliches Engagement, unter das zweifelsohne auch Protestbewegungen zu subsumieren sind, weist eine soziale Schieflage auf, denn es engagieren sich vor allem Menschen mit höherer Bildung und höherem Einkommen – was übrigens die Stuttgarter Proteste belegen. Neue Möglichkeiten zur Mitgestaltung sind vor allem für die schon Engagierten entstanden. So bleibt das ernüchternde Ergebnis, „dass der Aufstieg unkonventioneller Beteiligungsformen zu Lasten sozial Schwacher geht, die diese viel seltener nutzen“. Allerdings besteht selbst bei Wahlen eine sozioökonomische Unwucht, denn mit sinkender Wahlbeteiligung geht das Problem einher, dass das Ergebnis von Wahlen zuungunsten von sozial Schwachen verzerrt ist, je niedriger die Wahlbeteiligung ausfällt. Derselbe Effekt ist bei direktdemokratischen Verfahren – von vielen Kommentatoren als Allheilmittel gegen den politischen Frust angesehen – zu beobachten, denn sie fördern „meist diejenigen, die politisch artikulations-, organisations- und konfliktfähig sind“. Generell lassen sich sozial Schwächere kaum mobilisieren – sogar wenn eine Nichtbeteiligung unmittelbar zu Lasten eigener Interessen geht. Bei dem Volksentscheid über die Primarschule in Hamburg im Sommer 2010 beteiligten sich beispielsweise in den „reicheren“ Stadtteilen fast zwei Drittel der Abstimmungsberechtigten, während in den Vierteln mit sozial schwächeren Familien, deren Kinder besonders von der Reform profitiert hätten, nicht einmal 20 Prozent der Berechtigten ihre Stimme abgaben. Der Einwand gegen Partizipationsformen wie Proteste und direktdemokratische Verfahren, dass diese vor allem der Durchsetzung von Partikularinteressen, nicht aber dem Gemeinwohl dienten, ist jedenfalls nicht so leicht von der Hand zu weisen. Auch hinsichtlich der Frage, wer dafür zuständig ist, Entscheidungen umzusetzen beziehungsweise andernfalls zur Verantwortung gezogen werden kann, existiert ein Unterschied zwischen der direkten und der repräsentativen Demokratie. Das sollte die Mehrheit der bundesdeutschen Abgeordneten bedenken, die direktdemokratische Verfahren wie Volksbegehren und Volksentscheide als eine sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie ansehen. Rolle der Parteien Eine im Vergleich zu anderen Organisationsformen bürgerschaftlichen Engagements weniger sozial exkludierende Funktion muss man auch den vielgescholtenen politischen Parteien zu Gute halten – auch wenn sich deren Mitgliedschaft strukturell in Richtung höher gebildeter Mitglieder und Funktionsträger entwickelt. Da die Parteien zumindest auf Landes- und Bundesebene eine Art „Türhüter des Parlamentarismus“ sind, weil dort kaum ein Nichtmitglied die Chance auf ein Mandat hat, muss gleichwohl berücksichtigt werden, wer über die Kandidatenaufstellung entscheidet. Dies bleibt zwar nach wie vor den Mitgliedern der Parteien vorbehalten, doch da vielerorts nicht mehr Delegiertenversammlungen entscheiden, sondern alle Mitglieder, sind zumindest hinsichtlich der innerparteilichen Demokratie Fortschritte zu verzeichnen. Zwar haben die politischen Parteien seit Jahrzehnten keinen guten Ruf als gemeinwohlgestaltende Organisationsform, gelten vielen ausschließlich als „machtvergessen und machtversessen“ (Richard von Weizsäcker). Trotzdem sollten sie als Mittel zur politischen Partizipation nicht vollkommen beiseite gelassen werden, zumal alle Parteien Nachwuchssorgen haben und oft nicht mehr genügend Bewerber für kommunale Mandate aufbieten können. Positiv betrachtet tun sich dort also Chancen zur Partizipation auf – mit einem längeren Atem sogar zur parlamentarischen Mitgestaltung. Dass die Parteien ihrerseits den Anschluss an die Bürgergesellschaft suchen müssen, steht dem nicht im Wege. Unserem Gemeinwesen wäre generell zuträglich, wenn die Gegenüberstellung von Wählern und Gewählten, von „denen da oben“ und „uns hier unten“ überwunden würde. Blicken wir ein letztes Mal nach Stuttgart: Dort im Landtag sagte Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Antrittsbesuch in Baden-Württemberg im April 2012 zu Beginn seiner Rede: „Wenn ich gerade ‚liebe Bürgerinnen und Bürger‘ gesagt habe, dann meine ich (…) auch Sie hier in diesem Landtag. Sie sind Bürger. (…) Bürger und Politik, das sollte in unserem Land, in unserer Demokratie nichts Getrenntes sein. Es ist es auch nicht. Hier, in den Parlamenten unseres Landes, wird es ja sinnfällig.“ Hans Vorländer, Der Wutbürger, in: Harald Bluhm (Hrsg.), Ideenpolitik, Berlin 2011, S. 470. Vgl. Thomas Petersen, Autorität in Deutschland, Bad Homburg 2011, S. 70ff. Vgl. Wolf-Dieter Narr (Hrsg.), Auf dem Weg zum Einparteienstaat, Opladen 1977. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008. Vgl. John Dollard/Neal E. Miller, Frustration and aggression, New Haven 1939. Vgl. anstatt vieler: Thomas Petersen, Hochkonjunktur für politische Interventionen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.11.2011. Herfried Münkler, Die Verdrossenen und Empörten, in: Neue Zürcher Zeitung vom 25.4.2012. Norbert Lammert, Föderalismus und Parlamentarismus, Rede vor dem Bayerischen Landtag am 3. April 2008, online: Externer Link: www.bundestag.de/bundestag/praesidium/reden/2008/005.html (22.5.2012). Vgl. anstatt vieler: Roland Roth, Bürgermacht, Hamburg 2011, S. 37ff. Vgl. Carolin Dorothée Lange, „Das wird man wohl noch sagen dürfen“, MPIfG Working Paper, Dezember 2011, S. 14, online: Externer Link: www.mpifg.de/pu/workpap/wp11-9.pdf (22.5.2012). Stadt Mannheim (Hrsg.), Umwandlung ehemals militärisch genutzter Flächen in Mannheim, Mannheim 2011, S. 6. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Politik beleben, Bürger beteiligen, Gütersloh 2010, online:Externer Link: www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-01528FD7-D7F5060F/bst/xcms_bst_dms_31298_31299_2.pdf (22.5.2012). Vgl. Bertelsmann Stiftung, Umfrage „Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert und sind für sie erstrebenswert – Welche kommen nicht in Frage?“, Juni 2011, online: Externer Link: www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-A61CC4B5-2339DF33/bst/xcms_bst_dms_34121_34144_2.pdf (22.5.2012). Vgl. Alois Stutzer/Bruno S. Frey, Stärkere Volksrechte – zufriedenere Bürger: eine mikroökonometrische Untersuchung für die Schweiz, in: Swiss Political Science Review, 6 (2000) 3, S. 2. Fernab der Unterschiede zur dortigen Konkordanzdemokratie, in der die direkte Demokratie vor allem als Vetorecht genutzt wird, wäre es interessant, die Lebenszufriedenheit im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Stufen von Partizipation (Information, Beteiligung, Entscheid) zu untersuchen. Vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung, Das Bürgerliche und der Protest, Auswertung einer repräsentativen Umfrage, 24.2.2011, online: Externer Link: www.kas.de/wf/doc/kas_21970-544-1-30.pdf?110224093951 (22.5.2012). Armin Schäfer, Die Folgen sozialer Ungleichheit für die Demokratie in Westeuropa, in: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft, 4 (2010) 1, S. 133. Vgl. Dieter Rucht et al., Befragung zu Stuttgart 21, Kurzbericht, Oktober 2010, online: Externer Link: www.wzb.eu/sites/default/files/projekte/stgt_21_kurzbericht_2010.pdf (22.5.2012). A. Schäfer (Anm. 16), S. 140. Manfred G. Schmidt, Lehren der Schweizer Referendumsdemokratie, in: Claus Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie, Frankfurt/M. 2003, S. 119. Vgl. auch: Heidrun Abromeit, Schwächen des Repräsentativmodells: Zur Reichweite direktdemokratischer Verfahren, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 9 (2011) 1, S. 29–48. Vgl. Jenaer Parlamentarierbefragung 2010. Ausgewählte Ergebnisse, S. 11, online: Externer Link: www.sfb580.uni-jena.de/typo3/uploads/media/Gesamtergebnis_der_Jenaer_Parlamentarierbefragung_2010.pdf (22.5.2012). Vgl. Heiko Biehl, Die Dominanz der Akademiker, in: Vorgänge, 46 (2007) 4, S. 15–23. Vgl. Marion Reiser, Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung von Kandidaten?, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 237–259. Joachim Gauck, Rede beim Antrittsbesuch in Baden-Württemberg, 19. April 2012, online: Externer Link: www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2012/04/41-1-bpr-antrittsbesuch.html (22.5.2012).
Article
, Knut Bergmann
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-06-11T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
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Parlamentarismus und Protest markieren zwei Pole in der Debatte um mehr Bürgerbeteiligung. Doch die Unzufriedenheit mit dem politischen System hat viele Ursachen, wobei die Erwartungen an “die Politik” eine große Rolle spielen.
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Risse in der Sicherheitsarchitektur des SED-Regimes | Deutschland Archiv | bpb.de
1. Einleitung Die Staatssicherheit sollte gemeinsam mit der Volkspolizei die innere Sicherheit der DDR gewährleisten. Der Mielke-Apparat sorgte zumeist mit geheimpolizeilichen Methoden für die politische Überwachung, die Volkspolizei eher mit offener Repression für die allgemeine Ordnung und Sicherheit. Dabei waren Überschneidungen unausweichlich und komplementäre Vorgehensweisen sogar erwünscht. So konnte sich die Geheimpolizei, etwa bei der Bekämpfung der Ausreisebewegung, des Deckmantels der Volkspolizei und der inneren Verwaltung bedienen, denn diese lud die Bürger zur mündlichen Ablehnung ihrer Anträge vor – und die Staatssicherheit musste gar nicht in Erscheinung treten. Als "verlängerter Arm" des Mielke-Apparates verhaftete die Volkspolizei außerdem viele Fluchtwillige weit vor der Grenze, untersuchte "kleine" politische Delikte, kontrollierte entlassene politische Gefangene oder meldete das Auftauchen westlicher Journalisten. So gingen die beiden wichtigsten Säulen des ostdeutschen Repressionsapparates gegenüber den Betroffenen arbeitsteilig vor. Friedrich Dickel, Innenminister, verleiht 1968 Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, die Auszeichnung "Verdienter Volkspolizist". (© BStU) Wenn Staatssicherheit und Volkspolizei sich absprachen, agierten sie keineswegs "auf Augenhöhe", denn spätestens seit dem Mauerbau war die Geheimpolizei in der stärkeren Position. Gerade in Personalfragen wurde dies deutlich: So überwachte der Mielke-Apparat die Angehörigen des Ministeriums des Innern (MdI) hinsichtlich ihrer Westkontakte, Linientreue und Charakterschwächen, während Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gegen Ermittlungen der Kriminalpolizei selbstverständlich immun waren. Die Nomenklaturkader im MdI wurden zwar von der SED-Führung bzw. dem Nationalen Verteidigungsrat benannt, doch selbst Leitungskader konnte die Staatssicherheit ablösen lassen. Angehörige des Ministerium des Innern sowie dessen nachgeordneter Bereiche, die im Verdacht (politischer) "Straftaten" standen, wurden in jährlich etwa 500 Operativen Personenkontrollen und Operativen Vorgängen "bearbeitet", die in etwa 150 Entlassungen mündeten. Gerade zu diesem Zweck führte die Staatssicherheit im Bereich der Volkspolizei zuletzt mehr als 5.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM) oder Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS). Diese saßen auch in der Spitze des Ministeriums des Innern, deren Leitungskader ohnehin offizielle Arbeitskontakte zur Staatssicherheit unterhielten und dabei etwa Sachfragen klärten. Doch als IM informierten sie beispielsweise auch darüber, welcher Polizeichef eines Bezirks bei Innenminister Friedrich Dickel in Ungnade gefallen war. "In hoher Qualität" berichteten die Spitzel über die "Situation in der Leitung" des Ministeriums und übermittelten Redeentwürfe des Ministers, Kollegiumsvorlagen, Richtlinien "und andere Materialien geheimster Art" im Entwurfsstadium. Solche Grundsatzdokumente (etwa zum Komplex der Ausreise) vermochte die Staatssicherheit dann auf Arbeitsebene wie auf Ministerebene zu beeinflussen. Gegen fachliche Entscheidungen konnte die Geheimpolizei ihr Veto einlegen und mit Hilfe ihrer Zuträger sogar Strukturveränderungen "von größter Wichtigkeit" vorschlagen. Diese IM in Leitungsfunktionen zu führen wie auch die offiziellen Arbeitskontakte auf zentraler Ebene zu unterhalten oblag der Hauptabteilung VII im MfS. Zwar sollten die beiden Apparate nach dem Willen der SED-Führung reibungslos zusammenarbeiten, doch in der Praxis herrschten oft "Kompetenzgerangel und Geheimniskrämerei" bis hin zu "Abgrenzungs- und Rangkämpfen". Dieses Zusammenspiel wird nachfolgend auf oberster Ebene in den Siebziger- und Achtzigerjahren untersucht. Dabei ist die Überlieferung disparat: Zwar sind zahlreiche Leitungsunterlagen des MdI überliefert, doch wird die Geheimpolizei darin selten erwähnt. In deren Akten wiederum fand das alltägliche "politisch-operative Zusammenwirken" weniger Niederschlag als die Führung der IM, deren Vorgangsakten der Darstellung zugrunde liegen. 2. Das Zusammenwirken der Apparate in den Siebzigerjahren Mitte der Siebzigerjahre vollzog sich an der Spitze des Ministeriums des Innern ein Generationswechsel. Die neuen stellvertretenden Minister zeigten sich insgesamt selbstbewusster als ihre Vorgänger, die im obersten Beratungsgremium, dem Kollegium, gegen Dickel oft nicht zu Wort gekommen waren. So wurde im November 1973, zwei Jahre nach Erreichen des Pensionsalters, Staatssekretär Herbert Grünstein abgelöst, da er angeblich ineffizient und "unausgeglichen" arbeitete. Seinen Zuständigkeitsbereich (Innere Angelegenheiten, Strafvollzug und Feuerwehr) übernahm im Januar 1974 Günter Giel; Grünsteins Titel des 1. Stellvertretenden Ministers, nun mit Verantwortung gegenüber sämtlichen Dienstzweigen, wurde kurzzeitig Ewald Eichhorn übertragen. Während Grünstein – entgegen den Intentionen der Staatssicherheit – beispielsweise der Kriminalpolizei mehr eigene Spitzel hatte zubilligen wollen, war Giel "in der Lage, begründete Forderungen und Vorschläge unseres Organs aufzugreifen und [...] durchzusetzen". Denn er arbeitete seit 1960 inoffiziell für die Staatssicherheit, verstand es, deren Hinweise "als Eigeninitiative [...] auszugeben", und pflegte sich nicht "hinter unserem Organ" zu "verstecken". Zum Vorteil gereichte der Staatssicherheit ebenfalls, dass 1976 (anstelle Ewald Eichhorns) Rudolf Riss zum 1. Stellvertreter des Ministers avancierte, der 1968 ohne schriftliche Verpflichtungserklärung als GMS angeworben worden war. Er ließ "Gedanken des MfS in Dokumente des MdI einfließen" und galt als geradezu hörig gegenüber der Geheimpolizei. Sogar Dickel rügte ihn im Kollegium "sehr lautstark" sowie "unsachlich" und überschüttete ihn mit einer "Fülle von heftigen Vorwürfen". Fortan hielt Riss sich in der inoffiziellen Mitarbeit offenbar etwas zurück, doch lobte die Geheimpolizei weiterhin seine "klare[n] Positionen zur Staatssicherheit". Ihm unterstellte Abteilungsleiter suchten gar den Schulterschluss mit der Geheimpolizei, da sie Riss weiterhin auf dem aufsteigenden Ast sahen und in dessen "Windschatten" zu reüssieren hofften. Allerdings erboten nicht alle Leitungskader dem Mielke-Apparat vorauseilenden Gehorsam, selbst wenn sie als Zuträger verpflichtet waren. Der Leiter einer Hauptabteilung etwa wollte nur nach Genehmigung seines Vorgesetzten Informationen übermitteln, ein anderer versuchte, "Hinweisen des MfS [...] auszuweichen" oder überreichte Dokumente absichtlich verspätet. Und der erwähnte Leiter der politischen Verwaltung Eichhorn hatte zwar von 1953 bis 1959 als Geheimer Informator gearbeitet und wollte auch danach "den Kontakt zum MfS [...] festigen", zeigte sich jedoch vor allem dem eigenen Haus gegenüber loyal: "Was Genosse Dickel sagt, ist für ihn das Evangelium, das verwirklicht er ohne Abstriche." Der 1974 auf Ewald Eichhorn folgende Leiter der Politischen Verwaltung Werner Reuther hatte ebenfalls (1950–1957) für die Staatssicherheit inoffiziell gearbeitet; er äußerte sich im Kollegium vor allem aus ideologischer Warte, wie es seiner Funktion entsprach. Eine frühere Spitzeltätigkeit konnte Leitungskader weiterhin an die Staatssicherheit binden, während andere sich hiervon unbeeindruckt zeigten. Dass beispielsweise Ernst Marterer in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre inoffiziell tätig gewesen war (bis zur Versetzung zur Abteilung Sicherheitsfragen), nützte der Staatssicherheit kaum, als er 1970 stellvertretender Minister für die zivilen Dienstzweige wurde. "Nur in wenigen Fällen" informierte er aus eigener Initiative und nahm Hinweise vor allem dann "dankbar entgegen", wenn sie "wenig Aufwand erfordern". Eher im Visier der Staatssicherheit stand Willi Seifert, der seit 1957 Stellvertretender Minister war, 1961 bei der Abriegelung der Sektorengrenze eine maßgebliche Funktion hatte und seit 1968 die Hauptinspektion Kampfgruppen/Bereitschaften leitete. Er versuchte sich massiv gegenüber der Geheimpolizei abzugrenzen, die Jahre zuvor seine Rolle als Häftling im Konzentrationslager Buchenwald heimlich untersucht hatte. Zudem sprachen Leitungsschwächen und indirekte Westkontakte gegen ihn, doch Dickel bewahrte ihn vor einer Ablösung. Somit waren Mitte der Siebzigerjahre von den sechs Stellvertretern Dickels zwei zum damaligen Zeitpunkt und drei weitere zu einem früheren Zeitpunkt inoffiziell für die Staatssicherheit tätig bzw. tätig gewesen. Wurden damals weitere IM in nachgeordnete Funktionen des Ministerium des Innern versetzt, lehnte die Hauptabteilung VII deren Übernahme mitunter ab, was eine Übersättigung mit Quellen anzeigen könnte. Die Gewichte zwischen den beiden Ministerien bestimmte dabei vor allem die SED-Führung. 3. Das Dreieck Honecker, Mielke und Dickel Friedrich Dickel, Minister des Innern 1963–1989, Aufnahme von 1985. (© BStU) Der Minister des Innern Friedrich Dickel war (wie der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke) Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates sowie des Zentralkomitees, gehörte jedoch anders als dieser nicht dem Politbüro an. Dass die SED-Führung ihn jederzeit hätte ablösen können, dessen war Dickel sich schmerzhaft bewusst, hatte er doch bereits 1978 die Pensionsgrenze erreicht. Gegenüber Honecker zeigte er sich ebenso ergeben wie gegenüber dem 1983 angetretenen ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Egon Krenz, dessen Lageeinschätzung er freilich (im Gegensatz zur eigenen) für unrealistisch hielt. So konziliant Dickel sich gegenüber der Parteispitze gab, so suchte er doch die Abgrenzung von der Staatssicherheit. Hoch sensibel in Statusfragen betonte er die Eigenverantwortung seines Hauses. Zwar war Armeegeneral Dickel bestrebt, mit dem rangniederen Leiter der Stasi-Hauptabteilung VII, Generalmajor Joachim Büchner, "gut zusammenzuarbeiten" und forderte dies "von seinen Stellvertretern und Untergebenen ebenfalls". Doch er geißelte zu große Folgsamkeit und kritisierte Leitungskader als "Befehlsempfänger von denen". Im Kollegium ermahnte Dickel seine Stellvertreter mitunter explizit zur Schweigsamkeit ("das geht hier nicht raus, Ihr wißt schon wohin"), wenngleich erfolglos. Gelegentlich behauptete er auch, offene Fragen bereits mit der Geheimpolizei geklärt zu haben, obwohl dies nicht stimmte – vermutlich um seine Linie durchzusetzen. Bereits Mitte der Siebzigerjahre zeigte Dickel sich angeblich weniger entscheidungsfreudig und war "mitunter im Prinzip ‘froh´ [...], wenn andere Staatsorgane derartige Aufgaben übernehmen". Dank dieser Interpretation, zutreffend oder nicht, sah die Geheimpolizei sich in ihrer Vorrangstellung bestätigt. Erich Honecker zeichnet 1975 den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, und den Innenminister, Friedrich Dickel, als "Held der DDR" aus. (© BStU) Als JPG herunterladen (120.4kB) Tatsächlich musste Dickel sich häufiger mit Mielke als mit Honecker absprechen, die "zentrale Entscheidungen" in Fragen innerer Sicherheit unter sich ausmachten. Der Staatssicherheitschef leitete die hauseigenen Analysen über Westkontakte und andere Verfehlungen von Volkspolizisten auch nicht immer an Honecker weiter, sondern überreichte sie möglicherweise Dickel, wohl um diesen zur Dankbarkeit zu verpflichten. Andere Dokumente dieser Art wurden indes der Abteilung Sicherheitsfragen übergeben, die dann Dickel rügte, Belastendes verschwiegen zu haben. Forderte wiederum Honecker von Dickel einen Lagebericht, erhielt die Staatssicherheit diesen auf inoffiziellem Wege mitunter früher als die SED-Führung. Über die Verteilung der Kompetenzen sowie die politische Linie entschied insbesondere die Abteilung Sicherheitsfragen, die schon Dickels Berufung im Jahre 1963 veranlasst und seinem Apparat teilweise mehr Eigenständigkeit gegenüber der Staatssicherheit zugesprochen hatte. Die Abteilung führte eigene Kontrolleinsätze in wichtigen, dem Ministerium des Innern nachgeordneten Dienststellen (wie auch gegenüber dem Apparat der Staatssicherheit) durch, überreichte Honecker entsprechende "Schlussfolgerungen" (und "empfahl" deren Beratung im Kollegium) oder zitierte die zuständigen Stellvertretenden Minister herbei. Deren bilateralen Kontakte zur Abteilung Sicherheitsfragen waren Dickel indes ein Dorn im Auge, da er sich leicht übergangen fühlte. Speziell für die Volkspolizei war der stellvertretende Leiter dieser ZK-Abteilung Bruno Wansierski zuständig, der im Ministerium des Innern "die 1. Geige spielte", im Kollegium "fast zu jedem Tagesordnungspunkt" seine "eigenwillige Meinung" äußerte und Kontroversen mit Dickel nicht auswich. Wegen mangelnder Folgsamkeit gegenüber der SED maßregelte Wansierski einzelne Leitungskader, unterhielt zu anderen jedoch gute Kontakte, wie auch die Staatssicherheit wusste. Sein 1976 angetretener Nachfolger Heinz Leube machte zwar ebenfalls seinen Einfluss geltend, ergriff jedoch im Kollegium weit seltener das Wort und ließ sich teils von Dickel vereinnahmen. Als 1985 Wolfgang Herger (als Nachfolger Herbert Scheibes) Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen (und damit Vorgesetzer Leubes) wurde, bemühte Dickel sich verstärkt um dessen Rückendeckung. Die Abteilung Sicherheitsfragen instruierte im Jahre 1983 den (als IM tätigen) stellvertretenden Chef des MdI-Stabes für Planung und Information, Wolfgang Grandke, "auch dann" über gravierendes Fehlverhalten von Volkspolizisten zu informieren, "wenn die Bearbeitung durch andere Organe erfolgt", womit die Staatssicherheit gemeint war, deren Insiderwissen somit etwas entwertet wurde. Indes durfte die Geheimpolizei ab 1984 auch gegen Mitarbeiter der Politorgane des Ministeriums des Innern ermitteln, was bis dato aufgrund des Supremats der SED unerwünscht gewesen war. "Aufgrund von ernsthaften Vorkommnissen wurde von der Parteiführung jedoch [nun] die Bitte ausgesprochen, deren Institutionen in die politisch-operative Sicherungsarbeit einzubeziehen." Im Zusammenspiel der Sicherheitsorgane verschoben sich damit die Akzente. 4. Veränderungen in den Achtzigerjahren In den Achtzigerjahren plädierte die Staatssicherheit für mehr Arbeitsteilung mit der Volkspolizei, vermutlich auch weil sie selbst kaum noch wachsen durfte und ihre Arbeitskapazitäten somit begrenzt waren. "Genau wie Ihr gehen wir davon aus", so erklärte Mielke Leitungskadern des Ministeriums des Innern, "daß jeder seine spezifischen Aufgaben in hoher Qualität erfüllt und seiner spezifischen Verantwortung voll nachkommt. [...] Wir müssen davon wegkommen, daß Diensteinheiten des MfS und Dienststellen der DVP im Grunde genommen mit den gleichen Mitteln und auf die gleiche Art und Weise die gleichen Aufgaben realisieren." Der Mielke-Apparat wollte "die gemeinsamen Aufgaben auf die effektivste Art arbeitsteilig und koordiniert" gelöst wissen. Büchner unterstrich, Mielke habe die "weitere Erhöhung der Eigenverantwortung" beider Apparate betont. Eine richtiggehende Entflechtung wäre aber illusorisch gewesen, weil der hypertrophe Apparat der Staatssicherheit in politisch relevanten Bereichen des Ministeriums des Innern reihenweise eigene Leute platziert hatte. Dies betraf etwa die Kriminalpolizei, die aufgrund überlappender Aufgaben besonders eng mit der Geheimpolizei kooperierte und dabei häufig mit dieser in Konflikt geriet. Der Chef der Kriminalpolizei Helmut Nedwig, früher selbst inoffiziell für die Staatssicherheit tätig, suchte im Jahre 1980 gar den Streit mit dem ihm unterstellten Leiter der Arbeitsrichtung I der Kriminalpolizei (K I), Dieter Pietsch. Dem Offizier im besonderen Einsatz (OibE) des Mielke-Apparates gegenüber pochte Nedwig auf Eigenständigkeit: "Wir brauchen das MfS nicht. Wir sind nicht auf sie angewiesen. Wir haben viel bessere Möglichkeiten als das MfS. [...] Das MfS hat mit sich selber genug Probleme." Nachfolgendes Abhören erhärtete den Verdacht genereller Auflehnung gegenüber der Geheimpolizei jedoch nicht, so dass Nedwig seinen Posten behielt. Die Geheimpolizei mochte ihren Einfluss nicht preisgeben und betrieb weiterhin eine strategische Personalauswahl. Angehörigen der K I attestierte sie unter anderem das "Verschleiern und Konspirieren" von Westkontakten sowie eine "Tendenz zur Abgrenzung" gegenüber dem MfS-Apparat, weswegen 50 leitende Mitarbeiter abgelöst und 72 weitere "operativ bearbeitet" wurden. Und als die Staatssicherheit 1981 mehrere hundert Leitungskader des Strafvollzugs überprüfte, ließ sie 23 von ihnen ablösen – teilweise nur wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber der Geheimpolizei. Erich Honecker überreicht 1985 das Rote Ehrenbanner des ZK der SED an das Ministerium des Innern. Friedrich Dickel nimmt das Banner entgegen. (© BStU) Als JPG herunterladen (237.1kB) Mitte der Achtzigerjahre musste Dickel erneut altersbedingt etliche Stellvertreter austauschen, was (ehemalige) IM einschloss. So hatte der von 1981 bis 1985 amtierende Rudolf Tittelbach Jahre zuvor ausgiebig über Mitarbeiter berichtet, jedoch Nachteile aus seinem "doppelten Spiel" befürchtet. Auf den nun berenteten Seifert folgte als Stellvertreter des Ministers Bereitschaften/Kampfgruppen im März 1983 zunächst Lothar Arendt und dann Karl-Heinz Schmalfuß, da Arendt bereits im Oktober 1984 "im Interesse des MfS" zum 1. Stellvertreter des Ministers aufstieg. Denn er arbeitete seit 1964 inoffiziell für die Staatssicherheit und "berichtete ohne Einschränkungen über die internsten Probleme" seines Hauses. Als weitere Stellvertreter fungierten Hartwig Müller und Karl-Heinz Wagner, Nachfolger des 1983 berenteten Ernst Marterer bzw. des 1985 verstorbenen Rudolf Riss. Müller besaß seit 1979 lediglich einen "guten offiziellen Kontakt" zur Staatssicherheit. Wagner hatte in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre inoffiziell berichtet und arbeitete nun, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, erneut "vertrauensvoll mit dem MfS zusammen", jedoch ohne sich erneut schriftlich zu verpflichten. Der weitere Stellvertreter Günter Giel wurde bereits 1980 vom IM zum GMS umregistriert und stärker durch offizielle Arbeitskontakte eingebunden. Nachdem er 1982 abgehört worden war, beendete die Staatssicherheit 1986 die Zusammenarbeit wegen einer Erkrankung. Im Februar 1987 folgte ihm Dieter Winderlich, der seit 1974 als IM fungierte, dessen Spitzeltätigkeit nun jedoch offenbar ebenfalls ruhte. Und Arendt wurde 1989 vom IM zum GMS umregistriert. Insgesamt setzte die Staatssicherheit also auf oberster Ebene zuletzt stärker auf offizielle Absprachen als auf inoffizielle Mitarbeit. Auch dies erlaubte noch eine Einflussnahme auf die Leitungskader, die meist ohnehin kooperierten: "Die Positionen der leitenden Genossen zu unserem Organ sind positiv, Hinweise zu Kadern und Arbeitsprozessen wurden angenommen und mit unterschiedlicher Intensität umgesetzt." Im Ergebnis war die Geheimpolizei unter den Leitern der zehn wichtigsten Hauptabteilungen und ihren Stellvertretern im Jahre 1988 "inoffiziell [...] zur Zeit nicht verankert", wie die Hauptabteilung VII meldete – vermutlich aufgrund einer vorangegangenen, jedoch nicht mehr auffindbaren oder nur mündlich ergangenen Weisung der SED-Führung. Trotz dieser "Vollzugsmeldung" spitzelte etwa der Leiter der Hauptabteilung Kampfgruppen Wolfgang Krapp in Wirklichkeit aber weiterhin, und in der Folge wurden IM oder GMS erneut zu Stellvertretenden Ministern befördert. Und in der zweiten Reihe waren ohnehin viele Zuträger platziert, etwa in den Stäben und Sekretariaten. 5. Fazit Durch die SED-Führung und ihre Abteilung Sicherheitsfragen instruiert, hatten Staatssicherheit und Volkspolizei ihren spezifischen Anteil an der (politischen) Repression in der DDR. Klaren Vorrang genoss dabei der Mielke-Apparat, der die Mitarbeiter des Ministerium des Innern sowie seiner nachgeordneten Bereiche überwachte sowie als IM anwarb. Die hypertrophe Staatssicherheit versuchte, zumal ab den Siebzigerjahren, in "präventiver Sozialsteuerung" in alle gesellschaftlichen Bereiche einzudringen und verschiedenartige Problemlagen aufzudecken, um die politischen Machtverhältnisse zu wahren, was die Erfüllungsgehilfin Volkspolizei einschloss und zu entsprechenden Konflikten führte. Weitere Ursachen der Streitigkeiten lagen in klassischen Ressortegoismen angesichts überlappender Arbeitsfelder, Verteilungskonflikten um knappe Ressourcen (wie die Zahl der Mitarbeiter) sowie einem unterschiedlichen Selbstverständnis der beiden Institutionen (als teils klassischer Ordnungshüter oder aber als elitäre Ideologiepolizei). Persönliche Animositäten taten ein Übriges, und gerade wegen der engen Verzahnung wurden dem Ministerium des Innern auch Pannen der Geheimpolizei bekannt, was deren Nimbus schmälerte. Dass Dickel in der Anleitung seiner Untergebenen als heikel (sowie als "politisch farblos") galt, kam der Geheimpolizei wohl entgegen, die so breitgefächerte Kontakte (teils inoffizieller Art) bis in die Führungsebene aufbauen konnte. Der Minister beharrte auf Eigenständigkeit, während seine Stellvertreter eher den "Hinweisen" des Mielke-Imperiums folgten, schon aus Einsicht in dessen Dominanz. Einige Leitungskader indes beschränkten die Zusammenarbeit auf das Nötigste oder riskierten gar eine Konfrontation. Zwischen zwei tragenden Säulen eines vermeintlich monolithischen Repressionsapparates kam es dadurch wiederholt zu Dissonanzen. Obwohl gerade Leitungskader zur Kooperation mit der Staatssicherheit verpflichtet waren und sie nur durch deren Fürsprache oder Duldung bis in ihre Funktionen gelangt sein konnten, eröffneten sich auch für sie Handlungsspielräume. Ob sich indes die "Dominanz" der Staatssicherheit gegenüber der Volkspolizei in der Ära Honecker "noch verstärkte", ist angesichts der aufgezeigten Entwicklung zu bezweifeln; eher verschoben sich die Gewichte etwas in umgekehrter Richtung. Die nachlassende Durchsetzung mit IM spricht für einen von der Parteispitze angeordneten Rückzug, der es den Leitungskadern des Ministeriums des Innern erlaubte, sich mit wachsendem Selbstbewusstsein ein wenig aus der Umklammerung durch die Geheimpolizei zu lösen. Da jedoch beide Apparate unverändert den Wünschen der Parteispitze gehorchten, stellte dies allenfalls einen "Haarnadelriss" in der Sicherheitsarchitektur des SED-Staates dar. Friedrich Dickel, Innenminister, verleiht 1968 Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, die Auszeichnung "Verdienter Volkspolizist". (© BStU) Friedrich Dickel, Minister des Innern 1963–1989, Aufnahme von 1985. (© BStU) Erich Honecker zeichnet 1975 den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, und den Innenminister, Friedrich Dickel, als "Held der DDR" aus. (© BStU) Als JPG herunterladen (120.4kB) Erich Honecker überreicht 1985 das Rote Ehrenbanner des ZK der SED an das Ministerium des Innern. Friedrich Dickel nimmt das Banner entgegen. (© BStU) Als JPG herunterladen (237.1kB) Vgl. Hans-Hermann Lochen/Christian Meyer-Seitz (Hg.), Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministerium des Innern, Köln 1992. 80 Prozent der Fluchtwilligen wurden von Volks- und Transportpolizei gestellt. Vgl. Wirksamkeit der Grenzsicherungsanlagen im Zeitraum 1974 bis 1982, BArch, AZN 17791, Bl. 65; zit. n.: http://www.berliner-mauer.de/publikationen/rezensionen/2004-08-12-Rezension.pdf [5.1.2011]. Vgl. BStU, Das Arbeitsgebiet I der Kriminalpolizei. Aufgaben, Struktur und Verhältnis zum Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1994. Vgl. Georg Herbstritt, Die Lageberichte der Deutschen Volkspolizei im Herbst 1989. Eine Chronik der Wende im Bezirk Neubrandenburg, Schwerin 1998, S. 271. Vgl. Anweisung 13/77 des MdI über das Verhalten der Angehörigen der DVP gegenüber Korrespondenten v. 15.1.1977, BStU, ZA, MfS-BdL/Dok. 9719. Thomas Lindenberger, Die Deutsche Volkspolizei (1945–1990), in: Torsten Diedrich u. a. (Hg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 127. Vgl. u. a. Abschlußbericht der HA VII/1 v. 22.7.1974, BStU, ZA, AOPK 10769/74, Bd. V, Bl. 211–216. Vgl. Tobias Wunschik, Hauptabteilung VII: Ministerium des Innern, Deutsche Volkspolizei, Berlin 2009. Vgl. Information der HA VII v. 13.6.1972, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 1, Bl. 28f. Vgl. Einschätzung IMS »Waldemar« v. 17.3.1982, BStU, ZA, AIM 8709/86, Bl. 329f. Vgl. Meinungsäußerung zum Entwurf v. 10.5.1985, BStU, ZA, HA VII 419, Bl. 276–281; Geheime Kollegiumsvorlage 18/74 v. 5.4.1974, BArch, DO 1/10172, o. Pag. Vgl. Schreiben des Stellvertreter des MfS v. 10.6.1972, BStU, ZA, MfS-BdL/Dok. 1743. Vgl. Treffbericht v. 3.12.1976, BStU, ZA, GH 127/86, Bd. 2, Bl. 190f. Wiebke Janssen, Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur, Berlin 2010, S. 252. Brigitte Oleschinski, 'Heute: Haus der Erziehung'. Zur Entwicklung des DDR-Strafvollzugs in Torgau seit 1950, in: Norbert Haase/dies. (Hg.), Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug. Leipzig 1993, S. 202–214, hier 209. Vgl. BArch, DO 1, Nr. 10012–10029, 10090–10185. Vgl. [Bericht des] IM »Kellermann« v. 11.1.1977, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 1, Bl. 54–57. Schreiben der Abt. f. Sicherheitsfragen an Honecker v. 26.4.1973, BArch, DY 30 IV/B2/12/27, Bl. 1–3. Sog. Inoffizielle Kriminalpolizeiliche Mitarbeiter (IKM). Vgl. Aktennotiz der HA VII/1 v. 14.4.1966, BStU, ZA, AIM 20223/80, Bl. 114–117. Einschätzung der Wirksamkeit der Leitungskader v. 26.8.1975, BStU, ZA, HA VII Bdl. 436, o. Pag. Vgl. Einschätzung der HA VII/5 v. 29.7.1980, BStU, ZA, AIM 22060/80, Bd. 1, Bl. 358–360. Vgl. Vorschlag zur Werbung v. 28.11.1967, BStU, ZA, GH 127/86, Bd. 1, Bl. 15–19. Vgl. Tonbandabschrift v. 28.7.1973, BStU, ZA; AIM 8709/86, Bd. 3, Bl. 42–44. Vgl. Auszug aus einer Information an Mielke v. 25.1.1979, BStU, ZA, GH 127/86, Bd. 1, Bl. 132f. Vgl. BStU, ZA, GH 127/86, Bd. 1, Bl. 142. Tonbandabschrift [des Berichts des IM »Lukullus«] v. 28.7.1982, BStU, ZA, AIM 18292/82, Bd. 2, Bl. 153–156. Vgl. Information über die HA Pass- und Meldewesen v. 14.8.1987, BStU, ZA, HA VII/AKG PK 1/2.1. Bd. 6, Bl. 6–14. Vgl. BStU, ZA, AIM 4400/59. Einschätzung der Wirksamkeit der Leitungskader v. 26.8.1975, BStU, ZA, HA VII Bdl. 436, o. Pag. Vgl. Bericht der HA VII/1 v. 3.9.1975, BStU, ZA, GH 120/86, Bd. 3, Bl. 127f. Vgl. BStU, ZA, AIM 3980/57; Tonbandabschrift v. 23.12.1976, BStU, ZA, AIM 22060/80, Bd. 1, Bl. 286–291. Vgl. BStU, ZA, AIM 794/61. Einschätzung der Wirksamkeit der Leitungskader v. 26.8.1975, BStU, ZA, HA VII Bdl. 436, o. Pag. Vgl. Aktenvermerk der HA VII/B v. 10.3.1965, BStU, ZA, GH 121/86, Bd. 1, Bl. 14. Vgl. Schreiben an [...] Walter Ulbricht v. 24.11.1952, BStU, ZA, GH 121/86, Bd. 1, Bl. 52. Vgl. Aktenvermerk der HA VII/1 v. 24.1.1964, BStU, ZA, GH 121/86, Bd. 1, Bl. 2. Vgl. u. a. Archivierung der GMS-Akte v. 11.6.1980, BStU, ASt. Erfurt AGMS 860/80, Bl. 5. Vgl. Tonband[abschrift des Treffs mit] IME »Karl« v. 14.4.1986, BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 291–300. Vgl. Tonbandaufzeichnung IMS »Kellermann« v. 14.2.1984, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 2, Bl. 8–15. »Ja, der hat ja keine Ahnung. Der sieht die Dinge nicht richtig, wir müssen sagen, wie das richtig ist.«: Abschrift eines IM-Berichts v. 26.2.1988, BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 307–312. Im Vorfeld der Feier zum 30. Jahrestag von Dynamo Berlin äußerte er: »Heute abend sind wir ja alle im Palast [der Republik], ich will mal sehen, ob Mielke uns den richtigen Stellenwert beimessen wird, von den Trägerorganen sind wir ja das stärkste Organ.«: Treffauswertung IMS »Kellermann« v. 30.3.1983, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 1, Bl. 146f. Vgl. Stellung des Gen. R. zum MfS v. 27.12.1976, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 1, Bl. 50–52. Einschätzung der Wirksamkeit der Leitungskader v. 26.8.1975, BStU, ZA, HA VII Bdl. 436, o. Pag. Tonbandabschrift des IMS »Kellermann« v. 3.2.1986, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 2, Bl. 49–59. Siehe auch Information v. 24.2.1984, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 2, Bl. 6f. Abschrift eines IM-Berichts v. 26.2.1988, BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 307–312. Vgl. Tonbandabschrift des IMS »Kellermann« v. 12.4.1984, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 2, Bl. 19–24. Siehe auch Information zur Einhaltung der Beschlüsse v. 23.9.1977, BArch, DO 1/10153, o. Pag. Einschätzung der Wirksamkeit der Leitungskader v. 26.8.1975, BStU, ZA, HA VII Bdl. 436, o. Pag. Vgl. Karl-Heinz Schmalfuß, Dreißig Jahre im Ministerium des Innern der DDR. Eine General meldet sich zu Wort, Aachen 2009, S. 78. Vgl. Wolfgang Herger, Schild und Schwert der Partei, in: Jean Villain, Die Revolution verstößt ihre Väter. Aussagen und Gespräche zum Untergang der DDR, Bern 1990, S. 104–130. Vgl. Siegfried Suckut (Hg.), Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2009, S. 34. Vgl. [Bericht] des IMS »Kellermann« v. 12.3.1986, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 1, Bl. 185f. Vgl. Schreiben von Dickel an Krenz v. 2.1.1988, BStU, ZA, HA VII Bdl. 828, o. Pag. Vgl. Armin Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR und seine Vorgschichte (1953-1971), Berlin 2002, S. 271. Siehe auch Walter Süß, Zum Verhältnis von SED und Staatssicherheit, in: Andreas Herbst u. a. (Hg.), Die SED. Geschichte – Organisation – Politik, Berlin 1997, S. 215–240. Vgl. Bericht der Abt. f. Sicherheitsfragen v. 25.5.1965, BStU, ZA, SdM 412, Bl. 150–160. Vgl. u. a. Schreiben von Wansierski an Honecker v. 20.12.1973, BArch, DY 30/IV B 2/12/69, Bl. 24f. Vgl. Schreiben von Scheibe an Dickel von 1975, BArch, DY 30/IV B 2/12/69, Bl. 106. Vgl. BArch, DY 30/IV B 2/12/69, Bl. 26f. Vgl. Abschrift [eines Berichts des IM], o. D. [1988], BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 307–312. Vgl. Tonbandabschrift v. 28.7.1973, BStU, ZA; AIM 8709/86, Bd. 3, Bl. 42–44. Vgl. Tonbandabschrift v. 23.12.1976, BStU, ZA, AIM 22060/80, Bd. 1, Bl. 286–291. Vgl. Treffbericht IM »Journalist« v. 24.6.1968, BStU, ZA, AOPK 7208/76, Bl. 168f. Vgl. Aktennotiz der HA VII/1 v. 6.5.1966, BStU, ZA, AIM 20223/80, Bl. 117f. Vgl. u. a. Schreiben der Abt. Sicherheitsfragen an Dickel v. 2.9.1981, BArch, DY 30/906, Bl. 7–9. Vgl. Tonbandabschrift v. 23.12.1976, BStU, ZA, AIM 22060/80, Bd. 1, Bl. 286–291. Vgl. Abschrift eines IM-Berichts v. 26.2.1988, BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 307–312. Tonbandabschrift des IMS »Kellermann« v. 3.2.1986, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 2, Bl. 49–59. Vermerk des Stellv. d. Chefs d. Stabes v. 17.1.1983, BStU, ZA, AIM 8709/86, Bd. 3, Bl. 109–110. Thesen der HA VII v. Juni 1986, BStU, ZA, HA VII Bdl. 193, o. Pag. Vgl. Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000, S. 387–395. Vgl. Vortrag Mielkes auf der Konferenz der Politorgane der DVP v. 8.11.1982, BStU, ZA, MfS-BdL/Dok. 7704, S. 77–79 (Hervorhebung i. Orig.). Siehe auch Gerhard Mörke (Hg.), Die offizielle und inoffizielle Zusammenarbeit zwischen Volkspolizei und Staatssicherheit, Schleiz 2005, S. 24–27. Referat auf der zentralen Dienstkonferenz v. 11.10.1982, BStU, ZA, HA VII 485, Bd. 1, Bl. 1–100. Schreiben des Leiters der HA VII, BStU, ZA, Arbeitsbereich Neiber 276, Bl. 449–451. Vgl. Information über eine Aussprache beim Leiter der HA K v. 25.4.1980, BStU, ZA, HA VII Bdl. 1, o. Pag. Vgl. Zusammenfassender Bericht v. 19.8.1980, BStU, ZA, HA VII Bdl. 1, o. Pag. Einschätzung der Lage im Arbeitsgebiet I v. Sept. 1987, BStU, ZA, HA VII 681, Bl. 301–332. Vgl. Einschätzung des Arbeitsgebietes I v. 14.4.1989, BStU, ZA, HA VII Bdl. 275, o. Pag. Vgl. Einschätzung zum Stand [...] des politisch-moralischen Zustandes im Organ Strafvollzug, BStU, ZA, HA VII/8 ZMA 350/81, Bd. 2, Bl. 326–347. Siehe auch Stand [...] des politisch-moralischen Zustandes im Organ SV v. 9.2.1982; BA, DO 1/10122, o. Pag. Vgl. Information [der HA VII] v. 5.6.1981, BStU, ZA, HA VII/8 ZMA 350/81, Bd. 2, Bl. 238–265. Vgl. BStU, ZA, AIM 13043/76. Gesprächsgrundlage zur Treffdurchführung mit IME »Karl« v. 8.11.1984, BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 231–233. Abschlußeinschätzung v. 20.12.1988, BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 310–313. Auskunftbericht der HA VII v. 17.10.1984, BStU, ZA, HA VII 5425, Bl. 247–249. Vorschlag der Abt. VII Potsdam v. 11.3.1969, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 1, Bl. 173f. Aktenvermerk der HA VII/1 v. 18.10.1972, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 1, Bl. 215f. Vgl. BStU, ZA, AIM 22060/80. Vgl. BStU, ZA, AIM 271/89. Vgl. Einschätzung IME "Hans Görlich" v. 9.1.1987, BStU, ZA, AIM 12527/88, Bd. 1, Bl. 342f. Abschlußeinschätzung v. 20.12.1988, BStU, ZA, AIM 194/89, Bd. 1, Bl. 310–313. Im Nov. 1989 wurde er Dickels Nachfolger, gab sein Amt im März 1990 an Peter-Michael Diestel ab und fungierte noch als dessen Berater. Vgl. Hannes Hofmann, Diestel. Aus dem Leben eines Taugenichts?, Berlin 2010, S. 89–91. Vgl. Einschätzung des Aufklärungsstandes v. 4.7.1988, BStU, ZA, HA VII 3935, Bl. 155–167. Vgl. BStU, ZA, AIM 11087/91. Vgl. BStU, ZA, AIM 12256/89. Vgl. u. a. Einschätzung des Aufklärungsstandes v. 4.7.1988, BStU, ZA, HA VII 3935, Bl. 155–167; Einschätzung des Verantwortungsbereichs der Abteilung 7 der HA VII [von 1987/88], BStU, ZA, HA VII 18, Bl. 334–355; Bericht über die Arbeit v. 10.11.1986, BStU, ZA, HA VII Bdl. 275, o. Pag. Clemens Vollnhals, Das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Instrument totalitärer Herrschaftsausübung, in: Hartmut Kaelble u. a. (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 498–518. So etwa bei der Absicherung der Wagenkolonne Honeckers. Vgl. u. a. Information A/237/82/26/82 der Abteilung 26/7 v. 3.6.1982, BStU, ZA, AIM 195/89, Bd. 2, Bl. 181–183. Armin Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR und seine Vorgeschichte (1953–1971), Berlin 2002, S. 271. Bernhard Marquardt, Menschenrechtsverletzungen durch die Deutsche Volkspolizei, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Hg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. 4, S. 655–759, hier 696.
Article
Tobias Wunschik
"2023-02-17T00:00:00"
"2012-01-11T00:00:00"
"2023-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/53982/risse-in-der-sicherheitsarchitektur-des-sed-regimes/
Staatssicherheit und Volkspolizei waren die wichtigsten Säulen der inneren Repression, gerade in der Ära Honecker. Doch herrschte zwischen den beiden Apparaten eher Kooperation oder Konfrontation?
[ "SED", "DDR", "Demokratie", "innere Sicherheit", "Arbeitslager", "Volkspolizei", "Diktatur", "Deutschland", "DDR", "Sowjetunion", "UDSSR" ]
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Das besetzte Palästina zwischen Macht und Gerechtigkeit | Gewalt und Gegengewalt im "Heiligen Land" | bpb.de
I. Einleitung Mit der Wiederbesetzung der Stadt Hebron befinden sich seit dem 25. Juni 2002 alle palästinensischen Städte der Westbank erneut unter der totalen Kontrolle der israelischen Armee, mit Ausnahme der im Jordangraben liegenden Kleinstadt Jericho. Auch der größte Teil der ländlichen Gebiete der Westbank ist entweder besetzt oder steht seit Wochen unter einer Ausgangsperre, die immer nach einigen Tagen nur für mehrere Stunden aufgehoben wird. Damit befinden sich zwei Millionen Palästinenser im Würgegriff der israelischen Armee, die die palästinensischen Gebiete in über 80 Kantone ohne direkte Verbindungen zueinander aufgeteilt hat. Die am 29. März 2002 begonne Operation "Schutzwall" der israelischen Armee unter dem Vorwand der "Bekämpfung des Terrors" bedeutet die faktische Annullierung der Osloer Verträge von 1993. Diese Auflösung der Verträge und die Entbindung Israels aus deren Verpflichtungen war schon immer Ziel und die Strategie des rechtsnationalen Lagers in Israel. Seit der Übernahme der Regierung durch Ariel Sharon im Februar 2001 wurde sie offizielle Regierungspolitik. Von Beginn an lehnte Ministerpräsident Sharon die Entstehung eines Palästinenserstaates in den Grenzen des 5. Juni 1967 ebenso ab wie die Forderungen der internationalen Gemeinschaft nach einem Siedlungsstopp und der Einstellung der Politik der Landenteignung. Außerdem hat er eine Verhandlungslösung mit der Palästinensischen Nationalbehörde (PNA) und deren Präsidenten Yassir Arafat von Anfang an kategorisch zurückgewiesen. Bis zum heutigen Tag versucht Sharon, die Machtbasis Arafats mit dem Ziel zu untergraben, ihn aus Palästina zu vertreiben. Inzwischen ist Sharon sogar so weit gegangen, die Absetzung Arafats und die Durchführung von internen Reformen der PNA nach israelischen Vorstellungen zur Vorbedingung von politischen Gesprächen zu machen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass man nicht Ursache und Wirkung verwechseln darf: Nicht der Widerstand der Palästinenser gegen die Besetzung ist die Ursache der Gewalt, sondern die brutale israelische Besetzung selbst. Der Zusammenbruch des Friedensprozesses nach dem Scheitern der Verhandlungen in Camp David, die Einstellung der Erfolg versprechend geführten Gespräche im Januar 2001 im ägyptischen Badeort Taba auf Anweisung des damaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak sowie der Wechsel der israelischen Regierung führten zu einer Eskalation und zu einer Brutalisierung unvorstellbaren Ausmaßes. Im Judentum gibt es einen Lehrsatz, der diese Situation und ihre Folgen trefflich beschreibt: Wo es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es auch keinen Frieden. Die hinter den Osloer Verträgen stehenden Ideen - vor allem die Auffassung, dass Israel einen Friedensvertrag aushandeln kann, während das Land gleichzeitig weiter ein Besatzungsregime ausübt - haben sich als Trugschluss erwiesen. Der Wendepunkt in der Entwicklung kann nicht auf einen Beschluss der palästinensischen Seite zurückgeführt werden, sondern hängt mit dem Regierungswechsel in Israel zu Gunsten einer Partei und eines Ministerpräsidenten zusammen, der seit Beginn des Friedensprozesses ein erklärter Gegner dieses historischen Prozesses gewesen ist. Sharon wollte Oslo und die damit verbundenen Verträge begraben. Das Ziel der israelischen Regierung und der Armee zeichnete sich seit der Regierungsübernahme vor mehr als einem Jahr deutlich ab: Alle aus dem Osloer Vertrag entstandenen Instutionen und Souveränitätsmerkmale der PNA, einschließlich der mit massiver internationaler finanzieller und technischer Unterstützung aufgebauten Wirtschaft, sollten zerstört werden, um die Palästinenser gefügig für eine "Friedensregelung" nach den Vorstellungen des rechtsnationalen Lagers zu machen. Diese Kräfte warfen Rabin, Peres und nicht zuletzt Barak Verrat am jüdischen Volk und an den zionistischen Idealen der Gründergeneration vor. Sharon nutzte einen folgenschweren Fehler der Palästinenser aus, die es versäumten, zwischen den Formen des zivilen Ungehorsams sowie des friedlichen Protests einerseits und den bewaffneten Auseinandersetzungen andererseits einen deutlichen Trennungsstrich zu ziehen, um die Westbank und den Gaza-Streifen wieder zu besetzen. Sharon war schon immer ein Befürworter direkter Kontrolle über die Palästinenser. Im Rahmen des "Anti-Terror-Krieges" und breiter Unterstützung in Israel sowie durch die USA zur Erreichung seiner Ziele verfolgte er zielstrebig seine Strategie: Jede neue Gewaltwelle rechtfertigte eine neue Invasion, die immer tiefer, brutaler und längerfristiger war. Diese Strategie scheint auch nach Ansicht des israelischen Strategen Jossi Alpher jedoch nicht aufzugehen: Jede neue und heftige israelische Reaktion auf einen palästinensischen Anschlag verfehle ihr Ziel, da ihre Absicht, durch Abschreckung und Bestrafung die Palästinenser zu einem Richtungswechsel in ihrer Strategie zu zwingen, nicht aufgehe. Das Gegenteil sei der Fall: Mit jeder neuen Aktion der Israelis schaffe man neue Selbstmordattentäter. Der provozierende Auftritt Ariel Sharons am 28. September 2000 auf dem Haram el-Sharif (Tempelberg) löste eine Spirale tödlicher Gewalt aus. In den ersten sechs Monaten der Intifada, also noch unter der Regierung von Barak, starben Hunderte von Palästinensern. Israels Polizei erschoss sogar 14 israelische Palästinenser bei einer Demonstration im Oktober 2000 in Nazareth. Erst die systematische Ermordung angeblicher palästinensischer "Terroristen" durch Autobomben, Angriffe aus Apache-Kampfhubschraubern und durch gezielte, verdeckte Geheimdienstaktionen israelischerseits in den palästinensischen Ortschaften brachte die tatsächliche Wende in den Auseinandersetzungen. Die extremistischen islamischen Kräfte nahmen die Strategie der Selbstmordattentate gegen Zivilisten und Militärs im Kernland Israel und nicht mehr nur in den palästinensischen besetzten Gebieten gegen Militärs und Siedler wieder auf. Aus Angst vor Popularitätsverlust hat sich sogar ein Flügel von Arafats Hausmacht - der Fatah-Bewegung - verselbstständigt und begann - wie die oppositionellen Islamisten und andere links orientierte Organisationen - mit den mörderischen Selbstmordattentaten. Diese Form der Gewalt ist eine relativ neue Erscheinung im palästinensisch-israelischen Konflikt. Sie ist aus dem Gedanken des Opfertums für Gott und den Zielen und den Interessen des Islams geboren. Unter moslemischen Gelehrten ist diese Form der Interpretation des Opfertums allerdings höchst umstritten. Eine Befürwortung bzw. Ablehnung hängt weitgehend davon ab, wie treu bzw. ablehnend ein Gelehrter sich dem politischen System und seinem autoritären Herrscher in einem arabischen oder islamischen Staat gegenüber verhält. Im palästinensischen Kontext lehnen der PNA nahe stehende Gelehrte diese Form des Widerstands ab. Die Gelehrten aus dem islamistischen Lager rechtfertigen hingegen diese Form der Gewaltanwendung als ein legitimes Mittel gegen einen militärisch überlegenen Feind. Die zivilen Opfer werden in Kauf genommen, da dies als ein Racheakt für die palästinensischen zivilen Opfer gedeutet wird, die Israel ebenso bewusst tötet oder deren Tötung von Israel als unvermeidbare Konsequenz des militärischen Kampfes mit einkalkuliert wird. II. Israel bestimmt die Kriterien des Krieges und des Friedens Die Enttäuschung der Palästinenser über den Westen und insbesondere über die USA mit ihrer Doppelmoral und ihren Doppelstandards in der Durchsetzung internationalen Rechts in Bezug auf den Palästinakonflikt sitzt tief und fördert antiamerikanische und antiwestliche Stimmungen im arabisch-islamischen Raum. Diese Haltungen dienen der antiwestlichen Agitation und haben einen starken Mobilisierungseffekt für die islamistischen Kräfte. Wenn israelische Panzer und F-16-Kampfbomber zivile Ziele in dicht besiedelten Städten oder Lagern angreifen, gilt dies als legitime Selbstverteidigung. Wenn israelische Belagerungs- und Abriegelungsmaßnahmen monate- oder sogar jahrelang palästinensische Ortschaften in riesige Gefängnisse und Gettos verwandeln, das wirtschaftliche und öffentliche Leben lahmlegen, soziale und humanitäre Organisationen an der Erfüllung ihrer Arbeit hindern und ein ganzes Volk in die völlige Armut getrieben wird, so fällt es sehr schwer, diese Aktionen als notwendige, unvermeidbare Sicherheitsvorkehrungen anzusehen. Weil Israel ein Staat ist, der sich offensichtlich über das Völkerrecht stellen und alle UNO-Resolutionen, die den Konflikt betreffen, ohne Konsequenzen ignorieren darf, gesteht die westliche Staatengemeinschaft ihm auch das Recht auf die militärische Durchsetzung seiner nationalen Interessen zu. Aber wenn sich junge Palästinenser aus totaler Perspektivlosigkeit sowie religiöser und politischer Agitation heraus in einer letzten "Kampfhandlung" mitten unter unschuldigen Israelis in die Luft sprengen, so wird das zwar mit Recht Terrorismus genannt, aber die Verantwortung für diese wahnsinnige Tat wird von Israel mit der Zustimmung oder zumindest Duldung des moralisch "unantastbar" dastehenden Westens dem ganzen palästinensischen Volk aufgebürdet. Das ganze Volk wird mit einer Kollektivstrafe belegt für die Aktionen Einzelner. Sowohl in Palästina als auch in Israel gibt es politische Gruppierungen, die sich gegen eine für beide Seiten akzeptable Kompromisslösung auf der Basis zwei Staaten für zwei Völker in den Grenzen von 1967 wehren. Auf beiden Seiten ziehen diese Gruppen eine gewaltsame Lösung vor. Sie berufen sich auf politische Strategien, deren Grundlage eine überholte, die politischen Realitäten verkennende ideologisch-religiöse Rechtfertigung ist. Slogans wie: "Wir sind das auserwählte Volk Gottes" oder: "Gott hat uns das Land Israel versprochen" auf der jüdischen Seite, oder: "Wir sind die edelste Nation, die Gott der Menschheit gegeben hat" auf der islamischen Seite erschweren den Weg der Versöhnung und des Ausgleichs für die Realisten und Pragmatiker auf beiden Seiten. Der eine Unterschied bei dieser Betrachtung liegt darin, dass auf der israelischen Seite diejenigen, die diese Meinung vertreten, die Regierungsmacht in Israel innehaben. Dagegen stellen die Anhänger jener Sichtweise in Palästina eine Minderheit dar und sind in der politischen Opposition zu finden. Der zweite Unterschied besteht darin, dass die Gewaltanwendung durch Israel dem Ziel der Zementierung der illegal besetzten palästinensischen Gebiete und der militärischen Niederkämpfung der Widerstandsbewegung dient sowie der "Disziplinierung" bzw. "Gefügigmachung" der "unbelehrbaren" Palästinenser, wohingegen die Palästinenser den Einsatz von Gewalt als ein Instrument unter vielen anderen zur Beendigung dieser Fremdherrschaft betrachten sowie als Rache für die ihnen aufgezwungene Entmündigung und Entrechtung. Aber beide Lager können als Opponenten jeglichen Friedensprozesses angesehen werden. III. Palästinenser zwischen "Terrorismus" und "Befreiung" Seit einiger Zeit wird in Palästina eine kontroverse Debatte um die Selbstmordattentate gegen Zivilisten in Israel geführt. Vorab sei klargestellt: Diese terroristischen Attacken, gleich, ob sie sich gegen israelische oder palästinensische Zivilisten richten, sind zutiefst verabscheuungswürdig. Sie sind ethisch unhaltbar und durch nichts zu rechtfertigen. Es trifft aber auch zu, was der israelische Offizier und Wehrdienstverweigerer Shamei Leibowitz sagte: "Keine noch so große Verdammung dieser Selbstmordattentate wird sie stoppen. Was Bush anscheinend nicht begreift ist, dass diese Attentate Resultat ... der Demütigung des palästinensischen Volkes sind. Bush und seine Berater schaden uns unendlich, indem sie einfach nicht einsehen wollen, dass nur ein sofortiges Ende der israelischen Okkupation ein sofortiges Ende des Palästinenseraufstandes bewirken kann." Es geht darum, dass die Herrschaftsverhältnisse in diesem Kontext entscheidend geändert werden müssen. Der Besatzer muss aufhören, Besatzer zu sein, und der Besetzte muss befreit werden. Das Bewusstmachen der Realitäten und die Veränderung des Bewusstseins der Beteiligten reicht schon lange nicht mehr aus. Die Realität der Okkupation muss ein Ende haben, damit sind u. a. auch die Grenzposten gemeint, die schwangere Frauen nicht passieren lassen, die dann ihre Kinder verlieren. Von diesen und anderen Schicksalen gibt es Tausende, die mit Sicherheitsfragen nichts zu tun haben. Umso interessanter ist die Tatsache, dass die Opposition gegen die Selbstmordattentate in der palästinensischen Gesellschaft zunimmt. Obwohl in den letzten zwölf Monaten für diese Attacken ein gewisses Verständnis selbst bei Friedensbefürwortern oder bei Menschen ohne jegliche Bindung an eine ideologische oder religiöse Richtung festzustellen war, sehen viele Menschen darin einen Verzweiflungsakt des Unterlegenen und Schwächeren gegen eine übermächtige Militärmaschinerie, oder, wie der israelische Historiker Moshe Zuckermann es ausdrückte: "Es ist der Aufschrei der Geknechteten und Erniedrigten und der Beleidigten, die zu nichts anderem fähig sind als zur Zerstörung des Landes Israel, auch wenn im Gegenzug Ramallah, Nablus oder Jenin in Schutt und Asche gelegt werden." Wenn man sich einer politischen Lösung annähern will, ist es offensichtlich, dass solche Attentate - abgesehen von ihrer moralischen Verwerflichkeit - realpolitisch eher Nachteile für die Palästinenser bringen, weil sie Folgendes bewirken: - Sie mobilisieren die israelische Öffentlichkeit gegen eine Friedensregelung auf der Basis "Land gegen Frieden" und helfen der Propaganda der Friedensgegner, dass die Palästinenser weniger an einem Staat in den Grenzen von 1967 interessiert seien als vielmehr an der Zerstörung des Staates Israel. - Sie stärken die extremistischen Kräfte in Israel und treiben ihnen immer mehr Anhänger auf Kosten des Friedenslagers und der Befürworter der Beendigung der Besetzung zu. - Solche Aktionen legitimieren vor der Weltöffentlichkeit die problematischen israelischen Militärschläge gegen die Palästinenser sowie gegen die in den letzten sieben Jahren aufgebaute zivile und politische Infrastruktur und Organisationen. Es ist ein unverzeihlicher Fehler gewesen, dass die Fatah-Bewegung, die PNA und nicht zuletzt Yassir Arafat persönlich die Militarisierung der Intifada zuließen und sich somit zu Geiseln dieser mörderischen Strategie von "Hamas" und "Islamischem Jihad" gemacht haben. Die Taktik und Methoden der ersten Intifada zwischen 1987 und 1992, die weitgehend friedlicher Natur waren und sich auf Straßendemonstrationen, Maßnahmen zum Boykott israelischer Produkte und der Zivilverwaltung der Israelis sowie auf eine Zermürbung der israelischen Armee konzentrierten, konnten hingegen weltweit und nicht zuletzt in Israel selbst große Sympathien für das Anliegen der Palästinenser erzeugen. IV. Der Alltag in Palästina Es ist wohl nur für wenige vorstellbar, was es heißt, zehn Tage oder länger unter einer allumfassenden Ausgangssperre zu leben, eingesperrt mit den Kindern zu sein und oft mit den Eltern in einer nervenaufreibenden Enge, in einer zu kleinen Wohnung zu leben, oft ohne Strom- oder Wasserversorgung, während draußen ununterbrochen Panzer und Mannschaftswagen herumfahren und schießen. Es ist kaum vorstellbar, dass manchmal schon der Versuch eines Ganges nach draußen, um Luft zu schnappen, in einer menschlichen Tragödie enden kann, weil jeder Versuch, dieser Eingeschlossenheit zu entfliehen, von der israelischen Armee mit voller Härte oder manchmal sogar durch Scharfschützen beendet wird. In diesem Zustand der gewaltsamen Gettoisierung leben Hunderttausende von Palästinensern seit vielen Wochen. Über 1 800 Menschen haben ihr Leben verloren, über 40 000 sind verletzt worden, und Tausende sitzen seit Monaten in den Gefängnissen, in den meisten Fällen ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung. Viele werden präventiv für Monate in so gennante Administrativhaft genommen. Ministerien, öffentliche Gebäude, auch von Hilfsorganisationen, Moscheen, Kirchen und nicht zuletzt Privathäuser werden beschossen oder zerstört. Auch Straßen, Bürgersteige, Kanalisationssysteme, private und öffentliche Radio- und Fernsehstationen werden im Krieg gegen "die Infrastruktur des Terrorismus" nicht verschont. Von einem normalen Leben in Palästina kann man schon lange nicht mehr sprechen. Das Normale ist das Ungewisse und das Irreguläre geworden. Die Schulen, Universitäten und Ämter haben allein in den letzten drei Monaten knapp 60 Unterrichts-, Vorlesungs- und Arbeitstage verloren. Das akademische bzw. Schuljahr ist nicht mehr nachholbar und als verloren anzusehen. Die Versorgung der Menschen mit ihren Grundbedürfnissen ist nur auf dem einfachsten Niveau möglich. Selbst internationale Hilfsorganisationen, Journalisten und Diplomaten beklagen die großen Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, um Hilfe leisten oder frei berichten zu können. David Hally, Mitarbeiter von Amnesty International, der als unabhängiger Militärexperte eine AI-Delegation begleitete, schrieb in seinem Bericht: "The military operations we have investigated appear to be carried out not for military purposes, but instead to harass, humiliate, intimidate and harm the Palestinian population." Mustafa Barghouthi, bekannt als einer der führenden Persönlichkeiten der palästinensischen Zivilgesellschaft, beschrieb die letzte Invasion der israelischen Armee wie folgt: "The last invasion of Palestinian cities, towns and refugee camps is part of a systematic operation aiming at inflicting destruction of governmental and nongovernmental organizations to destroy the potential to establish an independent Palestinian State." V. Die wirtschaftliche Lage Die Wirtschaft der palästinensischen Gebiete durchläuft ihre schwierigste Phase seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967. Sie hat sich zu einer regelrechten Wirtschaftskrise bisher ungekannter Dimensionen hinsichtlich ihrer Länge, tief greifenden Wirkung und ihrer menschlichen Tragik entwickelt. Es ist in den neunziger Jahren, trotz aller Misswirtschaft und Korruptionsskandale, Beachtliches hinsichtlich des Lebensniveaus und wirtschaftlichen Aufschwungs erreicht worden. Straßen und öffentliche Gebäude wurden gebaut, Schulen und Kindergärten eröffnet; ebenso gründeten sich private Banken, und Dutzende von Nichtregierungsorganisationen sind entstanden. Viele Dörfer wurden zum ersten Mal an die Elektrizität- und Wasserversorgung angeschlossen. Bildungseinrichtungen und Gesundheitszentren gründeten sich neu. Internet-Cafés sind mit privatem Kapital selbst in entlegenen Dörfern eröffnet worden. Die palästinensischen Gebiete schienen nach 30-jähriger Vernachlässigung Anschluss an die Moderne zu finden. Mit dem Beginn des provozierten Aufstandes der Palästinenser im September 2000 fand diese Entwicklung ein plötzliches Ende. Folgende signifikante Folgen für die palästinensische Wirtschaft sind festzuhalten: - Die Infrastruktur der palästinensischen Wirtschaft wie Flughafen, Hafen, Straßen, Strom- und Wasserwerke ist systematisch und zielgerichtet zerstört worden. - Die Handelsströme zwischen den palästinensischen Gebieten und den internationalen Handelspartnern sind entweder durch Sperrung der Außengrenzen oder Verbot von Export und Import über die israelischen Häfen und Flughäfen völlig zusammengebrochen. Selbst der Handel mit Israel ist in den letzten 18 Monaten deutlich zurückgegangen. Die Importe der Palästinenser aus Israel, die 86 Prozent der Einfuhren der Wirtschaft ausmachten, ihre Exporte nach Israel hatten einen Anteil von 64 Prozent an den gesamt Ausfuhren betragen, beschränken sich inzwischen fast ausschließlich auf lebensnotwendige Güter. - Der Anstieg der Arbeitslosigkeit vor der totalen Besetzung der Westbank im März diesen Jahres unter der palästinensischen Bevölkerung beläuft sich auf ca. 53 Prozent. Von 651 000 Arbeitskräften sind 350 000 ohne Beschäftigung. In den letzten Monaten ist die Quote für die Westbank auf 78 Prozent angestiegen. Durch den Wegfall von 143 000 Arbeitsplätzen von Palästinensern, die bis zum Ausbruch der "Intifada" eine Beschäftigung in Israel fanden und durchschnittlich 118 Shekel (1 Shekel = 0,25 Euro) täglich verdienten, verlor die palästinensische Wirtschaft ca. 850 Mio. US-Dollar an Einnahmen im Jahre 2001. - Der Lebensstandard der Bevölkerung ist auf ein bisher ungekanntes Niveau zurückgegangen. Inzwischen leben 64 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die bei 360 Euro pro Jahr liegt. Zum Vergleich: Die Armutsgrenze in Israel liegt bei 1 100 Euro. Auch das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen ist in der Westbank von 2 200 Euro auf 1 000 Euro gesunken. Im Gaza-Streifen sieht die Lage noch wesentlich dramatischer aus. Dort ist das jährliche Pro-Kopf-Einkommen von 1 700 Euro auf 800 gesunken. In Israel liegt das Jahreseinkommen pro Einwohner bei ca. 17 000 Euro. - Die heimische Industrie arbeitet aus vielen Gründen - Straßensperren, fehlende Ersatzteile oder Grund- und Rohmaterialien sowie nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeiten, sowohl die Binnen- wie die Auslandsmärkte zu erreichen - nur noch mit 30 Prozent ihrer bisherigen Kapazität. - Die PNA sieht sich zunehmend außerstande, die monatlichen Gehälter ihrer 132 000 "Staatsbediensteten" regelmäßig zu bezahlen. Einige Beamte und Angestellte haben seit Monaten entweder keine Gehälter erhalten oder sie bekommen sie in zwei- bis dreiwöchentlichen Raten. Die PNA benötigt monatlich ca. 90 Mio. US-Dollar, um ihre Gehälter zahlen zu können. - Die internationalen finanziellen Aufbau- und Förderungsmittel für den öffentlichen und zivilen Sektor - speziell die der EU - sind um knapp 50 Prozent zurückgefahren worden, insbesondere weil viele Projekte in dem herrschenden Kriegszustand aus praktischen und technischen Gründen nicht ausgeführt werden können. Ein weiterer Grund ist in der Stagnation des Friedensprozesses zu suchen. Die EU ist neben den arabischen Staaten immer noch der Hauptfinanzier der PNA. Auf den letzten Gipfelkonferenzen der arabischen Liga in den Jahren 2000/2001 haben sich die Mitglieder verpflichtet, die PNA mit zwei Milliarden US-Dollar zu unterstützen. Inzwischen fliessen nur ca. 50 Mio. US-Dollar monatlich ab, um nur das Minimum an laufenden Kosten zu decken. Aber trotz all dieser Zuwendungen sah sich die PNA in den letzten Monaten gezwungen, Bankkredite aufzunehmen und ihre Beteiligungen an Firmen und Unternehmen zu verkaufen, um ihren Verpflichtungen gerecht werden zu können und um die Haushaltslöcher zu stopfen. - Das öffentliche Leben ist in weiten Teilen des Landes zum Erliegen gekommen. Die Verbindungsstraßen zwischen den verschiedenen Landesteilen sind über Monate hinweg von den israelischen Besatzungstruppen blockiert. Viele Mitarbeiter von Ministerien und staatlichen Behörden können ihre Arbeitsplätze nicht erreichen. - Der Tourismussektor, der als die Haupteinnahmequelle der palästinensischen Wirtschaft gilt, ist völlig zum Erliegen gekommen. Hunderte von diesem Sektor abhängige Dienstleistungsbetriebe sind zusammengebrochen. Tausende von Menschen, hauptsächlich in den Regionen von Jerusalem, Bethlehem und Jericho, sind arbeitslos geworden. Die Gesamtverluste der palästinensischen Wirtschaft belaufen sich auf ca. sechs bis sieben Milliarden US-Dollar. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag, und die humanitäre Situation von immer breiteren Bevölkerungsteilen wird ständig kritischer. Von einer normal funktionierenden Wirtschaft kann also nicht mehr gesprochen werden. Die Wirtschaft befindet sich in einem Prozess des Verfalls mit all den damit verbundenen Risiken der Verarmung von weiten Teilen der Bevölkerung und der damit einhergehenden Radikalisierung der Menschen, insbesondere der Jugendlichen. VI. Reformen zwischen interner Notwendigkeit und externen Forderungen Der Ruf nach politischen, wirtschaftlichen, administrativen und juristischen Reformen ist in den letzten Jahren immer lauter geworden. Sie sind auch ein palästinensisches Bedürfnis. Darin waren sich alle politischen Gruppierungen einschließlich maßgeblicher Strömungen innerhalb der Fatah-Bewegung von Jassir Arafat einig. Die Unzufriedenheit mit den Leistungen der PNA erreichte ihren Höhepunkt kurz vor der Zerstörung und Belagerung des Hauptquartiers der PNA in Ramallah. Die Bekämpfung der Korruption des Autonomieapparats, finanzielle Verantwortlichkeit und Transparenz auf allen Ebenen, Rechtsstaatlichkeit und regelmäßige Wahlen waren die Kernforderungen der meisten Menschen und Organisationen. Der palästinensische Legislativrat hat zusammen mit Nichtregierungsorganisationen sowie einer Koalition aus Bürgerinitiativen und politischen Organisationen durch Petitionen, Untersuchungsberichte und Demonstrationen die Frage der Reformen zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema gemacht. Nach langem Zaudern gab Arafat unter massivem Druck der Bevölkerung, der Volksvertreter, den Amerikanern und Europäern nach. Er unterzeichnete das Grundgesetz, das Dekret zur Abhaltung von Wahlen für die Präsidentschaft und den Legislativrat sowie das Gesetz zur Unabhängigkeit der Justiz. Außerdem folgte Arafat den Empfehlungen des parlamentarischen Wahlausschusses und legte die Wahlen für die Kommunalverwaltungen für März 2003 fest. Diese drei Grundpfeiler jeder demokratischen Grundordnung sind Teil eines umfassenden Generalumbaus, mit dem eine neue Phase des Staatsaufbaus begonnen hat. Sie dient nicht zuletzt der Demonstration von Handlungsfähigkeit der PNA und ihres Präsidenten. Zugleich könnte dieser Schritt den Delegitimierungsversuchen seiner Amtskompetenz entgegenwirken. Der Grundgesetzentwurf war seit 1994 Gegenstand von Diskussionen und Verbesserungsvorschlägen in allen Schichten der palästinensischen Gesellschaft. Viele mit Demokratiefragen befassten Nichtregierungsorganisationen haben Hunderte von Veranstaltungen, Seminaren und Workshops abgehalten, um an der Ausarbeitung eines Grundgesetzes mitzuwirken, dessen demokratischer Gehalt sich vom regionalen Durchschnitt eindeutig abhebt. Das palästinensische System, als es noch existierte, wies deutliche Merkmale eines korrupten Systems auf, das die Mehrheit der Palästinenser ablehnten und verurteilten, lange bevor George W. Bush und Ariel Sharon ihre Vorliebe für das "Wohlergehen" der Palästinenser entdeckten. Es wird das Bild dieses Systems nicht in einem besseren Licht erscheinen lassen, wenn man feststellt, dass unzählige andere Staaten korrupter sind, ohne dass daran von den USA Anstoß genommen wird. Die lang erwartete Nahostrede von US-Präsident Bush verwirrte alle betroffenen Parteien bis auf die Extremisten in Palästina und das rechte Lager in Israel. Selbst die Verbündeten der USA wollten auf ihrem G-8-Treffen in Kanada die Forderungen Bushs nach einer Entmachtung Arafats nicht teilen. In Palästina kursiert zur Zeit ein Witz, der die völlige Übernahme der israelischen Sichtweise durch US-Präsident Bush zum Inhalt hat. "Wisst ihr, warum die Rede Bushs mehrmals verschoben werden musste? Ja, weil man in Washington eben lange brauchte, um sie vom Hebräischen ins Englische zu übersetzen." Diese Rede war unrealistisch, obwohl sie einige elementare Prinzipien einer zukünftigen Lösung, wie die Beendigung der Besetzung, die Einstellung der Besiedlungspolitik und die Gründung eines Staates Palästina, enthielt. Ihr fehlte ein Umsetzungsmechanismus und eine Zeitdimension. Der israelische Opposionspolitiker Jossi Sarid charakterisierte die Rede wie folgt: "Sie entspricht mehr einer amerikanischen Vision und weniger den nahöstlichen Realitäten. Sie ist unrealistisch, weil sie gerade Ramallah zur Zwillingsschwester von Westminster erhebt." Das Problematischste an Bushs Rede ist, dass er die Schuld an dieser Krise allein den Palästinensern zuschiebt. Dass er die Gewalt der Palästinenser als den Grund des Konflikts ansieht und die 35-jährige israelische Besetzung völlig ignoriert. Äußerst bedenklich in diesem Zusammenhang ist, dass er den palästinensisch-israelischen Konflikt innerhalb seines Anti-Terror-Krieges sieht und das Moment der Emanzipation und Befreiung für die Palästinenser unberücksichtigt lässt. Bush legitimiert die brutale Politik Sharons und ermuntert ihn, damit fortzufahren, indem er keine praktischen Schritte von ihm verlangt, die zu einer Deeskalation der Situation führen, bevor die eingeschlossenen und weitgehend handlungsunfähig gemachten Palästinenser und Arafat seine Wunschliste erfüllt haben. Es ist höchst fragwürdig, wenn Bush autoritäre und undemokratische Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten oder Jordanien mit dem Demokratisierungsprozess in Palästina beauftragen möchte. Dieser Ansatz kann mit Sicherheit den Erfolg der Reformen nicht gewährleisten. Die Zeit ist gekommen und die Bereitschaft der Palästinenser ist vorhanden, um den Prozess der Veränderung voranzutreiben. Die politischen Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft sind bereit, politische Verantwortung zu übernehmen. Es bedarf allerdings der tatkräftigen politischen, moralischen und nicht zuletzt der technischen Unterstützung der Weltgemeinschaft, insbesondere Europas, um die existierende Chance nicht zu verpassen. VII. Die palästinensische Zivilgesellschaft und ihre "Friedensvorstellungen" Es ist prinzipiell problematisch, aus den Statuten von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich a priori als professionelle und nicht politische Organisationen definieren, eine politische Position zu potenziellen Lösungsansätzen des Konfliktes abzuleiten. Die überwiegende Mehrheit der NGO sind in fünf großen Dachverbänden zusammengeschlossen. Drei davon vertreten mehrheitlich die im Gaza-Streifen befindlichen Organisationen. Die meisten von ihnen sind nach der Rückkehr der PLO aus dem Exil entstanden. Sie vertreten etwa 120 Organisationen. Ihre Hauptbetätigungsfelder sind der Friedensdienst, Dialogprojekte und Jugendaustausch mit Israelis und mit dem Ausland sowie Regionalprojekte im Tourismus- und Umweltbereich. Sie sind auf Betreiben der PNA entstanden und gelten als die "offiziellen" Nichtregierungsorganisationen wegen ihrer politischen Nähe zur PNA. Ihre Gründung sollte den Einfluss der PNA auf die internen Entwicklungen der NGO ermöglichen und ihre gesellschaftlichen Außenwirkungen in gewisser Form steuern. Aber auch die Teilhabe an den Zuwendungen dieser Organisationen stand im Mittelpunkt dieser Strategie. Allerdings blieb der Wirkungsgrad dieser Verbände, die seit fünf Jahren existieren, trotz der offiziellen Bevorzugung begrenzt. Der größte und traditionsreichste Dachverband des Landes ist der Wohltätigkeitsverband. Er entstand noch unter jordanischer Herrschaft in den sechziger Jahren und umfasst knapp 450 Organisationen. Die überwiegend in der Frauen-, Kinder- und Jugendarbeit tätigen Organisationen gelten als Friedensbefürworter und unterstützen die offizielle Politik der PNA. PNGO (Palestinian Non-Governmental Organisations Network) ist der Verband der so gennanten modernen und professionellen Organisationen; er umfasst etwa 80 Mitglieder. Er gilt als der schlagkräftigste und kreativste Verband. Dieses Netzwerk hat Mitglieder aus allen politischen Lagern und Sektoren des zivilen Lebens mit Ausnahme der Islamisten. Seine zum Teil kritische Begleitung der Leistungen der Autonomiebehörde machte ihn über die Grenzen Palästinas zum unabdingbaren Gesprächspartner vieler politischer und professioneller Besucher des Landes. Grundsätzlich gehen die meisten Mitglieder des Verbandes mit den Friedens- und Lösungsansätzen der PNA konform, trotz ihrer Bedenken bezüglich der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik der Regierung Arafat. Die Mitglieder des Verbands haben vielfältige Arbeitsbeziehungen mit behördlichen Stellen einschließlich des Legislativrats, insbesondere im Gesetzgebungsbereich. Die Anfänge der Entstehung einer von der Staatsmacht unabhängigen modernen Zivilgesellschaft sind auf die britische Mandatszeit der zwanziger Jahre in Palästina zurückzuführen. In der Zeit der osmanischen Herrschaft beschränkten sich die zivilen Organisationen auf einige Wohltätigkeits- und familiäre Verbände. Die ersten Organisationen waren Gewerkschaften, Frauenverbände und politische Parteien in den Städten Jaffa, Haifa und Jerusalem. Die Arbeit dieser Organisationen hatte seit Beginn des Jahrhunderts auch eine national-politische Dimension, die u. a. die Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und einwandernden Juden um die Zukunft Palästinas beinhaltete. Die Rolle der zivilen Organisationen in der Herausbildung einer originären palästinensischen Zivilgesellschaft könnte in folgende Phasen aufgeteilt werden: - 1917 bis 1948 konzentrierten sich die zivilen Organisationen auf die Organisierung der Aktionen und Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit, auf die Sicherstellung der Rechte der Arbeiter und die Emanzipierung der Frauen. Die Abwehr der bedrohlich gewordenen jüdischen Einwanderung und die Hilfeleistung für die land- bzw. wohnungslose palästinensische Bevölkerung stand im Vordergrund. - 1948 bis 1967 durchliefen die noch existierenden Organisationen nach Verlust der Heimat und der Auflösung der traditionellen sozialen Strukturen der Gesellschaft eine Phase der Hoffnungslosigkeit, der Umorientierung und des Wiederaufbaus. Am Ende dieser Phase stand die Unterstützung für Hundertausende von Flüchtlingen im Mittelpunkt der Aktivitäten. - 1967 bis 1982 wird als Periode der so genannten "Unmöglichen Entwicklung im Schatten der Besatzung" bezeichnet. Obwohl diese Phase eine wichtige Etappe in der Wiedererstarkung der zivilen Organisationen darstellt, insbesondere durch die Zunahme der Rolle der PLO als gesamtpalästinensische Vertretung, konzentrierten sich die Anstrengungen auf den Widerstand gegen die Besatzung. Die entstandenen Massenorganisationen wie Berufsverbände, Studentenvereine und Freiwilligenverbände blieben in ihren Aktivitäten auf das Exil fokussiert ohne signifikanten Einfluss auf die besetzten Gebiete. Man ging von der Annahme aus, dass jegliche Entwicklungsanstrengung durch die Besatzungspraktiken ohnehin durchkreuzt würde. - 1982 bis 1988 entstanden die meisten z. Z. noch existierenden Organisationen und Komitees. Das Zentrum der zivilen Arbeit verlagerte sich vom Exil ins Kernland Palästina. Sie übernahmen quasi staatliche Aufgaben in fast allen Lebensbereichen von Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Entwicklung bis hin zu Kultur und Information. Viele Organisationen waren zwar verlängerte Arme der PLO-Gruppen, dennoch konnten sie eine alternative Entwicklungsstrategie herausbilden, die sich wesentlich von den traditionellen Formen unterschied. Sie etablierten demokratische Organisatiosstrukturen, die bürgernah waren und eine große Anzahl von Mitgliedern aufwiesen. Sie lösten sich von ihrem elitären Selbstverständnis und haben ihre gesellschaftlischen Aufgaben vom Primat der Politik befreien können, wodurch sie mehr an Ansehen und Professionalität gewannen. - 1988 bis 1992 war während der ersten Intifada das vorherrschende Ziel der Arbeit der zivilen Organisationen die Gewährleistung der Standhaftigkeit der Bevölkerung. Darüber hinaus war man bemüht, eine internationale Öffentlichkeit für die Belange der Palästinenser herzustellen. Deswegen entstanden viele Forschungs- und Medieneinrichtungen, Umwelt-, Trainings- und Kreditinstitutionen. Man war von der Hoffnung auf die baldige Ausrufung eines Staates beflügelt. - Die Phase nach den Osloer Verträgen brachte die tatsächliche Wende in der Arbeit der zivilen Gesellschaft. Sie wurden inzwischen zu Konkurrenten der neu entstandenen Autonomiestrukturen. Ein Kampf um die ausländischen Fördermittel setzte ein. Die PNA begann, die Arbeit einiger Organisationen beschränken und kontrollieren zu wollen. Während die PNA die Arbeit einiger Organisationen allmählich tolerierte, weil sie zur Übernahme ihrer Aufgaben nicht imstande war, versuchte sie andere wie Demokratie-, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen zu behindern und zu drangsalieren. Nichtsdestoweniger haben insbesondere NGO-Netzwerke enormen gesellschaftlichen Druck zugunsten von inneren Reformen und Demokratisierung erzeugt. Selbst die Volksvertreter machten sich das NGO-Know-how zu Eigen, um bestimmte Gesetzesvorhaben mit dem notwendigen Fachwissen auszustatten. In der palästinensischen Realität - wie in anderen Staaten auch - kann man hinsichlich der Zielsetzung von Nichtregierungsorganisationen zwei Hauptmerkmale unterscheiden: Zur ersten Kategorie gehören die politischen Parteien mit ausschließlich politischen Zielen, die zur Machtergreifung im Staat führen können. Sie haben einen festen Mitgliederstamm und sind mehrheitlich abgewandelte Kampforganisationen aus alten PLO-Zeiten. Ihre Struktur weist erhebliche Demokratiedefizite auf, und sie sind mit demokratischen Parteien im westlichen Verständnis nicht vergleichbar, trotz ernsthafter Bemühungen einiger, westliche Standards zu erreichen. In den palästinensischen Gebieten und im syrischen Exil existieren 15 solcher Parteien und Gruppen. Zur zweiten Gruppe zählen alle die anderen NGO, die keine direkten politischen Ziele verfolgen und deren Aufgaben in der Entwicklung und Förderung aller gesellschaflichen Schichten in vielen Lebensbereichen liegen. Ihre Mitgliedschaft folgt weniger festen Strukturen und basiert auf freiwilliger Arbeit und spezifischen Fachkenntnissen. Davon gibt es in Palästina etwa 800 Organisationen von unterschiedlicher Größe und unterschiedlichem Wirkungsgrad. Einige sind landesweit tätig, wohingegen andere lokalen Charakter haben. Eine Klassifikation der palästinensischen NGO-Szene ergibt folgendes Bild: Karitative Gesellschaften und Genossenschaften: Sie sind die ältesten Formen der Selbstorganisation in Palästina. Dazu zählen sowohl die moslemischen als auch die christlichen Organisationen. Massenorganisationen: Dazu zählen Gewerkschaften, Frauenverbände, Flüchtlingslagerkomitees, Jugendklubs und die Bewegung der Freiwilligen. Ihre Defizite lagen in ihrer Politisierung, die zu Lasten der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder ging. Diese wie einige der nachfolgenden Organisationen dienten u. a. der Rekrutierung von Mitgliedern für ihnen nahe stehende Parteien. Man kann sie aber als die Basisschulen der später gegründeten Institutionen der Zivilgesellschaft klassifizieren. Die professionellen Entwicklungshilfeorganisationen sind im Gesundheitswesen und in der Landwirtschaft angesiedelt. Ihre Organisationsformen sind den Konzepten der ehemaligen kommunistischen Parteien entliehen und wirkten hauptsächlich in den Flüchlingslagern und den ländlichen Gebieten. Zentren für Forschung, Information und Kommunikation, Demokratie, Umwelt und Menschenrechte: Diese haben eine beschränkte Massenbasis, dafür aber eine wichtige Funktion in der Volksbildung und Mobilisierung. Sie sind in den letzten Jahren zu den Hauptempfängern der Finanzmittel aus den Geberländern geworden. Ihre kritische Haltung gegenüber der PNA führte zunehmend zu Spannungen zwischen beiden Seiten. Institutionen zum Schutz der Rechte spezifischer Gruppen und Minderheiten: Sie sind die jüngste Form der Vertretung von Interessengruppen wie z. B. von körperlich Behinderten, Gefangenen und Internierten. Bürger- und Dorfinitiativen werden zunehmend zu einer allgemeinen Erscheinung in der Gesellschaft. Die politischen Parteien wie die Organisationen der Zivilgesellschaft lassen sich generell in Befürworter und Gegner des Friedensprozesses einteilen. Einige sind aufgrund ihrer religiös-ideologischen Positionen grundsätzlich dagegen, wie die islamische Hamas-Bewegung, die Al-Jihad Al-Islami und andere kleinere Abspaltungen der islamischen Bewegung. Sie erziehen ihre Anhänger im selben Sinne bis hin zu der Organisierung des bewaffneten Widerstandes. Sie verfolgen das Ziel eines islamischen Palästina zwischen Jordan und Mittelmeer. Die Gesellschaft muss nach der islamischen Gesetzlichkeit gestaltet werden, in der allerdings Juden und Christen unbehelligt leben können. Es liegt aber durchaus im realistischen Bereich, dass diese Organisationen ihre Standpunkte ändern würden, wenn Israel die besezten Gebiete räumen würde. Weil dies das Ziel jedes palästinensischen Nationalisten ist und der Nationalismus dieser Islamisten ausgeprägter ist als ihr religiöser Eifer, ist die Einnahme einer pragmatischen Haltung durchaus vorstellbar. Die anderen Parteien, die dem Ablehnungslager zuzurechnen und hauptsächlich in Syrien beheimatet sind - mit Ablegern in Palästina -, sind entweder säkular-nationalistisch oder sozialistisch orientiert. Sie akzeptieren eine Koexistenz mit Israel nur auf der Basis des totalen Rückzugs aus den 1967 besetzten Gebieten ohne Einschränkung irgendwelcher Souveränitätrechte einer palästinensischen Staatlichkeit, wie von Israel gefordert wird. Für sie muss es eine Gesamtlösung für alle umstrittenen Fragen zwischen Israel und der arabischen Seite geben. Außerdem halten sie die Fortsetzung des bewaffneten Kampfs für ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer nationalen Ziele. Die ihnen nahe stehenden NGO, die in Palästina arbeiten, haben eine pragmatischere Haltung als ihre Mitglieder im Exil. Insbeondere die NGO aus diesem Lager haben sich der Gesetzlichkeit der von ihnen abgelehnten PNA völlig untergeordnet und leisten einen wichtigen Aufbaubeitrag. Die Mitarbeiter dieser NGO könnten die Keimzellen der Annäherung der politischen Positionen dieser Gruppen an die der Fatah-Bewegung und der PNA sein. Dies ist umso wichtiger, weil sie an der Basis der Gesellschaft wirken und somit die Volksmeinung beeinflussen können. Da ihre politischen Auffassungen mit denen aus dem Osloer Lager - ein Staat Palästina neben Israel in den Grenzen von 1967 - nicht weit auseinander liegen, könnten sie als Verbündete eine realistische Konkurrenz zu den Islamisten an der Basis darstellen. Ihre Forderungen nach Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Menschenrechten, verbunden mit einer Kritik an den Missständen in der PNA, teilen sie mit allen NGO und Parteien einschließlich der islamischen Organisationen. Die Nichtregierungorganisationen, die dem Osloer Block (Fatah, Fida und Volkspartei) nahe stehen, unterstützen eine friedliche Regelung des Konflikts auf der Basis von zwei Staaten. Die Akzeptanz eines Staates Palästina auf nur 22 Prozent der ursprünglichen Heimat (Westbank und Gaza-Streifen) ist die Mindestforderung. Vgl. Shamai Leibowitz, Ein israelischer Offizier antwortet Präsident Bush, in: Znet vom 27. Juni 2002. Vgl. Jossi Alpher, Eine israelische Sicht. Die Rechnung für die Gewaltanwendung, zit. in: (www.bitterlemons.org) vom 3. Juli 2002. Vgl. Salim Tamari, Eine palästinensische Sicht. Welche Form des Widerstandes? (arabisch), in: (www. bitterlemons.org) vom 3. Juli 2002. Vgl. Victor Kocher, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. Mai 2002. Vgl. Ghassan Khatib, Eine palästinensische Sicht. Die Botschaft des israelischen Volkes (arabisch), in: (www.bitterlemons.org/Arabic/issue) vom 3. Juli 2002. S. Leibowitz (Anm. 1). Vgl. Defence for Children International, 2002 Siege on Palestine. DCI/PS Updates on the Siege. Vgl. Amnesty International, 2002. Israel and the occupied territories, the heavy price of Israeli incursions, Al-index: MDE 15/042/2002, MDE 15/058/2002. Moshe Zuckermann, Nahosten: Die Logik der Okkupation, in: IZ3W, (2002) 261. Vgl. Gideon Levy, Eine Million Menschen unter Ausgangsperre, in: Haaretz vom 30. 6. 2002. Vgl. JMCC, Besieged go hungry and wounded deteriorate inside the presidential compound, Israeli military, tanks besiege Bethlehem's Chuch of Nativity vom 25. April 2002. Vgl. Addameer Prisoner support and Human Rights Association, Thousands of Palestinians blindfolded, handcuffed and tortured (2002). Vgl. Teacher Creativity Center/Ramallah, Israeli Occupation Forces Assault on the Palestinian Community, Mai 2002. Ebd. Ebd. Vgl. George Giacaman, A Palestinian View: President'Bush's Speech: A Failure of Leadership, in: (www.bitterlemons.org) vom Juni 2002. Vgl. Victor Kocher, Unterzeichnung eines Grundgesetzes für Palästina, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2. Juni 2002. Vgl. ders, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. Mai 2002. Vgl. Ghassan Khatib, A Palestinian View. Putting conditions on a stalled peace, in: (www.bitterlemons.org) vom 1. Juli 2002. Jossi Sarid, Vorsitzende der oppositionellen Meretz Partei, Offener Brief an den Amerikanischen Präsidenten, in: (www.ynet.co.il) vom 27. Juni 2002. Vgl. zur Geschichte im Folgenden: Bisan Center for Development and Research Ramallah, Juli 2001 (arabisch). Vgl. Mustafa Barghouti, Organisationen der Zivilgesellschaft und ihre Rolle in der Zukunft (arabisch), Ramallah 1995.
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Dayyeh, Suleiman Abu
"2022-08-29T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2022-08-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26753/das-besetzte-palaestina-zwischen-macht-und-gerechtigkeit/
Die Besetzung, die Entwürdigung und die Entrechtung der Palästinenser durch Israel ist die Ursache der Gewalt und der Grund für den fehlenden Frieden, den beide Völker bitter nötig haben.
[ "Palästina" ]
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Dipl. Ing. Uli Hellweg | 13. Bundeskongress Politische Bildung – Ungleichheiten in der Demokratie | bpb.de
Uli Hellweg (Jahrgang 1948) wurde in Dortmund geboren. Er schloss das Architektur- und Städtebaustudium an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule – RWTH Aachen 1976 ab. Dipl. Ing. Uli Hellweg (© Johannes Arlt) Nach Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU) in Berlin und Sachgebietsleiter im Stadtplanungsamt der Stadt Gelsenkirchen koordinierte er von 1980 bis 1987 Pilotprojekte bei der Internationalen Bauausstellung Berlin GmbH - IBA ’84/’87. 1987 bis 1992 koordinierte er die Stadterneuerungsaktivitäten der IBA-Nachfolgegesellschaft, der S.T.E.R.N. GmbH, in Berlin Moabit. Von 1992 bis 1996 war Hellweg Dezernent für Planen und Bauen der Stadt Kassel. Nach seiner Tätigkeit als Stadtbaurat folgte eine Reihe von Geschäftsführertätigkeiten, u.a. bei der Wasserstadt GmbH (Berlin), der DSK (Wiesbaden) und der agora s.a.r.l. (Großherzogtum Luxemburg). Von September 2006 bis Ende 2013 war Hellweg Geschäftsführer der Internationalen Bauausstellung Hamburg GmbH. Für seine Leistungen wurde Hellweg mit der Semper-Medaille des Architekturzentrums Hamburg des Bund Deutscher Architekten ausgezeichnet. Seit 2014 ist Hellweg Geschäftsführer der IBA Hamburg-Nachfolgegesellschaft, die als öffentliche Entwicklungsgesellschaft. Zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen im In- und Ausland. Hellweg ist Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Interner Link: Thesenpapier zur Sektion 3: Uli Hellweg Dipl. Ing. Uli Hellweg (© Johannes Arlt)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-02-19T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/13-bundeskongress-politische-bildung-ungleichheiten-in-der-demokratie/201531/dipl-ing-uli-hellweg/
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Migration Policies | Bangladesh | bpb.de
In 1976, the Bureau of Manpower, Employment and Training (BMET) was established as an attached department of the – back then – Ministry of Manpower Development and Social Welfare, which ought to care for the manpower requirements of, and thus the reproduction of labor in, the country. In 1982, a new Emigration Ordinance replaced the previously existing Emigration Act from 1922. To-date, it provides the legal framework for regulating recruitment and placement of migrant workers from Bangladesh. On the basis of this law, the government created a welfare fund for migrant workers. The fund has been used to enhance language skills of outgoing laborers, to introduce service desks for migrants at Dhaka’s international airport, to support migrant workers at their destinations through the labor attachés of the respective Bangladeshi embassy, to cover the costs of repatriating the bodies of migrant workers who died overseas, and to compensate their families for their loss. In 1998, Bangladesh signed the UN’s International Convention on the "Protection of Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families", which is one of migrant-sending countries' most important political tools in negotiations with countries that rely on foreign labor, and ratified it in 2011. Since 2002, the government grants licenses to individuals and agencies who wish to be engaged in the recruitment of manpower for overseas employment. The government may cancel, suspend or penalize the recruitment licenses in the case of violating the prescribed code of conduct. In 2015, 900 agencies were registered. Although the management and recruiting policies of most of those agencies are under suspicion of being corrupt and violating the code of conduct that is also meant to protect migrant workers' rights, the government has not yet taken any significant action against them. An important change has been the withdrawal of restrictions for unskilled female labor migrants in 2003. Under the ban that had been introduced in 1981, lowly skilled female workers were not allowed to out-migrate. Only highly educated women did formally have access to foreign employment. Nonetheless, many unskilled women migrated to countries like Malaysia in order to work there as housemaids, for instance. The undocumented status at their destination even enhanced their vulnerability. The law also reflected the social stigma of women who worked abroad. Since lowly skilled women may – again – legally work abroad, the gender composition of out-going migrants has changed significantly (Interner Link: see section on labor migration). Most of the Bangladeshis working abroad only have access to the labor market for unskilled or low-skilled workers and are trapped in low-paid jobs – often under exploitative conditions (see Interner Link: Infobox). "Decent work" in terms of better access to employment – both at home and abroad –, the recognition of fundamental rights at work, and higher incomes with which workers can better meet their families’ basic needs, is now high on the political agenda of international organizations. Bangladesh’s government has recognized the need to better protect its migrant workers and to enhance the skills and qualifications of both its domestic workforce and migrant workers. This should pave the way for improved labor conditions and higher remittances. A better coordination of and higher educational standards at the almost 3,000 public and private institutions that provide technical and vocational education and training (TVET) is aimed at. The BMET operates 47 Technical Training Centres (TTCs) in the country, which seek to enhance the professional skills of Bangladeshi workers in trades that are in particular demand both domestically as well as internationally. In 2011, the government also established a "Migrant Welfare Bank" with a starting capital of 100 million Bangladeshi Taka (BDT) in order to further support international labor migration. The bank provides loans to prospective migrants who can thereby pay the significant costs of labor recruitment, it seeks to reduce the costs of and facilitate international remittances for expatriate workers, and it provides investment loans for returnee migrants and their families. In 2012, the governments of Bangladesh and Malaysia signed a Memorandum of Understanding (MoU) in order to better regulate and control the sending and receiving of migrant workers and to reduce incentives for irregular migration between both countries. The MoU did, however, not lead to a significant increase of skilled labor migration from Bangladesh. In contrast, irregular migration flows in the Andaman Sea reached new heights in 2014 and 2015. In 2013, the government of Bangladesh passed the "Overseas Employment and Migrants Act". Under this law, migrant workers can lodge criminal cases for deception or fraud against recruiting, visa, and travel agencies as well as employers. In civil cases they can seek compensation from these actors. Despite numerous reports on fraud by recruiters and employers, on extortion by people’s smugglers en route to Malaysia, for instance, and on inhumane working conditions at various destinations, no cases have been filed under this law yet. Table 4: Chronological development of migration laws and institutions regulating labor migration from Bangladesh Year 1976Establishment of Bureau of Manpower, Employment and Training (BMET) 1982A new Emigration Ordinance replaced the 1922 Emigration Act 1990Establishment of Welfare Fund for Migrant Workers 1998Signature of the UN’s International Convention on Protection of Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families 2002Government starts to grant licenses to agencies for recruiting overseas employment 2003Government relaxes restrictions on female labor migration 2011Establishment of Migrant Welfare Bank (Probashi Kallyan Bank) 2012Memorandum of Understanding between Bangladesh and Malaysia on sending and receiving workers 2013 Enactment of the Overseas Employment and Migrants Act 2013 Emigration from Bangladesh is often discussed in terms of the question whether it presents a "brain drain" or "brain gain" for the country. On the one hand, the emigration of professional and skilled Bangladeshis is a loss for the country with regard to human resources (i.e. skills and knowhow). On the other hand, migrants’ remittances are an important contribution to Bangladesh's GDP and therefore a development tool. Moreover, emigrants gain knowledge and skills abroad that can contribute to Bangladesh's development in case of their return to the country. The diaspora community is thus also increasingly recognized as an important driver and facilitator of development. Members of the diaspora not only support their families and home communities. Many have also made significant contributions in different sectors, particularly in construction, agriculture, technology and banking. This article is part of the Interner Link: country profile Bangladesh. About US$ 1.3 million at exchange rate in mid 2011. Siddiqui (2005); ILO (2014a; 2014b); Siddiqui/Reza (2014); Siddiqui et al. (2015). ILO (2014c).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-18T00:00:00"
"2015-11-23T00:00:00"
"2022-01-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/216106/migration-policies/
Bangladesh is rather a country of emigration than a major immigrant destination. As a result, a political framework has been created only for the management of out-migration. The "export" of laborers plays a significant role in Bangladesh’s long-term
[ "Bangladesh", "Migration", "Migrant", "Bangladesch", "Migrationspolitik" ]
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Unabhängigkeit und Erinnerungspolitik | (Post)kolonialismus und Globalgeschichte | bpb.de
Unabhängigkeit ist ein vieldeutiges, flexibles Konzept. Es verweist auf einen zeitlich spezifischen Moment, die Geburt eines souveränen Staats durch die formelle Deklaration des Endes der kolonialen Abhängigkeit. In den meisten neuen Staaten erinnert ein Nationalfeiertag an diese historische Wegmarke — an die „Freiheit um Mitternacht“, den Augenblick des Machttransfers, der nach dem Vorbild Indiens und Pakistans in vielen nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig gewordenen Kolonien auf Mitternacht gelegt wurde. Zugleich verweist Unabhängigkeit aber auch auf ein politisches Projekt. Der Begriff wird zur Chiffre für Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit oder zum Symbol von Enttäuschungen und Scheitern. Unabhängigkeit ist zu einem "Erinnerungsort" geworden. So nennt der französische Historiker Pierre Nora symbolisch aufgeladene geografische Orte, historische Ereignisse, mythische Figuren, Institutionen oder Gegenstände, an denen sich die kollektive Erinnerung einer Gruppe festmacht. Erinnerungsorte — und so auch die Unabhängigkeit — bündeln, so Nora, „ein Maximum von Bedeutungen“ in einem „Minimum von Zeichen“. Akteure und Medien der Erinnerung Das Besondere am Erinnerungsort Unabhängigkeit ist, dass er nicht erst im Nachhinein, mit zeitlichem Abstand, sondern zeitgleich mit dem zu erinnernden Ereignis von staatlichen Erinnerungs-Machern geschaffen wird. Schon der Machttransfer selbst wird in der Regel prächtig inszeniert, nicht zuletzt im Hinblick auf die künftige kollektive Erinnerung an diesen Moment. Zum ersten Jahrestag wird dann in der Regel ein in den Folgejahren immer wieder aufgeführtes Format des festlichen Gedenkens geschaffen, mit dem Absingen der Nationalhymne, mit Paraden, Reden und manchmal auch Kulturdarbietungen, die die ethnische Diversität des Landes präsentieren, und mit Begleitveranstaltungen sowie Zeitungskolumnen oder Fernsehsendungen zur Geschichte des Landes. Die Feiern, die in vielen Ländern nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch den Provinzen und sogar bis hinunter auf die Distriktebene stattfinden, sollen an die (Vor)Geschichte der Unabhängigkeit erinnern, vor allem aber auch die Gegenwart bilanzieren und in die Zukunft weisen. Sie beschwören den Zusammenhalt der Nation, rufen zu Patriotismus auf und fordern das Engagement jedes Einzelnen für die Geschicke des Landes. Für viele Afrikaner, mit denen wir in unserem vergleichenden Forschungsprojekt zu afrikanischen Nationalfeiern gesprochen haben, stehen persönliche Erinnerungen an solche Feiern im Vordergrund, vor allem, wenn sie selbst etwa als Schüler an den Paraden teilgenommen haben. Doch nicht nur Feiertage, auch Bücher und Zeitungsartikel oder Filme und Fernsehsendungen, Museen und Ausstellungen, Gebäude, Denkmäler sowie Namen von Straßen und Plätzen erinnern an die Unabhängigkeit. In jüngerer Zeit kommen Blogs und in den sozialen Medien ausgetragene Debatten oder ausgetauschte Fotos dazu. Die unterschiedlichen Medien der Erinnerung präformatieren die Botschaften und setzen manchmal auch ungewollte Eigendynamiken in Gang—wenn etwa die nigerianischen Organisatoren des fünfzigsten Unabhängigkeitsjubiläums Porträts vergangener Präsidenten auf riesige Luftballons druckten, was Regierungskritiker einlud, die Ballons als Symbol für aufgeblasene, geplatzte Versprechungen der Politiker zu deuten. Unterschiedliche, gleichzeitig genutzte Medien können auch einander widersprechende Botschaften vermitteln, wenn etwa die Präsidentenrede an die Unabhängigkeit als alle ethnischen Gruppen des Landes einigenden Moment erinnert, aber die für die Dekoration der Bühne und die Festtagsstoffe der Teilnehmer genutzten Symbole und Bilder nur eine kulturelle Tradition des Landes aufrufen, die andere Gruppen marginalisiert. So dominieren in Ghana etwa in der öffentlichen Sphäre der Feiern Stoffe, die aus der Tradition des Aschanti-Königreichs stammen; andere Bewohner des Landes, insbesondere die aus dem ärmeren Norden, empfinden das oft als weiteres Symbol ihrer Marginalisierung. Und schließlich arbeiten Erinnerungsunternehmer nicht nur mit national spezifischen Formaten, sondern auch Anleihen aus anderen Erinnerungskulturen und globalen Modellen—wie die schon erwähnte Erklärung der Unabhängigkeit zur „midnight hour“ oder stilistisch ähnliche Denkmäler für Nationalhelden, mit deren Errichtung etwa die Regierungen von Angola, Äthiopien, Zimbabwe, Namibia, Senegal und fünf weiteren afrikanischen Staaten allesamt den nordkoreanischen Konzern Mansudae Overseas Projects beauftragt haben. Die öffentliche Erinnerung an die Unabhängigkeit wird vorrangig von offizieller Erinnerungspolitik geprägt. In fast allen Ex-Kolonien sind es in erster Linie der Staat und seine Amtsinhaber und Funktionseliten, die die zu ehrenden Helden auswählen, die Feiertage festlegen, die Schulbuchinhalte gestalten und die Denkmäler in Auftrag geben. Umwälzungen in der staatlichen Politik, Revolten, Bürgerkriege und politische Transformationsprozesse führen zur Neuordnung der Erinnerungspolitik. Jenseits der öffentlichen Zeremonien überliefern einzelne Personen und Familien ihre eigenen, persönlichen Erinnerungen. Solche oft eher mündlich überlieferten oder an bestimmte Gegenstände geknüpfte Erinnerungsstränge können sich auch aggregieren, und subnationale Erinnerungsgemeinschaften wie Vereine, Veteranenverbände, Kirchengemeinden oder Gewerkschaften können Gegenerzählungen entwickeln und bei geeigneten Anlässen präsentieren, in eigenen Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen oder Monumenten. Auch panafrikanische und transatlantische Erinnerungspfade können punktuell nationalstaatlich verfasste Meistererzählungen herausfordern. Manchmal existieren solche alternativen Erinnerungen an die Unabhängigkeit parallel zur dominanten Erinnerungspolitik, manchmal geraten sie aber auch in Konflikt, wie etwa bei einigen der afrikanischen Unabhängigkeitsjubiläen in den 2010er Jahren. Die Konturen solcher erinnerungspolitischer Konflikte wiederum — und generell: die Besonderheiten der nationalen Erinnerungslandschaften — sind aufs engste mit den jeweiligen Konjunkturen der Dekolonisierung und den von Land zu Land unterschiedlichen Herausforderungen der Nationalstaatsbildung verknüpft. Helden, Märtyrer und Opfer Helden sind personalisierte Träger der Narrative von Unabhängigkeit und Nationenbildung. Sie werden von offiziellen Erinnerungspolitikern oft als moralische Vorbilder präsentiert, die dauerhafte Bewunderung und Nachahmung verdienen. Allerdings sind sie weniger langlebig und unumstritten, als die Erbauer von Heldendenkmälern und Verfasser von Hagiographien es wahrhaben möchten. Ihr Beitrag zur nationalen Geschichte wird im Lauf der Zeit umgedeutet, Denkmäler werden gestürzt, aus Helden können Anti-Helden werden, oder sie müssen den ihnen bislang allein vorbehaltenen Ehrenplatz mit anderen, zuvor vergessenen oder verdrängten historischen Akteuren teilen. Ghana: Erinnerung an Kwame Nkrumah Die wechselvolle Geschichte der Erinnerung an Kwame Nkrumah, Vorsitzender der antikolonialen Convention People’s Party (CPP), seit 1951 Premierminister der ghanaischen Regierung noch unter britischer Oberherrschaft und erster Präsident des unabhängigen Ghana, ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Wechselhaftigkeit der politischen Konjunkturen des Heldengedenkens. Das trieb er nicht zuletzt selbst tatkräftig voran. Pünktlich zur Erklärung der Unabhängigkeit im März 1957 veröffentlichte er seine Autobiographie und scheute sich nicht, unter dem Titel Ghana: The Autobiography of Kwame Nkrumah seine persönliche Geschichte und die des neuen Nationalstaats in einander fließen zu lassen. Ein Jahr zuvor hatte er zur Vorbereitung auf die Unabhängigkeit neue Geldmünzen, Geldscheine und Briefmarken produzieren lassen, die sein Konterfei trugen. Am Vorabend der feierlichen Erklärung der Unabhängigkeit sollte eine bei einem italienischen Bildhauer in Auftrag gegebene Statue seiner Person mit der Inschrift „Kwame Nkrumah: Founder of the Nation“ enthüllt werden; tatsächlich wurde das Denkmal dann allerdings erst zum ersten Jahrestag der Unabhängigkeit fertig. Im Vorfeld und auch nach der Einweihung des Monuments kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen CPP-Anhängern und Oppositionspolitikern, die allerdings zunehmend mundtot gemacht wurden. Nkrumah rechtfertigte die auf ihn fokussierte Heldenverehrung: Anders als durch sichtbare, an seine Person gebundene Symbole und Denkmäler würde das des Lesens und Schreibens weitgehend unkundige ghanaische Volk nicht begreifen, dass nicht mehr die Briten, sondern Afrikaner nun das Land regierten. Die Kritiker warfen Nkrumah jedoch Personenkult und diktatorische Ambitionen vor und prophezeiten, er würde dasselbe Schicksal wie Stalin und seine Denkmäler erleiden. Tatsächlich kam es 1966, ehe der Plan der CPP-Regierung umgesetzt werden konnte, im ganzen Land Statuen des Präsidenten aufzustellen, zu einem Staatsstreich, und das prominenteste Denkmal Nkrumahs vor dem Parlamentsgebäude in Accra wurde von den Putschisten geschleift. Für knapp zwei Dekaden waren alle Paraphernalien verboten, die an Nkrumah und die CPP erinnern könnten. Erst 1992, zwanzig Jahre nach Nkrumahs Tod, wurde er als Nationalheld offiziell rehabilitiert und durch den Bau eines aufwändigen Mausoleums sowie einer prächtigen, goldglänzenden Statue mitten im Stadtzentrum geehrt, genau am Ort der einstigen mitternächtlichen Erklärung der Unabhängigkeit. Die Kontroverse um Nkrumahs historische Rolle endete damit aber keineswegs. Als die Nachfahren der früheren CPP-Opposition in den 2000er Jahren an der Regierung waren, sorgten sie dafür, dass hinter dem Mausoleum die 1966 gestürzte Statue aufgestellt wurde—zu Zwecken der historischen Dokumentation, wie argumentiert wurde. Doch die Nkrumah-Anhänger protestierten, dass damit das Erbe des Nationalhelden ein zweites Mal angegriffen würde. Und bis heute gibt es erhitzte Auseinandersetzungen um den Raum, der anderen, weniger radikalen „Vätern“ der Unabhängigkeit, die mit Nkrumah einst über den richtigen politischen Weg gestritten hatten, in der nationalen Erinnerung zugestanden werden sollte. Namibia: Erinnerung an Sam Nujoma Der Heldenkult um Namibias ersten unabhängigen Präsidenten Sam Nujoma wiederum ist ein Beispiel nicht für Sturz eines Nationalhelden, sondern seine allmähliche Re-Interpretation, die allerdings nicht so offen diskutiert wurde und wird wie der Fall Nkrumah. Hier lassen sich die Bedeutungsverschiebungen gut an der veränderten Ikonographie der verschiedenen Denkmäler ablesen. Die ersten Denkmäler—einschließlich der Statue des „Unbekannten Soldaten“ auf dem 2002 in Windhuk eröffneten, von Mansudae Overseas Projects gebauten Heroes’ Acre, die gemeinhin als Konterfei von Nujoma gedeutet wird—zeigen den Präsidenten und andere Unabhängigkeitshelden unweigerlich als Freiheitskämpfer, in Kampfuniform und mit Kalaschnikow in der Hand. Dass Nujoma selbst die meiste Zeit in ziviler Mission unterwegs war und vor allem als Diplomat und Politiker, nicht als Soldat für die Unabhängigkeit Namibias stritt, tut der statuarischen Repräsentation als Kämpfer keinen Abbruch. Sie verkörpert das dominante nationale Narrativ der Geburt des unabhängigen Namibias aus dem bewaffneten Kampf. Die 2014 vor dem neuen Independence Memorial Museum enthüllte Statue präsentiert Nujoma dagegen als Staatsmann, in ziviler Kleidung und mit der Verfassung in der Hand. Auch jenseits der Denkmalspolitik öffnet sich die nationale Erinnerungskultur allmählich für eine nuanciertere Geschichte der Unabhängigkeit, nicht zuletzt, weil es gilt, das neue Namibia als demokratisch-zivilen Staat zu festigen und auch die vielen jüngeren Staatsbürger zu integrieren, die nicht am bewaffneten Kampf teilgenommen haben. Nicht immer kommt der Impuls für solche erinnerungspolitischen Verschiebungen von der Regierung. Dass inzwischen auch der frühe antikoloniale Widerstand der dann genozidär verfolgten Herero und Nama wenigstens teilweise Platz im offiziellen Narrativ des langen Kampfs für die Unabhängigkeit findet, verdankt sich vor allem der langfristigen Öffentlichkeitsarbeit diverser ethnischer Vereinigungen und Chiefs. Andere zivilgesellschaftliche Gruppierungen propagieren, dass nicht nur bewaffnete Kämpfer, sondern auch Zivilisten als Unterstützer des Befreiungskriegs und Opfer von Repressionen der südafrikanischen Armee allmählich in das historische Gedenken aufgenommen werden. Ausgeschlossen bleiben aber nach wie vor, obwohl sich ihre Angehörigen in Vereinen zusammengeschlossen haben und Gehör zu verschaffen suchen, die Opfer der repressiven Politik der Befreiungsarmee selbst, die auch unter den eigenen Anhängern vermeintliche Feinde und Kollaborateure verfolgte und tötete. Dennoch hat sich in den letzten Jahren die Erinnerungspolitik insgesamt hin zu mehr Inklusion entwickelt, und Namibia ist ein gutes Beispiel dafür, wie zunächst von nicht-staatlichen Akteuren in Gegenöffentlichkeiten propagierte Narrative allmählich Eingang finden können in das offizielle Gedenken. Flexible Zeithorizonte der Erinnerung Die Erweiterung des namibianischen Unabhängigkeitsnarrativ hin zur Inklusion frühen antikolonialen Widerstands gegen die deutsche Kolonialmacht zeigt, dass die Zeithorizonte, die mit dem Unabhängigkeitsgedenken aufgerufen werden, flexibel sind. In manchen Ländern wird die Erinnerung sogar auch auf die vorkoloniale Geschichte ausgedehnt, wie das Beispiel Madagaskar verdeutlicht. Zum fünfzigjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit im Jahr 2010 präsentierte hier eine Ausstellung in der Hauptstadt Schriftstücke, Fotografien und Insignien des Merina-Königreichs aus dem 19. Jahrhundert, die die lange Existenz eines souveränen Nationalstaats Madagaskar avant la lettre dokumentieren sollten. Auch in vielen Reden und Publikationen anlässlich des Jubiläums wurde immer wieder das Narrativ von der „wiedergewonnen Unabhängigkeit“ propagiert und die Kolonialzeit als eine relativ kurze und für die Nationalgeschichte weniger bedeutende Zwischenepoche gewissermaßen eingeklammert. Auch der jährliche Unabhängigkeitstag wird als Fortführung des traditionellen königlichen Bades betrachtet. Diese „Merinisierung“ der Nationalgeschichte, die sich auch in der Betrachtung des jährlichen Unabhängigkeitstags als moderner Fortführung des traditionellen königlichen Bades äußert, ist allerdings nicht unumstritten. Als dominantes Narrativ ist sie auch eher rezent. Denn nicht wenige madagassische Bevölkerungsgruppen verbinden mit dem Merina-Königreich Erinnerungen nicht an einen stolzen souveränen Staat, sondern an ein expansives Reich, das ihre eigene Unabhängigkeit einst zu zerstören trachtete. Darum setzten die ersten postkolonialen Regierungen, die die Nationenbildung und den Zusammenhalt von Merina und anderen ethnischen Gruppen vorantreiben wollten, keineswegs auf den Mythos einer langen vorkolonialen und nun wiedergewonnenen Unabhängigkeit. Sie nahmen stattdessen eher die Erklärung der Unabhängigkeit selbst in den Blick und die Zukunftshoffnungen, die sich damit verbanden. Nicht zuletzt konnten die Franzosen bei der kolonialen Eroberung Madagaskars die Unterstützung von Opfern der Merina-Expansion mobilisieren, und die antikoloniale Bewegung der 1940er und 1950er Jahre war in einen pro- und einen anti-Merina-Flügel gespalten. Der erste madagassische Präsident, selbst kein Merina, achtete sorgfältig darauf, sich in Kleidung und Habitus von den traditionellen Merina-Eliten zu distanzieren und als Mann des Volks und väterlich-sorgendes Oberhaupt für alle Madagassen zu präsentieren. Erst in den 1980er und 1990er Jahren griffen madagassische Präsidenten zur Stabilisierung ihrer Regime vermehrt auf Merina-Symbole zurück. Und zum Unabhängigkeitsjubiläum 2010 schließlich versuchte der international nicht anerkannte Regierungschef Rajoelina, der sich kurz zuvor an die Macht geputscht hatte, seine Legitimität durch Selbstinszenierung als Erbe der Merina-Dynastie zu festigen. In der Côte d’Ivoire dagegen ließ sich zum Unabhängigkeitsjubiläum im Jahr 2010 ein entgegengesetzter Prozess beobachten, nämlich die Verkürzung des mit Unabhängigkeit assoziierten Zeitraums. Der damals amtierende Präsident Laurent Gbagbo und seine Anhänger präsentierten den Machttransfer von 1960 als bloß formalen Akt. Sie bestanden darauf, dass die unter Houphouët-Boigny deklarierte „Unabhängigkeit in Freundschaft“ nur eine irreführende Chiffre für die fortdauernde neokoloniale Abhängigkeit des Landes von Frankreich gewesen sei. Es bedürfe nun einer Neugründung der ivorischen Republik und der konsequenten Umsetzung der antiimperialistischen Politik, die die mit Gbagbos Regierungsantritt erreichte „zweite Unabhängigkeit“ eingeleitet habe. Mit dieser Reinterpretation der Unabhängigkeit von 1960 ging auch eine neue Erinnerungspolitik mit Blick auf die kommunistischen antikolonialen Bewegungen der 1940er und 1950er Jahre einher. Die damaligen Aktivisten, die Houphouët-Boigny sehr bald im Interesse eines einvernehmlichen Machttransfers aus der öffentlichen Erinnerung verbannt hatte, wurden nun als Vorkämpfer der wahren Unabhängigkeit und Märtyrer für ein neues Afrika gefeiert. Alle Beispiele zeigen, dass Unabhängigkeit ein vielgestaltiger und durchaus konfliktträchtiger Erinnerungsort ist, zeitlich flexibel, räumlich expandierend oder kontrahierend und personell divers (wer erinnert und an wen erinnert wird). Der Moment des Machttransfers bleibt meist der relativ unstrittige Anker, an dem sich die konkurrierenden Erzählungen festmachen. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, etwa in Ländern wie Kamerun oder Tansania, die aus verschiedenen Ex-Kolonien mit ihren je eigenen Unabhängigkeitserklärungen hervorgingen und in denen die Vereinigung zu einem Staat konflikthaft war und ist. Dennoch scheint das Unabhängigkeitsdatum weniger kontrovers als alternative Daten wie Jahrestage von Staatsstreichen oder Rebellionen. Das Datum der Unabhängigkeit bietet gewissermaßen eine leere Pathosformel, die mit unterschiedlichen politischen Inhalten gefüllt werden kann. Und während ein Konzept wie Dekolonisierung den Fokus eher auf die ehemaligen Kolonialmächte legt, suggeriert der Begriff Unabhängigkeit die Handlungsmacht des neuen Staatswesens und appelliert an die gemeinsame Pflicht, für eine gute Zukunft des Landes und seiner Bevölkerung zu arbeiten. Robert Holland, Sue Williams und Terry Barringer (Hg.), The Iconography of Independence: „Freedoms at Mid-night“. London: Routledge, 2010; Eviatar Zerubavel, „Calendars and history: a comparative study of the social organisation of national memory“, in Jeffrey Olick (Hg.), States of Memory: Continuities, Conflicts, and Trans-formations in National Retrospection. Durham: Duke University Press, 20003. Pierre Nora, „Un maximum de sens dans le minimum de signes“; Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, 3 Bd. Paris: Gallimard 1997 [1984-92], I, 38. Vgl. dazu u.a. Carola Lentz, „The 2010 independence jubilees: the politics and aesthetics of national commem-oration in Africa“, Nations and Nationalism 19 (2), 2013: 217-37. Von 2009 bis 2013 habe ich am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eine Doktorandengruppe zu „Erinne-rungspolitik und Nationalfeiern in Afrika“ geleitet, mit der auch eine längere Lehrforschung von Magistranden zu den afrikanischen Unabhängigkeitsjubiläen des Jahres 2010; für nähere Informationen vgl. Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/268.php. Zum nachfolgenden Forschungsprojekt (2013 bis 2019) in Burkina Faso, Côte d’Ivoire und Ghana vgl. Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/2374.php. Im Zuge dieser Forschungen habe ich ein großes Onlinearchiv mit Bildmaterial (über 16.000 Fotografien und Videos) und zahlreichen Dokumenten zu afrikanischen Nationalfeiern aufgebaut; Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/315.php. Vgl. dazu z.B. Carola Lentz und Godwin Kornes (Hg.), Staatsinszenierung, Erinnerungsmarathon und Volksfest. Afrika feiert 50 Jahre Unabhängigkeit. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel, 2011; für weitere Literatur siehe Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/Dateien/Veroeffentlichungen_alle_852018.pdf. Eine ausführliche Diskussion (sowie alle relevanten Quellenangaben) der hier und im nächsten Abschnitt ange-führten Beispiele sowie Vergleiche mit Unabhängigkeitserinnerungen in Asien finden sich in Carola Lentz und David Lowe, Remembering Independence. London: Routledge, 2018. Zu Kamerun vgl. Kathrin Tiewa, The Lion and his Pride: The Politics of Commemoration in Cameroon. Köln: Rüdiger Köppe, 2016; zu Tansania und Sansibar vgl. Marie-Aude Fouéré und William C. Bissell (Hg.), Social Memory, Silenced Voices, and Political Struggle: Remembering the Revolution in Zanzibar. Dar es Salaam: Mkuki na Nyota.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-01-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/kolonialismus-imperialismus/postkolonialismus-und-globalgeschichte/283880/unabhaengigkeit-und-erinnerungspolitik/
Unabhängigkeit ist für ehemalige Kolonien ein vielgestaltiges und durchaus konfliktträchtiges Konzept. Die Erinnerung an die Unabhängigkeit ist, so zeigt Carola Lentz, nicht nur zeitlich und räumlich flexibel, sondern auch personell divers — wer erin
[ "Postkolonialismus", "Unabhängigkeit" ]
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Editorial | Dreißigjähriger Krieg | bpb.de
Als sich im Mai 1618 die protestantischen Stände in Böhmen gegen die Herrschaft der Habsburger erhoben und zwei kaiserliche Statthalter sowie einen Sekretär aus einem Fenster der Prager Burg warfen, war es weder absehbar noch zwangsläufig, dass diesem Ereignis ein jahrzehntelanger, verheerender Krieg folgen würde. Doch aus der Rebellion entwickelte sich rasch ein Kräftemessen mehrerer europäischer Mächte um die religiöse und weltliche Vorherrschaft auf dem von Reformation und Gegenreformation konfessionell zerrissenen Kontinent. Vor allem auf einer Achse zwischen Stralsund und Freiburg hinterließen die Kämpfe, die heute als Dreißigjähriger Krieg bekannt sind, eine Spur der Verwüstung und des Elends. Der 1648 nach mehrjährigen Verhandlungen erreichte Westfälische Friede galt seinerzeit als Weltwunder. Er wurde schon bald ebenso mystifiziert wie der gesamte Dreißigjährige Krieg, der in der deutschen Historiografie des 19. Jahrhunderts zum nationalen Trauma stilisiert wurde, nicht zuletzt, um preußische Großmachtambitionen zu rechtfertigen. In dieser Lesart geriet der Friedensschluss zur nationalen Schmach, die es den europäischen Nachbarn, insbesondere Frankreich, erlaubt habe, Deutschland gespalten und ohnmächtig zu halten. Inzwischen hat sich die geschichtspolitische Bedeutung des Dreißigjährigen Krieges weitgehend verflüchtigt. Angesichts aktueller Kriege und Krisen, die religiös und geopolitisch nicht weniger verworren und unlösbar erscheinen als die Situation in Europa vor 400 Jahren, wird heute jedoch wieder vermehrt auf die friedensstiftende Wirkung der Verträge von Münster und Osnabrück verwiesen – etwa mit Blick auf den Krieg in Syrien. Im Detail mag ein solcher Vergleich an vielen Stellen hinken, doch verbindet sich mit ihm schlicht die Hoffnung, dass sich auch im Nahen Osten ein für alle beteiligten Parteien erträglicher und tragfähiger Frieden finden ließe.
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Johannes Piepenbrink
"2021-12-07T00:00:00"
"2018-07-17T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/272817/editorial/
[ "Dreißigjähriger Krieg", "Westfälischer Frieden", "Krieg", "Frieden", "frühe Neuzeit", "Heiliges Römisches Reich", "Europa", "Reformation", "Gegenreformation", "APuZ 30-31/2018" ]
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"Eine Stadt. Ein Land. Viele Meinungen." | Presse | bpb.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, die Berliner Zeitung, der Tagesspiegel und die Volksbühne Berlin würdigen mit einer gemeinsamen Aktion den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren. Damit erinnern sie zugleich an die Vielfalt der Debatten, die in der Umbruchszeit 89/90 nach langen Jahren der deutschen Teilung über Ost und West hinweg wieder möglich waren. In den zehn Wochen vom 26. August bis zum 2. November 2019 erscheinen in der Berliner Zeitung, im Tagesspiegel und auf bpb.de täglich Debattenbeiträge von Prominenten, Expertinnen und Experten zu zehn gesellschaftlichen Streitfragen unserer Zeit, wie z.B. „Was ist Heimat?“, „Was ist uns das Klima wert?“ oder „Sind wir ein Land?“. Leserinnen und Leser können eigene kurze Meinungsbeiträge einsenden. Die bpb ruft Lehrer dazu auf, die Themen mit ihren Schülern im Unterricht zu diskutieren und Kommentare ihrer Klassen einzusenden. Ausgewählte Einsendungen werden immer samstags in den Zeitungen sowie über die Kanäle der bpb veröffentlicht. Unter der Aktionsseite bpb.de/meinungsvielfalt stellt die bpb interessierten Lehrkräften alle Debattenbeiträge im Rahmen eines Newsletters noch vor Veröffentlichung zur Verfügung. Zudem sind dort Unterrichtsmaterialien zu den Streitfragen und Anleitungen zum Debattieren kostenlos abrufbar. Am 7. November 2019 findet zudem unter Beteiligung prominenter Gäste ein Fest zum Abschluss der Aktion in der Volksbühne Berlin statt. Die Veranstaltung möchte die Vielfalt von Meinungen und Erfahrungen 30 Jahre nach dem Mauerfall auf unterhaltsame Art und Weise spiegeln. Weitere Informationen zur Aktion finden Sie unter Interner Link: www.bpb.de/meinungsvielfalt Neben dieser Aktion hält die bpb weitere Angebote bereit, um an den 9. November 1989 zu erinnern: So präsentiert das Deutschland Archiv der bpb vom 9. bis 30. November 2019 im Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin 30 Bildmontagen des Fotografen und Grafikers Alexander Kupsch von Orten des früheren innerstädtischen Grenzverlaufs. Durch Überblendungen von historischen Fotografien und aktuellen Aufnahmen derselben Orte ist die Mauer im heutigen Stadtbild plötzlich wieder da: „Die Mauer. Sie steht wieder". Weitere Informationen und ein Trailer unter: Externer Link: bpb.de/294389 Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-12T00:00:00"
"2019-08-28T00:00:00"
"2021-08-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/295859/eine-stadt-ein-land-viele-meinungen/
Mit einer gemeinsamen Aktion erinnern die Bundeszentrale für politische Bildung, die Berliner Zeitung, der Tagesspiegel und die Volksbühne an 30 Jahre Mauerfall
[ "Eine Stadt. Ein Land. Viele Meinungen", "Mauerfall", "30 Jahre Deutsche Einheit" ]
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Redaktion | Filmgewerke | bpb.de
Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2011 ViSdP: Thorsten Schilling Redaktion Erstellt von der Deutschen Filmakademie (Katja Hevemeyer, Claudia von Mickwitz) in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung (Katrin Willmann, Andreas Resch, Jaroslaw Godlewski) und Vision Kino - Netzwerk für Film- und Medienkompetenz (Maren Wurster, Reinhard Middel). Fachliche Beratung Produktion: Joachim von Vietinghoff Regie: Hendrik Handloegten Drehbuch: Natja Brunckhorst Schauspiel: Antoine Monot Jr. Kamera/Licht: Hagen Bogdanski Schnitt: Peter R. Adam Musik: Milena Fessmann Kostüm: Ingrid Zoré Maskenbild: Jens Bartram Casting: Nina Haun Tongestaltung: Gregor Arnold Spezialeffekte/Animation: Denis Behnke Bildredaktion 3-point concepts Sonia Binder Birgit Weimann Leonie Roos
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-05T00:00:00"
"2012-01-23T00:00:00"
"2022-01-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/56118/redaktion/
Hier finden Sie Informationen zur Redaktion des bpb-Dossiers "Filmgewerke".
[ "Filmbildung", "Filmgewerke", "Film" ]
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Folge 4 | Schule in der DDR | bpb.de
Mit Fähnchen auf einer Weltkarte markieren die Schülerinnen und Schüler, wohin sie gern einmal reisen würden. Viele Fähnchen werden auf dem Gebiet der USA gesteckt, einige finden sich Australien oder Japan wieder, einige in Westeuropa. Nur: Reisen in diese Kontinente und Länder waren für die meisten DDR-Bürgerinnen und -Bürger unmöglich. Reise(un)freiheit: Ein großer Teil der Welt bleibt unerreichbar Als Reiseziele standen den Bürgerinnen und Bürgern der DDR nur die sogenannten "sozialistischen Bruderländer" offen, also die Länder des Warschauer Paktes und Staaten mit sozialistischer oder kommunistischer Gesellschaftsordnung. Vor allem waren das die Sowjetunion, Bulgarien, Tschechoslowakei (ČSSR), Polen, Rumänien und Ungarn. Nur wenige durften zu speziellen Anlässen in die Gebiete des "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiets" reisen. Erlaubte Reisekader waren beispielsweise Sportler, die zu einem internationalen Wettkampf fuhren, ausgewählte Facharbeiter oder Wissenschaftler, die zu Fachkongressen reisten. Doch selbst die Ausreise in sozialistische Länder war für Menschen unter 65 Jahren nicht so einfach wie heute: Sie durften nur auf Antrag und zu bestimmten Anlässen die DDR verlassen. Reisen waren oft nicht einfach zu organisieren, denn dafür brauchte man eine spezielle Genehmigung - die sogenannte Reiseanlage - die bei der Volkspolizei beantragt werden musste. Spontane Urlaube waren nur in der ČSSR möglich. Angst vor Bürgerflucht und der Wunsch nach Freiheit Die Reisbestimmungen waren deshalb so streng, weil das SED-Regime fürchtete, dass die Menschen die Reise als Flucht aus der DDR nutzen könnten. Allein im Jahr 1988 versuchten insgesamt 10.767 Menschen, aus der DDR zu flüchten, nur rund der Hälfte von ihnen gelang die Flucht. Weil viele Menschen ihre Urlaubsreise tatsächlich zur Flucht nutzten und nicht wieder in die DDR zurückkehrten, musste für eine Genehmigung die Rückreise sehr wahrscheinlich sein, beispielsweise weil die Reisewilligen Kinder oder Ehepartner in der DDR hatten. Nur Rentnerinnen und Rentner durften relativ unproblematisch einmal im Jahr Verwandte im Westen besuchen. Der Wunsch der Menschen nach (Reise-)Freiheit war sehr groß. Allein von Ende November 1988 bis Ende März 1989 wurden 88.789 Reiseanträge aus der DDR gestellt. Ideologie auch im Geografieunterricht Für die Jugendlichen der Projektklasse ist Freiheit nicht nur im Kontext der Reise(un-)freiheit ein Thema. Die Lehrerin Frau Lehmann lehrt nicht nur die Grenzen der sozialistischen Länder, sondern nimmt vor allem die ideologische Erziehung sehr ernst. Aus dem Lehrbuch lässt sie von der Massenarbeitslosigkeit in der BRD vorlesen, die zu einer Dauererscheinung geworden sei. Die BRD und die USA bezeichnet sie als Kriegstreiber und zeichnet bedrohliche Szenarien von auf die DDR gerichteten Atomraketen. Das ist selbst für die Schülerinnen und Schüler des Projektes zu viel und einige sagen ihre Meinung. Johann bemerkt, dass doch auch die DDR Raketen auf die BRD richte. Darauf hat Frau Lehmann allerdings eine passende Antwort: Das seien ja keine Atomraketen und überhaupt sei die DDR-Armee eine Friedensarmee. Freiheit bedeutet nicht nur Reisefreiheit In der DDR war das Feindbild an die marxistisch-leninistische Weltauffassung geknüpft, die "feindliche Linie" verlief genau zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus. Worte wie "US-Imperialismus", "Finanzhyänen" und "Spekulantentum" waren nicht nur in Film und Fernsehen, sondern auch im Unterricht keine Seltenheit. Solche Urteile und Begriffe stoßen bei der Projektklasse auf Protest und Ablehnung. Plötzlich muss Johann aufstehen und sich vorn hinstellen. Frau Lehmann hat sein T-Shirt entdeckt. Vor allen anderen wird sie laut und ungehalten: Johann mache Werbung für den Klassenfeind. Als sie ihn nach draußen schickt, damit er sein T-Shirt linksherum anzieht, um den Aufdruck zu verstecken, reichen die Reaktionen in der Klasse von entsetzt bis belustigt. Nicht selten wurden Kinder und Jugendliche in der DDR gemaßregelt, wenn sie Kleidung aus "dem Westen" in der Schule trugen. Sich raushalten oder anderen helfen? Als Johann sich weigert, kommt es zum Streit, doch er bleibt standhaft. Nur Vincent springt ihm bei. Obwohl er mit seinem T-Shirt sitzen bleiben darf, ist Frau Lehmanns Autorität so groß, dass sich die meisten nicht trauen, offen ihre Meinung zu sagen. Nach dem Unterricht denken die Schülerinnen und Schüler darüber nach, wie sie gehandelt hätten. Einige geben zu, dass sie Johann aus Angst vor Strafe oder Nachteilen nicht unterstützt haben. Nach den Tagen im Leipziger Schullandheim reflektieren die Jugendlichen, wie wichtig ihnen Freiheit ist. Die Freiheit, zu sagen und anzuziehen, was sie möchten. Die Freiheit, sich eine eigene Meinung bilden zu dürfen. In den Ansichtskarten, die sie am Abend an ihre Eltern schreiben, berichten sie deshalb nicht nur davon, dass Bürger Lars Dietrich sie besucht hat und sie im Wehrkundeunterricht Handgrananten geworfen haben. Sondern auch davon, dass ihre Sachen weggenommen wurden und sie die Einseitigkeit des Unterrichts nicht mögen. In der letzten Folge "Schule in der DDR" lernen die Schülerinnen und Schüler nicht nur die fröhlichen Seiten der DDR kennen. Sie treffen auch jemanden, der auf gefährlichem Weg aus der DDR geflüchtet ist... Weiterführende Informationen Interner Link: Text "Von Feinden und Helden – Inszenierte Politik im realen Sozialismus"Interner Link: Text "Ostdeutsche Sichtweisen auf die USA"Interner Link: Filmheft: "Ostpunk! Too Much Future"Interner Link: Text "Wege in die Opposition - Widerständiges Verhalten in der DDR"Publikation "Die heile Welt der Diktatur - Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989"Externer Link: Internetangebot mit vielen Materialien für den Unterricht "Wir waren so frei"bzw. Externer Link: http://www.unterricht.wir-waren-so-frei.de/node/4/downloadsInterner Link: Unterrichtseinheit für das interaktive Whiteboard: "Die Geschichte der Mauer"
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2014-12-08T00:00:00"
"2014-10-30T00:00:00"
"2014-12-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/schule-ddr/194082/folge-4/
In der DDR sollten im Geografieunterricht nicht nur Grenzverläufe gelernt werden. Wie auch in anderen Fächern nahm mitunter die ideologische Erziehung viel Platz ein. Den Schülerinnen und Schülern im Schullandheim wird dies zu viel und Protest wird l
[ "DDR", "Ideologie", "Reisefreiheit", "Flucht", "Erziehung", "Schule", "Schule in der DDR", "DDR" ]
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Umfrage: Anforderungen an das erzieherische Umfeld | Medienpädagogik | bpb.de
Konzept/Redaktion: Elke Stolzenburg (JFF) | Interviews: Julia Eisfeld, Martha Golombek, Petra Sellemond | Kamera und Ton: Daniel Aberl | Schnitt: Daniel Aberl
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-03-28T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/medienpaedagogik/medienkompetenz-2014/181626/umfrage-anforderungen-an-das-erzieherische-umfeld/
Die Vermittlung von Medienkompetenz bei Kindern und Jugendlichen hängt immer auch von den Rahmenbedingungen ab, die das erzieherische Umfeld bietet. Welche Anforderungen müssen deshalb an Lehrende, Medienpädagogen und Eltern gestellt werden? Wir habe
[ "Umfrage", "Medienkopmetenz", "Anforderungen", "erzieherisches Umfeld", "Medienpädagogik" ]
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Die Stille nach dem Schuss | Deutsche Teilung - Deutsche Einheit | bpb.de
Vielleicht ist man mit 18 einfach sorgloser. Vielleicht hat Marinetta Jirkowski an diesem Novembertag im Jahr 1980 gedacht, dass die Grenze gar nicht so unüberwindbar aussieht, ja, dass man in einem günstigen Moment schnell drüberklettern kann. Versteckt im Gebüsch hatte sie zusammen mit zwei Freunden über Stunden die Grenzer beobachtet, die am Todesstreifen patroullierten und sich dann entschieden, über die Mauer zu klettern. Vielleicht hat sie auch nur mitgemacht, um ihre Freunde nicht allein zu lassen und vor allem: um nicht selbst allein zu bleiben – in einem Land, in dem sie alle nicht mehr leben wollten. Man kann Marinetta nicht mehr danach fragen: Sie wurde in dieser Nacht, keine drei Monate nach ihrem 18. Geburtstag erschossen. Ihr Freund hielt ihre Hand, da traf sie der Schuss Gemeinsam mit ihrem Verlobten Peter W. und dem gemeinsamen Freund Falko V. ist sie um halb vier in der Nacht mithilfe einer Leiter bereits über die Hinterlandmauer geklettert und anschließend über den 2 Meter 50 hohen Signalzaun, an dem sie jedoch Alarm auslöst. An der zweiten, 3 Meter 50 hohen Mauer, sackt die Leiter tief in den morastigen Boden ein. Dennoch gelingt es den jungen Männern, die Mauerkrone zu erreichen. Peter W. versucht seine Verlobte hochzuziehen, als sie von den Grenzposten unter Beschuss genommen werden. Ihre Hand gleitet aus der ihres Freundes, einen Moment später fällt sie mit einem Bauchdurchschuss von der Leiter. Peter W. lässt sich auf die Westseite fallen, während Marinetta von den Soldaten geborgen und erstversorgt wird. Doch es ist zu spät – um 11 Uhr 30 des nächsten Tages stirbt sie im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus Hennigsdorf. Marinetta Jirkowskis Ende könnte aus einem Hollywoodfilm stammen – so dramatisch waren die Ereignisse am 22. November 1980, gleichwohl war das Schicksal der Textilfabrikarbeiterin nur eins unter vielen. Auf mehr als tausend schätzt man die Zahl der Menschen, die an den Außengrenzen der DDR bei Fluchtversuchen umkamen, 136 sollen es allein an der Berliner Mauer gewesen sein. Die meisten von ihnen waren jung und träumten von einem Leben in Freiheit. Für diesen Traum schwammen sie durch die Ostsee oder die Spree, sie bauten sich U-Boote und Heißluftballone, sie buddelten Tunnel, brachen mit Autos durch die Schlagbäume oder versuchten in einem unbeobachteten Moment die Mauer zu überwinden. Vielen gelang tatsächlich die Flucht in den Westen, andere starben durch Schüsse oder sie ertranken erschöpft im deutsch-deutschen Niemandsland. Das Kapitel der Maueropfer ist die traurigste Hinterlassenschaft eines Landes, das sich seit 1961 nicht anders gegen den Wegzug seiner Bewohner zu wehren wusste, als mit dem Bau von Todesstreifen, Zäunen und Mauern. Gab es anfangs in Teilen der Bevölkerung sogar noch Verständnis für diese Maßnahme, die die DDR vor dem frühen Ende bewahren sollte, wurde ihnen und der ganzen Welt das Ausmaß der Menschenrechtsverletzung spätestens mit dem Tod des 18-jährigen Peter Fechter bewusst, der am 17. August 1962 eine Stunde lang angeschossen im Grenzstreifen lag und verblutete, weil weder aus dem Osten noch aus dem Westen Hilfe kam. Nach der Maueröffnung hieß es: Die Todesschützen hätten nur auf Befehl gehandelt Am 17. August 1962 wurde Peter Fechter auf seiner Flucht in den Westen von ostdeutschen Grenzbeamten niedergeschossen. Er lag rund 50 Minuten auf dem Grenzstreifen bevor er ins Krankenhaus gebracht wurde wo er seinen Verletzungen erlag. Foto: AP Und dennoch ist für das Gedenken an die Maueropfer nach der Wende wenig Raum. Im allgemeinen Vereinigungsrausch fehlt Platz für die Trauer, die Menschen wollen nicht so gern an das Unrecht erinnert werden, sondern erst einmal die neue Freiheit genießen. Später kommen die ersten Rufe nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit dazu, dann wieder überlagern die wirtschaftlichen Probleme die Erinnerung an die Gewaltherrschaft. Für die Trauer der Angehörigen gibt es keinen Halt, die meisten Holzkreuze zur Erinnerung werden privat errichtet. Erst als Anfang der 90er die ersten Prozesse gegen die Mauerschützen geführt werden, die zu DDR-Zeiten sogar Auszeichnungen für die Morde an der Grenze bekamen, regt sich bei vielen die Hoffnung, dass der Tod ihrer Familienmitglieder oder Freunde doch noch gesühnt werden könnte. Doch die wird schnell enttäuscht. Mit dem Urteil gegen die Beteiligten am Tod des vorletzten Maueropfers Chris Gueffroy, der noch im Februar 1989 mit 20 Jahren erschossen wurde, wird so etwas wie ein Präzedenzfall geschaffen: Das Gericht spricht drei der vier Tatbeteiligten frei, einer bekommt zwei Jahre Haft auf Bewährung. Begründung: Die schießenden Grenzer hätten auf Anordnung von oben gehandelt. Tatsächlich gibt es nach der Wende widersprüchliche Meldungen über die Existenz eines schriftlichen "Schießbefehls", der allerdings nie gefunden wird. Es gab aber in schriftlichen Anordnungen, Befehlen und schließlich im Grenz gesetz eine Schieß erlaubnis, die durch die mündliche Befehlserteilung in die Nähe einer Pflicht rückte. Diese Weisung lautete bis in die 80er-Jahre: "Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten". Die Grenzsoldaten, die Menschen auf der Flucht erschossen, waren also Befehlsempfänger, so sehen es jedenfalls die Richter. Von diesem Moment an ist klar: Die Morde bleiben ungesühnt. "Es gab Jahre, in denen ein absolutes Desinteresse an den menschlichen Schicksalen bestand", sagt der Historiker Hans-Hermann Hertle. Gemeinsam mit Maria Nooke von der Gedenkstätte Berliner Mauer recherchiert er seit Jahren in einem von der Bundesregierung geförderten Projekt die Geschichte der Mauer und ihrer Opfer. So ist auf dem Onlineportal "Chronik der Mauer" auch eine Seite mit sämtlichen Todesopfern entstanden, deren Lebensläufe von Hertle und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern aus Akten, aber auch aus Gesprächen mit Familien und Freunden zusammengetragen werden. Auf diese Weise erhalten die Opfer von damals ein Gesicht, ihre Schicksale Kontur. Erstmals werden die Gründe ihrer Flucht deutlich und das ganze Ausmaß ihres Leidenswegs. Wo es außer Privatinitiativen kaum Mahnmale gibt, entsteht so eine Art virtuellen Andenkens. Es gibt sogar Angehörige, die erst durch Hertle erfahren haben, unter welchen Umständen ihre Väter oder Söhne ums Leben kamen. Denn das Verschleiern der wahren Todesumstände der Flüchtlinge war in der DDR gängige Praxis – um Proteste zu vermeiden und dem Klassenfeind im Westen keinen Grund zur Propaganda zu geben. Der Mutter von Herbert Halli, der am 3. April 1975 an der Grenze erschossen wurde, erzählte man, dass ihr Sohn betrunken in eine Baugrube gefallen und den Verletzungen erlegen sei. Die Urne mit seiner Asche bekam sie per Post, beides war damals durchaus üblich. In Wirklichkeit wurde Herbert Halli erschossen – bei seinem Weg zurück in den Osten. Nachdem er die Ausweglosigkeit seines Fluchtversuchs erkannt und bereits Alarm ausgelöst hatte, kehrte er nämlich um, und versuchte über die Hinterlandmauer zurück in die DDR zu kommen. Doch das gelang ihm nicht mehr – ein Schuss aus einer Kalaschnikow traf ihn in den Rücken. Erst Jahre nach der friedlichen Revolution erfuhr Hallis Mutter von den wahren Umständen seines Todes. Manche Angehörige können immer noch nicht über den Verlust von damals sprechen – zu tief sitzt der Schmerz, auch im Angesicht des teilweise profanen Umgangs mit den Opfern des Gewaltregimes. So kann man sich als Tourist am Checkpoint Charlie heutzutage mit kostümierten US- oder Sowjetsoldaten fotografieren lassen – einen ähnlich deutlichen Hinweis auf die Mauertoten sucht man allerdings vergebens. Dass das Interesse an den Menschen, die für ihren Traum von der Freiheit das höchste Risiko eingingen, wieder zunimmt, ist auch Hertles Verdienst. Seine fast schon kriminologische Arbeit am Computer und am Telefon, die er unbeirrt in einem mit Akten zugestopften Arbeitszimmer im Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam versieht, mündet nun auch in einem Buch, das im Jubiläumsjahr der Wende erscheint. Versüßt wird Hertle die Arbeit durch Briefe von Menschen, die dankbar sind, dass sich endlich jemand dem Schicksal ihrer ums Leben gekommenen Angehörigen annimmt. Oder auch durch Berichte von Privatinitiativen, die sich angeregt durch die "Chronik der Mauer" ebenfalls um das Andenken der Maueropfer kümmern – wie zum Beispiel die Deutsche Waldjugend in Bergfelde. Die veranstaltet Fahrradtouren am ehemaligen Grenzstreifens – der von der Stadt "Berliner Mauerweg" getauft wurde. Weit draußen, wo Berlin immer grüner wird, zwischen Hohen Neuendorf und Reinickendorf steht ein Holzpfahl, der rosa angesprüht wurde. Er steht an der Stelle, an der einst Marinetta Jirkowski erschossen wurde. Auf ihrem Weg in ein neues Leben. Am 17. August 1962 wurde Peter Fechter auf seiner Flucht in den Westen von ostdeutschen Grenzbeamten niedergeschossen. Er lag rund 50 Minuten auf dem Grenzstreifen bevor er ins Krankenhaus gebracht wurde wo er seinen Verletzungen erlag. Foto: AP
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Oliver Gehrs
"2021-12-22T00:00:00"
"2011-11-29T00:00:00"
"2021-12-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/43834/die-stille-nach-dem-schuss/
Mehr als 1000 Menschen starben bei ihrem Fluchtversuch aus der DDR – mindestens 136 allein an der Berliner Mauer. Im allgemeinen Vereinigungsrausch fehlte oft der Platz für das Gedenken an die Maueropfer. Erst jetzt wird das Drama vieler Schicksale d
[ "Deutsche Einheit", "Deutsche Teilung", "Berliner Mauer", "Flucht", "DDR", "Maueröffnung", "DDR", "Berlin" ]
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Glossar | Der Mauerfall und ich | bpb.de
Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich". Das Glossar wird fortlaufend aktualisiert. Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN) Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild) Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946. Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de) Ausreiseantrag So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa) Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen. Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de) Bornholmer Brücke Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO) Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach. Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de) Bundesrepublik Deutschland (BRD) Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor. Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de) CSSR / Tschechoslowakei Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt. Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de) Demokratischer Aufbruch (DA) Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an. Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de) Deutsche Demokratische Republik (DDR) Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung). Mehr dazu: DDR (bpb.de) Demokratie Jetzt (DJ) Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images) Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen. Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de) Demonstrieren in der DDR Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung. Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de) Ebert, Frank Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei. Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de) Friedensgebet in der Nikolaikirche Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild) Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten. Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de) Kampfgruppen Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen. Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de) Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion. Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de) Kirche in der DDR DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa) Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen. Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de) Kulturopposition in Ost-Berlin Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa) Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen. Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de) Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild) Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig. Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de) Montagsdemonstration In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen. Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de) Nationale Front Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg) Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen. Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de) Nationale Volksarmee (NVA) Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten. 1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben. Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de) Neues Forum Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa) Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein. Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de) Notaufnahmeverfahren Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa) Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen. Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de) Paneuropäisches Picknick DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa) Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang. Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de) Paneuropa-Union Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen. Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de) Politbüro Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten. Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de) Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB) Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden. Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de) Reisefreiheit In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989. Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de) RIAS Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa) Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte). Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images) Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei. Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de) Sowjetunion Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks. Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de) Staatsrat In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt. Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de) Ständige Vertretungen der BRD und der DDR Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa) Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn. Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de) Studieren in der DDR In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren. Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de) Ungarn DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO) Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet. Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de) Vogel, Wolfgang Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten) Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein. Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de) Volkskammer Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten) Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber. Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de) Volkspolizei (VP) Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR. Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de) Wahlbetrug Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden. Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de) Westfernsehen Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild) Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert. Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de) Einkaufen in der DDR Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten. Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de) Datsche Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde. Biermann, Wolf Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben. Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de) Subbotnik Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat. Wohnungspolitik Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten. Pankow (Rockband) Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten. Wahlen Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de) Meinungsfreiheit Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de) Braunkohle Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig. Autos in der DDR In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada. Bildung in der DDR Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de) Schwarzwohnen In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de) Umweltbewegung Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de) Gefängnis Rummelsburg Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten. Umweltbibliothek Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de) Alexanderplatz Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt. Arnold, Michael Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de) Genscher, Hans-Dietrich Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein. Junge Welt (Zeitung) Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de) Neues Deutschland (Zeitung) Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de) Freie Deutsche Jugend (FDJ) Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de) Proteste gegen den Wahlbetrug am 7.9.1989 Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de) Umweltpolitik in der DDR Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo) Arbeitsgruppe Umweltschutz Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de) Westpaket Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html Schundliteratur Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften. Sozialismus Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315 Kommunismus Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319 Artikel 28 (1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet. (Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr Artikel 29 "Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen." (Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr Verfassung der DDR Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr ML-Ausbildung Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten. Marxismus-Leninismus Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578 Junge Pioniere (JP) Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ Kapitalismus Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert. Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de Neues Forum: Ablehnung des Antrags auf Zulassung Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209 AG Umweltschutz Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt. Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350 Führer, Christian Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050 Moritzbastei Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b Merkel, Angela Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde. Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html Leipzig 1989 Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum. Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/ Honecker, Erich Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats. Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080 Zuführung Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden. Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de Politische Haft Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM. Nationalhymne der DDR Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne: "Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint." Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt. Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html Internationale (Arbeiterlied) "Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es: "Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht." Tag der Republik Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456 Gorbatschow, Michail Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/ Glasnost und Perestroika Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407 Zentralkomitee der SED (ZK) Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz. Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk Tian’anmen-Massaker In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden. Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616 Ministerrat Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601 Schefke, Siegbert Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/ Dietrich, Mike Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm. Hip-Hop in der DDR Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417 Beat Street Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html Silly (Band) Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen. Karat (Band) 1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979). Komitee für Unterhaltungskunst Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte. Krenz, Egon Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. 7./8. Oktober Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462 Schabowski, Günter Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156 Masur, Kurt Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen. Stadtfunk Leipzig Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm. Leipziger Sechs Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen. Reformbestrebungen Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck. Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940 Nationaler Verteidigungsrat Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf. Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon Telefonieren in der DDR Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden. Der Morgen (Zeitung) "Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten. Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen". Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413 Henrich, Rolf Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein. Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/ Rausch, Friedhelm Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür. Eppelmann, Rainer Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ Bluesmessen Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ Aktuelle Kamera Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen. Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ National-Demokratische Partei Deutschland (NDPD) Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über. Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/ Tisch, Harry Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen. CDU in der DDR Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367 Transitstrecke Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen. Berliner Mauer Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung. Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398 Einreise nach Ost-Berlin Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen. Prenzlauer Berg Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch. Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/ Umweltblätter / Telegraph Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467 Kühn, Fritz 
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte. Ihlow, Uta Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511 Pressekonferenz Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance) Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten. Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung. Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski Wolf, Christa Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211 Ventillösung Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren. Brandenburger Tor Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer. Grenzposten Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern. Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/ Mauerspechte Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte". Dickel, Friedrich Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei. Kohl, Helmut Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet. Brandt, Willy Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Momper, Walter Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin. Sperrgebiet Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989. Begrüßungsgeld Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen. Oberbaumbrücke Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery. Kurfürstendamm Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm. Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild) Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946. Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de) Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild) So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa) Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen. Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de) So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa) Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO) Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach. Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de) Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO) Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor. Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de) Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt. Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de) Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an. Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de) Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung). Mehr dazu: DDR (bpb.de) Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images) Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen. Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de) Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images) Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung. Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de) Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei. Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de) Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild) Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten. Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de) Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild) Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen. Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de) Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion. Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de) DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa) Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen. Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de) DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa) Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa) Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen. Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de) Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa) Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild) Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig. Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de) Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild) In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen. Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de) Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg) Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen. Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de) Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg) Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten. 1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben. Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de) Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa) Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein. Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de) Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa) Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa) Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen. Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de) Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa) DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa) Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang. Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de) DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa) Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen. Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de) Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten. Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de) Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild) Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB) Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden. Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de) Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB) In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989. Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de) Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa) Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte). Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de) Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa) Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images) Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei. Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de) Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images) Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks. Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de) In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt. Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de) Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa) Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn. Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de) Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa) In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren. Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de) DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO) Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet. Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de) DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO) Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten) Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein. Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de) Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten) Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten) Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber. Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de) Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten) Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR. Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de) Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden. Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de) Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild) Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert. Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de) Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild) Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten. Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de) Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde. Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben. Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de) Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat. Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten. Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten. Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de) Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de) Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig. In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada. Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de) In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de) Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de) Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten. Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de) Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt. Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de) Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein. Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de) Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de) Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de) Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de) Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo) Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de) Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften. Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315 Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319 (1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet. (Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr "Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen." (Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten. Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578 Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert. Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209 Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt. Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350 Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050 Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde. Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum. Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/ Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats. Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080 Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden. Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM. Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne: "Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint." Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt. Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html "Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es: "Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht." Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459 Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456 Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/ Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407 Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz. Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden. Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616 Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601 Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/ Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm. Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417 Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen. 1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979). Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte. Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462 Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156 Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen. Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm. Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen. Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck. Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940 Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf. Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden. "Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten. Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen". Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413 Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein. Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/ Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür. Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen. Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/ Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über. Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/ Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen. Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367 Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen. Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung. Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398 Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen. Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch. Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/ Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467 
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte. Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511 Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance) Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten. Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung. Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance) Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211 Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren. Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer. Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern. Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/ Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte". Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei. Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet. Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin. Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989. Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen. Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery. Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-25T00:00:00"
"2019-08-12T00:00:00"
"2022-01-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/mauerfall-und-ich/295115/glossar/
Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich".
[ "Die Mauer und ich", "Glossar" ]
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