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Editorial | Sozialisation | bpb.de
In den vergangenen Jahren wurde heftig über die Herausforderungen für "unseren westlichen Lebensstil" in der und durch die Migrationsgesellschaft diskutiert. Im Fokus standen unter anderem fehlende Anerkennung des Individuums, mangelnde Selbstbestimmungsrechte von Frauen, Homophobie unter Migrantinnen und Migranten oder auch delinquentes Verhalten Jugendlicher mit Zuwanderungshintergrund. Als Ursachen dieser Probleme wurden oftmals anhaltende Einflüsse der "Herkunftskultur" identifiziert. Doch für das Verständnis sozialen Handelns ist "die Kultur" lediglich ein Puzzleteil. Tatsächlich wird soziales Handeln durch ein ganzes Bündel von Faktoren beeinflusst: Beschaffenheit und Ordnung des sozialen Umfelds, Existenz bestimmende Institutionen und deren Funktionen, aber auch deren Interpretationen und Wahrnehmungen durch die Handelnden. "Menschen handeln, indem sie die soziale Wirklichkeit deuten (…). Sozialisiert als Frauen und Männer, als Menschen mit und ohne Migrationsbiografien, durch eine bestimmte soziale Herkunft und durch religiöse, politische und berufliche Erfahrungen greifen die Akteure auf Selbstverständlichkeiten, Wissensvorräte und Deutungsangebote zurück, die ihnen zur Identitätsfindung (…) nützlich erscheinen", schreibt etwa die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Hasenjürgen. Rahmenbedingungen wie gesellschaftliche Normen und Werte, Kommunikationsformen oder Rollenidentitäten – denen Menschen sich anpassen, die sie aber auch verändern können – sind stets in Bewegung. Dieser soziale Wandel findet nur langsam statt und ist vielerorts erst auf den zweiten Blick erkennbar. Was heute für viele "normal" ist, wurde noch vor wenigen Jahrzehnten gesellschaftlich und rechtlich sanktioniert, wie am Umgang mit nicht ehelichen Kindern oder mit Homosexualität deutlich wird. Das bedeutet keineswegs, Individuen von der Verantwortung für ihr Handeln freizusprechen oder aber jegliches Verhalten als Ergebnis "freier Entscheidung" zu werten. Stattdessen gilt es, soziales Handeln stets im Zusammenhang mit wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und sozialpsychologischen Einflüssen zu interpretieren.
Article
Asiye Öztürk
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-11-29T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/150613/editorial/
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Welche Rechte haben wir? | bpb.de
(© Anne Paffenholz) Auch Kinder und Jugendliche haben Rechte: Die UN-Kinderrechtskonvention – die „Konvention über die Rechte des Kindes“ der Vereinten Nationen – gilt seit 1990. Aber was steht da eigentlich geschrieben und was bedeutet das für Kinder und Jugendliche? Und warum ist die Konvention Teil der Hessischen Landesverfassung, hat aber noch nicht den Weg ins Grundgesetz gefunden? Ein Gesprächsraum für Kinder und Jugendliche zu ihren Rechten hinsichtlich Teilhabe und Mitbestimmung. Leitung: Jamila Adamou (Hessische Landeszentrale für politische Bildung) & Miriam Zeleke (Hessische Landesbeauftragte für Kinder- und Jugendrechte) Anmeldung: E-Mail Link: lbkr@hsm.hessen.de In Kooperation mit: Hessische Landesbeauftragte für Kinder- und Jugendrechte und Hessische Landeszentrale für politische Bildung (© Anne Paffenholz)
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-27T00:00:00"
"2022-07-20T00:00:00"
"2022-07-27T00:00:00"
https://www.bpb.de/pift2022/rahmenprogramm/510845/welche-rechte-haben-wir/
Ein Gesprächsraum für Kinder und Jugendliche zu ihren Rechten hinsichtlich Teilhabe und Mitbestimmung.
[ "Junges Festival", "Macht der Beteiligung", "macht mit" ]
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Wo soll´s denn hingehen? - Das USA-Heft | Presse | bpb.de
"Change" ist nicht nur das Motto im US-Wahlkampf. Auch beim fluter hat sich einiges geändert. Ein neues Team, neue Rubriken und ein neues Layout geben dem Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb ein neues Gesicht. Seit Oktober wird es im Auftrag der bpb von Dummy Media aus Berlin gestaltet. Unter dem Titel "Wo soll's denn hingehen?" informiert das aktuelle Heft über die USA. Die Vereinigten Staaten begeistern Millionen Menschen. Die Vielfalt der Kulturen ist beeindruckend, die Natur und Größe des Landes überwältigend. Doch sie stehen auch vor Problemen: der Krieg gegen den Terror und der Kollaps am Finanzmarkt zeigen die Schattenseiten dieser Nation. fluter unternimmt in seiner Herbst-Ausgabe einen Streifzug durch dieses ebenso faszinierende wie widersprüchliche Land: Er berichtet über dessen Eroberung, lässt Einwanderer erzählen, warum sie ihre amerikanische Heimat so lieben und informiert über das vielfältige politische Engagement der Bürger. Kaum zu glauben ist die Geschichte eines jugendlichen Kleinkriminellen, der von der Regierung einen 300-Millionen-Dollar-Auftrag erhält und dadurch zu einem der größten Waffenhändler des Landes wird. Im Interview spricht der Politikwissenschaftler Georg Vanberg über die Verfassung der USA und ihre Vorbildfunktion für andere Länder. "Geh zurück in den Dschungel!" So wurde Elisabeth Eckford beschimpft, als sie im Jahr 1957 als erste Schwarze die Central High School in Little Rock, Arkansas, betreten wollte. 50 Jahre danach redet sie im fluter über die damaligen Ereignisse und Rassismus in den USA. Fabian Dietrich reiste für fluter mit dem Greyhound-Bus in sieben Tagen von New York nach Los Angeles. In seinem Reisetagebuch schreibt er über seine skurillen Begegnungen auf der 4.500 Kilometer langen Strecke. Außerdem verrät Mauritus Much, warum es für deutsche Austauschschüler immer schwieriger wird, in die USA zu gehen. Das Jugendmagazin fluter erscheint vier mal im Jahr und wird von der bpb herausgegeben. Unter Externer Link: www.fluter.de/abo kann das Heft kostenlos abonniert werden. Unser Online-Magazin fluter.de ergänzt das Angebot und präsentiert täglich neue Beiträge und Diskussionen, wöchentliche Film- und Buchbesprechungen, Aktuelles und monatliche Themenschwerpunkte. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter Externer Link: www.fluter.de. Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (132 KB) Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Raul Gersson Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50341/wo-soll-s-denn-hingehen-das-usa-heft/
Die aktuelle Ausgabe des Jugendmagazins fluter der bpb informiert unter dem Titel "Wo soll's denn hingehen?" über die USA.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Editorial | Bildungsreformen | bpb.de
Das Unwort des Jahres 2004 lautet "Humankapital". Zu Recht, scheint der Mensch damit doch auf seinen ökonomischen Wert reduziert zu werden. Auch das allgemeine Verständnis von Bildung ist heute mehr und mehr durch ökonomische Imperative geprägt. Das gesellschaftliche Ziel der Chancengleichheit im Bildungswesen könnte einer solchen Ökonomik zum Opfer fallen. Die Defizite sind, wie die Ergebnisse der jüngsten PISA-Studie zeigen, ohnehin nicht zu übersehen: In keinem anderen Land der Welt ist der Schulerfolg der Kinder so stark von Einkommen und Bildung der Eltern abhängig wie in Deutschland. Das dreigliedrige Schulsystem ist offenbar nicht in der Lage, das Zusammenspiel von sozialer Herkunft und guten Lernergebnissen zu durchbrechen. Dessen ungeachtet gilt Schulerfolg hierzulande immer noch allein als Resultat individueller Leistung und Begabung. In Deutschland werden leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler frühzeitig von leistungsstärkeren getrennt. Das Ziel dieser Differenzierung - die Förderung in verschiedenen Schulformen - wird im Falle der leistungsschwächeren Kinder verfehlt. Anders als in den Gymnasien sind die Förderbedingungen in den am unteren Ende der Skala liegenden Hauptschulen unzureichend - trotz schlechterer Ausgangsbedingungen der Schülerinnen und Schüler. Die Chancen, innerhalb des deutschen Schulsystems nach erfolgter Einsortierung aufzusteigen, sind ausgesprochen gering. Es ist fast nur in eine Richtung durchlässig: nach unten. Jene sozial benachteiligten Kinder, die ungeachtet aller Hürden bis zum Abitur gelangen, stehen an der Schwelle zum Studium möglicherweise vor einer neu geschaffenen Barriere: Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg für die Einführung von Studiengebühren freigemacht.
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Katharina Belwe
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29154/editorial/
In keinem anderen Land der Welt ist der Schulerfolg der Kinder so stark von Einkommen und Bildung der Eltern abhängig wie in Deutschland. Das deutsche Schulsystem ist fast nur in eine Richtung durchlässig : nach unten.
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Veranstaltungskalender | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Übersicht Zu den Termindetails gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken. August Interner Link: Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Interner Link: Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung14. August 2023, Berlin & online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?24. August 2023, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) September Interner Link: Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten4. September 2023, Düsseldorf CoRE NRW Interner Link: BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September 2023, Leipzig Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media12. September 2023, online Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Interner Link: Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit13. September 2023, Berlin ufuq.de Interner Link: Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention28. bis 29. September 2023, Berlin cultures interactive e. V. Oktober Interner Link: Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus04. und 18. Oktober 2023, Berlin cultures interactive e. V. Interner Link: Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur19. Oktober 2023, Berlin Violence Prevention Network (VPN) November Interner Link: Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus9. bis 10. November 2023, Berlin Hochschule Fresenius Interner Link: Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und AbsolventenNovember 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Interner Link: Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Pädagogische Hochschule Heidelberg Februar 2024 Interner Link: Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 202428. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite August Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online In der Online-Fortbildung des Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) geht es darum, Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit extremistischer Ansprache in den sozialen Medien zu schulen. In den Lehrgängen wird zudem die Funktionslogik von sozialen Medien thematisiert und die allgemeine Medienkompetenz der Teilnehmenden verbessert. Mögliche Abläufe von Radikalisierungsprozessen sowie Grundlagen des Online Streetwork bekommen ebenfalls einen Raum in den Seminaren. Ziel ist es, eigene digitale Angebote der Demokratieförderung zu entwickeln und menschenfeindlichen Inhalten im Netz selbstbewusst entgegenzutreten. Die Online-Fortbildung gibt es in drei Durchgängen: 31. Juli 2023 bis 16. Oktober 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr 12. September 2023 bis 21. November 2023, immer dienstags & donnerstags von 11:00-12:30 Uhr 9. Oktober 2023 bis 18. Dezember 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr Termin: 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 Ort: online Veranstalter: Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CEOPS Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung 14. August 2023, Berlin & online Was brauchen wir als Gesellschaft, um zunehmenden Polarisierungstendenzen zu begegnen? Was braucht es auf individueller und struktureller Ebene, um Menschen zu stärken, die anfällig sind für extremistische Ansprachen? Das diesjährige Politik- und Pressegespräch der BAG RelEx widmet sich den strukturellen Faktoren von Radikalisierung. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Lösungsstrategien im politischen Handeln wie auch auf Ebene der zivilgesellschaftlichen Träger. Diese werden im Rahmen eines Impulsvortrags und einer Podiumsdiskussion erörtert. Im Anschluss bietet die Veranstaltung Raum für Rückfragen. Das hybride Politik- und Pressegespräch richtet sich an Vertreter:innen aus Medien und Politik, an Fachkräfte sowie die breite Öffentlichkeit. Journalist:innen können sowohl vor Ort als auch online teilnehmen. Weitere Interessierte können der Veranstaltung online beiwohnen. Termin: 14. August 2023, 18:00-19:30 Uhr Ort: Berlin-Wedding & online Veranstalter: BAG RelEx Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen? 24. August 2023, online Das Online-Seminar beschäftigt sich mit islamistischer Ansprache in den sozialen Medien. Dabei geht es vor allem darum, wie Staat und Zivilgesellschaft auf die damit einhergehenden Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention reagieren können. Das Seminar liefert eine Einordnung zu Ansätzen der Präventionsarbeit und vermittelt Überblick über Projekte der digitalen Jugendarbeit. Im Anschluss werden mögliche Bedarfe in der Jugend- und Präventionsarbeit skizziert. Das Online-Seminar richtet sich an Teilnehmende des Plan P.-Netzwerks sowie Fachkräfte der Jugendhilfe, insbesondere aus den Bereichen des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Jugendarbeit und der Sozialarbeit. Termin: 24. August 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. August möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AJS September Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten 4. September 2023, Düsseldorf In einer wehrhaften Demokratie stehen staatliche Institutionen vor der Aufgabe, immer wieder zu überprüfen, inwieweit sie selbst gegen antidemokratische und extremistische Einstellungen gefeit sind. Staatsbedienstete sind gegen die Verbreitung von extremistischen Einstellungs- und Vorurteilsmustern nicht immun. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz, Polizei und Nachrichtendienste, sondern auch der Schul- und Erziehungssektor. Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen, wie wir sie in Polizeien in mehreren Bundesländern gesehen haben, und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Darüber soll auf dem Netzwerktreffen intensiv diskutiert werden. Neben Vorträgen und Diskussionen gibt es ausreichend Zeit für Gespräche zur Vernetzung. Termin: 4. September 2023, 9:30-17:00 Uhr Ort: Townhouse Düsseldorf, Bilker Straße 36, 40213 Düsseldorf Veranstalter: CoRE NRW Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail bis zum 25. August unter Angabe des vollen Namens sowie der institutionellen Anbindung Weitere Informationen in Kürze auf den Externer Link: Seiten von CoRE NRW BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September, Leipzig Im September 2023 findet in Leipzig ein interaktives BarCamp der Bundeszentrale für politische Bildung zum Themenfeld Islamismus statt. Die Fachtagung bietet einen Raum für Akteurinnen und Akteure, die in der Radikalisierungsprävention und der politischen Bildung tätig sind, einmal innezuhalten, gemeinsam über die Entwicklungen zu reflektieren, sich über aktuelle Themen, Debatten aber auch die Belastung in der täglichen Arbeit auszutauschen und gleichzeitig Ideen, multiprofessionelle Perspektiven und neue Energie aufzutanken. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte aus dem Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildung, Wissenschaftler/-innen und Multiplikator/-innen, die sich bereits intensiver mit dem Phänomen Islamismus und dem Feld der Islamismusprävention auseinandergesetzt haben oder in diesem arbeiten. Auch das Team des Infodienst Radikalisierungsprävention wird auf der Tagung vertreten sein und freut sich, Sie dort zu begrüßen. Termin: 4. bis 6. September 2023 Ort: Hyperion Hotel, Sachsenseite 7, 04109 Leipzig Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: Teilnahmegebühr ohne Übernachtung 50 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 21. August 2023 möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media 12. September 2023, online Mit welchen Argumenten verbreiten extremistische "Prediger" online ihre Botschaften? Welche Themen und vermeintliche Belege führen sie an? Welche Plattformen und Formate nutzen sie? Und wie gewinnen sie das Vertrauen von Jugendlichen? Der Workshop beginnt mit einer Auswahl gängiger Phrasen, Aussagen und Argumente extremistischer Online-"Prediger". Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden gemeinsam über folgende Fragen: Welche Formate und Argumente sind bei Jugendlichen besonders wirksam? Welche Themen stehen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund? Welche Fragestellungen scheinen für Jugendliche zentral zu sein, werden von extremistischen Online-Akteuren jedoch bewusst ausgeklammert? Fachkräfte können vorab Beispiele und konkrete (anonymisierte) Fälle aus der eigenen Arbeit einreichen. Diese werden dann im Rahmen der Veranstaltung aufgegriffen. Termin: 12. September 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 1. September 2023 Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der IU Internationalen Hochschule Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit 13. September 2023, Berlin Wie können Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit auf antimuslimischem Rassismus reagieren und diesem entgegenwirken? Welche Rolle spielt die persönliche Haltung zu Religion? Wie können Betroffene von diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen unterstützt und gestärkt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Fortbildung. Pädagogische Mitarbeitende aus Schule, Sozialarbeit und außerschulischer Bildungsarbeit sind eingeladen, daran teilzunehmen und Anregungen zum Umgang mit Religion, Resilienz und Rassismus für ihre Arbeit mitzunehmen. Termin: 13. September 2023, 9:00-16:00 Uhr Ort: Räume der Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin Veranstalter: ufuq.de Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 11. September Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene 20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Inwiefern kann Radikalisierung beziehungsweise die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen auch als mögliche Bewältigungsstrategie angesichts struktureller gesamtgesellschaftlicher Problemlagen verstanden werden? Welche Implikationen ergeben sich hieraus für die Ausrichtung von Präventionsstrategien und -ansätzen? Welche stigmatisierenden Effekte birgt die Arbeit der Islamismusprävention? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Fachtag. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte und Interessierte. Termin: 20. bis 21. September 2023 Ort: Frankfurt am Main Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Anmeldung: Externer Link: online bis 1. September möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von BAG RelEx Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention 28. bis 29. September 2023, Berlin Wie lässt sich Gaming für die Präventionsarbeit nutzen und wie können Jugendliche darüber erreicht werden? Die Fortbildung beschäftigt sich mit diesen Fragen und zeigt auf, wie Menschenrechte, demokratische Haltungen und Medienkompetenz in diesem Bereich vermittelt werden können. Mit Hilfe des Spiels „Adamara“, das cultures interactive e. V. entwickelt hat, sollen die Teilnehmenden lernen, wie Jugendliche eigene Handlungsoptionen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Lebenserfahrungen im Spiel verarbeiten können. Ziel ist es, ein Verständnis für die Gaming-spezifischen Anforderungen in der Präventionspraxis zu gewinnen. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte aus der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen Bildung. Termin: 28. bis 29. September 2023 Ort: Tagen am Ufer, Ratiborstraße 14, 10999 Berlin-Kreuzberg Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Oktober Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus 4. und 18. Oktober 2023, Berlin Wie prägen Gendervorstellungen den islamisch begründeten Extremismus? Welche Chancen bieten mädchen*spezifische Präventionsansätze? Und wie sehen erfolgreiche Strategien aus für den Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen*? Diese Fragen stehen im Fokus der zweitägigen Fortbildung für Fachkräfte der Jugendarbeit in Berlin. Neben interaktiven Elementen werden auf der Veranstlatung aktuelle Forschungsergebnisse zu Mädchen* im Salafismus vorgestellt. Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden, welche erfolgreichen Strategien es im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen gibt. Termin: 4. und 18. Oktober 2023, jeweils von 17:00 – 20:00 Uhr Ort: Berlin Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur 19. Oktober 2023, Berlin Bei diesem Fachtag im Rahmen des Projekts „Islam-ist“ geht es um die Frage, wie islamistische Akteur:innen digitale Räume nutzen, um junge Menschen zu beeinflussen und zu mobilisieren. Thematisch wird das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Anpassung sowie radikaler Narrative und Verharmlosung ideologisierter Weltbilder bearbeitet. Ziel ist es, konkrete Konsequenzen für die Arbeit von Fachkräften herauszuarbeiten, um unterschiedlichen Ansprachestrategien zu begegnen, ohne dass junge Muslim:innen stigmatisiert werden. Der Fachtag teilt sich in Impulsvorträge, Workshops und Panels auf und lädt zum gemeinsamen Austausch ein. Termin: 19. Oktober 2023, 9:30 – 17:30 Uhr Ort: Berlin, Alt-Reinickendorf Veranstalter: Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von VPN November Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus 9. bis 10. November 2023, Berlin Welche Faktoren motivieren Frauen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Welche Funktionen und Rollen nehmen Frauen in den verschiedenen Phänomenbereichen ein? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der zweitägige Workshop der Hochschule Fresenius. Die Veranstaltung richtet sich an Nachwuchswissenschaftler:innen des Themenfelds Extremismus und soll einen Rahmen schaffen, um eigene Forschungsprojekte mit Expert:innen zu besprechen. Hierfür sind die Teilnehmenden dazu eingeladen, eigene Abstracts einzureichen und bei Interesse einen Vortrag zu halten. Termin: 9. bis 10. November 2023 Ort: Berlin Veranstalter: Hochschule Fresenius Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per Mail möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Fresenius Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und Absolventen November 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Wie bedingen gesellschaftliche Konflikte Veränderungen innerhalb der islamistischen Szene? Welche Strategien, Inhalte und islamistischen Gruppierungen sind für die Präventionsarbeit in Deutschland relevant? Und wie gelingt der Berufseinstieg in dieses Arbeitsfeld? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die MasterClass der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Veranstaltung richtet sich an Masterstudierende sowie Absolventinnen und Absolventen mit Interesse an einer beruflichen Tätigkeit in der Islamismusprävention. In fünf Modulen erhalten sie einen Einblick in Theorien, Methoden und Praxis der Präventionsarbeit. Die Umsetzung der Module findet in Präsenz an verschiedenen Orten in Deutschland und online statt. Termin: 17. November 2023 bis 8. November 2024, insgesamt fünf Module Ort: Berlin/Köln/Erfurt und online Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: 150 Euro Teilnahmegebühr. Reisekosten, Hotelkosten und Verpflegung werden übernommen. Bewerbung: Externer Link: online möglich bis zum 7. August. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist findet eine Auswahl der Teilnehmenden durch die bpb statt. Die Teilnehmendenzahl ist auf 25 Personen begrenzt. Weitere Informationen zur MasterClass auf den Interner Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Wie können pädagogische Fachkräfte souverän reagieren, wenn sich junge Menschen demokratiefeindlich äußern? Wie kann man erkennen, ob jemand nur provozieren möchte oder tatsächlich eine extremistische Haltung entwickelt hat? Die sechstägige Online-Weiterbildung soll Pädagog:innen dazu befähigen, eine Radikalisierung zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Das Kontaktstudium besteht aus einer Verknüpfung von Theorie und Praxisbeispielen und bietet die Möglichkeit, sich mit Expert:innen aus verschiedenen Fachbereichen auszutauschen. Die Weiterbildung richtet sich an Pädagog:innen, die mit jungen Menschen arbeiten. Sie findet an folgenden Terminen statt: Freitag, 1. Dezember 2023, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 2. Dezember 2023, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 19. Januar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 20. Januar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 23. Februar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 24. Februar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Termin: 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024 Ort: online Veranstalter: Pädagogische Hochschule Heidelberg Kosten: 490 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. Oktober möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der pädagogischen Hochschule Heidelberg Februar 2024 Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 2024 28. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Auch im nächsten Jahr veranstaltet MOTRA wieder eine Jahreskonferenz. MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung. Im Mittelpunkt der Konferenz steht der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis zum aktuellen Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Dazu bietet die Veranstaltung ein vielfältiges Programm aus Beiträgen der Radikalisierungsforschung und Präventionspraxis zu einem jährlich wechselnden Schwerpunktthema. Fachkräfte sind dazu eingeladen, Forschungs- und Praxisprojekte zu diesem Thema einzureichen und auf der Konferenz zu präsentieren. Der entsprechende Call for Papers sowie Informationen zum Schwerpunktthema und den Bewerbungs-, Teilnahme- und Anmeldemöglichkeiten werden in Kürze veröffentlicht. Termin: 28. und 29. Februar 2024 Ort: Wiesbaden Veranstalter: Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung werden auf den Externer Link: Seiten von MOTRA bekannt gegeben. Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-08-04T00:00:00"
"2016-01-18T00:00:00"
"2023-08-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/218885/veranstaltungskalender/
Veranstaltungshinweise und Fortbildungen aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus & Prävention
[ "Infodienst Salafismus", "Termine" ]
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Maxim Gorki Theater | Europe 14|14 | bpb.de
Gegründet 1952 als Theater für die Gegenwart, wurde es für die Ostberliner Bürger zum Stadttheater im besten Sinne, kritisch und auch dissident. 1988 antizipierte das Theater mit Thomas Langhoffs Inszenierung der Übergangsgesellschaft von Volker Braun prophetisch die friedliche Revolution vom 9. November 1989. Auch an einem 9. November, im Jahr 1848, wurde die erste frei gewählte Preußische Nationalversammlung aus der Stadt vertrieben, die in der Singakademie an einer demokratischen Verfassung für Preußen gearbeitet hatte. Zwischen diesen beiden Ereignissen spannt sich der Bogen des Kampfes um eine demokratisch verfasste gerechte und offene Gesellschaft, von der Ausrufung der deutschen Republik 1918, über die Novemberpogrome 1938 und die Verfolgung und Ermordung der Juden, bis zur Wiedervereinigung der Stadt und des Landes und mündet heute in die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Zukunft Berlins als einer vielfältigen europäischen Metropole. Leben wir wieder in einer Gesellschaft im Übergang? Diese Frage drängt sich auf in der andauernden Krise von Ökonomie und Politik, die verschärfte soziale und kulturelle Konflikte in unseren Gesellschaften zur Folge hat. In der Eröffnungsspielzeit 2013/2014 wird sich das Ensemble des GORKI mit Situationen des Übergangs auseinandersetzen und einladen zur Beschäftigung mit Klassikern, wie Anton Tschechows Kirschgarten, Maxim Gorkis Kinder der Sonne und Volker Brauns Übergangsgesellschaft. Unser Spielplan umfasst die ganze ästhetische Breite des gegenwärtigen Theaters, von literarischen Uraufführungen wie Olga Grjasnowas Der Russe ist einer der Birken liebt über Gegenwartstücke wie Es sagt mir nichts das sogenannte Draussen von Sibylle Berg und Schwimmen Lernen von Marianna Salzmann, bis hin zu den Rechercheprojekten von Yael Ronen, die neben Nurkan Erpulat, Sebastian Nübling, Lukas Langhoff, Falk Richter, Hakan Savaş Mican und Christian Weise zum Kreis der Regisseure gehört, die unsere Eröffnung gestalten.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-11-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/histocon/173771/maxim-gorki-theater/
Das Maxim Gorki Theater, in der Singakademie am Boulevard Unter den Linden angesiedelt, ist unter den Berliner Ensembletheatern das Kleinste und Schönste, es ist auch ein historisch bedeutsamer Ort.
[ "Theater", "Europ 14|14" ]
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AFROLUTION 2018 - Berliner Literaturfestival für afrikanisch/diasporisches Denken (Berlin, 28. Juni 2018) | Presse | bpb.de
Ms Nadja Ofuatey-Alazard, Ms Luisa Schweizer, Mr Thomas Heppener, ladies and gentlemen, “Wealth is not the fruit of labor but the result of organized protected robbery”. Allow me to sum up these, the words of Frantz Fanon in “The Wretched of the Earth”, as follows: nobody is free of guilt. Allow me further to describe colonialism as a brutal materialization of power. As exploitation and systematic oppression brought about by racialisation. Our endeavors to analyze the repercussions of colonialism are not about righting past wrongs. Even today, the political, legal and psychological efforts to “reprocess” colonial crimes are still in their infancy. Instead, the objective is to create awareness of the fact that the power structures of the past have an impact on the present. They have an impact on today’s global power relations which are deeply entrenched in society. Decades of ignorance and active forgetting lie behind us. In the current climate of new and revived nationalism and blatant racism, it is more urgent than ever that we take a stand against the rightwing attempts to shift the debate. Moreover, we as white parts of German society need to critically scrutinise our own racist structures and socialisation – by broadening our own perspectives, our way of thinking and outlook. Or, in Toni Morrison’s words, to shift the critical gaze “from the observed to observers” and unlearn White privilege and racism as harmful structures for all sides. Needless to mention in this context of this event that the nation building of the 19th century went hand in hand with the expansion and institutionalization of racism that had already served European societies in prior centuries as means of colonizing, oppressing, exploiting, enslaving and killing people. What is the situation today in those colonial centers that, for centuries, pursued the aim of bringing the world “within reach”? How do societies, including Germany, see the undeniable reality of their own interrelations across the globe? And their inner inequalities caused by colonial legacies? What is missing in current debates around migration is an insistence on the century-long unequal entanglements between European societies, actors, capital and knowledge - and the spaces they conquered, colonized and exploited. That’s why interventions such as yours are so important. Contemporary migratory flows reflect the persistent inequalities caused by centuries of European colonial dominance. Sivanandan’s famous claim from the 1980s: “We are here because you were there” has not lost its relevance. The multifaceted nature of the continuous imbalance of power expressed in that quote makes it essential to take a clear stance. Empathy and the establishment of a sense of solidarity among the “mutually unacquainted” are required – what Paul Mecheril termed the “educational goal of the 21st century”. It is important not only that we call out injustice, inequality and racism in our society but also that we make an active contribution towards stopping them. That goes for all parts of society, including governmental institutions. We – the ones privileged by these structures – have to learn to think in an anti-racist way. The aim is not only to condemn open racism and hatred, but to ask who benefits from which privileges in society and on what grounds. A key element of that is to make knowledge problematic and seek to unlearn the “epistemic violence” implemented by colonialism, to quote Gayatri Spivak, Professor of Literary Studies at Columbia University. And this level is crucial for us as Civic Educators. Because racism affects how we see ourselves, others and the world. To overcome racist structures, we must question and break down the knowledge categories we take for granted. Against this backdrop, a multiplicity of perspectives gains new significance. It provides the foundations for a decolonisation process across all segments of society. Decolonisation must be about weaving new threads into the social narrative. About breaking down Eurocentric “single stories” – as Chimamanda Adichie has postulated – and devising new forms of the social and the political. Utopia is a society free of any manifestation of racism. Those oppressed by racist and colonial power structures, resisted from the outset their exploitation. They have been providing us with methods, knowledge and tools for many years. They have insisted on research into racism, gender issues and postcolonialism. We – the ones who are seemingly “benefiting” from these structures – obviously just haven’t been that interested. There has long been considerable hype about coming to terms with postcolonial issues – an aspiration to be welcomed. But things become difficult when a lack of the required knowledge leads to those issues receiving merely superficial consideration. When the differentiation based on ingrained power structures we still see today goes unchallenged. Our goal must therefore be to ensure a firmly rooted awareness in the public conscience of the multiplicity of stories, perspectives and narratives. What is needed is transcultural education – a style of education that does more than merely engage people at the cognitive level. With their ability to engage at the emotional level, art, music, film and literature can serve as tools to this end. Transcultural education is most needed where there are sustained inequalities and where social exclusion determines the future of many. Transcultural education can challenge established self-images and force institutions to take a critical approach to their own role within education processes that are still too heavily influenced by “them and us” thinking. Our aim must be to move away from the trite talk and see the pluralistic voices as a resource. This festival and the day-to-day work of EOTO are excellent examples of how this can be done. They do not simply adopt existing structures and reproduce canonized knowledge to promote social integration within the prevailing cultural framework. Instead, they create their own forms of participation – be it by artists or in work with refugees making a new home in Berlin. I am grateful to this festival for opening its doors and minds to perspectives that have for decades been criticizing the “postcolonial illiteracy” that is dominant in German society. We must stop thinking that we are taking a risk when we give a political voice to those who have been deprived of it. We’re content in the comfortable knowledge that we do, after all, run numerous anti-racism programs and contribute to the much-vaunted efforts to educate the public. But we need to simultaneously expose institutional and structural discrimination and develop an awareness of the contradictory nature of our own actions. We need to avoid a selective view of our historical responsibility and stop ignoring the continuous global inequalities that we currently see on a daily basis in the news. If we are aware of the narratives, the power structures and their continued existence and evolution: Then we must tackle them and bring attention to them – loudly and unequivocally. In doing so, we leave behind us the sense of certainty, stability, security and direction we once knew in order to work together on building something new. Where there is no agitation, there can be no education. Where there is no uncertainty, there can be no certainty. Where there is no empathy, there can be no solidarity. I wish you a productive festival and engaged discussions on the most pressing issues of our time. Thank you for your attention. - Es gilt das gesprochene Wort -
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-07-12T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/272517/afrolution-2018-berliner-literaturfestival-fuer-afrikanisch-diasporisches-denken-berlin-28-juni-2018/
Beim Berliner Literaturfestival für afrikanisch/diasporisches Denken AFROLUTION 2018 sprach Thomas Krüger zu Beginn ein Grußwort und zeigte eine Utopie einer postkolonialen Gesellschaft auf, für die sich die Institutionen selbst jedoch ändern müssen.
[ "Rede Thomas Krüger", "Berliner Literaturfestival für afrikanisch/diasporisches Denken", "Afrolution 2018" ]
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Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Nigeria | Hintergrund aktuell | bpb.de
Bei der Präsidentschaftswahl in Nigeria ist Amtsinhaber Muhammadu Buhari nach offiziellen Angaben der Externer Link: nationalen unabhängigen Wahlkommission (INEC) als Sieger hervorgegangen. Der 76-Jährige erhielt demnach 56 Prozent der Stimmen und hat rund vier Millionen Wähler und Wählerinnen mehr als sein wichtigster Herausforderer Atiku Abubakar, der auf 41 Prozent der Stimmen kam. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 40 Prozent. Am 23. Februar fanden in Nigeria die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, die zunächst auf den 16. Februar angesetzt gewesen waren und aufgrund "logistischer Probleme" kurzfristig um eine Woche verschoben wurden. 73 Kandidatinnen und Kandidaten traten für das Amt des Staatsoberhaupts und 91 Parteien für die Parlamentswahl an. Die geplante Wahl der Gouverneure und Landesparlamente soll am 09. März, statt wie geplant am 02. März stattfinden. Nigeria ist mit je nach Schätzung gut 190 Millionen bis rund 200 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste afrikanische Land. Nach Angaben der nationalen unabhängigen Wahlkommission (INEC) haben sich rund 84 Millionen Menschen für die Wahlen registriert – so viele wie noch nie. Sie konnten in 11.973 Wahllokalen ihre Stimme abgeben. Bei der Registrierung kam es vereinzelt zu Problemen, wie Nichtregierungsorganisationen kritisieren. Zudem dürfen Menschen, die durch anhaltende Konflikte aus ihren Heimatregionen in andere Teile Nigerias geflohen sind, zwar bei der Präsidentschaftswahl ihre Stimme abgeben, nicht aber bei der Wahl zum Parlament. Die Vereinten Nationen gehen von über zwei Millionen Binnenflüchtlingen aus. Infobox Nigeria ist seit 1960 von Großbritannien unabhängig. Das Land ist eine Bundesrepublik mit Präsidialdemokratie, besteht aus 36 Bundesstaaten und dem Bundesterritorium Abuja. Die Bundesstaaten haben jeweils Gouverneure und eigene Parlamente. Viele Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen wurden jedoch in den vergangenen Jahrzehnten zu Lasten der Bundesstaaten zentralisiert - der Föderalismus systematisch geschwächt. Der Präsident verfügt über eine starke Exekutivgewalt. Er ist zugleich Staatsoberhaupt, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Regierungschef. Der Präsident darf ebenso wie die Abgeordneten der Nationalversammlung nur für zwei Legislaturperioden antreten. Eine Wahlperiode dauert regulär vier Jahre. Der Präsident ernennt die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs, der Senat hat hierbei jedoch ein Vetorecht. Das Mindestalter für Präsidentschaftskandidaten wurde im vergangenen Jahr von 40 auf 35 abgesenkt. Das Parlament, die Nationalversammlung, besteht aus zwei Kammern. Der Senat hat 109 Mitglieder – jeden der 36 Staaten repräsentieren drei Senatoren, ein weiterer vertritt die Hauptstadt von Abuja. Das Repräsentantenhaus zählt 360 Abgeordnete, sie werden wie in den USA gemäß der Bevölkerungszahl der jeweiligen Bundesstaaten gewählt. Kandidaten in der Diskussion Der 76-jährige amtierende Präsident Muhammadu Buhari von der sozialdemokratischen Partei Externer Link: All Progressives Congress (APC) kandidierte erneut. Der ehemalige Vizepräsident Atiku Abubakar setzte sich als Kandidat für die oppositionelle Mitte-Rechts Partei Externer Link: Peoples Democratic Party (PDP) durch, die mit der APC zu den größten Parteien des Landes gehört. Von allen Herausforderern Buharis wurden ihm die größten Chancen zugemessen. Die PDP hatte das Land mit Jonathan Goodluck als Präsidenten von 1999 bis 2015 regiert. Buhari, ehemaliger General, der bereits von 1983 bis 1985 Staatsoberhaupt des westafrikanischen Staats war, wurde bei der Wahl 2015 erneut zum Präsidenten gewählt. Kritik an Amtsinhaber Buhari Der amtierende und zukünftige Präsident Buhari von der APC steht aus verschiedenen Gründen in der Kritik. Ihm wird vorgeworfen zu wenig gegen Korruption, die zunehmenden separatistischen Bestrebungen in manchen Regionen, die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und die islamistisch-terroristische Gruppe Interner Link: Boko Haram zu unternehmen. Buhari musste sich zudem dafür rechtfertigen, dass Nigeria, das der größte Ölproduzent und eine der größten Volkswirtschaften des Kontinents ist, sich unter seiner Amtsführung nicht nachhaltig aus der ökonomischen Krise befreien konnte - auch wenn sich derzeit abzeichnet, dass sich die Wirtschaftslage nach leichten Einbrüchen in den Jahren 2017/2018 nun erholt. Der 76-Jährige gilt zudem als gesundheitlich angeschlagen und konnte sein Amt im Jahr 2017 mehrere Monate lang nicht ausüben. Eine Entscheidung Buharis sorgte zuletzt für Aufruhr: Wenige Wochen vor der Wahl hatte der Staatschef den vorsitzenden Richter des Obersten Gerichts wegen Korruptionsverdacht suspendiert. Kontrovers diskutiert wurde dies vor allem, weil das Oberste Gericht bei einem strittigen Wahlergebnis entscheidet. Manche Beobachter und Beobachterinnen sahen darin einen Versuch Buharis, Schlüsselstellen mit muslimischen wohlgesonnenen Kräften zu besetzen. Denn neben den oben beschriebenen Konfliktlinien manifestiert sich in Nigeria eine zunehmende Entfremdung zwischen Muslimen und Christen und Religionszugehörigkeit spielt auch bei den Wahlen eine immer stärkere Rolle. Bewaffnete Konflikte und ökonomische Krise als politische Herausforderungen Die Wahlen im Jahr 2015 waren sowohl in Nigeria als auch von internationalen Wahlbeobachtern trotz organisatorischer Mängel als im Großen und Ganzen frei und fair bezeichnet worden. Das galt angesichts der Gewalteskalationen bei vorherigen Wahlen als Erfolg. Der frühere Amtsinhaber Goodluck hatte seine Niederlage anerkannt, und es kam zu einer demokratischen Machtübergabe an Buhari. In diesem Jahr hingegen hielten Beobachter und Beobachterinnen Konflikte vor und nach der Wahl für möglich. Viele Kandidaten und Kandidatinnen, darunter Buhari, hatten sich vor mehreren Wochen in einem "Friedenspakt" den Verzicht auf Gewalt im Wahlkampf erklärt. Abubakar, der als Buharis stärkster Konkurrent galt, unterzeichnete die Absichtserklärung nicht. Medienberichten zufolge ist es im Zuge der Präsidentschaftswahl in manchen Regionen zu Ausschreitungen gekommen, bei der bisher über 50 Menschen starben. Der Land steht vor immensen Herausforderungen. "Nigeria ist mit mehreren Gewaltkonflikten einer tiefen politischen, soziökonomischen und soziokulturellen Spaltung, den Folgen der schwersten Wirtschaftskrise seit 30 Jahren und weit verbreiteter organisierter Kriminalität konfrontiert", analysierte der freie Journalist und Autor Heinrich Bergstresser Anfang 2018. Zuletzt habe sich die Wirtschaft zwar etwas erholt, der Kampf gegen Korruption sei jedoch wenig vorangekommen. Im Nordosten des Landes ist Boko Haram für unzählige Entführungen und zahlreiche schwere Anschläge verantwortlich. Rund zwei Millionen Binnenflüchtlinge haben die von den Angriffen und Attentaten betroffenen Städte und Dörfer verlassen und in fast zehn Jahren wurden mehr als 27.000 Menschen getötet. Die Zentralregierung hat bislang keine wirksame Strategie gegen Boko Haram. Das teils äußerst brutale Vorgehen der nigerianischen Streitkräfte hat Experten zufolge den Islamisten sogar neuen Zulauf beschert. Mehr zum Thema: Interner Link: Nigeria (Fischer Weltalmanach) Interner Link: Heinrich Bergstresser: Nigeria (Dossier Innerstaatliche Konflikte) Interner Link: Machtwechsel in Nigeria(Hintergrund aktuell, 1.4.2015) Nigeria ist seit 1960 von Großbritannien unabhängig. Das Land ist eine Bundesrepublik mit Präsidialdemokratie, besteht aus 36 Bundesstaaten und dem Bundesterritorium Abuja. Die Bundesstaaten haben jeweils Gouverneure und eigene Parlamente. Viele Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen wurden jedoch in den vergangenen Jahrzehnten zu Lasten der Bundesstaaten zentralisiert - der Föderalismus systematisch geschwächt. Der Präsident verfügt über eine starke Exekutivgewalt. Er ist zugleich Staatsoberhaupt, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Regierungschef. Der Präsident darf ebenso wie die Abgeordneten der Nationalversammlung nur für zwei Legislaturperioden antreten. Eine Wahlperiode dauert regulär vier Jahre. Der Präsident ernennt die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs, der Senat hat hierbei jedoch ein Vetorecht. Das Mindestalter für Präsidentschaftskandidaten wurde im vergangenen Jahr von 40 auf 35 abgesenkt. Das Parlament, die Nationalversammlung, besteht aus zwei Kammern. Der Senat hat 109 Mitglieder – jeden der 36 Staaten repräsentieren drei Senatoren, ein weiterer vertritt die Hauptstadt von Abuja. Das Repräsentantenhaus zählt 360 Abgeordnete, sie werden wie in den USA gemäß der Bevölkerungszahl der jeweiligen Bundesstaaten gewählt.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-07-30T00:00:00"
"2019-02-14T00:00:00"
"2021-07-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/285969/praesidentschafts-und-parlamentswahlen-in-nigeria/
Nachdem die Wahlen zunächst um eine Woche verschoben wurden, hat Nigeria am 23. Februar ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten gewählt. Der amtierende Präsident Muhammadu Buhari wurde mit 56 Prozent der Stimmen wiedergewählt.
[ "INEC", "Muhammadu Buhari", "APC", "PDP", "Boko Haram", "Öl", "Nigeria" ]
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Notizen aus Moskau: Russische Zivilgesellschaft – vom Kopf auf die Füße
 | Russland-Analysen | bpb.de
Wenn ich Texte aus den vergangenen Jahren zur Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft durchschaue, wird mir angst und bange. Seit dem Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin im Jahr 2000 geht es bergab. Stück für Stück, so regelmäßig, dass es im Rückblick fast schon systematisch aussieht, wurden die Möglichkeiten unabhängigen zivilgesellschaftlichen Engagements immer weiter eingeschränkt. Den bisherigen Schlusspunkt setzte 2012 das sogenannte NGO-Agentengesetz, das das staatliche Narrativ von aus dem Westen gesteuerten NGOs als einer angeblichen Vorhut von und Mittel zu Regime Change in Strafrecht bannt.
 Dieses Gesetz wirkt nicht schnell. Eher ist damit eine staatliche Maschine in Gang gesetzt worden, die Stück für Stück unabhängige NGOs zermürbt und zu einer Auflösung oder Aufgabe ihrer (meist kritischen) Positionen zwingt. Dort, wo das nicht freiwillig (soll heißen, dem staatlichen Druck nachgebend) geschieht, wird die Unterwerfung zivil- und strafrechtlich durchgesetzt. Anfangs dienten dazu immer höhere Geldstrafen, sowohl für die Organisationen als auch ihre Führungspersonen persönlich.
 Mit dem Strafverfahren gegen Walentina Tscherewatenko, der Gründerin und Vorsitzenden der "Frauen des Don" aus Nowotscherkassk ist eine neue Stufe der Repression eingeleitet worden (s. Externer Link: http://russland.boellblog.org/2016/12/08/artikel-im-journal-osteuropa-der-prozess-gegen-walentina-tscherewatenko-frauen-des-don/). Walentina Tscherewatenko wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen mutwillig nicht die Registrierung ihre Organisation als ausländischer Agent beantragt zu haben. Das Verfahren könnte mit einer Gefängnisstrafe enden und damit auch zum Vorbild für weitere Verfahren werden.
 So wird der Druck auf die verbleibenden unabhängigen NGOs immer weiter erhöht. Sie werden, so wage ich vorauszusagen, letztlich nur die Wahl haben, sich dem staatlichen Druck zu beugen und auf ihre Unabhängigkeit (oft nur möglich auch und gerade aufgrund ausländischer Finanzierung) zu verzichten, oder sie werden sich als juristische Personen auflösen müssen und können dann versuchen, ohne rechtlichen Status weiterzuarbeiten. Allerdings ist Letzteres für viele NGOs angesichts des Charakters ihrer Arbeit kaum möglich, ohne diese Arbeit fast bis zur Unkenntlichkeit einzuschränken (als herausragendes, aber bei weitem nicht einziges Beispiel kann hier "Memorial International" mit seiner Infrastruktur, seinen Veranstaltungsräumen, dem Museum, der Bibliothek und vor allem dem einzigartigen Archiv dienen). Außerdem ist es fraglich, ob dieser Verzicht ohne Verzicht auf weiter unabhängiges Handeln ausreichen wird. Es gibt bereits Initiativen, die "Agentenvorschriften" auch auf Privatpersonen auszuweiten.
 Sollte diese Prognose richtig sein, wird in wenigen Jahren kaum noch etwas von der organisierten zivilgesellschaftlichen Landschaft übrig sein, die sich in Russland in den vergangenen rund 20 Jahren entwickelt hat. Was bleiben wird, sind natürlich viele Menschen, die zivilgesellschaftliches Handeln eingeübt und fortentwickelt haben. Es bleiben ihre Erfahrung der Praxis und ihre Erinnerung an viele Erfolge (wenn auch nicht den Erfolg, sich in dieser existenziellen Krise verteidigen zu können). Ist das, wäre das das (zumindest vorläufige) Ende zivilgesellschaftlichen Handelns in Russland?
 Ich denke nicht. Dafür habe ich drei Gründe. Zum ersten ist bei weitem nicht alles zivilgesellschaftliche Handeln in Russland (wie anderswo auch) rechtlich organisiert. Es gibt sehr viel freiwilliges und ehrenamtliches Engagement (wenn auch, so meine Einschätzung, immer noch weit weniger als in westlichen Gesellschaften). Zwar mischt sich auch hier der Staat seit einigen Jahren regelnd und maßregelnd ein, aber doch mit weit weniger Verve und eher erratisch.
 Zum zweiten gibt es auch unter des Staates Fittichen (weiterhin) Freiräume. Wie bereits angedeutet, hängt das immer von den jeweiligen Themen ab, vor allem aber von der Haltung. Grob gesagt, lässt der Staat Initiativen zu, die sich als ihn unterstützend verstehen (und vom Staat auch so verstanden werden). Das drückt sich auch in den Versuchen aus, zivilgesellschaftliches Handeln in gutes soziales und schlechtes politisches zu teilen. Sozial ist dabei alles, was den Staat in der Daseinsvorsorge unterstützt und entlastet. In diesem Zusammenhang darf staatliches Handeln durchaus auch kritisiert werden. Diese Kritik darf aber nie politisch werden, also politische Konzeptionen angreifen. Sie ist nur erlaubt, wenn sie sich auf konkretes Verwaltungshandeln bezieht. Entsprechend hat auch Putin in der jüngsten Auflage seiner "Direkter Draht" genannten Fernsehshow Mitte Juni jede Zuschauerfrage in Bezug auf Missstände auf diese Ebene heruntergeführt.
 Nun komme ich zum dritten und meiner Ansicht nach wichtigsten Grund: Mir scheint, in Russland findet, allen Widrigkeiten zum Trotz, gerade eine Art nachholender zivilgesellschaftlicher Entwicklung statt. Es passiert etwas, das in den schnellen und fundamentalen Änderungen nach der großen Wende Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre gefehlt hat. Überall im Land entstehen kleinere und größere Bürgerinitiativen. Der Begriff ist bewusst gewählt. Historisch gingen Bürgerinitiativen (im Westen) dem voraus, was heute NGOs genannt wird. In Russland war es (bisher und weitgehend) umgekehrt.
 Es sieht so aus, als ob sich die russische Zivilgesellschaft (ich meine natürlich die Gemeinschaft der zivilgesellschaftlich Handelnden oder noch genauer, das, was man heute NGOs nennt) gerade vom Kopf auf die Füße stellt. Grob gesagt, hat sie eine eher untypische Entwicklung durchgemacht. Mangels Breitenbasis und dank westlicher (finanzieller) Förderung waren Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre aus der leergefegten und nur dissidentisch jenseits des Staates organisierten Sowjetgesellschaft sogleich hoch entwickelte und spezialisierte NGOs entstanden. Die Phase der Inkubation in losen, meist informellen Gruppen haben diese Organisationen oft entweder sehr schnell hinter sich gebracht oder gleich übersprungen.
 Das hatte drei Gründe: Zum einen waren die politischen Ereignisse seinerzeit so beschleunigt, dass zu einer (gewissermaßen) natürlichen Entwicklung kaum Zeit blieb. Zum zweiten mussten die gerade neu entstandenen Organisationen und Zusammenschlüsse den zerfallenden und sich zurückziehenden (post)sowjetischen Staat in vielem ersetzen oder ergänzen. Die dazu notwendige Professionalität musste sehr schnell in einem beschleunigten Learning-By-Doing-Prozess erworben werden. Auch hier fehlte wieder (Entwicklungs-)Zeit.
 Drittens dann – Fluch der guten Tat – hat die schnell einsetzende, massive westliche Förderung die zarten russischen Zivilgesellschaftspflänzchen zwar gepäppelt und beim Wachstum gefördert. Der monetäre und ideologische Turbodünger hat aber nicht nur gut getan. Nicht wenige der so entstandenen NGOs glichen den sprichwörtlichen holländischen Tomaten: wunderschön glatte Haut, kaum verderblich, aber ohne Charakter und mit wenig Geschmack. Zudem hatten es nicht wenige dieser Pflanzen lediglich gelernt, nur unter kuscheligen Treibhausbedingungen zu gedeihen.
 Das alles hat vor allem zu zwei Problemen geführt (einem inneren und einem äußeren): Erstens wurde in der NGO-Szene zivilgesellschaftliches Engagement in vielem als Beruf wahrgenommen, als Tätigkeit, für die man bezahlt wird, und die auch bezahlt gehört. Freiwilligenarbeit, Spenden, ja auch Mitgliedsbeiträge waren lange Zeit weitgehend unbekannt. Auch die katastrophale wirtschaftliche Situation in den 1990er Jahren spielte hier sicher keine geringe Rolle. Entsprechend wurde (und wird) von vielen der Staat (oder wurden früher an dessen Stelle westliche, eben oft auch staatliche Geldgeber) als für die Finanzierung von NGO-Arbeit zuständig gehalten.
 Zweitens (das ist das äußere Problem) fiel es eben deshalb später – in den 2000er Jahren wie heute – dem nun von Putin regierten Staat umso leichter, unabhängige zivilgesellschaftliche Tätigkeit als fremd- und außengesteuert zu denunzieren. Dieses staatlicherseits systematisch verbreitete Narrativ ist der vielleicht wichtigste Grund, warum das "Agenten"-Argument so gut verfängt. Hinzu kommt allerdings, dass freiwilliges, uneigennütziges Engagement in der russischen Gesellschaft insgesamt immer noch eher mit Misstrauen betrachtet wird. Meist wird sofort die Cui-Bono-Frage gestellt.
 Zwar wird bezahlte (und damit meist professionelle) zivilgesellschaftliche Arbeit durch den staatlichen Druck nicht völlig verdrängt werden, dürfte aber in Zukunft weit weniger Platz einnehmen oder in vor allem sozialen Nischen überleben. Gleichzeitig, fast wie Ersatz, sprießen überall im Land neue Formen von Selbstorganisation. Einige davon habe ich in diesen Notizen in den vergangenen Monaten immer wieder beschrieben (Hier nur drei Beispiele: Externer Link: http://russland.boellblog.org/2017/05/25/renowazija/; Externer Link: http://russland.boellblog.org/2017/04/25/proteste-in-russland-eintagsfliegen-oder-tendenz/; Externer Link: http://russland.boellblog.org/2017/03/01/der-streit-um-die-isaaks-kathedrale-in-st-petersburg/).
 Das könnte natürlich alles zufälliges zeitliches Zusammenfallen sein (untersucht hat das meines Wissens noch niemand). Wahrscheinlicher aber scheint mir, dass der russische Staat durch seine repressiven und Beteiligung einschränkenden Handlungen wieder eine ganz normal-paradoxe Reaktion hervorruft und so die zivilgesellschaftliche Entwicklung erneut unfreiwillig vorantreibt, wie er das in den 2000er Jahren bereits getan hat. Die zunehmende Regulierung und Einschränkung von NGOs seit Putins Amtsantritt hat unter anderem dazu geführt, dass sich die NGOs ständig professionalisiert haben. Um überleben zu können, mussten sie schneller, geschickter, genauer und erfindungsreicher sein als der Staat. Erst Verbot und strafrechtlicher Druck bereiten nun diesem, wenn man so will, Wettbewerb ein Ende.
 Oder besser: Kein Ende. Denn zivilgesellschaftliches Engagement lässt sich nicht unterbinden. Es findet immer, jedenfalls unter nichttotalitären Bedingungen, andere, neue Ausdrucksformen. In Russland sind das gegenwärtig an vielen Orten und in ganz unterschiedlichen Formen das, was man im Deutschen (heute fast schon ein wenig altmodisch klingend) wohl Graswurzelinitiativen nennen kann. Es sieht also ganz danach aus, als ob der Staat durch seinen Druck eine Entwicklung, wenn schon nicht angestoßen, so doch zumindest verstärkt hat, in deren Folge zivilgesellschaftliches Engagement vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Die russische Zivilgesellschaft, da bin ich sicher, schlägt gerade erst so richtig Wurzeln.
 Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/. Die Zeitschrift Osteuropa hat eine Liste von NGOs (Externer Link: https://www.zeitschrift-osteuropa.de/site/assets/files/10494/oe160608.pdf) zusammengestellt, die Russland als "ausländische Agenten" bezeichnet (Stand Ende 2016). Von den dort aufgelisteten 147 "Agenten" werden heute noch 93 NGOs im offiziellen Register des russischen Justizministeriums geführt (Stand 5. Juli 2017). Der Grund: die Liste der Zeitschrift Osteuropa enthält alle "Agenten" und alle Organisationen, die einmal als "Agenten" galten. Ehemalige "Agenten" sind jene NGOs, die entweder nach Aufnahme in das "Agentenregister" auf ausländisches Geld verzichtet haben und nach einem Jahr ihre Streichung beantragen konnten – die meist auch gewährt wurde – oder die sich, nachdem sie zu "Agenten" erklärt worden waren, aufgelöst haben.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-07-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-338/252219/notizen-aus-moskau-russische-zivilgesellschaft-vom-kopf-auf-die-fuesse/
Das zivilgesellschaftliche Engagement erfährt seit Beginn der Amtszeit von Präsident Wladimir Putin immer größere Einschränkungen. Spätestens mit dem Erlass des NGO-Agentengesetzes im Jahr 2012 erhöht sich der Druck auf unabhängige NGOs zunehmend und
[ "Zivilgesellschaft", "Wladimir Putin", "NGO-Agentengesetz", "Russland" ]
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Jens Berger | 13. Bundeskongress Politische Bildung – Ungleichheiten in der Demokratie | bpb.de
Jens Berger (© Privat) Jens Berger ist freier Journalist und politischer Blogger der ersten Stunde. Er ist Herausgeber des politischen Blogs „Spiegelfechter“ und als Redakteur bei den „NachDenkSeiten“ tätig, die als als größtes und bekanntestes politisches Blog Deutschlands gelten. Ferner schreibt er regelmäßige Kolumnen und Gastartikel für zahlreiche Zeitungen und Online-Medien. Seine beiden Bücher „Stresstest Deutschland“ und „Wem gehört Deutschland?“ sind im Westend Verlag erschienen. Berger hat in Göttingen VWL studiert. Jens Berger (© Privat)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-03-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/13-bundeskongress-politische-bildung-ungleichheiten-in-der-demokratie/202904/jens-berger/
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Rede von Thomas Krüger zum Empfang der Bundeszentrale für politische Bildung anlässlich "60 Jahre Israel" am 4. Mai 2008 in Tel Aviv | Presse | bpb.de
Sehr geehrter Herr Botschafter Kindermann, sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine besondere Freude, in diesen Tagen persönlich mit einer Delegation der Bundeszentrale für politische Bildung in Israel zu sein, um mit Ihnen, unseren Partnern, Referenten und Freunden den 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels zu feiern. Zu diesem besonderen Geburtstag möchte ich ihnen ein herzliches "Mazal Tov - Yom Holedet Sameach" entgegen bringen. Seit 45 Jahren führt die Bundeszentrale für politische Bildung Multiplikatoren und Multiplikatorinnen der politischen Bildung und Meinungsführer aus ganz Deutschland nach Israel, um ihnen in zehn bis zwölf Tagen die Vielfältigkeit, Lebendigkeit, aber auch Widersprüchlichkeit dieses faszinierenden Landes und seiner Menschen nahe zu bringen. Ich darf daher sicher zu Recht sagen, dass die Bundeszentrale für politische Bildung Israels wechselvolle Geschichte und die dynamische Entwicklung seiner Gesellschaft über Jahrzehnte kontinuierlich, aufmerksam und nie gleichgültig begleitet hat. Zwei Beispiele aus diesen Jahrzehnten verdeutlichen, dass dies manchmal auch ein hautnahes Miterleben war: So berichtete mir ein ehemaliger Mitarbeiter, einer der vielen passionierten Israelreisenden in unserem Hause, dass er sich mit einer zwar kleinen, aber ausgewählten Gruppe von Journalisten während des Yom-Kippur-Krieges und noch vor Ende der Kampfhandlungen auf eine Reise durch Ihr Land begeben habe. Dabei sei der Busfahrer der Gruppe mehrfach ausgewechselt worden, weil er jeweils als Reservesoldat eingezogen wurde. Eine andere Studienreisegruppe begann Ihren Aufenthalt genau am Abend des 4. November 1995, als Itzhak Rabin ermordet wurde und das ganze Land in Schmerz und Trauer erstarrte. An eine normale Programmdurchführung war in diesen Tagen natürlich nicht mehr zu denken. Das persönliche Erleben dieses Ausnahmezustandes hat den Teilnehmenden jedoch mehr über Israels Gesellschaft und die Sehnsucht seiner Menschen nach Frieden gezeigt, als akademische Vorträge es in diesem Moment vermocht hätten. Diese Beispiele ließen sich noch um viele weitere Ereignisse und Erlebnisse erweitern, durch die unsere Teilnehmenden quasi zu Zeitzeugen israelischer Geschichte geworden sind. Israel kann auf herausragende Erfolge in seiner 60jährigen Geschichte verweisen, von denen ich exemplarisch nur drei erwähnen möchte: Die Errichtung einer vitalen, pluralistischen und streitbaren Demokratie, die in der Region noch immer ihresgleichen sucht, die Integration von Millionen von Einwanderern aus über 120 Ländern mit ihren so unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und den Aufstieg zu einer der führenden Hightech-Nationen in der Welt, gewissermaßen eine Reise von Jaffa nach Java. Trotz der unbestrittenen Erfolgsgeschichte des jüdischen Staates ist der Wunsch der Gründerväter und -mütter, nämlich den nachfolgenden Generationen ein Leben in Frieden und Sicherheit zu garantieren, leider bis heute nicht in Erfüllung gegangen. Noch immer sieht sich Israel mit der Bedrohung von außen und terroristischen Angriffen konfrontiert, noch immer wird seine Existenz von vielen seiner Nachbarn in Frage gestellt. Und noch immer müssen israelische Familien mit der Sorge um ihre Söhne und Töchter leben, die einen gefahrvollen zwei- bzw. dreijährigen Armeedienst für die Sicherung der Existenz Israels ableisten müssen. Als zentrale Institution der politischen Bildung in Deutschland sehe ich es als unsere Pflicht und als Herausforderung zugleich an, über die anhaltende Bedrohung Israels und seiner Bürger, aber auch über die vielfältigen Facetten der israelischen Realität aufzuklären. Denn Israel ist sehr viel mehr, als die häufig in Deutschland und Europa medial vermittelten Bilder suggerieren. Die Teilnehmenden unserer Studienreisen sind in den vergangenen Jahrzehnten stets von dem großen Spektrum an Meinungen und Positionen sowie der Fähigkeit ihrer Gesprächspartner zu einer selbstkritischen Innenansicht überrascht, beeindruckt, ja geradezu verwirrt worden. Und bei aller positiven Verwirrung stand und steht am Ende einer Reise immer die Frage im Raum, was denn nun der geheimnisvolle Kitt ist, der Israel zusammenhält und israelische Identität ausmacht. Auch ich habe darauf keine abschließende Antwort. Vielleicht lässt sich dieses Phänomen am ehesten mit dem Wort "Israeliness" beschreiben. Oder wie Amos Oz es einmal formuliert hat: "Israel gefällt mir nicht, aber ich liebe es". Ich bin mir sicher, dass das Israel-Bild derjenigen, die mit uns das Land bereist haben, nicht mehr einem einfachen Schwarz-Weiß-Schema folgt. Und wichtig ist: Diese Erkenntnis behalten sie meist nicht für sich, sondern multiplizieren sie um ein vielfaches in ihrem beruflichen und privaten Umfeld. Unsere Aktivitäten werden sich zukünftig noch stärker den jungen Generationen unserer beiden Länder widmen, denn sie werden die deutsch-israelischen Brückenbauer der Zukunft sein. Gleichgelagerte Interessen in einer globalisierten Welt bieten insbesondere den jungen Generationen unserer beiden Länder die Chance, sich trotz unterschiedlicher religiöser, ethnischer und kultureller Hintergründe und historischer Belastungen einander anzunähern, Vorurteile und Stereotype zu durchbrechen. In den vergangenen Jahren haben wir bereits mit Erfolg spezielle Gruppen junger Erwachsener aus der Jugend- und Bildungsarbeit sowie junge Nachwuchsjournalisten ins Land geführt. Für einige der jungen Leute war dies sogar der Auftakt einer Art Liebesbeziehung zu Israel, die sich in mehrmonatigen Aufenthalten in einer israelischen Zeitungsredaktion oder als Volontär in einem Kibbutz fortsetzte und in ihrem Leben neue, nachhaltige Akzente setzte. In umgekehrter Richtung lädt die Bundeszentrale für politische Bildung im Juni diesen Jahres zwanzig junge Israelis zum deutschlandweit größten Festival junger Politik mit dem Namen "Berlin 08" ein, auf dem sich über 10.000 junger Leute in politischen und kulturellen Foren informieren und aktiv einbringen können. Die israelischen Gäste werden deutschen Jugendlichen in Workshops aus erster Hand über ihren Alltag in Israel und Themen, die sie persönlich bewegen, berichten. Neben zahlreichen aktuellen Publikationen und Online-Angeboten rückt die Bundeszentrale für politische Bildung das Thema "60 Jahre Israel" insbesondere durch kulturelle Veranstaltungen in Deutschland in den Fokus der Aufmerksamkeit. Kultur ist als globale Sprache über die klassischen Methoden der politischen Bildung hinaus besonders geeignet, das Lebensgefühl und die Lebensentwürfe der Menschen in Israel erfahrbar, ja spürbar zu machen. Zwei Projekte möchte ich besonders hervorheben: Gemeinsam mit dem Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin und der Jerusalem Cinematheque – Israel Film Archive widmen wir uns in einer großen Retrospektive dem israelischen Kino der 50er bis 70er Jahre, die uns eine weitgehend unbekannte Innenansicht Israels erlaubt. Diese einmalige filmische Retrospektive wird sich nicht auf Berlin beschränken, sondern im Laufe des Jahres noch in anderen deutschen Großstädten zu sehen sein. Das unbekannte, zeitgenössische Israel steht im Mittelpunkt eines bisher einzigartigen Musikprojekts mit dem Namen Iland, bei dem israelische und deutsche Bands unterschiedlicher populärer Musikrichtungen gemeinsam in Workshops arbeiten und Neues entwickeln. Dieses Projekt bietet die großartige Chance, durch die gemeinsame Sprache, nämlich die Musik, das kreative Potential junger Künstler aus beiden Ländern zusammen zu führen und Neues, Innovatives zu kreieren. Die Ergebnisse dieser ungewöhnlichen deutsch-israelischen Kooperation werden in Konzerten quer durch Deutschland vorgestellt werden. Mit den Studienreisen hier vor Ort und einer Fülle von Angeboten in Deutschland wird Israel auch zukünftig ein Schwerpunkt in der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung bleiben. Ich bin überzeugt, dass wir durch unsere Arbeit weiterhin viele Menschen in Deutschland für die Komplexität in Ihrem Land sensibilisieren, zu einem differenzierten Meinungsbild beitragen und neue Projekte zwischen Deutschen und Israelis anstoßen können. Ich freue mich, mit Ihnen heute Abend ein Stück israelischer Kultur erleben zu dürfen. Im Anschluss an diesen Empfang laden wir Sie ab 21:00 Uhr gemeinsam mit dem Goethe Institut Tel Aviv sehr herzlich zur Performance "Auch So! - Gam Kach!" der Theatergruppe Public Movement ein. An dieser Stelle möchte ich meinen persönlichen Dank den Kollegen des Goethe-Instituts, allen voran Dr. Georg Blochmann und Amos Dolav aussprechen, deren exzellente und unkomplizierte Kooperation dieses ungewöhnliche Kulturevent erst ermöglicht hat. ORCHIM MECHUBADIM, KAWOD LI LIFTOACH ET IRUA ZE SHEL HABUNDESZENTRALE FUER POLITISCHE BILDUNG LECHVOD SHISHIN SHANA LEISRAEL. ANI MEACHEL LACHEM EREW NAAIM WE MEHANE WE MEKAWE SHE MIFGASH ZE JITROM ET CHELKO LE CHIZUK KISHREI ISRAEL-GERMANIA. Toda Raba (Werte Gäste, es ist mir eine Ehre diese Veranstaltung der bpb zu Ehren 60 Jahre Israel zu eröffnen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und hoffe, dass diese Begegnung einen Beitrag zur Stärkung deutsch-israelischer Beziehungen leisten wird.) − Es gilt das gesprochene Wort −
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51140/rede-von-thomas-krueger-zum-empfang-der-bundeszentrale-fuer-politische-bildung-anlaesslich-60-jahre-israel-am-4-mai-2008-in-tel-aviv/
Seit 45 Jahren führt die bpb Multiplikatoren der politischen Bildung aus ganz Deutschland nach Israel, um ihnen in 10 bis 12 Tagen die Vielfältigkeit und Lebendigkeit dieses faszinierenden Landes nahe zu bringen. Thomas Krüger zum 60. Jahrestag der S
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Ökonomische Resilienz durch mehr Protektionismus? | Festung Europa? | bpb.de
Die Europäische Kommission hat im Frühjahr des vergangenen Jahres eine neue Fassung ihrer handelspolitischen Leitlinien (trade policy review) veröffentlicht. Im Zentrum dieser Leitlinien steht dabei der Begriff der "offenen strategischen Autonomie" als Ziel der europäischen Handelspolitik. Doch auf den ersten Blick scheinen sich aus dieser Zielstellung nicht leicht zu lösende Zielkonflikte zu ergeben: Bedeutet die Offenheit gegenüber dem internationalen Handel nicht gerade einen teilweisen Verzicht auf wirtschaftliche Autonomie? Und lässt sich im Umkehrschluss eine strategische Autonomie gegenüber autokratischen Regimen wie Russland oder China nicht nur durch einen Rückbau von Handelsbeziehungen hin zu einer "Festung Europa" erreichen? Es ist zweifelsohne ein Balanceakt, den die Europäische Union mit ihrer neuen handelspolitischen Agenda unter schwierigen weltwirtschaftlichen und geopolitischen Vorzeichen versucht. Im Folgenden möchten wir daher eine Standortbestimmung der europäischen Handelspolitik vornehmen. Dafür blicken wir zum einen zurück auf den bisherigen handelspolitischen Kurs der EU und setzen diesen in den internationalen Kontext. Zum anderen blicken wir auf neue Herausforderungen für die europäische Handelspolitik, die sich im Hinblick auf die Widerstandsfähigkeit internationaler Lieferketten und die geopolitische Bedeutung wirtschaftlicher Interdependenzen ergeben. Bedeutung des multilateralen Handelssystems für die EU Wie offen ist die EU gegenüber dem internationalen Handel? Ein guter Ausgangspunkt, um diese Frage zu beantworten, ist die EU-Zollpolitik. Die EU-Mitgliedstaaten bilden seit 1968 eine Zollunion mit einem gemeinsamen Außenzoll gegenüber Einfuhren aus Nicht-EU-Ländern. Wie in der Abbildung ersichtlich wird, fiel im Jahr 2021 für knapp 70 Prozent der EU-Importe kein Zoll an. Dies liegt zum großen Teil daran, dass die EU für viele Produkte den sogenannten Meistbegünstigungszollsatz auf Null gesetzt hat. Der Meistbegünstigungszollsatz ist der Zollsatz, den die EU nach dem Meistbegünstigungsprinzip (Most Favoured Nation, MFN) gegenüber allen anderen Mitgliedsländern der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) anwendet. Insgesamt erfolgten fast 80 Prozent aller EU-Einfuhren unter solchen MFN-Bedingungen. Dies betrifft beispielsweise den Handel mit großen Volkswirtschaften wie China, den USA und Indien, was die nach wie vor zentrale Bedeutung des multilateralen Handelssystems für den EU-Außenhandel verdeutlicht. Stillstand der WTO: Ungleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten Seit dem Abschluss der Uruguay-Runde und der Gründung der WTO im Jahr 1995 ist es jedoch zu keiner nennenswerten multilateralen Senkung von MFN-Zöllen mehr gekommen. Einer der Gründe für den Stillstand der Verhandlungen ist die Tatsache, dass die Zölle der Industrieländer bereits sehr niedrig sind, während die Zölle in vielen Entwicklungsländern immer noch relativ hoch sind. Während der durchschnittliche angewandte Meistbegünstigungszollsatz in Argentinien 13,4 Prozent, in Indien 18,3 Prozent und in Brasilien 13,3 Prozent beträgt, liegt er in den USA bei nur 3,4 Prozent, in Japan bei 4,2 Prozent und in der EU bei 5,2 Prozent. Das große Zollgefälle erschwert die Verhandlungen auf multilateraler Ebene, da die Industrieländer bei Verhandlungen über Zollsenkungen mit Schwellenländern weniger Spielraum für eigene Zollsenkungen haben. Ein genauerer Blick auf die angewandten Zölle zeigt allerdings auch für die EU eine durchaus große Heterogenität zwischen einzelnen Produktgruppen. Besonders auffällig sind die hohen angewandten Zölle im Agrarsektor. So fallen im Durchschnitt auf landwirtschaftliche Güter MFN-Zölle in Höhe von 11,7 Prozent an, während die durchschnittlichen Einfuhrzölle für Industriegüter bei etwa 4,1 Prozent liegen. Besonders hohe Zölle werden dabei insbesondere bei Einfuhren von Milchprodukten (39,5 Prozent), Zucker und Zuckerwaren (24,3 Prozent) sowie Getränke und Tabak (19,9 Prozent) erhoben. Für Maschinen, Metalle und Mineralien liegt der durchschnittlich angewandte MFN-Zollsatz dagegen bei rund zwei Prozent. Diese Zahlen weisen auf eine stark protektionistisch ausgerichtete Handelspolitik der EU im Agrarsektor hin und zeigen, dass die EU auch hinsichtlich ihrer Einfuhrzölle durchaus noch weitere Schritte in Richtung Handelsliberalisierung gehen kann. Die Ungleichgewichte zwischen den WTO-Mitgliedern gehen allerdings über Zölle hinaus. So machen beispielsweise Subventionen und exportbezogene Maßnahmen über 60 Prozent aller weltweit verhängten protektionistischen Maßnahmen aus. Die nationale Subventionspolitik ist ein zunehmender Grund für Handelsspannungen. Dies ist kein reines "China-Problem" und beschränkt sich auch nicht ausschließlich auf Industriesubventionen. Grundsätzlich können Subventionen beispielsweise in Krisenzeiten beschäftigungsstabilisierend wirken. Allerdings führen sie häufig auch zu "Market-share stealing"-Strategien, die den Marktzugang für andere Unternehmen erschweren. Um Wettbewerbsverzerrungen durch staatliche Subventionen zu vermeiden, ist die internationale Zusammenarbeit grundsätzlich von großer Bedeutung: Wenn solche Bemühungen nicht international koordiniert werden, könnten staatlich subventionierte Sektoren die Hauptprofiteure sein, da Unternehmen dies als Anlass zum "subsidy shopping" in verschiedenen Ländern nutzen können – Unternehmen suchen sich das höchste staatliche Förderangebot aus, mit hohen Kosten für den Staatshaushalt. Die EU-Kommission hat jüngst einen Vorschlag für ein neues Handelsschutzinstrument unterbreitet, um gegen Verzerrungen auf dem EU-Binnenmarkt durch ausländische Subventionen unilateral vorgehen zu können. Eine wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang, welche Instrumente und Regeln notwendig sind, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, ohne dabei protektionistische Partikularinteressen zu befördern. Dies betrifft neben Schutzmechanismen im Bereich von staatlichen Subventionen grundsätzlich auch andere Handelsschutzinstrumente. Dieses Beispiel zeigt, dass die Notwendigkeit zur multilateralen Zusammenarbeit im Rahmen der WTO weit über Zölle hinausgeht und eine vielschichtige Agenda umfasst. Die EU als Vorreiter bei Handelsabkommen Eine wichtige Entwicklung in der Handelspolitik seit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" ist die rasche Zunahme von Handelsabkommen. Allein in den ersten zehn Jahren nach der Gründung der WTO hat sich die Zahl der Handelsabkommen von 58 auf 188 mehr als verdreifacht. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren weiter gestiegen, wobei die derzeit größte Freihandelszone der Welt, die RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), im November 2020 entstanden ist. Die EU ist weltweit einer der Vorreiter, was die Anzahl der unterzeichneten Handelsabkommen angeht: Nach Angaben der WTO hat die EU 45 Handelsabkommen mit 77 Ländern abgeschlossen, auf die (exklusive der EU) rund ein Fünftel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) entfallen. Darunter sind mehrere kleine Länder und Inselstaaten, die in den vergangenen zehn Jahren Handelsabkommen mit der EU unterzeichnet haben, wie beispielweise Botswana, El Salvador oder St. Lucia, aber auch größere Volkswirtschaften wie Kanada, Singapur, Südkorea, Vietnam oder zuletzt das Vereinigte Königreich nach dem erfolgten Brexit. Moderne Handelsabkommen sind mit der Zeit wesentlich umfassender geworden, da sie neben Zollvereinbarungen auch weitere Regelungen wie beispielweise die Harmonisierung von Produktsicherheits- und Hygienestandards, Zulassungsverfahren, die Anerkennung geografischer Ursprungsbezeichnungen sowie den Zugang zu lokalen Dienstleistungsmärkten umfassen. Besonders für den Handel mit Dienstleistungen spielen weitreichende Handelsabkommen durch die Reduzierung von nichttarifären Handelsbarrieren eine zentrale Rolle. Ökonomische Studien zeigen, dass sie einen größeren Einfluss auf den Handel mit Dienstleistungen haben als auf den Handel mit Waren. Allerdings geht der Abschluss von vertieften Handelsabkommen häufig auch mit einem verstärkten Einsatz von unilateralen Handelsschutzinstrumenten einher, was wiederum zu einer Erhöhung von Handelsbarrieren führt. So werden beispielweise technische Handelshemmnisse und Antidumpingmaßnahmen oft aus klassischen protektionistischen Motiven heraus eingesetzt. Trotz des Erfolgs der EU hinsichtlich der Anzahl an Freihandelsabkommen im internationalen Vergleich erwiesen sich ihre jüngsten Verhandlungs- und Ratifizierungsprozesse jedoch häufig als langwierig, wie beispielweise die Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur oder das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und Westafrika zeigen. Gleichzeitig entstehen in Asien in raschem Tempo neue Wirtschaftsverflechtungen, wie beispielweise durch das RCEP-Abkommen, das handelspolitisch nicht tiefgreifend ist, aber die wirtschaftliche Integration innerhalb des asiatisch-pazifischen Raums dennoch voranbringen wird. Dies sollte ein Warnsignal für die EU sein, bei Verhandlungen über Freihandelsabkommen pragmatisch vorzugehen und zügige Verhandlungsabschlüsse anzustreben. Handelsabkommen und Ursprungsregeln Gerade auch im Vergleich zur multilateralen Handelsliberalisierung sind Freihandelsabkommen trotz ihres Namens nicht uneingeschränkt handelsfördernd. Erstens profitieren von bilateralen Handelsabkommen in der Regel vor allem die unterzeichnenden Länder, während die übrigen WTO-Mitgliedstaaten vergleichsweise schlechter gestellt werden, da sich ihr relativer Marktzugang verschlechtert. Aufgrund der niedrigeren Handelskosten innerhalb des Abkommens verschiebt sich der Handel zugunsten der jeweiligen Vertragspartner. Zweitens kann auch die tatsächliche Nutzung von Handelsabkommen durch Firmen gering ausfallen, denn sie ist meist mit hohen bürokratischen Hürden verbunden, die vor allem für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ein Hindernis darstellen. Ein wichtiges Beispiel hierfür sind Ursprungsregeln: Wenn die präferenziellen Zollsätze eines Handelsabkommens genutzt werden sollen, für bestimmte Waren aus bestimmten Gebieten also Zollvergünstigungen gewährt werden sollen, müssen in der Regel Exporteure einen Ursprungsnachweis erbringen, der die Produktion im Inland belegt. Auf diese Weise soll ausgeschlossen werden, dass Waren, die zuvor aus Drittländern importiert wurden, ebenfalls von den Vorteilen eines Handelsabkommens profitieren. Jedes Handelsabkommen hat dabei eigene Ursprungsregeln, die befolgt werden müssen, um präferenziellen Marktzugang zu erhalten. Aufgrund der mit den Ursprungsnachweisen verbundenen Kosten erschweren sie die Nutzung von Handelsabkommen und reduzieren somit ihren handelsliberalisierenden Charakter. Das Trade and Cooperation Agreement (TCA), das zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in Folge des Brexit unterzeichnet wurde und im Januar 2021 in Kraft getreten ist, illustriert die bürokratischen Hürden, die durch Ursprungsregeln entstehen können. Im Rahmen des TCA wurden grundsätzlich alle Zölle für den Warenhandel auf null Prozent festgesetzt. Dieser präferenzielle Marktzugang ist jedoch an die Bedingung geknüpft, dass die gehandelten Produkte die Ursprungsregeln erfüllen. Solche Regeln erschweren den Marktzugang insbesondere für KMU, da ein entsprechender Ursprungsnachweis in der Regel mit Fixkosten verbunden ist, die für diese Unternehmen prohibitiv sein können. Aber auch für große EU-Unternehmen, die in länderübergreifende Lieferketten mit dem Vereinigten Königreich integriert sind, erhöht sich der bürokratische Aufwand deutlich: Möchte ein Unternehmen im Vereinigten Königreich beispielsweise Waren in die EU exportieren, bei deren Produktion Vorleistungen aus Drittländern verwendet wurden, ist es möglich, dass dieses Produkt nicht mehr die entsprechenden Ursprungsregeln erfüllt. Statt der Nullzollsätze würden dann gegebenenfalls positive MFN-Zollsätze fällig werden. Trotz der weitreichenden Handelsliberalisierung im Rahmen des TCA in Form von Nullzollsätzen wurden in der Folge des Brexit also dennoch beachtliche Handelsbarrieren aufgebaut, die insbesondere internationale Wertschöpfungsketten zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich betreffen. Dass im Jahr 2021 für rund 16 Prozent der Importe aus dem Vereinigten Königreichs positive MFN-Zölle gezahlt wurden, verdeutlicht deren Bedeutung. Handelsintegration nach Innen und Außen Der Brexit bedeutet zwar eine Zäsur für den europäischen Integrationsprozess, doch er verdeutlicht auch, dass das Ausmaß der wirtschaftlichen Integration zwischen den EU-Mitgliedstaaten weder selbstverständlich noch irreversibel ist. Die Entstehung des europäischen Binnenmarktes, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen garantiert, hat nationale Handelsbarrieren drastisch gesenkt und zu enormen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten beigetragen. So zeigen beispielsweise die Ökonomen Keith Head und Thierry Mayer, dass das Niveau der EU-Wirtschaftsintegration in Teilbereichen wie dem Güterhandel durchaus vergleichbar ist mit der Integration zwischen den 50 US-Bundesstaaten. Dabei finden die Forscher empirische Evidenz dafür, dass die Senkung von Handelskosten innerhalb der EU von einem parallelen Abbau von Handelsbarrieren gegenüber Ländern außerhalb der EU begleitet wurde. Auch mehrere statistische Indikatoren belegen, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen der EU mit der Weltwirtschaft in jüngster Zeit weiter gewachsen sind. Selbst wenn man die Handelsströme zwischen einzelnen EU-Mitgliedstaaten herausrechnet, ist die EU vor den USA und China sowohl der weltweit größte Exporteur als auch Importeur von Waren und Dienstleistungen. Die Bedeutung ausländischer Märkte ist dabei für die EU als Ganzes betrachtet fast kontinuierlich gewachsen: Während 1995 rund 10 Prozent der gesamten Wertschöpfung der heutigen EU-Mitgliedstaaten von der Nachfrage außerhalb der EU-27 abhing, stieg dieser Wert auf 17,3 Prozent im Jahr 2018 an. Für die USA und China ist dagegen die Bedeutung der Auslandsnachfrage mit einem Anteil von 9,4 beziehungsweise 14,4 Prozent deutlich geringer und war in den vergangenen Jahren sogar rückläufig. Ebenso spielen importierte Vorleistungen eine wichtige Rolle für die europäische Wirtschaft. So basieren alleine 13,7 Prozent der EU-Exporte auf Wertschöpfung aus Ländern außerhalb der EU. Resilientere Lieferketten durch eine "Festung Europa"? Doch die weitreichenden außenwirtschaftlichen Verflechtungen der EU und der mit ihr verbundene handelspolitische Kurs stehen derzeit stärker denn je auf dem Prüfstand. So haben zum einen die im Zuge der Corona-Pandemie aufgetretenen massiven Lieferkettenstörungen und Transportschwierigkeiten Zweifel an der Verlässlichkeit von länderübergreifenden Produktionsnetzwerken wachsen lassen. Zum anderen ist nicht zuletzt durch den Krieg in der Ukraine die geopolitische Bedeutung wirtschaftlicher Interdependenzen verstärkt in den öffentlichen Fokus geraten. Vor diesem Hintergrund sind Forderungen nach einer Nationalisierung beziehungsweise Europäisierung von Lieferketten und einer wirtschaftlichen Entflechtung von Autokratien ("Decoupling") immer deutlicher zu vernehmen. Sollte die EU also auch handelspolitisch eine "Festung Europa" anstreben, um die Widerstandsfähigkeit von Lieferketten zu erhöhen und geoökonomische Verwundbarkeiten zu reduzieren? Grundsätzlich müsste eine breit angelegte Europäisierung von Lieferketten mit erheblichen wirtschaftlichen Einbußen erkauft werden. Eine Simulationsstudie des ifo Instituts zeigt, dass eine Rückverlagerung von Wertschöpfungsketten in die EU, die Türkei und Nordafrika ("Nearshoring") zu einem langfristigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts der EU von rund 4 Prozent führen würde. Die tatsächlichen Kosten einer solchen Abkopplungsstrategie wären aber wahrscheinlich sogar deutlich höher, denn in dem simulierten Szenario wird angenommen, dass kein Handelspartner der EU eine ähnliche Strategie verfolgt oder Vergeltungszölle als Gegenreaktion erhebt. Ein weltweiter Nearshoring-Trend wäre dagegen voraussichtlich mit noch weitaus größeren Wohlfahrtsverlusten verbunden. Gleichzeitig ist aber auch fraglich, inwieweit eine allgemeine Rückverlagerung von Produktionsstätten zurück in die EU tatsächlich zu widerstandsfähigeren Lieferketten führen würde. Aus ökonomischer Sicht ist es gerade der internationale Handel, der Unternehmen und Volkswirtschaften eine Art Versicherungsfunktion gegenüber länderspezifischen Schocks ermöglicht. Kommt es im In- oder Ausland zu Lieferunterbrechungen, ermöglichen es gut diversifizierte Handelsbeziehungen mit einer Vielzahl von Ländern und Regionen, diese zumindest teilweise aufzufangen. Eine breit angelegte Nearshoring-Strategie könnte dagegen zu einer stärkeren regionalen Konzentration von Lieferkettenrisiken führen. So zeigen mehrere ökonomische Studien unter Zuhilfenahme verschiedener Schockszenarien, dass die wirtschaftliche Stabilität durch Re- und Nearshoring im Allgemeinen nicht erhöht, sondern vielmehr reduziert wird, da sich die Risikostreuung auf diese Weise tendenziell verringert. Ähnliche Aspekte betreffen auch den Vorschlag, den Außenhandel mit Autokratien pauschal einzuschränken und stattdessen die Wirtschaftsbeziehungen mit demokratischen Staaten zu intensivieren ("Friendshoring"). Zwar wären die Wohlstandsverluste in einem solchen Szenario geringer als bei einer allgemeinen Europäisierung von Lieferketten, aber sie würden für die EU immer noch ein Vielfaches der Verluste bedeuten, die beispielsweise durch den Brexit verursacht wurden. Aufgrund der Vielschichtigkeit länderspezifischer Risiken, die nicht nur geopolitisch sein müssen, wäre zudem nicht garantiert, dass die ökonomische Resilienz der europäischen Wirtschaft auf diese Weise insgesamt gestärkt werden würde. Darüber hinaus ist es auch aus strategischen Gründen wichtig, die geopolitische Ambiguität wirtschaftlicher Interdependenzen zu berücksichtigen. Tiefergehende wirtschaftliche Verflechtungen können im Konfliktfall zu größeren negativen Auswirkungen für eine Volkswirtschaft führen. Sie bieten auch keine Garantie dafür, dass Konflikte nicht eskalieren oder Außenwirtschaftsbeziehungen nicht als Druckmittel eingesetzt werden. Doch gleichzeitig können intakte Außenwirtschaftsbeziehungen aufgrund ihrer Bedeutung für den Wohlstand eines Landes zumindest Anreize für kooperatives Verhalten schaffen und die Wahrscheinlichkeit dafür reduzieren, dass Wirtschaftsbeziehungen für geopolitische Zwecke überhaupt erst instrumentalisiert werden. Eine vollständige wirtschaftliche Entkopplung von Autokratien würde die Zusammenarbeit mit diesen Staaten bei der Bewältigung großer globaler Herausforderungen in anderen Politikbereichen, wie der Bekämpfung des Klimawandels, möglicherweise deutlich erschweren. Abhängigkeiten identifizieren und reduzieren Insgesamt erscheint es also fraglich, dass ein handelspolitischer Rückzug in die "Festung Europa" tatsächlich zu einem widerstandsfähigeren europäischen Wirtschaftsraum führen würde. Ein wichtiges Ziel der europäischen Handelspolitik sollte dagegen die Identifikation außenwirtschaftlicher Abhängigkeiten sowie ein systematisches Management der damit verbundenen wirtschaftlichen wie politischen Risiken sein. Dass Klumpenrisiken im Bereich der europäischen Außenwirtschaftsbeziehungen existieren, haben nicht zuletzt die Corona-Pandemie und die wirtschaftlichen Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine gezeigt. Auch kritische wirtschaftliche Abhängigkeiten gegenüber China sind zuletzt verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. So zeigt beispielsweise eine Studie der EU-Kommission, dass etwa 65 Prozent aller Rohstoffe, die für die Produktion von Elektromotoren benötigt werden, aus China geliefert werden. Um solche kritischen wirtschaftlichen Abhängigkeiten frühzeitig zu erkennen und die Lieferkettentransparenz zu erhöhen, bedarf es weiterer politischer Anstrengungen sowie eines verbesserten Informationsaustausches zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren. So könnten beispielsweise auf europäischer Ebene organisierte Lieferkettenstresstests für kritische Güter einen Beitrag zur Identifikation von möglichen Schwachstellen und strategischen Verwundbarkeiten im europäischen Außenhandel leisten. Für den Abbau kritischer Abhängigkeiten und die Gestaltung resilienter Lieferketten ist die Diversifizierung von Handelsbeziehungen essenziell. Besonders in diesem Bereich kommt der europäischen Handelspolitik eine entscheidende Rolle zu. Wie anfangs gezeigt wurde, wird nach wie vor ein Großteil des europäischen Handels im Rahmen des Meistbegünstigungsprinzips der WTO abgewickelt. Auch wenn die politischen Hürden groß sein mögen, sollte sich die EU weiterhin mit großem Engagement für eine ambitionierte WTO-Reform einsetzen, denn eine starke multilaterale Handelsordnung bietet die besten Voraussetzungen für gut diversifizierte Außenwirtschaftsbeziehungen. Daneben sollte es Ziel der EU-Handelspolitik sein, das bestehende Netz aus Freihandelsabkommen weiter auszubauen, um europäischen Unternehmen einen verbesserten Zugang zu wichtigen Absatz- und Beschaffungsmärkten zu ermöglichen und die bilaterale Zusammenarbeit mit Partnerländern zu stärken. Hier gilt es, sowohl die Verhandlungsprozesse als auch die Ratifizierung und Umsetzung von Handelsabkommen in Zukunft deutlich zu beschleunigen. Auch eine Vereinfachung und abkommensübergreifende Harmonisierung von Ursprungsregeln sollte für die Zukunft angestrebt werden. Vgl. Europäische Kommission, Überprüfung der Handelspolitik. Eine offene, nachhaltige und entschlossene Handelspolitik, 18.2.2021, Externer Link: https://trade.ec.europa.eu/doclib/html/159542.htm. Für knapp 17 Prozent der EU-Importe wurden im Vergleich zum MFN-Zollsatz zusätzliche Zollvergünstigungen (sogenannte Präferenzzölle) gewährt, die beispielsweise im Rahmen von Freihandelsabkommen vereinbart wurden. Vgl. WTO/ITC/UNCTAD, World Tariff Profiles 2022, Genf 2022. Die Zahlen beziehen sich auf einfache, nicht-handelsgewichtete Durchschnittswerte für das Jahr 2021. Vgl. ebd. Vgl. Simon J. Evenett, Protectionism, State Discrimination, and International Business Since the Onset of the Global Financial Crisis, in: Journal of International Business Policy 2/2019, S. 9–36. Vgl. Bernard Hoekman/Douglas Nelson, Rethinking International Subsidy Rules, in: The World Economy 43/2020, S. 3104–3132. Vgl. Giovanni Maggi, International Trade Agreements, in: Gita Gopinath/Elhanan Helpman/Kenneth Rogoff (Hrsg.), Handbook of International Economics, Bd. 4, Oxford-Amsterdam 2014, S. 317–390. Die RCEP, an der die zehn ASEAN-Staaten, China, Japan, Südkorea sowie Australien und Neuseeland teilnehmen, umfasst 28 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, 28 Prozent des Welthandels und 29 Prozent der Weltbevölkerung. Vgl. Lisandra Flach/Hannah Hildenbrand/Feodora Teti, The Regional Comprehensive Economic Partnership Agreement and Its Expected Effects on World Trade, in: Intereconomics 2/2021, S. 92–98. Eigene Berechnungen, basierend auf Angaben der Europäischen Kommission und der WTO zu Handelsabkommen sowie Daten der Weltbank zum BIP. Vgl. Swati Dhingra/Rebecca Freeman/Hanwei Huang, The Impact of Non-Tariff Barriers on Trade and Welfare, LSE Centre for Economic Performance, CEP Discussion Paper 1741/2021. Vgl. Hylke Vandenbussche/Maurizio Zanardi, What Explains the Proliferation of Antidumping Laws?, in: Economic Policy 23/2008, S. 94–138; Kjersti Nes/K. Aleks Schaefer, Retaliatory Use of Public Standards in Trade, in: Economic Inquiry 1/2020, S. 142–161. Vgl. Lisandra Flach/Feodora Teti, RCEP-Abkommen. Versteckte Auswirkungen, in: Wirtschaftsdienst 12/2020, S. 904. Vgl. Eurostat, International Trade in Goods – Tariffs, Juni 2022, Externer Link: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/images/7/7a/Chapter_2.6_june_2022_update.xlsx. Vgl. Keith Head/Thierry Mayer, The United States of Europe. A Gravity Model Evaluation of the Four Freedoms, in: Journal of Economic Perspectives 2/2021, S. 23–48. Vgl. OECD, Trade in Value Added (TiVA) 2021 database, Externer Link: http://oe.cd/tiva. Vgl. Florian Dorn et al., Langfristige Effekte von Deglobalisierung und Handelskriegen auf die deutsche Wirtschaft, ifo Institut, ifo Schnelldienst 9/2022. Dass die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die globale Wirtschaftsleistung mit nationalisierten Lieferketten noch stärker ausgefallen wäre als in einer Welt mit globalen Lieferketten, zeigen Barthélémy Bonadio et al., Global Supply Chains in the Pandemic, in: Journal of International Economics 133/2021, Artikel 103534. Eine weitere relevante Simulationsstudie ist Lucio D’Aguanno et al., Global Value Chains, Volatility and Safe Openness. Is Trade a Double-Edged Sword?, Bank of England Financial Stability Paper 46/2021. Vgl. Dorn et al. (Anm. 16). Vgl. Europäische Kommission, Critical Raw Materials for Strategic Technologies and Sectors in the EU. A Foresight Study, 3.9.2020, Externer Link: https://ec.europa.eu/docsroom/documents/42881. Vgl. David Simchi-Levi/Edith Simchi-Levi, We Need a Stress Test for Critical Supply Chains, in: Harvard Business Review, 28.4.2020, Externer Link: https://hbr.org/2020/04/we-need-a-stress-test-for-critical-supply-chains.
Article
Baur, Andreas | Flach, Lisandra
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-10-12T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/festung-europa-2022/514218/oekonomische-resilienz-durch-mehr-protektionismus/
In ihren handelspolitischen Leitlinien hat die EU-Kommission eine "offene strategische Autonomie" als Ziel ausgegeben. Sollte die EU angesichts aktueller Vorzeichen ihre Offenheit einschränken?
[ "Europäische Union", "Handel", "Handelspolitik", "Außenhandel", "Handelsabkommen", "Autonomie", "Protektionismus", "WTO", "Multilateralismus", "Zölle", "Zollregime", "Integration", "Lieferketten" ]
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Chronik: Vom 6. bis zum 19. November 2012 | Polen-Analysen | bpb.de
06.11.2012 Der Kandidat von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) für das Amt des Ministerpräsidenten, Piotr Gliński, distanziert sich von der These, dass das Flugzeugunglück von Smolensk (April 2010) die Folge eines Anschlags gewesen sei. Diese These vertritt der Vorsitzende von PiS, Jarosław Kaczyński, nach einem Bericht in der Tageszeitung»Rzeczpospolita«, der sich jedoch als Falschinformation erwiesen hatte. Daraufhin wurden der Chefredakteur der Zeitung sowie weitere Redakteure entlassen. Als Hypothese sollte die Idee aber im Rahmen der Aufklärung des Absturzes Beachtung finden, so Gliński. Der Bericht des Untersuchungsausschusses zum Flugzeugabsturz (der sog. Miller-Kommission) könne nicht ernsthaft als Aufklärung betrachtet werden. 07.11.2012 Ministerpräsident Donald Tusk gratuliert US-Präsident Barack Obama zu seiner Wiederwahl. Die kommenden vier Jahre seien eine Gelegenheit, den Dialog zwischen beiden Ländern zu intensivieren. Tusk hebt außerdem die engen Beziehungen zwischen beiden Ländern hervor. 08.11.2012 Nach Angaben von Staatspräsident Bronisław Komorowski wurde auf der Sitzung des Rates für Nationale Sicherheit (Rada Bezpieczeństwa Narodowego – RBN) über die Möglichkeit diskutiert, dass Faktoren außerhalb Polens die öffentliche Debatte über die Flugzeugkatastrophe von Smolensk (April 2010) in Polen auf destruktive Weise beeinflussen. Eingebracht hatte diesen Aspekt Zbigniew Ziobro, Mitglied des RBN und Vorsitzender von Solidarisches Polen von Zbigniew Ziobro (Solidarna Polska Zbigniewa Ziobra – SP). Komorowski teilt mit, dass er Institutionen aus dem Umfeld des Innenministeriums um entsprechende Informationen ersucht hat. Außerdem soll Generalstaatsanwalt Andrzej Seremet bei der nächsten Sitzung des RBN Auskunft geben, ob es eventuell Verdächtigungen hinsichtlich eines Anschlags auf das abgestürzte Flugzeug gibt. Zwar halte er diese Meinung für unbegründet, doch müsse ihr nachgegangen werden. 09.11.2012 Ministerpräsident Donald Tusk kündigt im Sejm an, dass der europäische Fiskalpakt auf der nächsten Sitzung des Sejm akzeptiert und zur Ratifizierung frei gegeben werden solle. Eine schnelle Annahme des Fiskalpakts bedeute, dass Polen bei Gesprächen über die Zukunft der Eurozone dabei sein werde, und dies entspreche dem Wunsch Polens, in der Mitte Europas zu sein. Für die Verhandlungen des EU-Haushalts 2014–2020, bei denen Polen 400 Mrd. Euro für sich aushandeln will, ruft Tusk zu überparteilicher Geschlossenheit auf. 10.11.2012 Der Pressesprecher von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), Artur Hofman, teilt mit, dass der Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński und das Führungsgremium von PiS am Nationalfeiertag der Unabhängigkeit (11.11.1918) Kränze am Grab von Staatsgründer Józef Piłsudski und von Lech Kaczyński (Staatspräsident 2005–2010) auf dem Wawel inKrakau niederlegen werden. Jarosław Kaczyński wird nichtan den geplanten Demonstrationszügen zum Tag der Unabhängigkeit in Warschau teilnehmen. 11.11.2012 Auf der Hauptkundgebung zum Nationalfeiertag der Unabhängigkeit (11.11.1918) ruft Staatspräsident Bronisław Komorowski in Warschau zu mehr Respekt gegenüber dem politischen Gegner auf. Das politische Leben in Polen sei übermäßig durch Streit vergiftet. Es gebe nur ein Polen, deshalb sollte man sich nicht gegenseitig verfluchen und ausschließen.An der sich anschließenden Demonstration unter dem Motto »Gemeinsam für das Unabhängige [Polen – Anm.d.Red.]« nehmen nach Angaben des Fernsehsenders TVP Info zirka 10.000 Personen teil. Während des von rechten Gruppierungen organisierten »Marsches der Unabhängigkeit« kam es zu Zusammenstößen zwischen Teilnehmern und der Polizei. 12.11.2012 Der Generalsekretär der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), Krzysztof Gawkowski, fordert das Verbot der rechtsextremen Organisationen Nationalradikales Lager (Obóz Narodowo-Radykalny – ONR) und Allpolnische Jugend (Młodzież Wszechpolska) nach den Ausschreitungen am Nationalfeiertag der Unabhängigkeit (11.11.). 13.11.2012 Nach Einschätzung von Innenminister Jarosław Gowin ist ein Verbot der rechtsextremen Organisationen Nationalradikales Lager (Obóz Narodowo-Radykalny – ONR) und Allpolnische Jugend (Młodzież Wszechpolska) nicht notwendig. Es bestehe nicht die Gefahr einer faschistischen oder extrem nationalistischen Radikalisierung in Polen, da es einen starken konservativen Flügel in Polen gebe. 14.11.2012 In Berlin finden die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen unter dem Vorsitz von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Donald Tusk statt. Thematisiert werden u. a. der EU-Haushalt 2014–2020 und die militärische Zusammenarbeit. 15.11.2012 Ministerpräsident Donald Tusk spricht mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, und dem Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, über den EU-Haushalt 2014–2020. Laut Tusk ist es wichtig, weniger Budgetkürzungen vorzunehmen und mehr Ausgaben für die Kohäsionspolitik einzuplanen. 16.11.2012 In Warschau findet ein Treffen der Landwirtschaftsminister der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) und der Ressortchefs aus Rumänien, Slowenien und Bulgarien statt. Die Minister sprechen sich gegen die Vorschläge der zypriotischen EU-Ratspräsidentschaft und des Präsidenten des EuropäischenRates aus, die Ausgaben für die EU-Landwirtschaft zu kürzen. In der kommenden Woche soll eine gemeinsame Stellungnahme der Länder vorgelegt werden. 17.11.2012 Auf dem Parteitag der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) wird Janusz Piechociński mit 547 Stimmen zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Der bisherige Vorsitzende, Wirtschaftsminister Waldemar Pawlak, unterliegt mit 530 Stimmen. Pawlak kündigt seinen Rücktritt als Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident an. 18.11.2012 In einem Interview mit der Tageszeitung»Gazeta Wyborcza« spricht sich Wirtschaftsminister Waldemar Pawlak gegen die Überlegung des neu gewählten Parteivorsitzenden der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), Janusz Piechociński, aus, dass der Parteichef nicht gleichzeitig der Regierung angehören sollte. Pawlak war am Vortag als PSL-Vorsitzender abgelöst worden. 19.11.2012 Waldemar Pawlak, Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident, reicht Ministerpräsident Donald Tusk sein Rücktrittsgesuch ein. Hintergrund ist seine Niederlage bei der Wahl des Parteivorsitzenden der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) vor zwei Tagen. Sie können die gesamte Chronik seit 2007 auch auf http://www.laender-analysen.de/polen/ unter dem Link »Chronik« lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
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Aktuelle Ereignisse aus Polen: Die Chronik vom 6. bis zum 19. November 2012.
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"Humanitäre Bemühungen", "zentrale Maßnahmen" | Deutschland Archiv | bpb.de
Sammelrezension zu: Ludwig A. Rehlinger: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989, mit einem Nachwort von Justus Vesting, Halle/S.: Mitteldeutscher Verlag 2011, 279 S., € 19,90, ISBN: 9783898128292. Andreas H. Apelt (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR, Halle/S.: Mitteldeutscher Verlag 2011, 120 S., € 9,95, ISBN: 9783898128599. Thomas von Lindheim: Bezahlte Freiheit. Der Häftlingsfreikauf zwischen beiden deutschen Staaten, Baden-Baden: Nomos 2011, 143 S., € 38,–, ISBN: 9783832964955. Michael Hollmann, Eberhard Kuhrt (Hg.): »Besondere Bemühungen« der Bundesregierung, Bd. 1: 1962 bis 1969, Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch, Bearb.: Elke-Ursel Hammer (Dokumente zur Deutschlandpolitik/DZD; Sonderbd.), München: Oldenbourg 2012, 810 S., € 84,80, ISBN: 9783486707199. Kaum ein Aspekt der über 40 Jahre währenden Teilung Deutschlands findet auch heute noch ein so großes öffentliches Interesse wie der "Freikauf". Unter diesem Begriff verbirgt sich ein Phänomen, das man auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs – aus nachvollziehbaren Gründen – so lange wie irgend möglich geheim halten wollte; was auf westlicher Seite natürlich auf die Dauer nicht durchzuhalten war. Hier sprach man lieber von "humanitären Bemühungen". Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) sprach intern von "zentralen Maßnahmen". Erst allmählich sickerte durch, was gemeint war: die Freilassung inhaftierter Westdeutscher und Bürger der DDR und Ausreisegenehmigungen für sie gegen materielle Leistungen der Bundesregierung. Die DDR-Führung leugnete offiziell bis zu ihrem Ende, dass es so etwas überhaupt gab. Ihr Vertreter, der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, sprach allenfalls verschämt vom Ersatz von Ausbildungskosten bei Ausreisen. Auch die verschiedenen Bundesregierungen brauchten nach der Wiedervereinigung noch 20 Jahre, bis sie sich zu einer wenigstens teilweisen Freigabe ihrer einschlägigen Akten entschlossen. Heute ist allen Interessierten klar: Die DDR-Führung hat über Jahrzehnte hinweg aus politischen Gründen in ihren Gefängnissen inhaftierte Menschen gegen Geld oder geldwerte Leistungen in den Westen entlassen. Darüber hinaus hat sie auch in erheblichem Umfang nicht inhaftierte Personen im Rahmen der sogenannten Familienzusammenführung unter ähnlichen Bedingungen in den Westen ausreisen lassen. Freikauf Ludwig A. Rehlinger, Freikauf (© Mitteldeutscher Verlag) Dass die Öffentlichkeit nach der Wiedervereinigung überhaupt einigermassen sachgerecht informiert wurde, liegt vor allem an Ludwig A. Rehlinger, der als Beamter im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (seit 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) in den 60er- und nochmals in den 80er-Jahren mit der Angelegenheit dienstlich befasst war. Seit er 1991 sein sehr präzises Erinnerungsbuch unter dem Titel "Freikauf" auf den Markt brachte, sind die oft abenteuerlichen Spekulationen der Vergangenheit durch sachliche Informationen ersetzt worden. Dieses Buch liegt nun in einer durchgesehenen Neuauflage des Mitteldeutschen Verlags vor. Auf Akten konnte sich Rehlinger auch dieses Mal nicht stützen. Es liegt zudem in der Natur der Sache, dass sein Erinnerungsvermögen für den Zeitraum von 1970 bis 1981, als er mit den "humanitären Bemühungen" dienstlich nicht befasst war, eingeschränkt ist. Aber das informative Nachwort des Historikers Justus Vesting bringt eine gute Übersicht über weitere Publikationen und Erkenntnisse der zeitgeschichtlichen Forschung zur Rolle des MfS und insbesondere zu der des Rechtsanwalts Wolfgang Vogel. Noch lange dürften jedoch die Erinnerungen von Ludwig Rehlinger eine unverzichtbare Quelle für die Erforschung dieses in jeder Beziehung heiklen Gegenstands der Zeitgeschichte sein. Bezahlte Freiheit Thomas von Lindheim, Bezahlte Freiheit (© Nomos) Inzwischen sind zum Thema auch einschlägige Akten des Ministeriums für Staatssicherheit aus den Beständen des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) erschlossen. Ein Fundstück aus der Frühzeit des Freikaufs wurde vor einigen Monaten im "Deutschland Archiv" publiziert. Es beweist nicht nur, dass das MfS – was wohl niemanden wirklich überrascht – von Anfang an seine Finger im Spiel hatte, sondern dass man sich auch auf diesem Gebiet vor leichtfertigen Interpretationen der Stasi-Akten hüten muß. Thomas von Lindheim, der den Vermerk des MfS-Majors Heinz Volpert vom 16. April 1963 im Archiv des BStU vorfand, zog daraus den Schluss, die damalige Bundesregierung habe die Personenauswahl der Freizukaufenden zunächst der DDR überlassen wollen. Das löste die (berechtigte) Empörung des mit der Sache befassten damaligen Regierungsrats Ludwig Rehlinger aus. Der Schluss kann auch nicht aus dem Vermerk Volperts gezogen werden. Dennoch wiederholt von Lindheim seine Fehlinterpretation in dem nun vorliegenden Band "Bezahlte Freiheit". Auch bei weiteren MfS-Akten, die von Lindheim zitiert, ist ein nicht immer sachgerechter Umgang mit der Hinterlassenschaft des MfS zu konstatieren. Ein Beispiel: Der Autor bringt "Beispiele für Abrechnungen" (61f), die schlicht unverständlich sind, ohne dass dies irgendwie problematisiert wird. Als Quelle dient eine im Original nicht abgedruckte MfS-Akte mit dem Aktenzeichen HA IX 13661. Aus ihr ergeben sich angeblich für die Jahre 1969–1972 "unsere Guthaben", "Leistungen der anderen Seite", sowie "Unsere Bewertung," die der "DDR-Bewertung" gegenübergestellt wird. Die Ausdrucksweise einer staatlichen DDR-Stelle kann das ja wohl nicht sein. Man wüsste aber schon gern, wie und bei wem "unsere Guthaben" in Höhe vieler Millionen D-Mark zustandegekommen sein sollen. Ludwig Rehlinger ist sich sicher, dass zu seiner Zeit erst gezahlt oder geliefert wurde, wenn die Freizukaufenden wirklich frei waren. War das unter Bundesminister Egon Franke und seinem Mitarbeiter Edgar Hirt in den Jahren 1970–1982 vielleicht anders? Gab es zeitweise eine Art "Swing", bei dem die DDR eine Vorauszahlung durch "Lieferung" von Personen auszugleichen hatte? Von Lindheim, der andererseits wohl zu Recht von "Sonderarrangements" spricht, die es abweichend vom "üblichen" Verfahren gegeben habe, hat das Problem offenbar nicht einmal gesehen. Erst durch den jetzt veröffentlichten, nachfolgend besprochenen Sonderband der Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD) wird im Einzelnen wenigstens für die 60er-Jahre nachvollziehbar, wie bei diesem "Geschäft" mit Leistung und Gegenleistung umgegangen wurde. Zu Unrecht behauptet von Lindheim, "für die Abwicklung der Freikaufaktion (sei) das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen und das diesem nachgeordnete Gesamtdeutsche Institut zuständig" gewesen. Bei letzterem war eine derartige Zuständigkeit nie gegeben; im Gegenteil – das Institut war gehalten, alle Eingänge, die "humanitäre Bemühungen" betrafen, sofort an das Ministerium weiterzuleiten. Aus der Tatsache, dass im Gesamtdeutschen Institut eine Kartei mit bekanntgewordenen Haftfällen in der DDR geführt wurde und Haftbescheinigungen ausgestellt wurden, die zu Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz berechtigten, kann jedenfalls nicht auf eine Mitwirkung beim Freikauf geschlossen werden. Auch wenn das Werk von Lindheims einige durchaus interessante Aktenstücke des MfS aus der Zeit nach 1969 enthält, die bislang nicht bekannt waren, muss leider festgestellt werden, dass die Qualität seiner Edition mit der des Sonderbandes der DzD nicht annähernd mithalten kann. Quellenangaben sind teilweise fehlerhaft, Zusammenhänge werden nicht erläutert oder sogar falsch dargestellt, manchmal wird einfach spekuliert – so wenn Thomas von Lindheim behauptet, Ludwig A. Rehlinger habe sich mit den beiden Rechtsanwälten Jürgen Stange (West) und Wolfgang Vogel (Ost) "menschlich gut verstanden" (22). In Bezug auf letzteren mag ein gewisses Vertrauensverhältnis im Laufe der Jahre tatsächlich entstanden sein, das aber nie so weit ging wie etwa bei seinem Bundesminister Herbert Wehner, der sich allein 1969 siebenmal zu Gesprächen mit Wolfgang Vogel traf, ohne dass die zuständigen Fachbeamten hinzugezogen wurden. Rehlingers Beziehungen zu Stange waren ein nüchternes Verhältnis der Zusammenarbeit, allerdings auf auf einem besonders heiklen und der Geheimhaltung bedürftigen Gebiet. Frühzeitig hat sich jedoch zwischen Stange und Vogel eine so enge persönliche Beziehung entwickelt, dass der Mitteilungsdrang des West-Berliners sogar das MfS verwunderte. Flucht, Ausreise, Freikauf Andreas H. Apelt (Hg.), Flucht, Ausreise, Freikauf (© Mitteldeutscher Verlag) So berechtigt das öffentliche Interesse an dem Thema Freikauf auch war und ist, dies "Geschäft" war nie die einzige Möglichkeit, der von vielen ihrer Einwohner als riesiges Gefängnis empfundenen DDR zu entkommen. Durch Flucht, aber auch durch genehmigte Ausreisen sind noch nach dem Bau der Mauer 1961 weitere Hunderttausende von Deutschen aus der DDR in den Westen gelangt. Mit diesen Fällen hat sich anlässlich des 50. Jahrestages der Errichtung der Mauer eine Tagung der Deutschen Gesellschaft e. V. beschäftigt, deren Ergebnisse nunmehr publiziert wurden. Die sorgfältig gestaltete Edition berücksichtigt alle wesentlichen Elemente von Flucht, Ausreisebewegung und Freikäufen. Massenfluchten, die anfangs noch möglich waren, und Einzelfälle, die nicht selten tödlich endeten, werden geschildert. In erheblichem Umfang wurde Fluchthilfe aus dem Westen geleistet, meist aus purem Idealismus und unter erheblichen Gefahren auch für die Helfer. Dabei wird die im Laufe der Zeit unvermeidlich eingetretene Kommerzialisierung und Professionalisierung der Fluchthilfe nicht verschwiegen. Der Ausbau der Grenzanlagen sowie die Unterwanderung und Zerschlagung vieler Fluchthilfeorganisationen durch das MfS führten zu einem Rückgang der erfolgreichen Fluchtfälle. Parallel dazu nahm die sogenannte Ausreisebewegung einen stetig wachsenden Umfang an, bei der versucht wurde, die DDR-Behörden auf die eine oder andere Weise zur Genehmigung einer Ausreise für Einzelne oder ganze Familien zu bewegen. Diese Bemühungen überschnitten sich oft mit denen der Bundesregierung bei sogenannten Familienzusammenführungen. Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass Fluchten, legale Ausreisen und Freikäufe aller Art auch nach 1961 noch zu Einwohnerverlusten der DDR in Höhe von weit über einer halben Million führten. Und häufig waren es agile und gut ausgebildete Menschen, die für Westdeutschland eine Bereicherung, aber für die DDR einen schwer zu ersetzenden Verlust bedeuteten. Im letzten Kapitel des von Andreas H. Apelt herausgegebenen Buches wird eine Diskussion dokumentiert, an der neben anderen Ludwig A. Rehlinger und Elke-Ursel Hammer, Archivarin im Bundesarchiv und Bearbeiterin der Kommentare zu den Dokumenten des nachfolgend rezensierten ersten Bandes einer Edition von Aktenstücken über die Besonderen Humanitären Bemühungen der Bundesregierung, teilnahmen. Die Schwierigkeiten, die aus der bislang mangelnden Bereitschaft der verschiedenen Bundesregierungen resultierten, alle Unterlagen zum Thema Freikauf zur Publikation freizugeben, werden freimütig diskutiert. Nun, ein Jahr später, kann man an Hand des Sonderbandes aus der Reihe der "Dokumente zur Deutschlandpolitik" (DzD) studieren, ob die neue Publikation diese Schwierugkeiten beseitigt hat. "Besondere Bemühungen" der Bundesregierung Besondere Bemühungen (© Oldenbourg) Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Es handelt sich um eine mustergültige Edition, die durch eine 80-seitige Einführung, ausführliche und sachgerechte Kommentierung der insgesamt 442 ausgewählten Dokumente aus Ost und West, Literaturverzeichnis sowie Sach- und Personenregister besticht. Wenngleich immer noch nicht sämtliche einschlägigen Dokumente, die im Bundesarchiv vorhanden sind, zur Veröffentlichung freigegeben wurden, wie Elke-Ursel Hammer mitteilt, so bleiben doch nicht mehr allzu viele Fragen offen. Dem Datenschutz ist es geschuldet, dass in vielen Fällen die Namen der freizukaufenden oder auszutauschenden Häftlinge auf die Initialen beschränkt wurden. Dennoch werden die häufig erschütternden Umstände der jeweiligen Fälle geschildert, soweit sie ermittelt werden konnten. Durch beigegebene Literaturangaben und Hinweise auf Presseartikel können sicherlich auch manche Klarnamen ohne allzu große Mühe herausgefunden werden. Über die erheblichen Summen, die aus dem Bundeshaushalt aufgebracht wurden (bis Ende 1969 fast 200 Millionen DM), wird detailliert berichtet. Nur aus den ebenfalls nicht unbedeutenden Summen, die die Rechtsanwälte Jürgen Stange (West) und Wolfgang Vogel (Ost) von der Bundesregierung für ihre in der Tat umfangreichen Bemühungen als Honorar erhalten haben und die sich in den 60er-Jahren jährlich im sechsstelligen DM-Bereich bewegten, wird immer noch ein Geheimnis gemacht. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, das mit einigen wenigen Aktenstücken vertreten ist, konnte sich nicht dazu entschließen, die Namen von deren Verfassern bekanntzugeben. Dennoch: Viele Unklarheiten, die bislang noch über die Anfänge der Freikaufaktionen der verschiedenen Bundesregierungen bestanden, können nun als beseitigt gelten. Als Beispiel sei der oben erwähnte Vermerk des MfS-Majors Heinz Volpert vom 16. April 1963 erwähnt, der hier als Dokument Nr. 10 veröffentlicht wird. Über die Vorgeschichte berichten vier weitere Vermerke Volperts (Dok. 5–8), von denen der älteste vom 12. Januar 1963 datiert und die alle aus der Akte des "Geheimen Mitarbeiters 'Georg'" stammen, hinter dem sich als "zuverlässige Quelle" der in Ost- und West-Berlin zugelassene Rechtsanwalt Wolfgang Vogel verbarg. Vogel übernahm häufig Mandate von in der DDR inhaftierten Westdeutschen und hatte auch schon mehrfach an privaten oder kirchlichen Freikaufaktionen mitgewirkt. Bei ihm erschien am 7. Januar 1963 der Hamburger Ölkaufmann Otto Dinse und behauptete, er sei autorisiert zu erklären, dass das Bundeswirtschaftsministerium in Bonn interessiert sei, mit der DDR zu ähnlichen Vereinbarungen zu kommen, wie sie die USA im vorausgegangenen Jahr mit Kuba getroffen habe, als es darum ging, die bei dem gescheiterten Schweinebucht-Abenteuer festgenommenen "Konterrevolutionäre" wieder in die Vereinigten Staaten zurückzuholen. Dabei sei mit Warenlieferungen gezahlt worden. Der Gedanke, etwas ähnliches mit der DDR zu versuchen, lag seither sozusagen in der Luft. Der Leiter einer US-Mission in Berlin, Francis J. Meehan, lud am 6. Februar 1963 die Rechtsanwälte Stange und Vogel zu einem Mittagessen in seine Wohnung ein und erkundigte sich, ob bei einem Projekt Gefangenenaustausch gegen "hohen Kredit" oder sonstige wirtschaftliche Leistungen etwas zu machen sei. Darauf bezieht sich also der Hinweis Volperts in seinem Vermerk vom 10. April 1963, wo er von einer Ergänzung zu dem "beabsichtigten Geschäft Kredit – Häftlinge" spricht (Dok. 10). Ende Februar hatte das MfS den Eindruck, im Westen wolle man die Bundesregierung völlig aus dem Geschäft heraushalten und stattdessen "Industriekreise", nämlich die Firmen Krupp, Thyssen und Axel Springer, vorschieben. Auch Hans Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, sei dieser Ansicht (Dok. 7). Vier Wochen später jedoch hatte sich der "Kanal" Bundesregierung (Rechtsanwalt Jürgen Stange) – DDR (MfS/Rechtsanwalt Wolfgang Vogel) bereits verfestigt (Dok. 8). Im Westen war man sich allerdings noch nicht über Auftraggeber und Aufgabe Vogels im Klaren. Der Bundesminister Rainer Barzel wunderte sich, dass der bislang so erfolgreiche Anwalt von der DDR noch keinen Dauer-Passierschein für Verhandlungen auch in West-Berlin erhalten habe. Der MfS-Major Heinz Volpert erkannte, dass man im Westen hoffe, Wolfgang Vogel sei im Auftrage des DDR-Generalstaatsanwalts Josef Streit und nicht des Ministeriums für Staatssicherheit tätig. Also beschloss man, Vogel entsprechend aufzuwerten. Der Anwalt erhielt die auch von ihm gewünschte Dauergenehmigung für Westreisen, sowie ein ausdrückliches Verhandlungsmandat von Streit. Das beruhigte seine Verhandlungspartner im Westen, änderte aber nichts daran, dass es auch weiterhin das MfS war, bei dem die Informationen zusammenliefen und wo die zu treffenden Entscheidungen bezüglich Austausch und Freikauf erarbeitet wurden. Durch die Publikation eines wichtigen Teils der Stasi-Akten, soweit sie erhalten geblieben sind, kann jetzt ein unmittelbarer Vergleich mit den entsprechenden Unterlagen auf der Westseite vorgenommen werden. Dies ermöglicht hochinteressante Einblicke in Entscheidungsabläufe auf beiden Seiten der Front im Kalten Krieg. War bei der Freilassung der ersten acht Gefangenen von der Bundesregierung noch bar bezahlt worden, worüber Rehlinger in seinem Buch ausführlich berichtet, so wollte die Bundesregierung in der Folge das Verfahren ändern. Man wusste, dass die Evangelische Kirche bei entsprechenden Geschäften mit der DDR die Zahlungsmodalitäten dem Diakonischen Werk überlassen hatte und dass dort insbesondere dessen Direktor Ludwig Geißel über erhebliche Erfahrungen verfügte. Diesem Modell wollte man sich anschließen. Auf dieser Grundlage wurde erstmalig im Spätsommer 1964 die Freilassung von mehreren Hundert, zum Teil seit langem einsitzenden politischen Gefangenen erreicht. Dieses Verfahren wurde im Prinzip auch in den folgenden Jahren angewandt. Dabei galt folgendes: Verhandelt wurde von Anwälten. Rechtsanwalt Vogel erklärte, im Besitz einer Vollmacht des Generalstaatsanwalt der DDR zu sein. Sein West-Berliner Kollege Stange erklärte dasselbe für die beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik und fügte hinzu, die Bundesregierung sei über alles informiert und billige und unterstütze das Vorhaben. Die materielle Gegenleistung des Westens bestand – abgesehen von einigen Personen, die ausgetauscht wurden – grundsätzlich in Warenlieferungen. Die Auswahl der Waren oblag der DDR, wobei die Bundesregierung Wert darauf legte, dass die Güter auch zur Verbesserung der Versorgungslage der Bevölkerung in der DDR geeignet waren. 1965 handelte es sich um Lieferungen von Mais, Butter, Ölen, Kaffee und Stickstoff (Düngemittel) sowie Rutilsand, Kautschuk, Aktivruß und Kadmium (Dok. 110 A). Die Bundesregierung stellte dem Direktor des Diakonischen Werkes eine bestimmte Geldsumme zur Verfügung, der entsprechend Ludwig Geißel die von der DDR gewünschten Waren bei Westfirmen bestellte und nach Lieferung bezahlte. Soweit die Kirchen bis zu diesem Zeitpunkt bei ihren eigenen Unternehmungen auch Barzahlungen vorgenommen hatten, musste auf diese Möglichkeit fortan verzichtet werden (Dok. 118, Anm. 3). Anfangs konnte die Bundesregierung noch mit gutem Gewissen behaupten, die Waren dienten unmittelbar der besseren Versorgung der Menschen in der DDR. Bald bürgerte es sich allerdings ein, in großem Umfang Waren zu liefern, zum Beispiel Erdölprodukte, aber auch Silber oder Industrie-Diamanten, die die DDR-Führung für die industrielle Produktion benötigte oder notfalls auch schnell und ohne besondere Umstände wieder zu Geld machen konnte. Auf jeden Fall – und das war in den 60er-Jahren noch sehr wichtig – konnte damals nicht behauptet werden, die Bundesregierung habe das Regime in der "Zone" anerkannt. Das änderte sich erst mit dem Abschluss des Grundlagenvertrags 1972. Auch für die Einschätzung der Rolle und der Möglichkeiten des Rechtsanwalts Wolfgang Vogel bietet die vorliegende Veröffentlichung von Dokumenten wichtiges Material. Vogel genoss als DDR-Rechtsanwalt mit erheblichen Erfahrungen in Ost-West-Angelegenheiten bereits vor 1963 bei Anwälten und Mandanten in beiden Teilen Deutschlands einen überwiegend guten Ruf. Viele hielten ihn für einen unabhängigen Vermittler zwischen Ost und West. Vogel selbst hat sich stets – auch mit Hilfe der Gerichte – gegen die Unterstellung gewehrt, er sei Mitarbeiter des MfS gewesen. Dies kann jedoch nicht mehr ernsthaft bestritten werden. Vogel wurde zumindest in den 60er-Jahren vom MfS gesteuert und hat diesem über alle relevanten Vorgänge umfangreich und genau berichtet. Das Anwaltsgeheimnis stellte dabei nie ein Problem dar. Vogel war frühzeitig die Möglichkeit eingeräumt worden, unmittelbar persönlich auch mit Entscheidungsträgern im Westen zusammenzutreffen (Rainer Barzel, Erich Mende und besonders Herbert Wehner). Insofern wurde die Verhandlungsposition des Rechtsanwalts Jürgen Stange aufgeweicht. Vogel wurde zunehmend auch von der westlichen Seite als Mann ihres Vertrauens betrachtet und dementsprechend honoriert, was in dieser Absolutheit wohl nicht berechtigt war. Dennoch war der gute Ruf, den Vogel im Westen genoss, nicht ganz unberechtigt. Vogel war von seinem Charakter und von seiner Intelligenz her in der Lage, sich auch im geschlossenen System des MfS eine gewisse geistige Unabhängigkeit zu bewahren und im Einzelfall sowohl im Osten als auch im Westen sachdienliche Ratschläge zu geben und manchmal sogar durchzusetzen. Dabei war es ihm wichtig, nie etwas zu versprechen, was er nicht halten konnte, und möglichst nichts zu behaupten, was sich später als unwahr herausstellen könnte. Im Westen behauptete er nie, in der DDR entscheidenden Einfluss zu besitzen; er könne nur Ratschläge erteilen. Und so war es wohl auch. Aber Vogels Ratschläge hielten die heiklen Geschäfte, die er betrieb, bis zur Wiedervereinigung am Laufen, nicht zuletzt auch zu seinem eigenen materiellen Nutzen. Im politischen Bonn war man sich dessen bewusst, dass der Westen mit seinem grundsätzlich humanitären Anliegen durch die östlichen Stellen erpressbar war. Man akzeptierte, dass das kommunistische "Zonen"-Regime durch die vom Westen bezahlten Lieferungen in gewisser Weise stabilisiert wurde. Schnell erkannte man, dass die DDR-Führung die materiellen Leistungen des Westens schon bald in ihrem Etat fest einplante. Sie hatte das Bestreben, "Freikäufe" zu einer Dauereinrichtung werden zu lassen, was ursprünglich im Westen nicht so beabsichtigt war. Nachdem Mitte der 60er-Jahre die meisten "Langstrafer" – aktive Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime – freigekommen waren, konzentrierte sich jetzt das Interesse auf gescheiterte Flüchtlinge und verhaftete Fluchthelfer (häufig Studenten) aus dem Westen. Besonders intensiv gefeilscht wurde um die zahlreichen Agenten etwa des Bundesnachrichtendienstes (BND) in DDR-Gefängnissen. In diesem Bereich ging es nicht nur um Geld, sondern immer auch um Austausch von Gefangenen, die der Westen allerdings nur beschränkt zur Verfügung hatte. Da die zuständigen westlichen Stellen keine vollständige Übersicht über politische Häftlinge im Osten hatten, war die Bundesregierung auch auf entsprechende Hinweise aus der DDR angewiesen. Deren Stellen versuchten auch, auf diese Weise rein kriminelle Personen gewinnbringend in den Westen abzuschieben. Zurückweisen konnte die Bundesregierung solche Personen, die meist die (gesamt-)deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, natürlich nicht. Wenn die Hintergründe bekannt wurden, lehnte sie aber entsprechende Bezahlungen ab. Dennoch haben diese "Zugaben" der DDR, wenn die Personen im Westen erneut straffällig wurden, die Akzeptanz der Freikäufe durch die westdeutsche Bevölkerung belastet. Die Bundesregierung konnte – wegen der mit der DDR vereinbarten Geheimhaltung – die Öffentlichkeit ja nicht über alle Einzelheiten der Aktion informieren. Da echte politische Gefangene, die die DDR-Führung in den Westen "verkaufen" wollte, nach den großen Entlassungsaktionen in den Jahren 1964–1966 nicht mehr unbegrenzt zur Verfügung standen, ließ sie sich in der Folgezeit, um ihre devisenähnlichen Einnahmen nicht zu gefährden, zunehmend auch auf Geschäfte mit Familienzusammenführungen ein. Anfangs betraf das vor allem Familien, die durch die Sperrmaßnahmen vom 13. August 1961 auseinandergerissen worden waren. Kostete in dieser Zeit der einzelne Häftling etwa 40.000 DM, so waren arbeitsfähige Erwachsene in diesen "F"-Fällen schon für 11 500 DM zu haben. Rentner ließ man während der ganzen Existenz der DDR, abgesehen von Sicherheitsfällen, immer problemlos ausreisen. Sie entlasteten ja die Rentenkassen und den Wohnungsmarkt im Osten. Nur bei Ausreisegenehmigungen für Kinder hatte die DDR-Führung Skrupel, geldwerte Leistungen zu verlangen. Sie wollte sich nicht dem Verdacht aussetzen, die Zukunft ihres Volkes an "Kapitalisten" und "Imperialisten" zu verkaufen. Allerdings verstand sie es in anderen Fällen durchaus, auch Kinder als politisches Druckmittel einzusetzen. Insgesamt kann man sagen, dass bis zum Ende der DDR nicht nur die Haftfälle, sondern auch und gerade die Familienfälle immer wieder nachwuchsen. Das überraschte schon 1969 den damaligen Ministerialrat Rehlinger, der in einem Vermerk festhielt: "In bezug auf die Familienzusammenführung und die Kinderrückführung ist bemerkenswert abschließend festzuhalten, dass ständig neue Anliegen auftreten; obwohl die Beteiligten die Schwierigkeiten kennen bzw. kennen müssen, werden neue Verlöbnisse geschlossen und Kinder geboren, deren Eltern in der DDR und in der Bundesrepublik beheimatet sind. Es ist dies auch politisch gesehen ein erstaunliches Zeichen." (Dok. 395) – Daran änderte sich bis Ende 1989 nichts; im Gegenteil. Dies ist vor allem nach 1972 auf die durch die Vertragspolitik geschaffenen neuen Einreisemöglichkeiten in die DDR für West-Berliner und Bundesbürger zurückzuführen, die die verwandtschaftlichen Beziehungen stärkten und neue ermöglichten. Das Interesse vor allem der Ostseite an Geheimhaltung der Freikauf-Verhandlungen und ihrer Ergebnisse war groß. Sie musste allerdings bald zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung überfordert war, wenn man von ihr verlangte, sie solle Medienberichte generell unterbinden. Dies gelang allenfalls in Einzelfällen durch Überzeugungsarbeit, wenn etwa das ZDF bewogen wurde, auf die Ausstrahlung eines Films über einen Sorgerechtsstreit um ein Kind, das bei Verwandten im Westen lebte und eine erziehungsberechtigte Mutter im Osten hatte, im Interesse der Sache zu verzichten (Dok. 182 u. 306). Ansonsten musste auch das MfS erkennen, dass sich westliche staatliche Stellen zwar zum Schweigen verpflichten konnten, dass man aber die Medien weder an Recherchen noch an Veröffentlichungen zum Thema Freikauf hindern konnte. Es gab einfach zu viele Mitwisser. Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auch auf das kommunistische Regime. Ab 1966 berichteten entlassene Strafgefangene, die Verfahren in der DDR seien justizförmiger geworden, Prügel und andere Foltermaßnahmen bei Vernehmungen und im Strafvollzug gebe es kaum noch, ausgesprochen schikanöse Behandlung sei selten geworden. DDR-Strafvollzugsbedienstete konnten nicht mehr sicher sein, dass etwaige Schandtaten im Westen nicht bekannt würden. Im ersten Jahrzehnt des Freikaufs von Menschen aus DDR-Haft und der Ermöglichung von Übersiedlungen in den Westen in relativ großem Umfang wurden Erleichterungen im humanitären Bereich erreicht, obwohl zu dieser Zeit noch keinerlei offizielle Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin auf der einen Seite und der DDR (einschließlich Ost-Berlin) auf der anderen Seite bestanden. Das Thema "Anerkennung der DDR" war in dieser Zeit im Westen hoch umstritten und teilweise tabuisiert. Daran änderte sich erst etwas, als nach 1969 die neue Ostpolitik der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt und Walter Scheel mit dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu einer wechselseitigen, allerdings nicht völkerrechtlichen Anerkennung führte. Nunmehr brauchte sich die Westseite bei der Erteilung eines Mandats an Rechtsanwälte für Verhandlungen mit dem Osten nicht mehr hinter dem Rücken der Kirchen zu verstecken. Dennoch blieb in der Folgezeit bis zur Wiedervereinigung gerade im humanitären Bereich manches erhalten, was schon in den 60er-Jahren erprobt worden war: die Verhandlungen über Anwälte, die Saldierung von Unterhaltsansprüchen von Kindern über die Grenze hinweg, um Auszahlungen im jeweils anderen Währungsgebiet zu ermöglichen (in den hier veröffentlichten Dokumenten nicht ganz korrekt als "Mündelgelder" bezeichnet), der Gefangenenaustausch in Spionagefällen und manches mehr. Auch das wechselseitige Misstrauen blieb – allen Entspannungsbemühungen zum Trotz – eine Konstante. Man war und blieb "Gegner", wenn nicht gar "Feind" im Kalten Krieg. Eine abschließende Beurteilung der Frage, ob die hier behandelten humanitären Bemühungen politisch mehr der Ost- oder der Westseite genützt haben, ist auch auf der Basis dieses höchst informativen Sonderbandes der DzD für die Jahre von 1962 bis 1969 noch nicht möglich. Dafür bedarf es noch der Vorlage des angekündigten Folgebandes für die Zeit bis Ende 1989. Es ist sehr zu hoffen, dass er zeitnah erscheinen kann, zumal im Zusammenhang mit der Affäre Hirt – der Ministerialdirektor hatte mehrere Millionen D-Mark, die für humanitäre Maßnahmen bestimmt waren, für andere Zwecke verwendet – oder vor dem Hintergrund, dass in den 80er-Jahren selbst in Westdeutschland die Angst vor einer Destabilisierung der DDR um sich griff, auch noch einige politische Überraschungen möglich wären. Schon jetzt kann man jedenfalls für die 60er-Jahre sagen, dass die DDR-Führung zwar erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Vorteile aus dem Freikauf erzielte und durch das Abschieben von inneren Gegnern auch zeitweise für mehr "Ruhe im Karton" sorgen konnte, aber insgesamt politisch und ideologisch doch einen hohen Preis zahlen musste. Er hat wahrscheinlich nicht wenig zu ihrem unrühmlichen Ende beigetragen. Ludwig A. Rehlinger, Freikauf (© Mitteldeutscher Verlag) Thomas von Lindheim, Bezahlte Freiheit (© Nomos) Andreas H. Apelt (Hg.), Flucht, Ausreise, Freikauf (© Mitteldeutscher Verlag) Besondere Bemühungen (© Oldenbourg) Vgl. zur Entstehung zuletzt Reymar von Wedel, Die Entstehung der "Haftaktion", Interner Link: http://www.bpb.de/139629, sowie Jan Philipp Wölbern, Die Entstehung des "Häftlingsfreikaufs", 1962–1964, in: DA 41 (2008) 5, S. 856–867, u. die Anmerkungen dazu v. Norbert F. Pötzl, Ein abstruser Stasi-Vermerk und eine spekulative These, in: DA 41 (2008) 6, S. 1032–1035, u. v. Reymar von Wedel, Stellungnahme, ebd. S. 1035f, sowie die Replik Wölberns, in: DA 42 (2009) 1, S. 82–86. Operative Information der Hauptabteilung V/5, in: DA 44 (2011) 3, S. 383f, kommentiert v. Detlef Kühn, Häftlingsfreikauf, ebd., S. 381f. Ebd. "So war die Aktion zunächst keinesfalls auf politische Häftlinge beschränkt. Nach einer Mitteilung von Stange an Volpert war die Bundesregierung auch damit einverstanden, d. h. sie wollte zunächst die Personenauswahl der DDR überlassen, war also an einem bestimmten Personenkreis nicht interessiert, mit der Maßgabe, dass es sich um Westdeutshe oder Westberliner handeln müsse." (18) Thomas von Lindheim verkennt zudem, dass es sich bei der angeblichen Mitteilung des Rechtsanwalts Jürgen Stange nicht um eine solche an Heinz Volpert, sondern an den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel handelt, der dann seinen Führungsoffizier Volpert informierte. Vgl. Dok. 11 u. 15 des nachfolgend angezeigten DzD-Sonderbandes. S. hierzu auch Dok. 131, 135 u. insb. 394, Anm.1. Dok. 6, Anm. 4, s. auch Dok. 11. Dok. Nr. 15 v. 21.6.1963. Dok. Nr. 50 v. 15.5.1964.
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Detlef Kühn
"2022-09-02T00:00:00"
"2012-09-20T00:00:00"
"2022-09-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/144699/humanitaere-bemuehungen-zentrale-massnahmen/
In Bonn sprach man von "humanitären Bemühungen", in Ost-Berlin von "zentralen Maßnahmen". Gemeint war der "Freikauf" von politischen Häftlingen aus der DDR durch die Bundesregierung. Das Thema findet bis heute ein großes öffentliches Interesse.
[ "Freikauf", "politische Haft", "innerdeutsche Beziehungen", "Ministerium für Staatssicherheit", "Deutschland", "Bundesrepublik Deutschland", "DDR", "Bonn", "Berlin", "Hamburg" ]
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Bildungsleistungen und langfristiges Wirtschaftswachstum (1960-2000) | Bildung | bpb.de
Der Bildungsstand der Bevölkerung eines Landes ist mit seiner wirtschaftlichen Entwicklung aufs engste verknüpft. So können Ökonomen zeigen, dass Länder, die bei den seit Mitte der 1960er Jahre international durchgeführten Schulleistungsstudien gut abschnitten, ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum erzielten, als Länder, die bei diesen Studien schlecht abschnitten. Während z. B. Singapur (SGP) als eines der Länder mit den höchsten Bildungsleistungen jährlich mit durchschnittlich über 6 Prozent gewachsen ist, lag die Wachstumsrate von Peru (PER) als einem der Länder mit den niedrigsten Bildungsleistungen bei unter 1 Prozent. Diese Grafik finden Sie im Text Interner Link: "Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Bildung" von Ludger Wößmann.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-14T00:00:00"
"2015-01-26T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/199758/bildungsleistungen-und-langfristiges-wirtschaftswachstum-1960-2000/
Verknüpfung des Bildungsstands der Bevölkerung eines Landes mit seiner wirtschaftlichen Entwicklung
[ "Bildungsleistung", "Wirtschaftswachstum" ]
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Authors | South Africa | bpb.de
Coordination: Dr. Malte Steinbrink is social geographer at the Institute for Geography (IfG) and member of the Institute for Migration Research and Intercultural Studies (IMIS) of the University of Osnabrück, Germany. He is Senior Research Fellow at the University of Johannesburg (UJ). His research interests comprise geographic development and mobility research (especially migration and tourism) with a special focus on social inequalities and processes of urbanization in the Global South. Email: E-Mail Link: malte.steinbrink@uni-osnabrueck.de About the Authors Frauke Peisker holds a bachelor's degree in political sciences and sociology of the University of Erlangen-Nuremberg and is currently enrolled in the master's program "International Migration and Intercultural Relations" at the University of Osnabrück, Germany. Email: E-Mail Link: frauke.peisker@googlemail.com Kim Katharina Runge is a student in the master's program "Economic and Social Geography" at the University of Osnabrück, Germany. Email: E-Mail Link: kim.katharina.runge@googlemail.com Berenike Schauwinhold is a student in the master's program "Economic and Social Geography" at the University of Osnabrück, Germany. Email: E-Mail Link: berenike.schauwinhold@gmail.com Katharina Schilling holds a bachelor's degree in social work of the Catholic University of Applied Sciences North Rhine-Westphalia (Cologne) and is currently enrolled in the master's program "International Migration and Intercultural Relations" at the University of Osnabrück, Germany .Email: E-Mail Link: schilling-k@gmx.de Jan-Berent Schmidt is member of staff of the Research Network Osnabrück and enrolled in the master's program "Economic and Social Geography" at the University of Osnabrück, Germany. Email: E-Mail Link: jaschmid@uni-osnabrueck.de Rita Schmidt is a student in the master's program "International Migration and Intercultural Relations" at the University of Osnabrück, Germany. Email: E-Mail Link: rita.schmidt88@gmx.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2015-02-13T00:00:00"
"2015-02-12T00:00:00"
"2015-02-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/200995/authors/
This country profile is the result of a seminar at the Institute for Geography of the University of Osnabrück, Germany.
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Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. | Landtagswahl Bayern 2018 | bpb.de
Gründungsjahr 1945* Mitgliederzahl 140.284 (Stand 31.08.2018)* Parteivorsitz Horst Seehofer* Wahlergebnis 2013 47,7 Prozent *nach Angaben der Partei Die "Christlich-Soziale Union in Bayern e.V." (CSU) ist eine christlich-konservative Partei, die bei allen Wahlen ausschließlich in Bayern antritt. 1945 entstand die CSU als interkonfessionelle Sammlungsbewegung mit einem breiten programmatischen Spektrum, das soziale und liberale Elemente mit einschließt. Seit 1949 ist sie in einer festen Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Deutschen Bundestag. Mit der Ausnahme von 1954 bis 1957 ist die CSU seit 1946 Regierungspartei des Freistaats und stellt als stärkste Fraktion im Bayerischen Landtag den Ministerpräsidenten. Bis auf eine kurze Unterbrechung von 2003 bis 2008 konnte sie seit 1966 die absolute Mehrheit im Landtag halten. An allen unions-geführten Regierungen im Bund war die CSU beteiligt. Daraus leitet sie für sich die Rolle als "Hüterin der bayerischen Interessen" ab. Sie gilt als erfolgreichste deutsche Regionalpartei. Die CSU strebt eine Verschmelzung von Tradition und Moderne an, was sich in dem selbstgewählten Motto von "Laptop und Lederhose" ausdrückt. Die CSU tritt in ganz Bayern zur Wahl an. Interner Link: Eine Übersicht über alle zugelassenen Landeslisten finden Sie hier. (bpb, TUBS) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Im Vorfeld der Landtagswahl hat die CSU unter dem Titel "Ja zu Bayern!" ein Wahlprogramm veröffentlicht und seit dem Amtsantritt des Ministerpräsidenten Markus Söder im Frühjahr 2018 zahlreiche politische Vorhaben skizziert. Dabei setzt die CSU auf Digitalisierung in der Verwaltung und Wirtschaft. 50.000 Klassenzimmer sollen besser ausgestattet, das schnelle Internet und die Mobilfunkversorgung ausgebaut werden. Über stärkere Förderung und den staatlichen Bau von Wohnungen will die CSU den sozialen Wohnungsbau und die Schaffung von Wohneigentum vorantreiben. Über ein eigenes Landespflegegeld sollen noch vor der Landtagswahl die Angehörigen von Pflegebedürftigen finanziell unterstützt werden. Insgesamt dominiert allerdings das Thema Sicherheit den CSU-Wahlkampf. Seit den stark angestiegenen Zahlen Asylsuchender des Jahres 2015 tritt die CSU für ein verschärftes Asylrecht und harte Grenzkontrollen ein. Die CSU führte bereits eine "Bayerische Grenzpolizei" ein und möchte "mit eigenen Abschiebeflügen die Zahl der Rückführungen" steigern. Die CSU wird im Landtagswahlkampf 2018 von einer Doppelspitze geführt: dem Bayerischen Ministerpräsidenten und Spitzenkandidaten Markus Söder und dem Bundesinnenminister Horst Seehofer als Parteivorsitzenden. Gründungsjahr 1945* Mitgliederzahl 140.284 (Stand 31.08.2018)* Parteivorsitz Horst Seehofer* Wahlergebnis 2013 47,7 Prozent *nach Angaben der Partei Die CSU tritt in ganz Bayern zur Wahl an. Interner Link: Eine Übersicht über alle zugelassenen Landeslisten finden Sie hier. (bpb, TUBS) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
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"2018-09-20T00:00:00"
"2018-08-21T00:00:00"
"2018-09-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/bayern-2018/274554/christlich-soziale-union-in-bayern-e-v/
Die CSU ist eine christlich-konservative Partei, die ausschließlich in Bayern zu Wahlen antritt. Seit 1957 stellt sie ununterbrochen den Bayerischen Ministerpräsidenten. Im Wahlkampf tritt sie u.a. für Grenzkontrollen, die Förderung des Wohnungsbaus
[ "Landtagswahl Bayern 2018", "Wer steht zur Wahl", "CSU", "Bayern" ]
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Freiheit durch Sicherheit? | Verwundbarkeit hochindustrieller Gesellschaften - Innere Sicherheit - Demokratie | bpb.de
I. Rechtsstaat und Präventionsstaat Vor sieben Jahren habe ich Vielfalt, Sicherheit und Solidarität in ihrer doppelten Gestalt als Verfassungsideale einerseits und existenzielle Grundbefindlichkeiten andererseits beschrieben. Interner Link: PDF-Version: 71 KB Nunmehr hat die "neue Dimension des Terrorismus" dem Gesetzgeber ein "neues Sicherheitskonzept" abgefordert, das einen ersten paragraphenreichen Ausdruck in dem "Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz)" gefunden hat. Dieses ist am 1. Januar 2002 in Kraft getreten und in wesentlichen Teilen auf fünf Jahre befristet. So neu ist das Sicherheitskonzept freilich nicht, vielmehr ist es die konsequente Frucht eines Sicherheitsdenkens im Präventionsstaat, wie dies spätestens seit dem "Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität" vom 15. Juli 1992 mit zahlreichen Normierungen zum Ausdruck gekommen ist, vom Lauschangriff bis zur Raster- oder Schleierfahndung und zur Überwachung des nicht leitungsgebundenen internationalen Fernmeldeverkehrs. Die bei der Aufklärung des Massenmordes vom 11. September 2001 sichtbar gewordenen kriminellen Bedrohungsstrukturen stellen die Grundmuster des rechtsstaatlich scharf konturierten Polizei- und Sicherheitsrechts auf eine harte Probe. Da hat es die Polizei nicht mehr (nur) mit einer sichtbaren, situativ und personell individuierten, zeitlich abschätzbaren, eben konkreten Gefahr zu tun, sondern mit einer unabsehbar großen Zahl einzelner, unsichtbarer und unbekannter Risikoquellen, die nach jahre- oder jahrzehntelanger Latenz - also vollkommener polizeilicher "Unauffälligkeit" - plötzlich an unvermutetem Ort und in unvorhersehbarer Art und Weise, aber mit höchster, vor Selbstzerstörung nicht zurückschreckender Tatenergie aktiv werden. Der betrunkene Randalierer, der gewalttätige Demonstrant ist sichtbar und sein Verhalten einschätzbar, auch der geiselnehmende Bankräuber, der seine Beute in Sicherheit bringen will, ist kalkulierbar; ganze Krimi-Serien "leben" von dem Duell strategischer Züge zwischen Täter und Detektiv, deren Rationalität der Zuschauer nachvollziehen soll. Ganz anders der "Schläfer", der jahrelang friedlich-freundlich, seine Gefährlichkeit verbergend unter uns lebt, seinen Studien nachgeht, eine preiswürdige Diplomarbeit schreibt und dann eines Tages, synchron mit seinesgleichen, mit unerhörter Wucht und Brutalität zuschlägt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, des "schonendsten Mittels", greift nicht gegenüber dem, der weder sich noch andere schonen will, gegenüber dem Selbstmord-Attentäter. Die Auswahl des "geeigneten Mittels" wird unmöglich, wo die Mittel-Zweck-Relation in jeder Hinsicht unbestimmt ist, weil die Gefahr zwar existent, hinsichtlich ihrer Modalitäten aber völlig unbekannt ist. Nicht anders verhält es sich hinsichtlich des zweiten großen Aufgabenfeldes der Polizei, der Strafverfolgung. Ihre "repressiven" Befugnisse eröffnen sich erst, wenn ein konkreter Tatverdacht, wenigstens als "Anfangsverdacht" einer konkreten Straftat, vorliegt. Das "Vorfeld" strafrechtlich relevanten Verhaltens, etwa unterhalb der Schwelle des Tatbestandes der "Volksverhetzung" (§ 130 StGB), ist weit. Es ist nicht Aufgabe der Polizei, extremen Überzeugungen oder Gesinnungen nachzuforschen, solange sie nicht in konkreten Taten ihren (strafbaren) Niederschlag finden. "Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtig wird, ist schon verurteilt." Hegel meinte gerade nicht den auf bestimmte Tatsachen gestützten Tatverdacht im Sinne der Strafprozessordnung, sondern den bloßen Gesinnungsverdacht, welcher dem jakobinischen Tugendterror als Anknüpfung genügte, um die (proklamierte) Herrschaft der Gesetze durch die (praktizierte) Herrschaft der Guillotine zu ersetzen. Man darf an diesen Erfahrungshintergrund ebenso erinnern wie an seine spezifisch deutsche Reprise im nationalsozialistischen Tugendterror der "Geheimen Staatspolizei" (Gestapo), wenn man sich heute die rechtsstaatliche Funktion einer funktionalen und organisatorischen Trennung von Verfassungsschutz und Polizei klar vor Augen führen will. In Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945 kann man nachlesen, welch lebensrettende "Rechts-Wohltat" es für den Betroffenen bedeutet, durch ein (vielleicht hartes, aber immerhin) Urteil der ordentlichen Justiz zu einer "gewöhnlichen" Gefängnisstrafe verurteilt zu werden, anstatt ohne jegliches Verfahren (denn Folter-Verhöre sind keine "Verfahren" in diesem Sinne) sogleich der Gestapo-Einweisung in ein "Schutzhaftlager", d. h. KZ, oder dem Abtransport in ein Vernichtungslager anheimzufallen. Hier ist möglicherweise absichtsvollen Missverständnissen vorzubeugen: Die historische Erinnerung impliziert nicht die Behauptung, mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz befänden wir uns bereits wieder auf dem Weg zu einem mit dem NS-System vergleichbaren Sicherheits-Verbund. Eine solche Behauptung wäre aus mehreren Gründen falsch. Zum einen bleiben wesentliche Grundlagen des bisherigen Verfassungsschutzrechts unangetastet: das Gesetzmäßigkeitsprinzip, das Gebot der organisatorischen Trennung von Polizei und Nachrichtendienst sowie der Ausschluss polizeilicher Zwangsbefugnisse. Bei Auskunftsersuchen des Verfassungsschutzamtes darf dieses selbst nur die für die Ermöglichung der Auskunft unerlässlichen personenbezogenen Daten an die ersuchte Stelle übermitteln, eine Konsequenz des selbstverständlich zu beachtenden Übermaßverbots (§ 8 Abs. 1 [neu] BVerfSchG). Zum anderen wirkt die föderale Struktur des Aufbaus der Sicherheitsbehörden trotz des informationellen "Zusammenwachsens" immer noch gewaltenteilend und -begrenzend. Um den Unterschied zwischen dem damaligen einheitlichen und zentralisierten NS-Sicherheitsrecht und dem heutigen gegliederten Polizei- und Verfassungsschutzrecht klar zu erfassen, lese man einmal das Regelwerk der 22 Artikel des Terrorismusbekämpfungsgesetzes, und dann ziehe man den Vergleich zu der bekannten Definition des nationalsozialistischen Polizeirechts. Nach dieser "hat die Polizei als ,Hüterin der Gemeinschaft' . . . überall dort einzuschreiten, wo deren Belange es erfordern. Weder ist dafür ein gesetzlicher Auftrag notwendig, noch gibt es eine sie hindernde gesetzliche Schranke; ihr Ziel ist die innere Sicherheit der deutschen Volksordnung gegen jede Störung und Zerstörung. Ihre Tätigkeit darf durch Normen weder gebunden noch beschränkt werden, das nationalsozialistische Polizeirecht muss vielmehr mit den bisherigen Spezial- und Generallegitimationen brechen" . Die historische Erinnerung ist dennoch nützlich, ja unerlässlich; sie hilft, die feine, beinahe unsichtbare Grenze zu erkennen, an welcher der Rechtsstaat in den Präventionsstaat übergeht. Beide gehorchen den Regeln jeweils spezifischer Funktionslogiken, jener denen der Freiheit und der Autonomie, dieser denen der Sicherheitsmaximierung und der instrumentellen Effizienz. Es geht allerdings nicht um ein schroffes Entweder-oder, sondern angesichts der terroristischen Bedrohung besteht die Aufgabe darin, die ideale Kombination der beiden Zielsetzungen in der Weise zu finden, dass das maximale Maß an Freiheit durch eine optimale Gewährleistung von Sicherheit erhalten wird. Dass hier die Balance nicht einfach zu finden und zu halten ist, zeigt sich in den gegensätzlichen Einschätzungen desselben Gesetzestextes durch die maßgeblichen Politiker: Während die rot-grüne Koalition ihren Entwurf in der aus der internen Kritik und der öffentlichen Anhörung (am 30. November 2001) hervorgegangenen "gereinigten" Fassung als die gelungene Verbindung der "strenge(n) Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien mit der notwendigen Effektivität bei der Kriminalitätsbekämpfung und Terrorprävention" lobt, sehen die Oppositionsparteien teils die Rechtsstaatlichkeit gefährdet (FDP und PDS), teils im Gegenteil das Sicherheitsbedürfnis verfehlt (CDU/CSU). Wer hat Recht? Sicher ist nur eines: Die Probleme lassen sich nicht durch Pauschalforderungen oder -angebote lösen. Weder das verfassungsrechtlich nicht begründbare Postulat einer Informationseinheit sämtlicher Sicherheitsbehörden, das seinerzeit (1983/84) gegen die "Erfindung" des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das Bundesverfassungsgericht und die damit erforderliche "informationelle Gewaltenteilung" ins Feld geführt wurde, noch andererseits das Menetekel vom "Überwachungsstaat" sind in ihrer Undifferenziertheit geeignet, die (scheinbare) Quadratur des Zirkels von Freiheit und Sicherheit zu lösen. Selbstverständlich erfordert die Terrorismusbekämpfung ein Stück "Überwachungsstaat" - die Frage ist nur, wieviel, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Mitteln, in welchen Verfahren und mit welchen Kontrollen? II. Hauptelemente der Sicherheitsstrategie Hält man sich die Geschehnisse vom 11. September, ihre Entstehungsgeschichte, die Biographien der Akteure, deren soziales und religiöses Umfeld sowie die realen Bedingungen ähnlich motivierter, organisierter und gesteuerter Terroraktionen vor Augen, so liegen die legislativen Themenfelder einer möglichen Präventionsstrategie auf der Hand. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz greift sie auf: - Erkennung und Beobachtung gewaltbereiter und möglicherweise gewaltvorbereitender "Bestrebungen" mit grenzüberschreitenden Bezügen. Hier sind, im weiten Vorfeld eigentlicher Polizeiarbeit, auch die Nachrichtendienste mit allerdings veränderter Aufgabenstellung gefordert (Verfassungsschutzämter, MAD, BND); - Sicherung besonders sicherheitsempfindlicher lebens- oder verteidigungswichtiger Einrichtungen durch "vorbeugenden personellen Sabotageschutz", z. B. durch die Ergänzung des Sicherheitsüberprüfungs- und des Luftverkehrsgesetzes; - Sicherung der Identitätsfeststellungen (Passgesetz, Personalausweisgesetz); - Überwachung des Vereinslebens ausländischer Mitbürger; - Ausweitung der Kompetenzen des Bundeskriminalamtes; - Überwachung des Ein- und Ausreiseverkehrs, Verschärfung des Visumverfahrens und der Ausweisungsmöglichkeiten (Ausländergesetz, Asylverfahrensgesetz, Nebengesetze); - Sicherung der Energieversorgung gegen Störungen (Energiesicherungsgesetz); - Evaluation der wichtigsten Maßnahmen und Befristung der Regelungen. 1. Verfassungsschutz Die zentrale Rolle, die dem Bundesamt für Verfassungsschutz und - unter bestimmten Voraussetzungen - auch den Landesämtern künftig bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zugedacht ist, wird nur sichtbar, wenn man die Befugniserweiterungen (§ 8 Abs. 5 bis 11, § 9 Abs. 4 BVerfSchG) zusammen mit der Aufgabenerweiterung in den Blick nimmt. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 (neu) BVerfSchG gehört zu den Aufgaben des Amtes künftig auch das Sammeln und Auswerten von Informationen über "Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind". Der Gedanke der Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben der Völker sind ebenso schutz- und förderungswürdig wie der "Tatbestand" einer "dagegen gerichteten Bestrebung" höchst unbestimmt und nahezu uferlos weit ist. Ein "Pfingsttreffen" der Sudetendeutschen, bei dem das Unrecht ihrer Vertreibung geltend gemacht wird, kann ebenso darunter fallen wie die Forderung auf Anerkennung der "Rückkehr" der Palästinenser oder die Unterstützung einer der zahllosen Autonomiebestrebungen auf der Welt. Gewaltanwendung oder Gewaltvorbereitung sind - im Unterschied zu dem mit der bisherigen Klausel des § 3 Abs. 1 Nr. 3 erfassten "Ausländerextremismus" - nicht Voraussetzung für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Im Hinblick auf die weitreichenden neuen Befugnisse zur Überwachung der Geld-, Transport- und Reisebewegungen sowie des Postverkehrs und der Telekommunikationsverbindungs- und Teledienstenutzungsdaten erwartet man in der Gesetzesbegründung eine klare Auskunft zur grundgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für diese neue Gesetzgebung. Der Allgemeine Teil der Begründung des Gesetzentwurfs verweist lediglich auf Art. 73 Nr. 10 b) GG. Dies überrascht um so mehr, als man schon 1972 anlässlich der Einfügung der Ausländerextremismus-Klausel in das BVerfSchG klar die Notwendigkeit erkannt hatte, hierfür eine neue verfassungsrechtliche Deckungsnorm zu schaffen, weil weder Art. 73 Nr. 10 a) noch Nr. 10 b) GG hierfür ausreichten. Daher wurde damals der Kompetenzkatalog durch Nr. 10 c) ergänzt, deren Wortlaut dem der Ergänzung des BVerfSchG entspricht. Jetzt wird die Notwendigkeit der Einführung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 BVerfSchG mit dem Ungenügen der 1972 normierten Ergänzung begründet: Diese erfasse nicht Bestrebungen, "die sich gegen politische Gegner im Ausland richten und denen Gewaltanwendung oder entsprechende Vorbereitungshandlungen in Deutschland, die zugleich Auswirkungen auf die innere Sicherheit der Bundesrepublik haben, nicht oder nur sehr schwer nachzuweisen sind". Wenn aber § 3 Abs. 1 Nr. 3 BVerfSchG die jetzt anvisierten "Bestrebungen" der "Schläfer" und anderer Terroristen, die Deutschland als "Ruheraum" benutzen und dann irgendwo im Ausland Gewaltakte begehen, nicht erfasst, dann kann auch die wortlautgleiche Kompetenznorm des Art. 73 Nr. 10 c) GG die aktuelle Erweiterung der Verfassungsschutzaufgaben (Nr. 4) nicht tragen. Ebenso muss aber auch der Rekurs auf Art. 73 Nr. 10 b) GG als kompetenzrechtliche Deckungsnorm scheitern. Bestrebungen, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten, sich aber durch Gewaltaktionen nur im Ausland (nicht notwendig im Heimatstaat der Täter), jedoch nicht im Inland manifestieren, können weder als Angriffe auf die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik noch als Gefährdungen des Bestandes oder (!) der Sicherheit des Bundes oder eines Landes qualifiziert werden. Gegenstand des in Nr. 10 b) legal definierten Verfassungsschutzes sind nur diejenigen Schutzgüter der inländischen Verfassungsrechtsordnung, wie sie in Anlehnung an die Entscheidung des Bundesverfassunggerichts von 1952 in § 4 BVerfSchG aufgezählt wurden. So umfasst die "freiheitliche demokratische Grundordnung" in der Interpretation durch das SRP-Urteil, die dem Gesetzgeber sowohl des BVerfSchG als auch des StGB (§ 92 Abs. 2, "Verfassungsgrundsätze" ) als Richtschnur gedient hat, die wesentlichen Prinzipien und Institutionen des freiheitlichen demokratischen Willensbildungs- und -verwirklichungsprozesses einschließlich der justiziellen Kontrolle. Jedoch gehören die Gedanken der "Völkerverständigung" und des "friedlichen Zusammenlebens der Völker" dazu nicht. Diese haben in der Präambel des Grundgesetzes, ferner in den Artikeln 9 Abs. 2, 24 Abs. 2, 25 und 26 GG unmittelbar und mittelbar Ausdruck gefunden. Sie sind wichtige Verfassungsprinzipien zumindest im Sinne eines permanent zu verfolgenden Verfassungsauftrags; doch Bestandteile der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" als des spezifischen Schutzgutes des demokratischen politischen Prozesses sind sie ebenso wenig wie das Prinzip der Bundesstaatlichkeit oder das Sozialstaatsprinzip. Ergibt sich somit, dass keine der beiden in Betracht kommenden Kompetenzgrundlagen - weder Nr. 10 b) noch 10 c) des Art. 73 GG - die in § 4 Abs. 1 Nr. 4 BVerfSchG neu normierte Aufgabenerweiterung des Verfassungsschutzes zu rechtfertigen vermag, dann steht jedenfalls das Bundesamt verfassungsrechtlich insoweit auf schwachen Füßen. (Ob die Landesgesetzgebung in diesem Bereich, die ja nach Art. 70 GG keiner enumerierten Kompetenzgrundlage bedarf, entsprechenden Bedenken unterliegt, soll hier nicht untersucht werden.) Im Fraktionsentwurf (Drs. 14/7386, S. 91) macht man sich erst gar nicht die Mühe einer (wohl auch nicht möglichen) einwandfreien Kompetenzbegründung. Hier wird nicht vom rechtsstaatlich ausgefeilten Verfassungsnormtext her argumentiert, sondern vom sicherheitspolitisch gewünschten Ziel: "Es muss zulässig sein", heißt es da, dass der Verfassungsschutz solche (völkerverständigungsfeindlichen, E. D.) Bestrebungen beobachtet, weil sie einen Nährboden für die Entstehung extremistischer Auffassungen bildeten und Hass schürten, der auch vor terroristischer Gewaltanwendung nicht zurückschrecke. Hier muss die Frage erlaubt sein, ob man sich angesichts solcher "Bestrebungen", die ja auch nicht auf das "geheime Kämmerlein" beschränkt bleiben, nicht längst in der "hässlichen", Hass predigenden Wirklichkeit der einschlägigen Straftatbestände der §§ 129, 129 a und b, 130 StGB bewegt, welche in erster Linie die Kriminalpolizei auf den Plan rufen müssten. Wenn man die Tätigkeit des Verfassungsschutzes so weit in das (inländische) "Vorfeld" krimineller, im Ausland auszuführender Aktionen ausdehnen will, dass weder die Straftatbestände des StGB, noch die "Vorbereitungshandlungen" der (konkreten) Gewaltanwendung im Sinne des Art. 73 Nr. 10 c) GG greifen, dann macht man ihn zu einem fast überall einsetzbaren präventiven Überwachungsinstrument. Die Gewichtsverschiebung zwischen Rechtsstaat und Präventivstaat wird deutlich, wenn man die in § 8 Abs. 5 bis 13 BVerfSchG (neu) geschaffenen Überwachungsbefugnisse auf die in § 3 Abs. 1 Nr. 4 erfassten "Bestrebungen" anwendet. Es ist nicht übertrieben, nunmehr von einem funktionalen präventiven Fahndungsverbund zwischen den Nachrichtendiensten und der Polizei auf dem Feld der Terrorismusbekämpfung zu sprechen, denn die bisher schon in den §§ 18 bis 20 BVerfSchG eröffneten Übermittlungsmöglichkeiten zwischen den Sicherheitsbehörden gewährleisten einen völlig ausreichenden Informationsfluss, der künftig auch noch durch Informationsverpflichtungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Ausländerbehörden der Länder gegenüber den Verfassungsschutzämtern des Bundes und der Länder ergänzt wird (§ 18 Abs. 1 a [neu] BVerfSchG). Die Auskunftseinholungen über Konten und Geldbewegungen bei Kreditinstituten, über Postbewegungen bei allen Postdienstleistern, über Transport- und Reisebewegungen bei Lufttransporteuren und über Telekommunikationsdienstleistungen bei den entsprechenden Anbietern (§ 8 Abs. 5 bis 8) ermöglichen dem Bundesamt für Verfassungsschutz die Bildung umfassender Persönlichkeitsprofile der betroffenen Personen. Spätestens hier muss der - früher auch von mir vertretene - Versuch scheitern, polizeiliche und Verfassungsschutz-Aufgaben nach ihrer primären Individual- bzw. Organisationsbezogenheit zu unterscheiden. Der Kreis der Personen, die Gegenstand der intensiven Überwachung werden können, ist nicht näher umschrieben, nicht einmal in den Fällen der Postverkehrs- und der Telekommunikationsüberwachung, in denen es nahe gelegen hätte, eine Begrenzung (wie in § 3 Abs. 2 Satz 2 des Artikel 10-Gesetzes) vorzusehen. Entsprechende Anregungen aus der Sachverständigen-Anhörung wurden nicht aufgegriffen; die schließliche "Beschränkung" der Auskunftseinholung jeweils auf den "Einzelfall" ist juristische Augenwischerei, da das Amt ohnehin immer nur in Einzelfällen (und ohne Zwangsbefugnisse) und nicht durch den Erlass abstrakt-genereller Regeln tätig werden darf. Hingegen ist die "in letzter Minute" eingefügte Kontrolle durch die mit Entscheidungsbefugnis (§ 15 Abs. 5 G 10) ausgerüstete G 10-Kommission in allen vier Auskunftsfeldern und nicht nur in den das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) berührenden der Post- und der Telekommunikationsüberwachung als ein Pluspunkt für die Rechtsstaatlichkeit zu verbuchen. Entsprechendes gilt für die Pflicht des Parlamentarischen Kontrollgremiums, dem Deutschen Bundestag jährlich und nach drei Jahren nach dem Inkrafttreten des (auf fünf Jahre befristeten) Gesetzes zusammenfassend zum Zweck der Evaluierung detailliert Bericht zu erstatten. 2. Sicherheitsüberprüfungen: "Vorbeugender personeller Sabotageschutz" Seit langem gehört die Mitwirkung an Sicherheitsüberprüfungen von Personen (personeller Sabotageschutz) zu den Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden. Jetzt soll der Kreis der zu überprüfenden Personen erheblich ausgeweitet werden und alle diejenigen umfassen, die an einer "sicherheitsempfindlichen Stelle" in einer "lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtung" beschäftigt sind oder werden sollen. Dabei geht aus dem Gesetz hervor, dass sowohl "öffentliche" wie "nichtöffentliche", das heißt private Einrichtungen und Stellen in Betracht kommen. Eine nähere Bestimmung dessen, was als "lebens- oder verteidigungswichtige Einrichtung" anzusehen sei, traf der Fraktionsentwurf (Drs. 14/7386) nicht. Lediglich in der Begründung (S. 104 f.) wurden die Definitionen wiedergegeben, auf die sich der Arbeitskreis IV "Verfassungsschutz" der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder 1994 verständigt hatte. Außerdem zählten die Entwurfsfassungen vom 12. Oktober und vom 8. November 2001 unterschiedliche Beispiele auf, was die Beliebigkeit der Ausfüllbarkeit der Definition verdeutlicht. Auf das in der Sachverständigenanhörung geäußerte Bedenken hin, der Gesetzgeber müsse - schon um dem "Wesentlichkeitsgrundsatz" zu genügen - wenigstens die wichtigsten Einrichtungen als "Regelbeispiele" katalogartig fixieren, erhebt der Gesetzgeber nunmehr die in der Begründung vorfindlichen, konturlosen Definitionen in den Rang von Legaldefinition (§ 1 Abs. 4 und 5 SÜG [neu]). In der Begründung wird die normative "Rangerhöhung" mit dem "Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz" begründet. Dies ist schon deshalb falsch, weil die "Umpflanzung" einer unbestimmten Definition dieser kein Quäntchen mehr an Bestimmtheit zuwachsen lässt; im Übrigen bleibt der Wesentlichkeitsgrundsatz nach wie vor unberücksichtigt. Die Prärogative der Exekutive für die Bestimmung des konkreten personellen Umfangs der Sicherheitsüberprüfungen besteht fort, nur ist die Kompetenz-Verteilung dieses an sich klaren Auftrags wiederum ein Lehrstück an rechtsverwirrender Verweisungstechnik. Wer dies nicht glaubt, der lese die auf einander verweisenden §§ 1 Abs. 4, 25 Abs. 2 und 34 SÜG (neu) und beantworte dann ganz schnell die Frage, welche Stelle oder Behörde wofür zuständig ist. 3. Sicherung der Identitätsfeststellung Ausweisdokumente haben die Funktion, eine zuverlässige Feststellung der Identität des Dokumentinhabers zu ermöglichen. Diese Funktion kann auf verschiedene Weisen konterkariert werden, etwa durch Herstellung eines falschen Passes oder Personalausweises mit Phantasiedaten oder mit den Daten einer anderen lebenden oder toten oder vermissten Person. Eine andere Möglichkeit ist die Benutzung eines echten, dem rechtmäßigen Inhaber aber entwendeten oder abhanden gekommenen Dokumentes, dessen sich ein Unberechtigter wegen seiner Ähnlichkeit mit der abgebildeten Person oder auch nach entsprechenden Veränderungen der Abbildung bedienen kann. Eine weitere Variante der Identitätsverunsicherung könnte man als "Identitätsvervielfachung" bezeichnen, wenn beispielsweise ein Terrorist zur Irreführung über seine häufigen Reisen (in bestimmte Länder) eine Mehrzahl verschiedener Pässe benutzt, die er sich vielleicht sogar legal oder halb legal in verschiedenen Ländern hat ausstellen lassen. Um solche Missbrauchsmöglichkeiten mindestens zu erschweren, sieht das Terrorismusbekämpfungsgesetz für Inländer Ergänzungen des Pass- und des Personalausweisgesetzes, für Ausländer entsprechende Änderungen der Vorschriften über Aufenthaltsgenehmigungen und Ausweisersatz (§§ 5 und 39 AuslG) vor. Während der Pass bisher außer den Angaben zur Person nur das Lichtbild und die Unterschrift des Inhabers enthalten durfte, lässt das Gesetz (§ 4 Abs. 3 und 4 PassG [neu] jetzt auch die Aufnahme "weiterer biometrischer Merkmale" zu, und zwar auch "in mit Sicherheitsverfahren verschlüsselter Form". Die Merkmale müssen sich auf Finger, Hände oder Gesicht des Inhabers beziehen. § 4 Abs. 4 kündigt (ungewöhnlicherweise) ein weiteres Bundesgesetz an, das die Arten und die Einzelheiten der biometrischen Merkmale sowie der Verschlüsselung, Speicherung und sonstigen Verarbeitung von Merkmalen und Angaben regeln soll. Die Kabinettsvorlage des Innenministeriums (Stand 12. 10./5. 11. 2001) sah für all dies ursprünglich nur eine "bundesratspflichtige" Rechtsverordnung des Innenministers vor; erst der spätere Fraktionsentwurf versuchte dann, dem Wesentlichkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Bei den Ausweisdokumenten für Ausländer (der Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 und dem Ausweisersatz nach § 39 AuslG) überlässt man die Regelung aller Einzelheiten allerdings einer Rechtsverordnung. Und während der deutsche Pass- oder Ausweisinhaber von der Behörde Auskunft über die in seinem Dokument enthaltenen verschlüsselten Merkmale verlangen kann, ist dem Ausländer dies versagt. Redaktionsversehen? 4. Die Behandlung der Nicht-EU-Ausländer Die bisherige Betrachtung musste unvermeidlich auf Einzelheiten der Novellierungsarbeit eingehen, um deutlich zu machen, wie mühselig und oft zum Scheitern verurteilt das Geschäft rechtsstaatlicher Normsetzung in Zeiten dominanten Präventionsdenkens ist. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip läuft weitgehend leer, dem Grundsatz der Normbestimmtheit traut man wenig normative Kraft zu , und das Wesentlichkeitsprinzip tut man mit leichter ministerialer Hand ab. Bei einem "Sicherheitspaket", das ja nicht eine einheitliche Regelung "aus einem Guss" darstellt, sondern ohnehin in zahllose "Artikel" zerfällt, lässt sich auch schwer ausmachen, ob es mit dem Band der Freiheit oder dem der bürokratischen Notwendigkeit geschnürt wurde. Erst recht gilt deshalb hier der Satz: "Nicht allein der Teufel, auch die Rechtsstaatlichkeit steckt im Detail." Nun ist es jedoch an der Zeit, die "neue Bedrohungslage" durch den "internationalen Terrorismus" in ihrer konkreten historischen Situation anzusprechen. Denn der Gegner ist nicht eine fiktive, nach Weltherrschaft strebende Instanz "des Bösen" wie im Thriller-Schema der James-Bond-Filme, sondern die aktionistische Auskristallisierung der Gedankenwelt eines militanten, fundamentalistischen Islamismus. Dass sie, etwa als Al-Qaida-Organisation, ihr logistisches und ideologisches "Hinterland" unter dem Taliban-Regime gefunden hat, ist weder Zufall noch einzigartig. Sie kann sich also, unter anderen Führern und Namen, auch anderswo jederzeit wieder neu manifestieren. Günstige Voraussetzungen hierfür bietet ein religiös-kulturelles Umfeld, das durch niedrigen Bildungsstand, völlig Ignoranz der "westlichen" Welt, archaische familiale Strukturen mit einer entsprechend rechtlosen, untergeordneten Stellung der Frau und durch eine "frühmittelalterliche" (in okzidentaler Zeitrechnung) Verbindung von Religion und Staat, kurz: durch die Absenz von Aufklärung und Emanzipation gekennzeichnet ist. Eine krassere Gleichzeitigkeit des "Ungleichzeitigen" wie die des amerikanisch-globalisierten Kapitalismus und des talibanisch-rigorosen Islamismus ist kaum vorstellbar. Die schweren persönlichen Identitätskrisen, die hieraus resultieren können, mögen Psychologen gründlich erforschen. Aufgabe der Politiker ist es, diese kulturell-religiösen Bedingungen in ihrem Zusammenhang mit der globalen wirtschaftlichen Entwicklung und mit den dadurch mitbedingten Migrationsbewegungen zu begreifen und daraus vertretbare Konsequenzen zu ziehen. Eine allein auf Abwehr, Abschottung und Abschiebung setzende Ausländerpolitik mag punktuelle Erfolge erzielen, wirkt langfristig jedoch kontraproduktiv. Prüft man die ausländerrechtlichen Vorschriften des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vor diesem Hintergrund, so sieht man, dass sie über die Einfallslosigkeit von Versagung und Verbot nicht hinaus kommen. Einige Beispiele mögen dies belegen. Der Verein des selbsternannten "Kalifen von Köln" könnte nach der längst fälligen Aufhebung des so genannten "Religionsprivilegs" des § 2 Abs. 2 Nr. 3 VereinsG ohne weiteres aufgrund des bisher geltenden Vereinsrechts verboten werden, das als Verbotsgründe für inländische Vereine ebenso wie für "Ausländervereine" u. a. Verstöße gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung kennt. Daran soll sich auch nichts ändern. Ein Verein, in dem Hass - etwa zwischen Arabern und Israelis - gepredigt wird, ein Verein, dessen Funktionäre Parlamentarismus, Demokratie und Menschenrechte nur so lange anerkennen wollen, wie sie und ihre Anhänger sich noch in einer Minderheitenposition befinden, ein Verein, der eine menschenrechtswidrige Strafrechtsordnung mit Auspeitschung, Handamputation und Steinigung sowie die Unterordnung der staatlichen Willensbildung unter eine theokratisch-hierarchische Offenbarungsreligion propagiert, konnte und kann also bereits nach dem bisher geltenden Recht ohne weiteres verboten werden. Darüber hinaus nannte der bisherige § 14 VereinsG "die innere oder äußere Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder" als Schutzgüter. Zwei Überlegungen, folgt man der Entwurfsbegründung, haben jetzt zu einer Neufassung der Verbotsmöglichkeiten geführt. Die erste, durchaus nachvollziehbare, zielt auf eine Angleichung der Beschränkungs- und Verbotsmöglichkeiten für kollektive Ausländertätigkeiten an die für individuelle Aktivitäten von Ausländern (im Inland) ab. Deshalb nimmt der Katalog der Verbotsgründe für Ausländervereine im neuen § 14 Abs. 2 VereinsG im Wesentlichen Elemente und Formulierungen des § 37 AuslG auf. Die zweite Erwägung ist von dem Bestreben geleitet, von hierzulande existierenden "Ausländervereinen" ausgehende Unterstützungs-Tätigkeiten für im Ausland operierende, gewaltsam oder auch nur menschenrechtswidrig handelnde "Bestrebungen" zu unterbinden. Man muss allerdings die Erwartung des Gesetzgebers bezweifeln, die neu aufgenommenen Verbotsgründe des § 14 Abs. 2 Nr. 3, 4 und 5 VereinsG würden für die innere Sicherheit der Bundesrepublik von besonderer Bedeutung sein. Denn erstens war die innere Sicherheit auch bisher schon gegen jede Gefährdung oder Verletzung rechtlich geschützt, und zweitens hätte man die "neuen" Tatbestände des § 14 Abs. 2 (neu), die größtenteils aus § 37 Abs. 1 Nr. 4 bzw. Abs. 2 Nr. 2 und 3 AuslG wörtlich übernommen wurden, auch bisher schon auf entsprechende individuelle Aktivitäten beziehen können. Widerspruch muss auch die Behauptung der Begründung (S. 122) erregen, die Neufassung der Verbotsgründe strebe einen "konkreten und weniger wertungsbedüftigen Katalog" an, um den unter Zeit- und Entscheidungsdruck handlungspflichtigen Sicherheitsbehörden nicht durch "vage, hochgradig auslegungsbedürftig" formulierte Eingriffsvoraussetzungen "Steine statt Brot" in die Hand zu geben. Eine vagere Formulierung als "die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland" - so § 14 Abs. 2 Nr. 1 VereinsG (neu) - und eine wertungsbedürftigere Formulierung als "Bestrebungen . . ., deren Ziele oder Mittel mit den Grundwerten einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung unvereinbar sind" - so der alte/neue Wortlaut in § 37 Abs. 1 Nr. 4 AuslG und § 14 Abs. 2 Nr. 3 VereinsG (neu) -, sind schwer vorstellbar. Die deutsche Rechtsordnung sollte sich damit begnügen, die hierzulande anzutreffenden Vorstellungen von Menschenwürde zu schützen. Den Ausländervereinen ist Friedfertigkeit, Achtung der inländischen Gesetze und Toleranz gegenüber Andersdenkenden abzuverlangen; das lässt sich in wenigen, klaren Worten ausdrücken. Die jetzige Fassung des § 14 VereinsG ist ein hochgradig redundanter, nebulös begrenzter juristischer Overkill, der "gutwillige" Ausländer verunsichert und das zarte Pflänzchen "Integration" erstickt. Das "individuelle" Ausländerrecht des Ausländergesetzes in der Funktion der Terrorismusbekämpfung zeigt ähnliche Züge. Die Ausweisung wird erleichtert, der Abschiebungsschutz für anerkannte politische Flüchtlinge abgeschwächt. Überall herrscht "Ausländer-Management" unter dem Aspekt der Prävention: detaillierte Tatbestände, aber relativiert und "gesichert" durch eine vage, umfassende Generalklausel; und an die Stelle der klaren Feststellung durch eine rechtskräftige Verurteilung tritt der - wenngleich durch qualifizierte Gründe gestützte - Verdacht. III. Also: Freiheit durch Sicherheit? Hat der Gesetzgeber das Fragezeichen unserer Themenstellung erkannt? Hat er überhaupt unsere Problematik - nämlich die Frage nach den Möglichkeiten einer schutzwirksamen Kompatibilität der Funktionslogiken von Rechtsstaat und Präventionsstaat, von Freiheitssicherung und Sicherheitsgewährleistung - erkannt und anerkannt? Oder folgt er blind der Hobbes'schen Dialektik von Schutz und Angst, welche das Bundesverfassungsgericht in der "bleiernen Zeit" der ersten Terrorismuswelle in Deutschland zu einem Kernsatz seiner "Staatstheorie" verdichtet hat: "Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet." Der Umstand, dass der nach dem 11. September sehr eilige Gesetzgeber wichtige Teile seiner Novellierungen (s. o. zu II. 1, 2.) auf fünf Jahre befristete und dann (in "letzter Minute") auch noch ausdrücklich deren Evaluierung anordnete (Art. 22 Abs. 3), ließ Hoffnung aufkeimen, er könne das Fragezeichen dieses Themas ernst nehmen. Allerdings kommt es auf die Kriterien an, nach denen evaluiert wird; sie können sich auf die Effizienz und Kosten unter dem Aspekt der Sicherheit beschränken, sie könnten aber auch bis zu der notwendigen Gesamtabwägung von Sicherheit und Freiheit vordringen. Meine diesbezügliche Hoffnung schwand dahin, als ich feststellen musste, dass der Entwurf des Terrorismusbekämpfungsgesetzes auf dem Vorblatt und im Text der ausführlichen Allgemeinen Begründung das Wort "Sicherheit" 37-mal, das Wort "Freiheit" jedoch nicht ein einziges Mal verwendet. Vielleicht ist dies dem Ernst der Lage angemessen; voreilige negative (Kurz-)Schlüsse sind nicht am Platze. "Wenn organisierter Terrorismus und technisches Risiko einander kumulativ begegnen", dann kann die "Risikogesellschaft" rasch zur "Katastrophengesellschaft" absinken, war meine Sorge vor zwölf Jahren. Die Benutzung vollgetankter und -besetzter Großflugzeuge als Raketen gegen Wolkenkratzer zeigt die fürchterliche Potenzierung der Zerstörungskraft, wenn organisierter, religiös und/oder politisch motivierter Terror die kriminelle mit der technisch-physikalischen Energie verbindet. Wenn dann, wie geschehen, der auf andere gerichtete Vernichtungswille sich noch mit dem Willen zur Selbstzerstörung multipliziert, dann scheitert sogar das ethisch bescheidene, aber realistische Modell Kants der Rechtsstaatsgründung oder des friedlichen Zusammenlebens der Menschen. Nach Kant ist dieses Problem "selbst für ein Volk von Teufeln" auflösbar, "wenn sie nur Verstand haben", was hier so viel heißt wie fähig sein zu "zweckmäßigem Handeln im Interesse der Selbsthaltung". Eben dieses Interesse fehlt aber bei den Selbstmord-Terroristen oder gleitet ins Irrationale ab. Eine Sicherheitsgesetzgebung wird also auf deren "verständige Kooperation" nicht einmal im negativen Sinne der Reaktion auf Abschreckung setzen können. Doch sollte der Gesetzgeber jene Ausnahmeerscheinungen nicht exemplarisch nehmen. Die meisten "Teufel" im Sinne Kants, denen wir begegnen, haben wenigstens "Verstand". Vgl. Erhard Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, Weinheim 1994, S. 23 ff., 61 f. Die nachfolgende Betrachtung stützt sich auf den Gesetzesentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucksache 14/7386 vom 8. 11. 2001, sowie auf den nach der Anhörung im Innenausschuss vom 30. November 2001 von den Koalitionsfraktionen formulierten Änderungsantrag Drs. 14/7830. Diese Fassung wurde am 14. 12. 2001 als Gesetz beschlossen. Die Zitate: S. 82 der Drs. 14/7386. Vgl. Erhard Denninger, Der Präventions-Staat, in: ders. Der gebändigte Leviathan, Baden-Baden 1990, S. 33 ff.; ferner ders., in: Hans Lisken/Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, München 2001³, Kap. E, Rdn. 192-200. Zur Entwicklung der Fernmeldeüberwachung vgl. BVerfGE 100, 313 ff. (1999) und die daraufhin erfolgte Novellierung des Artikel 10-Gesetzes vom 26. 6. 2001. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe, Band 12, Frankfurt/M. 1970, S. 532. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, 2 Bände, Berlin 19966. Die Begründung des Fraktionsentwurfs, Drs. 14/7386, S. 93, betont dies ausdrücklich. Werner Best, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, (1937), S. 132, zit. in: Rudolf Kluge/Heinrich Krüger, Verfassung und Verwaltung im Großdeutschen Reich, Berlin 1941³, S. 368. Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, in: Blickpunkt Bundestag, 11/2001, S. 15; ähnlich Dieter Wiefelspütz, SPD, ebd., S. 14. Vgl. Max Stadler, FDP; Petra Pau, PDS; Wolfgang Bosbach, CDU/CSU; alle in: ebd., 11/2001, S. 15 f. Vgl. Rupert Scholz/Rainer Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, Berlin 1984, S. 196 ff.; dagegen Erhard Denninger, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Innere "Sicherheit, in: Kritische Justiz, 18 (1985) 3, S. 215 ff. So z. B. in der Presseerklärung der Humanistischen Union und anderer Bürgerrechtsorganisationen vom 6. 11. 2001, in: HU-Mitteilungen, Nr. 176, Dezember 2001, S. 108. Vgl. Drs. 14/7386, S. 88. Vgl. 31. Änderungsgesetz zum GG vom 28. 7. 1972. Zum Problem vgl. Erhard Denninger, "Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin 1994², §'16 Rdn. 34. Vgl. Drs. 14/7386, S. 91. Vgl. SRP-Urteil, BVerfGE 2, 1, 12 f. für die "freiheitliche demokratische Grundordnung". Man beachte, dass die "im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte" zwar im BVerfSchG, nicht aber im StGB zu den geschützten Verfassungsgrundsätzen zählen. Vgl. dazu mit weiteren Hinweisen Erhard Denninger, in: Handbuch des Verfassungsrechts (Anm. 13), Rdn. 35-37. Zur Ausrichtung des Verfassungsschutzes auf den Schutz der demokratischen Politischen Grundordnung s. ders., Verfassungsschutz, Polizei und die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV), (1994) 3, S. 232 ff. Vgl. Anm. 17, S. 232, 236 f. Anders immer schon Hermann Borgs-Maciejewski/Frank Ebert, Das Recht der Geheimdienste, Stuttgart u. a. 1986, Komm. zu §'3 BVerfSchG, Rdn. 53, mit weiteren Nachweisen. Vgl. dagegen Erhard Denninger/Thomas B. Petri, Normenklarheit und Normbestimmtheit im Polizeirecht - sieben Thesen, in: Helmut Bäumler (Hrsg.), Polizei und Datenschutz, Neuwied 1999, S. 13 ff. Erhard Denninger, Strafverfahren und Polizeibefug"nisse, in: E. Denninger/Klaus Lüderssen, Polizei und Strafprozess im demokratischen Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1978, S. 309. Die Bedeutung einer veränderten Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik als Sicherheits- und Antiterroris"muspolitik wird eindrücklich herausgearbeitet von Ernst-Otto Czempiel, Die Globalisierung schlägt zurück. Referat auf den Römerberg-Gesprächen im November 2001, in: Frankfurter Rundschau vom 5. 11. 2001. Vgl. den informativen Artikel "Der verlogene Dialog" in: Der Spiegel, Nr. 51/2001, S. 44 ff. Vgl. die Begründung des Fraktionsentwurfs, Drs. 14/7386, S. 123. Die schon seine vorzeitige Geburt infolge der Nachricht vom Heranrücken des Feindes, der spanischen Armada in britische Gewässer im April 1588, prägte: Seine Mutter "did bring forth Twins at once, both Me, and Fear", schreibt Hobbes später; zit. nach Iring Fetscher (Hrsg.), Thomas Hobbes, Leviathan, Neuwied 1966, S. XI. BVerfGE 49, 24, 56 f., 1. 8. 1978 (Kontaktsperregesetz). Hervorh. nicht im Original. Allerdings auch in Composita wie "Sicherheitsbehörde". Erhard Denninger, Der gebändigte Leviathan, Baden-Baden 1990, S. 25. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 2. Abschnitt, Definitivartikel, 1. Zusatz. Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band VI, Darmstadt 1964, S. 224.
Article
Denninger, Erhard
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27046/freiheit-durch-sicherheit/
Am 1. Januar 2002 trat das "Terrorismusbekämpfungsgesetz" in Kraft. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten gibt es jedoch Anlass zur Kritik.
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Ungarn: Skandalisierung statt Aufarbeitung | Stasi | bpb.de
In Ungarn kam eine grundlegende wissenschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit der Geheimdienste erst in den letzten Jahren in Gang. Die Schwierigkeit der Forschung lag darin, dass Ende 1989 ein Großteil der Geheimdienstakten vernichtet wurde. Er reichte bis in die 1960er Jahre zurück. Schon im Verlauf des Wendeprozesses brach der erste große Skandal namens "Dunagate" aus, in dessen Verlauf das Ausmaß der Vernichtungen öffentlich bewusst wurde. Der Name des Skandals "Dunagate" (= "Donaugate") verweist auf den amerikanischen Watergate-Skandal, obwohl es dazu viele Unterschiede gibt. Am 5. Januar 1990 hielten zwei damals außerparlamentarische oppositionelle Gruppierungen (SZDSZ= Bund der Freien Demokraten und Fidesz= Bund der Jungen Demokraten) in einem Kino in Budapest eine Pressekonferenz darüber ab, dass die Staatssicherheitsorgane des Innenministeriums weiterhin Informationen über oppositionelle Bewegungen und Politiker sammeln würden. Sie wiesen nach, dass die Sammlung der Informationen durch heimliche Abhöraktionen, fortgesetzte Briefkontrolle und Berichte verdeckter Geheimdienstagenten erfolgte. Das Sammeln solcher Informationen war jedoch nach der Verfassungsänderung 1989 verfassungswidrig, daher verlangten die oppositionellen Gruppen die Ablösung und den Abtritt der Verantwortlichen. Nicht nur die gesetzwidrige Beobachtung war der Gegenstand des Skandals, sondern es stellte sich heraus, dass im Innenministerium ständig Akten vernichtet wurden. Dazu führten die oppositionellen Gruppen schriftliche und filmische Beweismaterialien vor. Im Dezember 1989 Externer Link: berichtete die unabhängige Redaktion "Black Box" (= Fekete doboz) über streng geheime Dokumente und zeigte Filme illegaler Aktenvernichtungen. Die bisherigen Vertreter der Macht waren sichtlich überrascht und versuchten sich vom Skandal zu distanzieren, sie wiesen eine Verantwortung von sich. Die Führer der Geheimdienste behaupteten, gesetzeskonform zu handeln. Die von Medien dokumentierten Fakten ließen sich jedoch nicht lange leugnen, da sie am 19. Januar 1990 ein bisher unbekannter Kronzeuge bestätigte, der ehemalige Offizier der Geheimdienste József Végvári. Er berichtete ausführlich über das Ausmaß von Observationen und der Aktenvernichtungen. Einige Tage später trat der Innenminister zurück. Erschwerte Aktenlage, auch zum Thema Stasi Forschungen zu Ungarns Geheimdienst wurden auch dadurch erschwert, dass keine einheitliche Dokumentation über Einzelthemen zur Verfügung standen. Sie lagerten zu zerstreut bei ehemaligen Einheiten der Geheimdienst-Nachfolgeinstitutionen. So musste auch das Wirken der Stasi in Ungarn aus Versatzstücken rekonstruiert werden. Doch sie reichen aus, um zumindest einzelne Teilbereiche gut zu beleuchten, beispielsweise die Zusammenarbeit mit dem MfS. Eine erste Grundsatzarbeit dazu verfasste Ágnes Jobst, Mitarbeiterin des Historischen Archivs der Staatssicherheitsdienste (=Nemzetbiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára). Sie bearbeitete in ihrem ausführlich mit Dokumenten ausgestattetem Buch ,,Die Tätigkeit der Stasi in Ungarn: die Beziehung der ostdeutschen und ungarischen Staatssicherheit 1955-1989 (Budapest, 2015)" dieses weniger bekannte Thema. Nach ihren Erkenntnissen begann die ungarisch-ostdeutsche Geheimdienst-Zusammenarbeit ab März 1955 im Rahmen einer Geheimdienst-Kooperation der sozialistischen Staaten. Sie wurde nach dem Mauerbau 1961 intensiviert. Die Mauer erschwerte die direkten Kontakte zwischen Bürgern der beiden deutschen Staaten. Deshalb spielten Reiseländer wie die Tschechoslowakei, Bulgarien und natürlich Ungarn eine wichtige Rolle, wo Verwandte und Freunde sich wiedersehen konnten – unauffällig als Touristen. 1964 gründete die Stasi in diesen drei Ländern operative Gruppen mit der Aufgabe, ost-westliche Bürgerbeziehungen zu observieren und eventuelle Fluchtversuche zu verhindern. Stasi-Gründung "Balaton-Brigade" Die Tätigkeit der Stasi erstreckte sich auf ganz Ungarn, aber es gab zwei Schwerpunkte: Budapest und Balaton/Plattensee. Am Anfang wirkte die Stasi in Ungarn nur in den Sommermonaten. Ab 1975 schickten sie ständige Mitarbeiter nach Ungarn. Die sogenannte "Balaton-Brigade" bestand aus professionellen Agenten und Zivilpersonen, die allein die Aufgabe hatten, die Beziehungen der DDR- und BRD-Touristen zu enttarnen. In den 1980er Jahren arbeiteten 50-60 Personen in der Sommersaison am Plattensee, was 50-60% der diesbezüglichen Stasi-Tätigkeiten betrug. Die Agenten tarnten sich meistens als urlaubende Ehepaare, damit sie unauffällig blieben. Für sie war dies "operativer Urlaub". Die Tätigkeit der Stasi erreichte ihren Höhepunkt in Ungarn 1989 im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. Agenten wurden unter die DDR-Flüchtlinge geschleust mit der Aufgabe, fluchtwillige Personen zu identifizieren und herauszufinden, wer die Tonangeber waren. In den Flüchtlingslagern wurde die angespannte Situation deshalb noch mehr verschärft und es herrschte ein grundsätzliches Misstrauen. Solange es politische Spannungen zwischen Ungarn und der DDR gab, stand der ungarische Staatssicherheitsdienst in ständigen Kontakt mit seinen DDR-Kollegen und versuchte sie zu beruhigen. Die Stasi-Agenten verfügten wiederum über genaue Informationen über den ungarischen Transformationsprozess. Sie berichteten ausführlich über reformfreudige Veröffentlichungen in ungarischen Medien und waren bei den wichtigsten Protestaktionen präsent. Über ihre Beobachtungen und Beschattungsaktionen lieferten sie schriftliche Berichte, die von der Botschaft zusammengefasst und nach Berlin geschickt wurden. Das Ministerium der Staatssicherheit sammelte die Berichte in zwei eigens angelegten Dossiers über die ungarischen Reformen mit den Titeln "Die Tätigkeit der sozialismusfeindlichen Kräfte in Ungarn" und "Die alternative politische Kräfte und Gruppierungen in Ungarn". Erst im Februar 1990 wurde die operative Gruppe der Stasi in Ungarn aufgelöst, einen Monat nach dem Sturm auf die Stasi-Zentrale in Berlin. Eine kurze Entstehungsgeschichte des Problems Die erschwerte Aufarbeitung solcher Geheimdienst-Kooperationen und der generellen Tätigkeit der ungarischen Geheimpolizei von Ungarns staatssozialistischem Regime hängt mit den Eigenheiten des ungarischen Transformationsprozesses von 1989-1990 zusammen. Der Umbruch spielte sich in Ungarn vor allem durch Verhandlungen am Runden Tisch ab. Es gab nicht, wie in der DDR, eine scharfe Zeitwende durch eine Revolution mit landesweiten Demonstrationen, die als symbolisches Ereignis die Zeit in ein Vorher und ein Nachher teilten. Der ungarische Systemwechsel war ein langwierigerer Prozess, der an mehrere Wendepunkte, aber an keine scharfe Trennlinie zu knüpfen war - und an keine spektakulären Momente, wie der "Sturm auf die Stasi" am 15. Januar 1990 in Berlin. Dies hatte auch damit zu tun, dass die damaligen Vertreter der Macht beim Abbau des staatssozialistischen Systems eine prägende Rolle spielten. Die Nomenklatur wirkte im Veränderungs-Prozess mit und verzichtete gewaltfrei auf ihre politische Herrschaft. Die Transformation gestaltete sich so, dass die nichtkommunistische Opposition mit den Machthabern alles Schritt für Schritt verhandelte. Das Ergebnis wurde vom 1985 letztmalig gewählten kommunistischen Parlament in Gesetzesform gegossen und im Rahmen einer Verfassungsänderung verabschiedet. Diese Vorgehensweise ermöglichte in Ungarn einen friedlichen Übergang. Aus diesen Umständen ergab sich, dass viele Ebenen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und besonders der staatlichen Instanzen eine starke institutionelle und persönliche Kontinuität erfuhren. Unter stark veränderten gesetzlichen Bedingungen lebten alte Strukturen weiterhin fort. Während der Verhandlungen am Runden Tisch fiel kaum ein Wort über die rechtliche und politische Verantwortung des staatssozialistischen Regimes - und damit auch nicht über die Zukunft der Geheimdienste. In der DDR rückte das Thema dagegen viel stärker in den Mittelpunkt. Nur unter den Gruppierungen von Ungarns nichtkommunistischen Opposition wurde das Thema angesprochen. Da es aber von Anfang an nicht vertieft und geklärt wurde, bildete sich bald ein politisches Konfliktpotenzial, das bis heute reicht. Diese Situation ist einerseits damit zu erklären, dass die neue politische Elite naive und falsche Vorstellungen und keine hinreichenden Kenntnisse über die undurchschaubare Struktur und die Ausdehnung der Geheimdienste besaß. Andererseits war die alte Elite am Abbau der Dienste nicht interessiert, weil sie dadurch die Prozesse der Systemtransformation weiterhin unter Kontrolle zu halten hoffte. Schrittweise gesetzliche Aufarbeitung Während also in Deutschland die Aufarbeitung der DDR-Geheimdienstakten beispielhaft schnell in geordnete Bahnen kam und die Aktenvernichtung gestoppt werden konnte, verlief dieser Prozess in Ungarn sehr viel komplizierter. In den Mittelpunkt der ungarischen Aufarbeitungsgeschichte rückte zunächst auch nur die Debatte um die Überprüfung und Entfernung von Mitarbeitern aus dem öffentlichen Dienst mit Geheimdienstvita (Lustration). Zu ersten Schritten in Richtung einer solchen gesetzlichen Aufarbeitung der Vergangenheit von Ungarns kommunistischer Staatssicherheit kam es 1990, als zwei oppositionelle Abgeordnete des Partei-Bündnisses SZDSZ (Bund der Freien Demokraten) einen Antrag über die Lustration ehemaliger Agenten der inneren Abwehr stellten. Ihr Gesetzentwurf drehte sich allerdings nur um eine einzige Abteilung des Geheimdienstes, um die innere Abwehr. Frage der Wiedergutmachung und wissenschaftlichen Erforschung verknüpft war. Die Regierungsparteien lehnten den Antrag ab und stellten im Folgejahr ihren eigenen Entwurf vor. Es gab so viele Modifizierungsvorschläge, dass die Regierung den Entwurf zur Überarbeitung zurückzog. Begann die Geschichte der Stasi-Unterlagen-Behörde in Deutschland mit ihrer Eröffnung bereits am 2. Januar 1992, so trat das erste ungarische Gesetz über eine Überprüfung von Personen, die ein öffentliches Amt ausüben, erst am 5. April 1994 in Kraft. Am 7. April, am letzten Tag der Legislaturperiode wählte das Parlament drei von den sechs Richtern, welche die Lustration durchführen sollten. Auf diese Weise erreichte die Regierung József Antalls, dass sich das Lustrationsgesetz nicht auf die Abgeordneten des ersten freigewählten Parlaments 1990-1994 bezog. Überdies setzte das Verfassungsgericht zahlreiche Verordnungen des Gesetzes außer Kraft, und verpflichtete das Parlament sogleich ein neues Gesetz zu verabschieden. Nach dem Beschluss des Verfassungsgerichts musste das Parlament den Kreis der lustrierenden Personen genau bestimmen, das informationelle Selbstbestimmungsrecht gewährleisten und den Zugang zur Forschung sichern. Als ein großes Problem erwies sich, dass die verbliebenen Akten nicht an einem Ort aufbewahrt wurden, sondern bei verschiedenen Institutionen, die autonom darüber entscheiden konnten, ob sie diese Akten für die Forschung zur Verfügung stellen. Datenschutz für Geheimdienstmitarbeiter Eine Gesetzänderung aus dem Jahre 1996 versuchte den Vorschriften des Verfassungsgerichts zu entsprechen, aber so viele Aspekte im Rahmen eines einzigen Gesetzes wahrzunehmen und zur Geltung zu bringen, war kein einfacher Prozess. Doch am Ende gab es Erfolge, die sich zumindest ein wenig am deutschen Vorbild orientierten: Im Rahmen der "informationellen Wiedergutmachung" durften Bürger nunmehr Akten einsehen, in denen es sich um sie selber handelte, allerdings durften sie die Namen ihrer Agenten nicht erfahren, die über sie berichteten. Ein großer Fortschritt auf dem Weg der Institutionalisierung war, dass aufgrund des Gesetzes ein Historisches Amt (= Történeti Hivatal) ins Leben gerufen wurde, das seit 2001 als Archiv wirkt. Ein großer Teil der Unterlagen befand sich aber nach wie vor bei staatlichen Behörden, die eigenständig entscheiden konnten, ob ihre Akten weiterhin als geheim gelten sollen. Auf diese Weise waren die Dokumente der einstigen Geheimdienste auch leicht zu manipulieren. Das Recht der Staatssicherheitsmitarbeiter auf persönlichen Datenschutz und das sichere Fortbestehen der Geheimdienst-Nachfolger-Behörden schienen wichtiger als das Recht der einst Unterdrückten zum Zugang zu den Spitzel-Akten über sie. Erst 2002 reichte der damalige Ministerpräsident Péter Medgyessy, nachdem er selber in Verruf geraten war, angeblich Geheimoffizier "D-209" der Spionageabwehr gewesen zu sein, zwei Gesetzentwürfe unter den Nummern T/541 und T/542 ein. Der erste Entwurf bezog sich auf die Tätigkeit des Geheimdienstes des kommunistischen Regimes und auf die Institutionalisierung von dessen Aufarbeitung. Infolge dessen wurde das Historische Archiv der Staatssicherheitsdienste (= Nemzetbiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára) gegründet. Im zweiten Entwurf handelte es sich um die Veröffentlichung der Namen derjenigen Personen, die in der Vergangenheit in der Staatssicherheit tätig waren und in der Gegenwart eine öffentliche Position besaßen. Dieser Gesetzentwurf T/541 diente der "informationellen Wiedergutmachung", indem er ermöglichte, dass jemand nicht mehr nur seine eigene Akten, sondern auch die Namen von deren Verfassern prüfen und erfahren konnte. Das Gesetz ermöglichte es auch, dass Nachfahren zu Akten über ihre Eltern und Großeltern Zugang erhielten. Nur wenn die Eltern und Großeltern selber Agenten waren, bekamen die Kinder und Enkel keine Informationen. Umstritten blieben auch Fälle, in denen eine Person gleichzeitig beobachtete und beobachtet wurde. Auf diese Weise wurden im Verfahren der "informationellen Wiedergutmachung" nur 4-5 Prozent der Agentennamen öffentlich. Das Gesetz ermöglichte Forschern zwar einen tieferen Einblick in das Archiv, damit sie die Geheimdienst-Vergangenheit besser aufklären konnten. Aber nicht immer diente die Forschung der wissenschaftlichen Aufarbeitung, sondern der politischen Diskreditierung. Der zweite Gesetzentwurf, T/542, bezog sich auf die Lustration von verschiedenen Formen der Staatssicherheitstätigkeiten zwischen 1944-1990. Das Parlament verabschiedete jedoch nur das erste Gesetz und so blieb die Lösung einer befriedigenden, umfassenden Lustration weiterhin ungelöst. Weitere Fortschritte gab es erst im Sommer 2007. Die Regierung Ferenc Gyurcsánys beschloss eine Verordnung mit dem Ziel zur Erstellung einer Kommission von Historikern und Archivaren, die beauftragt wurden, zu erfassen, an wie vielen Orten und in welchem Umfang Dokumente der kommunistischen Staatssicherheit außerhalb des Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste zu finden sind. Diese Bestandsaufnahme verlief erfolgreich und wurde in einem Externer Link: umfangreichen Bericht präsentiert. Die Kommission erarbeitete weitere Vorschläge, wie die diktatorische Vergangenheit anhand von Geheimdienstdokumenten besser aufgearbeitet werden könnte. Doch nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten im April 2009 wurden diese Vorschläge nicht weiter verfolgt. Dieses insgesamt zögerliche Herangehen an eine umfassende Aufarbeitung der Geheimdiensttätigkeit in Ungarn führte auch zu negativen Begleiterscheinungen in der Öffentlichkeit. Sie öffnete von Anbeginn das Tor zur Skandalisierung von Vergangenheit. Sie machte das Erbe der staatssozialistischen Regime und besonders der Geheimdienste zu einem vielfach missbrauchten Spielball der Parteienpolitik. Agentenlisten zum politischen Erpressen Seit der Wende zirkulierten außerdem Listen über angeblichen Agenten des inneren Sicherheitsdienstes, die ständig zum Spielball alltäglicher Parteienpolitik wurden. Sie eigneten sich besonders gut zur Erpressung politischer Gegner im Machtkampf Ungarns. So überreichte am ersten Tag (3. Mai 1990) des freigewählten Parlaments der abtretende Ministerpräsident Miklós Németh dem neuen Ministerpräsidenten József Antall einen geschlossenen Briefumschlag, in dem angeblich eine Liste mit den Namen der neugewählten Abgeordneten zu finden war, die auf irgendeine Weise mit der kommunistischen Staatssicherheit zusammenwirkten. Die Liste wurde weder damals, noch später veröffentlicht, jedoch verbreiteten sich zahlreiche Legenden, die besagten, dass unter den Abgeordneten der damaligen Regierungsparteien viele ehemalige Agenten saßen. 1991 wollte der damalige Ministerpräsident József Antall seinem Koalitionspartner József Torgyán erneut einen Briefumschlag überreichen. Aber Torgyán wies die Entgegennahme des Ergebnisses seiner Lustration als Provokation zurück. 1993 versuchte der Ministerpräsident innerhalb seiner Partei seinen rechtsradikalen politischen Gegner István Csurka durch einen Agenten-Vorwurf zu marginalisieren und später zu entfernen. Csurka erkannte in einem Zeitungsartikel seine Agenten-Vergangenheit teilweise an und machte später als antikommunistischer und rechtsradikaler Parteiführer eine neue Karriere mit seiner neugegründeten Partei MIÉP. Der Ministerpräsident als Geheimagent Die Wahlen 2002 wurden von den Linken MSZP und von den Liberalen SZDSZ sehr knapp gewonnen. Péter Medgyessy wurde zum Ministerpräsident Ungarns. Einige Wochen nach seinem Amtstritt am 18. Juni 2002 erschien ein Artikel auf dem Titelblatt der rechtskonservativen Zeitung "Magyar Nemzet", der behauptete, dass der Ministerpräsident – wie eingangs dieses Textes schon erwähnt - als Geheimoffizier "D-209" der Spionageabwehr wirkte. Der Ministerpräsident stritt seine Tätigkeit zuerst ab, dann erkannte er an, dass er zwischen 1977-1982 aus "patriotischer Verpflichtung" motiviert für den ungarischen Geheimdienst arbeitete. Er argumentierte damit, dass Spionageabwehr eine legitime Tätigkeit sei und natürlich nichts mit der Unterdrückung der Bevölkerung zu tun habe. Nach dem Ausbruch des Skandals forderte die Opposition den Rücktritt des Ministerpräsidenten und es entstanden heftige Spannungen in der Koalition. Später kamen noch andere mit seiner Person zusammenhängende Dokumente ans Tageslicht, aber deren Echtheit blieb stets umstritten. Der Ministerpräsident überlebte den Skandal und versprach ein neues Gesetz, das eine umfangreiche Erkenntnis und eine detaillierte Forschung über die belastete Vergangenheit ermöglichen sollte. 2014 folgte der letzte Skandal. Viktor Orbán, Ministerpräsident der rechtskonservativen, in seiner Rhetorik schrill antikommunistischen Regierungspartei Fidesz, ernannte László Tasnádi zum Staatssekretär des Innenministeriums. Tasnádi war vor der Wende Oberleutnant und später Hauptmann der kommunistischen Staatssicherheit. Nach der Wende arbeitete Tasnádi weiterhin beim Geheimdienst auf dem Gebiet der inneren Abwehr und der Spionage. Als am 16. Juni 1989 die Umbettung des 1958 hingerichteten ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy erfolgte, wurde er darüber von zwei Agenten informiert. Auch der Name Viktor Orbán tauchte in den Berichten auf, Ungarns seit 2010 regierender und umstrittener Ministerpräsident. Dieser Fall bekräftigt die allgemeine ungarische Annahme: "Mein Agent ist Patriot, dein Agent ist Verräter". Fazit Ungarn hat sich zu lange nicht mit der Frage der Geheimdienste auseinandergesetzt und es versäumt, die Geheimdienst-Akten in aller Art frei zugänglich zu machen. Zwar wurde die Situation in den letzten Jahren transparenter und die wissenschaftliche Akten-Aufarbeitung kam schrittweise voran, aber nicht so systematisch, wie in Deutschland. In erster Linie blieb das Thema der Aufarbeitung der Geheimdienstarbeit in Ungarns Vergangenheit für Zwecke der Skandalisierung interessant.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2016-03-23T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/223581/ungarn-skandalisierung-statt-aufarbeitung/
In Ungarn gründete die Stasi eine "Balaton-Brigade". Operative Urlauber des MfS sollten Beziehungen wischen BRD- und DDR-Touristen enttarnen. Aber die Suche nach Akten ist kompliziert.
[ "Ministerium für Staatssicherheit Stasi", "Ungarn", "Donaugate", "Ungarn" ]
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Wie viel Demokratie gibt es in Afrika? | Afrika | bpb.de
Anhand eines Demokratieindexes soll versucht werden, die komplexen und widersprüchlichen politischen Entwicklungen in Sub-Sahara-Afrika zu erfassen. Die anhaltende Dynamik des Kontinents nahm ihren Anfang zu Beginn der neunziger Jahre, als Afrika geradezu von einer Welle von Demokratisierungsprozessen erfasst wurde. Auszug aus: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 32-33/2006) - Wie viel Demokratie gibt es in Afrika? Einleitung "Africa is on the move" ist der Einleitungssatz des wichtigen Grundlagenpapiers der Europäischen Kommission zur EU-Afrikastrategie. Die anhaltende Dynamik des Kontinents nahm ihren Anfang zu Beginn der neunziger Jahre, als Afrika geradezu von einer Welle von Demokratisierungsprozessen erfasst wurde. Parallel dazu brachen in zahlreichen Staaten Bürgerkriege als Vorboten oder Folge von Staatszerfallsprozessen aus. Diese sehr unterschiedlichen Entwicklungen in den 48 Staaten südlich der Sahara sind auch für Fachleute in ihrer Gesamtheit kaum noch zu überblicken. Die jüngsten Ereignisse auf dem Kontinent - in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) stehen die ersten freien Wahlen seit über 30 Jahren bevor, die Situation in der Côte d'Ivoire ist nach wie vor bedrohlich und Putschversuche im Tschad scheiterten (bisher) - demonstrieren, wie weit zahlreiche Länder von Stabilität und erst recht von demokratischer Stabilität entfernt sind. Die hohe Dynamik führte insgesamt zu einer "neuen Unübersichtlichkeit" auf dem Kontinent. Daher sind Orientierungshilfen, die solide Informationen über die jüngsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen und ihre Richtung geben, unerlässlich. Dieser Beitrag stellt mit dem Bertelsmann Transformation Index (BTI) einen neuen und viel beachteten Index zur Erfassung von Transformationsprozessen vor. Nachdem Ziele, Methodik und die Struktur des komplexen Messinstruments vorgestellt worden sind, liegt der Schwerpunkt auf der Analyse der Ergebnisse des BTI für die 34 vom Index berücksichtigten Länder Sub-Sahara-Afrikas. Zu fragen ist, inwieweit der BTI ein sinnvolles Analyseinstrument zur Erfassung und Bewertung von Transformationsprozessen in Afrika ist. Die Ergebnisse des BTI werden jeweils in Zusammenhang mit neueren Ansätzen der politikwissenschaftlichen Afrikaforschung gestellt. Im Folgenden wird aus der Perspektive des BTI eine typologische Einordnung der politischen Systeme vorgenommen. Diskutiert wird, warum es so viele Systeme in Afrika gibt, die sich in einer Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie bewegen. Abschließend wird der BTI im Vergleich zu seinem direkten Konkurrenten, dem von der amerikanischen NGO Freedom House veröffentlichten Freedom House Index, bewertet. Ziel und Methodik des BTI Das normative Ziel des BTI besteht darin, die Transformationsleistungen sowohl von Entwicklungs- als auch Transformationsländern im Hinblick auf marktwirtschaftliche Demokratie zu messen und dadurch Vergleiche zwischen einzelnen Regionen und Ländern zu erleichtern. Der zugrunde liegende Demokratiebegriff ist dabei umfassender als der die Transformationsforschung dominierende, auf Robert Dahl zurückgehende minimalistische Demokratiebegriff, da er neben politischem Wettbewerb und Pluralismus zusätzlich Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und die Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen als Kategorien berücksichtigt. Das Verständnis von Marktwirtschaft orientiert sich am Konzept einer 'sozial verantwortlichen Marktwirtschaft', d.h. auch die Leistungsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme und die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens werden als normative Ziele postuliert. Der BTI wird von der Carl-Bertelsmann Stiftung finanziert und in Kooperation mit dem Zentrum für Angewandte Politikforschung (CAP) in München erstellt. Ihnen steht in Form des BTI-Boards ein größerer Kreis an Sozialwissenschaftlern und Regionalexperten beratend zur Seite. Das empirische Herzstück des Index bilden 119 Ländergutachten, die Staaten mit mindestens drei Millionen Einwohnern untersuchen. Sie werden von deutschen Länderexperten erstellt und von Experten, die aus den untersuchten Ländern kommen, kritisch gegengelesen. Regionalkoordinatoren diskutieren die Gutachten mit den Autoren und stimmen die Ergebnisse intraregional und interkontinental ab. Angestrebt wird ein möglichst hoher Grad an Standardisierung der 15 bis 25 Seiten umfassenden Gutachten, die quantitative Angaben zur sozioökonomischen Entwicklung von diversen internationalen Organisationen verwenden und gleichzeitig qualitative Beobachtungen der politischen Entwicklungen vornehmen. Die Ländergutachten des BTI 2006 sind ausschließlich in englischer Sprache im Volltext downloadbar, die des BTI 2003 stehen auch auf Deutsch zur Verfügung. Insgesamt sind mehrere tausend Seiten an Informationen zugänglich, die auch auf einer der Veröffentlichung in Buchform beiliegenden CD-ROM zu finden sind. Der Index ist als ein Ranking (Rangliste) konstruiert: Die Ländergutachter geben numerische Bewertungen auf einer 10er Skala (1 nicht erfüllt, 10 voll erfüllt) für 58 Indikatoren ab. Die Ranking-Form wird mit der Notwendigkeit einer öffentlichkeitswirksamen Zuspitzung der Ergebnisse gerechtfertigt. Die Struktur des BTI Der BTI ist der bisher umfassendste Index. Er besteht im Grunde genommen aus zwei bzw. drei Indices und einer Tendenzbewertung. Die drei Teilindices des BTI messen erstens den Stand der rechtsstaatlichen Demokratie, zweitens den Stand der sozial verantwortlichen Marktwirtschaft und drittens die politischen Managementleistungen. Die Werte für die Teilindices zu Demokratie und Marktwirtschaft werden arithmetisch gemittelt zum Status-Index zusammengefasst. Neuland betritt der BTI mit dem Managementindex. Dieser Index misst die Gestaltungsleistung politischer Akteure (im Wesentlichen der Regierung) im Hinblick auf Marktwirtschaft und Demokratie. Dem Index liegt eine akteurszentrierte Perspektive zugrunde, die davon ausgeht, dass Entwicklungs- und Transformationsleistungen durch Leistungen der politischen Akteure erbracht werden. Zu den Teilindices kommt ein Trendindikator - bestehend aus fünf Untersuchungskriterien des Statusindex (u.a. institutionelle Stabilität, Grad der sozioökonomischen Entwicklung) - hinzu, der Aufschluss über Fort- und Rückschritte sowie Stagnation gibt. Während der Untersuchungszeitraum für den Status- und Managementindex zwei Jahre beträgt, liegt er für die Bewertung des Trends bei vier Jahren. Die Indices werden durch die Untersuchung der folgenden 17 Kriterien gebildet (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version). Diesen Kriterien sind insgesamt 58 Indikatoren zugeordnet, die den Ländergutachtern in Fragenform vorliegen. Diese komplexe Struktur soll am Beispiel des Kriteriums Rechtsstaatlichkeit verdeutlicht werden. Hier lautet die normative Vorgabe, dass die Gewalten sich im Idealfall wechselseitig kontrollieren und die bürgerlichen Freiheitsrechte gewährleisten. Die in diesem Fall vier Indikatoren, die in Frageform vorliegen, lauten: Gewaltenkontrolle, Unabhängigkeit der Justiz, Verfolgung von Amtsmissbrauch, Existenz und Einklagemöglichkeit bürgerlicher Freiheiten. Diese vier Indikatoren werden numerisch bewertet und machen zu gleichen Teilen die Bewertung für das Kriterium aus. Zwei Besonderheiten des BTI sollen noch herausgestellt werden. Erstens wird ein gesondertes Kriterium für Staatlichkeit eingeführt, das sich am Staatlichkeitsbegriff Max Webers orientiert und fragt, inwieweit das Gewaltmonopol des Staates in Kraft ist, funktionsfähige Verwaltungsstrukturen vorliegen, ob Staat und Religion getrennt sind und inwieweit Einigkeit über die Zugehörigkeit zum Staatsvolk besteht. Angesichts zahlreicher Prozesse von Staatszerfall in Afrika ist diese Frage besonders für afrikanische Staaten wichtig. Eine Vielzahl von Ländergutachten, insbesondere zu Staaten im westlichen und östlichen Afrika, verdeutlicht, wie fragil Staatlichkeit und wie gering die Durchdringung des Landes mit effektiven Verwaltungsstrukturen ist. Dadurch werden politische Steuerung und die Durchsetzung von Reformen sehr erschwert. Zweitens wird die Bedeutung von günstigen oder ungünstigen Rahmenbedingungen beachtet. Das Kriterium Schwierigkeitsgrad wird statistisch gewichtet und wertet dadurch Managementleistungen unter extrem schwierigen Bedingungen (u.a. Unterentwicklung) auf. Mit dem Bertelsmann Transformation Atlas (BTA) wurde eine interaktive Plattform geschaffen, die erstens die Ergebnisse visualisiert und es zweitens ermöglicht, die Transformationsleistungen verschiedener Länder desselben oder zwischen verschiedenen Kontinenten miteinander zu vergleichen. Mit wenigen Mausklicks ist es möglich, sich beispielsweise das Kriterium Rechtsstaatlichkeit für Vietnam und Südafrika vergleichend anzeigen zu lassen. Bei den Länderanalysen kann zur Erläuterung auch die betreffende Textstelle des Ländergutachtens direkt aufgerufen werden. Zentrale Ergebnisse des BTI für Afrika Im Untersuchungszeitraum zwischen Anfang 2003 bis Anfang 2005 wurden die Entwicklungs- und Transformationsleistungen von 34 der 48 Staaten auf dem Kontinent untersucht. Aufgrund dieser hohen Anzahl wurden zwei Untersuchungsregionen nach geografischen Kriterien gebildet: Zum einen wird das östliche und südliche Afrika mit 16 Staaten und zum anderen das westliche und Zentralafrika mit 18 Staaten untersucht. Der BTI für Afrika weicht vom Auswahlkriterium Bevölkerungszahl über drei Millionen ab, da Namibia, Botswana und Mauritius deutlich unter drei Millionen Einwohnern liegen. Die Berücksichtigung dieser drei Staaten wird nur allgemein mit deren Bedeutung in Afrika gerechtfertigt. Die Ergebnisse der Rankings bestätigten insofern das Vorwissen über Afrika, als der Kontinent im Vergleich zu anderen im Hinblick auf den Entwicklungsstand zurückbleibt. Im Status-Index liegen lediglich Mauritius auf Platz 15, Botswana und Südafrika beide auf 16, Namibia auf 26, Ghana auf 31 und Senegal auf 35 im oberen Drittel der 119 Länder. Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass der politische Entwicklungsstand sehr vieler Staaten wesentlich günstiger als der wirtschaftliche beurteilt wird. Diese Ungleichzeitigkeit ist besonders auffällig bei Ghana, bei dem die Differenz zwischen den Werten für Wirtschaft und Demokratie sich fast um zwei Punkte auf der 10er Skala unterscheidet. In Afrika sind die Entwicklungsleistungen der autoritären Systeme (im Unterschied zu einigen Ländern in Asien wie China oder Singapur) generell gering. Unter den zehn Staaten mit den niedrigsten Werten im Status-Index finden sich mit Sudan, Côte d'Ivoire, Eritrea, Liberia, DR Kongo und Somalia gleich sechs afrikanische Länder. Dies belegt, wie groß die Spannbreite innerhalb des Kontinents zwischen relativ erfolgreichen und gescheiterten Ländern ist. Ein differenziertes Bild ergibt sich auch bezüglich der politischen Gestaltungsleistungen: Botswana (Platz 3) und Südafrika (11), Senegal (17) und Ghana (18) werden sehr gute bzw. gute Leistungen im Management der Transformation hinsichtlich der normativen Ziele attestiert. Diese afrikanischen Länder liegen hinsichtlich der politischen Gestaltung vor dem EU-Mitglied Polen (Rang 26), das aber im Status-Index aufgrund seines weit fortgeschrittenen Entwicklungsstandes deutlich vor ihnen liegt. Insgesamt bedeuten die guten Ergebnisse einiger afrikanischer Länder, dass auch angesichts geringen Entwicklungsstandes unter Bedingungen weit verbreiteter Armut und Unterentwicklung durchaus beeindruckende Transformationsleistungen erbracht werden können. Am Ende der Skala befinden sich erneut zahlreiche afrikanische Staaten, die entweder diktatorisch regiert werden (Simbabwe, Togo, Eritrea) und deren Regierungen daher kein Interesse an einer demokratischen Transition haben, oder Staaten, die nur noch eingeschränkt Autorität auf ihrem Territorium ausüben (Somalia, Côte d'Ivoire). Typologie politischer Systeme Seit 1974 nahm, ausgehend von der Nelkenrevolution in Portugal, die Anzahl der formal demokratischen Staaten von ca. 40 auf 129 bis 2004 zu. Jede vergleichende Analyse der neu entstandenen Demokratien macht deutlich, dass die Qualität dieser politischen Demokratien sehr unterschiedlich ist. So ist das politische System Russlands - u.a. aufgrund der eingeschränkten Medienfreiheit - sicher nur mit Einschränkungen als funktionierende Demokratie zu bewerten, wohingegen etwa Ungarn unstrittig als Demokratie gilt. Die Unterscheidung in Autokratien in den verschiedenen Erscheinungsformen (Militärherrschaft, Einparteiensystem) und Demokratien greift hier zu kurz: Russland ist weder eindeutig Diktatur noch lupenreine Demokratie. Auch die Einordnung von 54 Staaten im Freedom House Index als "partly free" bestätigt, dass es eine sehr große Anzahl von Staaten gibt, die sich in einer Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie bewegen. Diese Grauzonen- oder Hybridsysteme haben in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit in der Politikwissenschaft erfahren. Der bisher detailreichste und anspruchsvollste Definitionsversuch des Phänomens der Grauzonendemokratien stammt von Wolfgang Merkel und seinem Team. Angelehnt an Merkel u.a. lassen sich defekte Demokratien als Herrschaftssysteme beschreiben, die zwar ein weitgehend funktionierendes demokratisches Wahlregime besitzen, aber signifikante Einschränkungen der Funktionslogik von Institutionen zur Sicherung grundlegender politischer und bürgerlicher Partizipations- und Freiheitsrechte, Einschränkungen der Gewaltenkontrolle und -verschränkung und/oder Einschränkungen der effektiven Herrschaftsgewalt aufweisen. Der entscheidende Unterschied zu autoritären Systemen liegt demnach in (relativ) freien und kompetitiven Wahlen. Im Vergleich zu liberalen, rechtsstaatlichen Demokratien ist jedoch die Funktionslogik bei defekten Demokratien deutlich eingeschränkt. Politische Transformation in Afrika aus der Perspektive des BTI Der umfassende Demokratiebegriff des BTI ermöglicht eine weitaus genauere Bestimmung der demokratischen Defizite in einzelnen Staaten, als sie der Freedom House Index leisten kann. Die 34 untersuchten Länder Afrikas lassen sich unter Rückgriff auf die numerischen Bewertungen der Rankings, die einigermaßen trennscharfe Schwellen bilden, folgendermaßen typologisch einordnen: Tabelle 2 (vgl. PDF-Version) belegt zunächst eindrucksvoll die Fortschritte im Hinblick auf demokratischere Herrschaftssysteme: Existierten bis 1990 lediglich in Botswana, Mauritius und mit Abstrichen im Senegal demokratische Systeme, so sind heute insgesamt dreizehn Staaten weit fortgeschritten und weisen nur geringe Defekte auf. Auch in der Ländergruppe der sechs bis sieben Staaten mit erheblichen Demokratiedefiziten - z.B. in Malawi in Form eines fragilen Parteiensystem und Gewalt nach den letzten Wahlen - nahm eine Liberalisierung und Pluralisierung zu. Die überwiegende Mehrheit der Ländergutachten verweist auf ein überraschend hohes demokratisches Bewusstsein, das sich in repräsentativen Umfragen im Rahmen des Afrobarometers spiegelt: Bei Umfragen in zwölf Ländern sprachen sich Bevölkerungsmehrheiten zwischen 70 % (Lesotho) und 96 % (Tansania) gegen die Herrschaft des Militärs und des Weiteren gegen traditionelle Herrschaft oder Rückkehr zur Einparteienherrschaft aus. Zu den Staaten mit einer sehr positiven Entwicklung gehörten Madagaskar und Niger, während die demokratisch gewählte Regierung Kenias mit Präsident Kibaki die Hoffnungen auf durchgreifende Reformen enttäuschte. Im Großen und Ganzen stagnierte die Demokratieentwicklung im Untersuchungszeitraum in Sub-Sahara-Afrika. Neben den positiven Entwicklungen fällt die hohe Zahl von 15 Staaten mit sehr niedrigen Werten auf, die erstens nach wie vor autoritär regiert werden, die zweitens entweder akut vom Staatszerfall bedroht sind oder sich drittens in langwierigen und komplexen Wiederaufbauprozessen nach Bürgerkriegen befinden. Zwischen diesen Staaten gibt es große Unterschiede und sehr unterschiedliche Tendenzen: So gab es durchaus Reformen in Ruanda und Äthiopien, während sich die Situation in Simbabwe und Eritrea deutlich verschlechterte. Um die sehr unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen afrikanischen Ländern verstehen und die numerischen Bewertungen nachvollziehen zu können, sind die Ländergutachten des BTI 2003 und 2006 unerlässlich. Trotz der sehr unterschiedlichen Entwicklungen lassen sich verallgemeinerbare Aussagen über die wichtigsten Gründe für Demokratieblockaden und die Entstehung defekter Demokratien in Afrika machen: Die in der Verfassung und per Gesetz garantierten Rechte werden in der Praxis nicht eingehalten. Diese keineswegs nur in Afrika anzutreffende Diskrepanz zwischen de jure und de facto-Verhältnissen untergräbt besonders die Rechtsstaatlichkeit; die Gerichtsbarkeit ist auch logistisch und personell häufig unterausgestattet und korruptionsanfällig.Die politische Integrationsleistung der Parteiensysteme (und häufig auch der Interessengruppen) ist unzureichend. Politische Parteien sind oftmals bloße Vehikel ambitionierter politischer Unternehmer und repräsentieren nicht spezifische soziale oder weltanschaulich abgrenzbare Gruppen. Die Parteiorganisationen sind zumeist schwach und deren inhaltlichen Aussagen vage.Die Politik in vielen Staaten ist stark personalisiert und beruht auf neopatrimonialen Strukturen. Grundannahme des Neopatrimonialismus ist, dass traditionelle, patrimoniale Patron-Klient-Beziehungen parallel zu modernen Institutionen existieren und diese Letztere in ihrer Effizienz und Logik manipulieren. Politische Entscheidungen fallen daher oftmals in inoffiziellen, informellen Institutionen vorbei an den dafür verfassungsmäßig vorgesehenen Institutionen. Begleitet wird neopatrimoniale Herrschaft durch ein hohes Maß an Korruption und Personalisierung, die häufig verstärkt wird durch präsidiale Regime mit hoher Machtkonzentration. Die neopatrimoniale "Grammatik der Politik" in Afrika - basierend auf dem Tauschverhältnis politische Loyalität gegen materielle Vorteile - erschwert die Etablierung demokratischer Systeme, wie zahlreiche Ländergutachten des BTI 2006 belegen. Schlussbemerkung Mit dem BTI ist ein wichtiges neues Instrument zur vergleichenden Erfassung der zahlreichen Transformationsprozesse nicht nur in Afrika geschaffen worden. Gegenüber dem Freedom House Index besitzt er erstens den Vorteil, umfassender zu sein, da nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Transformationsleistung sowie mit dem Management-Index die Gestaltungsleistung und der Gestaltungswille politischer Akteure gemessen werden. Zweitens zeichnet den BTI ein hohes Maß an Transparenz aus. Nicht nur die Methodik wird ausführlich erläutert, sondern Gutachten stehen im Volltext zum Herunterladen zur Verfügung. Dies ist beim direkten Konkurrenten Freedom House Index nicht möglich; auch ist die Zahl der dortigen Experten mit ca. 35 für 192 Länder (plus abhängiger Gebiete) gegenüber ca. 220 beim BTI deutlich geringer. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive weniger interessant ist das numerische Ranking, da es bei den zum Teil sehr geringen Unterschieden in der Beurteilung eine Trennschärfe bei Bewertungen suggeriert, die der komplexen Transformationsrealität nicht gerecht werden kann. Das Ranking ist vor allem ein öffentlichkeitswirksames Marketing-Instrument. Der BTI erlaubt einerseits die Identifikation von Entwicklungs- und Transformationshindernissen und erklärt damit die Herausbildung von Grauzonensystemen, andererseits werden auch Transformationserfolge nachvollziehbar. Die Ergebnisse für Afrika widersprechen einem pauschalen Afrikapessimismus und verdeutlichen die Notwendigkeit differenzierter Betrachtung. Die Qualität des BTI steht und fällt mit der Qualität der Ländergutachten, die in dem einen oder anderen Fall hinsichtlich der Argumentationsdichte noch verbessert werden könnten. Erleichtert wird die Beschäftigung mit dem BTI auch durch eine sehr benutzerfreundliche Homepage und den Transformationsatlas. Der BTI wendet sich an einen breiten Adressatenkreis, wird aber auch zunehmend von Regierungsinstitutionen, Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit und auch von nichtstaatlichen Einrichtungen wie NGOs und politischen Stiftungen zu Rate gezogen. Gerade der Management-Index kann hier einen Beitrag zur aktuellen Diskussion über verantwortungsvolle Regierungsführung - Good Governance - leisten. In Reaktion auf die Kritik, dass der BTI die OECD-Industrieländer unberücksichtigt lasse, wird von der Bertelsmann Stiftung demnächst ein Reform-Index für die OECD-Länder mit anderen Kriterien herausgegeben werden. Vgl. Commission of the European Communities, EU strategy for Africa: Towards a Euro-African pact to accelerate Africa's development, Brussels, 12. 10. 2005 (Com (2005) 489 final). Vgl. grundlegend zur Messung von Demokratie Hans-Joachim Lauth, Demokratie und Demokratiemessung, Wiesbaden 2004. Hier werden noch weitere Indices diskutiert. Vgl. Robert Dahl, Polyarchy. Partizipation and Opposition, New Haven-London 1971. Vgl. www.bertelsmann-transformation-index.de. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Bertelsmann Transformation Index 2006, Gütersloh 2005. Vgl. ebd., S. 84. Im Folgenden wird auf die Ergebnisse zur Untersuchungsdimension Marktwirtschaft und ihre Bedeutung für die Diskussion über Entwicklung und Unterentwicklung nicht ausführlich eingegangen, da der Schwerpunkt dieses Beitrags auf der Demokratieentwicklung liegt. Vgl. Stefan Mair, Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols und Staatszerfall, in: Mir A. Ferdowsi (Hrsg.), Afrika - ein verlorener Kontinent?, München 2004, S. 100 - 125. Erreichbar über die Homepage des BTI (Anm. 4) oder direkt unter http://www.bertelsmann-transformation-index.de/atlas.0.html?&L=1. Das Programm wird problemlos aktiviert durch ein Plug-in für PC und MAC-Computer. Für diesen Beitrag wurde die Ergebnisse der beiden Regionen zusammengefasst, vgl. die getrennten Ergebnisüberblicke in Bertelsmann Stiftung (Anm. 5), S. 169 - 204. Vgl. Freedom House, Freedom in the World: www.freedomhouse.org. Vgl. Wolfgang Merkel/Hans-Jürgen Puhle/Aurel Croissant/Claudia Eicher/Peter Thiery (Hrsg.), Defekte Demokratien. Band 1 Theorie, Opladen 2003. Vgl. ebd., S. 11. Ob der Begriff "defekte Demokratie" in sprachlicher Hinsicht optimal ist, sei hier dahingestellt. Er führt leicht zu Missverständnissen, da automatisch angenommen wird, dass das Gegenstück die perfekte (also westliche) Demokratie darstellt. Merkel macht darauf aufmerksam, dass das Gegenstück die rechtsstaatliche Demokratie ist. Auch reife, seit Jahrhunderten bestehende Demokratien können Defekte aufweisen (z.B. das Mediensystem in Italien). Vgl. W. Merkel u.a. (Anm. 12) bilden zur Unterscheidung vier Subtypen defekter Demokratien. Beispielsweise ist in Mali (vgl. Ländergutachten des BTI) die Rechtsstaatlichkeit nicht völlig garantiert; ansonsten funktioniert die Demokratie in Mali, einem der weltweit ärmsten Länder, aber relativ gut. Vgl. Matthias Basedau, Erfolgsbedingungen von Demokratie im subsaharischen Afrika, Opladen 2003. Vgl. Michael Bratton/Robert Mattes/E. Gyimah-Boadi, Public opinion, democracy and market reform in Africa, Cambridge 2004, S. 77. Die Ergebnisse des Afrobarometers sind größtenteils auch unter www. afrobarometer.org abrufbar. Vgl. Cord Jakobeit/Rainer Tetzlaff, Das nachkoloniale Afrika. Politik - Wirtschaft - Gesellschaft, Wiesbaden 2005; Gero Erdmann, Neopatrimoniale Herrschaft - oder: Warum es in Afrika so viele Hybridregime gibt, in: Petra Bendel/Aurel Croissant/Friedbert Rüb (Hrsg.), Hybride Regime. Zur Konzeption und Empirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002, S. 323 - 342. Vgl. Siegmar Schmidt, Transformation und Entwicklung messen? Zur Relevanz des Bertelsmann Transformation Index für die Entwicklungspolitik, in: Internationale Politik, 59 (2004) 11f., S. 103 - 114.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/afrika/dossier-afrika/59015/wie-viel-demokratie-gibt-es-in-afrika/
Anhand eines Demokratieindexes soll versucht werden, die komplexen und widersprüchlichen politischen Entwicklungen in Sub-Sahara-Afrika zu erfassen.
[ "Subsahara", "Afrika", "Demokratie", "Demokratieindex", "Demokratisierung" ]
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Daten auswerten | Forschen mit GrafStat | bpb.de
Die Auswertung der Daten bildet in den meisten Fällen das eigentliche Ziel einer Befragungsaktion. Neben Gestaltungsaspekten geht es bei der Auswertung in erster Linie um Erkenntnisse und Aussagen, die aus dem Datenmaterial gewonnen werden können. Mit GrafStat bekommen Sie einfachen Zugang zu vielfältigen Auswertungsvarianten, Sie können Merkmale kombinieren, koppeln, filtern und gruppieren und anschließend ansprechend in Grafiken oder ganzen Präsentationen darstellen. Aufgrund der Fülle an Daten und Möglichkeiten zur Auswertungs besteht jedoch auch die Gefahr, den Überblick zu verlieren, was letztlich an sozialwissenschaftlichen Aussagen überhaupt erforscht werden soll. Um dies zu verhindern empfiehlt es sich, eine hypothesenorentierte Datenauswertung vorzunehemen, die mit einer ziel- und ergebnisorientierten Vorgehensweise schneller zu aussagekräftigen Ergebnissen kommt. Neu: Grundauswertung In der Version GrafStat 2004 ist erstmals eine automatische Grundauswertung über alle Fragen möglich. Auf Mausklick wird das komplette Datenmaterial ausgezählt und ein Text erzeugt, der die Werte für alle Merkmale zeigt. Neben absoluten und prozentualen Werten werden auch die Summen und die Anzahl der Datensätze ohne Antwort genannt. Bei den verschiedenen Fragetypen werden zusätzlich noch statistische Kennwerte berechnet (Skalenfragen: Mittelwert und Median; Maßzahlfragen: Minimum, Maximum und Mittelwert). Die Grundauswertung wird als RTF-Datei erzeugt und kann anschließend mit einer Textverarbeitung geöffnet und weiter bearbeitet werden. Einfache Auswertungen Mit GrafStat bekommen Sie einfachen Zugang zu vielfältigen Auswertungsvarianten, Sie können Merkmale kombinieren und filtern, Sie können Grafikformen per Mausklick wählen und Farben zuordnen. GrafStat ermöglicht Ihnen die Kommentierung der Grafiken, das Speichern der Grafik in verschiedenen Größen und Formaten und sogar das Speichern und Nachbearbeiten der Auswertungseinstellungen selbst. Gruppierung und Klassenbildung Neben der einfachen Häufigkeitsauszählung erlaubt diese GrafStat-Funktion die Bildung von Gruppen bei Auswahlfragen oder Skalenfragen. Bei Antwortvorgaben in Maßzahlen sind Klassenbildungen möglich. Kreuztabellen GrafStat bietet mit der Auszählung in Kreuztabellen ein mächtiges Instrument zur Auswertung in zwei Dimensionen. So lassen sich beispielsweise geschlechtsspezifische Auswertungen einfach und schnell erstellen. Filterungen und Kopplungen Soll das Datenmaterial unter speziellen Aspekten untersucht werden, so bieten sich Filter an. Filter können in GrafStat in beliebiger Anzahl kombiniert werden und schränken die Auswertungen auf die gewählten Filtersetzungen ein. Bei einer Kopplung werden mehrere Merkmale einer Befragung zusammengefasst und in einer gemeinsamen Grafik dargestellt. Eine Kopplung ermöglicht einfache visuelle Vergleiche zwischen gleich strukturierten Merkmalen. Sie können die Auswertung der Befragung unter verschiedenen Zielsetzungen angehen, selbstverständlich auch in Kombination verschiedener Zielsetzungen: Darstellende Statistik (Präsentationsgrafik); Manipulationen mit Statistik (verfälschende Darstellung); Messende Statistik; Beurteilende Statistik (hypothesenorientierte Datenauswertung); Prognostizierende Statistik. Darstellende Statistik (Präsentationsgrafik) Mit Jugendlichen wird man sich häufig auf eine quantitative Auswertung der Daten mit Schwerpunkt auf der grafischen Gestaltung konzentrieren. Bei dieser Zielsetzung entstehen Diagramme in unterschiedlichen Formen, die die ermittelten Häufigkeiten als absolute oder relative Werte darstellen. Die Grafiken können mit der Hand koloriert oder farbig ausgedruckt werden. Zur Steigerung der Aussagekraft können Sie zudem Kommentare formulieren. Manipulationen mit Statistik (verfälschende Darstellung) Bei dieser Zielrichtung erfährt man ganz praktisch, auf welche Weise mit optischen Tricks gearbeitet wird. Durch geschickte Wahl grafischer Eigenschaften wird eine gewünschte Aussage erzielt oder zumindest hervorgehoben. Hier zwei Beispiele: Schlanke Säulendiagramme wirken höher als breite. Ein hochgelegter Skalenanfang hebt Unterschiede hervor (Achsenschnitt). Auf der anderen Seite trägt eine schlechte Wahl der grafischen Eigenschaften zur Verwischung von Aussagen bei oder macht eine Grafik trotz bestechender Optik fast unlesbar. An dreidimensionalen Darstellungen kann dieser Effekt sehr gut veranschaulicht werden. Beschreibende Statistik Hier geht es eher um mathematische Begriffe aus der Statistik. Absolute und relative Häufigkeiten, Mittelwert, Median und mittlere Abweichung können thematisiert werden. Vergleiche der statistischen Kennwerte am realen Datenmaterial ermöglichen interessante Gespräche und das Erarbeiten wichtiger Erkenntnisse über die Bedeutung dieser Werte für den konkreten Fall. Beurteilende Statistik (hypothesenorientierte Datenauswertung) Bei dieser Zielrichtung werden Sie versuchen, Zusammenhänge aufzudecken. Eine unabdingbare Voraussetzung hierzu sind Hypothesen (auf niedrigerem Niveau Vermutungen oder Behauptungen über Zusammenhänge), die im Idealfall schon bei der Konzeption des Fragebogens aufgestellt werden sollen. Prognostizierende Statistik Diese Zielsetzung erfordert die meiste Planung bei der Anlage der Stichprobe. Da die erhobenen Daten repräsentativ sein sollen, ist es wichtig, anhand ausgewählter Merkmale (z.B. Alter, Geschlecht) die Übereinstimmung mit der amtlichen Sozialstatistik zu überprüfen. Eine nachträgliche Gewichtung der erhobenen Daten kann die Abstimmung mit der amtlichen Statistik verbessern. GrafStat stellt besondere Funktionen für diesen Zweck bereit. Erfahrungen mit dieser Zielrichtung wurden vor allem in den Wahlprojekten an der Universität Münster gesammelt und können im begleitenden Unterrichtsmaterial nachgelesen werden. Zu den Wahlterminen finden regelmäßig groß angelegte Projekte statt.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-04T00:00:00"
"2012-01-04T00:00:00"
"2022-02-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/grafstat-software/51684/daten-auswerten/
Die Auswertung der Daten bildet in den meisten Fällen das eigentliche Ziel einer Befragungsaktion. Neben Gestaltungsaspekten geht es bei der Auswertung in erster Linie um Erkenntnisse und Aussagen, die aus dem Datenmaterial gewonnen werden können. Mi
[ "GrafStat" ]
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Spolkové centrum občansko-politického vzdělávání | Über uns | bpb.de
Těžištěm činnosti Spolkového centra občansko-politického vzdělávání | Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) je podpora vědomí pro demokracii a politickou participaci. Aktuální a historická témata zpracovává v různých akcích, tiskovinách, audiovizuálních produktech a online-nabídkách. K formám akcí pořádaných bpb se řadí různá shromáždění, kongresy, festivaly, veletrhy, výstavy, studijní cesty, soutěže, kinosemináře a kulturní akce včetně dalšího vzdělávání žurnalistů. Široce rozvětvená nabídka vzdělávání bpb má motivovat a iniciovat občanky a občany, aby se kriticky zabývali politickými a společenskými otázkami a aby se aktivně účastnili politického života. Na základě zkušeností s diktátorskými formami vládnutí v německých dějinách vzniká pro Spolkovou republiku Německo jistá zodpovědnost upevňovat do povědomí obyvatelstva hodnoty, jakými jsou demokracie, pluralismus a tolerance. V roce 2002 slavila bpb 50 roků trvání své existence. 50 roků bpb je tedy 50 roků občansko-politického vzdělávání v Německu pro posílení civilní společnosti. Rozličné nabídky vzdělávání bpb zprostředkovávají náhledy na historické a společenské souvislosti politických, kulturních, sociálních jakož i hospodářských procesů. Svůj úkol plní na vlastní společenskopolitickou, pedagogickou a publicistickou zodpovědnost. Bpb je nadstranická a vědecky vyvážená organizace. Jako instituce státem zřízeného politického vzdělávání podporuje navíc působení více než 300 uznávaných vzdělávacích zařízení, nadací a na vládě nezávislých organizací, které jsou ve Spolkové republice Německo činné v politickém vzdělávání. Bpb má připraveny speciální nabídky pro učitelky, učitele a osoby činné ve vzdělávací práci s mládeží. Přímo oslovuje mládež a mladé lidi věkově přiměřenými tématy a médiemi. Vypracovává speciální mediální pakety a doškolování pro mladé lidi ve sportovních spolcích, u vojska nebo u policie. Ve věku mediální společnosti používá bpb moderní komunikační metody a sleduje tzv. crossmediální nadstavbu. Vyhovuje požadavkům na rychlou a fundovanou informaci: svými vzdělávacími nabídkami a speciálními online-produkty zachycuje aktuální společenské jakož i politické události a debaty. Všem zájemcům poskytne bpb ochotně obsáhlé informace. Interner Link: Die Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: The Federal Agency for Civic Education Interner Link: Centre fédéral pour l´éducation politique Interner Link: Federalna Centrala Kształcenia Obywatelskiego Interner Link: A politikai képzés szövetségi központja Interner Link: Федеральный Центр Политического Образования Interner Link: germaniis politikuri ganaTlebis federaluri saagento
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-17T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-12-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51239/spolkove-centrum-obcansko-politickeho-vzdelavani/
Těžištěm činnosti Spolkového centra občansko-politického vzdělávání | Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) je podpora vědomí pro demokracii a politickou participaci. Aktuální a historická témata zpracovává v různých akcích, tiskovinách, audiov
[ "Bundeszentrale für politische Bildung" ]
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"Israel ist eine mit sich selbstringende Gesellschaft" | Seit 60 Jahren bpb-Studienreisen - und weiter! | bpb.de
Das Interview von Lukas Philippi mit bpb-Präsident Thomas Krüger erschien am 01. Juni 2023 im epd Evangelischer Pressedienst. Berlin (epd). Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Thomas Krüger, hat sich für einen Ausbau deutsch-israelischer Begegnungen ausgesprochen. Zum 60. Jubiläum der Israel-Studienreisen der Bundeszentrale und dem 75. Gründungsjahr des jüdischen Staates plädiert er gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) unter anderem für „eine Art Deutsch-Israelisches Jugendwerk“. Die Bundeszentrale für politische Bildung feiert am Freitag mit einer Tagung in Berlin und israelischen Gästen das Jubiläum ihrer Studienreisen. epd: Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt die 60-jährige Geschichte ihrer Studienreisen nach Israel als „Erfolgsgeschichte“. Ins Leben gerufen wurden sie, um gegen antisemitische Stereotype und Vorurteile in Deutschland anzugehen. Wie lässt sich dieser „Erfolg“ heute denn messen? Krüger: Die Israel-Studienreisen waren eine unmittelbare Reaktion auf antisemitische Vorfälle im Westdeutschland der Nachkriegszeit Ende der 50er Jahre. 1963, ein Jahr vor Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, haben die Reisen begonnen. Ziel war immer, Multiplikatoren durch eine unmittelbare Begegnung mit den Menschen ein differenzierteres Bild vom Leben und den Herausforderungen dieses Landes zu vermitteln. Das hat über die Jahrzehnte relativ gut funktioniert. Diese Multiplikatoren kommen schlicht anders zurück, als sie hingefahren sind. Das heißt, die direkte Begegnung ist eine andere Form politischer Bildung als wenn man sich das Wissen abstrakt, etwa durch Vorträge, herleitet. Die direkte Begegnung mit Menschen ist eben durch nichts zu ersetzen. epd: Wie viele Reisen sind bislang zusammengekommen? Krüger: Die Erfolgsgeschichte können wir an mehreren Faktoren festmachen: Es gibt nach wie vor eine riesige Nachfrage. Wir haben über die sechs Jahrzehnte mehr als 9.000 Teilnehmende in rund 300 Reisen nach Israel gebracht. Seit 60 Jahren ist das ein kontinuierliches Angebot, das nur kurz durch die zweite Intifada vor rund 20 Jahren und jetzt durch die Pandemie unterbrochen wurde. Auch in schwierigen und zugespitzten Zeiten sind wir immer gefahren und haben dieses Angebot hochgehalten. Es ist nach wie vor so, dass auf eine ausgeschriebene Reise mit etwa 22 Plätzen es grob gesprochen sechs Mal so viele Bewerbungen gibt. epd: Wenn Sie den Erfolg der Reisen am Stand des Antisemitismus in Deutschland messen würden, muss man doch eigentlich sagen, dass die Wirkung der Reisen verpufft ist? Krüger: Es ist immer die Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Was wäre denn, wenn diese Reisen nicht stattgefunden hätten. Wäre es dann genauso oder wäre es möglicherweise sogar noch schlimmer. Ich glaube, dass wir über die Jahrzehnte sehr viele Multiplikatoren mit am Start hatten, aus dem Journalismus, dem Bildungsbereich, von bestimmten Zielgruppen wie Integrationsbeauftragten der Kommunen, die natürlich ein viel differenzierteres Bild mit zurückbringen und den allgemeinen antisemitischen Positionen dann auch etwas entgegenhalten können. Die Resilienz von wichtigen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren macht sich dann schon über die Jahre bezahlt, weil in verschiedenen Bereichen einfach differenzierter über Israel gesprochen wird. Schauen Sie Kultureinrichtungen wie das Berliner Maxim Gorki Theater an: Man denkt, postmigrantisches Theater, das ist bestimmt antisemitisch, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Hausregisseurin heißt Yael Ronen und kommt aus Israel. Das hat auch etwas damit zu tun, dass Israel kennengelernt worden ist, dass es eine differenzierte Haltung zu Israel gibt; dass Israel kein monolithischer Block ist, sondern eine vielfältige Gesellschaft mit völlig unterschiedlichen Aspekten, die es eben nachzuvollziehen und zu verstehen und einzuordnen gilt. epd: Das vierte Kabinett von Israels Premier Benjamin Netanjahu besteht auch aus rechtsextremen und nationalistischen Ministern. Wie reagiert die Bundeszentrale mit ihrem Reiseprogramm darauf? Krüger: Die Bundeszentrale hat sich immer und zu allen Zeiten sehr stark an das Kontroversitätsgebot der politischen Bildung gehalten. Das heißt, wir haben immer die unterschiedlichen Teile dieser Gesellschaft vorgestellt. Wir sind auch immer in die Teile Israels gefahren, in denen arabische Israelis leben. Wir haben bei jeder Reise die palästinensischen Gebiete besucht, um kein Narrativ, keine Perspektive auszuschalten. Aus dem politischen Bereich sind eher weniger Referenten bei unseren Reisen dabei. Wir versuchen dieses Land aus den verschiedenen Alltagskonstellationen heraus zu verstehen. Da kommt natürlich auch der eine oder andere Politiker zur Sprache, aber extreme Positionen, wie wir sie derzeit als Teil der Regierung sehen, sind tendenziell nicht unsere Ansprechpartner. Wir befassen uns auch mit dem Thema der völkerrechtswidrigen jüdischen Siedlungen, fahren aber nicht in diese Siedlungen. Sondern wir suchen Gesprächspartner, um uns kritisch damit auseinanderzusetzen. epd: Erfährt die Bundeszentrale aus Israel politischen Druck auf die Gestaltung des Reiseprogramms und die Gesprächspartner? Krüger: Es gab schon immer wieder mal Vorschläge: Die ordnen wir dann als wohlmeinende Informationen ein. Wir machen sie uns in der Regel nicht zu eigen. Wir haben unser eigenes Programm, das wir mit unseren israelischen Partnern entwickeln. Das ist unabhängig und wird weder von der Bundesregierung, noch der deutschen Botschaft in Israel, noch von Mittlerorganisationen wie dem Goethe-Institut oder aus Israel selbst beeinflusst. Es wird akzeptiert, dass wir mit unseren Studienreisen nach Israel kommen und uns kritisch mit dem Land auseinandersetzen. Dabei werden keine Vorgaben gemacht. Die Reisen werden wertgeschätzt, vor allem weil ein differenziertes Bild von Israel vermittelt wird. Israel ist eine vielfältige, mit sich selbst ringende Gesellschaft, in der gegensätzliche Standpunkte aufeinandertreffen. Ehrlich gesagt, würden wir politischen Druck auch zurückweisen. epd: Werden den Reisegruppen der Bundeszentrale für politische Bildung Hindernisse in den Weg gelegt, etwa wenn es darum geht, palästinensische Gesprächspartner zu treffen? Krüger: Wir werden an den Checkpoints genauso behandelt wie alle anderen auch. An manchen Tagen läuft es besser, an anderen Tagen weniger. Wir sind als deutsche Reisegruppe immer fair behandelt worden. epd: Was ist Ihres Erachtens nötig, um das deutsch-israelische Verhältnis zu fördern, insbesondere um deutsche Missverständnisse über Israel abzubauen? Krüger: Die politische Ebene, die jeweiligen Regierungen und Parlamente, haben schon ein Fundament für eine nachhaltige Dialog- und Begegnungskultur geschaffen. Die Studienreisen der Bundeszentrale laufen unabhängig davon. Wir versuchen mit unseren Studienreisen alle Alters- wie Interessensgruppen und Kompetenznetzwerke in die Begegnung mit Israel zu bringen, um die beiden Gesellschaften osmotischer, durchlässiger zu machen, sich austauschen zu lassen. Mir wäre es wichtig, dass über die Studienreisen hinaus am Ausbau von Begegnungs- und Dialognetzwerken gearbeitet wird. So etwas wie ConAct, das Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch in Lutherstadt Wittenberg, verdient es ausgebaut zu werden zu einer Art Deutsch-Israelisches Jugendwerk. epd: Sie meinen, persönliche Begegnungen helfen gegenüber antisemitischen Stereotypen, die sich nach wie vor fest in unserer Gesellschaft halten? Krüger: Wenn Sie Menschen begegnen, mit all ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Interessen, mit ihren Fantasien, die einen in ihr Herz schließen, die anderen ablehnen, dann kommen sie einfach anders aus diesem Land zurück und haben ein differenzierteres Bild. Das große Problem des Antisemitismus ist, dass er sich immer gruppenbezogen auf das gesamte jüdische Kollektiv, auf das gesamte Israel erstreckt. Wer mit uns nach Israel fährt, erlebt ein Israel, das eine so große Vielfalt bietet, so dass es zumindest dem einigermaßen nachdenkenden Menschen schwerfallen sollte, seine Vorurteile unbedacht zu reproduzieren.
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epd/Lukas Philippi
"2023-06-16T00:00:00"
"2023-06-15T00:00:00"
"2023-06-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/studienreise/522033/israel-ist-eine-mit-sich-selbstringende-gesellschaft/
Zum 60. Jubiläum der Israel-Studienreisen der Bundeszentrale und dem 75. Gründungsjahr des jüdischen Staates plädiert Thomas Krüger gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) unter anderem für „eine Art Deutsch-IsraelischesJugendwerk“. Die Bundes
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Current Developments in Greece's Refugee and Asylum Policy | Greece | bpb.de
In 2015-2016 over one million migrants crossed into and through Greece seeking asylum in Europe. While spontaneous boat arrivals to Greece’s Aegean islands peaked in 2015 and early 2016, their impact on the country’s asylum system was far from catastrophic in that period. Externer Link: According to the Greek Asylum Service, asylum applications in 2015 reached 13,187, which represents an increase of about 40 percent in comparison to 2014. However, this number pales in the face of the 187,1 percent increase in 2016, when 51,053 asylum applications were registered in a single year. This can be explained by looking at the movements of and the possibilities still available to those on the move at the time. The vast majority of those arriving to Greece aimed at seeking asylum in other EU member-states, which in 2015 was still possible via what came to be known as the Western Balkan Route. In fact, the journey from Turkey, through the Aegean islands and the Greek territory, the Balkans and all the way up to Northern Europe, was a matter of days. However, with the tightening of border controls even within the Schengen area, including the erection of border fences, and the eventual closure of the Greek-Macedonian border in March 2016, tens of thousands of people got trapped within the Greek territory. They had no other recourse but to apply for asylum there. Today, Externer Link: according to estimates of Greece's Ministry for Migration, there are approximately 17.000 migrants registered in detention centers, hotspots, and camps on Lesbos, Chios, Leros, Samos and Kos, the five Aegean islands that have received the most people fleeing from the Middle East to Europe. Reflective of the geopolitical developments in the wider geographical area of the Middle East and Turkey, it comes as no surprise that, since 2015 and up to today, the vast majority of asylum seekers in Greece are Syrian nationals. These are followed by nationals from Pakistan, Afghanistan and Iraq. Asylum related migration from Turkey has seen a significant increase since 2016, the failed coup d'état and the increasing authoritarianism of President Erdoğan's regime. Asylum claims by Turkish nationals quadrupled in 2016 only to see a tenfold increase in 2017 and an additional threefold increase in 2018, Externer Link: reaching 3,807 asylum claims by October 2018. Of the 51,053 asylum applications in 2016 and the 58,642 in 2017, a significant proportion consists of applications for Family Reunification under the Dublin Regulation and applications for relocation to other EU member-states under the Emergency Relocation Scheme. This amounts to 13,069 applications in 2016 and 20,613 in 2017. This means that these people did not eventually get asylum in Greece but instead their applications were processed by other EU member-states. Finally, as processing of asylum claims may take up to two years, and even longer if there is an appeal, it is only now (late 2018) that many of these people receive final decisions on their application. Therefore, the actual impact of Greece’s and EU’s policies on asylum seekers but also on the country remains to be seen. Policy Developments There are three developments that have marked asylum policies in Greece since 2015: (1) the mass arrivals of 2015-2016; (2) the introduction of the hotspot approach for the management of border crises, along with the increasing and controversial involvement of the European Asylum Support Office (EASO) in the asylum process; and (3) the EU-Turkey Statement. The 2015 migration crisis came to exacerbate the chronic inadequacies and systemic failures of the Greek asylum system that had effectively led to the suspension of the Dublin Regulation for Greece and had halted returns there already since 2011. As asylum claims soared in 2015-2016, the then newly elected Greek government, an unlikely coalition between the left-leaning SyRizA and the right-wing populist party of AnEl implemented the hotspot approach and the EU-Turkey statement. Ever since, these two interconnected mechanisms have been regulating mobility and asylum through fast-track procedures at the border. While the first hotspot in Greece (in Moria on the island of Lesbos) was inaugurated in October 2015, it wasn’t until the EU-Turkey Statement (March 2016) that the hotspot approach became practically functional. The implementation of the EU-Turkey Statement meant that thousands of asylum seekers instantly became subject to EU’s hotspot approach and fast-track border procedure. This effectively turned the Greek islands into containment zones, where asylum seekers are detained under substandard conditions in camps, and kept in a state of limbo. The EU-Turkey “deal”, as it has come to be known, is not an usual legal agreement, but a bilateral political statement of the leaders of the EU and Turkey. It was the culmination of efforts to tame the autonomous migratory movements of 2015-2016 that shook the entire EU border, migration and asylum regime. The EU-Turkey statement imposes a geographical restriction on all those who arrive on the Greek Aegean islands from Turkey. This means that migrants cannot travel to the mainland until there is a final decision on the admissibility of their asylum claim. This is the reason why thousands are trapped on these islands leading to increasingly worsening conditions in the camps and hotspots there, a situation that puts the lives of those affected on hold for periods of up to two years. Once this stage is over, migrants whose claims are inadmissible await their removal and return to Turkey while those whose claims are considered admissible are then allowed to move to the mainland and lodge full asylum applications. While the abysmal conditions on the ground for the thousands trapped on Greek territory are well documented, the effects of this statement on Greece’s (but also eventually on the EU’s) legal system are less known. For example, the fact that it is not a legally binding agreement means that it is not subjected to any legal scrutiny. In 2017, the Court of Justice of the EU declared itself incompetent to rule on the legal action taken by three asylum seekers against the EU-Turkey Statement. So, not only are migrants immobilized in Greece for indefinite periods of time, without full access to their rights and adequate protection but, most importantly, they are denied any legal recourse. Another problematic aspect of the Statement is that it creates categories of asylum seekers based on arbitrary criteria such as someone’s arrival date. This means that an asylum seeker from Syria who arrived on the island of Lesbos on the 19th of March of 2016 (before the EU-Turkey Statement entered into force) will receive a different treatment compared to a Syrian asylum seeker who arrived on (or after) the 21st of March of 2016 (when the EU-Turkey "deal" became effective). Migrants arriving to one of the five Greek Aegean islands after March 20, 2016 are subjected to the fast-track border procedure as provisioned by the EU-Turkey Statement and the hotspot mechanism. This means that all those who have crossed the border unauthorized after March 20, 2016 are subject to return to Turkey based on admissibility criteria rather than a full consideration of their asylum application. Only if an asylum seeker can demonstrate that he or she is in considerable danger should he/she be returned to Turkey; the asylum claim is considered admissible and thus processed by Greece. In all other cases, Turkey is considered to be able and willing to process asylum applications while offering asylum seekers temporary protection and respect for their rights. In other words, the Greek Asylum Service considers whether an individual claim is admissible rather than whether an asylum seeker is in need of international protection. Thus, the EU-Turkey-Statement disentangles the right to protection from territory. This means that arrival on EU territory no longer guarantees that asylum seekers may lodge full asylum claims. The Greek government, in order to implement the above described EU policies, had to introduce amendments to existing laws or bring in controversial pieces of legislation. In order for returns to Turkey to become possible, Yannis Mouzalas, the then Migration Minister, overhauled the Independent Appeals Committees in June 2016. To this point, the Committees had accepted the vast majority of asylum seekers’ appeals, effectively blocking returns to Turkey. After the restructuring, the Committees rejected 93.63 percent of all cases. In essence, the hotspot approach and the EU-Turkey Statement have forced thousands of migrants arriving on the Aegean islands to apply for asylum on arrival, at the border, under a fast-tracked and extra-legal procedure established by the not legally binding agreement between the EU and Turkey. As a result, a two-tiered asylum system has emerged in the country, one at the border on the islands and one on the mainland. Situation in the Hotspots and Deficiencies in the Asylum System In 2018 about 50,500 asylum seekers arrived in Greece, Externer Link: according to the UN Refugee Agency UNHCR. With hotspots like Moria on Lesbos, housing up to three times their capacity under excruciating conditions, and daily increasing numbers, the aftermath of the EU-Turkey Statement is drawing the shape of a bitter reality. In Moria in particular, overcrowding is so extreme that residents spend half of their day (up to twelve hours) queuing for food and water, while one toilet and one shower serve 80 people. Sexual assaults and rapes are not uncommon, and women often report that they avoid walking alone in the camp at nights. Dozens of deaths have been recorded, while the authorities have failed to winterize the camp for the third consecutive year. Adding to these abysmal conditions, the inscrutable asylum process, the uncertain futures and suspended presents of residents lead to daily scuffles between different migrant groups, riots and other aggressions. By the summer and autumn of 2018, Moria had reached a tipping point. The government, under heavy pressure from international non-governmental organizations (INGOs) and following a pan-European outcry as well as political backlash, was forced to speed up the transfer of about 2,000 people from the island to the mainland in order to ease the overcrowding. Humanitarian actors on the ground, such as the International Rescue Committee, warn that there is a looming mental health crisis in hotspots, as 30 percent of the people have attempted suicide and 60 percent have contemplated it. The Greek government, in cooperation with international actors such as the European Commission (EC) and UNHCR, have taken steps to improve the situation of asylum seekers in comparison to the past. One such initiative is the cash assistance given to asylum seekers, but also as of recently to recipients of subsidiary and international protection. The money comes from EC’s funds and is managed through UNHCR and its partner organizations; it currently provides predefined monthly cash allowances to about 41,000 recipients (as of November 2018). It is only given to people who live in official accommodation and are in possession of an asylum seeker’s card, thus excluding thousands asylum seekers living outside of the camps (e.g. in squatted buildings) but also those who do not have documents. Depending on the type of accommodation they reside in and the size of their families, recipients receive an allowance between €90 and €550 per month. Additionally, asylum seekers and refugees enjoy full health coverage in the same way as citizens do, and children are entitled to enroll in public schools. The government introduced a special program for the education of asylum seekers’ and refugees’ children in 2016. Reception classes for children residing in camps and private accommodation were created in state schools in the evenings. This measure has been heavily criticized by civil society organizations and advocacy groups as segregating but also by teachers as counterproductive and ineffective. Finally, since November 2015, an UNHCR accommodation scheme has been providing accommodation to asylum seekers eligible for relocation, family reunification applicants and vulnerable cases. The scheme was extended in July 2017 to include recipients of subsidiary and international protection. The only other alternative provided by the State in terms of housing is refugee camps. However, there has been an increasing acrimony over the reasons why conditions in Greece’s camps are so bad when nearly €1.62 billion of EU funds have been directed towards the country’s humanitarian infrastructure since 2015. Eventually, and following media reports over potential misuse of funds, an investigation by the European anti-fraud agency has recently been launched into alleged irregularities concerning the management of these funds. According to data published by the EC in April 2018, almost €800 million out of the €1.62 billion have been directly given to the Greek authorities; about €500 million to UNHCR; €120 million to the International Organization for Migration (IOM); €26 million to EASO; finally, €200 million have gone to NGOs with an additional €44 million on the way. Greece is the only EU country that receives funds from DG ECHO, the EU department for humanitarian aid and civil protection (as of November 2018). Despite these efforts, the Greek asylum system remains fragile and deficient. Both on the islands and on the mainland, there are significant delays of up to 10 months before someone can lodge his/her asylum application. On mainland Greece, asylum procedure is fraught with backlogs and systemic failures. One such problem is the process through which asylum seekers need to go to launch their claim: While it has been proven complicated, ineffective and quite often unattainable, the Greek Asylum Service insists on using Skype as a method to register asylum claims. Additionally, there are major delays in scheduling first asylum interviews (these are usually scheduled for a year after registration) and in the delivery of decisions. Free of charge legal aid at first instance asylum applications is not provided to applicants. It is also worth mentioning that EASO is increasingly involved in the asylum procedure, conducting interviews and providing recommendations, which exceeds its competence under relevant EU regulations and the Greek law. Finally, there is a backlog of about 3,100 cases of appeals against first instance decisions of the Asylum Service, some of which are pending since October 2015, due to the restructuring of the Appeals Committees mentioned above. Public Reaction to Growing Presence of Asylum Seekers The Greek population’s reaction to the increasing presence of asylum seekers in Greece has fluctuated massively since 2015. In the first months of the crisis on the Aegean islands, Greeks in their majority were moved by the plight of the newcomers. Back then, Greece served as a transit space and most migrants left the country within a week after arrival. Additionally, significant sums of money poured into the Greek economy, either through EU funding, which also created numerous new job opportunities, or because asylum seekers spent their own cash. This reinforced local economies, such as on the island of Lesbos, or even created new micro-economies to cover the needs of transient asylum seekers. At the same time, almost the entire leadership of the Greek neo-Nazi party of Golden Dawn was on trial for conspiring to form a criminal organization responsible for multiple attacks on migrants but also the assassination of the migrant worker Shahzad Luqman and the antifascist rapper Pavlos Fyssas in 2013. They were just forced to keep a low profile, even when they were released from remand. All these aspects factored into a generally positive public sentiment towards asylum seekers. Yet, things gradually started to change with the implementation of the EU-Turkey Statement in March 2016, when increasing numbers of asylum seekers were no longer able to move on to other EU Member States and were forced to remain within the Greek territory. Especially local communities on the Aegean islands and those neighboring camps were at times particularly hostile towards asylum seekers, while Golden Dawn and other fascist groups started organizing again. Since then, racist attacks have once more been on the rise, and covert or open racist discourse has made its way to mainstream media. According to recent studies, Greeks join their Eastern European counterparts in viewing non-EU migration as a threat to the domestic economy, culture, identity and society overall. That said, and taking into account the overwhelming rise of xenophobia and racism in the whole of the continent, it is worth recognizing that the Greek society, despite the harsh economic conditions that a large part of the population has been living under for the past ten years, still shows a mostly welcoming face. There has been a huge civic but also political mobilization and solidarity with the newcomers. Thousands of international activists have travelled to Greece in the past three years to join the efforts of local organizations and individuals to welcome and show solidarity in practice to refugees. Order of the General Court (First Chamber, Extended Composition), 28 February 2017: Externer Link: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:62016TO0193&from=EN (accessed: 7-12-2018). International Rescue Committee (2018): Unprotected, Unsupported, Uncertain. Recommendations to improve the mental health of asylum seekers on Lesvos. Externer Link: https://www.rescue.org/sites/default/files/document/3153/unprotectedunsupporteduncertain.pdf (accessed: 7-12-2018). European Commission (2018): Managing Migration. EU Financial Support to Greece. April. Externer Link: https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/what-we-do/policies/european-agenda-migration/20180404-managing-migration-eu-financial-support-to-greece_en.pdf (accessed: 7-12-2018). For more numbers look at the 2018 Eurobarometer: Externer Link: https://europa.eu/cultural-heritage/news/eurobarometer-2018-results-have-been-published_en and Greece’s National Centre for Social Research reports Externer Link: https://www.ekke.gr/index.php?lng=en (accessed: 3-12-2018).
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-19T00:00:00"
"2019-03-20T00:00:00"
"2022-01-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/287927/current-developments-in-greece-s-refugee-and-asylum-policy/
Since 2015, Greece's asylum system has undergone considerable changes due to rising migratory pressure and political measures adopted at the EU level to curtail the irregular inflow of asylum seekers.
[ "Greece's Refugee Policy", "Greece's Asylum Policy", "Migrationspolitik", "asylum seekers", "Greece", "Griechenland" ]
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In jenen Tagen | AV-Medienkatalog | bpb.de
Regie: Helmut Käutner/Ernst Schnabel Buch: Helmut Käutner Produktion: Camera Filmproduktion GmbH, Bundesrepublik Deutschland 1947 Format: 111 Min. - VHS-Video - s/w Lizenz: alte Bundesländer einschließlich Berlin (West) Stichworte: Deutschland 1933-1945 - Judenverfolgung - Weltkrieg II - Widerstand FSK: 16 Jahre Kategorie: Spielfilm Inhalt: In sieben Episoden erzählt ein Autowrack sein Schicksal und das seiner Besitzer in den Jahren 1933 bis 1945. Da sind der politische Gegner, der bei der Machtübernahme Hitlers fliehen muß, der "entartete" Komponist, der Berufsverbot erhält, der kleine Kunsthändler, der zusammen mit seiner jüdischen Frau in der "Reichskristallnacht" in den Selbstmord getrieben wird, der Widerstandskämpfer, der "auf der Flucht" erschossen wird, der Soldat im eisigen Rußland-Winter, die noble alte Dame, die der Sippenhaft anheimfällt, weil ihr Sohn zu den Männern des 20. Juli gehört, und schließlich die junge Frau mit Kind aus dem Elendszug der Flüchtlingstrecks, der ein fremder Landser weiterhilft. Der Film führt die Zeit des Nationalsozialismus eindringlich vor Augen, die dargestellten Schicksale "packen" den Zuschauer und regen zum Nachdenken an.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-10-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146421/in-jenen-tagen/
Man stelle sich vor, ein Autowrack blicke zurück auf ein wechselhaftes Leben voller Überraschungen. Was mag dabei herauskommen? Eine ganze Menge, zumindest wenn der Regisseur Helmut Käutner ("Der Hauptmann von Köpenick") heißt.
[ "Deutschland 1933 - 1945", "Judenverfolgung", "Weltkrieg II.", "Widerstand" ]
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Venezuela: Lektüre eines geteilten Landes | Revolutionen in Lateinamerika | bpb.de
Einleitung Im Dezember 1998 wurde der Militäroffizier und Exputschist Hugo Chávez Frías zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Sein provokatives Auftreten in der Öffentlichkeit und seine selbsternannte Bolivarische (und nun auch Sozialistische) Revolution sorgen dafür, dass das Land immer wieder auf den Titelseiten der wichtigsten Medien erscheint. Das Phänomen Chávez ruft eine unendliche Anzahl an Fragen hervor. Die meisten sind mit seiner Persönlichkeit, seinen nicht weniger auffälligen internationalen Auftritten, aber vor allem mit der wahren Natur des von ihm präsidierten Regimes verbunden: Handelt es sich um eine Demokratie oder um eine Diktatur? Finden Wahlen statt? Sind diese sauber? Wenn Chávez so schlecht ist, wieso gewinnt er sie? Ziel dieses Artikels ist es, einige dieser Fragen zu beantworten, indem eine Perspektive der Lage Venezuelas vorgestellt wird, die dem Leser die Hintergründe näher bringt. Dafür wird zunächst ein Blick auf die Gesellschaft Ende der 1990er Jahre geworfen, um anschließend zu erläutern, wie es dazu kommen konnte, dass Chávez die Institutionen des demokratischen Systems zerlegen konnte, während er weiterhin hohe Popularität genießt und einen auf kontinuierlichen Wahlsiegen basierenden Schein der Legitimation wahrt. Venezuela vor Chávez Die 1958 errichtete venezolanische Demokratie war von Beginn an ein fragiles politisches System. Die Regierung musste sich gegen die Streitkräfte, die es gewohnt waren, die Macht innezuhaben, wehren und gleichzeitig einer Guerilla marxistischer Prägung entgegentreten. Die mangelnde demokratische Erfahrung der jungen politischen Parteien und eine Vergangenheit, die von Bürgerkriegen, Caudillos, Instabilität und Unmengen an Öl geprägt war, erleichterten den Anfang keineswegs. In diesem Zusammenhang beschlossen die unterschiedlichen Akteure - Parteien, Gewerkschaften, der Arbeitgeberverband und die Kirche - einen Stabilitätspakt ins Leben zu rufen, in welchem sie sich verpflichteten, die demokratischen Spielregeln zu respektieren und destabilisierenden Versuchungen zu widerstehen. Dieses Abkommen pro Status quo nannte man den Pakt von Punto Fijo. Nach 20 Jahren relativen Friedens, wirtschaftlichen Wachstums und des Aufbaus eines umfangreichen sozialen Sicherungssystems, aber auch einer wachsenden Abhängigkeit vom Ölreichtum begann der venezolanische Staat unter den Wechselfällen des internationalen Ölpreises zu leiden. In den Aufschwungszeiten war investiert und ein übertriebener Aufbau des Staatsapparates betrieben worden, der in den 1980er Jahren zur Hypertrophie und Unhaltbarkeit desselben führte. Der Pakt von Punto Fijo, der die junge venezolanische Demokratie schützen sollte, wurde zu einem Pakt des Schweigens. Parteien, Gewerkschaften, Unternehmer und sogar die Kirche sahen weg, während die Bevölkerung, die sie zu vertreten behaupteten, unter den Folgen der fehlerhaften Wirtschaftsplanung und einer korrupten Herrschaftselite litt. Die ersten Symptome einer Erkrankung des Staatsgerüsts zeigten sich in einer Reihe von Gewaltausbrüchen: 1989 kam es beinahe zum Bürgerkrieg (El Caracazo), und 1992 führten die Streitkräfte, die stumme Zeugen der typischen Exzesse einer permissiven karibischen Ölgesellschaft waren, zwei Putschversuche durch. Vor diesem Hintergrund entstand eine Meinungsströmung - die "Anti-Politik" -, die, fest von einer klaren Diagnose der Realität des Landes überzeugt, alle Errungenschaften der Punto-Fijo-Demokratie verteufelte. Die "Anti-Politik" wurde von den Medien, von wirtschaftlichen Interessengruppen und von einem bedeutenden Teil der Bildungselite, die sich öffentlich gegen die Aufrechterhaltung eines gescheiterten Systems aussprachen, gefördert. Parallel dazu begann sich eine signifikante Kluft zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen aufzutun. Die unteren Gesellschaftsschichten waren davon überzeugt, dass der Staat - in Komplizenschaft mit den Eliten - die Öleinnahmen verschwendete, um deren hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Demgegenüber waren die Mittel- und die Oberschicht der Auffassung, dass der paternalistische Staat die Ärmeren verwöhnt habe, indem er keine Gegenleistungen für die sozialen Zuwendungen verlangte, während die Mittel- und Oberschicht zur Verbesserung ihrer Lebensqualität weiterhin hart arbeiten müssten. Demzufolge lebten in den späten 1990er Jahren 70 Prozent der Bevölkerung in Armut, hatten kaum Zugang zum Gesundheitssystem, verharrten auf einem sehr begrenztes Bildungsniveau und lebten in den immer dichter besiedelten und chaotischen urbanen Zentren, in denen hohe Kriminalitätsraten herrschen, als Opfer eines Systems, das soziale Mobilität behindert. Die anderen 30 Prozent lebten in einer isolierten Konsumwelt, die sie zum Gefangenen ihres eigenen Status machte. Sie waren immer stärker von der Gewalt, die sie umgibt, betroffen und schienen ihre Verantwortung am Schicksal des Landes zu verkennen. Nach 40 Jahren Freiheit und Demokratie war die venezolanische Gesellschaft der perfekte Nährboden für die Entstehung einer messianischen Gestalt populistischen Charakters: Die einen bewunderten seine bescheidene Herkunft, die anderen seine militärische Ausbildung und Disziplin. Prioritäten im Konflikt Die schwierigen Ereignisse, welche die ersten vier Jahre der Regierung Chávez prägten, zeigten, dass der Präsident seine Bemühungen auf den Teil der Wählerschaft, den nur er durch Maßnahmen des Staatsapparates erreichen konnte, konzentrieren musste, um die Kontinuität seines politischen Projektes zu gewährleisten. Zu diesem Zweck radikalisierte er seinen Diskurs, indem er sich mit einem messianischen Unterton als einziger statuierte, der die Bedürfnisse der Ärmsten erfüllen konnte. Nach dem Putschversuch gegen Chávez im April 2002 schreckte er nicht davor zurück, sich in eine Schlacht gegen Medien, Gewerkschaften, Arbeitgeber, die Kirche und sogar gegen das staatliche Ölunternehmen PDVSA (Petroleos de Venezuela S.A.) zu begeben. Beide Seiten waren egoistisch genug, über die Zukunft des Landes in einem Kräftespiel zu entscheiden: Die Opposition wettete darauf, dass ein unbefristeter Generalstreik und ein Ausstand der Ölindustrie das Regime in die Knie zwingen würden. Doch nachdem sie die Kontrolle über die Streitkräfte wiedererlangt hatte, fühlte sich die Regierung stark genug, um in den Kampf zu ziehen. Sie hatte nichts zu verlieren, denn sie wusste, dass sie unterliegen würde, wenn ein sofortiges Referendum zu ihrer Abwahl abgehalten werden sollte. Doch wenn sie die Herausforderung annehmen und überleben sollte, würde sie die Gesamtkontrolle über PDVSA erlangen, und somit den Schlüssel zu den öffentlichen Kassen erhalten, die sie dann dafür nutzen würde, die Mehrheit der Bevölkerung auf die Regierungsseite zu ziehen. Die Opposition verkalkulierte sich. Sie hisste Flaggen im Namen einer Freiheit und einer Demokratie, die für den großen Teil der Wählerschaft nur wenig bedeuteten. Währenddessen zwang sie dieselbe Wählerschaft, zwei Monate lang auf die nötigsten Lebensmittel und das für die Zubereitung notwendige Gas zu verzichten. Chávez wusste die Lage auf sehr geschickte Art zu nutzen. Während er es schaffte, die Abhaltung des Abwahlreferendums zu verzögern, rief er das ehrgeizigste Sozialpaket in der jüngeren Geschichte Venezuelas ins Leben. Die sogenannten Misiones - Programme zur sofortigen Armutslinderung - wurden als Grundstein für den Wiederaufbau des seit den 1980er Jahren maroden Sozialsystems konzipiert. Programme wie Barrio Adentro, Robinson, Ribas, Mercal und Identidad könnten auf den ersten Blick als Zeichen des ehrlichen Willens erscheinen, das Leben der Venezolaner zu verbessern. Der Zeitpunkt ihrer Einführung und die Geschwindigkeit, mit der sie erweitert wurden, ließen jedoch erahnen, dass die Programme mit einer doppelten Absicht konzipiert worden waren: Einerseits sollten sie zur Wiedererlangung der Popularität der Regierung beitragen und deren Kontinuität gewährleisten. Auf der anderen Seite sollten sie eine Kurzschlussreaktion bei einigen Teilen der Opposition provozieren, die sie vor der Bevölkerung bloßstellen sollte. Diese Dichotomie spiegelt sich nur zu gut in den diskrepanten Wahrnehmungen der Venezolaner bezüglich der Misiones wider. Ein Befürworter der Regierung wird höchstwahrscheinlich von einem oder mehreren dieser Programme profitiert haben. Für ihn werden diese eine relative Erleichterung in einem Moment äußerster Not gewesen sein, ohne aus seinem Leben ein erfülltes gemacht zu haben. Diesen Venezolaner wird es nicht interessieren, ob die Regierung die Misiones geschaffen hat, um seine Wahlstimme zu kaufen. Es wird ihm auch egal sein, dass ihn jetzt kubanische Ärzte in seiner Nachbarschaft medizinisch versorgen. Ziemlich sicher wird dieser Bürger damit einverstanden sein, dass die Regierung allen Teilnehmern der Alphabetisierungsmission und der Mission zur Nachholung des Abiturs (in der Hälfte der regulären Zeit) ein Stipendium erteilt. Er wird weiterhin die Verwendung der Öleinnahmen der PDVSA als parallelen ungeprüften Staatshaushalt oder die massiven Lebensmitteleinfuhren, welche die Zerstörung der ohnehin knappen einheimischen Lebensmittelindustrie vorantreiben, befürworten. Die Enteignungen und Verstaatlichungen von Unternehmen und landwirtschaftlichen Grundstücken, die das Privateigentum bedrohen, werden ihm keine Sorgen bereiten. Schließlich wird es ihn erstaunen, wie unkompliziert heutzutage die Beantragung des Personalausweises abläuft und wie eifrig die Beamten ihm bei der Registrierung im Wählerverzeichnis zur Hand gehen. Seine grundlegenden Prioritäten sind der Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Lebensmitteln zu subventionierten Preisen sowie das Erlangen eines Schulabschlusses, in der Hoffnung, damit eine Arbeit zu finden. Solange ihm die Regierung diese Prioritäten erfüllt, wird dieser Bürger, so oft es notwendig ist, seine Stimme Chávez geben. Demgegenüber wird ein Oppositioneller womöglich nie Gebrauch von einer der Misiones gemacht haben. Er wird wahrscheinlich nicht zugeben oder aber die Tatsache rechtfertigen, dass es nicht genügend venezolanische Ärzte gibt, die bereit sind, unter den Konditionen zu leben und zu arbeiten, unter denen kubanische Ärzte es in Venezuela tun. Er wird gestehen, dass er privat versichert ist und nur selten, wenn überhaupt, einen Fuß in ein öffentliches Krankenhaus gesetzt hat. Er wird erklären, dass die tatsächliche Wirksamkeit der Alphabetisierungsprogramme ungenügend und der Bildungsgrad der Express-Abiturienten sehr niedrig ist. Er wird klagen, dass die Misiones eigentlich nur kurzsichtige Programme populistischer Natur sind, die politische Ziele verfolgen und kaum nachhaltige Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung haben. Er wird behaupten, dass ihre Aufrechterhaltung nur durch die außerordentlichen Öleinnahmen der vergangenen Jahre möglich ist und dass sie wenig dazu beitragen, die strukturellen Probleme des Landes in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Produktivität zu lösen. Schließlich wird er erwähnen, dass mehr als zwei Millionen Ausländer zwischen 2003 und 2004 kurz vor dem Abwahlreferendum eingebürgert wurden, was eine Erhöhung der Wahlberechtigten um 16,7 Prozent innerhalb eines Jahres zur Folge hatte. Seine Prioritäten sind deutlich andere. Dieser Bürger eines anderen Venezuelas ist besorgt um die Integrität der Regierung, um die Zuverlässigkeit des Wahlsystems, um die ordnungsgemäße Verwaltung der staatlichen Gelder und um die Sicherung seiner politischen und wirtschaftlichen Rechte, da seine materiellen und anderen Grundbedürfnisse bereits gedeckt sind. Diese fast bipolare Art und Weise der Situationsanalyse zeigt die Koexistenz zweier Welten mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen innerhalb eines einzigen Landes. Die Differenzen sind so überwältigend, dass sie sogar dialektischer Natur sind: Chávez-Anhänger nennen sich selbst "das Volk", während sich die Opposition als "Zivilgesellschaft" definiert. Der große Hegemon Wer die demokratische Gesinnung des Regimes unterstreichen möchte, weist darauf hin, dass dieses seit 1998 bei 13 Wahlen unterschiedlichster Natur gesiegt hat. Allerdings ist die Abhaltung von Wahlen nicht die einzige Voraussetzung, um ein System als demokratisch zu qualifizieren. Die Qualität des Wahlsystems, die Unabhängigkeit der Gewalten, die Existenz eines Rechtsstaates, die Gewährleistung von Schutz und Sicherheit der Bürger, die Achtung der Meinungsfreiheit oder die Parteilosigkeit der Streitkräfte, um nur einige zu nennen, sind weitere grundlegende und unverzichtbare Bedingungen einer funktionierenden Demokratie. Wenngleich Venezuela sicherlich auch in früheren Jahren kein Vorbild in diesen Angelegenheiten darstellte, ist es eindeutig, dass in den vergangenen elf Jahren eine drastische Verschlechterung dieser demokratischen Grundvoraussetzungen eingetreten ist. Staatliche Institutionen sind Opfer einer Politisierung geworden, und von Gewaltenteilung und Gewaltenunabhängigkeit kann nicht länger die Rede sein. Die durch den Obersten Gerichtshofs vertretene Judikative untersteht seit 2004, als die Nationalversammlung eine neue Geschäftsordnung des Gerichtshofs auf illegale Weise verabschiedete, der Kontrolle der Exekutive. Nach der neuen Geschäftsordnung wurde die Anzahl der Richter des Obersten Gerichtshofs um 60 Prozent erhöht. Weiterhin durften ab diesem Zeitpunkt alle Mitglieder mit einer einfachen Mehrheit in der Nationalversammlung ernannt oder abgewählt werden. Seitdem wurden mindestens drei Richter des Obersten Gerichtshofs und Dutzende von Richtern anderer Instanzen aus ihren Ämtern entfernt, weil sie Entscheidungen gefällt hatten, die nicht im Einklang mit der Regierungspolitik standen. Alle seitdem neu ernannten Richter wurden nach offensichtlich politischen Kriterien ausgewählt. Die Bürgergewalt, vertreten durch den Rechnungsprüfer, den Generalstaatsanwalt und den Ombudsmann, verdient besondere Erwähnung. Die Generalstaatsanwaltschaft, präsidiert durch Isaías Rodríguez, Ex-Vizepräsident und heute Botschafter in Spanien, konzentrierte sich darauf, den Machtmissbrauch der Regierung zu vertuschen und die Gegner des Regimes zu verfolgen. Dabei vernachlässigte sie ihre Rolle im Kampf gegen die "einfache" Kriminalität und das Organisierte Verbrechen. Der Rechnungsprüfer hat seinerseits in den vergangenen neun Jahren nur einmal für Schlagzeilen gesorgt, als er in den Monaten vor den Regionalwahlen im Jahr 2008 den verfassungswidrigen Beschluss fasste, mehr als 300 Kandidaten, unter ihnen einige Oppositionelle, die große Gewinnchancen hatten, aufgrund vermeintlicher Verbrechen gegen das Staatsgut während der Ausübung ihrer Pflichten für politisch unfähig zu erklären. Der Ombudsmann glänzte durch seine Untätigkeit beim Kampf gegen die politische Verfolgung, die nach der Veröffentlichung der Liste der Antragsunterzeichner für das Referendum zur Abwahl von Chávez im Jahr 2004 stattfand. Tausende von Beschäftigten im öffentlichen Dienst verloren ihre Arbeit, und vielen anderen blieb der Zugang zu öffentlichen Posten verweigert, weil sie als Feinde der Revolution betrachtet wurden. Seit 2005 untersteht die Legislative komplett der Kontrolle der Regierungspartei. Die Entscheidung der Opposition, bei der Parlamentswahl nicht anzutreten, führte zur totalen Regierungsmacht in der Nationalversammlung, eben jenes Staatsorgan, das die Exekutive kontrollieren soll. Im Hinblick auf die Meinungsfreiheit ist es zutreffend, dass die überwiegende Mehrheit der Medien vor allem zwischen 2002 und 2004 eine vereinte Front gegen das Regime bildete. Die privaten Medien wurden de facto zu Protagonisten der politischen Auseinandersetzung. Es ist aber ebenso zutreffend, dass die Regierung nichts unternahm, um diese Konfrontation zu vermeiden. Darüber hinaus förderte sie die Polarisierung der Gesellschaft. Chávez selbst hat Animositäten gegen Journalisten und Medien geschürt, indem er sie ständig den Attacken seiner Anhänger aussetzte. Diese Eingriffe wurden seitens der Regierung nur sehr selten verurteilt, vielmehr als authentischer Ausdruck der Volksstimmung gerechtfertigt. Die Kündigung der Sendegenehmigung des privaten Fernsehsenders RCTV (Radio Caracas Television) und die Schließung von 34 Radiosendern zeigen gemeinsam mit dem offenen Kampf gegen den Nachrichtensender Globovision und gegen mehrere Zeitungen das autoritäre Ethos des Präsidenten. It's the Elections, Stupid! In den vergangenen elf Jahren haben internationale Beobachter immer wieder verschiedenen Wahlen in Venezuela beigewohnt. Keiner hat von Fehlern solch schwerwiegender Natur berichtet, die auf einen massiven Betrug hindeuten würden. Allerdings sind in dieser Zeit nicht wenige Bedenken bezüglich des Wahlsystems aufgekommen. Erste Zweifel tauchten bereits nach dem Abwahlreferendum von 2004 auf und konzentrierten sich auf das außergewöhnliche Wachstum des Wählerverzeichnisses. Wie bereits erwähnt war die jährliche Wachstumsrate für das Jahr 2003/2004 sieben Mal höher als der Durchschnitt der vorangegangenen 25 Jahre. Diese Daten alleine beweisen nichts, würden aber eine Prüfung des gesamten Wählerverzeichnisses als angemessen erscheinen lassen. Die Wahlbehörde verweigert sich jedoch einer solchen Prüfung. Ein weiteres Zeichen der Undurchsichtigkeit des Wahlsystems führte zum Austritt der Opposition unmittelbar vor der Parlamentswahl im Jahr 2005. Die Gründe hinter dieser Entscheidung waren zum einen die Legalisierung der sogenannten Morochas seitens des Obersten Gerichtshofs, um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu umgehen. Zum anderen war die Feststellung ausschlaggebend, dass das automatisierte Wahlsystem die Überwachung der Stimmabgaben zuließ. Wer den demokratischen Charakter der revolutionären Regierung Chávez verteidigt, argumentiert, dass die Regierung im Jahr 2007 die Niederlage beim Referendum über die Verfassungsreform anerkannt habe. Doch dabei werden zwei Dinge verkannt: Entweder wurden die meisten Änderungen, welche die Verfassungsreform enthielt, durch Dekrete mit Gesetzesrang, die im Rahmen des Ermächtigungsgesetzes vom 2008 verabschiedet wurden, eingeführt; oder aber sie wurden auf verfassungswidrige Art und Weise in der Form einer Verfassungsänderung (Novellierung) nur 18 Monate nach dem Referendum umgesetzt, obwohl dies gemäß der Verfassung erst nach 2012 möglich gewesen wäre. Unter den wichtigsten Änderungen befand sich die Möglichkeit der unbegrenzten Wiederwahl aller gewählten Posten. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Präsident, um Siege der Opposition in einigen der wichtigsten Länder bei den Regionalwahlen Ende 2008 zu verhindern, mit einem Beschluss reagierte, nach dem die scheidenden Gouverneure einen wichtigen Anteil ihrer Kompetenzen kurz vor der Amtsübergabe an den Zentralstaat abtreten sollten. Trotz der Verfassungswidrigkeit dieser Entscheidung schuf er die Figur der sogenannten regionalen Vizepräsidenten, die von ihm persönlich ernannt wurden und einen bedeutenden Teil der Befugnisse und des Budgets der regionalen Exekutiven an sich rissen. Quo vadis? Trotz alledem ist anzunehmen, dass die Regierung des Präsidenten Hugo Chávez weiterhin auf die Unterstützung der Mehrheit der Venezolaner zählen kann. Man könnte nun meinen, dass eine Regierung die seitens der Wählerschaft so große Zustimmung erfährt, zumindest einen Teil der hohen Erwartungen erfüllt hat. Ist das nicht das Wesen der Demokratie? Demokratie beruht auf der Achtung der Freiheit und Rechte aller Bürger, auch derer, die anders denken als die Mehrheit. Venezuela hat Regierungen hinter sich, deren Unfähigkeit und Untätigkeit die Bevölkerung völlig vernachlässigt und ausgeschlossen hatten, um dann von einer neuen Elite regiert zu werden, die beschloss, nur für einen Teil der Bevölkerung zu regieren, während sie den anderen Teil dämonisiert und diskriminiert. Das Chávez-Regime hat alle staatlichen Institutionen in die Enge getrieben und rund 45 Prozent der Bevölkerung aus dem politischen Spiel ausgeschlossen. Für Mehrheiten zu regieren, vor allem, wenn es sich um die ärmeren und weniger privilegierten Bürger handelt, ist ein ehrenwertes Vorhaben. Dies aber als Vorwand zu nutzen, um die Grundrechte der restlichen Bevölkerung mit Füßen zu treten, ist eine verwerfliche und völlig undemokratische Praxis. Es ist fraglich, ob Chávez und seine Regierung in der Lage sein werden, sich die Gunst ihrer Wählerschaft zu erhalten. Darin liegt jedoch der Schlüssel zu ihrem Überleben. Sobald die Grundbedürfnisse erfüllt werden, wird es notwendig sein der natürlichen Neuordnung ihrer Anforderungen und Prioritäten gerecht zu werden. Die Ereignisse der vergangenen Monate beweisen, dass die Regierung nicht nur unfähig ist, strukturelle Reformen einzuführen, sondern dass sich die Aufrechterhaltung der sozialen Hilfsprogramme als zu kostspielig erweist. Der Rückgang des Ölpreises in den vergangenen zwei Jahren hat es der Regierung unmöglich gemacht, das Tempo der erforderlichen Ausgaben für viele ihrer sozialen Programme aufrechtzuerhalten. Die jüngsten Skandale um die Mision Mercal haben für Unzufriedenheit unter den Betroffenen gesorgt. Die Knappheit von Grundnahrungsmitteln wird bei Betrachtung der Marktregale jeden Tag deutlicher. Währenddessen verderben hunderttausende Tonnen Lebensmittel in den Häfen des Landes, weil die Regierung nicht in der Lage ist, sie zu verteilen. Der schier unaufhaltsame Anstieg der Preise (die jährliche Inflation beträgt 30 Prozent), die steigende Korruption, der überwältigende wirtschaftliche Aufstieg regierungsnaher Kreise - der sogenannten Boliburguesía - und vor allem die Zunahme willkürlicher Gewaltakte erzeugen Unmut in den ärmeren Teilen der Gesellschaft und führen zu einer Emigrationswelle in den mittleren und oberen Schichten. Die Entstehung von bewaffneten Gruppen, die sich als Verbündete und Beschützer der Revolution definieren, sorgt zusammen mit der Ansiedlung ihrer kolumbianischen Verbündeten auf venezolanischem Boden für Angst in der Bevölkerung und für große internationale Spannungen. Die anhaltenden Proteste der neu entstandenen Studentenbewegung und ihre Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft weisen auf den Popularitätsverlust der Regierung hin. Aktuelle Änderungen im Wahlgesetz, das von der Wahlbehörde genehmigte Gerrymandering und die neuen Regeln, welche die Wahlbeobachter für die Parlamentswahl am 26. September 2010 berücksichtigen müssen, zeigen, dass das Regime nicht bereit ist, eine ausgewogene Zusammensetzung der Nationalversammlung zu akzeptieren. Das Wahlgesetz, das die aktuelle Parlamentswahl regelt, ist verfassungswidrig, weil es den Grundsatz der verhältnismäßigen Vertretung der Minderheiten verletzt. Folgende Zahlen veranschaulichen die Auswirkungen dieser Veränderungen: Nimmt man die Ergebnisse des Referendums zur Verfassungsänderung im Jahr 2009 als Grundlage, bei welchem die Regierung 54,86% und die Opposition 45,14% der Wählerstimmen erzielten, würde die Regierung nach dem neuen Wahlgesetz und nach den Wahlkreisveränderungen nun 76,94% der Sitze in der Nationalversammlung ergattern, während die Opposition nur 24,07% der Sitze erhalten würde (123 gegen 39 Mandate). Nach dem bei der Parlamentswahl 2005 gültigen Wahlgesetz würde die Regierung 56,79% und die Opposition 43,21% der Abgeordneten stellen (92 gegen 70 Mandate). Diese Zahlen verdeutlichen, dass die demokratische Gesinnung des Präsidenten zu schwanken scheint, wenn seine Regierung mit einem hart umkämpften Wahlgang konfrontiert wird. Es wäre zu wünschen, dass die neue Nationalversammlung die tatsächliche Verteilung der Wählerpräferenzen widerspiegelt und dass die Parlamentswahl 2010 zur Einbeziehung der oppositionellen Gruppierungen in die staatlichen Institutionen führt. Vor dem Hintergrund der jüngsten venezolanischen Geschichte ist allerdings zu befürchten, dass dies eher naive Erwartungen als tatsächliche Möglichkeiten bleiben. Amanecerá y veremos. Nachwort: Bei der Parlamentswahl am 26. September 2010 wurde die Bedeutung der oben dargestellten Wahlrechtsreformen offenkundig. Die Opposition stellt rund 37 Prozent (61 von 165) der Abgeordneten, obwohl ihr nach nicht offiziell bestätigten Angaben rund 50 Prozent der Wählerstimmen zugeordnet werden können, während die Regierungspartei beim gleichen Wählerstimmenanteil rund 58 Prozent (95 von 165) der Abgeordneten stellen darf. Die Partei von Präsident Hugo Chávez hat zwar ihre Zweidrittelmehrheit verloren, kann sich aber weiterhin auf eine komfortable Mehrheit stützen. Die größte Herausforderung für die Opposition wird es sein, bis zu den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2012 eine Mehrheit zu konsolidieren, die es ihr nach dann fast 14 Jahren erlauben würde, einen Regimewechsel voranzutreiben. Das Interesse, das Begriffe wie Revolution, Bolivarianismus und "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" verursachen, ist uns bewusst. Leider würde eine detaillierte Analyse einer solchen ideologisch-dialektischen Debatte und der dahinterstehenden Absichten und Handlungen den praktischen Rahmen, den wir für diese Arbeit aufgestellt haben, sprengen. Die Popularität Chávez' erreichte zwischen Februar 2002 und September 2003 seine niedrigsten Werte seit 1998 und bis heute (ungefähr 35%); vgl. Informe de Opinion Pública: Encuesta Nacional ÓMNIBUS de Datanalisis, Octubre 2009, S. 10, online: www.eluniversal.com/2009/10/26/omnibusdatanalisis2009.pdf (5.8.2010). Während des Nationalstreiks und des Ölausstands erlebte das Land eine tragische Knappheit an vorgekochtem Maismehl - grundlegender Bestandteil der venezolanischen Ernährung - und an Gasflaschen. Chávez hat während einer Rede am 12.11.2004 zugegeben, dass die Mision Identidad, bei der Tausende von Menschen durch einen vereinfachten Prozess neue Ausweise beantragen und sich somit bei der Wahlbehörde registrieren konnten, ausschlaggebend für die Ergebnisse des Abwahlreferendums war. Diese direkten Zuschüsse haben dafür gesorgt, dass die Statistiken - gemessen an dem Einkommen - eine drastische Reduktion der Armut nachweisen. Außerdem haben sie Illusionen in Bezug auf die Arbeitslosenzahlen geweckt, da die Teilnehmer an den Missionen nicht zur wirtschaftlich aktiven Bevölkerung gezählt werden. Die PDVSA hat seit 2003 keine Auditberichte bei der Security Exchange Commission mehr vorgestellt. Daher ist es unmöglich zu erfahren, wie viel und vor allem wie die Gelder für die sozialen Missionen der Regierung ausgegeben werden. Diese Ausgaben erfolgen außerhalb des festgelegten Staatshaushaltes. Der Durchschnitt für vergleichbare Perioden in den vergangenen 25 Jahren lag immer unter 2,5% (eigene Berechnung). Vgl. als Quelle: www.cne.gob.ve (20.8.2010). Das Gesetz wurde mit einfacher Mehrheit beschlossen, obwohl dafür eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen wäre. Außer den drei Gewalten (Exekutive, Judikative und Legislative) existieren in Venezuela auch die Bürger- und die Wahlgewalt. Vgl. Teodoro Petkoff, Elections and Political Power. Challenges for the Opposition, in: Revista: Harvard Review of Latin America, 8 (2008) 1, S. 11-13. Die Liste mit den Namen und Personalausweisen der Unterzeichner des Referendumsantrags wurde vom Regierungsabgeordneten Luis Tascon veröffentlicht. Ihre Existenz und Benutzung wurden von Präsident Chávez am 15. April 2005 akzeptiert, als er seine Anhänger dazu aufforderte, diese zu "beerdigen", da diese ihr wichtigstes Ziel schon erreicht habe. Das gemischte Wahlsystem Venezuelas schützt die Repräsentation der Minderheiten, indem die Sitze zwischen Direkt- (Mehrheitswahlrecht) und Listenmandaten (Verhältniswahlrecht) geteilt werden. Dabei sollen die Direkt- von den Listenmandaten subtrahiert werden. Die Zweistimmenregelung, auch Morochas (Zwillinge) genannt, umging diesen Mechanismus, indem die Regierung die Direktkandidaten der chavistischen Parteien unter dem Schirm einer Wählervereinigung, der UVE (Union de Vencedores Electorales/Vereinigung der Wahlgewinner) zur Wahl stellten, damit diese nicht von den durch Listen der Regierungspartei MVR (Movimiento QuintaRepública/Bewegung für eine Fünfte Republik) gewonnenen Mandaten subtrahiert werden konnten. Am 23. November 2005, während eines Auditverfahrens des automatisierten Systems, bewiesen Techniker der Opposition, dass die Maschinen, an denen gewählt werden sollte, die Sequenz der Wähler abspeicherten, was den Grundsatz der geheimen Wahl verletzte. Art. 345 der Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuelas, online: www.constitucion.ve (20.8.2010). Dieses Programm besteht darin, Märkte aufzubauen, in denen subventionierte Lebensmittel zu vergünstigten Preisen gekauft werden können. Vgl. Werner Marti, Desaströse Folgen der Verstaatlichungspolitik in Venezuela, online: www.nzz.ch/nachrichten/wirtschaft/aktuell/desastroese_folgen_der_verstaatlichungspolitik_in_venezuela_1.6370774.html (20.8.2010), und Georg Eickhoff, Venezuela 100 Tage vor der Parlamentswahl, online: www.kas.de/proj/home/pub/62/1/year-2010/dokument_id-19879/index.html (20.8.2010). Quelle: Banco Central de Venezuela. Laut Observatorio Venezolano de la Violencia - eine venezolanische zivilgesellschaftliche Beobachterinstitution für Themen, die mit Gewalt und Gewalttaten verbunden sind - stieg die Zahl der Tötungsdelikte zwischen 1998 und 2009 von 4550 (20 pro 100000 Einwohner) auf 16047 (52 pro 100000 Einwohner) an. Dies bedeutet eine Erhöhung um 352%. 91% der Fälle blieben ungeahndet. Vgl. Francisco Olivares, El último de la clase, online: www.eluniversal.com/2010/08/01/pol_art_el-ultimo-de-la-clas_1986336.shtml (20.8.2010). Die Studentenbewegung entstand im Jahre 2007, als sie sich gegen die Verfassungsreform aussprach. Seitdem spielt sie eine bedeutende Rolle im politischen Geschehen des Landes und wirkt sich hinsichtlich der Wahlergebnisse positiv für die Opposition aus. Vgl. Alfredo Keller y Asociados (ed.), Estudio de la Opinion Pública Nacional: 1er Trimestre de 2010, online: www.scribd.com/doc/29504343/Encuesta-Keller-Primer-trimestre-de-2010 (20.8.2010). In die deutsche Wissenschaftssprache übertragener Fachausdruck aus dem amerikanischen Englisch für die Manipulation der Untergliederung eines Wahlgebietes zwecks Bevorzugung bestimmter Kandidaten. Vgl. Manfred G. Schmidt, Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 1995, S. 353. Die neuen Regeln sehen eine Zensur der Berichte der Beobachter vor. Diese dürfen keine Kommentare in der Öffentlichkeit abgeben, und die Berichte werden als vertrauliche Dokumente bei der Wahlbehörde eingereicht, die anschließend selbst entscheiden wird, ob diese veröffentlicht werden, vgl. Juan Francisco Alonso, Normas sobre la observacion electoral violan la libre expresion, online: http://politica.eluniversal.com/2010/08/09/pol_art_normas-sobre-la-obse_1999865.shtml (20.8.2010). Art. 63 der Verfassung (Anm. 14). Quelle: www.cne.gob.ve (20.8.2010). Deutsch: Beim Morgengrauen werden wir sehen.
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, Cristian Balteo Yazbeck / , Melina Fernández Temes
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32463/venezuela-lektuere-eines-geteilten-landes/
Das Phänomen Hugo Chávez ruft viele Fragen hervor. Die wichtigste bezieht sich auf die wahre Natur seines Regimes: Kann man tatsächlich noch von einer Demokratie sprechen?
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40 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament | Wahlen zum Europäischen Parlament | bpb.de
Herzlich willkommen! Dieses Gebäude im elsässischen Straßburg wurde nach der aus Frankreich stammenden, europäischen Vordenkerin Louise Weiss benannt und ist seit seiner Eröffnung im Jahr 1999 Sitz des Europäischen Parlaments. Die Abgeordneten pendeln jeden Monat zwischen hier und dem Parlamentssitz in Brüssel. (© euroluftbild.de / Robert Grahn / Süddeutsche Zeitung Photo) Seit 1979 haben die Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedstaaten alle fünf Jahre das Recht, ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten im Europäischen Parlament (EP) direkt zu wählen. Über die letzten 40 Jahre hinweg hat es sich in seiner Zusammensetzung und seinen Kompetenzen dabei stark verändert. Während 1979 noch 410 Abgeordnete aus neun Mitgliedstaaten im Parlament zusammenkamen, hat sich die EU auf (noch) 28 Mitgliedstaaten erweitert, die in der Wahlperiode 2014 bis 2019 751 Abgeordnete in das EP wählten. Damit gehört das Europaparlament zu den weltweit größten Parlamenten. In der Zeit seit den ersten Direktwahlen wurden auch die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments Schritt für Schritt erweitert. Während es bei der ersten Direktwahl 1979 zu vielen wichtigen Themen höchstens befragt wurde, spielt das Parlament bei der EU-Gesetzgebung heute vielfach eine entscheidende Rolle. Insbesondere der im Jahr 2009 in Kraft getretene Lissabon-Vertrag trug dazu bei, dass das Parlament in vielen Bereichen auf Augenhöhe mit den nationalen Regierungen im Ministerrat der EU Rechtsakte verabschiedet, den EU-Haushalt beschließt oder internationale Abkommen absegnet. Das bekannteste Beispiel für die neue Bedeutung des EP zeigt sich in dem sogenannten Spitzenkandidaten-Verfahren. Im Jahr 2014 kandidierten erstmals Vertreterinnen und Vertreter aus den europäischen Parteien um das Amt des Kommissionspräsidenten – das Parlament beanspruchte, dass der "Gewinner" der Europawahlen Präsident der Kommission werden sollte. In den Jahren zuvor wurde der Kommissionspräsident durch den Europäischen Rat bestimmt, dessen Vorgehen dabei häufig für seine Intransparenz kritisiert wurde. Bei den Europawahlen 2019 können die Bürgerinnen und Bürger der EU also sowohl die Besetzung der Führungspositionen, als auch die politische Ausrichtung der EU maßgeblich mitbestimmen. Die Stärkung des EP im Rahmen des Lissabon-Vertrags galt auch als eine Reaktion auf das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Als einzige direkt demokratische Institution im politischen System der EU kommt dem Parlament hier eine wichtige Rolle zu. Dass die demokratische Repräsentation der EU-Bürgerinnen und Bürger auf EU-Ebene jedoch weiterhin kein vollständig gelöstes Problem ist, zeigt der Blick auf die formalen und tatsächlichen Kompetenzen des EP. Jenseits der Gesetzgebung, insbesondere bei der Bewältigung der großen Krisen der EU, hat das Parlament weiterhin nur begrenzte Einflussmöglichkeiten. Bedeutung der bevorstehenden Wahlen Europawahlen gelten traditionell als sogenannte Wahlen zweiter Ordnung, die eher einer Aneinanderreihung von 28 nationalen Wahlen denn einer gemeinsamen europäischen Wahl gleichen. Diese untergeordnete Bedeutung äußerte sich bei den bisherigen Europawahlen vielfach: Für nationale Parteien, insbesondere Parteien der politischen Mitte, war der Europawahlkampf nur zweitrangig. Jenseits einzelner Versuche gab es bisher kaum EU-weite Wahlkämpfe oder aussagekräftige Wahlprogramme der Parteien. Bei den Europawahlkämpfen dominierten daher in vielen Mitgliedstaaten auch nationale statt europapolitische Themen. Ebenso nutzten Wählerinnen und Wähler die Europawahl häufig eher als Abstimmung, um ihrer nationalen Regierung einen Denkzettel zu verpassen, und weniger, um europapolitische Akzente zu setzen. Nicht zuletzt ist die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europaparlament seit der ersten Wahl 1979 durchgängig gesunken und liegt in allen Mitgliedstaaten deutlich unter dem Niveau von nationalen Wahlen. Externer Link: http://www.europarl.eu/elections2014-results/de/turnout.html (© TNS/Scytl in Zusammenarbeit mit dem Europaparlament) Doch die Europawahlen 2019 könnten zu einer Richtungswahl über die Zukunft der Europäischen Union werden: Nicht nur weil das Parlament an Bedeutung gewonnen hat, sondern vor allem auch, weil sich das europäische Parteiensystem gerade fundamental wandelt. Während die etablierten Parteien an Unterstützung verlieren, haben rechtspopulistische und EU-skeptische Parteien europaweit zugelegt. Gleichzeitig gibt es verstärkte Bemühungen, die traditionell zersplitterten EU-skeptischen Kräfte in einer Sammelbewegung zu vereinen. Die Versuche, diese Kräfte zu einen, reichen bis in die christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei (EVP), in der der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zunehmend in die Kritik gerät. Parteipolitisch wurde die Europäische Union bisher von der EVP und den europäischen Sozialdemokraten dominiert. Da beide Parteifamilien jedoch in vielen Mitgliedstaaten an Zustimmung verloren haben, drohen sie 2019 erstmals ihre absolute Mehrheit im EP zu verlieren. Europäische Bürgerschaft (© Standard-Eurobarometer 90 – Herbst 2018, S. 35) Diese Veränderungen finden in einer Zeit statt, in der das europäische Integrationsprojekt durch den Brexit ohnehin schon ernsthaft in Frage gestellt worden ist. Obwohl die Zustimmungswerte für die EU seit dem britischen Referendum steigen und EU-skeptische Parteien in anderen Mitgliedstaaten von der Forderung, die EU ganz verlassen zu wollen, abrücken, könnte mit der bevorstehenden Wahl nach einem Krisenjahrzehnt die grundlegende Ausrichtung der EU verändert werden. Europapolitische Themen sind polarisierend wie nie zuvor. Der Umgang mit Migration und die Zukunft der europäischen Asylpolitik, die Reform der Eurozone und die europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Handelspolitik sowie der Umgang mit den USA unter Präsident Donald Trump, Russland oder China, die Regulierung der nächsten technologischen Fortschritte wie künstlicher Intelligenz oder selbstfahrenden Autos, die europäische Klimapolitik – all dies sind europäische Themen von politisch sehr hoher Bedeutung, welche die Europawahlen zu einer Richtungswahl machen. Was interessiert mich Europa? (© Thomas Plaßmann) Darüber hinaus haben die Europawahlen auch an Bedeutung für die Besetzung der Spitzenpositionen in der EU gewonnen. Nicht erst seit der vergangenen Wahlperiode gilt das Jahr der Europawahlen in Brüssel als "Jahr des institutionellen Übergangs". Denn sowohl der Präsident der EU-Kommission als auch die Hohe Vertreterin der EU, welche die Union nach außen vertritt, sind an das Europäische Parlament und dessen Mehrheit gebunden. Auch der Präsident des Europäischen Rates, aktuell Donald Tusk, wird 2019 von den Staats- und Regierungschefs der EU neu gewählt, worauf das Wahlergebnis zumindest implizit einwirkt. QuellentextWas halten die Deutschen von der Europäischen Einigung? […] [Z]u keinem Zeitpunkt war die Annahme richtig, dass sich die Bevölkerung von der Europäischen Union abgewandt habe. Die Allensbacher Umfragen […] zeigen deutlich, dass die Deutschen auch auf dem Höhepunkt der Sorgen um den Euro, um die finanzielle Stabilisierung Griechenlands und um den Zustrom der Flüchtlinge von ihrer grundsätzlich europa-freundlichen Haltung nicht abgewichen sind. Die Begeisterung, die der Gedanke an die Europäische Einigung in früheren Jahrzehnten entfacht hatte, war allerdings schon lange verflogen. Mit dem Entschluss des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, und mit der Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Staatspräsidenten schien sich das Meinungsklima zu wandeln. Erstmals nach längerer Zeit wuchs das Ansehen der Europäischen Union wieder. Es war, als würde den Bürgern der Wert des vereinten Europas erst bewusst, als es in Gefahr geriet. Heute wird nach Jahren der Forderungen, Kompetenzen an die Nationalstaaten zurückzuverlagern, wieder von einer Vertiefung der Integration gesprochen. […] Wie steht die Bevölkerung heute [Anfang 2018] […] zur europäischen Integration? Ist etwas von der in der Politik beschworenen Aufbruchsstimmung zu spüren, oder überwiegt die Skepsis? […] Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass das Europabild der Deutschen weitaus weniger stark schwankt, als man annehmen könnte. Ein Beispiel ist die Frage "Was bedeutet die EU für Sie?" Dazu wurde eine Liste mit 13 Punkten zur Auswahl überreicht. 78 Prozent der Befragten sagten, die EU sei für sie eine Wirtschaftsgemeinschaft, die dazu diene, den Handel zwischen den europäischen Ländern zu erleichtern und zu fördern. 72 Prozent wählten den Punkt "ein Europa ohne Grenzen, in dem man ungehindert reisen und seinen Beruf ausüben kann". 60 Prozent dachten an Vorteile für die Verbraucher durch den gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine gemeinsame Währung, 57 Prozent an eine wuchernde Bürokratie und einen großen, schwer durchschaubaren Beamtenapparat. Bei den meisten Punkten unterscheiden sich die Antworten kaum von denen, welche die Befragten 2013 und 2014 gegeben hatten, als die Frage zuletzt gestellt worden war. Einen deutlichen Rückgang gab es indes bei der Aussage, die EU sei ein Risiko für den Wohlstand in Deutschland. Diesen Punkt hatten 2013 41 Prozent ausgewählt, in der aktuellen Umfrage waren es noch 18 Prozent. Aufschlussreich ist, wie sich bei dieser Frage im vergangenen Jahrzehnt die Antworten verändert haben. Als sie 2010, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise in Griechenland, gestellt wurde, erhielten die zur Auswahl gestellten positiven Aussagen im Durchschnitt eine Zustimmung von 51 Prozent der Befragten. Bei den negativen Aussagen lag der Durchschnittswert bei 42 Prozent. 2014, nach der Griechenland-Krise, hatte bei denselben Punkten die Zahl der negativen Aussagen deutlich auf durchschnittlich 56 Prozent zugenommen, aber auch bei den positiven war eine Zunahme auf 59 Prozent zu verzeichnen. Die Krise hatte die Bürger dazu gebracht, sich intensiver als zuvor mit dem Thema Europa zu beschäftigen. Damit waren ihre Vorstellungen von der EU klarer und vielfältiger geworden – positive wie negative. Die aktuellen Ergebnisse unterscheiden sich mit durchschnittlich 56 Prozent für die positiven und 54 Prozent für die negativen Aussagen nicht wesentlich von denen des Jahres 2014. Angesichts der Vorwürfe, die gelegentlich zu hören waren, bei der Europäischen Union handele es sich um einen "Superstaat", der die europäischen Völker unterdrücke, wurde zum ersten Mal auch die Antwortmöglichkeit, die EU sei "eine überflüssige Institution, die die einzelnen Länder bevormundet", in die Liste aufgenommen. Diese Haltung wird nur von einer kleinen Minderheit von 14 Prozent geteilt. Lediglich die Wähler der AfD stimmen der Aussage zu 50 Prozent zu. Insgesamt betrachten die Deutschen die Bemühungen der Politik, der europäischen Einigung neuen Schwung zu geben, mit Sympathie. Das erkennt man an den Antworten auf eine Frage, bei der zwei Argumente zur Auswahl vorgelegt wurden. Das erste lautete: "Ich bin dafür, dass die europäische Einigung weiter vorangetrieben wird und rasch Fortschritte macht. Die europäischen Länder sollten gemeinsam auftreten und mit einer Stimme sprechen. Nur so kann sich Europa in der Welt durchsetzen." Die Gegenposition lautete: "Mir geht die Europäische Einigung jetzt schon zu weit. Den einzelnen Ländern muss wieder mehr Macht übertragen werden, damit jedes Land seine eigenen Entscheidungen treffen kann." 49 Prozent der Befragten stimmten der ersten Aussage zu, 34 Prozent der zweiten, ein bemerkenswertes Ergebnis nach Jahren, in denen sich bei anderen Fragen zumindest relative Mehrheiten dafür ausgesprochen hatten, Kompetenzen von der EU zu den Nationalstaaten zurückzuverlagern. […] Ob die Bemühungen um eine Intensivierung der europäischen Einigung auch in der Praxis von der Bevölkerung unterstützt werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, einen charismatischen Wortführer hierfür zu finden. […] Wie bei vielen komplexen politischen Themen ist die Haltung der Bürger zur europäischen Einigung nicht frei von Widersprüchen. Einerseits gibt es, wie in früheren Umfragen wiederholt gezeigt wurde, durchaus pauschale Klagen über eine angeblich zu große Einmischung der EU in die Angelegenheiten der Mitgliedsländer. Andererseits findet man bei der Frage, welche konkreten Politikfelder auf europäischer und welche auf nationaler Ebene geregelt werden sollten, nur wenige Punkte, bei denen sich die Bürger für eine Regelung auf nationaler Ebene aussprechen. So sagten in der vorliegenden Umfrage 72 Prozent der Befragten, die Außen- und Sicherheitspolitik solle einheitlich europäisch geregelt werden, 71 Prozent sagten dasselbe über die Flüchtlingspolitik. 67 Prozent meinten, die EU müsse festlegen, wie viele Schulden ein Mitgliedsland machen darf. Auch die Schul- und Hochschulabschlüsse sollten nach Meinung einer Mehrheit EU-einheitlich geregelt werden. Lediglich die Festlegung der Steuern und Abgaben sowie die Festlegung, wer welche Sozialleistungen erhält, möchte die Bevölkerung mehrheitlich in den Händen der Nationalstaaten wissen. […] Thomas Petersen, "Ein neuer Aufbruch für Europa? Deutsche Frage – Deutsche Antworten", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv Herzlich willkommen! Dieses Gebäude im elsässischen Straßburg wurde nach der aus Frankreich stammenden, europäischen Vordenkerin Louise Weiss benannt und ist seit seiner Eröffnung im Jahr 1999 Sitz des Europäischen Parlaments. Die Abgeordneten pendeln jeden Monat zwischen hier und dem Parlamentssitz in Brüssel. (© euroluftbild.de / Robert Grahn / Süddeutsche Zeitung Photo) Externer Link: http://www.europarl.eu/elections2014-results/de/turnout.html (© TNS/Scytl in Zusammenarbeit mit dem Europaparlament) Europäische Bürgerschaft (© Standard-Eurobarometer 90 – Herbst 2018, S. 35) Was interessiert mich Europa? (© Thomas Plaßmann) […] [Z]u keinem Zeitpunkt war die Annahme richtig, dass sich die Bevölkerung von der Europäischen Union abgewandt habe. Die Allensbacher Umfragen […] zeigen deutlich, dass die Deutschen auch auf dem Höhepunkt der Sorgen um den Euro, um die finanzielle Stabilisierung Griechenlands und um den Zustrom der Flüchtlinge von ihrer grundsätzlich europa-freundlichen Haltung nicht abgewichen sind. Die Begeisterung, die der Gedanke an die Europäische Einigung in früheren Jahrzehnten entfacht hatte, war allerdings schon lange verflogen. Mit dem Entschluss des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, und mit der Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Staatspräsidenten schien sich das Meinungsklima zu wandeln. Erstmals nach längerer Zeit wuchs das Ansehen der Europäischen Union wieder. Es war, als würde den Bürgern der Wert des vereinten Europas erst bewusst, als es in Gefahr geriet. Heute wird nach Jahren der Forderungen, Kompetenzen an die Nationalstaaten zurückzuverlagern, wieder von einer Vertiefung der Integration gesprochen. […] Wie steht die Bevölkerung heute [Anfang 2018] […] zur europäischen Integration? Ist etwas von der in der Politik beschworenen Aufbruchsstimmung zu spüren, oder überwiegt die Skepsis? […] Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass das Europabild der Deutschen weitaus weniger stark schwankt, als man annehmen könnte. Ein Beispiel ist die Frage "Was bedeutet die EU für Sie?" Dazu wurde eine Liste mit 13 Punkten zur Auswahl überreicht. 78 Prozent der Befragten sagten, die EU sei für sie eine Wirtschaftsgemeinschaft, die dazu diene, den Handel zwischen den europäischen Ländern zu erleichtern und zu fördern. 72 Prozent wählten den Punkt "ein Europa ohne Grenzen, in dem man ungehindert reisen und seinen Beruf ausüben kann". 60 Prozent dachten an Vorteile für die Verbraucher durch den gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine gemeinsame Währung, 57 Prozent an eine wuchernde Bürokratie und einen großen, schwer durchschaubaren Beamtenapparat. Bei den meisten Punkten unterscheiden sich die Antworten kaum von denen, welche die Befragten 2013 und 2014 gegeben hatten, als die Frage zuletzt gestellt worden war. Einen deutlichen Rückgang gab es indes bei der Aussage, die EU sei ein Risiko für den Wohlstand in Deutschland. Diesen Punkt hatten 2013 41 Prozent ausgewählt, in der aktuellen Umfrage waren es noch 18 Prozent. Aufschlussreich ist, wie sich bei dieser Frage im vergangenen Jahrzehnt die Antworten verändert haben. Als sie 2010, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise in Griechenland, gestellt wurde, erhielten die zur Auswahl gestellten positiven Aussagen im Durchschnitt eine Zustimmung von 51 Prozent der Befragten. Bei den negativen Aussagen lag der Durchschnittswert bei 42 Prozent. 2014, nach der Griechenland-Krise, hatte bei denselben Punkten die Zahl der negativen Aussagen deutlich auf durchschnittlich 56 Prozent zugenommen, aber auch bei den positiven war eine Zunahme auf 59 Prozent zu verzeichnen. Die Krise hatte die Bürger dazu gebracht, sich intensiver als zuvor mit dem Thema Europa zu beschäftigen. Damit waren ihre Vorstellungen von der EU klarer und vielfältiger geworden – positive wie negative. Die aktuellen Ergebnisse unterscheiden sich mit durchschnittlich 56 Prozent für die positiven und 54 Prozent für die negativen Aussagen nicht wesentlich von denen des Jahres 2014. Angesichts der Vorwürfe, die gelegentlich zu hören waren, bei der Europäischen Union handele es sich um einen "Superstaat", der die europäischen Völker unterdrücke, wurde zum ersten Mal auch die Antwortmöglichkeit, die EU sei "eine überflüssige Institution, die die einzelnen Länder bevormundet", in die Liste aufgenommen. Diese Haltung wird nur von einer kleinen Minderheit von 14 Prozent geteilt. Lediglich die Wähler der AfD stimmen der Aussage zu 50 Prozent zu. Insgesamt betrachten die Deutschen die Bemühungen der Politik, der europäischen Einigung neuen Schwung zu geben, mit Sympathie. Das erkennt man an den Antworten auf eine Frage, bei der zwei Argumente zur Auswahl vorgelegt wurden. Das erste lautete: "Ich bin dafür, dass die europäische Einigung weiter vorangetrieben wird und rasch Fortschritte macht. Die europäischen Länder sollten gemeinsam auftreten und mit einer Stimme sprechen. Nur so kann sich Europa in der Welt durchsetzen." Die Gegenposition lautete: "Mir geht die Europäische Einigung jetzt schon zu weit. Den einzelnen Ländern muss wieder mehr Macht übertragen werden, damit jedes Land seine eigenen Entscheidungen treffen kann." 49 Prozent der Befragten stimmten der ersten Aussage zu, 34 Prozent der zweiten, ein bemerkenswertes Ergebnis nach Jahren, in denen sich bei anderen Fragen zumindest relative Mehrheiten dafür ausgesprochen hatten, Kompetenzen von der EU zu den Nationalstaaten zurückzuverlagern. […] Ob die Bemühungen um eine Intensivierung der europäischen Einigung auch in der Praxis von der Bevölkerung unterstützt werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, einen charismatischen Wortführer hierfür zu finden. […] Wie bei vielen komplexen politischen Themen ist die Haltung der Bürger zur europäischen Einigung nicht frei von Widersprüchen. Einerseits gibt es, wie in früheren Umfragen wiederholt gezeigt wurde, durchaus pauschale Klagen über eine angeblich zu große Einmischung der EU in die Angelegenheiten der Mitgliedsländer. Andererseits findet man bei der Frage, welche konkreten Politikfelder auf europäischer und welche auf nationaler Ebene geregelt werden sollten, nur wenige Punkte, bei denen sich die Bürger für eine Regelung auf nationaler Ebene aussprechen. So sagten in der vorliegenden Umfrage 72 Prozent der Befragten, die Außen- und Sicherheitspolitik solle einheitlich europäisch geregelt werden, 71 Prozent sagten dasselbe über die Flüchtlingspolitik. 67 Prozent meinten, die EU müsse festlegen, wie viele Schulden ein Mitgliedsland machen darf. Auch die Schul- und Hochschulabschlüsse sollten nach Meinung einer Mehrheit EU-einheitlich geregelt werden. Lediglich die Festlegung der Steuern und Abgaben sowie die Festlegung, wer welche Sozialleistungen erhält, möchte die Bevölkerung mehrheitlich in den Händen der Nationalstaaten wissen. […] Thomas Petersen, "Ein neuer Aufbruch für Europa? Deutsche Frage – Deutsche Antworten", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-04T00:00:00"
"2019-03-19T00:00:00"
"2022-02-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/wahlen-zum-europaeischen-parlament-339/287745/40-jahre-direktwahlen-zum-europaeischen-parlament/
Der Einfluss des Europäischen Parlaments auf die Politik der Europäischen Union ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Dies allein erklärt jedoch noch nicht die besondere Bedeutung der bevorstehenden Wahlen im Mai 2019 – sie werden auch über
[ "IzpB 339/2018-2019", "Wahlen zum Europäischen Parlament" ]
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Protest und Opposition in der Türkei – Das Ende einer Erfolgsgeschichte? | Türkei | bpb.de
Zwei Wochen lang hielten heftige Proteste die türkischen Städte Istanbul, Ankara und Izmir in Atem. Auslöser war die Abholzung von Bäumen im Gezi-Park am Taksim Platz, um für einen Nachbau der Topçu-Kaserne und ein Einkaufszentrum Platz zu machen. Das harte Durchgreifen der Polizeikräfte gegen friedliche Demonstranten setzte eine Gewaltspirale in Gang: Protestierende wurden mit Tränengaspatronen angeschossen, Hunderte von ihnen verhaftet, und es kam zu Zusammenstößen zwischen militanten Gruppen und der Polizei sowie zu gewalttätigen Ausschreitungen – Autos und öffentliche Verkehrsmittel wurden angezündet. Im Vorfeld der Proteste heizte der türkische Premier Erdoğan mit seiner beleidigenden Anspielung auf den Republikgründer Atatürk und seinen langjährigen Weggefährten İnönü zusätzlich die Stimmung an. Das »Gesetz Gottes« verbiete den Alkoholkonsum und sei wichtiger als die »Gesetze von zwei Betrunkenen«. Zuvor hatte die AKP ein Gesetz verabschiedet, das den Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit und die Werbung von Alkohol stark einschränkt. Der Protest für den Erhalt des Gezi-Parks weitete sich zu türkeiweiten Protestaktionen gegen Erdoğan aus, die für die Türkei ungewöhnlich sind und daher große Aufmerksamkeit erregen. Vergleiche mit dem Arabischen Frühling sind jedoch wenig hilfreich. Anders als Ägypten, Libyen oder Syrien hat die Türkei – wenn auch mit Defiziten – eine funktionierende Demokratie, eine lange Tradition demokratischer Wahlen und eine demokratisch gewählte Regierung. Doch wer sind die Protestierenden, was sind die Hintergründe der Proteste und welche Entwicklungen sind zu erwarten? Gebildet, libertär und bunt… Erdoğan machte linke Gruppierungen und die Republikanische Volkspartei (CHP), die größte Oppositionskraft, für die Proteste verantwortlich und witterte anti-demokratische Motive dahinter. Die CHP stachele die Demonstranten an, weil sie an den Wahlurnen gescheitert sei und keinerlei Hoffnung auf einen Wahlsieg habe. Damit spielte Erdoğan fälschlicherweise auf die Demonstrationen aus dem Jahr 2007 an, mit denen nationalistische Kräfte die AKP schwächen und eine Kandidatur von Abdullah Gül für das Amt des Staatspräsidenten verhindern wollten. Fakt ist jedoch, dass der Großteil der Protestierenden aus urbanen Jugendlichen besteht, die zum ersten Mal an einer Demonstration teilnehmen, fand eine aktuelle Meinungsumfrage heraus. Dieser zufolge besitzen 56 Prozent der Protestierenden auf dem Gezi-Park einen universitären Abschluss, ein Drittel sind Studenten und 50 Prozent berufstätig. 49 Prozent der Befragten haben sich aufgrund der Polizeigewalt entschieden, an den Protestaktionen teilzunehmen, für 14 Prozent waren Erdoğans Äußerungen ausschlaggebend. Sie fordern mehr Freiheit (34 Prozent), die Achtung der Menschenrechte (18 Prozent), mehr Demokratie (acht Prozent) und ein kleiner Teil den Rücktritt der Regierung (neun Prozent). Viele der Protestierenden gehören einer neuen Mittelschicht an, die Resultat der Wirtschaftspolitik der AKP-Regierung ist. Wenngleich an Protestaktionen auch Anhänger politischer Parteien wie etwa der CHP, der prokurdischen Partei BDP, linker Gruppierungen oder »Links-Kemalisten« teilnehmen, will die Mehrheit mit den etablierten Parteien nichts zu tun haben. Den Großteil der ethnisch, kulturell und politisch unterschiedlichen Gruppierungen mit jeweils eigenen Forderungen eint die Ablehnung von Erdoğans polarisierend autoritärem Führungsstil. Unmut trotz Wirtschaftsleistung Aufgrund der Wirtschaftsleistung unter der AKP-Regierung kommen die Protestaktionen für viele überraschend daher. Wenngleich es bei den Protesten nicht um wirtschaftliche Belange geht und die Proteste kaum antikapitalistische oder kapitalismuskritische Komponenten beinhalten, so spielt Wirtschaft doch eine indirekte Rolle. Im Zuge der Wirtschaftsentwicklung der letzten zehn Jahre hat sich in der Türkei eine starke Mittelschicht herausgebildet und die Kaufkraft der Massen ist deutlich gestiegen. Es gibt 67 Millionen Mobilfunkanschlüsse und die Nutzung sozialer Medien wie Facebook oder Twitter ist ebenfalls weit verbreitet, die auch bei den Protestaktionen eine wichtige Rolle spielen. Gleichwohl konnte auch die positive Wirtschaftsentwicklung die Polarisierung der türkischen Gesellschaft entlang kultureller Linien kaum entschärfen. Das Wirtschaftswachstum ging mit dem Aufstieg neuer sozialer Gruppen einher, deren Wertesystem im Islam verwurzelt und deren Lebensstil konservativ-puritanisch geprägt ist. Gleichzeitig begünstigte die Wirtschaftsentwicklung die Entstehung einer starken Mittelschicht, die mit der konservativen Wende unzufrieden ist und mehr Demokratie und individuelle Autonomie fordert. Die AKP-Regierung wird auch kritisiert, bei der Vergabe von Staatsaufträgen an Baufirmen oder bei der Besetzung von staatlichen Ämtern Personen mit religiös konservativem Lebensstil zu bevorzugen, was die Verdrängungsängste säkular-liberaler Bevölkerungsteile weiter nährt. Für Unmut sorgen auch gigantische Bauprojekte, die mit Vetternwirtschaft und Korruption in Verbindung gebracht werden. Von der Demokratisierung zum autoritärem Führungsstil Zu den politischen Ursachen der Proteste gehört auch der Stillstand der Demokratisierung. Die AKP ging aus den Wahlen im Jahr 2002 und in den folgenden zwei Parlamentswahlen als Siegerin hervor, weil sie mehr als jede Partei zuvor Demokratisierung versprach. Die AKP-Regierung setzte die im Zuge der Verhandlungen mit der Europäischen Union begonnene Demokratisierung fort, mobilisierte die Unterstützung islamistisch-konservativer Bevölkerungsteile für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei und überzeugte sie von der Notwendigkeit unpopulärer Wirtschaftsreformen. Neben einer deutlichen Beschneidung der Machtposition des Militärs wurden demokratische Rechte und individuelle Freiheiten ausgeweitet. Die Versuche der alten politischen Klasse, der Justiz und der Presse, die AKP-Regierung und Erdoğan durch Massenprotesten (2007) und ein AKP-Verbot (2008) zu schwächen, schlugen zwar fehl, aber die aufgeheizten Diskurse förderten ein unversöhnliches Lagerdenken. Die AKP-Regierung setzte die Wirtschaftsliberalisierung und den EU-Reformprozess fort und brach die Hegemonie der autoritären etablierten Eliten und Institutionen nachhaltig. Sie wollte aber die Tradition des paternalistischen Staates nicht ersetzen und entwickelte sich zunehmend von einer reformierenden in eine konservative Kraft, die auf Konsolidierung eigener Macht aus zu sein scheint. Mit seinem autoritären Führungsstil zog Erdoğan den Zorn säkular liberaler Bevölkerungsteile auf sich. In den letzten Jahren nahmen die Menschenrechtsverletzungen, Einschränkungen der Presse- und Redefreiheit zu. Journalisten wurden von Erdoğan öffentlich gescholten und verloren anschließend ihren Job, Medieninhaber wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Gegen kurdische Bürgermeister oder kritische Journalisten wurden mit dem Vorwurf, Mitglied einer Terrororganisation zu sein, Prozesse geführt und Haftstrafen verhängt. So schuf Erdoğan eine Distanz zwischen sich und großen Teilen der türkischen Bevölkerung. Kulturkampf von oben Mit seinem »Kulturkampf von oben« trieb Erdoğan die Polarisierung der Gesellschaft entlang kultureller Linien weiter an. Die Geschichte der modernen Türkei ist geprägt durch das Streben nach Modernisierung, um Anschluss an die europäischen Mächte zu finden. Im Zuge dieser Modernisierung »von oben«, die mit der Weltmarktintegration zusammenfiel, kam es zu einem Aufeinandertreffen autochthoner Wirtschaftssysteme und traditioneller gesellschaftlicher und politischer Strukturen in der Türkei mit der europäisch-kapitalistischen Moderne, das nachhaltige gesamtgesellschaftliche Spannungen hervorgerufen hat. Die säkularen Reformen nach der Republikgründung sollten die Religion aus dem öffentlich-staatlichen Bereich zurückdrängen und einen von »irrationalen« und religiösen Elementen freien öffentlichen Bereich schaffen. Nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem ist es Islamisten gelungen, zunächst unter der Schirmherrschaft von konservativ liberalen Mitte-Rechts-Regierungen, später in den 1990ern eigenständig, den radikalen Laizismus zurückzudrängen, den Islam als einen politischen Faktor zu rehabilitieren und den politischen Diskurs zu bestimmen. Verstand die AKP anfangs, eine Antwort auf die Herausforderungen der neoliberalen Marktwirtschaft und der Globalisierung zu geben ohne die islamische Tradition zu vernachlässigen, ist es ihr letztendlich nicht gelungen, den seit der Republikgründung schwelenden Kulturkampf zwischen traditionell-konservativ und säkular-liberal orientierten Bevölkerungsteilen zu entschärfen. Erdoğans Plädoyer an junge Frauen, mindestens drei Kinder zu gebären, seine Ankündigung, eine religiöse Jugend heranziehen zu wollen, sein Vorstoß, Abtreibungen zu verbieten sowie zuletzt die Verabschiedung eines Gesetzes zur Einschränkung des Alkoholkonsums in der Öffentlichkeit wurden von den städtisch säkularen Bevölkerungsteilen als Einmischung in ihr Privatleben wahrgenommen. Er unterstellte der beliebten historischen Fernsehserie Muhteşem Yüzyıl (Das prächtige Jahrhundert), den Osmanischen Herrscher Süleyman den Prächtigen als lasterhaft zu porträtieren und rief die Staatsanwälte auf, gegen die Sendung vorzugehen. Zur Polarisierung trug in den vergangenen Monaten auch der Unwille bei, das Cem-Haus, in dem Aleviten ihre religiösen Zeremonien abhalten, als offizielles Gotteshaus anzuerkennen. Für Unmut in der alevitischen Bevölkerung sorgte Erdoğan auch mit seiner Anspielung auf die alevitische Herkunft von Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der Oppositionspartei CHP. Den Höhepunkt politischer Unsensibilität bildet die Entscheidung, die dritte Bosporus-Brücke nach dem osmanischen Herrscher Yavuz Sultan Selim zu benennen, der für die Verfolgung von Aleviten im 16. Jahrhundert verantwortlich war. Wie geht es in der Türkei weiter Erdoğans konfrontativer Kurs rührt größtenteils von seiner falschen Auslegung der Protestaktionen und stieß auch innerhalb der AKP auf Kritik. Bereits in den ersten Tagen hatten Staatspräsident Abdullah Gül und Vizepräsident Arınç sich mit versöhnlichen Tönen von Erdoğan abgesetzt. Gleichwohl wäre von Gül zu erwarten, noch stärker ein Gegengewicht zu Erdoğan zu bilden. Stattdessen hat er am 10. Juni 2013 das umstrittene Gesetz zur Neuregelung des Alkoholverkaufs unterzeichnet. Arınç traf sich mit den Vertretern der Plattform »Solidarität mit Taksim«, die die Beibehaltung des Gezi-Parks, die Absetzung der Gouverneure der Städte Istanbul, Ankara und Hatay und die Öffnung des Taksim- und des Kızılay-Platzes in Ankara für Protestkundgebungen forderten. Es konnte kein Durchbruch erzielt werden, der Taksim-Platz wurde durch einen massiven Gewalteinsatz der Polizeikräfte geräumt. Erdoğans Treffen mit Vertretern der Taksim-Plattform und Künstlern in der späten Nacht am 13. Juni hat zunächst eine »Entschärfung« des Konflikts herbeigeführt. Die Regierung werde nach dem endgültigen Gerichtsurteil eine Volksbefragung zum Bauvorhaben auf dem Gezi-Park durchführen, hieß es im Anschluss an das Treffen, und die Taksim-Plattform bekräftigte erneut ihre Forderungen. Eine nachhaltige Lösung des Problems wird davon abhängen, wie Erdoğan und die Regierung die Protestaktionen verarbeiten und mit den Verantwortlichen umgehen werden. Die Proteste symbolisieren nicht nur ein soziales, sondern auch ein strukturelles Bedürfnis nach mehr Demokratie, Pluralismus und persönlicher Autonomie. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei liegt aktuell ca. bei 17.000 Dollar und damit auf einem kritischen Niveau. Will die AKP-Regierung die Wirtschaftsentwicklung der letzten zehn Jahre fortsetzten, muss sie das Gesellschafts- und Wachstumsmodell auf mehr individuelle Freiheiten und Autonomie umbauen, andernfalls wird sie einen Rückschritt riskieren. Inwieweit die AKP-Regierung der Forderung nach mehr Demokratie nachkommen wird, bleibt abzuwarten. Dies wird auch von der Politikfähigkeit der Protestbewegung und der Oppositionspartei CHP abhängen, die zurzeit noch schwach und unfähig ist, Wähler aus dem konservativen Lager zu mobilisieren. Zu ambivalent ist ihre Position in der Kurdenfrage und große Teile der CHP sperren sich dagegen, "Nation" neu zu definieren. Die AKP und der türkische Premier Erdoğan werden es schwieriger haben als bisher – sowohl national als auch international. Erdoğan kann sein stark angekratztes Image nur durch eine weitere Demokratisierung und Befriedung der Kurdenfrage aufpolieren. Vgl. KONDA Gezi Parkı Araştırması: Kimler, neden oradalar ve ne istiyorlar? (Dt. Gezi-Park Befragung: Wer sind sie, warum sind sie dort und was wollen sie?), http://www.konda.com.tr/, 12.06.2013. Sabah, 21.08.2012, online: http://www.sabah.com.tr/Teknoloji/Haber/2012/08/21/turkiye-avrupa-birincisi-oldu, Abrufdatum: 11.06.2013. Vgl. exemplarisch Heinz Kramer, „Türkei“, 2011 Bonn und Şahin Alpay, „Die politische Rolle des Militärs in der Türkei“, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2009, Heft 39-40: 9–15. Cengiz Günay, Geschichte der Türkei: Von den Anfängen der Moderne bis heute, Wien u.a. 2012. Daron Acemoğlu hat den Aufstieg und Fall der Nationen untersucht und herausgefunden, dass das Wachstum einer Ökonomie auf mehr individuelle Freiheiten umgebaut werden muss, wenn das Pro-Kopf-Einkommen auf 12.000 bis 17.000 Dollar geklettert ist. Regierungen, die sich dagegen sperren, würden einen Rückschritt riskieren. Vgl. Daron Acemoğlu und James A. Robinson, Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt am Main 2013.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-06-18T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/tuerkei/163433/protest-und-opposition-in-der-tuerkei-das-ende-einer-erfolgsgeschichte/
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ist Verfechter der Idee einer Allianz der Zivilisationen und plädiert für einen Dialog der Kulturen. Doch in der Türkei betreibt er seit Jahren einen "Kulturkampf von oben" und polarisiert die Gese
[ "Türkei", "Erdoğan", "Taksim-Platz", "Türkei" ]
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"Ich wollte eine humanistische Perspektive entwickeln" | "Bad o meh - Wind und Nebel" | bpb.de
"Herr Talebi, seit Beginn Ihrer Filmkarriere haben Sie vor allem Kinder- und Jugendfilme gedreht. Was interessiert Sie an diesem Genre? Mohammad Ali Talebi (© Arsenal - Institut für Film und Videokunst e. V.) Mohammad Ali Talebi: Ich habe schon während meines Filmstudiums in Teheran für Kanun, ein Institut, das die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördert, Kurzfilme gedreht. Damit wurde eigentlich der Grundstein gelegt, mich dann als professioneller Filmemacher mit Heranwachsenden zu beschäftigen. Ein weiterer Grund war sicher, dass ich selbst als Kind zu Hause und in der Schule viele Probleme hatte und Gewalt erfahren habe. Ich habe lange nach einem Mittel gesucht, meine Emotionen auszudrücken, zuerst mit Gedichten, später mit Filmen. Ihr aktueller Film spielt während des Iran-Irak-Kriegs, den Sie in Teheran miterlebten. Spiegeln sich in "Bad o meh - Wind und Nebel" autobiografische Erlebnisse wider? Mohammad Ali Talebi: Teheran wurde während des Kriegs ständig bombardiert, Häuser wurden zerstört, Menschen getötet. Nach Kriegsende waren Tausende obdachlos, verzweifelt, ohne Hoffnung und ihrer Existenz beraubt. Viele mussten sich einen neuen Lebensort im Iran suchen. Häufig wurden Kinder in andere Teile des Landes verschickt. Solche grundlegenden Erfahrungen habe ich in "Bad o meh - Wind und Nebel" aufgegriffen. Der Iran-Irak-Krieg ist ein wichtiger Topos in iranischen Filmen. Auf welche Weise eröffnet "Bad o meh - Wind und Nebel" einen neuen thematischen oder cineastischen Zugang? Mohammad Ali Talebi: Es gibt zwar viele Filme über das Thema, aber sie sind häufig propagandistisch und beschäftigen sich kaum mit den sozialen Aspekten des Krieges. Mein Film verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie "Iwanowo detstwo" [Iwans Kindheit, Anm. d.Red.] von Andrei Tarkowski. Aus der Sicht seines Protagonisten, des 12-jährigen Jungen Iwan, setzt sich Tarkowski mit dem Zweiten Weltkrieg in Russland auseinander. Aber er tut dies vorwiegend auf eine symbolische und poetische Weise, und das unterscheidet ihn von thematisch vergleichbaren Filmen. Ähnlich ist es auch mit "Bad o meh - Wind und Nebel". Mir war es wichtig, den Krieg nicht unter einem politischen oder gar propagandistischen Blickwinkel zu betrachten. Ich wollte eine humanistische Perspektive entwickeln. Was hat Sie speziell an der Geschichte eines traumatisierten Jungen interessiert? Mohammad Ali Talebi: Es hat mich immer schon geärgert, dass kaum Filme über die wahren Opfer des Krieges, nämlich die Kinder und Frauen, gedreht wurden. Man klammert völlig aus, was mit der nächsten Generation geschieht, welche Folgen der Krieg für sie hat. Bei den aktuellen Ereignissen in Libyen erhalten wir unzählige Informationen über die politische Lage. Doch darüber, was den Kindern und den Frauen widerfährt, jenen Teilen der Gesellschaft, die wenig Einfluss und keine Macht haben, erfahren wir nichts. Richtet sich "Bad o meh - Wind und Nebel" primär an Heranwachsende oder an Erwachsene? Mohammad Ali Talebi: Diese Diskussion führt man im Iran über alle meine Filme [lacht]. Mein Ziel ist es, dass sich Erwachsene und Kinder gemeinsam mit "Bad o meh - Wind und Nebel" auseinandersetzen. Das ist im Übrigen auch während der Berlinale geschehen, wo er in der Sektion "Generation" gezeigt wurde. Ich habe nichts gegen lustige und fantasievolle Kinderfilme. Doch Filme sollten auch einen gewissen pädagogischen Anspruch besitzen, indem sie Kinder emotional auf das Leben vorbereiten. Ihr Film erzählt eine Geschichte, die einerseits tief in der iranischen Geschichte und Kultur verwurzelt ist, zugleich aber als universelle Parabel antagonistische Themen wie Einsamkeit, Trauer, Tod, aber auch Freundschaft, Heilung und den Willen zu Leben reflektiert. Mohammad Ali Talebi: Ich fand es gerade interessant, solche Paradoxien und Ambivalenzen anzusprechen. Dies findet sich auch im Filmtitel wieder: "Bad o Meh" heißt übersetzt "Wind und Nebel" – und das sind Naturzustände, die nicht gleichzeitig existieren können. Wo es Wind gibt, kann es keinen Nebel geben und umgekehrt. Aber aus solchen Paradoxien besteht unser Leben: Trauer, Fröhlichkeit und Tod sind immer gegenwärtig. Ihre Filme aus den Neunzigerjahren, beispielsweise "Chakmeh" von 1992, beeindrucken durch einen nüchternen, neorealistischen Stil. "Bad o meh - Wind und Nebel" hingegen ist geprägt von einer poetischen und symbolhaften Filmsprache. Ist die Hinwendung zu einer bildhaften Erzählweise auch ein Mittel, die Zensur zu unterwandern? Mohammad Ali Talebi: Iranische Künstler werden zurzeit vom System stark unter Druck gesetzt. Ich habe in der Tat befürchtet, dass "Bad o meh - Wind und Nebel" zensiert wird und deswegen auf Symbole – wie die verwundete Gans – zurückgegriffen, um beispielsweise das Thema "Krieg" kritisch zu hinterfragen. Die Gans verkörpert Frieden und Mütterlichkeit. Mütterlichkeit wiederum ist eng verbunden mit dem eigenen Heimatland. Diese Heimat trägt eine tiefe Wunde, die nicht heilt. Ähnlich fügt jeder Krieg einem Land dauerhaft Schaden zu. Ebenfalls symbolisch aufgeladen ist die Arbeit des Vaters in der Ölraffinerie. Der Iran-Irak-Krieg wurde ja meiner Meinung nach nur wegen des Öls geführt. Auch die heutige politische Situation im Mittleren Osten basiert auf dem Kampf um das Öl. Wegen seiner regimekritischen Haltung und Äußerungen erhielt Ihr Regiekollege Jafar Panahi unter anderem ein Berufsverbot von 20 Jahren, darf keine Interviews geben oder ins Ausland reisen. Wie ist die Stimmung unter den Künstlerinnen und Künstlern im Iran? Mohammad Ali Talebi: Ich habe Panahi kürzlich getroffen, seine Situation ist sehr schwierig, es ist völlig unsicher, was jetzt mit ihm geschieht. Wir sind alle betroffen, es beschäftigt uns ständig. Für uns ist es unvorstellbar und natürlich bedrohlich, dass er keine Filme machen darf, dass man ihm seine Arbeit und seine gesamte Existenz weggenommen hat. Die Berlinale 2011 stand im Zeichen der Solidarität mit Jafar Panahi. Obwohl sein Stuhl in der Wettbewerbsjury wegen seines Ausreiseverbots leer bleiben musste, wurden seine Werke in allen Sektionen gezeigt. Auch durch den Goldenen Bären für Ashgar Farhadis " Jodaeiye Nader az Simin", aber auch den Cinema-fairbindet-Preis für "Bad o meh - Wind und Nebel" rückte der iranische Film verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Wie waren die Reaktionen in Ihrer Heimat? Mohammad Ali Talebi: Als ich nach Teheran zurückkehrte, wurde ich ablehnend und kalt empfangen. Gerade weil die Berlinale Panahi unterstützt hatte, gab es nun ein grundsätzliches Problem mit allen iranischen Filmen, die dort liefen. Natürlich finde ich es toll, dass die Berlinale hinter Panahi stand. Aber es ist traurig, dass Filmemachern wie mir die Arbeit erschwert wird. Ashgar Farhadi hatte es relativ leicht, weil er den Goldenen Bären gewann. Mein Produzent jedoch will nie mehr mit mir einen Film machen. Ich habe Angst, dass ich in den nächsten Jahren keine Filme drehen darf. Aber ich versuche, weiterzuarbeiten und vielleicht auch im Ausland zu drehen, um diese Zeitspanne zu überbrücken. In den 30 Jahren, in denen ich im Iran arbeite, gab es immer wieder Phasen, in denen ich ohne Arbeit war. 2001, nach meinem Film "Du bist frei" über Kinder in einer staatlichen Erziehungsanstalt, durfte ich fünf Jahre lang nicht arbeiten. Es gab kein offizielles Arbeitsverbot, aber alles, was ich anbot, wurde einfach abgelehnt. Wie ist die aktuelle Situation des Kinder- und Jugendfilms im Iran? Mohammad Ali Talebi: In den Neunzigerjahren gab es eine Goldene Ära des iranischen Kinder- und Jugendfilms, mit vielen Auszeichnungen auf internationalen Festivals. In dieser Zeit arbeiteten Filmemacher, Künstler und staatliche Institutionen eng zusammen. Doch das ist seit mehr als acht Jahren vorbei. Außer mir sind vielleicht zwei oder drei Filmemacher dem Genre treu geblieben. Die Produktionsbedingungen sind schwierig, und noch schwieriger ist es, für die Filme dann auch eine Kinoauswertung zu erhalten. Der Markt ist überfüllt mit kommerziellen Produkten, und es gibt keine Nische für ein alternatives Kino. Nicht nur "Bad o meh - Wind und Nebel", auch Filme von Panahi wurden im Iran nicht gezeigt. Ashgar Farhadi hatte Glück mit "Jodaeiye Nader az Simin" [dt. Verleihtitel: "Nader und Simin – eine Trennung", Anm. d. Red], weil er den Goldenen Bären gewann und weil seine Schauspieler im Iran Superstars sind. Was ist Ihr nächstes Filmprojekt? Mohammad Ali Talebi: Vor 10 Jahren besuchte ich in Deutschland die Friedensdorf-Initiative in der Nähe von Oberhausen. Dort werden Kinder, die im Krieg verwundet oder traumatisiert wurden, therapiert. Ich hatte schon damals den Wunsch, darüber einen Film zu machen. Jetzt möchte ich dieses Projekt umsetzen und ein Porträt über ein irakisch-türkisches Mädchen drehen, das in diesem Dorf lebt. Ich bin schon mit einem deutschen Produzenten in Kontakt und hoffe sehr, dass es klappt. Dann habe ich größere inhaltliche Freiheiten und kann auch auf internationaler Ebene Kritik äußern. Interview: Ula Brunner, 22.09.2011 Mohammad Ali Talebi (© Arsenal - Institut für Film und Videokunst e. V.)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-10T00:00:00"
"2011-11-29T00:00:00"
"2022-01-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/43319/ich-wollte-eine-humanistische-perspektive-entwickeln/
In einem Gespräch für die bpb spricht der Regisseur von "Bad o meh - Wind und Nebel" über die sozialen Aspekte des Krieges in seinem Film, die Form des Kinderfilms und die Frage der Filmzensur.
[ "Preisträger", "Cinema fairbindet", "Dokumentarfilm", "Kinderfilm", "Iran", "Interview", "Filmemacher" ]
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Zwei Städte, ein Fluss | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Untergang einer Stadt - Neubeginn zweier Städte Geht man vom Frankfurter Marktplatz in Richtung Oder, hat man kaum das Gefühl, eine der wichtigen alten Verbindungsachsen zwischen Stadtzentrum und Flussufer abzuschreiten. Die Bischofstraße führte einst dicht bebaut direkt zur Oder. Heute liegt sie unscheinbar da, und nur eine Illusionsmalerei der Fassade des Bolfrashauses erinnert – neben der Marienkirche, dem Rathaus und dem heutigen Kleistmuseum – an das Antlitz der untergegangenen Stadt. Blickt man von hier zur Oder hinunter, scheint sie am Rand zu fließen. Das Schwemmland am anderen Ufer liegt wie eine Traumlandschaft weit hinter der Stadt. 162 Kilometer lang ist die Grenze, die die Oder zwischen Deutschland und Polen bildet. Dennoch war die Oder als Oder-Neiße-Grenze lange Zeit Synonym für einen Grenzfluss. Mit dem Kriegsende im Frühjahr 1945 wurde Frankfurt nicht geteilt – es ging unter. Die Stadt zerbrach infolge des verheerenden Brandes der Innenstadt in sich. Ihr altes, gewachsenes Zentrum verschwand, und in die zerstörte Stadt kehrten nur wenige der alten Bewohner zurück. Dieses Schicksal ereilte auch die Dammvorstadt. Sie war nun aufgrund einer Interner Link: neuen Grenze, die seit Ende der Kriegshandlungen durch die Stadt führte, vom alten Frankfurt abgeschnitten. Die neue Stadt Frankfurt verlor damit ihr Zentrum im städtebaulichen Sinne, die neue Stadt Słubice war in jeder Hinsicht von diesem abgeschnitten. Mit der Zerstörung der Stadtbrücke waren die Straßenbahnlinie 2 sowie die Versorgung des östlichen Stadtteiles mit Trinkwasser, Strom und Gas unterbrochen. Die Kanalisation, vor dem Krieg an das Frankfurter Netz angeschlossen, endete nun in der Oder. Doch auch Frankfurt war vom Niedergang gezeichnet. Beide Städte gründeten sich damals neu: Die eine auf den Trümmern des ehemaligen Zentrums, die andere abseits davon. Glocke des Kalten Krieges Wenn wir uns nun vom Ufer zur 1953 eingeweihten Friedensglocke wenden, stehen wir vor einem Monument, das vorgibt Zeugnis der Freundschaft und des Friedens zu sein. In ihm lassen sich aber die frühen Züge des Kalten Krieges erkennen. Die heutige Oder-Neisse-Linie wurde von der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Görlitzer Abkommen bereits 1950 besiegelt, aber die Bundesrepublik Deutschland verweigerte sich bis zur Wiedervereinigung 1990 einer endgültigen Anerkennung. Die Glocke des Friedens wurde von den Verantwortlichen in der DDR als symbolische Kampfansage an die bundesdeutsche Ostpolitik verstanden. Sie sollte als Gegenentwurf zur West-Berliner Freiheitsglocke "für die Überwindung der Kriegsgefahr wirksam werden". Die Einweihung der Glocke gehörte zu den frühen Manifestationen "verordneter deutsch-polnischer Freundschaft". Zu einem solchen Ritual wurden "unter Teilnahme Hunderter polnischer Freunde", wie es in zeitgenössischen Medienberichten hieß, die beiden Nationalhymnen von einem Blasorchester vorgetragen, Reden verlesen und gemeinsam das Weltfriedenslied gesungen. Hinter den Kulissen dieser organisierten Freundschaftsbekundungen waren die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen stark belastet. Die Friedensglocke ist dennoch als Monument der Freundschaft und des Friedens in die Geschichte eingegangen, so dass sie noch heute zu wichtigen Friedenskundgebungen geläutet wird. Da aber die ostdeutsche CDU als sozialistische Blockpartei aus Anlass ihres 6. Parteitages den Klangkörper in Apolda gießen ließ, gehört diese seit der Aufnahme der Blockpartei in die bundesdeutsche Union jener Partei, die sich einst ideologisch auf der Zielscheibe der Stifter der Friedensglocke befand. Wenn heute die Glocke zu Anlässen wie dem Gedenktag für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft oder zum 1. September geläutet wird, muss zuvor bei der Frankfurter Kreisgruppe der CDU eine Erlaubnis eingeholt werden. Der Fluss verbindet und teilt Wenn wir nun weiter entlang der Oderpromenade in Richtung Stadtbrücke gehen, können wir vor dem Junkerhaus ein Denkmal aus einer ganz anderen Zeit entdecken. Auf der von den Gronefelder Keramikwerkstätten gefertigten Skulptur ist neben der Silhouette Frankfurts vor allem die Oder zu erkennen, deren Pegel langsam steigt, bis sie über die Ufer tritt und sich über das ganze Land ergießt. Damit erinnert das Werk an die Flutkatastrophe, die den Fluss und mit ihm die Region 1997 ins Bewusstsein der gesamtdeutschen und europäischen Öffentlichkeit rief. Damals kämpften Deutsche und Polen gemeinsam gegen die Flut. Während das Wasser in Frankfurt bereits über die Ufer getreten war und den Uferbereich überschwemmt hatte, war Słubice evakuiert und schaute gebannt auf den Pegelstand: Hätte der Deich nicht standgehalten, wäre die ganze Stadt überschwemmt worden. Damals wurde besonders deutlich, dass der Fluss sowohl trennt als auch verbindet. So wurden die Hochwasserschutzprogramme von Deutschland, Polen und Tschechien zuvor nur mangelhaft koordiniert. Die Systeme zur Erhebung von geohydrologischen Daten waren nicht aufeinander abgestimmt, und die bereits in den 1960er und 1970er Jahren unternommenen Versuche, Absprachen zu treffen, stellten sich als unzureichend heraus. Mit dem Unglück der Jahrhundertflut rückte aber der Fluss wieder in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Zuvor führte er über Jahrzehnte ein Randdasein. Durch die Grenzziehung in der Mitte des Flusses waren zwar beide Länder für das Schicksal des Flussbettes verantwortlich, aber die meisten Orte hatten sich zuvor aufgrund des hermetischen Charakters der Grenze und des städtebaulichen Wandels der Innenstädte von der Oder wegentwickelt. Erst mit der 750-Jahrfeier von Frankfurt und der Anlage des Europagartens wurden die Uferpromenaden als parallele Achsen der Doppelstadt neu entdeckt. Die Brücke als Symbol Betrachten wir vom hiesigen linken Ufer aus noch einmal die Brücke. Sie wurde im Jahre 2002 parallel zu der 1952 errichteten Stadtbrücke fertig gestellt und dann an deren Stelle gerückt. Sie steht auf neu errichteten Pfeilern, nur das Widerlager auf der deutschen Seite ruht noch an dem Ort, an dem schon die Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Steinbrücke begann. Bemerkenswert an der neuen Brücke ist vor allem der Bogen, der den Pfeiler am deutschen Ufer mit dem Pfeiler in der Flussmitte verbindet. Dieser Bogen ist, obwohl ingenieurtechnisch kaum vonnöten, an das Antlitz der alten Oderbrücke von 1952 angelehnt, die auch "Brücke der Freundschaft" genannt wurde. Diese besaß ebenfalls einen charakteristischen Stahlbogen, der im Laufe der Jahre zum Symbol von Frankfurt als "Brückenstadt", als "Tor zum Osten" und "Stadt der Begegnung" wurde. Eine Vielzahl von Initiativen und Institutionen, die sich in den 1990er Jahren in der Oderstadt gegründet hatten, beziehen sich explizit auf die Brücke mit jenem Bogen als Symbol. Zu ihnen gehören an erster Stelle die Europa-Universität Viadrina, die den Bogen in ihrem Logo aufgriff, der Verein Frankfurter Brücke und auch Studenteninitiativen wie Spotkanie, auf Deutsch Begegnung. So wurde bei der Ausschreibung des Brückenneubaus die Beibehaltung der Bogenform favorisiert. Das ist nicht ohne eine gewisse Ironie. Schließlich entsprang der Bogen zu Beginn der 1950er Jahre der Not – die Brücke sollte innerhalb kürzester Zeit fertig gestellt werden; die nötige Menge Stahl, um den Abstand zwischen den beiden Pfeilern zu überbrücken, stand aber nicht zur Verfügung. So musste auf zwei Eisenbahnbrückenteile zurückgegriffen werden, die notdürftig verbunden wurden. Zur Stabilisierung wurde der Bogen angeschweißt. Grenze ist nicht gleich Grenze Die Brücke mit dem charakteristischen Bogen über die Oder verbindet Frankfurt und Słubice. (© Inka Schwand) Wenn wir uns nun direkt zum Skelett des einst nachts hell erleuchteten und tags lichtdurchfluteten Grenzabfertigungsgebäudes begeben, können wir uns eine Vorstellung von den städtebaulichen Eingriffen der ehemaligen EU-Außengrenze ins Weichbild der Stadt machen. So wirkte das Areal noch kurz vor dem EU-Beitritt Polens abweisend und verstellte den Blick auf die Brücke, den Fluss und das andere Land dahinter. Doch nicht nur die Grenzanlagen prägten das einstige Zentrum der Stadt, sondern auch der Grenzverkehr. So wurden beim Bau der Brückenrampe gleich mehrere Wartespuren geplant. Allerdings war das Verkehrsaufkommen aufgrund des strengen Grenzregimes noch gering. Darüber hinaus oblag die Grenze bis zum Ende des Jahres 1955 der Aufsicht der Sowjetischen Militäradministration. Was aber war das für eine Grenze, für die die geteilte Stadt Frankfurt und Słubice bald berühmt wurde? Trotz des Görlitzer Vertrags und der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Ostberlin herrschte in der DDR und der Volksrepublik Polen bis 1956 eine Politik der Abschottung entlang der Grenze. Erst in den sechziger Jahren kann überhaupt von einem Grenzverkehr gesprochen werden. 1966 wurde ein Vertrag unterzeichnet, der die Bedingungen zur Beschäftigung von Arbeitern im grenznahen Bereich regelte – die rechtliche Grundlage für den Einsatz von polnischen Frauen im Frankfurter Halbleiterwerk. Schon bald fuhren diese jeden Morgen in Bussen von Słubice nach Markendorf, und passierten dabei wie selbstverständlich die Grenze, obwohl dies zu jener Zeit noch nicht zur Normalität gehörte. Erst mit der Einführung des Interner Link: visafreien Grenzverkehrs am 1. Januar 1972 wurde die Oderbrücke von den Massen erobert. Zu einem Höhepunkt der offiziellen Zusammenarbeit kam es 1977 beim "Treffen der Freundschaft", bei dem Zehntausende Jugendliche aus beiden Ländern unter wehenden roten Fahnen die immer noch staatlich verordnete, aber oft auch persönliche Freundschaft bekundeten. Neben der Grenz- und Verkehrsfunktion der Brücke kam nun die als verbindendes Band. Die "Brücke der Freundschaft" wurde zum symbolischen Ort der Begegnung und des sprichwörtlichen gemeinsamen Brückenschlags, wovon heute noch viele Bilder zeugen. Diese Phase der offenen Grenze endete im Oktober 1980 jäh. Aus Furcht vor der polnischen Solidarność-Bewegung führte die DDR erneut die Interner Link: Visumpflicht ein. Zwar blieb die Grenze in den folgenden Jahren für bereits bestehende Kooperationen weiter durchlässig. So fuhren noch immer polnische Frauen ins Halbleiterwerk zur Arbeit, und die Zusammenarbeit von Schulen und Kindergärten konnte zum Teil fortgesetzt werden. Insgesamt aber waren die 1980er Jahre eine Periode der erneuten Abschottung. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes sowie der Wiedervereinigung Deutschlands und der damit verbundenen Verschiebung der Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft entstand 1991 eine völlig neue Grenzsituation. Die Kontrollen und Beschränkungen wurden zumindest für Bürger der Polnischen Republik und der Europäischen Union minimal. An der Grenze bildeten sich schon bald lange Schlangen von Touristen, die aus Neugierde, aber vor allem zum Einkaufen auf die andere Seite strömten. Mit der offenen Grenze und den politischen Veränderungen wurde auch eine selbstständige Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene möglich. Auch wenn in den 1990er Jahren noch viele Vorbehalte und Barrieren zu spüren waren: Es war eine Zeit des Booms und des explosionsartigen Anstiegs des grenzüberschreitenden Verkehrs. Die Brücke wurde zum ersten Mal zu einer tatsächlichen Verkehrsachse. Mit der Erweiterung der Europäischen Union 2004, dem Beitritt Polens zum Schengenverbund 2007 und der Einführung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit 2011 fielen an der Oder die letzten Grenzen. Die Zigarettenstraße als Meile der 1990er Jahre Wenn wir uns nun zum Słubicer Brückenkopf begeben, können wir uns kurz einen Überblick über die hiesige städtebauliche Situation machen: Die Bebauung entlang des einstigen Prinzenufers, heute ulica Nadodrzańska, stammt aus der Gründerzeit. Das gleiche gilt die Fußgängerzone, früher Friedrichstraße, heute ulica Jedności Robotniczej, Straße der Arbeitereinheit. Betreten wir diese, können wir uns ein Bild machen, warum sie auf der deutschen Seite auch als Zigarettenstraße bekannt ist. Zumindest in den 1990er Jahren waren hier neben Wechselstuben und Friseuren vor allem Zigarettenläden entstanden. Sie ist somit zum Ausdruck eines zweifachen Booms zum Ende des Jahrhunderts geworden. An ihr kann man auch aufzeigen, dass die Stadträume von Frankfurt Oder und Słubice nicht vollständig durch die Grenze getrennt sind. So ist die Straße, die im Zuge der territorialen Ausdehnung Frankfurts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt und in den 1890er und 1910er Jahren bebaut worden war, direkt auf das vormalige Stadtzentrum am anderen Ufer ausgerichtet. Damals war die Straße für die Frankfurter eine Einkaufsmeile, man konnte auf dem Damm entlang spazieren und an der einstigen Seidenfabrik, an deren Stelle heute die Bibliothek des Collegium Polonicum steht, einen Kaffee trinken. Eine ähnliche Funktion erfüllt sie unter neuen Umständen hundert Jahre später. Und wieder erfolgte der Boom in den neunziger Jahren. Vormals mit dem Bau der Straßenbahn, und dann mit der Öffnung der Grenze. Das grün-gelbe Gebäude der Stadtbibliothek zeigt, einem Monument gleich, wie sich Słubice nach dem Krieg von Frankfurt weg entwickelt hat. Obwohl sich zur Oder hin die Silhouette der einstigen Altstadt öffnet, wurde die Bibliothek leicht versetzt mit der Fassade zur Straße hin gebaut. Nach Frankfurt hin öffnen sich nur schmale Schlitze, die kaum einen Blick auf die benachbarte Stadt zulassen. Wenn wir nun die ulica Kościuszki überqueren, können wir das Collegium Polonicum genauer betrachten. Es ist im Gegensatz zur Stadtbibliothek Ausdruck einer viel späteren Stilepoche – einer polnischen Version der Postmoderne. Aber auch die Forschungseinrichtung öffnet sich nicht zum Fluss und somit zur gegenüberliegenden Seite, sondern über einen Innenhof zum Kreisverkehr, auf dem ein Straßenschild den Weg nach Frankfurt weist. Chronologie 1945: Mit der Westverschiebung der polnischen Grenzen werden Oder und Lausitzer Neiße zu Grenzflüssen. 1950: Im Vertrag von Görlitz, der im polnischen Zgorzelec unterzeichnet wurde, erkennt die DDR die neue Grenze an. 1972-1980: Visafreier Reiseverkehr zwischen der DDR und Volkspolen. Polnische Staatsangehörige können aber schon länger nach West-Berlin reisen. 1990: Nach dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wird die Grenze bis zu einer vertraglichen Regelung zwischen Polen und der EU für den visafreien Verkehrs geschlossen und erst im Juli 1991 wieder geöffnet. 1990: Im deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November erkennt die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze endgültig an. 1991: Deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag. Neugründung der Viadrina als Europa-Universität. 2004: Beitritt Polens zur EU, die Zollkontrollen fallen weg. 2007: Mit dem Beitritt Polens zum Schengen-Abkommen am 21. Dezember fallen auch die Passkontrollen weg. Die Brücke mit dem charakteristischen Bogen über die Oder verbindet Frankfurt und Słubice. (© Inka Schwand)
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Felix Ackermann
"2021-12-13T00:00:00"
"2012-05-14T00:00:00"
"2021-12-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/135937/zwei-staedte-ein-fluss/
Nach dem Zweiten Weltkrieg Krieg wurde Frankfurt an der Oder zur geteilten Stadt. Lange kehrten das deutsche Frankfurt und das polnische Słubice einander den Rücken zu. Nun aber verbindet sie der Fluss in ihrer Mitte. Ein Spaziergang
[ "Oder", "Fluss", "Europa", "Zweiter Weltkrieg", "Grenze", "Geschichte", "Polen", "Frankfurt Oder", "Slubice" ]
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Chronik: 5. – 18. April 2016 | bpb.de
05.04.2016 Der Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Kommissar für bessere Rechtsetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechtecharta, Frans Timmermans, trifft sich in Warschau mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, Außenminister Witold Waszczykowski, Justizminister Zbigniew Ziobro und dem Präsidenten des Verfassungstribunals, Andrzej Rzepliński. Thematisiert wird die Verfassungskrise in Polen, die infolge der Reform des Verfassungstribunals durch die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) im Dezember 2015 eingetreten ist und ein Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Polen von Seiten der Europäischen Kommission ausgelöst hat. 06.04.2016 Regierungssprecher Rafał Bochenek teilt mit, dass der heutige Richterspruch des Verfassungstribunals zu Vorschriften im Wahlrecht, die das Verfassungstribunal als verfassungswidrig einstuft, nicht veröffentlicht und damit nicht rechtskräftig wird. Der Grund sei, dass das Verfassungstribunal nicht in der rechtskonformenZusammensetzung getagt habe, die seit der Reform des Gerichts im Dezember 2015 gilt. Infolge der Verabschiedung der Reform durch die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) kam es zu einem andauernden Konflikt und Protesten im In- und Ausland. 07.04.2016 Der Vizebevollmächtigte der Bürgerinitiative "Abtreibungsstopp", Jerzy Kwaśniewski, teilt mit, dass der Sejm die Initiative registriert hat. Nun beginne die Sammlung der 100.000 notwendigen Unterschriften, um die Gesetzesinitiative für ein totales Abtreibungsverbot in den Sejm einbringen zu können. Bereitsim Vorfeld war es zu Protesten von Gegnern der Initiative gekommen. 08.04.2016 In Warschau finden die polnisch-tschechischen Regierungskonsultationen statt. Ministerpräsidentin Beata Szydło und ihr tschechischer Amtskollege Bohuslav Sobotka lehnen eine Quotenregelung bei der Verteilung der Flüchtlinge in der Europäischen Union ab. 09.04.2016 In mehreren Städten Polens demonstrieren erneut tausende Menschen gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts, das eine zivilgesellschaftliche Organisation mit einem Gesetzesentwurf initiieren will. 10.04.2016 In Warschau nehmen Ministerpräsidentin Beata Szydło und Jarosław Kaczyński, Parteivorsitzender von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), sowie in Krakau Präsident Andrzej Duda an den zentralen Gedenkfeiern für die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk (2010) teil, bei der 96 Personen des politischen und öffentlichen Lebens Polens, darunter der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński und seine Ehefrau Maria, tödlich verunglückten. 11.04.2016 Der Vorsitzende von Die Moderne (Nowoczesna), Ryszard Petru, kritisiert, Jarosław Kaczyński, Vorsitzender von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), habe am Vortag im Rahmen der Gedenkfeier für die Todesopfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk (2010) zum Hass aufgerufen und den Appell zur Versöhnung von Präsident Andrzej Duda damit bagatellisiert.Kaczyński führe eine Vorverurteilung durch, wenn er suggeriere, die Schuldigen der Katastrophe zu kennen. Nach Petru hat eine Reihe von unglücklichen Zufällen zu dem Flugzeugabsturz geführt, doch daraus seien keine Konsequenzen für die Sicherheit bei ähnlichen Anlässen gezogen worden. 12.04.2016 In einer gemeinsamen schriftlichen Erklärung sprechen sich Danuta Wałęsa, Jolanta Kwaśniewska und Anna Komorowska, die Ehefrauen der ehemaligen Präsidenten, gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes aus. 13.04.2016 Das Europäische Parlament verabschiedet eine nicht bindende Resolution zur innenpolitischen Situation in Polen. Darin wird die "ernsthafte Sorge" geäußert, dass die effektive Lähmung des Verfassungsgerichts in Polen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gefährde, und ggf. die Einleitung der zweiten Phase des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus in Aussicht gestellt. 14.04.2016 Der Botschafter der Russischen Föderation, Sergiej Andriejew, wird in das Außenministerium einbestellt. Am Vortag näherten sich russische Kampfhubschrauber mehrmals einem US-amerikanischen Zerstörer in der Ostsee, auf dem ein polnischer Hubschrauber betankt wurde. Der stellvertretende Außenminister Marek Ziołkowski äußertsich beunruhigt über den gefährlichen Vorfall. Bei seinem Besuch in Großbritannien bezeichnet NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Vorfall als unprofessionell und gefährlich; solcherlei Vorfälle dürften nicht außer Kontrolle geraten. 15.04.2016 In einem Interview mit dem polnischen Sender TVP Info unterstreicht Ministerpräsidentin Beata Szydło, dass Polen ein demokratisches Land sei. Sie habe nichts davon gehört, dass sich die Bürger in ihren demokratischen Rechten eingeschränkt fühlen. Die Europäische Union habe daher keinen Grund, sich mit der Lage der Demokratie in Polen zu befassen. Die Mitgliedsländer der sogenannten alten EU seien selbstgefällig und wollen von ihrer inkompetenten Flüchtlingspolitik ablenken, daher werde Polen in Sachen Demokratie belehrt. 17.04.2016 In einem Interview mit TVN24 ruft Kazimierz Marcinkiewicz, Ministerpräsident aus den Reihen von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) in den Jahren 2005/06, Jarosław Kaczyński, den Parteivorsitzenden von PiS, dazu auf, die Lenkung des Staatspräsidenten und der Ministerpräsidentin aus dem Hintergrund zu unterlasssen und auf demokratischem Wege Ministerpräsident zu werden. Marcinkiewicz warnt davor, dass ein polnisch-polnischer Krieg stattfindet, bei dem es zu politischen Gerichtsverfahren und schließlich zu Blutvergießen kommen werde. 18.04.2016 Ministerpräsidentin Beata Szydło empfängt in Warschau ihren dänischen Amtskollegen Lars Løkke Rasmussen. Thematisiert wird u. a. das Projekt der Gaspipeline "Baltic Pipe", die Polen mit norwegischem Gas versorgen soll. Sie können die gesamte Chronik seit 2007 auch auf http://www.laender-analysen.de/polen/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2016-04-21T00:00:00"
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"2016-04-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/225328/chronik-5-18-april-2016/
Die Ereignisse vom 5. bis zum 18. April 2016 in der Chronik.
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Bürger oder Bots? Automatisierte Kommunikation im Bundestagswahlkampf 2017 | Digitale Desinformation | bpb.de
Social Bots sind Profile in sozialen Netzwerken, die sich als Menschen ausgeben, aber teilweise oder ganz automatisiert und algorithmisch kontrolliert agieren. Bots agieren also nicht autonom, sondern letztlich stehen hinter jedem Bot Menschen oder Organisationen, die mit Hilfe dieser automatisierten Accounts Inhalte schneller und weiter verbreiten und dadurch Popularität sowie Relevanz künstlich erzeugen oder zumindest vortäuschen können. Das gilt nicht nur, aber auch für Desinformationskampagnen. Ein zentrales Merkmal ist, dass sich Social Bots tarnen und es selbst für Experten sehr schwierig ist, sie als solche zu identifizieren. Das unterscheidet sie von Chatbots, die als Assistenzprogramme im Kundendienst oder in Messenger Diensten nützlich sind und von eher harmlosen offensichtlichen Bots. In Wahlkämpfen und anderen politische Kampagnen können Social Bots problematische Effekte haben. Erstens simulieren sie Popularität und Relevanz dadurch, dass einzelne Parteien oder Kandidaten mehr "Follower" haben, die aber nicht Bürger, Wähler, oder Parteimitglieder sind, sondern Maschinen. Zweitens vergrößern sie künstlich die Reichweite politischer Botschaften und Themen, weil die Algorithmen der Social Media Plattformen Engagement belohnen, also Botschaften sichtbarer machen, wenn Nutzer (egal ob Mensch oder Bots) mit ihnen interagieren, sie liken, teilen oder kommentieren. Drittens zeigen agentenbasierte Netzwerksimulationen, dass in bestimmten Konstellationen schon zwei bis vier Prozent Bots in einem Diskurs ausreichen, um das Meinungsklima zu drehen. Das bedeutet nicht, dass Menschen wegen Bots ihre Meinung oder politische Einstellung ändern, aber dass sie eine unzutreffende Vorstellung davon bekommen, welche Themen für relevant erachtet und welche Meinungen weit verbreitet sowie mehrheitsfähig sind. So entstehen zum Bespiel laute Minderheiten. Es ist also kein Wunder, dass dieses Thema bereits vor der Bundestagswahl 2017 kontrovers diskutiert wurde. Zahlreiche Studien hatten bereits belegt, dass Social Bots in den Wahlkampagnen der US Präsidentschaftswahl 2016, vor dem Brexit-Referendum, vor den französischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 und in anderen Fällen aktiv waren. Im Oktober 2016, ein Jahr vor der Wahl, kündigte die Externer Link: AfD an, "selbstverständlich" Bots einsetzen zu wollen: "Gerade für junge Parteien wie unsere sind Social-Media-Tools wichtige Instrumente, um unsere Positionen unter den Wählern zu verbreiten." Alle anderen Parteien lehnten dies hingegen ab, und auch die AfD machte einige Tage später einen Rückzieher mit der Erklärung, nun doch keine Bots im Wahlkampf nutzen zu wollen. Dabei ist die Haltung der Parteien hier zwar wichtig, aber nicht zentral: Social Bots sind sehr einfache Programme, man kann sie käuflich erwerben oder mit geringen Programmierkenntnissen selbst erstellen. Im Grunde kann fast jeder Akteur Social Bots in Kampagnen losschicken, nicht nur die Parteien. Wie man Bots identifizieren kann Vor dem Hintergrund, dass Social Bots nun einmal existieren, bereits aktiv in anderen Wahlkampagnen involviert waren und eine ganz neue Akteursform der politischen Kommunikation darstellen, stellt sich nun die Frage, ob sie auch in der Bundestagswahl 2017 eine Rolle gespielt haben. Wir werden dazu aktive und passive Bots vergleichen und danach fragen, wie viele Bots wir unter den Twitter-Followern der deutschen Parteien vor und während des Wahlkampfs finden. Weil bislang unklar ist, wie viele Bots zu viele Bots sind, vergleichen wir zwei Zeitpunkte, um einen eventuellen Anstieg des Bot-Anteils sichtbar zu machen. Eine andere Variante des Zugangs wäre es, die Beteiligung von Bots an wahlrelevanten Twitter-Hashtags zu untersuchen – dann könnten wir aber nur die aktiven, nicht aber die passiven Bots erfassen. Dabei hat Woolley gezeigt, dass in Demokratien vor allem passive Bots unterwegs sind, die die Followerzahlen künstlich aufbauschen, während in autokratischen und semi-demokratischen Staaten eher aktive Bots eingesetzt werden, unter anderem mit dem Ziel, die politische Opposition zu demobilisieren. Will man Social Bots untersuchen, muss man zunächst auf Nutzerdaten der sozialen Netzwerke zugreifen, in unserem Falle Twitter. Das ist über eine Datenschnittstelle, eine sogenannte API möglich, oder über Datenhändler. Der Zugang zu Daten der sozialen Netzwerke ist nur sehr eingeschränkt möglich, so dass es von außerhalb der Unternehmen viel schwieriger ist, öffentliche Kommunikation in sozialen Netzwerken zu analysieren oder Bots zu identifizieren. Tatsächlich argumentierte Twitters "Head of Site Integrity", Externer Link: Yael Roth, dass niemand außer Twitter selbst die nicht-öffentlichen Nutzerdaten einsehen könne, so dass nur Twitter selbst Bots mit Sicherheit identifizieren könne. Der eingeschränkte Datenzugang bedeutet letztlich auch, dass eine zentrale Funktion von Öffentlichkeit derzeit beschnitten ist: die Selbst-Beobachtung der Gesellschaft. Für unsere Studie haben wir, soweit verfügbar, die Daten aller Twitter-Follower der wichtigsten deutschen Parteien im Wahlkampf heruntergeladen: 1,2 Millionen Follower im Februar 2017 und 1,6 Millionen Follower im September 2017. In den Metadaten der Follower sehen wir, ob die Accounts aktiv oder inaktiv sind, das heißt ob sie in den drei Monaten vor der Datenerhebung Tweets oder Retweets gesendet, etwas kommentiert oder als Like markiert haben. Noch bevor wir überprüfen, wie viele Bots darunter sind, fallen zwei bemerkenswerte Muster ins Auge: Zum einen variierte der Anteil der aktiven Follower stark. So war der Anteil der aktiven Follower der AfD deutlich höher als bei den anderen Parteien (im September 2017 26% vs. durchschnittlich 15%). Zum anderen zeigten die Follower der AfD eine Vernetzungsstruktur, die von den anderen Parteien deutlich abweicht. Fast die Hälfte der AfD Follower (45%) folgen ausschließlich der AfD, während die Follower der anderen Parteien ganz überwiegend (87%) mehreren Parteien, auch über das ideologische Spektrum hinweg folgen. Zur Identifikation von Bots gibt es ganz verschiedene Ansätze. Hier nutzen wir ein Instrument, das von Informatikern an der University of Indiana entwickelt wurde, das "Botometer". Wie andere Methoden handelt es sich um kein perfektes Instrument, aber es bietet doch einige Vorteile: Es analysiert 1150 Merkmale der Kategorien Vernetzung, Tweet-Verhalten, Inhalt und Sprache, Sentiment und zeitliche Sequenzierung der Tweets. Botometer ist über eine Webseite zugänglich, um einzelne Accounts zu überprüfen sowie über eine API, so dass auch automatisierte Analysen größerer Datensätze möglich sind. Ende 2018 erreichten Botometer 250.000 Anfragen pro Tag und es wurde bereits erfolgreich in zahleichen Studien verwendet, zum Beispiel des PEW Research Centers in den USA. Botometer basiert auf Algorithmen, die mithilfe von Datensets trainiert wurden – das bedeutet, Botometer findet nur Bots, die ähnliche Charakteristika aufweisen wie Bots, die bereits vorher in anderen Datensätzen und mit anderen Methoden entdeckt wurden. Damit Botometer einschätzen kann, ob es sich bei einem Account um einen Menschen oder einen Bot handelt, sind die Metadaten der Accounts wichtig. Wenn die Privatsphäre-Einstellungen eines Accounts restriktiv auf "privat" gesetzt sind, hat Botometer keinen Zugriff auf die Inhalte und kann keine vollständige Analyse durchführen. Auch Accounts die bereits schon wieder gelöscht wurden oder überhaupt gar keine Inhalte getweetet hatten, kann Botometer nicht analysieren. Insgesamt basieren die Ergebnisse unserer Studie auf ungefähr der Hälfte der Twitter-Follower der Parteien (638.674 Follower im Februar 2017 und 838.026 Follower im September 2017), was ganz überwiegend (80% der nicht-analysierbaren Fälle) an leeren Timelines liegt, also Followern, die noch nie irgendeinen Tweet oder Retweet gesendet hatten. Bots im Bundestagswahlkampf Im Ergebnis kann man feststellen, dass im Bundestagswahlkampf 2017 etwa 10 Prozent Social Bots unter den Followern der deutschen Parteien waren. Das waren aber ganz überwiegend passive Bots, denn nur 1,4 Prozent der Bots haben überhaupt Inhalte verbreitet. Die Zahl der Social Bots insgesamt ist im Vergleich zum Februar 2017 leicht angestiegen (von etwa 7 auf 10 Prozent), wobei aber die Zahl der aktiven Bots leicht gesunken ist (von etwa 2 auf 1,4 Prozent). Alle Parteien hatten in ähnlichem Ausmaß Social Bots unter ihren Followern. Unter den AfD-Followern findet sich zwar der geringste Bot-Anteil, dafür sind darunter mehr aktive Bots. Schaut man sich die Inhalte an, die diese Bots gesendet haben wird aber klar, dass sie kaum an wahlrelevanten Themendynamiken, die die Bundestagswahl 2017 betreffen, beteiligt waren. Dies bedeutet nicht, dass sie im Bundestagswahlkampf keine Rolle gespielt hätten – denn wir haben hier nur die Twitter-Follower der Parteien untersucht. Möglicherweise ergibt sich ein anderes Bild, wenn wir die Beteiligung von Bots an Hashtags und thematischen Diskursen im Wahlkampf anschauen. Social Bots sind zweifellos ein aus demokratie- und diskurstheoretischer Sicht spannendes Phänomen über das wir bislang noch sehr respektive zu wenig wissen. Sie sind keinesfalls per se und in jedem Fall schädlich, haben aber durchaus disruptives Potential für die Meinungsbildung in sozialen Netzwerken. Weil sie präsent sind, zumindest potentiell auch an politischen Diskursen teilnehmen und das Meinungsklima beeinflussen können, brauchen wir mehr Studien und bessere Instrumente, sie zu finden und ihre Auswirkungen analysieren zu können. Vgl. Ross, B. et al.: Are social bots a real threat? An agent-based model of the spiral of silence to analyse the impact of manipulative actors in social networks. In: European Journal of Information Systems, 2019, S. 1-19. Vgl. Bessi, A./Ferrara, E.: Social Bots Distort the 2016 US Presidential Election Online Discussion. In: First Monday, 11/2016. Vgl. Howard, P. N./Kollanyi, B.: Bots, #StrongerIn, and #Brexit: Computational Propaganda during the UK-EU Referendum. Working Paper 2016. Vgl. Ferrara, E.: Disinformation and social bot operations in the run up to the 2017 French presidential election. In: First Monday, 8/2017. Vgl. z.B. Hegelich, S./Janetzko, D.: Are Social Bots on Twitter Political Actors? Empirical Evidence from a Ukrainian Social Botnet. In: Proceedings of the Tenth International AAAI Conference on Web and Social Media 2016, S. 579-582; Forelle, M. C. et al.: Political Bots and the Manipulation of Public Opinion in Venezuela, 2015 (Externer Link: PDF). Dieser Beitrag basiert auf Keller, T. R./Klinger, U.: Social Bots in Election Campaigns: Theoretical, Empirical, and Methodological Implications. Political Communication, 1/2019, S. 171-189. Vgl. Woolley, S. C.: Automating power: Social bot interference in global politics. First Monday, 4/2016 (Externer Link: PDF). Siehe auch Sängerlaub, A.: Der blinde Fleck digitaler Öffentlichkeiten. Stiftung Neue Verantwortung, Berlin 2019 (Externer Link: PDF). Ausführlich dazu Yang, K.-C. et al.: Arming the public with artificial intelligence to counter social bots. In: Human Behavior & Emerging Technologies. 1/2019, S. 48-61.
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Ulrike Klinger
"2022-01-26T00:00:00"
"2019-05-03T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/290557/buerger-oder-bots-automatisierte-kommunikation-im-bundestagswahlkampf-2017/
Das Thema "Social Bots" beschäftigte vor der Wahl 2017 die politische Öffentlichkeit. Eine empirische Untersuchung demonstriert den Umfang des Phänomens bei Twitter: Bei den Followern von deutschen Parteien spielen Bots jedenfalls keine relevante Rol
[ "Digitale Desinformation", "Fake News", "Bots", "Wahlkampf", "Bundestagswahlkampf" ]
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Chronik: 23. November – 6. Dezember 2015 | Ukraine-Analysen | bpb.de
23.11.2015 Der Verwaltungschef des ukrainisch kontrollierten Teils des Gebietes Luhansk, Georgij Tuka, teilt mit, dass ein Soldat der ukrainischen Streitkräfte bei der Explosion einer Mine ums Leben gekommen sei. 23.11.2015 Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärt, er habe juristische Schritte gegen die Personen eingeleitet, die für die Unterzeichnung eines Vertrages zur Lieferung von Strom auf die Krim verantwortlich seien. In diesem Vertrag werde die Krim unter der russischen Bezeichnung "Föderaler Bezirk Krim" geführt, anstatt als "Autonome Republik Krim", wie die Halbinsel offiziell in der Ukraine genannt wird. Energieminister Wolodymyr Demtschyschyn hatte zuvor beteuert, die endgültige Fassung des Vertrags enthalte nicht die kritisierte Bezeichnung. 23.11.2015 Ministerpräsident Arsenij Jazenuk kündigt an, dass die Ukraine ein Importembargo für russische Produkte einführen werde, wenn Russland wie angekündigt am 1. Januar 2016 die Einfuhr einige ukrainischer Waren verbiete. Am 1. Januar 2016 tritt das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine in Kraft. Als Reaktion hat Russland ein Teilembargo angekündigt. 23.11.2015 Die Regierung untersagt Warentransporte auf die von Russland annektierte Krim. Seit September hatte eine Kampagne von Krimtataren und ukrainischen Nationalisten zeitweilig Zufahrtsstraßen blockiert, um die Krim von der Versorgung über ukrainisches Festland abzuschneiden. Die Kampagne hatte zunächst keine offizielle Unterstützung gefunden. 23.11.2015 Der Chef des russischen Energiekonzerns Gazprom, Aleksej Miller, erklärt, dass Russland in den nächsten Tagen die Lieferung von Erdgas in die Ukraine einstellen könnte, da bisher nicht die geforderte Vorauszahlung eingegangen sei. 24.11.2015 Das Parlament verabschiedet ein Gesetz zur Reformierung von Printmedien, die von staatlichen Organen herausgegeben werden. Künftig soll es für Amtsinhaber unmöglich sein, in staatlich finanzierten Zeitungen Wahlkampf zu betreiben. 24.11.2015 Der stellvertretende Verteidigungsminister Jurij Gusew reicht ein Rücktrittsgesuch ein. Als Grund gibt er an, dass er aus dem ministeriumsinternen Büro für Reformen unter Druck gesetzt worden sei. 25.11.2015 Der ukrainische Generalstab meldet Kämpfe im Donbass. Die OSZE-Beobachtermission bestätigt, dass es mehrfach zu Schusswechseln komme. So habe die Mission im ukrainisch kontrollierten Krasnohoriwka beidseitiges Feuer von Granatwerfern registriert. 25.11.2015 Die Regierung schließt die ukrainischen Flughäfen für russische Flüge vollständig. Auch Transitflüge seien untersagt. Das Verbot betrifft nun alle russischen Fluggesellschaften. Zuvor waren nur Fluglinien betroffen gewesen, die auch die Krim anfliegen. 25.11.2015 Die Regierung weist den staatlichen Energiekonzern Naftohaz an, kein Gas mehr aus Russland zu erwerben. Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärt in diesem Zusammenhang, dass erstens der Verbrauch um 20 Prozent gesunken sei und zweitens der Einfuhrpreis für Erdgas aus der Europäischen Union zurzeit erschwinglicher sei. Der russische Konzern Gazprom hatte zuvor angekündigt, ab dem 25. November 2015 kein Gas mehr liefern zu können, wenn die Ukraine bis dahin keine Vorauszahlung leiste. 25.11.2015 Ukrainische Vertreter des Gemeinsamen Kontroll- und Koordinationszentrums, das mit der OSZE-Beobachtermission zusammenarbeitet, erklären, den ukrainischen Streitkräften sei es seit dem Morgen untersagt, das Feuer zu eröffnen. Dies sei als einseitiger Waffenstillstand zu verstehen. Beide Seiten hatten nach den Abkommen von Minsk zuletzt am 01. September 2015 einen Waffenstillstand vereinbart. In den vergangenen Wochen war es im Donbass jedoch wieder zu Kämpfen gekommen. 26.11.2015 US-Präsident Barack Obama unterzeichnet das Haushaltsgesetz für 2016. Es sieht eine Unterstützung der ukrainischen Armee in Höhe von 300 Millionen US-Dollar vor. 50 Millionen davon können für defensive Waffen eingesetzt werden. 26.11.2015 Der Konzern Ukrenergo erklärt, dass die Maßnahmen zur Instandsetzung der beschädigten Oberleitungen, über die Energie auf die Krim transportiert wird, bislang nicht aufgenommen werden konnten. Nachdem in den vergangenen Tagen mehrfach Strommasten durch Sprengungen von Unbekannten zum Umsturz gebracht worden waren, werdendie Unfallstellen von krimtatarischen Aktivisten und ukrainischen Nationalisten blockiert. 26.11.2015 Der stellvertretende Vorsitzende der OSZE-Beobachtermission, Alexander Hug, erklärt, dass beide Seiten des Konflikts der Mission immer wieder den Zutritt zu bestimmten Orten verweigern würden. Die OSZE könne so ihrer Aufgabe, den Abzug der schweren Waffen und die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen zu überwachen, nicht nachkommen. Die Seriennummern der in den Lagern registrierten schweren Waffen unterschieden sich zudem oft von denen, die zuvor zum Abzug vereinbart worden waren. 27.11.2015 Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärt, dass die Ukraine zu wenig Kohle gelagert habe, um die durchgehende Stromproduktion im Winter gewährleisten zu können. Zwei Tage zuvor berichtete die russische Zeitung Kommersant, dass die Kohlelieferungen aus Russland in die Ukraine eingestellt worden seien. Russland hatte angekündigt, aufgrund der andauernden Unterbrechung der Stromlieferung vom ukrainischen Festland auf die Krim Gegenmaßnahmen einleiten zu wollen. Es sei jedoch bisher nicht bestätigt, dass die Unterbrechung der Kohlelieferungen offiziell als Gegenmaßnahme angeordnet worden sei, so die Zeitung. 28.11.2015 Präsident Petro Poroschenko erklärt am Gedenktag für die Opfer der Holodomor genannten Hungerkatastrophe in den 1930er Jahren, das Ereignis sei Teil des "hybrides Krieges", den Russland seit Jahrhunderten gegen die Ukraine führe. Die Hungersnot – eine Folge der Zwangskollektivierungen – ist ein hochumstrittenes Ereignis der ukrainischen Geschichte. 29.11.2015 Nachdem der Geschäftsmann Dmytro Firtsch im Oktober 2015 ankündigt hatte, in die Ukraine zurückzukehren, erklärt Innenminister Arsen Awakow, dass Firtasch bei einer möglichen Rückkehr festgenommen und in die USA ausgeliefert würde. Firtasch war im Frühjahr 2014 auf Antrag der USA in Österreich festgenommenworden. Die USA werfen ihm Bestechung vor. Firtasch war auf Kaution freigekommen, mit der Auflage, in Österreich zu bleiben. Später hatte ein österreichisches Gericht die Auslieferung Firtaschs an die USA abgelehnt, da der Antrag auch aus politischen Motiven gestellt worden sei. Im Oktober 2015 bekam Firtasch von denösterreichischen Behörden die Erlaubnis zur Ausreise. 29.11.2015 Der Chef der OSZE-Beobachtermission, Ertuğrul Apakan, kündigt eine Aufstockung der Beobachterzahl im Donbass sowie eine Ausweitung des Territoriums, auf dem die Mission aktiv sein werde, an. Genaue Angaben zur angestrebten Zahl der Beobachter werden nicht genannt. Zurzeit sind etwa 500 zivile Beobachter im Einsatz. 29.11.2015 Der Konzern Ukrenergo vermeldet, dass er sich mit den Aktivisten der Krim-Blockade geeinigt habe und in den nächsten Stunden mit der Reparatur der Stromleitungen zur Krim beginnen könne. Am 22. November hatten Unbekannte mehrere Strommasten durch Sprengsätze zum Umsturz gebracht und damit weitreichende Stromausfälle auf der Krim ausgelöst. Krimtataren und ukrainische Nationalisten unterbanden daraufhin die Reparaturarbeiten. 29.11.2015 In Mariupol und Krasnoarmijsk finden nachgeholte Lokalwahlen statt. Die Wahlbeobachterorganisation OPORA stellt keine signifikanten Unregelmäßigkeiten fest. Die für den 25. Oktober 2015 vorgesehenen Wahlen waren in beiden Städten wegen fehlender Wahlzettel ausgefallen. Die Wahlbeteiligung beträgt etwa 35 Prozent. 30.11.2015 Die Vorsitzende der Zentralbank, Waleria Gontarewa, kündigt für 2016 ein Wirtschaftswachstum von 2,4 Prozent und eine Inflationsrate von zwölf Prozent an. Diese Prognose liegt über dem von der Regierung im August 2015 aufgestellten optimistischen Szenario, das ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes um nur zwei Prozent voraussagte. 30.11.2015 Der Innenminister Arsen Awakow nimmt das Rücktrittsgesuch des neuen stellvertretenden Chefs der neu gebildeten Volkspolizei, Wasilij Paskal, an. Aktivisten und das Justizministerium hatten zuvor gefordert, Paskal nicht in das Amt zu berufen, da er noch nicht auf Basis des so genannten "Lustrationsgesetzes" überprüft worden sei. Das Gesetz verpflichtet hohe Beamte dazu, sich einer Prüfung auf Korruptionsdelikte zu unterziehen. 30.11.2015 Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin ernennt den Vorsitzenden der neu eingerichteten Ermittlungsbehörde für Korruptionsdelikte. Chef der Behörde wird der 30-jährige Jurist Nasar Cholodnizkyj, der zuvor für die Staatsanwaltschaft unter anderem auf der Krim arbeitete. 30.11.2015 Mykolaj Martynenko, Abgeordneter der Partei Volksfront, legt sein Mandat nieder. Zuvor hatte es Gerüchte gegeben, nach denen in der Schweiz ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei, was die Generalstaatsanwaltschaft später bestätigte. Martynenko bestritt diese Informationen und sprach stets von einer politischen Kampagne gegen ihn. 01.12.2015 Der"Präsident" der von Russland annektierten Krim, Sergej Aksjonow, kündigt an, die Ukraine wegen des andauernden Stromausfalls auf weiten Teilen der Halbinsel zu verklagen, sobald die aktuelle Situation bewältigt worden sei. 01.12.2015 Einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums zufolge sehen 39 Prozent der Ukrainer in den USA einen strategischen Partner. Im Februar 2012 hatte der Anteil noch bei acht Prozent gelegen. Russland hingegen war damals von 40 Prozent der Befragten als strategischer Partner betrachtet worden. In der aktuellen Umfrage lag der Anteil dagegen bei sechs Prozent. 01.12.2015 Der Unternehmer Dmytro Firtasch, der sich zurzeit inÖsterreich aufhält, erklärt, dass er entgegen seinen Plänen vom Oktober 2015 zunächst nicht in die Ukraine zurückkehren werde. Am 29. November 2015 hatte Innenminister Arsen Awakow die Verhaftung Firtaschs im Falle seiner Rückkehr angekündigt. Er würde sodann umgehend in die USA ausgeliefert, die ihn wegen des Verdachts auf Bestechung vor Gericht stellen wollen. 02.12.2015 Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärt, das teilweise im Ausland eingefrorene Vermögen des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch solle in den Staatshaushalt der Ukraine einfließen. Er schlägt vor, es in einen speziellen Fonds einzuzahlen, der zur Finanzierung der Verteidigung und anderer staatlicher Leistungen herangezogen werden könnte. 02.12.2015 Die Nichtregierungsorganisation OPORA legt eine Analyse zum im Jahr 2014 gewählten Parlament vor. Daraus geht hervor, dass das Parlament mehr Sitzungstage abgehalten und mehr Gesetze verabschiedet hat als das Parlament der vorherigen Legislaturperiode in einem vergleichbaren Zeitraum. Allerdings sei bei der Mehrheit der verabschiedeten Gesetze die Geschäftsordnung verletzt worden. 03.12.2015 Laut einem Bericht des Wirtschaftsministeriums liegt der Umfang der Schattenwirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2015 bei 42 Prozent der Wirtschaftsleistung. 03.12.2015 Der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates Oleksandr Turtschynow fordert in einem Fernsehinterview die Einführung der Visumspflicht für russische Staatsbürger. Bisher können die Bürger beider Staaten ohne Visum ins jeweils andere Land reisen. Turtschynow erklärt außerdem, dass die Möglichkeit bestehe, dass Russland im Falle einer weiteren Eskalation des Konflikts auch seine Luftwaffe einsetze. 03.12.2015 Das britische Recherchenetzwerk Bellingcat veröffentlicht einen Bericht, in dem es die Kämpfe bei Mariupol im Juli und August 2014 anhand von Satellitendaten und Bildmaterial aus sozialen Netzwerken analysiert. Die Autoren erklären, einige gepanzerte Fahrzeuge und Panzer, die auf Seiten der Separatisten kämpften, seien aus Russland gekommen. 04.12.2015 Ein Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF) äußert die Befürchtung, dass das Parlament einen für den Fonds nicht akzeptablen Budgetentwurf verabschieden könnte. Dies würde die Fortsetzung des Kreditprogramms gefährden. An das Unterstützungsprogramm des IWF sind auch die Programme der Weltbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und einige bilaterale Abkommen einzelner Staaten mit der Ukraine gekoppelt. 04.12.2015 Vor einem Londoner Wirtschaftsgericht beginnen die Voranhörungen zu einem Prozess, in dem eine Klage des ukrainischen Unternehmers Wiktor Pintschuk gegen die Unternehmer Ihor Kolomojskyj und Hennadyj Bogoljubow verhandelt wird. Pintschuk wirft seinen früheren Geschäftspartnern Kolomojsky und Bogoljubow Betrug vor und fordert Schadenersatz in Höhe vonzwei Milliarden US-Dollar. Im Laufe der Anhörung beschuldigt Pintschuks Anwalt Kolomojskyj, im Jahr 2004 an mehreren Morden beteiligt gewesen zu sein. Kolomoyskijs Anwälte weisen die Anschuldigungen zurück. 05.12.2015 Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärt, dass die Ukraine auch ohne weiteres russisches Erdgas über den Winter kommen könne. Der russische Energieminister Aleksandr Nowak kündigt unterdessen an, dass die Ukraine künftig keinen Preisnachlass auf Erdgas mehr erhalten werde. 06.12.2015 Refat Tschubarow, krimtatarischer Abgeordneter des Blocks Petro Poroschenko, erklärt, die Aktivisten der Krim-Blockade würden die Reparatur von einer der vier unterbrochenen Stromleitungen gestatten. Tschubarow zufolge haben sich Anführer der krimtatarischen Bewegung in einem Gespräch mit dem Präsidenten Petro Poroschenko auf diesen Schritt geeinigt. Mit der Wiederherstellung der Trasse könnten soziale Einrichtungen auf der Krim wieder mit Strom versorgt werden, so Tschubarow. Bisher hatten Krimtataren und ukrainische Nationalisten die Reparaturarbeiten der Stromleitungen auf die Krim blockiert, nachdem am 22. November Unbekannte durch Sprengung zentraler Strommasten weitreichendeStromausfälle auf der Krim verursacht hatten. 06.12.2015 Der ehemalige Präsident Georgiens und Gouverneur des Gebietes Odessa, Michail Saakaschwili, äußert schwere Vorwürfe gegen einige Unternehmer und Politiker der Ukraine. Dem Staat entgingen durch Korruptionsarrangements dieser Personen mehrere Milliarden US-Dollar an Einnahmen. Saakaschwili nennt dabei unter anderem die Unternehmer Rinat Achmetow und Ihor Kolomojskij sowie den Abgeordneten Mykolaj Martynenko, der dem Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk nahesteht und gegen den laut Staatsanwaltschaft ein Verfahren in der Schweiz anhängig ist. 06.12.2015 Der Generalstab der ukrainischen Armee meldet ein Gefecht in der Nähe des Ortes Majorsk im Gebiet Donezk. Dabei seien mehrere Kämpfer der Separatisten ums Leben gekommen. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf http://www.laender-analysen.de/ukraine/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-12-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/217197/chronik-23-november-6-dezember-2015/
Aktuelle Ereignisse aus der Ukraine: Die Chronik vom 23. November bis zum 06. Dezember 2015.
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Könnte die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland das Problem beheben? | bpb.de
Laut Schätzungen eines viel zitierten Berichts der für Bevölkerungsfragen zuständigen Abteilung bei den Vereinten Nationen (United Nations Population Division) würde Deutschland zwischen 2000 und 2050 jährlich 3,6 Mio. neue Zuwanderer brauchen, um das aktuelle Niveau seines Wohlfahrtsstaates zu halten. Jedoch gibt es nur wenige Experten, die diese Zuwanderungszahl befürworten bzw. für notwendig halten. Statt dessen ziehen die Bundesregierung und die meisten Regierungen der OECD-Länder Reformen vor, die das Angebot an inländischen Arbeitskräften verbessern sollen. Folgende Maßnahmen könnten ergriffen werden: Die Förderung höherer Erwerbsquoten durch soziale Programme, durch die Menschen ermutigt werden, sich (wieder) eine Stelle zu suchen. Dazu gehört insbesondere die Verbesserung der Kinderbetreuungsangebote, damit Mütter wieder verstärkt einer Tätigkeit nachgehen können.Die Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Arbeitskräfte, um eine frühe Rente zu vermeiden. Hiermit würde eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit ermöglicht werden.Die Priorität auf Aus- und Weiterbildung, um der zukünftigen Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften Rechnung zu tragen und somit Innovationen zu sichern. Die Förderung von regionaler Mobilität, um freie Stellen in anderen Regionen zu besetzen. Gleichzeitig sollten Anreize für Erwerbslose geschaffen werden, Tätigkeiten aufzunehmen, die gegebenenfalls nicht in Betracht gekommen wären. Nichtsdestotrotz werden diese Maßnahmen aller Voraussicht nach eine begrenzte Wirkung zeigen. Erstens gibt es grundsätzlich keine Garantie dafür, dass sie einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen der Menschen in Bezug auf Beschäftigung haben. So können beispielsweise Reformen in der Bildungs- und Sozialpolitik zwar Anreize geben, müssen aber nicht unbedingt die gewünschten Effekte hervorrufen. Zweitens bedarf es einer gewissen Zeitspanne bis diese Maßnahmen greifen. So braucht es erfahrungsgemäß etwa 5 – 10 Jahre bis Reformen im Bildungssektor zum Tragen kommen. Daher können dies keine Lösungen für kurzfristige und dringend zu behebende Engpässe sein. Ein dritter Aspekt bezieht sich auf bestimmte Fähigkeiten in Bezug auf Fremdsprachen, spezifische Kenntnisse über ausländische Märkte und neue Technologien, für welche die Expertise von ausländischen Arbeitskräften wertvoll ist. Bei dem vierten und wichtigsten Aspekt geht es darum, dass die Projektionen von zukünftigen Engpässen grundsätzlich unzuverlässig sind. Viele der Faktoren, die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt beeinfl ussen können, wie z.B. schneller technologischer Wandel, können kaum prognostiziert werden. Dies macht es für Politiker umso schwerer, spezielle Maßnahmen zur Stärkung der Angebotsseite des Arbeitsmarktes oder sogar Rahmenrichtlinien für mittel- und langfristige Lösungen zu entwerfen. Im Vergleich dazu ist die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland ein eher kurzfristiges und effizientes Instrument, um Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu beheben. Programme, die auf die Beschäftigung in bestimmten Sektoren oder Berufsgruppen abzielen, oder auch Punktesysteme bieten eine gute Möglichkeit zur Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften. Dennoch sollten bei der Frage der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte einige Aspekte bedacht werden. Die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte wird weiterhin emotionale Reaktionen in der öffentlichen Debatte auslösen und stellt daher eher ein politisch kontroverses Instrument dar. Eine der Sorgen, die in diesem Zusammenhang am häufigsten geäußert werden, bezieht sich auf den Wettbewerb mit inländischen Arbeitskräften um die wenigen freien Arbeitsstellen. Wie oben dargestellt handelt es sich hierbei grundsätzlich um ein unzutreffendes Argument: Die richtige Steuerung der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte wird, ganz im Gegenteil, zu Wirtschaftswachstum und damit zur Schaffung weiterer Arbeitsplätze beitragen. Ein weiterer Diskussionspunkt ist sozio-kultureller Natur und betrifft das gesellschaftliche Zusammenleben. Bedenken kommen dort auf, wo es Schwierigkeiten bei der Integration von ausländischen Arbeitnehmern und ihrer Familien in die Gesellschaft gibt. Zwar sollte diesen Bedenken grundsätzlich Rechnung getragen werden, im Allgemeinen treten jedoch bei der Integration von qualifi zierten Zuwanderern mit guten Zukunftsperspektiven nur selten Integrationsprobleme auf. In der deutschen Politik werden mutmaßlich unterschiedliche Lösungsansätze zur Vermeidung von zukünftigen Engpässen auf dem Arbeitsmarkt angestrebt. Die Priorität für die Bundesregierung wird die Förderung höherer Qualifikationen, die Erweiterung der Erwerbstätigenquote und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit sein. Dort, wo diese Maßnahmen unzureichend sind, sollte in Betracht gezogen werden, spezifische Zuwanderungsprogramme unter Berücksichtigung der öffentlichen Diskussionen zu ergreifen. Zweifelsohne wird die Arbeitszuwanderung ein essentielles Instrument zum Erhalt des Wirtschaftswachstums und Wohlfahrtsstaates in Deutschland sein. KommentarVolker Roßocha, DGB-Bundesvorstand, Abteilung Europäische und internationale Gewerkschaftspolitik, Referat Migrationspolitik Deutsche Betriebe werben jährlich mehr als 300.000 zumeist ungelernte Arbeitskräfte aus dem Ausland an. Der größte Teil arbeitet für wenige Wochen oder Monate als Erntehelfer oder in Gaststätten. Ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, beschäftigt bei einem im Ausland ansässigen Unternehmen, werden nach Deutschland entsandt und übernehmen Aufträge im Bereich der industrienahen Dienstleistungen oder bauen ganze Fabriken ab, welche ins Ausland verkauft werden. Die Zahlen dieser Arbeitnehmer belaufen sich auf mehrere 100.000 pro Jahr. Eine Zuwanderungspolitik, die sich ausschließlich an den aktuellen Arbeitskräftebedarfen orientiert, greift zu kurz. Fraglich bleibt auch, ob sie angesichts von 5 Mio. Arbeitslosen ausreichend begründet werden kann. Richtig ist, dass die Arbeitsmarktlage ein "Mismatch" ausweist, zu deren Ursachen eine mangelnde Übereinstimmung zwischen den Qualifikationsanforderungen mit den vorhandenen gehört, wie auch die weit verbreitete Kurz-(sicht-)fristigkeit unternehmerischer Entscheidungen. In einem System, in dem allein die Realisierung aktueller Gewinnerwartungen zum Maßstab erfolgreichen Handelns gemacht wird, führt der Einsatz von Engpassarbeitskräften zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit bei älteren und gering qualifizierten Arbeitskräften. Außerdem stößt die Anwerbung von Engpassarbeitskräften schnell an ihre Grenzen, wie das Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfes gezeigt hat. Dort mussten die Bedarfzahlen der Unternehmen aufgrund der Krise der Branche drastisch reduziert werden. Gleichzeitig war Deutschland u.a. wegen der folgerichtigen ausländerrechtlichen Beschränkungen für Hochqualifizierte wenig attraktiv. Eine an den längerfristigen Entwicklungen des Arbeitsmarktes orientierte Einwanderungspolitik kann dazu beitragen, die Folgen des demographischen Wandels abzumildern. Die Einführung eines Punktesystems nach kanadischem Vorbild, welches die Einwanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte und ihrer Familien fördert, wäre ein richtiger Schritt. Gescheitert ist er aktuell am Widerstand der Unionsparteien. Richtig bleibt dennoch, ihn weiter zu verfolgen. Untrennbar verbunden werden muss der Ansatz mit Maßnahmen zur Verbreiterung des einheimischen Erwerbspersonenpotenzials. Einige Stichworte dazu sind: alters- und familiengerechte Arbeitsplätze, Ausbau von Kinderhorten und Ganztagsschulen, Qualifizierungs- und Integrationsoffensiven. Voraussetzung für die Durchsetzung einer sozial und ökonomisch sinnvollen Einwanderung ist und bleibt aber die Umsetzung einer politischen und gesellschaftlichen Strategie gegen Vorurteile und Ausgrenzung und für Akzeptanz und Weltoffenheit. Die Meinung des Autors muss nicht unbedingt mit den im Kurzdossier geäußerten Meinungen übereinstimmen. Deutsche Betriebe werben jährlich mehr als 300.000 zumeist ungelernte Arbeitskräfte aus dem Ausland an. Der größte Teil arbeitet für wenige Wochen oder Monate als Erntehelfer oder in Gaststätten. Ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, beschäftigt bei einem im Ausland ansässigen Unternehmen, werden nach Deutschland entsandt und übernehmen Aufträge im Bereich der industrienahen Dienstleistungen oder bauen ganze Fabriken ab, welche ins Ausland verkauft werden. Die Zahlen dieser Arbeitnehmer belaufen sich auf mehrere 100.000 pro Jahr. Eine Zuwanderungspolitik, die sich ausschließlich an den aktuellen Arbeitskräftebedarfen orientiert, greift zu kurz. Fraglich bleibt auch, ob sie angesichts von 5 Mio. Arbeitslosen ausreichend begründet werden kann. Richtig ist, dass die Arbeitsmarktlage ein "Mismatch" ausweist, zu deren Ursachen eine mangelnde Übereinstimmung zwischen den Qualifikationsanforderungen mit den vorhandenen gehört, wie auch die weit verbreitete Kurz-(sicht-)fristigkeit unternehmerischer Entscheidungen. In einem System, in dem allein die Realisierung aktueller Gewinnerwartungen zum Maßstab erfolgreichen Handelns gemacht wird, führt der Einsatz von Engpassarbeitskräften zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit bei älteren und gering qualifizierten Arbeitskräften. Außerdem stößt die Anwerbung von Engpassarbeitskräften schnell an ihre Grenzen, wie das Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfes gezeigt hat. Dort mussten die Bedarfzahlen der Unternehmen aufgrund der Krise der Branche drastisch reduziert werden. Gleichzeitig war Deutschland u.a. wegen der folgerichtigen ausländerrechtlichen Beschränkungen für Hochqualifizierte wenig attraktiv. Eine an den längerfristigen Entwicklungen des Arbeitsmarktes orientierte Einwanderungspolitik kann dazu beitragen, die Folgen des demographischen Wandels abzumildern. Die Einführung eines Punktesystems nach kanadischem Vorbild, welches die Einwanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte und ihrer Familien fördert, wäre ein richtiger Schritt. Gescheitert ist er aktuell am Widerstand der Unionsparteien. Richtig bleibt dennoch, ihn weiter zu verfolgen. Untrennbar verbunden werden muss der Ansatz mit Maßnahmen zur Verbreiterung des einheimischen Erwerbspersonenpotenzials. Einige Stichworte dazu sind: alters- und familiengerechte Arbeitsplätze, Ausbau von Kinderhorten und Ganztagsschulen, Qualifizierungs- und Integrationsoffensiven. Voraussetzung für die Durchsetzung einer sozial und ökonomisch sinnvollen Einwanderung ist und bleibt aber die Umsetzung einer politischen und gesellschaftlichen Strategie gegen Vorurteile und Ausgrenzung und für Akzeptanz und Weltoffenheit. Die Meinung des Autors muss nicht unbedingt mit den im Kurzdossier geäußerten Meinungen übereinstimmen. Bei dem Punktesystem werden Punkte je nach Qualifikationen und Fähigkeiten des Bewerbers erteilt. Dieses System wird z.B. in Kanada erfolgreich angewandt.
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Christina Boswell und Thomas Straubhaar
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/57465/koennte-die-zuwanderung-von-arbeitskraeften-aus-dem-ausland-das-problem-beheben/
Laut Schätzungen eines viel zitierten Berichts der für Bevölkerungsfragen zuständigen Abteilung bei den Vereinten Nationen würde Deutschland zwischen 2000 und 2050 jährlich 3,6 Mio. neue Zuwanderer brauchen, um das aktuelle Niveau seines Wohlfahrtsst
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Die Wahrheit der Fiktion: Spionagefilme und politische Wirklichkeit | The Celluloid Curtain | bpb.de
Checkpoint Charlie an der Berliner Mauer, im amerikanischen Sektor, irgendwann in den ersten zwei Jahren nach dem Mauerbau 1961. Die Grenze ist scharf bewacht, nervöse Grenzer auf beiden Seiten, trübes Licht, ein tödliches Niemandsland in der Mitte. Der britische Agent Alec Leamas, gespielt von Richard Burton, wartet angespannt auf seinen ostdeutschen Agenten, der aufgeflogen ist und mit gefälschten Papieren über die Grenze in den Westen fliehen soll. Er geht am Grenzstreifen entlang, eine weiße Linie im grauen Nachtlicht, Stacheldraht, er späht nach der anderen Seite. – Kaum je wurde die große Grenze des Kalten Krieges brillanter ins Bild gesetzt als in der Anfangsszene von Martin Ritts The Spy Who Came in from the Cold (1965), der Verfilmung von John Le Carrés gleichnamigem Spionage-Thriller (1963). Alles in dieser düsteren Geschichte dreht sich um die Grenze, an der sie auch endet. Am Schluss wird Leamas selbst versuchen, sie zu überqueren; er läuft über den Todesstreifen, springt auf die Mauer – und wird in letzter Minute vom Suchscheinwerfer gestellt und erschossen. Der Spion auf der Grenze – es sind diese zwei grandiosen Rahmenszenen, die The Spy Who Came in from the Cold zu einer Allegorie der Spionage im Kalten Krieg gemacht haben. Zwischen ihnen entspinnt sich eine komplizierte Intrige um zwei Geheimdienste, die sich gegenseitig unterwandern, einem abgehalfterten Agenten, der seinen sozialen Niedergang inszeniert, um sich von der Gegenseite anwerben zu lassen, und schließlich – sehr am Rande – um eine mit wenig Emphase betriebene Liebesgeschichte, die am Schluss aber zur entscheidenden Falle wird. Der emblematische Ort, um den diese Geschichte kreist, ist der Grenzstreifen mit Kontrollposten, Stacheldraht und Schießbefehl; ein Grenzstreifen, an dem Feinde von globalem Ausmaß aufeinandertreffen. Scharf gesichert verläuft diese Grenze – im manichäischen Politikverständnis der Zeit – zwischen den beiden Hälften der Welt, zwei völlig konträren Gesellschafts- und Kulturformen. Diesseits der Grenze kann man, wie Alec Leamas zu Anfang im amerikanischen Kontrollhäuschen, das Geschehen aus der Sicherheit des geschützten Territoriums beobachten, man kann das Beobachtete sammeln, interpretieren und seine Schlüsse ziehen – das ist die übliche Tätigkeit der Geheimdienste im eigenen Land. Auf dem Grenzstreifen aber, in der Todeszone, entscheiden einige Meter oder auch das richtige Papier, das Passwort, der Befehl der Grenzposten oder der zuvor durchschnittene Stacheldraht über Leben und Tod. Diese Grenze überschreitet der Spion wieder und wieder, und jedes Mal ist sein erfolgreicher Übertritt eine mehr oder minder dramatische Beschädigung der Grenze. Denn die Grenze des Kalten Krieges ist nicht nur ein territorialer Einschnitt, sondern auch eine Grenze des Wissens. Letztere durchbricht der Spion, indem er verbotenes, hochgefährliches Wissen produziert und transportiert. Was diesseits der Grenze, in den Händen der eigenen Leute, funktionales Wissen war – die Lage von Militärstützpunkten oder der Plan eines Atomkraftwerkes –, wird in den Händen des Feindes zur Waffe, zum strategischen Vorteil, der über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Genau darum ist die Verletzung, die der Spion dieser Grenze des Wissens zufügt, so dramatisch und bedrohlich. Der Spion ist Medium des Staatsgeheimnisses, er transportiert es über jene rechtlichen, geografischen, institutionellen, wissenschaftlichen und personellen Schranken hinweg, die dafür sorgen sollen, dass das geheime Wissen geheim bleibt. So ist er wie kein anderer eine Figur, die die politische Ordnung des Kalten Krieges, die Aufteilung der Welt in "Osten" und "Westen", "Kapitalismus" und "Kommunismus" zugleich infrage stellt und bestätigt. Nur er sieht – wenn er es überlebt – beide Seiten, nur er sieht, was hinter dem Schirm des Nicht-Wissens wirklich verborgen ist. In The Spy Who Came in from the Cold ist das eine denkbar düstere Erkenntnis. Was Leamas am Ende herausfindet, ist die Tatsache, dass der schlimmste Feind des Westens, der DDR-Geheimdienstchef Mundt, in Wirklichkeit ein Agent des Westens ist. Er erkennt, dass trotz der vielbeschworenen Differenz der Systeme – "Freiheit" vs. "Planwirtschaft" oder umgekehrt "Konsumterror" vs. "soziale Gerechtigkeit" – beide mit den gleichen Mitteln arbeiten. Nichts unterscheidet sie moralisch. Die komplizierte Intrige, die The Spy Who Came in from the Cold entspinnt, ist damals, in einer der kältesten Perioden des Kalten Krieges, mit ungeheurer Faszination aufgenommen worden. Anstelle alberner Gentleman-Spione wie James Bond entwarf die Geschichte, trotz ihrer irrwitzigen Wendungen, plötzlich ein abgeklärtes, düstres und seltsam scharfsichtiges Porträt einer Geheimdienstwelt, die eben nicht so sehr die Freiheit oder den Weltfrieden sicherte, sondern sich auf grausame und hinterhältige Täuschungsspielchen einließ, die am Ende keinen Gewinner kannten. Dieser düstere Blick auf die geheimnisvolle Welt der Spionage basierte auf Informationen aus erster Hand: Le Carré war einige Jahre als Resident des Britischen Auslandsnachrichtendienstes MI6 in Bonn stationiert und erzählte, wenn man so will, aus der Perspektive des Insiders. Dies bedeutet allerdings nicht, dass seine Romane einfache Enthüllungsgeschichten sind, Memoiren eines ernüchterten Ex-Spions. Le Carré ist weder Historiker noch Memoirenschreiber, sondern durch und durch Romancier, wenn auch seine Bücher, insbesondere Tinker, Tailor, Soldier, Spy (1974), auf wahre historische Ereignisse zurückgreifen wie die Affäre um den sowjetischen Maulwurf Kim Philby, der jahrelang im britischen Geheimdienst gearbeitet hatte und erst 1963 aufflog. Was Le Carré interessiert, sind nicht genaue historische Abläufe, sondern ist vielmehr die Logik einer politischen Situation: Hier die Logik eines Kalten Krieges, der vor allem ein geheimer Krieg ist, ein Krieg, der weniger mit Waffengewalt als durch Verrat, Unterwanderung, Betrug, Täuschung und Erpressung geführt wurde. Wie, so fragt sich Le Carré etwa, verhält sich ein Maulwurf in seinem sozialen Umfeld? Warum bemerkt niemand etwas von seinen geheimen Aktivitäten? Was für eine Gesellschaft ist das, die einen Mann wie Philby jahrelang Karriere machen lässt, ohne zu merken, dass er für den Feind arbeitet? Wie kommt man ihm auf die Spur? Welche Wirkung hat die Welt der Geheimdienste auf Leben und Persönlichkeit derer, die sich in ihr bewegen? Mit solchen Fragen und mit Geschichten, die sie ausmalen und beantworten, stehen Le Carrés Romane exemplarisch für das, was politische Erkenntnisleistung von Fiktion sein kann. Gerade weil sie den Anspruch von Historikern oder Journalisten aufgibt, die eine historische Wahrheit über ein Ereignis erkunden zu können, ist Fiktion besser als alle anderen Diskursformen geeignet, von Geheimnissen zu sprechen, ihre Form zu erläutern, ohne diese Geheimnisse endgültig lüften zu können oder zu wollen. Fiktionen – seien es Romane oder Filme – sind, wenn sie gut sind, weder pure Unterhaltung noch freie Erfindung. Vielmehr untersuchen sie mögliche Versionen eines Ereignisses, ohne der Illusion zu verfallen, dass man über komplizierte politische Intrigen und Geheimaffären, jenes noch immer geheimnisvolle Land hinter der Grenze des Wissens, eine abschließende Wahrheit vortragen könne. Fiktion analysiert Geheimnisse, sie ist fähig, ihre Struktur zu durchleuchten, gerade weil sie deren Logik, ihre diffizile und rätselhafte Ökonomie von Hell und Dunkel, Präsentiertem und Verborgenem, nicht aufbricht sondern nachvollzieht. Sie bleibt, wenn man so will, auf der Mauer und schaut nach drüben. Nicht zuletzt verstrickt sie sich darum auch nicht in jene Verbote, die das Staatsgeheimnis notwendigerweise umgeben, seien es Schweigeverpflichtungen von Insidern oder die Klassifikation bestimmter Informationen. Als früherer Geheimdienstmitarbeiter hätte Le Carré nie von seinen realen Erlebnissen berichten dürfen – aber Romane schreiben war nicht verboten und so findet das, was er damals begriffen hat, nun Eingang in seine Geschichten. Fiktionales Erzählen ist in der Lage, das Rätsel, um das eine Erzählung kreist, in seiner Rätselhaftigkeit zu lesen zu geben und genau damit eine Einsicht in das Funktionieren des Geheimnisses zu ermöglichen, ohne es jedoch zu lösen. Erst in einer solchen Lektüre erschließt sich die Struktur einer Wissensform, die Wissen und Unwissen, Wahrheit und Lüge in eine unauflösliche Verbindung bringt. Deshalb sind politische Thriller oft die besseren Analysen der schattenhaften Welt der politischen Geheimhaltung: Sie können Diagnosen stellen und Probleme benennen, sie können Antworten auf ungeklärte Fragen geben, die als Klartext nicht vorzubringen wären. So benutzt Fiktion vielleicht in letzter Konsequenz selbst eines der ältesten Mittel der Spionage, die Tarnung. Die Wahrheit in den Geschichten, die sie vorträgt, tarnt sie ganz harmlos mit der berühmten Fiktionalitätsklausel: "Alle hier erzählten Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig."
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Eva Horn
"2021-12-17T00:00:00"
"2012-02-14T00:00:00"
"2021-12-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/63106/die-wahrheit-der-fiktion-spionagefilme-und-politische-wirklichkeit/
Gerade weil sie den Anspruch aufgibt, die eine historische Wahrheit über ein Ereignis erkunden zu können, ist Fiktion besser als andere Diskursformen geeignet, um von Geheimnissen zu sprechen.
[ "Film", "Kalter Krieg", "Filmbildung", "Kino", "Geheimdienst", "Ideologie", "Popkultur", "Propaganda" ]
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Podcast: Netz aus Lügen – Der Hack (1/8) | Digitale Desinformation | bpb.de
Diese Folge wurde geschrieben von Christian Alt, Sylke Gruhnwald und Jochen Dreier. Redaktion bpb: Marion Bacher Audio-Produktion: Simone Hundrieser Fact-Checking: Karolin Schwarz Produktionshilfe: Lena Kohlwees. "Netz aus Lügen - die globale Macht der Desinformation” ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Interner Link: 00:00 – Einstieg: Sturm auf das Kapitol, Washington, DCInterner Link: 03:24 - Um was geht es in dem Podcast?Interner Link: 05:45 – Bericht der East StratCom Task ForceInterner Link: 09:31 – Was ist Ghostwriter?Interner Link: 13:48 – Hack-and-Leak in PolenInterner Link: 24:57 – Was meinen wir, wenn wir von Desinformation sprechen?Interner Link: 26:48 – Polarisierung ist der SchlüsselInterner Link: 29:50 – Gestohlene Social-Media-Accounts in DeutschlandInterner Link: 40:45 – Wer ist Ghostwriter? - Die Reaktion der BundesregierungInterner Link: 44:17 – Ausblick Podcast Abonnieren Jetzt auch anhören bei Externer Link: Apple Podcasts, Externer Link: Amazon Music, Externer Link: Deezer, Externer Link: Spotify und bei Externer Link: YouTube. Transkript von "Netz aus Lügen - Der Hack (1/7)" 0:00 Zuspieler (ZSP) Capitol Riots 6. Januar 2021. Mittwoch. Es ist zuerst nur ein Raunen, das durch die sozialen Netzwerke geht. Erste Meldungen über das, was in Washington passiert. Menschen drängen zum Kapitol. Schnell tauchen die ersten Fotos auf, alles wird live gestreamt und es wird klar: Hier droht etwas aus dem Ruder zu laufen. Der Nachrichtensender CNN reagiert schnell, erste Kameraaufnahmen zeigen die Demonstrierenden – inzwischen werden sie von vielen bereits als Terroristen und Terroristinnen bezeichnet. Sie haben einen Galgen für Vize-Präsident Mike Pence aufgebaut. Denn der ist gerade genau wie die 100 Senatorinnen und Senatoren im Kapitol. In der zweiten Kammer kommen dazu noch die 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses. Hier zählen sie die Stimmen der Bundesstaaten aus - es ist der letzte Schritt, der die Wahl von Joe Biden offiziell macht. Nur hat einer damit ein Problem. ZSP Trump "Ich hoffe, Mike Pence wird das Richtige tun. Denn wenn er das richtige tut, dann gewinnen wir die Wahl. Die Staaten sind betrogen worden, sie haben die Wahlergebnisse aufgrund falscher Ergebnisse zertifiziert, nun wollen sie eine neue Zertifizierung. Das einzige, was Vizepräsident Pence tun muss, ist, die Resultate zurückzuschicken für eine neue Zertifizierung. Und wir werden Präsident und ihr alle seid glückliche Leute." Dass Mike Pence hier am Resultat der demokratischen Wahl nichts ändern konnte: geschenkt. Nach der Trumprede marschieren Protestierende aufs Kapitol. Sie wollen rein, wollen, dass die Auszählung gestoppt wird. Dass Donald Trump Präsident bleibt. ZSP Capitol Riots Sie schlagen Fensterscheiben ein. Verwüsten Büros. Abgeordnete werden durch geheime Tunnelsysteme in Sicherheit gebracht. Fünf Menschen sterben. Und all das wegen einer Lüge. Über Jahre hat Donald Trump die Angst vor falscher Stimmabgabe geschürt. Die Briefwahl, die im Corona-Jahr 2020 wichtig wurde, war Trump und seiner Partei schon länger ein Dorn im Auge. Gut. Von Donald Trump haben wahrscheinlich die wenigsten einen anständigen Abgang erwartet. Aber… was dann doch überrascht hat, war, wie viele bereit waren mitzumachen. Wie viele Mitglieder der republikanischen Partei im vollen Ernst behaupteten, dass es wirklich Ungereimtheiten bei der Wahl gab. Und … wie viele heute noch diese Lüge glauben. 53 Prozent aller republikanischen Wählerinnen und Wähler gaben im Mai bei einer Umfrage an, dass Donald Trump der rechtmäßige Präsident sei. 53. Prozent. Wie kann das sein? Wie wird aus einer Lüge für viele Menschen die Wahrheit? Jingle: "Netz aus Lügen - Die globale Macht der Desinformation" - ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 1 - Der Hack 03:24 Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker und in diesem Podcast geht es um Lügen. Damit meinen wir nicht Alltagslügen wie "Sorry, mein Computer hatte sich aufgehängt, deshalb bin ich zu spät zum Meeting” - sondern politische Lügen. Lügen, die Menschen täuschen sollen, sie verunsichern, sie zweifeln lassen an der Demokratie. Kurz: wir reden über Desinformation. In diesem Podcast wollen wir über den Tellerrand schauen. Wir wollen uns Desinformation weltweit ansehen. Raus aus Deutschland, um den Blick für die Dinge zu schärfen, die alle Lügen gemeinsam haben. Jede Folge schauen wir uns ein anderes Land an. Von Russland über die USA, bis nach Taiwan - wir wollen rausfinden: welche Rolle spielt Desinformation in der Welt? Ist es wirklich so schlimm wie wir denken - oder ist Desinformation nur ein Gespenst? Fangen wir mal bei uns selbst an - denn schließlich stehen hier auch gerade Wahlen an. ZSP Bundestag "Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Konstantin Kuhle" Donnerstag, 22. April 2021. Der Wahlkampf, er hat just in dieser Woche angefangen. Gerade hat die Union ihren Kanzlerkandidaten Armin Laschet vorgestellt und damit wurde auch ein monatelanger Machtkampf, wer denn nun von Unions-Seite antritt, beendet. Auch wenn der September noch ewig weit weg scheint - im Bundestag geht es schon ums Ganze. Der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle bringt mit anderen Fraktionsmitgliedern einen Antrag ein. Er fordert unter anderem die Gründung einer Taskforce gegen Desinformation, in der dann vom Auswärtigen Amt über das Innenministerium bis zum Bundesnachrichtendienst alle Informationen gebündelt werden. Außerdem fordert er von den Plattformen mehr Informationen über Desinformationskampagnen. ZSP Kuhle "Wir müssen die Social-Media-Plattformen an einen Tisch bekommen, und wir dürfen es uns mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und als offene Gesellschaft nicht gefallen lassen, dass wir unterwandert werden, mit dem Ziel, diese Errungenschaften abzuschaffen. Schützen wir gemeinsam die Bundestagswahlen 2021! Ich freue mich auf die Debatte." Wer sich jetzt vielleicht ein bisschen am Kopf kratzt und fragt… "Moment mal. Was ist denn eigentlich passiert? Ist die Wahl denn gefährdet?”, der ist nicht alleine. Wirkliches Aufmacherthema war das im Frühjahr nicht, aber Kuhle bezieht sich in seinem Antrag auch auf einen neuen Bericht. ZSP Kuhle "Es gibt Untersuchungen, des Auswärtigen Europäischen Dienstes, die ganz klar benennen, dass es kein Land in der Europäischen Union gibt, das in so einem starken Fokus der Desinformation steht, wie die Bundesrepublik Deutschland" 05:45 Dieser Bericht kommt von der "East Stratcom Task Force” des Europäischen Auswärtigen Diensts. Diese beschäftigt sich primär mit Desinformation, die Osteuropa betrifft. Und im März 2021 gibt diese Taskforce einen Bericht heraus, der es in sich hat. ZSP Güllner "Also dieser Bericht, den mein Team gemacht hat, der hat sich einfach mal angeschaut: Was ist in den letzten zwei Jahren passiert, was haben wir da für Fälle gesehen?" Das ist Lutz Güllner. Er ist der Leiter der Desinformations-Taskforce. "Wer ist da eigentlich in die Zielscheibe gekommen? Oder wer war da so ein bisschen im Fadenkreuz? Welche Länder waren das, welche Themen? Und uns ist aufgefallen, dass über die letzten 18 Monate, dass sich das so ein bisschen verschoben hat, dass Deutschland - das lange Zeit eigentlich gar nicht so sehr in den Mittelpunkt oder in die Zielscheibe genommen wurde durch die bekannten Akteure - dass es da immer mehr sozusagen Fokus gab." Er und sein Team sorgen sich vor allem um die Manipulation von Wahlen. Dem heiligsten Prozess einer jeden Demokratie. ZSP Güllner "Wir haben es gesehen in den Vereinigten Staaten. 2016. Auch 2020 noch mal. Wir haben es gesehen in Frankreich 2017, in vielen anderen Bereichen, dass man tatsächlich mit dieser Desinformation solche Prozesse destabilisieren kann. Manchmal kann man sogar die Ergebnisse beeinflussen. Wie sehr. Das muss man noch genau untersuchen. Also da gibt's keine Regel, dass man da irgendwie fünf oder zehn Prozent hin und herschieben kann. So einfach ist es auch nicht. Aber man kann das gesamte Umfeld vorher beeinflussen. Und das macht es dann doch ein bisschen gefährlicher." Gegründet wurde die Task-Force im Jahr 2016. Die EU-Staaten wollten auf russische Desinformationskampagnen in Osteuropa reagieren, die nach der Annexion der Krim 2014 immer lauter wurden. ZSP Güllner "Also ursprünglich haben wir ja mal angefangen mit einem ganz klaren, relativ eng begrenztem Auftrag. Es war 2016, als die Task Force geschaffen wurde. Da sollte man sich anschauen: "Wie funktionieren insbesondere die russischen Desinformationskampagnen bei unseren östlichen Nachbarn?” Also das war die Zeit der Ukraine, die Annexion der Krim. Der Krieg begann in der Ostukraine und es gab ein massives - ja, wie soll ich sagen - ein flächendeckendes Ausführen von Desinformationskampagnen von russischen Akteuren in der Ukraine insbesondere. Und da hat sich die EU gesagt: Wir müssen dagegenhalten." Und obwohl die Task-Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes natürlich eine Institution mit klarem politischen Auftrag ist. Lutz Güllner ist Fachmann - er und sein Team schauen sich genau an, wie groß die versuchte Einflussnahme in europäischen Staaten ist. Auf der Webseite der Taskforce wird dann zusammengetragen, welche Narrative im Umlauf sind - zum Redaktionsschluss hat die Datenbank 12784 Einträge. Diese Datenbank ist das Herzstück der Arbeit - zusätzlich veröffentlicht Güllners Taskforce noch Analysen, berät Mitgliedsstaaten und Think Tanks. Konstantin Kuhle sagt im Bundestag: Es geht hier nicht nur um pro-russische Narrative. Der Westen soll als handlungsunfähig erscheinen. ZSP Kuhle "Autoritäre Regierungen nutzen das Internet als Kommunikationsplattform, aber auch als Plattform für Cyberangriffe. Sie nutzen die sozialen Medien, sie nutzen verdeckte Finanzierungen, sie nutzen andere Wege, um die Willensbildung in demokratischen Staaten Europas auf ganz unterschiedlichen Kanälen zu beeinflussen. Warum tun sie das, meine Damen und Herren? Sie tun das aus folgendem Grund: Je mehr Menschen an der Handlungsfähigkeit staatlicher Organisationen und Institutionen zweifeln, umso leichter können sich Putin und Erdogan als starke Führungspersönlichkeiten inszenieren." Wir wollen in dieser Folge herausfinden, wie Desinformation aus dem Ausland gestreut wird. Und ob diese Desinformation genutzt werden kann, in unseren Wahlkampf einzugreifen. 09:31 Ganz konkret geht es um eine Aktion, die mit Hacks und Leaks arbeitet und vermutlich aus Russland kommt. Konstantin Kuhles Rede im deutschen Bundestag hat einen ganz konkreten Anlass. Denn spätestens seit Februar gibt es eine koordinierte Hacking-Attacke gegen Mitglieder des deutschen Bundestags. Das Ziel: Desinformation soll auf ihren Social-Media-Accounts verbreitet werden. ZSP Kuhle "Was passiert konkret, und was muss geschehen? Erstens. Wir erfahren in diesen Tagen, dass in den letzten Wochen und Monaten mindestens sieben Bundestagsabgeordnete zum Ziel, zu Opfern von Phishing-Angriffen geworden sind. Da wird versucht, Passwörter auszuforschen, mit denen man sich in die Social-Media-Präsenzen von Abgeordneten einloggen kann, um dort Desinformation zu verbreiten. Was lernen wir daraus? Wir müssen nicht nur an der IT-Sicherheit der Exekutive arbeiten, sondern auch an der IT-Sicherheit der Legislative, auch bei den Kandidatinnen und Kandidaten, bei den Parteien, bei den Landespolitikern, bei den Kommunalpolitikern." "Ghostwriter” heißt die Operation dahinter. Das US-amerikanische Sicherheitsunternehmen Mandiant hat die Operation Ghostwriter getauft, weil "Einheimische, Journalistinnen und Analysten in den Zielländern nachgeahmt werden, um Artikel und Meinungsbeiträge zu posten.” Ghostwriter produziert falsche Nachrichten, verschafft sich dann Zugang zu Nachrichtenseiten und Blogs in Litauen, Lettland und Polen, schreibt Mandiant . Hier ein paar Meldungen, die Ghostwriter in den vergangenen Jahren auf Nachrichtenseiten und Blogs platziert hat. SPR2 28. März 2017: Deutscher Bundeswehroffizier ist ein russischer Spion SPR3 7. Juni 2018: Ein Nato-Panzer überfährt ein litauisches Kind SPR2 29. Mai 2019: Deutsche Nato-Soldaten schänden einen jüdischen Friedhof in Litauen SPR3 20. April 2020: Kanadische Nato-Soldaten schleppen Covid-19 nach Lettland ein All diese Meldungen sind falsch, erstunken und erlogen. Und alle Meldungen sollen wohl Misstrauen gegen die Nato in baltischen Ländern und Polen schüren. Die Ghostwriter-Kampagne folgt dabei "russischen Sicherheitsinteressen”, wie Mandiant schreibt. Und diese Kampagne… die soll jetzt eben auch in Deutschland laufen. ZSP Haldenwang "Seit Februar diesen Jahres beobachtet das BfV intensive Angriffs-Aktivitäten eines Cyber-Akteurs in Deutschland." Eine eilig einberufene Pressekonferenz in Berlin. Es ist der 14. Juli. Innenminister Horst Seehofer, der Bundeswahlleiter, der Chef des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik und der Chef des Verfassungsschutzes Thomas Haldenwang sprechen. Haldenwang haben wir gerade schon gehört. "Nach bisheriger Kenntnislage ist ein nachrichtendienstlicher Hintergrund wahrscheinlich. Im Fokus dieser Phishing-Angriffe der Cyber-Gruppierung Ghostwriter stehen insbesondere private E-Mail-Adressen von Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Landtage und deren Mitarbeitende." Im Nicht-Fachdeutsch heißt das: Ghostwriter versucht deutsche Abgeordnete auf Fake-Webseiten zu locken, die zum Beispiel aussehen wie ihr Online-Banking oder ein Online-Shop. Wenn diese dann dort ihr Passwort eingeben, dann haben das die Hacker. Oder Hackerinnen. Nochmal Thomas Haldenwang: "Das Konto einer Person wird gleichsam gekapert und mit gestohlenen Daten bestückt. So ist es auch in anderen Ländern geschehen. Desinformationen können außerdem über weitere Verbreitungswege in Umlauf gebracht werden. Hierzu gehören sogenannte Hack-and-Publish-Operationen, bei denen echte und damit grundsätzlich glaubwürdige Nachrichtenseiten im ersten Schritt angegriffen und dann kompromittiert werden, um dann in einem zweiten Schritt Desinformationen auf diesen Nachrichtenkanäle zu veröffentlichen. Das ist nur ein kleiner Auszug der Bedrohungssituation." Das, was Thomas Haldenwang so trocken erzählt, ist eigentlich ein ziemlicher Hammer. Das merkt man, wenn man den Blick aus Deutschland richtet, und sich ein Land anschaut, bei dem Ghostwriter schon länger aktiv ist. 13:48 Polen. Ich male kurz ein Bild. Stellt euch vor, die E-Mails von Kanzleramtsminister Helge Braun würden gehackt werden. Und dann gäbe es eine Telegram-Gruppe, ich nenne sie mal "Braun Leaks”, die andauernd neue Mails von Braun posten. Passend mit lustigen Sprüchen und Memes. Genau das ist in Polen passiert. Die Mails des dortigen Kanzleramtsministers Michalł Dworczyk - der Job ist jetzt nicht hundertprozentig derselbe aber sehr nah dran - wurden im Juni 2021 geleaked, auf Telegram. Zum Beispiel die Nachricht von Dworczyk, in der er einen Einsatz der polnischen Armee gegen Demonstrantinnen gegen das Abtreibungsverbot ablehnt. Der Telegram-Kanal hatte 90.000 Abrufe am Tag - bis er stillgelegt wurde. Nicht nur Michał Dworczyk ist betroffen. Mehr als 700 gehackte E-Mail-Accounts wurden bislang gefunden. Wie viel Material wirklich abgefischt wurde, ist noch nicht bekannt. In manchen Fällen gab es sogar direkten Zugriff auf die Social-Media-Konten von Politikerinnen und Politikern. Im Januar wurde zum Beispiel der Twitter-Account des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der regierenden PiS-Partei von Ghostwriter übernommen. Auf dem Account von Marek suski wurden Bilder gepostet, die eine Lokalpolitikerin der PiS-Partei in roter Unterwäsche zeigten. Dazu die Aufforderung, dass die Politikerin aufhören solle, ihm Fotos zu schicken und ihn zu belästigen. Ob diese Bilder echt waren oder nicht, ist unklar - ihre E-Mail-Adresse war jedenfalls auch auf einer Liste kompromittierter Accounts zu lesen. Der Hashtag Suskigate ging rum . Die Bilder der Politikerin hängen fest im Netz. Das Ziel, größtmögliche Verwirrung zu stiften, zu destabilisieren - das ist geglückt. Und all das ist das Werk von Ghostwriter. ZSP Gielewska "Ich heiße Anna Gielewska, ich bin Investigativ-Chefin bei Reporter’s Foundation und VSquare. Meine journalistischen Themen sind Desinformationskampagnen und Propaganda" Anna Gielewska verfolgt den Ghostwriter-Skandal schon lange. Dabei ist es gar nicht so einfach zu sagen "DAS ist Ghostwriter”. Es geht nicht nur um Falschmeldungen, es geht nicht nur ums Hacken, nicht nur ums Leaken, sondern es ist ein Zusammenspiel verschiedenster Methoden. ZSP Gielewska "Wenn wir von Ghostwriter sprechen, dann meinen wir in der Regel eine Vielzahl von Angriffen mit unterschiedlichen Tools und verschiedene Arten von Angriffen. Es ist eine große Cyber-Spionage-Operation. Die beinhaltet Phishing und Desinformationskampagnen. In Polen trifft das hauptsächlich Politiker und Politikerinnen der Regierungspartei PiS, aber auch die Lokalpolitik ist betroffen." Wie Anna Gielewska eigentlich zum Thema Ghostwriter gekommen ist, zeigt schön, wie umfassend die Attacke ist. Im April 2020 - also mehr als ein Jahr vor dem Telegram-Kanal mit den Mails vom Kanzleramtsminister - wird auf der Webseite der Polnischen Militärakademie ein gefälschter Brief veröffentlicht. Der Präsident der Akademie, die man am ehesten mit der Universität der Bundeswehr vergleichen könnte, rief in dem gefälschten Brief dazu auf, dass Soldaten gegen die Nato rebellieren sollten. Anna Gielewska hört von dieser Story und denkt sich nichts weiter dabei - eine Hacking-Geschichte unter vielen. Als dann aber im Herbst 2020 die Social-Media-Accounts von polnischen Politikerinnen und Politikern gehackt werden, denkt sie: Moment mal. Vielleicht sind das nicht einzelne Attacken. Vielleicht gehört das alles zusammen. ZSP Gielewska "Wir haben uns das mal genauer angeschaut und dabei herausgefunden, dass es eine massive Phishing-Kampagne in Polen gibt. Im März haben wir dann den ersten Report veröffentlicht, in dem wir versucht haben die polnische Bevölkerung zu warnen: Knapp 1000 E-Mails wurden vermutlich angegriffen, in mehreren hundert könnte der Einbruch geglückt sein." Passiert ist nach der Warnung übrigens… nichts. Erst als die Mails des Kanzleramtsministers veröffentlicht wurden, haben die Menschen in Polen zugehört. Inzwischen haben sich auch andere Institutionen wie das Stanford Internet Observatory oder die Sicherheitsfirma Mandiant den Fall in Polen angesehen und kommen zu dem Schluss: Vermutlich läuft die Attacke schon seit 2017. ZSP Żaryn "Yes, we’re ready." ZSP Żaryn "Stanisław Żaryn - I'm a spokesperson of Spokesperson of the Minister-Special Services Coordinator. I'm responsible for the information policy of the Secret Service community in Poland." Stanisław Żaryn ist der Pressesprecher der polnischen Geheimdienste. Er sagt offen: die Attacke kommt aus Russland. Er kennt die falschen Schlagzeilen über die Nato, den Hashtag Suskigate, die geleakten E-Mails von Michal Dworczyk. Als aller erstes wollen wir deshalb auch von ihm wissen: Wer oder was ist Ghostwriter? ZSP Żaryn Die Ghostwriter-Kampagne ist eine langfristige und breit angelegte Operation der russischen Geheimdienste gegen Polen, gegen die baltischen Staaten -- und gegen Deutschland. PAUSE Woher die polnische Geheimdienste wissen, dass Russland hinter Ghostwriter steckt? Attribuieren - also zuschreiben - heißt das im Fachjargon der Spione. ZSP Żaryn "Naja.. die Beweise, die der polnische Geheimdienst gesammelt hat, sind vertraulich. Deshalb kann ich leider keine Details erzählen. Aber wir haben unsere Erkenntnisse mit unseren Verbündeten der Nato geteilt. Mit denen kommunizieren wir recht offen. Aber leider kann ich darüber nicht öffentlich sprechen." Da wird dann auch Stanisław Żaryn schmallippig: Die von der polnischen Spionageabwehr gesammelten Beweise sind vertraulich, sagt er. Er kann und darf nicht über Details sprechen. Er habe keine Befugnis. Kein Kommentar. Und ganz lange geht uns das in der Recherche immer wieder… Niemand will so wirklich reden...bis wir bei ihm hier durchkommen. ZSP Kramer "Mein Name ist Stephan Kramer. Ich bin seit 2015 Präsident des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen und leite diese Behörde." Mit dem Zug geht es nach Erfurt. Das Landesamt für Verfassungsschutz von Thüringen hat hier seine Büros, großer grauer Klotz, acht Stockwerke, Parkplätze. An der Straßenlaterne davor hängen Wahlplakate der CDU und der SPD. Früher wurde hier an Mikroelektronik geforscht. Um zum Chef des Thüringer Nachrichtendienst zu gelangen, muss der der Ausweis gezeigt und das Handy abgeben werden. Und drinnen ist es dann so amtlich, dass an den Desinfektion-Spendern darauf hingewiesen wird, sie zu nutzen, aber danach "am Ort der Bereitstellung stehen zu lassen". Und, klar, es gilt: Maske an. ZSP Kramer "Wir hatten Fälle in Thüringen im überschaubaren Maße, aber es waren auch Thüringer und Thüringer Politikerinnen und Politiker betroffen." Auch Politikerinnen aus Thüringen haben Phishing-E-Mails in Zuge der Operation Ghostwriter erhalten. Und woher stammen die E-Mails? Wo sitzt Ghostwriter? ZSP Kramer "Schauen Sie, Ghostwriter ist seit einiger Zeit jetzt bekannt. Es ist uns im Verfassungsschutzverbund, aber auch mit BSI, also dem Bundesamt für Sicherheit in der Information, aber auch anderen Sicherheitsbehörden gelungen. Und da muss ich sagen wir weniger jetzt lokal, sondern das sind eher unsere Kolleginnen und Kollegen auf Bundesebene, die da auch technisch ganz anders aufgestellt sind. Also es ist uns gemeinsam gelungen, in der Tat festzustellen, dass nicht wenige der Ursprungs Ressourcen sich in Russland finden. In der Tat ist es so, dass wir hinter diesem Phänomen Ressourcen in Russland nicht nur vermuten, sondern teilweise auch belegen können." PAUSE Russland. Was hat Russland davon? Und warum gerade jetzt, geht es um die Bundestagswahl Ende September? ZSP Kramer "Um diese Frage zu beantworten, müsste ich oder versetze ich mich einfach in die Rolle derjenigen, die auf der anderen Seite sitzen, um Ghostwriter einzusetzen. Und gebe noch eine Prise Fantasie dazu und vielleicht noch eine Prise an Ideen, die einem aus dem klassischen Bereich der Spionage, Destabilisierung und Desinformation in den letzten Jahren schon begegnet sind. Ich gehe davon aus, dass wir in den letzten, in den nächsten vier Wochen bis zum Wahltermin noch sehr vorsichtig, sehr aufmerksam sein müssen und sehr genau hinschauen müssen, wenn neue Skandale vermeintlich das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Ob es dann wirklich Skandale sind oder ob es nicht fabrizierte Propaganda ist bzw. ob diese Dinge nicht möglicherweise genau aus diesem Ghostwriter-Aktionen noch hervorkommen" Um das nochmal zu betonen. Nachdem uns wochenlang niemand was zu Ghostwriter erzählen wollte, sagt uns jetzt der Chef des thüringischen Verfassungsschutzes: Es könnte gut sein, dass Ghostwriter vor der Wahl zuschlägt. Ob das die Wahl in die ein odere andere Richtung drehen würde, ist unklar. Übrigens ist der echte Einfluss von Desinformation auf Wahlausgänge in der Wissenschaft noch größtenteils unerforscht. Denn dafür bräuchte man Vergleichsdaten, eine Grundlage, wie Wählerinnen und Wähler ohne die Desinformation abgestimmt hätten. Und in die Köpfe von Menschen reinzuschauen, das ist schwer. Aber was klar ist: Desinformation kann das Umfeld im Vorfeld einer Wahl beeinflussen. Oder wie Stephan Kramer sagt: ZSP Kramer "Ziel ist destabilisieren, verunsichern, Angst verbreiten, Wut verbreiten, gesellschaftliche Gruppen gegeneinander oder gegen Einzelpersonen aufzuhetzen." ATMO/PAUSE ZSP Kramer "Ich will es nochmal deutlich sagen, das sind nicht irgendwelche Verrückten, die sich ausgedacht haben, sowas zu tun, sondern es sind in der Regel staatliche Institutionen dieser Länder, die diese Maßnahmen ganz gezielt einsetzen, um damit auch eine politische, militärische oder andere Strategie zu verfolgen. Also wir sollen nicht so naiv sein zu glauben: "Ach ja, die können ja gar nichts dafür”, sondern das sind irgendwelche Leute, die sich das ausgedacht haben, irgendwelche Gangster, die damit nur irgendetwas erringen wollen, sondern das sind ganz gezielte Maßnahmen, die in ihrer Art und Umfang auch nur durch staatliche und mit staatlicher Unterstützung eingesetzt werden können. In einer neuen Form von Krieg, der geführt wird. Also hier geht es gar nicht mal mehr darum, dass Soldatinnen und Soldaten auf dem Schlachtfeld mit dem Gewehr rumlaufen, sondern hier wird eine Form von Kriegsführung genutzt, um andere Gesellschaften zu destabilisieren, um politische Systeme umzuwälzen, um z.B. internationale Allianzen aufzubrechen," PAUSE 24:57 An dieser Stelle muss ich mal kurz die Stopp-Taste drücken. Weil hier sind jetzt ein paar Begriffe gefallen. Zuerst mal die Einordnung: Stephan Kramer ist der Präsident des Thüringischen Verfassungsschutz. Wenn er hier also von einer Form von Kriegsführung spricht, merkt man daran auch eine sicherheitspolitische Sicht auf Desinformation. Ok, das war der einfache Teil. Denn wenn wir schon bei Begrifflichkeiten sind, können wir gerade noch klären, was wir meinen, wenn wir Desinformation sagen. Denn andere hätten vielleicht dazu "Fake News” gesagt. Oder "Misinformation”, also Falschinformation. Um hier ein bisschen weiterzukommen, müssen wir kurz die Definitionen checken. Was meinen wir, wenn wir "Desinformation” sagen. Wir benutzen in diesem Podcast die Definition der Forscherin Claire Wardle. Die macht nämlich drei große Kategorien auf, wenn es um Lügen im Netz geht. 1. Misinformation - Falschinformation Unter Misinformation fällt alles, was falsch ist, aber nicht in böser Absicht erstellt wurde. Zum Beispiel geht kurz nach dem Hochwasser im Juli 2021 ein Video rum, das eine zerstörte Wuppertaler Talsperre zeigen soll. 30.000 Menschen sehen das Video in den ersten Tagen allein bei Telegram. Dabei ist dort nicht die Talsperre in Wuppertal zu sehen, sondern der Tagebau in Inden in NRW - 100 Kilometer entfernt. Falschinformation verbreitet sich in einer unübersichtlichen Lage rasend schnell - aber natürlich nie in böser Absicht. 2. Disinformation - Desinformation Bei der Desinformation kommt dann die böse Absicht dazu. Andere Menschen sollen bewusst getäuscht werden, um Personen, Organisationen oder sogar Staaten zu schaden. Gerade im Wahlkampf sehen wir natürlich recht viel klassische Desinformation. Virale Posts legen Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter falsche Zitate in den Mund - er wolle den "Ossis das Wahlrecht entziehen” oder den Deutschen das Grillen verbieten . Und auch Armin Laschet wurde zum Ziel: Nach der Flutkatastrophe hieß es, der gemeinnützige Verein "Aktion Lichtblicke” würde das für die Flutopfer gesammelte Geld - 6,6 Millionen Euro - komplett an Armin Laschet spenden. Und dann fehlt laut Claire Wardle nur noch eine Kategorie: 3. Malinformation Ein Begriff, der leider keine schöne deutsche Übersetzung hat, aber ein ganz breites Spektrum abgreift. Wardle fasst unter Malinformation alles, was zwar wahr ist, aber trotzdem schaden soll. Das sind die echten Mails, die in der Telegram-Gruppe in Polen veröffentlicht wurden. Oder wenn die privaten Daten von Promis einfach geleakt werden - Fachbegriff Doxxing. 26:48 Damit man mit der Wahrheit schaden kann, braucht es aber noch etwas. Eine ausreichende Polarisierung. Erst dann geht die ungute Saat so richtig auf. Der Pressesprecher des polnischen Geheimdienstes Stanisław Żaryn beobachtet, wie sich die Sprechchöre im Netz zusammenfinden. Wie Journalistinnen über das berichten, was auf Telegram veröffentlicht wird; über das, was halb Twitter bespricht, über die Meldungen und Hashtags, die es morgens auf die Titelseiten der Zeitungen schaffen und abends in die Nachrichtensendungen im Fernsehen, sich sonntags an Stammtischen niederlassen, und so die Grenzen des Virtuellen passieren. ZSP Żaryn "Die Russen benutzen die aktuelle Nachrichtenlage, zum Beispiel gesellschaftliche Konflikte rund um LGBT-Themen oder Abtreibung. Die benutzt Russland gegen uns." ZSP Gielewska "Polen ist fruchtbarer Boden für Desinformationskampagnen, denn das Ausmaß an Polarisierung ist sehr hoch. Ich denke, es gibt keine einzige Wahrheit, auf die sich Opposition und Regierung einigen können." Gesellschaftliche Streitigkeiten würden von Russland sehr oft dazu benutzt, Spannungen zwischen den Menschen in Polen zu schüren, befinden Stanisław Żaryn und Anna Gielewska. Und in Polen wird gestritten: über Pressefreiheit; über das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche; über Rechte für die LGBTQ+; über Freiheiten, die katholischen Traditionen und konservativen Lebensansichten entgegenstehen. Ghostwriter wirkt wie ein Verstärker. Zum Beispiel, wenn die Hacker im Dezember 2020 das Facebook-Konto von Polens Frauenministerin Marlena Malag hacken, um dort üble Beschimpfungen auf die Frauen loszuwerden, die für mehr Gleichberechtigung auf die Straße gehen. PAUSE Fassen wir zusammen. Ghostwriter hat verschiedene Vorgehensweisen. Zentral ist dabei aber immer der Hack - man verschafft sich Zugriff auf fremde Webseiten, E-Mail-Accounts oder Social-Media-Accounts und greift dort nicht nur Daten ab. Sondern man benutzt diese Accounts dann auch, um eigene Informationen zu streuen - zum Beispiel wie bei der polnischen Militärakademie, die zur Rebellion gegen die Nato aufruft. Zum Redaktionsschluss wissen wir nur, dass Ghostwriter in Deutschland arbeitet. Einen Leak haben wir noch nicht gesehen. Aber, es gibt dann doch jemandem, dem genau sowas schon mal passiert ist. 29:50 ZSP Ankommen Wuppertal Alt: "So, ich bin jetzt endlich in Wuppertal angekommen. Heute ist der 11. August. Der Wahlkampf hat vor ein paar Tagen angefangen. Überall hängen schon die Plakate. Auch Helge Lindh hab ich schon gesehen." ZSP läuft weiter als BETT Das ist mein Kollege Christian Alt. Er ist in Wuppertal, um Helge Lindh zu besuchen. Lindh sitzt seit 2017 für die SPD im Bundestag. Er engagiert sich vor allem in der Flüchtlingspolitik, und hat zum Beispiel auch ein Schiff der Sea Watch im Mittelmeer besucht. Im Frühjahr 2018 verliert Helge Lindh die Kontrolle über sein E-Mail-Postfach, über seine Profile bei Facebook und Twitter. ZSP Lindh Alt: "So genau das Mikro läuft schon mal alles." Lindh: "Herr Alt, Sagen Sie doch mal etwas über das Büro hier. Das haben wir doch eben besprochen" Alt: "Ich werde gezwungen zu erwähnen, wie schön das Büro ist. Es ist. Es ist sehr ansprechend, aber es ist wirklich ganz cool. Es ist eine alte Kneipe, in der wir hier sind. Und zwar wurde die umgebaut…" Helge Lindhs Büro ist wie er selbst. Die umgebaute Stehkneipe in der Wuppertaler Innenstadt ist irgendwie urig, irgendwie exzentrisch, aber dann auch irgendwie cool. Der Bundestagsabgeordnete wird seit Beginn der Legislaturperiode 2017 scharf angegriffen. Und zwar aus verschiedenen politischen Richtungen. Im April 2020 gab es einen Anschlag gegen das Wahlkreisbüro, in dem wir gerade das Interview machen. Unbekannte warfen mehrere Backsteine an die Tür und durchs Fenster. Kurz darauf wurde ein Bekennerschreiben aus dem linksextremen Spektrum veröffentlicht : Die Angreiferinnen und Angreifer wollten damit auf Lindhs Engagement für Geflüchtete aufmerksam machen, das ihnen nicht weit genug ging. Ein Engagement, für die Lindh auch viel Gegenwind von konservativen und rechten Kräften bekommt . ZSP Lindh "Also ich hab jetzt nicht nur dieses Hacking Doxing 18/19 erlebt, sondern hab eine beeindruckende Biographie als Zielscheibe von Hass. Werde auch deswegen von Hate Aid schon seit einiger Zeit betreut. Weil bei mir wirklich massenhaft - man kann es nur so umschreiben - massenhaft per Email, per Kommentaren auf meine eigenen Social-Media-Accounts, aber auch auf Plattformen - Tichys Einblick, PI News, Achse des Guten Deutschland Kurier, Junge Freiheit und so weiter und so fort. Dann Artikel und auch entsprechende Entgleisungen, Enthemmungen in den Kommentarspalten erfolgen. Und in diesem Rahmen, also im Rahmen dieser Hasskultur, Hasspost findet auch Desinformation statt." Über diese Art von Desinformation, die Helge Lindh begegnet, sprechen wir in der nächsten Folge noch. Aber wir sind ja hier, um mit ihm über die Hack-and-Leak-Operation zu sprechen, die sich auf seinen Konten im März 2018 abspielte. Das genaue Datum weiß er zwar nicht mehr, aber… ZSP Lindh "Ich kann die Uhrzeit sehr präzise definieren, weil ich noch genau weiß, in welchem Zimmer ich saß. Und es war kurz nach 21 Uhr." Ich war bei einer Freundin, wir waren da, saßen zusammen bei bei ihr Zuhause, als das einschlug, als diese digitale Bombe buchstäblich den Abend in Unruhe versetzte und zerschoss, zerstörte. Mein Mitarbeiter rief mich an und nahezu zeitgleich bekam ich ein oder zwei WhatsApp-Nachrichten mit dem Hinweis, da gerät etwas außer Kontrolle: Was ist da los bzw. was hast du denn da gerade gepostet? Das kann doch nicht wahr sein. "Rapefugees welcome? bist du das wirklich?” Also die haben sich aufgrund eines Postes sehr irritiert gezeigt und nahezu simultan meldete sich mein Mitarbeiter und sagte: Da stimmt was nicht. Offensichtlich sind wir gehackt worden. Jemand hat was gepostet und ich komme auch in die Accounts nicht rein. Und das ging dann so kaskadenartig: fing bei einem an, Facebook. Dann meldete er: Insta geht nicht und check mal womöglich ist auch E-Mail und sonstiges nicht mehr verfügbar und wir kommen nicht mehr rein. Das war innerhalb von wenigen Minuten" In nur wenigen Minuten ist alles weg. Selbst die Kreditkarte konnte erbeutet werden, denn ein paar Tage später wird mit dieser ein Amazon-Paket bezahlt und an Lindh geschickt. Darin: ein Kothaufen aus Plastik, Theaterblut, ein Koran und künstlicher Urin . Helge Lindh war aus seinem digitalen Leben ausgesperrt. ZSP Lindh "Das konnten wir nicht entschärfen. Es ging einfach nicht, weil wir keinen Zugriff erhielten. Also in dem Abend war es. Schlicht unmöglich auch korrektiv etwas zu posten, weil andere darüber verfügten." Alt: "Wissen Sie noch, wann Sie an dem Abend oder in der Nacht ins Bett gegangen sind? Wie?" Lindh: "Oh, ich glaub, ich habe ganz wenig geschlafen. 2, 3 Uhr vielleicht. Dann ging es ja noch um die ganzen Schritte und man hatte noch überlegt und nun gesucht nach Hotlines. Wie erreicht man jetzt diese amerikanischen Betreiber? Wie macht man das? Kann man noch irgendwas selbst unternehmen? Was folgt womöglich noch daraus? Ich musste meine Eltern auch noch beruhigen. Also das hat einen ganzen Rattenschwanz natürlich an Folgen nach sich gezogen, die weiteren Tage und machte dann natürlich auch im Kopf. Dann nächste Woche Sitzungswoche. Was machst du dann? Wie gehen wir damit um? Und womöglich auch schon da, zu diesem Zeitpunkt: Werden dann auch noch Dritte in Mitleidenschaft gezogen? Also nicht nur du selbst, sondern andere. Wen muss man jetzt informieren?" Genau wie bei Ghostwriter in Polen geht es nicht nur um die eigenen Daten. Es geht auch um Daten von Dritten, die sich auf den eigenen Online-Konten befinden. Im Fall von Helge Lindh sind das Telefonnummern, E-Mails und Adressen von Geflüchteten, denen er geholfen hat. ZSP Lindh "Ganz schnell kam auch die Nachricht der Polizei. Wir müssen dann entsprechende Leute, deren Daten und Konten womöglich mitbetroffen sind, auch informieren. Und das spielt man dann durch. Wen musst du jetzt informieren? Was löst das für Aufregung aus? Werden die stinksauer sein? Was machen die mit ihr? Das ist dann eher meine Sorge, dass da Leute unter Druck gesetzt werden könnten oder was ja, passiert ist das angerufen wird z.B. bei syrischen Geflüchteten, die von einem vermeintlichen Journalisten gefragt werden, ob ich den Personen Vorteile verschafft hätte. Es gäbe da Indizien für, also dass ich sozusagen illegal Leute ins Land geholt hätte oder unterstützt hätte. Sowas besteht aufgrund des Datenmaterials, was damals der Fall war." Wer genau Helge Lindh damals im März 2018 gehackt hat, das ist bis heute nicht komplett klar. Es gibt allerdings einen starken Verdacht. ZSP Lindh "Also bis zum heutigen Tag sind nie Sicherheitsbehörden auf mich zugekommen, haben gesagt, es war dieser oder jener Täter oder muss mutmaßlich dieser oder jener Täter. Mir wurde über Journalisten, über Journalisten, die dann auch den Prozess gegen Johannes S. verfolgt haben, dass man wohl davon ausginge, dass er es selbst war und dass ich zu den ganz früh Betroffenen gehörte" Der Fall 0rbit. Im Dezember 2018, also neun Monate nach dem Angriff auf Helge Lindh, werden in einem Adventskalender private Daten von Personen aus der Politik geleakt. Martin Schulz, Jan Böhmermann, Robert Habeck oder die Landtagsabgeordnete Eva von Angern. Die privaten Daten von bis zu 1500 Menschen wurden im Internet veröffentlicht - oder um den Fachbegriff zu benutzen - 1000 Menschen wurden gedoxxt. Anfang Januar 2019 dann eine Hausdurchsuchung in Hessen. Der damals 19-jährige Johannes S. soll die Daten zusammengetragen und veröffentlicht haben, im September 2020 wird der geständige Täter zu neun Monaten Jugendstrafe verurteilt. Ob er jetzt auch Helge Lindh gehackt hat - oder die Daten von woanders hat, ist nicht klar. Gedoxxt wurden vor allem jene, die sich für Geflüchtete engagiert haben - AfD-Politikerinnen und Politiker fehlten völlig. Das Gericht war jedoch nicht der Ansicht, dass in Leaks von Johannes S. eine klare politische Position zu erkennen war. ZSP Lindh Alt: "Wie lang hatte das alles gedauert, bis sie da ihre Konten wieder zurück hatten?" Lindh: "Unterschiedlich mehrere Tage. Es gingen bei Twitter relativ schnell, also so ungefähr vielleicht ein Tag Twitter, Instagram. Bei Facebook war es so dann, dass man auch bis zu den Abteilungen und Repräsentanzen in Berlin gehen musste. Also normale Hotlines und sowas waren hoffnungs und aussichtslos, sodass dann bei Facebook so war, dass das dann geblockt werden konnte, stillgelegt wurde, aber dann nochmal enteignet wurde. Also dass ist es zwar offensichtlich Facebook nicht gelungen, diesen Zugriff wirklich wasserdicht zu machen, sodass es dann nochmal sichtbar wurde, dass da jemand drauf Zugriff hatte und das Passwort geändert hatte. Bis dann endgültig diese Fremd-Aneignung und dieses Hacking beendet war. Bei meinem E-Mail-Konto dauerte es mehrere Wochen. Es dauerte mehrere Wochen. Ich habe surreale Telefonate mit irgendwelchen Hotlines, die mir die Identität nicht glaubten, also die ernsthaft die Position vertraten: "Da sind Sie nicht. Jemand anders ist das. Wir haben keinen Grund zu glauben, dass Sie Sie sind.” Bis dann mit vielen Schreiben und auch mit der Kontaktaufnahme zu einem Anwalt. Dieses Unternehmen in Deutschland vertrat endlich Bewegung in die Sache kam." Ob das heute schneller gehen würde, ist unklar. Immerhin hat Facebook eine automatisierte Hotline eingerichtet, an die sich Politikerinnen und Politiker wenden können - dann wird ihr Fall schneller bearbeitet. MINI-PAUSE Die meisten auf Facebook haben natürlich sofort gemerkt, dass der echte Helge Lindh nicht "Rapefugees welcome” posten würde. Seine Facebook-Freunde posteten Dinge wie: ZSP Lindh "Das kann doch nicht sein. Da stimmt doch was nicht. Also wiederholt die Reaktion Du musst gehackt worden sein und nicht bist du jetzt unter die Rechtspopulisten und Rechtsextreme gegangen." Versiertere Angreifer hätten vielleicht unter das echte Material noch Lügen gemischt, Lindh Fehltritte unterstellt, Daten gefälscht. Aber auch so war der Hack ein entscheidender Moment in Lindhs Leben, der ihn bis heute nicht loslässt. ZSP Lindh "Denn sowas wie ein Hacking und Doxing ist ja vergleichbar mit dem Einbruch in eine Wohnung und Leute, die man Wohnungseinbruch erlebt haben. Ich habe das bei meinen Nachbarn in Jugend erfahren, waren bis zum Ende ihres Lebens davon betroffen, weil das ein höchst. In tiefer Eingriff in ihr Leben, den sie nie vergessen konnten. Im Digitalen ist das. Auch wenn das dann so abstrakt wird, genauso konkret ist, es ist genauso erschütternd und genauso persönlich." PAUSE 40:45 ZSP ATMO PK Der 6. September 2021. Kurz vor unserem Redaktionsschluss. Andrea Sasse, die Sprecherin des Auswärtigen Amtes sitzt in der Bundespressekonferenz. ZSP Sasse "Der Bundesregierung liegen verlässliche Erkenntnisse vor, aufgrund derer die Ghostwriter-Aktivitäten Cyberakteuren des russischen Staates und konkret dem russischen Militärgeheimdienst GRU zugeordnet werden können. Die Bundesregierung betrachtet dieses inakzeptable Vorgehen als Gefahr für die Sicherheit der BRD und für den demokratischen Willensbildungsprozess. Und als schwere Belastung für die bilateralen Beziehungen." Nach monatelangem Schweigen jetzt endlich eine Erklärung. Die Bundesregierung sagt ganz klar, dass Russland hinter den Angriffen steckt. Inzwischen hat sogar der Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Die Tagesschau berichtet, dass die Hackingversuche Ende August noch einmal deutlich zugenommen haben sollten, einige waren wohl erfolgreich. Das russische Außenministerium bestreitet die Vorwürfe: "Unsere Partner in Deutschland haben gar keine Beweise für eine Beteiligung der Russischen Föderation an diesen Attacken vorgelegt" Fest steht nur, dass wir bisher vermutlich noch keinen Ghostwriter-Leak in Deutschland gesehen haben. Das Szenario, dass Geheimdienste und das Auswärtige Amt beunruhigt, es ist bisher noch nicht eingetreten. Aber… dass ausländische Akteure Desinformation verbreiten, ist ja nur eine Dimension des Problems. Eine Dimension, die das Außenministerium beschäftigt und die Geheimdienste. Im Inland sehen wir ganz organisch jede Menge Desinformation. Lügen, mit denen sich auch Politiker wie Helge Lindh tagtäglich rumschlagen müssen. Er lebt in Wuppertal, eine Stadt, die im Juli von einer großen Flutkatastrophe erwischt wurde. Und in diesem Zusammenhang gabs natürlich auch Desinformation. ZSP Lindh "Da gabs ein Bild von mir bei Facebook. Dann hatte ich einen Sandsack in der Hand, den ich aber real hatte, weil ich da an einem Einsatzort war mit dem THW. Und ich hatte in meine normale Klamotten von diesem Tag an: Jeans und Hemd und meine weißen Sneakers, die ich, wie Sie jetzt gerade bezeugen können, wie Sie vor mir sitzen, ich regelmäßig trage. Und dann wurde verbreitet: Das hat ja alles nur inszeniert oder dann später auch bei weiteren Post, der hilft gar nicht. Das ist alles nur Erfindung, Show und so weiter und so fort. Ich habe aber erlebt, dass ich vor Ort in Wuppertal-Beyenburg, wo ich fast jeden Tag bin und versuche, mein Möglichstes zu tun, also einerseits mit Beratung, Unterstützung, aber auch mit buchstäblichem Anpacken. Dass mich dann eine Frau ansprach, die selbst Betroffene war und dann behauptete Sie sind doch der, der gar nicht anpackt, sondern der da pseudomäßig nur inszeniert mit dem Sandsack war. Sie war, das muss man sich vor Augen führen, selbst eine Betroffene, laß aber wie mir andere erzählten, schon seit langer Zeit vornehmlich entsprechende Seiten auf Facebook und anderen Plattformen und hat daraus ihr Wissen bezogen. Das heißt, diese digitale Realität, das was ihr da vorgekaut wurde, war für sie realer als das real Erlebte. Das finde ich bemerkenswert." Auch das gehört zur Geschichte: Für die Betroffenen ist es egal, ob die Desinformation von einem staatlichen Akteur kommt oder von Privatleuten. Lügen im Netz sind nun mal Lügen im Netz. Diese Lügen wirken wie Nadelstiche. Eine einzige Lüge führt nicht dazu, dass anders gewählt wird. Aber das Wahlumfeld, das kann schon beeinflusst werden. Und das ist besonders kritisch, wenn wir an eine Sache denken: ZSP Capitol Riots 2 44:17 Die Briefwahl. Darum gehts in der nächsten Folge. Während wir uns in dieser Folge um Desinformation aus dem Ausland gekümmert haben, gehts nächste Mal um Lügen aus dem Inland. Denn auch in Deutschland wird seit Monaten die Legitimität der Briefwahl angezweifelt. Das war die erste Folge von "Netz aus Lügen - die globale Macht der Desinformation”. Diese Folge wurde geschrieben von Christian Alt, Sylke Gruhnwald und Jochen Dreier. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Simone Hundrieser. Fact-Checking: Karolin Schwarz. Produktionshilfe: Lena Kohlwees. "Netz aus Lügen - die globale Macht der Desinformation” ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schreibt uns doch unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Bis nächstes Mal.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-03-31T00:00:00"
"2021-09-21T00:00:00"
"2022-03-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/desinformation-der-globale-blick/340624/podcast-netz-aus-luegen-der-hack-1-8/
Seit Anfang des Jahres werden die privaten E-Mail-Adressen von Bundestagsabgeordneten angegriffen. Die Bundesregierung macht den russischen Militärgeheimdienst dafür verantwortlich. Es wird befürchtet, dass mithilfe der gestohlenen Daten in den Proze
[ "Netz aus Lügen", "Folge 1", "Der Hack", "Podcast" ]
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Podcast: Netz aus Lügen – Die Operation (3/8) | Digitale Desinformation | bpb.de
Interner Link: 00:00 – Einstieg: Was hat der vermeintliche Tod eines Spions an HIV mit Desinformation zu tun? Interner Link: 02:45 – Um was geht es in der dritten Folge? Interner Link: 04:25 – Eine Lüge über die Entstehung von HIV – die Operation Denver Interner Link: 10:20 – Welche Rolle spielen kleine Medien(märkte) bei der Verbreitung von Desinformation? Interner Link: 13:45 – Warum verfing die Lüge der Operation Denver in den USA? Interner Link: 17:45 – Der Schneeballeffekt Interner Link: 21:30 – Einordnung: Welche Auswirkungen hatte die Operation? Interner Link: 26:20 – Alte Methoden in einer neuen Informationsarchitektur: Die Ukraine-Krise Interner Link: 31:10 – Warum wurde die Ukraine zu einem der größten Konfliktherde in Europa und welche Rolle spielt Desinformation dabei? Interner Link: 36:20 – Die Macht russischer Staatsmedien – In Russland Interner Link: 41:55 – Die Macht russischer Staatsmedien – In Deutschland Interner Link: 51:40 – Ausblick Folge 4 Podcast Abonnieren Jetzt auch anhören bei Externer Link: Apple Podcasts, Externer Link: Amazon Music, Externer Link: Deezer, Externer Link: Spotify und bei Externer Link: YouTube. Transkript von "Netz aus Lügen – Die Operation (3/7)" [00:00] Zuspieler (ZSP) Barsky "Und ich kann mich daran erinnern. Bei einem Besuch in Moskau, ich bin ja alle zwei Jahre wieder zurück für einen Monat bis zu sechs Wochen, in der Sowjetunion in Moskau, aber auch in Berlin gewesen. Bei einem dieser Besuche, da hatte ich also eine Unterhaltung über AIDS und mein Gesprächspartner, mit dem ich öfter da zu tun hatte, war total überzeugt, dass die sittenlose Lebensweise das Ding erzeugt hat und jetzt werden sie bestraft und glücklicherweise haben wir das nicht und das wollen wir auch nicht reinlassen. (...) Also die Lüge war genial. (...) Und die konnten sich keinen Grund vorstellen, warum ich nicht zurückkommen wollte." Der Name dieses Mannes: Jack Barsky. Oder zumindest heißt dieser Mann heute Jack Barsky. Geboren wurde er 1949 als Albrecht Dittrich in der sächsischen Lausitz. Er war KGB-Spion im Kalten Krieg. Hat unter falscher Identität beim Klassenfeind in den USA gelebt. Bis er 1988 mit einer Lüge versuchte, sich dem sowjetischen Geheimdienst zu entziehen, um dort zu bleiben. Er erzählte, dass er sich mit HIV infiziert habe. ZSP Barsky "Zu der damaligen Zeit, AIDS konnte man nicht kurieren, das war ein Todesurteil. Man wusste, dass man davon sterben wird. (...) Die haben nicht ein einziges Mal gezweifelt. Ich wäre ja als Held zurückgekehrt, hatte viele Dollar-Ersparnisse, sie haben mir ein Haus versprochen. Ich hatte ja auch Familie in Deutschland." Von dem Moment im Jahr 1988 lebte er zwar weiter undercover in den USA, versteckte sich aber auch vor dem KGB. Bis dieser zusammen mit der Sowjetunion unterging. In Deutschland wurde er noch zu DDR-Zeiten für tot erklärt. Seine Familie hier -- seine Mutter, seine Frau und Kinder -- wussten jahrelang nicht, was wirklich passiert war. Seine Mutter starb sogar, ohne zu erfahren, dass er noch lebt. Erst als er 2016 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält, besucht er sein Heimatland und seine dort zurückgelassene Familie. Was aber hat das Leben und der vermeintliche Tod eines Spions an HIV mit Desinformation zu tun? Jingle: "Netz aus Lügen - Die globale Macht der Desinformation" - ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 3 – Die Operation [02:45] Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker. In diesem Podcast reden wir über Desinformation, also Lügen, die Gesellschaften polarisieren sollen, sie zweifeln lassen an demokratischen Institutionen, an Parteien und dem politischen System. Und in dieser Folge reden wir über Russland. Oder besser: Wir reden wieder über politische Einflussnahme aus Russland. Der Regierung Putins werden seit vielen Jahren Desinformations-Kampagnen vorgeworfen. Wie eben die von uns in der ersten Folge vorgestellte "Operation Ghostwriter". Diese soll vom russischen Militärgeheimdienst GRU gesteuert sein. Kurz vor der Bundestagswahl Ende September beschuldigten alle EU-Länder Russland in einer offiziellen Mitteilung: "Solche Aktivitäten sind inakzeptabel, da sie versuchen die Integrität und Sicherheit, demokratische Werte und Prinzipien und die Kernfunktionen unserer Demokratien zu schädigen." Wir haben uns jetzt lange mit den Techniken der russischen Politik und der russischen Geheimdienste beschäftigt und gemerkt: Will man diese verstehen, muss man dahin zurück, wo sie entstanden sind. In die Vergangenheit. In die Zeit des Kalten Kriegs: Wir schauen auf eine Desinformations-Operation, die sich ein Virus zunutze gemacht hat, um Stimmung gegen die USA zu machen und sie im Inneren zu destabilisieren. Die Fronten verliefen im Kalten Krieg zwischen dem kapitalistischen Westen und den sozialistisch-kommunistischen Ländern. Die Vereinigten Staaten und die aus Moskau geführte Sowjetunion waren Gegenspieler, die mit ihrer Politik die ganze Welt beeinflussten. [04:25] ZSP Nehring "Der erste Artikel, der wurde global eigentlich gar nicht wahrgenommen. Zum ersten Mal greifbar wurde das, das war eine indische Zeitschrift "The Patriot", die, wie man später herausgefunden hat, größtenteils vom russischen Geheimdienst KGB finanziert wurde, die hat einen Artikel gebracht, ich glaube 1983, der diese These vom künstlichen Ursprung von AIDS als Ursprung amerikanischer Biowaffen publiziert hat. Danach ist aber eigentlich gar nichts passiert, weil das eine relativ unbedeutende Zeitung war mit regionaler Leserschaft." Christopher Nehring forscht über Geheimdienste und ist gerade Gastdozent des Medienprogramms Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung an der Journalistischen Fakultät der Universität Sofia. Wir erreichen ihn über das Internet, auch genau da, in der bulgarischen Hauptstadt, in einem kargen Büro der Universität Sofia. Er erzählt von einer der größten und durchaus erfolgreichsten Desinformationskampagnen der Sowjets, der Operation Denver. ZSP Nehring "Das Ziel der AIDS-Test-Desinformationskampagne aus Moskau war ganz klar, quasi die USA zu diskreditieren. Sie hätten AIDS als Biowaffe künstlich entwickelt und an der Bevölkerung getestet und so in die Welt gesetzt. (...) In den 80ern, als die AIDS-Pandemie eigentlich so richtig hochstand, man aber gleichzeitig wenig über die Krankheit wusste und über das Virus, dann eben dort so ein bisschen das blame game gespielt wurde. Wer hat denn Schuld daran? Und da war es eben ganz klare Ziellinie aus Moskau, die Schuldfrage nach Washington zu schieben und das immer wieder mit unterschiedlichen aktuellen politischen Entwicklungen oder Streitfragen zu verbinden." Die Operation des KGB wurde im Rahmen der sogenannten "Aktiven Maßnahmen" entwickelt. So wurden alle sowjetischen geheimdienstlichen Operationen genannt, die das Weltgeschehen beeinflussen sollten: aktivnye meropriyatiya. Ein ganz wichtiges Element dabei: Desinformation. Anfang der 60iger Jahre heizte sich der Kalte Krieg immer mehr auf. 1961 wird Ost-Berlin abgeriegelt, die Mauer wird gebaut. Auch die Geheimdienste rüsteten auf. 1962 wurde im KGB der Service A gegründet, die Spezialeinheit für Desinformation. Sie gehörte schon wenige Jahre später zu den aktivsten Abteilungen, mit mehreren hundert Operationen im Jahr. Übrigens: Die USA haben das Wettrüsten auch im Bereich Desinformation mitgemacht und eine ähnliche Abteilung beim CIA gehabt. Auch auf dieser Seite gibt es die ein oder andere Geheimdienstaktion - zum Beispiel als der CIA den Roman "Doktor Schiwago" des russischen Nobelpreisträgers Boris Pasternak nach Russland brachte, wo er verboten war. Aber zurück auf die Seite des KGB. Wer hier gute Ideen hatte, wie die USA diskreditiert werden können, der machte Karriere. Das schreibt Thomas Rid, in seinem Buch "Active Measures" - Aktive Maßnahmen. Der Deutsche forscht an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Und die befreundeten sozialistischen Geheimdienste wurden instruiert, ebenfalls solche Abteilungen aufzubauen. In der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Polen oder Ungarn: Ende der 60er Jahre hatten die Geheimdienste dieser Staaten alle eine eigene Abteilung für Desinformation. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR hatte ein internes politisch-operatives Wörterbuch, das die Sprachregelung der Behörde vorgab. Dort wurde Desinformation so definiert: Zitat "Die bewusste Verbreitung grundsätzlich oder teilweise unwahrer Informationen durch Wort, Schrift, Bild oder Handlungen mit dem Ziel, Aktivitäten und Kräfte des Feindes in eine dem Ministerium für Staatssicherheit genehme Richtungen zu lenken bzw. diese Kräfte zu verunsichern oder zu lähmen." Nach Öffnung des Eisernen Vorhangs in den Jahren 1989 und dem endgültigen Ende der Sowjetunion 1991, öffneten sich auch die Archive. In der DDR, in Polen, der Ukraine, Tschechien und Bulgarien. In diesen Akten finden sich zahlreiche Belege für Desinformationskampagnen. Auch für die Operation Denver. Hier führten bulgarische Akten zum Durchbruch in der Aufarbeitung. Dort spürte Christopher Nehring eine Mitteilung vom russischen KGB an die bulgarische Staatssicherheit auf. Datiert auf den 7. September 1985. Zitat "Das Ziel der Maßnahmen ist die Erzeugung einer für uns günstigen Meinung im Ausland darüber, dass diese Erkrankung ein Resultat außer Kontrolle geratener geheimer Experimente der Geheimdienste der USA und des Pentagon mit neuen Arten biologischer Waffen ist." Zwar war der bulgarische Geheimdienst nicht besonders aktiv bei der Operation Denver. Aber die Agentinnen und Agenten informierten sich untereinander über ihre Ideen und Aktionen. Und so finden sich in den Archiven anderer Länder oft wichtige Hinweise. ZSP Nehring "Das Archiv in Bulgarien war quasi der Schlüssel, mit dem wir da die Blackbox geknackt haben. Interessanterweise war der bulgarische Geheimdienst eigentlich kaum involviert, d.h. er hat zu dieser ganzen AIDS-Desinformationskampagne relativ wenig beitragen können. Aber worüber wir das eben rekonstruieren konnten, war, dass eben sowohl der KGB in Moskau als auch die Stasi in Ostberlin sich regelmäßig mit dem bulgarischen Geheimdienst getroffen haben und sich ausgetauscht haben über diese Operationen und dabei erzählt haben: Was haben wir schon gemacht? Was sollte man in Zukunft machen? Könnt ihr vielleicht bestimmte Produkte, die wir gesponsert haben, nochmal irgendwo verwerten? Also gibt es noch irgendwo einen Journalisten-Kontakt, dem man das zustecken könnte etc. Und dadurch, dass diese Unterlagen in Sofia erhalten waren, wohingegen sie ihn in Berlin eben zerstört wurden im Jahr 1990, konnte man das immer viel besser nachvollziehen." Ihr erinnert euch, der Artikel in der indischen Zeitung 1983 blieb ja wenig beachtet. Die Story, das Virus käme aus einem US-Labor, die ein angeblicher amerikanischer Forscher in einem Leserbrief offenbarte, schlug nicht ein. [10:20] Und trotzdem ist es wichtig kurz zu besprechen, warum eigentlich überhaupt zuerst eine kleine indische Zeitung genutzt und vom KGB finanziert wurde? Darauf gibt es zwei Antworten: Erstens hilft der Blick auf die geostrategische Lage der damaligen Zeit. Pakistan und Indien waren verfeindet, hatten seit 1947 drei Kriege hinter sich. Es ging um Grenzen und wem welches Gebiet gehörte. 1947 hatte sich das ehemalige Kolonialreich Britisch-Indien erst unabhängig erklärt und dann in zwei Staaten geteilt, vor allem wegen religiöser Unterschiede. So entstanden das muslimische Pakistan und das hinduistische Indien. Bei diesen Kriegen unterstützten die USA Pakistan, die Sowjetunion hatte sich auf die Seite Indiens geschlagen. Das muslimische Pakistan hielt die Kommunisten für Ungläubige, das hinduistische Indien war den Amerikanern zu sozialistisch. Es war wie fast überall zu Zeiten des Kalten Krieges zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten: Wo eine Front war, da war es auch immer eine Front der feindlichen Großmächte. Und deswegen sollte durch Desinformation in Indien die antiamerikanische und anti-pakistanische Stimmung noch aufgeheizt werden. Und zweitens ist es eine typische Strategie, kleine und weniger wehrhafte Medienmärkte zu nutzen, um dort die Desinformation zu platzieren, sagt Christopher Nehring. Von dort kann sie dann weiter verteilt und vervielfältigt werden. ZSP Nehring "Das Ziel, das gibt's eben auch immer schriftlich, z.B. in den KGB-Unterlagen. Das große Ziel war ja nicht, dass die ihre ihr Ursprungsmaterial jetzt in einem in einem westlichen Qualitätsmedium unterbringen. Das hätten sie natürlich auch gemacht, wenn sie denn jemanden hätten kaufen können oder so. Aber normalerweise wäre das gar nicht durch die Redaktionen gekommen. Das Ziel war immer den indirekten Weg zu gehen. Also sie bringen es irgendwo ins Rollen, bei Randmedien, was eher im Untergrund läuft oder was schon als einschlägige Richtung bekannt ist. Also irgendwas Ideologisiertes zum Beispiel. Und von dort soll es weitere Kreise ziehen, also quasi so einen Domino-Effekt entwickeln, dass es dann jetzt aufgegriffen.(...) Und am Ende bezieht sich dann irgendein Qualitätsmedium auf eine andere Publikation, sodass überhaupt keine Verbindung zum KGB in diesem Fall gemacht werden könnte, weil sich die Zeitung X eben nur auf Zeitungen oder auf einen Forscher oder einen Experten oder wen auch immer bezieht. Und der Ursprung davon gar nicht mehr nachzuvollziehen ist." Warum Mitte der 80iger plötzlich die Mühen der sozialistischen Geheimdienste neu aufflammen, hatte wohl verschiedene Gründe. Die erhaltenen Akten geben allerdings kein ganz klares Bild wieder. Was vermutet werden kann: Die Sowjetunion musste sich 1985 selbst gegen US-amerikanische Vorwürfe wehren, gegen die Genfer Konventionen zu verstoßen und an Biowaffen zu forschen. Und durch die fortgeschrittene Epidemie war die Aufmerksamkeit auf das HI-Virus um ein Vielfaches höher. Und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Geschichte dieses Mal nicht verpufft. Desinformations-Kampagnen kosten Ressourcen. Die neue Offensive begann mit einem Artikel in der "Literaturnaja gaseta". Eine russische Wochenzeitung, die in den späten 80igern nach eigenen Angaben eine Auflage von bis zu sechs Millionen hatte. Im Oktober 1985 konnte man dort lesen: "Panik im Westen: Was steckt hinter der Sensation um AIDS?". Der Artikel bezog sich auch auf den Leserbrief in der indischen "Patriot", aber es gab auch angebliche neue und brisante Informationen: Angestellte des amerikanischen Center for Disease Control hätten in Afrika gefährliche Viren gesammelt, wusste der Autor, und diese dann in Laboren zu neuen zusammengesetzt. Und damit nicht genug: Heimliche Tests wurden laut des Artikels an marginalisierten Gruppen in den USA und Haiti durchgeführt, an Drogenabhängigen, Homosexuellen und Obdachlosen. Der Autor des Textes, Walentin Zapewalow schreibt: Zitat "Es ist vollkommen möglich, dass letzten Endes, wie dies wiederholt in der Vergangenheit der Fall war, eines der Opfer einen Prozess gegen das Pentagon und die CIA anstrengt und dann endgültig offenbar wird, dass alle AIDS-Kranken die Opfer eines weiteren unmenschlichen Experiments sind." Wiederholt? Ein weiteres Experiment? [13:45] Die Labor-These fiel nämlich auf fruchtbaren Boden. Und daran waren die USA selbst Schuld. Denn es gab heimliche Experimente und Bio-Waffen-Forschung in den Vereinigten Staaten. 1975 wurde veröffentlicht, dass die CIA in den 50igern LSD an unwissenden Menschen getestet hatte. Und ein berüchtigtes, menschenverachtendes Experiment an afroamerikanischen Menschen in der Zeit von 1932 bis 1972 wirkt bis heute nach: Die Tuskegee-Syphilis-Studie. Besser bekannt als das Tuskegee-Experiment. Knapp 400 afroamerikanische Männer, die sich mit Syphilis infiziert hatten, wurden zwar beobachtet, aber nicht behandelt, auch dann nicht, als ein Medikament zur Verfügung stand. 200 weitere waren in einer Kontrollgruppe. Die Studie wurde von einer Abteilung des Gesundheitsministeriums der USA durchgeführt und sollte den Verlauf erforschen. Es wurde wissend in Kauf genommen, dass Menschen dabei durch die Krankheit zu Tode kamen. Diese Menschen waren größtenteils Landarbeiter, die weder lesen noch schreiben konnten, sie wurden nie über ihre eigentliche Krankheit aufgeklärt. Erst 1997 entschuldigte sich US-Präsident Bill Clinton für diese Studien und das Leid, das den Menschen im Auftrag der US-Regierung angetan wurde. ZSP Clinton "Heute gedenkt Amerika den hunderten von Männern, die ohne ihr Wissen und ohne Einwilligung für Forschungszwecke missbraucht wurden. Wir erinnern an sie und ihre Familienmitglieder. Männer, die arm waren und Afroamerikaner, mit wenigen Mitteln und wenig Alternativen. Sie glaubten Hoffnung gefunden zu haben, als ihnen unentgeltlich medizinische Hilfe vom Gesundheitsministerium der USA angeboten wurde. Sie wurden verraten." Zurück zur Operation Denver: Es zeigt sich eine typische Taktik, die bei der Verbreitung von Desinformation angewendet wird: Es werden bereits vorhandene Ängste aufgegriffen, Vorbehalte und Vorurteile verstärkt. Es wird eben der fruchtbare Boden gesucht, für die Saat der Desinformation. Und so kam die Theorie von den Forschenden im Biolabor, die marginalisierte Gruppen in vollem Wissen mit einem neuen Virus infizierten, an. Die Tageszeitung taz druckte am 18. Februar 1987 ein Interview mit Jakob Segal. Segal war Biologe an der Humboldt-Universität in Ostberlin. Er ging zusammen mit seiner Frau Lili Segal schon seit Jahren weltweit mit einer Studie hausieren, die die Laborthese beweisen sollte. In den bulgarischen Geheimdienst-Archiven gibt es Hinweise darauf, dass die Stasi mit den Segals zusammenarbeitete. Obwohl die Studie sachliche Fehler aufwies und wissenschaftlich als widerlegt galt: sie verfing in den Medien. [17:45] ZSP Nehring "Und so gibt's quasi einen Schneeballeffekt. Das hat eben damals noch Jahre gedauert, bis sich dann ebenso die unterschiedlichen kleinen Aktionen und Bausteine hier eine unbedeutende Veröffentlichung, hier eine unbedeutende, irgendwann ins Rollen kommen und aufgegriffen wurden. (...)" Der Schneeballeffekt ist natürlich das, was die Urheber der Lüge wollen. Einmal in der Welt, wird sie immer weiter verbreitet. 1989 läuft zum Beispiel eine westdeutsche Dokumentation im WDR und bei der BBC, die die Laborthese vom Ehepaar Segal ebenfalls vertritt. Unter Gorbatschow und der vorsichtigen Öffnungspolitik der Sowjetunion gegenüber dem Westen, wurden die Bemühungen des KGB rund um die AIDS-Kampagne leiser. Auch weil sich die Regierung der USA direkt bei der Moskauer Führung darüber beschwerte. CIA Dokumente von 1988 zeigen, dass die USA Hilfe bei der Gesundheitsförderung und Forschung angeboten haben, darunter die Themen Alkoholismus und Drogen. Dafür sollte die Sowjetunion allerdings die AIDS-Desinformation einstellen. Ein für die Sowjetunion damals günstiger Deal. Denn die Sowjetunion war Ende der 80iger nicht nur in wirtschaftlicher Schieflage. Es gab große Probleme, die Bevölkerung gesundheitlich zu versorgen. Alkoholismus war eine Volkskrankheit. Durch den Afghanistan-Krieg gab es Kontakt zu Opium und Heroin und mit den rückkehrenden Soldaten entstand eine der ersten Drogenszenen. Die wiederum vom Staat ignoriert wurde - so etwas gab es laut offizieller Propaganda nur im Westen! Und genau so war es auch mit HIV. Das Narrativ, das Virus wäre eine Strafe für das unsittliche Leben, für Homosexualität und womöglich eh vom amerikanischen Militär erfunden, um schwarze Menschen zu schädigen. Das führte dazu, dass hinter dem Eisernen Vorhang kaum Aufklärung stattfand. Und irgendwann fangen die Agentinnen und Agenten an, ihre eigenen Lügen zu glauben. ZSP Nehring "Es gab so einen ehemaligen Stasi-Offizier, der mal gesagt hat: Am schlimmsten war, dass wir am Ende angefangen haben, unsere eigenen Lügen zu glauben. Das hat er nicht nur auf die Stasi, sondern auf die ganze DDR bezogen. Aber das ist aus dem Mund eines Spezialisten für Desinformation schon ein ganz guter Anhaltspunkt." Und vielleicht konnte sich deswegen der Spion Jack Barsky einem der mächtigsten Geheimdienste der Welt mit einer Ausrede entziehen, weil diese auf ihren eigenen Lügen und Vorurteilen beruhte. ZSP Barsky "Ich habe ihnen auch erklärt, wie ich den AIDS-Virus bekommen habe. Da gab es eine Frau, die ich schon beschrieben hatte, die kannten sie schon, mit Namen und wo sie wohnt. Und die hatte vor mir einen Freund, der war ein Drogensüchtiger. Und die hatte es von dem und wusste nicht, dass sie es hatte und dann habe ich es mir eingefangen. Das klang sehr wahrheitsgetreu." Aber eine jahrelang gelebte und erzählte Unwahrheit hat Konsequenzen. ZSP Barsky "Da gibt es nicht viel zu prahlen. Ich habe ne ganze Menge Leuten Schaden zugefügt. Ich habe niemals jemanden körperlich verletzt, aber wie gesagt, seelisch. Und die Frau, die ich ja geliebt habe, in Deutschland, die ich tatsächlich am meisten geliebt habe, der habe ich ja am meisten Leid angetan. Aber man kann die Geschichte nicht zurückdrehen. Man kann sich nur wie ein guter Mensch benehmen und nicht den Unsinn zu wiederholen." [21:30] Auswirkungen von Lügen kann man nicht zurückdrehen, sagt der Ex-Spion Barsky. Und wie ist das bei Desinformations-Kampagnen, wie bei der Operation Denver? Welchen Einfluss hatte sie? Wir treffen den Historiker und Spezialisten für osteuropäische Geschichte Jan Claas Behrends auf einer Konferenz über Desinformation in Tutzing am Starnberger See. Im Hintergrund springen die letzten Mutigen ins Wasser. ZSP Behrends "(die) Geschichte hat sich relativ lang gehalten. Wurde aber eigentlich von der Wissenschaft recht schnell dekonstruiert. Ja, wie viel Misstrauen hat man da geschafft? Das war ja auch ne Kampagne, die ganz stark auf die dritte Welt gezielt hat, Afrika und Asien, wie viel Misstrauen gegenüber Amerika hat man da gesät? Das ist schwierig zu beurteilen. Welche Maßstäbe legen wir an, um das eigentlich nachzuvollziehen?" Das ist ein grundlegendes Problem bei der Forschung über Desinformation: Empirisch und quantitativ festlegen, welchen Einfluss Kampagnen direkt auf die Einstellungen der Menschen haben. Es gibt aber Zahlen darüber, wie Menschen über AIDS zu verschiedenen Zeiten dachten, auch über die Laborthese. 2015 ergab eine Studie der American Public Health Association, dass immer noch Mythen bestehen, HIV wäre eine künstlich hergestellte Krankheit, um einen Genozid an afroamerikanischen Menschen auszuüben. Die Erfahrungen rund um das Tuskegee-Experiment spielen in der afroamerikanischen Community immer noch eine große Rolle. Das Vertrauen in das Gesundheitssystem ist nachhaltig beschädigt. Manchmal ist es aber auch Popkultur, die Verschwörungsmythen rund um AIDS verbreitet: wie hier im Song Heard 'Em Say von Kanye West. ZSP Kanye "And I know that the government administers AIDS." "Ich weiß, die Regierung verbreitet AIDS." Desinformation im Songtext. Doch ist das alles zurückzuführen auf die Operation Denver? Das ist nicht vollumfänglich mit Ja zu beantworten. Aber eben auch auf keinen Fall mit Nein! Für Minderheiten in den USA gibt es aus der Vergangenheit, wie am Tuskegee-Experiment gezeigt, viele gute Gründe misstrauisch gegenüber der Regierung zu sein. Auch struktureller Rassismus spielt da eine Rolle. Aber genau auf diese Risse in Gesellschaften zielen solche Desinformationen. Sie müssen keine neuen Ängste und Zweifel hervorrufen, sie wollen bestehende verstärken. Diese Gefahr wurde von den USA erkannt. In der Regierungszeit des republikanischen US-Präsidenten Ronald Reagan wurde eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die Active Measures Working Group, die Arbeitsgruppe Aktive Maßnahmen. Verschiedene Geheimdienste und Behörden sollten hier Gegenmaßnahmen entwickeln und Desinformation-Kampagnen frühzeitig erkennen. Die Operation Denver wurde zum Beispiel 1987 publikumswirksam bei einer Pressekonferenz der US-Regierung aufgedeckt. Staatliches Fact-Checking-TV. ZSP US-Regierung "The Third Story I would like to mention is the so-called AIDS Virus Disinformation. This is the story which alleges that the United States was responsible for the development of the AIDS virus as a part of a biological warfare program." Doch nach dem Kalten Krieg, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, schien die Gefahr gebannt. Die Arbeit gegen Desinformation schien nicht mehr so wichtig zu sein. Der Westen hatte gesiegt und damit doch auch die freie Presse, die Wahrheit, die Fakten…?! Die Arbeitsgruppe wurde 1992 eingestellt. Kurz vor der größten Medien- und Informationsrevolution seit dem Buchdruck - der Massenverbreitung des Internets und einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft. Die Geheimdienste Russlands hatten nicht vergessen, was der KGB im Kalten Krieg und zu Zeiten der Sowjetunion gelernt hatte. Die sogenannten “Aktive Maßnahmen” und mit ihnen die Verbreitung von Desinformation waren durchaus als erfolgreiche Operationen zu bewerten. Und viele KGB-Mitarbeiter fanden auch nach dem Ende der Sowjetunion in der russischen Föderation neue und einflussreiche Positionen. Ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter sollte das Land sogar ab Anfang der 2000er Jahre jahrzehntelang prägen -- und als Präsident führen: Wladimir Wladimirowitsch Putin. Stille ZSP Nehring "In Sachen Desinformation ist das einzige, was heutzutage neu ist, der technische Aspekt, sind die Folgen der Digitalisierung und dann eben auch die Auswirkungen, die es hat auf die Inhalte und Verbreitungswege hat. Aber das Grundprinzip ist ein und dasselbe. (...) Das mit der AIDS-Kampagne habe ich angefangen 2012. Da bin ich gegen sehr viele Mauern gelaufen, gegen sehr viel Abneigung gegen das Thema: Das ist doch so Kalter Krieg, das ist doch ein Tabuthema, wir kooperieren doch heute alle. Und wir sind von Freunden umzingelt. Und das macht ja niemand mehr. Und das ist ja alles Verschwörungsglauben zu denken, dass das Gleiche immer noch weiter passiert. Und der Moment, in dem es gedreht hat, war die Ukraine-Krise 2014." [26:20] Damals annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim und begann einen Krieg um ein weiteres Stück Territorium im Osten des Landes. Die Situation wurde zu einem riesigen Prüfstein für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Alles begann im Winter 2013, kurz vor dem Jahreswechsel, mit dem Ausbruch einer Revolution in der Ukraine. Zentrum der Proteste war der Maidan-Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. ZSP Vladymyrova "Leute aus der ganzen Ukraine waren auf dem Maidan, nach Kiew gekommen. Haben da monatelang gelebt, da gab es eine richtige Wohn-Infrastruktur, was auch wichtig war, um den Widerstand aufrecht zu erhalten." Mariia Vladymyrova lebt seit vier Jahren in Deutschland, studiert War and Conflict-Studies an der Universität Potsdam. Wir treffen die Studentin in Berlin, in der Nähe der Karl-Marx-Allee. Sie erzählt uns, dass sie oft denkt, "Hier könnte auch Kiew sein", wenn sie diese Gegend in Berlin sieht: Sozialistischer Klassizismus gemischt mit Platten aus den 60er Jahren. Vor dem Baubeginn reiste tatsächlich extra eine Delegation der DDR ins damalige Leningrad, Moskau und Kiew, um den sozialistischen Städtebau zu studieren…. Mariia selbst wohnt im Westteil der Stadt, in eine Platte bekommt man sie heute nicht mehr, sagt sie. Ein Ausdruck der Sehnsucht nach Westen? Als sie gerade 18 Jahre alt war, brach auch deswegen 2013 eine Revolution in der Ukraine aus. Nachdem die Regierung des russland-nahen und korrupten Präsidenten Viktor Janukowitsch auf Druck Moskaus das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnete, sammelte sich der Widerstand in der Hauptstadt, aber auch in den anderen großen Metropolen. Wie in Mariias Heimatstadt Dnipro, in der Ostukraine. ZSP Vladymyrova "Ich habe damals in Dnipro studiert, und eigentlich haben die großen Versammlungen dort etwas später begonnen. (...) Man konnte aber so fürs Wochenende nach Kiew auf den Maidan fahren, das haben meine Freunde und auch ich ein paar Mal gemacht. Also du machst die Revolution am Wochenende mit (lacht) und am Montag dann wieder, ja, in die Uni. Aber dann hat die Gewalt in Kiew deutlich zugenommen Mitte Januar. Und dann haben auch die größeren Versammlungen in Dnipro angefangen. Und dann waren wir ab Mitte Januar auch jeden Tag auf dem sogenannten Dnipro-Maidan…" Die Revolution der Würde, so wird der erfolgreiche Widerstand gegen die Regierung heute in der Ukraine genannt. Diese Revolution hat, kurz gesagt, komplexe Hintergründe und noch viel komplexere Auswirkungen. Klar ist: Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollten, dass ihr Land demokratisch regiert wird, sich der EU annähert. Sie wehrten sich gegen korrupte Oligarchen und wollten mehr Unabhängigkeit von Russland, dem großen Nachbarn. [31:10] Der russischen Staatsführung dagegen ist eine demokratische Ukraine ein Dorn im Auge. Der Historiker Jan Claas Behrends nennt es die Vorstellung vom groß-russischen Reich. ZSP Behrends "Putin sieht Russland als Großmacht, ist ja fast schon eine Art Obsession, auf der gleichen Augenhöhe wie die USA gesehen zu werden. (...) Und dann, sozusagen der zweite Teil, der mehr innenpolitisch ist, wäre dann schon der starke Staat, auch autokratisch von einer Person geführte Staat, mit einer tausendjährigen Geschichte, wo es immer starke Herrscher gab, ob die jetzt Putin, Stalin, Alexander der 2., Peter der Große oder Katharina die Große heißen, ist eigentlich egal. Es geht eben um diese Kontinuität russischer Staatlichkeit. (...) Was interessiert ist eben die lange Geschichte von Russland als starker Staat, der diese Region dominiert und zu dem dann eben auch nicht nur Kern-Russland gehört, sondern auch Sibirien, Belarus, die Ukraine, das sieht er als eine organische Einheit an. Und deswegen ist ja für Putin in seinen eigenen Worten die größte geopolitischen Katastrophe das Ende der Sowjetunion, weil das nach seiner Ansicht eben diese organische Einheit zerstört hat." Dies im Hinterkopf zu haben, ist extrem wichtig, um zu verstehen, warum die Ukraine zu einem der größten Konfliktherde mitten in Europa geworden ist. Seit 2014 herrscht in der Ukraine Krieg. Völkerrechtswidrig wurde ihr ein Stück Land weggenommen, die Halbinsel Krim wurde von Russland annektiert. Außerdem haben ebenfalls von Russland unterstützte Paramilitärs zwei Regionen um die Großstädte Luhansk und Donetsk in der Ost-Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht. Ca.14.000 Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilisten haben bis Redaktionsschluss ihr Leben verloren. Mariia Vladymyrova hat diesen Konflikt damals zu Beginn im Jahr 2014 sehr nah gespürt. ZSP Vladymyrova "In Dnipro gibt es das größte Militär-Hospital und wenn die Gefechte im Sommer waren wirklich sehr schwer, dann konnte man immer diese Hubschrauber sehen, die die verwundeten Soldaten zum Hospital gebracht haben. (...) Und wir dachten damals schon sehr ernsthaft, nachdem die ersten Gefechte angefangen haben, dass es vielleicht auch in Dnipro passiert. Damals habe ich zu meinem Freund gesagt, unser Dnipro, wenn die Russen soweit gehen, dann müssen wir doch kämpfen." Doch warum ist Desinformation ein so großes Thema in diesem Konflikt? Erinnern wir uns an Lutz Güllner von der East Stratcom, der Task Force der EU gegen Desinformation in Osteuropa. Der kam in der ersten Folge dieses Podcasts vor. ZSP Güllner "Es war 2016, als die Task Force geschaffen wurde. Da sollte man sich anschauen, wie funktionieren insbesondere die russischen Desinformationskampagnen bei unseren östlichen Nachbarn. Also das war die Zeit der Ukraine, die Annexion der Krim. Der Krieg begann in der Ostukraine und es gab ein massives Ja, wie soll ich sagen, ein flächendeckendes Ausführen von Desinformationskampagnen von russischen Akteuren in der Ukraine insbesondere." ZSP Vladymyrova "Wir saßen da alle zusammen und haben einfach den ganzen Tag russisches Fernsehen geschaut, mal weinen und mal Witze machen über die russische Berichterstattung. (...) Uns war schon bewusst, dass wir da historische Events erleben . (...) Am Ende des Tages haben wir Bier getrunken und vielleicht habe ich ein bisschen geweint, dass ich nie wieder auf die Krim fahren werde." Galgenhumor und Trauer, ist was die damalige Jura-Studentin Mariia über die Tage im Februar 2014 beschreibt. Doch mit jedem Tag der Revolution, der Annexion und dem Krieg in der Ostukraine, im Donbass, entwickelten sich die Erzählungen und Wahrheiten immer weiter auseinander. Und das war so gewollt. Denn Desinformation prägte den Konflikt vorher und die weitere Entwicklung. ZSP Gumenyuk "Mein Name ist Natalia Gumenyuk, ich bin eine ukrainische Journalistin und Autorin, berichte über Konflikte und internationale Beziehungen. Ich habe unter anderem den unabhängigen Online-TV-Sender Hromadske gegründet und war dort Chefredakteurin." Auch Natalia Gumenyuk ist auf der Konferenz im bayerischen Tutzing über Desinformation im Spätsommer 2021. Obwohl das Interview im traumhaften Englischen Garten vor dem Schloß Tutzing stattfindet, die Morgensonne sich durch den Nebel gebissen hat und den Starnberger See hellblau aufleuchten lässt, ist die Ukrainerin angespannt. Das Thema bewegt sie seit Jahren. ZSP Gumenyuk "Was während der Revolution der Würde und der Annexion der Krim passiert ist, das war nicht einfach nur die politische Verzerrung, die du in den ukrainischen Medien schon immer sehen konntest. Es war die komplette Neuerfindung einer anderen Realität. Die russischen Medien haben ausgedachte Falschmeldungen verbreitet. Unglücklicherweise haben wir international, nicht nur in der Ukraine, unglaublich viel Zeit damit verbracht, das zu erklären. Ich hatte ewige Gespräche mit auswärtigen Journalistinnen und Journalisten, die einfach nicht einsehen wollten, dass russische Medien sich tatsächlich Geschichten ausdachten, einfach lügten." Im April 2014 beobachtete auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, dass russische Medien Propaganda und Hass gegenüber der Ukraine verbreiteten. Darunter der ständig wiederholte Vorwurf, die Ukraine wäre von Faschisten übernommen worden, der Maidan von Faschistinnen und Faschisten unterwandert gewesen. In Putins Russland, wo der Sieg über die Nationalsozialisten, der große vaterländische Krieg, ein elementarer Bestandteil der Staatsräson ist, ist Faschismus ein immer wiederkehrender Vorwurf. Und so wurde die Annexion der Krim von Russland auch mit diesem Argument untermauert, sagt die UN. ZSP UN "Der TV-Kanal "Rossiya" hat die Ukraine als ein Land beschrieben, "das von Faschisten überlaufen wäre", hat dabei Informationen über die eigentlichen Vorkommnisse in der Ukraine verschleiert, und behauptet, dass ethnische Russen in der Ukraine bedroht und in körperlicher Gefahr wären. Das würde die, in Anführungsstrichen, Rückkehr der Krim in die Russische Föderation rechtfertigen." Schon Anfang März 2014 wurden auf der Halbinsel ukrainische Sender geblockt und russische übernahmen die Frequenzen. Und so wurde von russischer Seite behauptet, die Soldaten, die ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim einmarschierten, seien nicht russisch. Dabei konnten finnische Journalistinnen und Journalisten die Soldaten sehr schnell über ihre Ausrüstung den russischen Spezialkräften zuordnen. Und: Präsident Wladimir Putin gab das Narrativ selbst vor. In einer Rede am 18. März 2014 zur Lage der Nation genau nach der Übernahme der Halbinsel Krim. ZSP Putin "Allerdings verfolgten diejenigen, die hinter den jüngsten Ereignissen stehen, andere Ziele: Sie bereiteten einen Staatsstreich vor und planten die Machtergreifung, ohne vor irgendetwas Halt zu machen. Terror, Morde und Pogrome wurden als Mittel eingesetzt. Die Hauptinitiatoren des Staatsstreichs waren Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten. Sie sind es, die heute das Leben in der Ukraine bestimmen. [36:20] ZSP Gaufman "Information Noise, Infoshum auf Russisch, das ist eine Strategie, um eigentlich möglichst viele Szenarien oder Versionen von der Gegenwart zu streuen, damit man nicht mehr weiß, was eigentlich passiert ist. Zum Beispiel mit die, äh, MH 17 (...) der Flugzeug, das über Ukraine abgeschossen wurde. Dann gab es unheimlich viele Versionen im russischen Fernsehen und man wusste eigentlich nicht, was ist eigentlich passiert.." Elizaveta Gaufman ist Professorin für Russischen Diskurs und Politik an der Universität Groningen. Geboren wurde sie in Krasnodar, in Südrussland. Ihre wichtigste Publikation: Security Threats and Public Perception - Digital Russia and the Ukraine Crisis. Ein Buch darüber, wie der Ukraine-Konflikt medial in Russland verarbeitet wurde, wie Sicherheitsinteressen und Bedrohungen dargestellt und begründet werden. ZSP Gaufman "Ich war eigentlich damals genau in Russland. Ein paar Tage vorher bin ich mit einem Flugzeug von München nach Krasnodar geflogen. Und ich bin genau über diese Region geflogen. Und ich saß im Flugzeug neben einem Veteranen aus dem russischen Afghanistankrieg. Und der hat die ganze Zeit, drei Stunden oder so, Witze darüber gemacht, dass er hofft, dass wir nicht abgeschossen werden. Das war nicht so ein gutes Gefühl, muss ich sagen. Und dann einige Tage später als ich angekommen war, schalte ich Fernsehen ein und sehe, es wurde ein Flugzeug abgeschossen. Eine der ersten Versionen im russischen Fernsehen war: Dass die ukrainischen Kräfte dachten, dass es ein Flugzeug von Putin war und sie Putin abschießen wollten. Weil Putin damals aus Warschau nach Moskau flog. Aber es macht keinen geografischen Sinn. Wenn man einfach die Landkarte ansieht, wo ist Warschau, Moskau, wo die Ost-Ukraine. Aber das war eine der ersten Versionen. (...) Und danach folgten mehrere andere Versionen. Man weiß dann halt nicht mehr, was man glauben soll." Bis man nicht mehr weiß, was eigentlich stimmt. So lässt sich das Ziel von Desinformationskampagnen sehr schlüssig zusammenfassen. Die Lügen bauen auf Vorurteilen auf, auf Ängsten und Zweifeln, schüren diese und wollen weiter spalten. Seit der Krimkrise sind jetzt schon 7 Jahre vergangen. Dennoch gilt die Ukraine in den russischen Medien immer noch als ein Lieblingsziel für Desinformation. Aber heute wird mit anderen Erzählungen Stimmung gemacht. Zum Beispiel mit der gern benutzten, homophoben und herabwürdigenden Bezeichnung für die EU: "Gayropa". Ein Beispiel: Anfang des Jahres 2021 ließ sich der heutige Präsident Wolodymyr Selenskyi impfen, wie viele Staatschefs damals, medienwirksam vor der Kamera. Mit komplett freiem Oberkörper. Den russischen Medien fiel etwas auf: Der ukrainische Präsident hatte eine glattrasierte Brust. Die Rasur wurde folgendermaßen interpretiert: Echte Männer machen das nicht. Selenskyi ist also kein echter Mann, also auch kein starker Präsident, geradezu gar kein echter Präsident, so wie auch der ukrainische Staat keine echte Nation ist. Da sieht man auch den Einfluss aus dem Westen. Männer werden verweiblicht, sind homosexuell…Wer sich mit Gayropa zusammentut, der weicht ab von traditionellen Werten. Und der Hüter der traditionellen Werte, das ist Russland, nicht der Westen. [41:55] ZSP Spahn "Spätestens seit der Annexion der Krim ist der Westen ein Feindbild in russischen Medien. Und hier ist es eben ganz wichtig zu betonen, dass Russland eben für traditionelle Werte steht, während der Westen angeblich dekadent ist, dass Lesben und Schwule übermäßige Freiheit genießen und andere Narrative, die da verbreitet werden. Und da gibt es viele Thinktanks und Akteure, auch in Deutschland, die diese Narrative verbreiten." Susanne Spahn ist Journalistin und Politologin. Sie hat mehrere Studien zum Einfluss russischer Medien in Deutschland geschrieben. Denn der Informationskrieg, die Deutungshoheit über zum Beispiel den Ukraine-Konflikt, der wird auch in Deutschland und international ausgefochten. Dafür hat Russland ein großes Netz an Auslandssendern und Social Media-Kanälen geflochten. ZSP Spahn "Ich denke das mit Abstand bedeutendste Medium ist RT DE. Hier beobachte ich seit Jahren rasant steigende Nutzerzahlen. Mittlerweile haben sie auf den wichtigsten Social-Media-Plattformen mehr als 1,2 Millionen Nutzer. Das ist ein beachtliches Ergebnis. Sputnik ist weniger einflussreich, rangiert eher in der mittleren Liga. Aber sehr aktiv sind auch die zwei Social-Media-Kanäle, redfish und maffick. Die wurden auch 2018 in Berlin registriert. Die sprechen eher ein internationales Publikum an, weil sie auf Englisch laufen. Hier sieht man aber auch, wie Russland es versteht, mit verschiedenen Kanälen eben ein sehr unterschiedliches Publikum zu erreichen. Während RT DE sich eher in eine rechte Richtung entwickelt hat, sieht man ganz klar, dass hier ein Ausgleich geschaffen wurde mit Redfish, der mit sozialkritischen Themen ein eher linkes Publikum erreicht." All diese Kanäle und Sender sind durch den russischen Staat finanziert. Auch wenn das gerne verschleiert wird. Russia Today gibt über sich selbst an, zwar "ein russisches Medium" zu sein, aber dabei eine “autonome, gemeinnützige Organisation, die aus dem öffentlichen Haushalt der Russischen Föderation finanziert wird.” Das klingt weitaus harmloser als es die Chefredakteurin Margarita Simonjan von RT ausdrückt. Sie sagte, RT sehe sie wie ein "Verteidigungsministerium" des Kremls, "eine Waffe wie jede andere auch". Während unserer Recherche für diesen Podcast passiert dann Folgendes: ZSP Seibert "Ich möchte ganz klar sagen, das ist eine Entscheidung von Youtube, die Bundesregierung hat damit nichts zu tun. Wer was anderes sagt, der bastelt sich eine Verschwörungstheorie zurecht." Regierungssprecher Steffen Seibert kommentiert hier die Entscheidung, dass der zu Google gehörende Videodienst Youtube am 29. September 2021 die Kanäle von RT Deutsch gesperrt hat. Dieser hat wiederholt Falschinformationen rund um Covid-19 Impfstoffe geteilt, ihre Wirkung hinterfragt oder klein geredet hat. RT Deutsch ist auch nicht der einzige Kanal, der gesperrt wird. Darunter sind auch amerikanische, wie der des Rechtsanwaltes Robert F. Kennedy Junior, einem Neffen des amerikanischen Präsidenten. Doch Youtube soll auf Druck von Deutschland gehandelt haben, heißt es aus Russland: RT Chefredakteurin Margarita Simonjan nutzt einmal mehr radikale Worte und schreibt in ihrem Telegram-Kanal: "es ist ein Medienkrieg gegen Russland, der vom deutschen Staat erklärt wurde,” Auch das russische Außenministerium spricht von einer "beispiellosen Informations-Aggression, die von der deutschen Regierung mindestens wissend in Kauf genommen wurde, vielleicht sogar auf deren Forderung hin ausgeführt". Dabei sagt Youtube, das Unternehmen handele nur nach seinen allgemeinen Nutzungsbedingungen, die ein Verbot von Fehlinformationen rund um Covid-19 einschließen. Dass der Ton der Regierung und der Chefredakteurin eines Medienunternehmens sich so ähneln: Kein Zufall! Die russische Investigativ-Plattform "Projekt" berichtete, wie stark aus dem russischen Präsidialbüro die Themen für die In- und Auslandspresse vorgegeben werden. Immer donnerstags soll es ein Treffen geben, wo Alexey Gromov, Stellvertretender Stabschef der Präsidialverwaltung, die Themen vorgibt. Unabhängig ist anders. Das Mediensystem des heutigen Russlands erinnert tatsächlich sehr an die Zeiten der Sowjetunion: Gesteuerte Staatsmedien, halb-verschleierte, aber von Russland finanzierte Auslandsmedien und dazu noch Troll-Fabriken und Hacking-Kampagnen, wie die, die wir in Folge 1 vorgestellt haben. "Aktive Maßnahmen" sind immer ein ganzes Bündel von Aktivitäten. Und die unabhängige, russische Inlandspresse sowie die Meinungsfreiheit wird immer mehr eingeschränkt. ZSP Spahn "Es werden unliebsame Seiten geschlossen. Und man muss vor allem auch Angst haben, seine Meinung zu äußern, weil man für unliebsame Posts Strafen kassieren kann, bei Wiederholung sogar tatsächlich ins Gefängnis kommt. Also für einen Post wie "die Krim ist ukrainisch", da gab es Fälle, dass diese Autoren ins Gefängnis gekommen sind und das mit ihrer Freiheit bezahlt haben. Also mit Ausnahme einiger unabhängiger Medien, Nowaja Gaseta oder eine Investigativ-Plattformen wie Projekt oder The Insider, das sind so einige wenige Medien, die im Internet noch aktiv sind. (...) Die aber zunehmend das Problem haben, wie Medusa, zum ausländischen Agenten erklärt zu sein und das heißt eben konkret, dass man bei jedem Beitrag, kommt dann eine Riesenrubrik, dass dieses Medium ein ausländischer Agent ist und welche Folgen das nach sich zieht. Eine klare Diffamierung. Gerade zu Sowjetzeiten wurden ja immer die sogenannten Volksfeine und Kritiker als ausländische Agenten dargestellt und diffamiert." Warum Russland so viel Aufwand betreibt, um die Meinung innerhalb des Landes und das Bild nach außen zu steuern und zu kontrollieren, hat viel mit dem Präsidenten zu tun, erklärt der Historiker Jan Claas Behrends, den wir schon vorhin gehört haben. ZSP Behrends "Es ist jetzt ein sehr personalisiertes System in Russland. Und da ist das Problem, dass Putin genau weiß, eben weil er sich so sehr für Geschichte interessiert, er darf keine Schwäche zeigen gegenüber außen. Putin weiß, als Chrustschow die Schiffe vor Kuba hat umkehren lassen, ein halbes Jahr später haben seine Genossen ihn weggeputscht, weil sie gesehen haben, der Nikita Sergejewitsch ist ja doch ein wenig schwach, der hatte Angst vor dem Kennedy. Deswegen wird Putin nie aus dem Donbass oder so rausgehen. Dabei weiß er vermutlich, dass der Donbass ein Fehler war. Man ist da reingegangen und hat sich dann fest gekämpft. Das wird er nie eingestehen können." Putins Russland muss also auch die Narrative für diesen Konflikt weitererzählen, den Krieg im Donbass, in der Ostukraine, weiter legitimieren. Die Ukrainerin Mariia Vladymyrova, die ihn persönlich fast vor der Haustür erlebt hat, ist allerdings überzeugt, Russlands Desinformationskampagnen haben die Ukraine nur bedingt geschwächt. ZSP Vladymyrova "Offensichtlich doch seit sieben Jahren hält das Land ganz gut zusammen, dann ist es nicht so leicht zu spalten (lacht). Aber den konventionellen Krieg, den gewinnt Russland auch nicht." In Deutschland ist die Corona-Krise ein Wendepunkt gewesen, meint die ukrainische Journalistin Natalia Gumenyuk, die sich mit ihrer Arbeit seit Jahren gegen Desinformation stellt. ZSP Gumenyuk "Jetzt ist es super einfach mit jedem darüber zu sprechen, nachdem es alle in ihren eigenen Ländern erlebt haben. Endlich haben es auch die Deutschen gecheckt! Sie haben es mit Corona erlebt. Es hat echt einige Zeit gedauert, aber jetzt haben alle die Erfahrung gemacht. Die Briten mit dem Brexit, die Amerikaner mit Trump, die Franzosen bei der letzten Präsidentschaftswahl. Und jetzt wird auch in den wichtigsten Nachrichtenmedien in Deutschland darüber berichtet, dass Falschmeldungen und erfundene Geschichten über Corona verbreitet werden." Desinformationskampagnen gibt es schon lange, doch was sich im Kalten Krieg erstmals verändert hat, war die Größe der Operationen und damit der Versuch, globalen Einfluss zu erreichen. Es wurden sehr viele Ressourcen genutzt, Geheimdienste vieler Länder arbeiteten zusammen. Die Methodik wurde dann im Zeitalter der Massenmedien und des Internets einfach fortgeführt. Vorurteile, Gerüchte und Falschinformationen werden von Medien aufgegriffen, weitererzählt, verbreitet und damit gestärkt und Risse in einer Gesellschaft - sollten die die Desinformantinnen und Desinformanten erfolgreich sein - damit vergrößert. [51:40] Und so beobachtet auch der Spion Jack Barsky, der ja heute immer noch in den USA lebt, Desinformationskampagnen - er hört von ihnen im Radio." ZSP Barsky "Ich habe es mir im Radio angehört. Und in dem Moment, wo ich das gehört habe, habe ich gedacht, so ein Blödsinn. Das war keine Machtübernahme, unmöglich, die Leute waren nicht bewaffnet, das waren Rowdys. Dumme Rowdys. Und unser Ex-Präsident trägt natürlich Schuld, weil er diese Rally nie hätte abhalten dürfen. Das war klar, dass da Radikale unter seinen Anhängern waren, die was Dummes machen. Aber die ganze Sache hat der Welt gezeigt, dass was bei uns nicht in Ordnung ist, das war ein Symptom, die Spaltung ist viel tiefer." Aber darum geht es erst in der nächsten Folge. Da schauen wir nämlich in das Land of the Free und fragen uns: Wie konnte es zu dem Sturm aufs Kapitol kommen? Das war die dritte Folge von "Netz aus Lügen - die globale Macht der Desinformation". Diese Folge wurde geschrieben von Jochen Dreier. Geheimdienstrecherchen: Sylke Gruhnwald. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Lenz Schuster. Fact-Checking: Johanna Bowman. Produktionshilfe: Lena Kohlwes. "Netz aus Lügen - die globale Macht der Desinformation" ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schreibt uns doch unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Bis nächstes Mal. Theme Ah. Eine kleine Sache post scriptum noch, nur um zu zeigen, wie Fehlinformationen sich fortsetzen können. Die HIV-Operation des KGBs, die hatte einen offiziellen Decknamen in den Akten: Operation Denver. Bekannt geworden ist sie aber unter dem falschen Namen "Operation Infektion"! Das klingt griffig. Aber als Deckname doch ein bisschen sehr auf die zwölf. Und das kam so: Der ehemalige Stasi-Offizier Günter Bohnsack erwähnt Mitte der 90iger einem US-Historiker gegenüber die Kampagne und nennt sie “Operation Infektion”. Ob absichtlich falsch oder er es nicht besser wusste oder sich in dem Moment vertan hat, unklar. Bohnsack ist 2013 verstorben. Aber die Bezeichnung ist geblieben. Manchmal setzt sich fest, was griffig klingt. Richtig ist es deswegen noch lange nicht.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-03-31T00:00:00"
"2021-10-18T00:00:00"
"2022-03-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/desinformation-der-globale-blick/342180/podcast-netz-aus-luegen-die-operation-3-8/
Das gezielte Streuen von Falschinformationen ist nichts Neues. In der dritten Folge des Podcasts "Netz aus Lügen – Die Operation" reisen wir zurück in die Vergangenheit und nehmen die sogenannten "Aktiven Maßnahmen" des KGBs unter die Lupe. Sie sind
[ "Netz aus Lügen", "Bundesjugendring", "Verwaltungsbehörden", "Podcast" ]
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"Politikverdrossenheit" | Deutschland Archiv | bpb.de
I. Deutsche Flaggen auf Halbmast am Berliner Reichstagsgebäude. (© picture-alliance/AP, Foto: Michael Sohn) "Politikverdrossenheit" gehört zu den allgegenwärtigen Worten in unserer Gesellschaft. Verwiesen wird auf ein vermehrt gestörtes Verhältnis von größeren Teilen der Bevölkerung gegenüber der institutionalisierten Politik. Viele Umfrageergebnisse weisen in diese Richtung. Sie finden zumal dann in den Medien ihren Niederschlag, wenn die Befunde besonders drastisch ausfallen. So hieß es Anfang 2004 in der "Frankfurter Rundschau": "Das Vertrauen in die Politik ist weg. Umfragen belegen einen eklatanten Verdruss über die Akteure auf der politischen Bühne (...). Die politische Klasse rätselt über einen historischen Ansehensverlust und hadert mit der Rolle der Medien. (...) Es ist eine besondere Stimmung, heißt es im Regierungslager, da sind Züge von Verachtung spürbar." Und weiter ist unter Bezugnahme auf eine Forsa-Umfrage aus dem gleichen Jahr zu lesen: "die politische Klasse ist auf die Abstiegsplätze der gesellschaftlichen Wertschätzung abgesackt. Der Regierung vertrauen danach noch gerade 18 %, den Parteien sogar nur noch 12 % der Menschen hier im Lande. Wenig besser stehen ... die Arbeitgeberverbände mit 22 % und die Gewerkschaften mit 24 % da." Besonderes Aufsehen erregte knapp drei Jahre später das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die die ARD in Auftrag gegeben hatte und nach der erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik weniger als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung "mit der Regierungsform zufrieden" war. Immerhin veranlasste das kurz darauf die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland zu einer Denkschrift, über die die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" unter der dramatischen Überschrift berichtete: "Bischöfe bangen um die Demokratie". Abgesehen davon, dass diese Feststellung, so sie einigermaßen gesichert ist, angesichts der jüngeren deutschen Geschichte durchaus eine politisch erfreuliche Seite hat, den Einsatz der Kirchen für die Demokratie, – hier ist etwas anderes festzuhalten, nämlich ein methodologisches Manko, das für die allermeisten Befragungen zur "Politikverdrossenheit" charakteristisch ist: dass die benutzten Kategorien und Indikatoren für die Bestimmung von "Politikverdrossenheit" in mancherlei Hinsicht fragwürdig sind und so auch der Begriff selbst alles andere als eindeutig ist. Daraus ergibt sich, dass viele der in exakten Prozentangaben ausgewiesenen Befragungsergebnisse mit Vorsicht zu genießen sind. Die genannten Vorbehalte ignorieren nun keineswegs, dass es in nennenswertem Umfang Skepsis und Unbehagen gegenüber der etablierten Politik gibt und dass diese Distanz in den letzten Jahren offensichtlich zugenommen hat. Sieht man auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, ist das auch nicht verwunderlich. So dürfte eine politisch-normativ entkernte, durch sogenannte Sachzwänge bestimmte und/oder im Krisenmanagement aufgehende Politik kaum Zuversicht in ihre Gestaltungsmöglichkeiten wecken – zumal im Kontext ökonomisch dominierter Globalisierungsprozesse. Damit verknüpft sind die zahlreichen Deregulierungen, die eine erhebliche Umverteilung ökonomisch-sozialer Lasten von "oben nach unten" im Gefolge hatten – gewissermaßen "garniert" mit publik gewordenen moralisch fragwürdigen oder gar als kriminell geltenden Praktiken wirtschaftlich ohnehin Privilegierter (zum Beispiel Steuerhinterziehungen großen Stils). Ebenso gehört dazu die häufige Intransparenz politischer Entscheidungen auch in bürgernahen Bereichen, etwa im Zusammenhang strittiger Großprojekte. Eine ganz andere Frage ist, ob sich die Unzufriedenheits-Reaktionen der Bevölkerung unter dem Stichwort "Politikverdrossenheit" zusammenfassen lassen. Allein die Politisierungsschübe, die in letzter Zeit zu beobachten sind, lassen daran zweifeln. "Stuttgart 21" zum Beispiel oder auch der kometenhafte Aufstieg der Piraten-Partei sprechen für und gleichzeitig gegen "Politikverdrossenheit". Es gibt also gute Gründe für eine Beschäftigung mit diesem Begriff. II. Das Wort taucht Ende der 1980er-Jahre in der öffentlichen Diskussion auf. 1994 steht "Politikverdrossenheit" im Duden, nachdem es zwei Jahre zuvor von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum "Wort des Jahres" erklärt worden war (nicht zum "Unwort des Jahres"!). Nach diesem "Ritterschlag" stand der Karriere des Begriffs nichts mehr im Wege. Über seine Bestimmung heißt es bei "Wikipedia": "Politikverdrossenheit bezeichnet eine negative Einstellung der Bürger in Bezug auf politische Aktivitäten und Strukturen, die sich unter Umständen in Desinteresse oder Ablehnung von Politik, ihrer Institutionen und politischem Handeln äußert. Diese Haltung kann generell die ganze politische Ordnung betreffen oder sich nur auf Ergebnisse politischer Prozesse beziehen." Diese Definition von "Politikverdrossenheit" kann als repräsentativ gelten. Sie ist nicht nur deshalb unbefriedigend, weil sie das Dilemma aller Formaldefinitionen im Bereich der Sozialwissenschaften teilt, indem sie von den historischen Kontexten ihres "Gegenstandes" abstrahiert, sie ist auch in sich nicht widerspruchsfrei. Zum Beispiel schließen sich "Verdrossenheit" gegenüber gegebener Politik und politisches Engagement keineswegs aus. Problematisch ist ebenfalls der Eindruck, es handle sich bei diesem Phänomen mehr oder weniger um ein Novum. Dabei hat es – natürlich in historisch spezifischer Gestalt – im Rahmen der deutschen Parlaments- und Demokratiegeschichte immer schon so etwas wie "Politikverdrossenheit" gegeben, was sich etwa in den überkommenen Vorurteilen ausdrückt, dass Politik den Charakter verderbe oder "die da oben sowieso machen, was sie wollen". Ähnliche Schwierigkeiten oder Unklarheiten zeigen sich darin, dass – gelegentlich auch in empirischen Studien – nicht immer klar ist, worauf sich der Begriff jeweils bezieht, auf "die Politiker", "die Parteien", "das politische System" – oder auf alles zusammen. Häufig bleibt zudem offen, ob Distanz gegenüber oder Ablehnung von Politik dieser überhaupt gilt oder nur der Politik im Rahmen der überkommenen politischen Organisationsformen, was in Bezug auf "Politikverdrossenheit" eine wichtige Frage ist. Und schließlich bleibt oft unausgesprochen, mit welchen Prämissen und Vorstellungen von politischer Teilnahme bzw. Nichtteilnahme die Merkmale von "Politikverdrossenheit" verknüpft sind. Das hat erhebliche Konsequenzen. Zum Beispiel: Wenn man von politischem Desinteresse und fehlendem Engagement als Merkmalen von "Politikverdrossenheit" ausgeht, müssten politisches Interesse und Engagement das Gegenteil von "Politikverdrossenheit" sein. Denkt man nun an die realhistorischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, fallen einem diese aktiven Verhaltensweisen nicht als erstes ein – abgesehen von den Reformjahren Ende der 1960er-, Anfang der 70er-Jahre, in denen eine große Minderheit außerhalb der Parlamente aktiv war und es gleichzeitig zahlreiche Parteieintritte gab. Viel eher denkt man im Rückblick an ein anderes, verbreitetes Verhaltenssyndrom, das in den Befragungen unter dem Stichwort "politische Zufriedenheit" auftaucht. Und eben diese "politische Zufriedenheit" hatte und hat de facto immer schon mehr mit politischer Apathie als Interesse und Engagement zu tun. Dazu passt, dass Studien zur "Politikverdrossenheit" selber eine gar nicht so kleine Gruppe von Nichtwählern identifiziert haben, die genau aus diesem Grund, also weil sie mit den politischen Verhältnissen zufrieden sind, nicht zur Wahl gehen. Der Begriff "Politikverdrossenheit" besagt als solcher also nicht nur wenig, sondern lockt auch auf manchen Holzweg. Als erstes ist es wohl notwendig, nicht alles, was Kritisches gegenüber der Politik zu hören und zu lesen ist, umstandslos unter "Politikverdrossenheit" zu subsumieren. Dazu gilt es, die Aussagekraft der empirisch-analytisch verfahrenden Studien in ihrer geläufigen Gestalt als Befragungsforschung im Blick zu behalten. Sie sind – nach dem Vorbild der Naturwissenschaften – ausschließlich oder zuvorderst an quantifizierbaren "Gegenständen" und möglichst exakten Berechnungen orientiert, was den historisch-gesellschaftlichen Kontext von Fragestellungen und Befunden häufig in den Hintergrund treten lässt. Das mindert den Erkenntniswert und erleichtert den Gebrauch der Befunde je nach Neigung und Interessenlage. III. Diese Hinweise auf die Begrenzungen und Probleme der empirisch-analytischen Sozialforschung sollen zum vorsichtigen Umgang mit deren Ergebnissen gemahnen. Unberührt davon bleibt, dass solche Studien durchaus wichtige Fingerzeige geben können. Das gilt etwa für eine mehrdimensional angelegte empirische Untersuchung zur "Politikverdrossenheit", deren methodisches Setting als Verlaufsstudie auf einen zeitlichen Vergleich zielt und dabei in erster Linie auf eine Population Bezug nimmt, die im Ruf steht, besonders "politikverdrossen" zu sein: Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 29 Jahren. Daneben enthält diese Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) auf der Grundlage der Jugendsurveys 1992 und 1997 einen Ost/West-Vergleich als (historisch-politisch) relevante Unterscheidung. Die Untersuchung liegt damit zwar schon länger zurück, verfügt aber über die genannten Vorteile. Zentrales Ergebnis dieser aufwendigen Studie ist, dass sich die Veränderungen von "Politikverdrossenheit" im untersuchten Zeitraum aufs Ganze gesehen in engen Grenzen halten und die auffälligsten Unterschiede (auch im Zeitverlauf) zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen bestehen. In nahezu allen Bereichen (Zufriedenheit mit der bundesdeutschen Demokratie, ihren Institutionen und der Reaktionsbereitschaft des politischen Systems gegenüber den Sorgen und Ansprüchen der Menschen wie auch hinsichtlich der Beurteilung der Parteien und Politiker) gibt es bei den Ostdeutschen negativere Werte. Dabei zeigen die Ost-West-Einschätzungen und -Bewertungen im Zeitverlauf eine Scherenbewegung an, das heißt, sie gehen weiter auseinander. Selbstredend verweist das direkt oder mittelbar auf eine Spezifik, nämlich die lange Existenz zweier deutscher Staaten und deren Wiedervereinigung, zu der im Osten nach anfänglicher Euphorie verbreitet Enttäuschungsreaktionen gehören. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass auch die Unterschiede zwischen den jüngeren und älteren Probanden nicht gravierend sind; höhere positive Werte bestehen bei den Älteren (einschließlich der über 30-Jährigen, die als kleine Vergleichsgruppe in die Untersuchung einbezogen worden sind) nur bei "politischem Interesse" und bei der Einschätzung der eigenen "politischen Beurteilungskompetenz", was nicht eben überrascht. Und schließlich ist der Befund hervorzuheben, dass Skepsis, Enttäuschungen und Vertrauensverluste vor allem gegenüber den Parteien und Politikern in West und Ost nicht automatisch ins politische Abseits führen, sondern politisches Interesse und Engagement sich durchaus in anderen als den traditionellen Handlungskontexten zeigen können, zum Beispiel in Bürgerinitiativen. Das stimmt mit den Ergebnissen einer anderen, im Jahr 2000 veröffentlichten Untersuchung überein, nach der in Gesamtdeutschland fast jeder vierte 16- bis 29-Jährige an Aktivitäten von Umweltschutzgruppen, Friedens- und Dritte-Welt-Initiativen, Menschenrechtsgruppen usw. teilnimmt. Einige Sozialwissenschaftler, so Heiko Geiling, weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es etlichen Forschern wie auch etablierten Politikern offenbar schwer fällt, diese Aktivitäten als politische wahrzunehmen, weil ihr Politik-Begriff zu stark mit Institutionen und Hierarchien verknüpft sei. Sie könnten deshalb politische Beziehungsformen, die stärker an Selbstregulierung und Partizipation orientiert sind (wie das eben bei jüngeren Akteuren oft der Fall sei), nicht als politische erkennen oder nur mit übergroßer Distanz registrieren. Jedenfalls relativieren die oben wiedergegebenen Befunde die eingangs erwähnten spektakulären Befragungsergebnisse zumindest partiell. Dabei gibt es auch in der Verlaufsstudie des DJI durchaus Hinweise auf nennenswerte Probleme mit der Politik. Immerhin ist auch hier nur die knappe Hälfte der Befragten mit der aktuellen Politik zufrieden, jeder zehnte ist deutlich unzufrieden, im Osten fast jeder vierte. Ähnliches gilt für das Vertrauen, wobei die nicht zum traditionellen Parteien- und Institutionenspektrum gehörenden Politikformen (Bürgerbewegungen, Greenpeace usw.) deutlich besser abschneiden: Weit über die Hälfte der Befragten hat hierzu "großes Vertrauen". Negativ betroffen sind vor allem die Bundesregierung, die Parteien und der Bundestag ("großes Vertrauen" haben hier zwischen einem Viertel und einem Drittel), während die Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts ähnlich hoch eingestuft werden wie die Bürgerbewegungen bzw. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), zu denen etwa die Hälfte bis zu zwei Drittel der Befragten "großes Vertrauen" haben. Eine repräsentative Forsa-Umfrage von Ende 2006 bestätigt wesentliche Ergebnisse dieser Studie. Das gilt insbesondere für die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren des politischen Systems, die hier – einschließlich der impliziten West/Ost-Unterschiede – sogar noch höhere Werte aufweist. Auffällig ist außerdem das deutliche Votum für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden, die 80 Prozent der Befragten befürworteten – im Übrigen ein weiterer, deutlicher Hinweis auf den zweideutigen Charakter von "Politikverdrossenheit". Der registrierte Vertrauensschwund gegenüber den Parteien und Politikern hat insofern besondere Bedeutung, als die Parteien rechtlich-normativ wie faktisch eine zentrale Stellung innerhalb des politischen Systems der Bundesrepublik einnehmen. Sie haben gegenüber anderen Organisationen eine verfassungsrechtlich hervorgehobene, im Grundgesetz verankerte Stellung (speziell Artikel 21 GG), die durch die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts im Laufe der Zeit noch verstärkt worden ist. Das scheint sie ermuntert zu haben, ihre Eigenfinanzierung (vor allem durch Mitgliederbeiträge und Spenden) immer weiter zugunsten einer staatlichen Finanzierung zu ersetzen. Das schließt tendenziell eine Entfernung von der Mitgliederbasis ein und dürfte – auf problematische Weise – die "Politik- bzw. Parteienverdrossenheit" für sie weniger spürbar machen. Dem hat das Bundesverfassungsgericht zwar Grenzen gesetzt, aber nicht wirklich entgegengewirkt – gemäß dem in den späten 1950er- und 60er-Jahren entwickelten Selbstverständnis einer parteienstaatlichen Demokratie. Dem wiederum entspricht die Ausdehnung des parteipolitischen Einflusses auf außerparlamentarische Institutionen, etwa in Gestalt der anteiligen Besetzung von Gremien (zum Beispiel Rundfunkräten) bzw. Ämtern und Posten. Das polemische Wort von der "Parteibuchwirtschaft" gehört in diesen Zusammenhang. Offenbar liegt hier eine der grundlegenden, zum guten Teil systemimmanenten Ursachen für die verbreitete Wahrnehmung, Politikern ginge es nur um persönlichen Einfluss, um Pfründe und Posten, wobei natürlich Skandale immer die Auslöser solcher Verallgemeinerungen sind. IV. Zum Stichwort "Politikverdrossenheit" werden in der öffentlichen Debatte und der Sozialforschung (hier von der empirischen Parteienforschung) noch andere Merkmale benannt und diskutiert, die leichter objektivierbar sind. Sie verlangen ebenfalls nach historischer Einbettung. Vor allem werden in diesem Zusammenhang aufgezählt: die erheblich gesunkenen Mitgliederzahlen in den Parteien, deren gleichzeitige Überalterung sowie der Verlust von Stammwählern und – vor allem – die Zunahme der Zahl der Nichtwähler. Zahl der Mitglieder aller deutschen Parteien und Anteil der Parteimitglieder an den Wahlberechtigten in Deutschland. Quelle: Datenreport 2011, Hg. Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin/Wiesbaden 2011, S. 376 (Basis: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2011, Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 18, Berlin 2011). (© Destatis ) Als JPG herunterladen (109.5kB) Vom Mitgliederschwund sind vor allem die großen Parteien SPD und CDU betroffen. Die SPD verlor seit ihrem Hoch von über eine Million Mitglieder Mitte der 1970er-Jahre bis Ende 2006 fast die Hälfte, die CDU rund ein Viertel seit ihrem Höchststand von nahezu 780.000 Mitgliedern Ende der 80er-Jahre. Beide Parteien sind heute mit je annähernd einer halben Million Mitgliedern etwa gleich stark, mit einem leichten Übergewicht der CDU. Weitgehend konstant geblieben ist die CSU in Bayern. Zur Überalterung: Bei der SPD war in den 1970er-Jahren gut jedes dritte Mitglied jünger als 35 Jahre, 2006 sind es weniger als ein Zehntel. Während es bei der CDU nur geringfügig besser aussieht, liegen die Anteile der jüngeren Jahrgänge bei den Grünen und bei der FDP höher. Nimmt man die Geschichte der Bundesrepublik in den Blick und sieht nur die Zahlen, entdramatisieren sich diese Zahlenverhältnisse ein wenig: Die SPD ist von ihrer Organisationsstärke her wieder in den frühen 1960ern angekommen, während die CDU bis Ende der 80er-Jahre kontinuierlich wuchs und erst seit 1990/91 Mitglieder verlor, was auch mit dem Spezialfall "deutsche Wiedervereinigung" bzw. den damit verbundenen Problemen zu tun haben dürfte. Und für die SPD ist nicht nur das Schwinden der Reformeuphorie ab Mitte der 1970er-Jahre in Rechnung zu stellen, sondern auch die Gründung der Grünen und – vor allem – die neue, von der Schröder-Regierung eingeleitete Politik im Rahmen der sogenannten Agenda 2010, die auf die sogenannte "Neue Mitte" bzw. die "modernen Leistungsträger" setzte. Damit veränderte sich das offizielle sozialdemokratische Selbstverständnis. Die SPD verstand sich zwar schon seit den späten 1950er-Jahren nicht mehr als Arbeiterpartei, aber doch als "Partei der kleinen Leute". Zu ihnen gehören nicht wenige, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind, nicht zu vergessen die Arbeitslosen selbst und die "Hartz IV"-Bezieher sowie die immens gewachsene Zahl derer, die in prekären Arbeitsverhältnissen ihr Auskommen finden müssen, darunter viele mit geringem Verdienst. Viele von ihnen fühlen sich sozial deklassiert und ausgegrenzt. Sehr wahrscheinlich waren deshalb die Mitgliederverluste bei der SPD während der Ära Schröder besonders hoch, nämlich 200.000 zwischen 1998 und 2005, das ist fast ein Drittel der Verluste seit dem Höchststand vor 35 Jahren. Mit dieser programmatischen Weichenstellung hängt ein weiteres Phänomen zusammen, das ebenfalls als Ausdruck von "Politikverdrossenheit" genannt wird: der Verlust von Stammwählern. Er ist allerdings nicht nur für die SPD charakteristisch. Die Parteisoziologen bezeichnen diesen Prozess als Erosion der alten langfristigen Parteibindungen, wonach Wahlentscheidungen früher relativ unabhängig von den jeweils aktuellen Wahlen getroffen worden sind, wobei diese Entscheidungen nicht nur auf die jeweilige Parteizugehörigkeit zurückgingen, sondern gleichzeitig in hohem Maße mit der jeweiligen Schichtzugehörigkeit verknüpft waren. Seit dem Zweiten Weltkrieg – und in den letzten Jahrzehnten erheblich beschleunigt – hat ein sozio-kultureller, auch die Wahlentscheidungen beeinflussender Ausdifferenzierungsprozess stattgefunden, und zwar parallel zu den sich gleichzeitig vollziehenden sozialstrukturellen Veränderungen. So haben große Teile der nachgewachsenen Generationen der alten Arbeiterschaft einen deutlichen, seinerseits ausdifferenzierenden Qualifizierungsprozess durchlaufen, wobei nicht wenige nunmehr außerhalb von Industrie und Handwerk beschäftigt sind, insbesondere im wachsenden Dienstleistungsbereich. Hier haben sie weit überwiegend "moderne", an Eigenverantwortung, Leistung und Konsum orientierte Verhaltensmuster übernommen, verknüpft mit durchaus unterschiedlichen politischen Orientierungen. Gleichwohl hat sich bei einem großen Teil das Selbstverständnis erhalten, zur Großgruppe der Arbeitnehmer bzw. ökomisch-sozial Abhängigen zu gehören. Gleichzeitig hat in den Gruppen, die traditionell den Mittelschichten zugerechnet werden, ein entsprechender Prozess die vormals übergreifend konservativen politischen Orientierungen zurücktreten lassen zugunsten technokratischer oder emanzipatorischer Orientierungen, sodass auch hier innerhalb ökonomisch-sozial weitgehend homogener Gruppen politisch unterschiedliche Fraktionen existieren – am deutlichsten ausgebildet bei den akademischen Berufen, aus denen überwiegend die Träger der Reformbewegung Ende der 1960er-, Anfang der 70er-Jahre kamen. Die vergleichsweise klaren Dichotomien und Abgrenzungen der alten Klassen und Schichten haben sich also gelockert und politisch ausdifferenziert. Keineswegs sind damit alle in der "Mitte" der Gesellschaft gelandet, gleichsam jenseits aller strukturellen Abhängigkeiten und Gegensätze. Dennoch hat dieser Prozess zu einer Verflüssigung der alten Stammwählerschaften wesentlich beigetragen. Kritisch zu fragen ist hier, ob sich vor diesem Hintergrund der Verlust an Stammwählern ohne weiteres als Ausdruck von Politikverdrossenheit interpretieren lässt. Dieser Verlust korrespondiert mit der Zunahme der Zahl der sogenannten Wechselwähler und der sogenannten Unentschiedenen (jener Gruppe also, die zum Leidwesen der Wahlprognostiker bis kurz vor der Wahl noch keine Wahlentscheidung getroffen hat). Sehr wahrscheinlich wird dieses Verhalten von mehreren, über das bisher Dargestellte hinausgehenden Tendenzen beeinflusst, die verunsichernd wirken oder Apathie verstärken: Erstens dürfte hier eine Rolle spielen, dass sich vor allem die großen Parteien in ihren politischen Profilen stark angenähert haben. Zweitens, dass sich in der Bevölkerung offenbar der Eindruck verfestigt hat, dass sich die Parteien schwer dabei tun, einen erträglichen Ausgleich zu finden zwischen dem "Wirtschaftsstandort Deutschland" (mit Forderungen nach Deregulierung bei Arbeitszeit, Tarifverträgen usw.) auf der einen Seite und den sozialen Garantien und Imperativen des Sozialstaates auf der anderen Seite, und zwar im Verein mit der gleichzeitigen Wahrnehmung, dass die Interessen der Wirtschaft einschließlich der Banken eine deutliche Bevorzugung erfahren. Drittens der Eindruck, Politik stehe primär unter der Dominanz und dem Druck globalisierter Ökonomie und erschöpfe sich mehr und mehr in Krisenmanagement. Damit scheint – viertens – verbunden zu sein, dass genuin politische Projekte a priori zu nachrangigen Veranstaltungen mit finanziell außerordentlich begrenzten Möglichkeiten herabsinken. Fünftens, dass eine nationalstaatlich bestimmte Politik durch die europäische Einigung bzw. übernationale Institutionen zusätzlich begrenzt wird. Und schließlich sechstens, dass die gestiegene Komplexität ökonomischer und politischer Prozesse etliche Politiker zu überfordern scheint und einige von ihnen auch deshalb "blind" und "taub" wirken gegenüber den Problemen ihrer Wähler vor Ort. Die Zunahme der Nichtwählerschaft, die ebenfalls als wichtiger Indikator von "Politikverdrossenheit" gilt, dürfte ebenfalls mit diesen Tendenzen zusammenhängen. Richtig ist zunächst, dass die Wahlbeteiligung auf allen Ebenen zurückgegangen ist. Gleichwohl müssen die erheblichen Differenzen im Blick bleiben. Bei den Bundestagswahlen liegt die Beteiligung nach wie vor bei rund 80 Prozent. Deutliche Abschläge haben indessen die Landtagswahlen hinnehmen müssen, bei denen der Abwärtstrend vor zwei Jahrzehnten einsetzte und sich seit zehn Jahren verstärkt. Die Wahlbeteiligung liegt hier seit den Jahren 2000/01 zwischen 54 und 70 Prozent, in den Neuen Bundesländern überwiegend unter 60 Prozent. Etwas darunter, im Durchschnitt bei gut 55 Prozent, liegt die Beteiligung an Kommunalwahlen, und das Schlusslicht bilden die Wahlen zum Europäischen Parlament, die deutlich an Beteiligung verloren haben: Gingen 1994 noch 60 Prozent zur Europawahl, waren es 2004 und 2009 nur noch rund 43. Bei den Bundestags- und Landtagswahlen, denen in der Wahlforschung auch das Hauptinteresse gilt, wird die nachlassende Wahlbeteiligung keineswegs einhellig als Problem wahrgenommen. Ein Teil spricht von einer Krisenerscheinung, die tendenziell zu einer Gefährdung der parlamentarischen Demokratie führe und der unter anderem durch eine Öffnung des Wahlsystems in Richtung mehr Beteiligungsmöglichkeiten entgegen gewirkt werden müsse (etwa durch die Einführung von Plebisziten). Andere Forscher meinen hingegen, dass es sich beim Wählerrückgang eher um eine "Normalisierung" handele: Die Wahlbeteiligung in Deutschland liege nunmehr im guten europäischen Durchschnitt und spiegele mehr reale politische Beteiligung als zuvor, als vielen Bürgern der Wahlgang als primär staatsbürgerliche Pflicht, also eher als formaler Akt, erschienen sei. Über beide Einschätzungen ließe sich trefflich streiten. Gegen die – zu affirmativ erscheinende – Normalisierungsthese ist vor allem einzuwenden, dass – erstens – "Normalisierung" als "Norm" irgend einen Durchschnittswert benutzt, der auf der Grundlage der gegebenen Verhältnisse gewonnen wurde. Nicht nur Abweichungen nach unten, sondern auch nach oben in Richtung von mehr Beteiligung wären demnach anormal, zum Beispiel die gegenüber Großbritannien höhere Wahlbeteiligung. Das schließt einen zweiten Punkt ein: Die Normalisierungsthese impliziert eine ahistorische Betrachtungsweise. So haben Deutschland und (beispielsweise) Großbritannien hinsichtlich Demokratie bzw. demokratischer Wahlen eine ganz unterschiedliche Geschichte, und daraus folgen tendenziell auch unterschiedliche programmatische Vorstellungen und Beteiligungsformen – zunächst einmal völlig unabhängig von der Frage, mit welchen Motiven die höhere Wahlbeteiligung verknüpft ist. Auf der anderen Seite ist die sogenannten Krisenthese im Blick auf die nachlassende Wahlbeteiligung nicht frei von Überzeichnungen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass ihre Vertreter die Schwierigkeit unterschätzen, aus der (zweifellos größer gewordenen) Gruppe der Nichtwähler jene herauszufiltern, die der Krisenthese tatsächlich entsprechen. Einige Forscher, die sich besonders mit den Nichtwählern beschäftigt haben, sprechen von drei identifizierbaren Gruppen unter diesen: Die größte Gruppe bilden die sogenannten konjunkturellen Nichtwähler. Sie lässt sich nur mit erheblichen Einschränkungen der Krisenthese zuordnen, weil hier die Wahlteilnahme bzw. Nichtteilnahme stark abhängt von der eingeschätzten Bedeutung der jeweiligen Wahlebene und dem situativ bestimmten politischen Geschehen (zum Beispiel der persönlichen Betroffenheit durch die Rentenreform) oder von persönlichen Abwägungsumständen (etwa dem Wetter oder einem Ausflug am Wahltag). Hierzu gehören auch jene Wahlenthalter, die mit den momentanen politischen Verhältnissen zufrieden sind und es deshalb für unnötig halten, zur Wahl zu gehen. Bei einer zweiten, kleineren Gruppe ist die Entscheidung zur Wahlabstinenz hingegen klar politisch motiviert im Sinne eines bewussten Protests. Und eine dritte, fast gleich große Gruppe setzt sich aus zwei Untergruppen zusammen: Die einen gehen nicht zur Wahl, weil sie das nie tun (da sie politisch völlig uninteressiert sind oder politische Betätigung aus religiösen Gründen ablehnen); die anderen geben technische oder organisatorische Gründe für ihre (partielle) Wahlabstinenz an (Umzug, keine Briefwahlunterlagen usw.). Der weitaus größere Teil der Nichtwähler versäumt also die Wahl offenbar nicht aus Gründen des politischen Protests – eingedenk dessen, dass auch die Gruppe der Protestler wahrscheinlich relativ größer geworden ist. Im Übrigen wäre es mehr als problematisch, diese Gruppe umstandslos zu den "Politikverdrossenen" zu zählen, eben weil hier Enthaltung bewusst als politische Entscheidung vollzogen wird, also von einer Abwendung von der Politik keine Rede sein kann. Eine Wahlanalyse der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, die sich auf die Bundestagswahl 2002 bezieht, gibt einen interessanten Hinweis auf den Ursachenkomplex der zugenommenen Wahlabstinenz, den man jenseits der Normalisierungs- und Krisenthese verorten kann. 2002 lag der Anteil der Nichtwähler bei knapp 21 Prozent. Fast ein Viertel davon ging aus ganz persönlichen, aus organisatorischen und technischen Gründen nicht zur Wahl. Knapp ein Drittel der Nichtwähler wollte durch die Wahlabstinenz politischen Protest ausdrücken, und fast die Hälfte (!) aller Nichtwähler wurde unter dem Begriff "Geringe Involvierung" subsumiert. Mit dieser merkwürdigen Bezeichnung gemeint ist unter anderem: "Insbesondere bei ökonomisch erfolgreichen, politisch jedoch ungebundenen Gruppen stieg der Anteil der Nichtwähler in den vergangenen Jahren". Korrespondierend damit heißt es in einer anderen Analyse, dass die Nichtwähler einerseits aus sozialen Randgruppen kommen (Wahlabstinenz also als Ausdruck sozialer Desintegration gedeutet werden kann), andererseits aus den "saturierten Mittelschichten" und hier wiederum viele "junge Individualisten" erkennbar seien. Es fällt auf, dass solche Feststellungen in den Wahlanalysen nur am Rande vorkommen – vielleicht deshalb, weil hier ein Problem sichtbar wird, das sich den herkömmlichen Interpretationsschemata mehr oder weniger entzieht. Kategorien wie Links/Rechts oder "Protest" und "Apathie" oder "staatsbürgerliche Pflicht" im Zusammenhang mit Wahlentscheidungen greifen hier offenbar nur unzureichend oder überhaupt nicht. Was gemeint ist, wird schnell in Diskussionen mit Wirtschaftsvertretern oder -redakteuren deutlich, von denen häufig Politik im Grunde als etwas Störendes wahrgenommen zu werden scheint. Der Tenor dieser Verlautbarungen ist oft, dass eigentlich alles besser laufen würde, wenn die Politik sich "raushalten" und alles Wesentliche den rational wirkenden Kräften des Marktes überlassen würde, der persönliche Entfaltung und Wohlstand am ehesten garantieren könne: Weshalb also sollte man überhaupt zu irgendwelchen Wahlen gehen? Schließlich haben wir ja auch keine Wahlpflicht und leben – Gott sei Dank – in keiner Diktatur! In einer Fernsehdiskussion in den späten 1990er-Jahren fragte der bekannte, aller linken Neigungen unverdächtige Journalist Johannes Gross ob solcher Beiträge halb verwundert, halb protestierend in die Runde, wer denn dann noch für das Gemeinwohl stehe und was denn mit denen geschehe, die keine Lobby hätten bzw. aus dem Wirtschaftsprozess herausfielen? Nicht zufällig sind in der FDP als besonders "wirtschaftsnaher" Partei verwandte Töne zu hören, die, weil sie aus der Politik selbst kommen, ein wenig paradox anmuten. So berichtete die "Hannoversche Allgemeine" 2010 von einer "launigen Rede", die der damalige Bundesgesundheitsminister (und gegenwärtige FDP-Vorsitzende und Wirtschaftsminister) Philip Rösler in Bayern gehalten und in der er gesagt hatte: "In den ersten 11 Monaten hat die Regierung nichts getan. Das waren die Monate gewesen, die die Wirtschaft gebraucht hat, um sich zu erholen." Sicherlich hat hier Rösler "launig" argumentiert, aber eben nicht ohne neoliberale Logik. Seine Einlassung läuft daraus hinaus, Politik zu machen mit dem Ziel ihrer Abschaffung – damit die Gesellschaft im "freien Spiel der Kräfte", so wäre zu schlussfolgern, vernünftig funktionieren könne. Das wäre, wenn man so will, "Politikverdrossenheit" in einem sehr grundsätzlichen Sinne. V. Schlussendlich ist nochmals auf die Arbeit einer sozialwissenschaftlichen Forschergruppe der Leibniz Universität Hannover zurückzukommen. Sie besitzt gegenüber den meisten anderen empirischen Ansätzen aus dem Bereich der politischen Sozialstrukturanalyse methodisch zwei Vorzüge. Zum einen verbindet sie quantitative mit qualitativen Zugriffen (sie stützt sich unter anderem auf ausführliche Interviews), und zum anderen erfasst sie – in der Tradition Pierre Bourdieus – neben den üblichen Sozialdaten (Beruf, Einkommen usw.) politisch-kulturelle Gesellungsformen und Wertorientierungen der Probanden. In diesem Sinne wurde auch das Verhältnis zur Parteipolitik und die Formen des politischen Engagement bzw. der politischen Distanz in einer aufwendigen Studie untersucht und Anfang der 1990er-Jahre veröffentlicht. Obwohl sie also einige Jahre zurückliegt und auf die alten Bundesländer beschränkt ist, gibt die Studie einige wichtige Hinweise auf unser Thema. In dieser Untersuchung wurden sieben unterschiedliche "Politiktypen' herauskristallisiert, die wiederum drei verschiedenen "Lagern" mit unterschiedlichen politischen Orientierungen zugeordnet werden konnten: dem "Lager der Reformorientierten", dem "Lager der Status-quo-Orientierten" und dem "Lager der Ressentiments". Zu den Ergebnissen gehören: 1. Enttäuschungen gegenüber der etablierten Politik, insbesondere den Parteien, sind verbreitet. Sie finden sich vor allem in zwei "Lagern". Deren differierende politische Grundorientierungen schließen ein, dass die Enttäuschungen völlig unterschiedliche Ausprägungsformen haben und mit verschiedenen Konsequenzen verbunden sind – ein wesentlicher Aspekt, der in vielen anderen Untersuchungen vernachlässigt wird. Besonders deutlich zeigt sich das bei den einzelnen "Politiktypen", bei denen es sich um eine Ausdifferenzierung innerhalb der politischen "Lager" handelt. So wird im Lager der "Reformorientierten" kritisch oder enttäuscht/distanziert mit den Parteien umgegangen, aber durchweg positiv gegenüber dem Bereich "unkonventionelle Politikformen" reagiert, häufig auch im Sinne von aktiv-mitmachend. Völlig anders im "Lager der Ressentiments": Hier ist die Enttäuschung über die Parteien mit fatalistischen oder aggressiven Reaktionen gegenüber der Politik verbunden, bei einem Typ dieses "Lagers" verknüpft mit starker Sympathie für unkonventionelle Politik. Nimmt man bei diesem Typ die übrigen politisch-kulturellen Orientierungen hinzu, insbesondere das Verhältnis zu Ausländern, wird deutlich, dass sich die Bevorzugung unkonventioneller Politik mit rechten bis rechtsradikalen Aktivitäten verbindet. 2. Das dritte neben diesen beiden "Lagern", das "Lager der Status-Quo-Orientierungen", repräsentiert konservative Prägungen. Auffällig ist hier, dass nur in diesem "Lager", das übrigens nahezu alle Berufsgruppen umfasst, Vertrauen in die Parteipolitik deutlich vorherrschend bzw. von Enttäuschungen kaum die Rede ist. 3. In der Studie wird auch eine Quantifizierung der Ergebnisse vorgenommen. Das "Lager der Reformorientierten" wird auf gut 40 Prozent beziffert, das "Lager der Status-Quo-Orientierten" auf gut 30, das der "Ressentiments" auf über 25 Prozent. Dabei zeigt sich, dass die von den Parteien und den Politikern Enttäuschten (die "Politikverdrossenen", wie man im Sinne der herkömmlichen Interpretationsmuster sagen könnte) tatsächlich mehr als 50 Prozent ausmachen. So stimmte weit über die Hälfte aller Probanden den folgenden beiden Statements zu: "In der Politik geschieht selten etwas, was dem kleinen Mann nützt", und: "Es ist egal, welche Partei man wählt, ändern wird sich doch nichts." Damit bestätigt diese Studie die meisten Untersuchungsergebnisse zur "Politikverdrossenheit" – freilich verbunden mit differenzierten inhaltlichen Bestimmungen und Schlussfolgerungen. 4. "Politikverdrossenheit" im Sinne einer Abwendung von Politik als Reaktion auf Enttäuschung ist nach dieser Untersuchung nur für einen Politiktyp aus dem "Lager der Ressentiments" charakteristisch. Er wird hier der "Enttäuscht Apathische" genannt und auf einen Anteil von gut 13 Prozent beziffert. Eine ähnliche Größenordnung repräsentiert der zum gleichen "Lager" gehörende "Enttäuscht Aggressive"-Typus. Als Fazit ist festzuhalten: Der nach wie vor überaus populäre Begriff "Politikverdrossenheit" enthält ein wahres Moment, indem er ein (offenbar gewachsenes) Unbehagen gegenüber bestimmten Entwicklungen in Politik und Gesellschaft ausdrückt. Indessen ist seine heuristische Kraft außerordentlich begrenzt. Insofern kann man sich getrost Kai Arzheimer anschließen, der penibel die wissenschaftliche Literatur der 1980er- und 90er-Jahre durchgesehen hat und zu dem Schluss kommt, dass "sowohl aus analytischer wie aus empirischer Sicht ... nichts dafür spricht, am Verdrossenheitsbegriff festzuhalten." Dies gilt umso mehr, als die Ergebnisse manch bloß quantifizierender Untersuchung und mehr noch die tagespolitisch-inflationäre Rede von der "Politikverdrossenheit" oft mehr vernebelt als erhellt. Genaues Hinsehen wäre also eine gebotene Schlussfolgerung, und eine zweite wäre, sich mehr um die historischen Bezüge der Befunde und die politisch-kulturellen Orientierungs- und Handlungskontexte der Akteure zu kümmern. Dann würde sich nämlich schnell herausstellen, dass "Politikverdrossenheit" nicht nur Unterschiedliches ausdrückt, sondern auch mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen verbunden sein kann. Als zusätzlicher Beleg dafür kann ein Typus der politisch "Verdrossenen" gelten, der erst in jüngster Zeit als "Wutbürger" von sich reden machte – eine Attributierung, die prompt zum "Wort des Jahres" 2010 ausgerufen wurde. Das Wort verweist nicht nur auf eine mögliche emotionale Voraussetzung für politisches Handeln, vor allem bezeichnet es einen aktiven Protesttypus, der in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen hervortritt, oft tonangebend. Das Akteursspektrum reicht von lokalen Auseinandersetzungen um Großprojekte (wie etwa "Stuttgart 21") über bundesweite Aktionen zum Beispiel gegen die Castortransporte bis hin zur länderübergreifenden "Occupy!"-Bewegung, die auf die Finanzkrise bzw. die "Macht der Banken" reagiert. Bei vielen Aktionen dieser Art findet man auf den Plakaten die "wütende" Feststellung: "Jetzt reicht's!" Was hier stattfindet, hat wenig oder gar nichts mit einer Abwendung vom Politischen zu tun. Angst um die Zukunft, nicht nur um die eigene, scheint ein zentrales Motiv zu sein, begleitet eben von Enttäuschungen und Wut gegenüber denen, die für die Malaise verantwortlich gemacht werden. Aber drückt sich hier schon eine Hinwendung zum Politischen aus? Durchaus wohlwollende Beobachter der Szenerie bezweifeln das. So meint der Politologe Claus Leggewie in seinem eindringlichen Plädoyer für den "Aufbruch in eine neue Demokratie": Notwendig sei die Überführung der – ohnehin janusköpfigen – Wut in Politik, die als Gestalterin nicht jenseits von Organisationen und Institutionen denkbar sei, ebenso wenig freilich ohne deren Öffnung und Ergänzung durch Formen stärkerer Bürgerbeteiligung. Programmatisch mag das richtig sein. Aktuell könnte es vielleicht eher darauf ankommen, unentschiedene Situationen auszuhalten, damit klarer wird, was es mit jener 'Wut' auf sich hat, das heißt, mögliche Lernchancen nicht durch vorschnelle Institutionalisierungen einzuschränken. Natürlich wäre das ein schwieriges Unterfangen, weil es weder verlässlich planbar ist noch einfach dekretiert werden kann. Dementsprechend gehört Ambiguitätstoleranz nach wie vor nicht zum Ausweis politischer Kompetenz – vermutlich zum Nachteil von Politisierungsprozessen, die an demokratischen Imperativen orientiert sind und auf Selbstverständigung und Nachhaltigkeit setzen. Deutsche Flaggen auf Halbmast am Berliner Reichstagsgebäude. (© picture-alliance/AP, Foto: Michael Sohn) Zahl der Mitglieder aller deutschen Parteien und Anteil der Parteimitglieder an den Wahlberechtigten in Deutschland. Quelle: Datenreport 2011, Hg. Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin/Wiesbaden 2011, S. 376 (Basis: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2011, Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 18, Berlin 2011). (© Destatis ) Als JPG herunterladen (109.5kB) Dieser Beitrag geht auf eine Vorlesung zurück, die d. Vf. unter dem Rahmenthema "Politische Kultur in der Bundesrepublik" im WS 2010/11 an der Leibniz Universität Hannover gehalten hat. Dem Text geht es v.a. um eine Erhellung des populären Schlagwortes "Politikverdrossenheit"; damit verknüpfte, eher grundsätzliche Fragen wie die nach dem Verhältnis von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie bleiben dabei im Hintergrund. Frankfurter Rundschau, 3.2.2004, S. 22. Vgl. Externer Link: www.tagesschau.de/redirectid.jsp?id=meldung91230 [7.11.2011]. HAZ, 24.11.2006. Vgl. Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesen, 20.11.2006. Dem entspricht in gewisser Weise das Ergebnis einer Studie, wonach sich kaum ein Fünftel der deutschen Parlamentarier in Bund, Ländern und Kommunen für einflussreich hält – mit Ausnahme der Bildungspolitik: Joachim Klewer/Ulrich von Alemann, DEUPAS. Deutsche Parlamentarierstudie, Meerbusch 2010. Externer Link: http://de.wikipedia.org/wiki/Politikverdrossenheit [7.11.2011]. Vgl. z.B. Gaiser u.a. (Anm. 7), S. 12. Vgl. zu entsprechenden Tendenzen, verstärkt durch erste Erfahrungen mit der Parteiendemokratie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, z.B. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1920, S. 244ff: "Die Politik macht roh, pöbelhaft und stupid. Neid, Frechheit, Begehrlichkeit ist alles, was sie lehrt (...) Ich will nicht die Parlaments- und Parteienwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt." Thomas Kleinhenz, Die Nichtwähler, Opladen 1995. Z.B. wird in einer vergleichenden amerikanische Studie zur Politischen Kultur auf die erfreuliche Demokratieentwicklung in der Bundesrepublik der frühen 1960er-Jahre aufmerksam gemacht, begründet v.a. mit empirischen Befunden hoher "Wahlbeteiligung" und "Systemzufriedenheit": Gabriel Almond/Sidney Verba, The Civic Culture, Princeton 1963. Aus einer kritisch-historischen Perspektive wäre hier auch die ganz andere Interpretation möglich, dass sich in diesen Befunden eher bestimmte politisch-kulturelle Tradierungen ausdrücken, die mehr mit Pfllichtbewusstsein gegenüber der Obrigkeit als mit einem entwickelten, Mitsprache verlangenden demokratischen Bewusstsein zu tun haben. Vgl. Wolfgang Gaiser u.a., Politikverdrossenheit in Ost und West?, in: APuZ, 19–20/2000, S. 12. Vgl. Klaus Christoph, "Ostalgie" – was ist das eigentlich?, in: DA 39 (2006) 4, S. 681–689. Vgl. Wolfgang Gaiser/Johann de Rijke, Partizipation und politisches Engagement, in: Martina Gille/Winfried Krüger (Hg.), Unzufriedene Demokraten. Politische Orientierungen der 16- bis 29-Jährigen im vereinten Deutschland, Opladen 2000. Heiko Geiling (Hg.), Probleme sozialer Integration, Münster 2003, S. 193ff. Vgl. Externer Link: http://www.stern.de/politik/deutschland/forsa-umfrage-die-regierung-ohne-volk-579367.html [1.11.2011]. Vgl. Karl-Heinz Naßmacher, Parteienfinanzierung in der Bewährung, in: APuZ, 16/2000. Vgl. u.a. Peter Haungs, Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1981. Vgl. Hubert Kleinert, Abstieg der Parteiendemokratie, in: APuZ, 35–36/2007, S. 3–11; Externer Link: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/1339/umfrage/mitgliederzahlen-der-politischen-parteien-deutschlands/ [14.11.2011]. Vgl. Michael Vester, Das Fiasko der 'neuen Mitte'. Die Bundestagswahl 2005 und die Orientierung der gesellschaftlichen Milieus, hektogr. Ms., Hannover 2005. Vgl. Michael Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993, sowie die erweiterte, die östlichen Bundesländer einbeziehende Fassung, Frankfurt a. M. 2011. Vgl. Jürgen Falter/Harald Schoen (Hg.), Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005, S. 367ff. Vgl. Michael Eilfort, Die Nichtwähler. Wahlenthaltung als Form des Wahlverhaltens, Paderborn u.a. 1994. Vgl. dazu z.B. Wolfgang Merkel, Volksabstimmungen: Illusionen und Realität, in: APuZ, 44–45/2011, S. 47ff. Vgl. Norbert Kersting, Nichtwähler. Diagnose und Therapieversuche, in: Zs. f. Politikwissenschaft 14 (2004) 2, S. 409. Vgl. Kleinhenz (Anm. 9). Rösler, der Komiker, in: HAZ, 7.9.2010. Vester u.a. (Anm. 20), 1993, insb. S. 183–206 u. 327–388; 2001, insb. S. 100ff u. 427–502. Kai Arzheimer, Politikverdrossenheit, Opladen 2002, S. 297. Claus Leggewie, Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie, Hamburg 2011.
Article
Klaus Christoph
"2014-01-08T00:00:00"
"2012-02-01T00:00:00"
"2014-01-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/61504/politikverdrossenheit/
Das Schlagwort "Politikverdrossenheit" verweist auf Unbehagen mit den politischen Zuständen im Lande - mit der Tendenz einer Abwendung vom Politischen. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Bestimmung (und der damit verknüpfte Begriff) allerdings
[ "Zeitgeschichte", "Widerstand", "SED", "Diktatur", "Nonkonformität", "Mauerfall", "Deutschland", "DDR" ]
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Maßnahme – Schadensersatz und Entschädigung | Persönlichkeitsrechte | bpb.de
Hierfür muss dem Verletzer allerdings nachgewiesen werden können, dass er vorsätzlich oder fahrlässig handelte (beim Schmerzensgeld ist in der Regel auch nachzuweisen, dass die Schädigung absichtlich erfolgte). Wer jemanden beleidigt, agiert wohl stets im vollen Wissen darüber, jemand anderen herabzuwürdigen. Vergisst man hingegen in der Eile des Redaktionsschlusses, die notwendige Einwilligung zur Bildnisveröffentlichung einzuholen, hat man eine Sorgfaltspflicht missachtet und deshalb fahrlässig gehandelt. Betreiber von Internetseiten haften für Inhalte Dritter in der Regel erst, wenn sie auf eine Verletzung hingewiesen wurden, diese jedoch nicht beseitigen. Ebenso, wenn sie sich Inhalte Dritter zu eigen gemacht haben, beispielsweise durch journalistisch-redaktionelle Integration in das eigene Angebot, oder wenn sie bewusst zur Abgabe von Inhalten aufforderten, die Persönlichkeitsrechte verletzen. Ferner muss nachgewiesen werden, dass tatsächlich ein konkret zu nennender Schaden entstanden ist, was nicht immer einfach sein wird: Wegen falscher Behauptungen kann man seinen Job verloren haben oder es können einem Gewinne entgangen sein, die man anderenfalls gemacht hätte. Wird ohne Erlaubnis ein Foto für Werbemaßnahmen verwendet, kann der Schaden anhand der Lizenzgebühr berechnet werden, die man dafür verlangt hätte (sogenannte fiktive Lizenzgebühr). Hat ein Verlag die Auflage bei einer Ausgabe durch einen rechtsverletzenden Beitrag nachweislich maßgeblich gesteigert, kann der entsprechende Gewinn abgeschöpft werden. Einen ersatzfähigen Schaden stellen außerdem die Kosten der Rechtsverfolgung dar. Am Ende soll der Verletzte so dastehen, als wäre sein Persönlichkeitsrecht nie beeinträchtigt worden. Der herbeigeführte Schaden ist jedoch nicht immer nur materieller Natur. Durch Intimaufnahmen, entstellende Äußerungen oder falsche Behauptungen wird auch das öffentliche Ansehen einer Person oft stark beschädigt. Häufig empfindet man große Scham oder leidet gar unter psychischen Problemen. Manche Vorwürfe bleiben ein Leben lang haften, selbst wenn sie längst widerlegt wurden. Ein Widerruf einer falschen, diffamierenden Tatsachenbehauptung reich hier oft nicht aus. Deshalb kann man als Ausgleich für diese immateriellen Schäden unter bestimmten Voraussetzungen eine Entschädigung verlangen. Die Rechtsprechung billigt es jedoch nur bei einem "besonders schweren" Eingriff in das Persönlichkeitsrecht zu. Als einen solchen hat sie zum Beispiel Teile der Berichterstattung der Bild-Zeitung über den "Fall Jörg Kachelmann" oder die Veröffentlichung von heimlich aufgenommenen Nacktfotos angesehen (teilweise noch mit der Telefonnummer der betroffenen Person und der Aufforderung, dort anzurufen). Es liegt in der Natur von immateriellen Schäden, dass man sie nicht genau beziffern kann. Trotzdem muss am Ende eine genaue Summe feststehen. Deshalb müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden, wie zum Beispiel der mit der Verletzung erzielte Gewinn (etwa durch die Auflagenhöhe der betroffenen Zeitschrift), die Reichweite des Organs sowie die Schwere des Eingriffs. Am Ende werden meist nur ein paar Hundert oder wenige Tausend Euro zugesprochen. In Einzelfällen fiel die Summe jedoch deutlich höher aus. Für selbst erstellte und im Internet verbreitete pornografische Fotomontagen musste ein Mann 15.000 Euro zahlen. Insbesondere den Entschädigungsansprüchen kommt neben der Genugtuungsfunktion auch zu einem gewissen Maße eine vorbeugende Funktion zu. Um sich nicht hohen Geldforderungen ausgesetzt zu sehen, sollen die Medien angehalten werden, sie für die Verletzung von Persönlichkeitsrechten zu sensibilisieren. Da es in Deutschland aber besonders hohe Entschädigungszahlungen aus Gründen der Abschreckung nicht gibt, preisen viele Medien potenziell am Ende eines langen Rechtsstreits zu zahlende Gelder oftmals bereits ein.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-01T00:00:00"
"2017-04-10T00:00:00"
"2022-02-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/persoenlichkeitsrechte/246297/massnahme-schadensersatz-und-entschaedigung/
Oft reicht es nicht aus, lediglich die Verletzungshandlung abzustellen und sich gegen eine Wiederholung abzusichern. Es können darüber hinaus bleibende Schäden eingetreten sein. Der Verletzte kann deshalb Schadensersatz sowie im Fall einer besonders
[ "Netzpolitik", "Internet", "Recht", "Ratgeber", "Persönlichkeitsrecht", "Persönlichkeitsrechte" ]
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Termin-Rückblick 2020 | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Zu den Termindetails der vergangenen Terminen gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken. Januar Interner Link: Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien23. Januar 2020, Regensburg Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Februar Interner Link: Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien11. Februar 2020, Bamberg Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Interner Link: Fachtag: Extremismusprävention zwischen YouTube und Jugendtreff13. Februar 2020, Berlin Institut für Medienpädagogik März Interner Link: Tagung: Präventionsarbeit in digitalen Lebenswelten9.-10. März 2020, Kassel Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Abendveranstaltung: Risikoeinschätzung und Umgang mit hochradikalisierten Personen 17. März, Berlin Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. April Interner Link: Online-Seminar: digital streetwork – Radikalisierung im Kontext sozialer Medien6. April 2020, online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e. V. Interner Link: Theater: IS Deutsche Räuber im Dschihad23.-26. April, Köln ***abgesagt*** WEHR51 Interner Link: Fachtagung: Religion als Faktor der Radikalisierung30. April, Osnabrück ***abgesagt*** Universität Osnabrück Mai Interner Link: Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus11. Mai 2020, online Bildungsstätte Anne Frank Interner Link: Online-Talk: Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona15. Mai 2020, online Bildungsstätte Anne Frank Interner Link: Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus in Deutschland20. Mai 2020, online Fach- und Informationsstelle Türkischer Ultranationalismus Interner Link: Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus27. Mai 2020, online Bildungsstätte Anne Frank Juni Interner Link: Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung2. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: Can Convicted Terrorists Be Rehabilitated?3. Juni, online Counter Extremism Project und Radicalization Awareness Network Interner Link: Online-Vortrag: Die bunte Welt der Verschwörungstheorien und wie man ihr begegnen kann – ein Reiseführer10. Juni, online PROvention Interner Link: Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment11.-12. Juni, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus16. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Vortrag: Verschwörungsideologien im Islamismus17. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: The Repatriation of Foreign Terrorist Fighters and Their Families. Why Not?23. Juni, online International Centre for Counter-Terrorism (ICCT) Interner Link: Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen23. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: Alles gleich, alles gut? – Präventionsansätze für die Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen23. Juni, online ufuq.de Interner Link: Online-Vortrag: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen24. Juni, online PROvention Interner Link: Aktionswoche: Aktionen gegen Hass und antimuslimischen Rassismus24. Juni bis 1. Juli, online Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit Interner Link: Online-Seminar: After the Attack – Crisis Communication Strategy and the Role of the Media25. Juni, online International Centre for Counter-Terrorism (ICCT) Interner Link: Online-Seminar: Auftaktveranstaltung des Arbeitskreises "Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus"26. Juni, online Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus Interner Link: Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien30. Juni, online PROvention Juli Interner Link: Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus7. Juli, online PROvention Interner Link: Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen7.-8. Juli, online Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. Interner Link: Online-Vortrag: Verschwörungstheoretische Narrative im Phänomenbereich Türkischer Ultranationalismus8. Juli, online PROvention, Jugendschutz Kreis Pinneberg Interner Link: Fachtag: Religiös begründeter Extremismus und die digitale Welt – Herausforderungen und Möglichkeiten der Präventionsarbeit 'online'15. Juli 2020, Bremen/online Koordinierungsstelle Islamistischer Extremismus und Muslim*afeindlichkeit des Demokratizentrums Land Bremen Interner Link: Online-Aufbauschulung: Wer bin ICH, was bin ICH, wo gehöre ICH hin? − Ein 'Mehr' an Identitäten und Zugehörigkeiten15.-16. Juli, online Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. Interner Link: Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien23. Juli, online PROvention Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Radikalisierungsprozesse und Prävention23. Juli bis 4. August, online streetwork@online August Interner Link: Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung12. August 2020, online PROvention Interner Link: Online Summer Programme: Preventing, Detecting and Responding to Violent Extremism17.-19. August, online International Centre for Counter-Terrorism Interner Link: Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus18. August 2020, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus20. August 2020, online PROvention Interner Link: Train-the-Trainer: Online-Beratung in Zeiten von Corona25. August - 8. September 2020, online Violence Prevention Network Interner Link: Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien26. August 2020, online PROvention Interner Link: Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen26.-27. August 2020, Wolfsburg volkshochschule.de Interner Link: Train-the-Trainer-Fortbildung 2020: Islam, antimuslimischer Rassismus und universelle Islamismusprävention31. August bis 3. September, Berlin ufuq.de September Interner Link: Konzeptwerkstatt: Chancen und Grenzen von Biografieforschung und Typologisierungen2. September, online KN:IX Interner Link: Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen2. September, online PROvention Interner Link: Online-Workshop: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention3. September 2020, online PROvention Interner Link: Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie?7. September, online volkshochschule.de Interner Link: Fachtag: Religion verhandeln?! Aushandlungsprozesse im Kontext von Demokratie, Gesellschaft und Bildung9.-10. September, Berlin ufuq.de Interner Link: Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment10.-11. September, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Train-the-Trainer-Seminar: Pädagogische Praxis im Umgang mit Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus11.-12. September, Augsburg ufuq.de Interner Link: Fachtagung: Islam und Salafismus in der Kinder- und Jugendhilfe17. September, Kiel PROvention Interner Link: Online-Veranstaltung: Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit17. September, online Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit Interner Link: Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie?23. September, online volkshochschule.de Interner Link: Online-Jubiläumskongress: 25. Deutscher Präventionstag28.-29. September , online Deutscher Präventionstag Interner Link: Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen30. September - 1. Oktober, Mannheim volkshochschule.de Oktober Interner Link: Fachaustausch: Sozialraumorientiertes Arbeiten in Berliner Kiezen1. Oktober, Berlin Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Fachaustausch: Schule und Schulsozialarbeit6. Oktober, Berlin Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Talk: Radikale Höflichkeit – Entschlossen, sachlich und radikal höflich Stellung beziehen gegen Diskriminierung7. Oktober, online Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus & Kleiner Fünf / Tadel verpflichtet! e. V. Interner Link: Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen7-8. Oktober, online volkshochschule.de Interner Link: Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten"13. Oktober 2020, online volkshochschule.de Interner Link: Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten"15. Oktober 2020, online volkshochschule.de Interner Link: Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment15.-16. Oktober, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Aufbauschulung: Wer hat 'das letzte Wort' im Netz? – Digitale Lebenswelten mitgestalten20.-21. Oktober, online volkshochschule.de Interner Link: Fachtag: Radikalisierung und extremistische Gewalt. Handlungsgrundlagen für Ärzt/-innen und Psychotherapeut/-innen*** ausgebucht *** 21. Oktober, Berlin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ulm Interner Link: Fachtag: Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit?26.-27. Oktober, online BAG RelEx Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media27. Oktober, online streetwork@online Interner Link: Aufbauschulung: Aus der Rolle (ge-)fallen!? – Jugendliche für die geschlechtsspezifische Ansprache durch Extremist/-innen sensibilisieren27. Oktober, online volkshochschule.de November Interner Link: Online-Workshop: JEDI #6 "Laut sein! Aktiv für die Demokratie"3. November 2020, online Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT), bpb Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus3. November 2020, online streetwork@online Interner Link: Fachtag: Fachtag Islam im Kontext Schule6. November 2020, online Multikulturelles Forum e. V., Islamische Akademie NRW und Verband muslimischer Lehrkräfte Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse10. November 2020, online streetwork@online Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention17. November 2020, online streetwork@online Interner Link: Online-Fachgespräch: Ansätze in der Beratungsarbeit17. November 2020, online BAG RelEx, KN:IX Interner Link: Fachtagung: Verurteilung als Anstoß18. November 2020, online Kick-off/PROvention Interner Link: Online-Seminar: Reintegration of Individuals Formerly Associated with Islamist Violent Extremist Groups19. November 2020, online Bonn International Center of ConversionInterner Link: Online-Fachtagung: Von Gesundheitsdiktatur bis Gottes Zorn. Setzt Corona der Radikalisierung die Krone auf?25. November, online respect.lu & Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus Interner Link: DVV-Fachaustausch: "EmPOWERment"25. November, online volkshochschule.de Interner Link: Multimediales Event: Extremismus als Herausforderung für Jugend, Pädagogik und Forschung – Reflexionen und Ausblicke25. November 2020, online Arbeits- und Forschungsstelle für Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) Interner Link: Online-Fachtag: Peer-Education in der universellen Islamismusprävention26. November 2020, online ufuq.de, KN:IX Interner Link: Online-Fachtag: PrEval 202027. November 2020, online PrEval-Verbund Interner Link: Online-Workshop: Sozialisationsbedingungen und fehlende Vaterpräsenz als Radikalisierungsfaktoren?27.-28. November 2020, online Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Interner Link: Online-Diskussion: Europäische Ansätze bei der Reintegration von Rückkehrenden aus Syrien und Irak10. Dezember 2020, online Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) & Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Interner Link: Online-Seminar: Onlineberatung zu religiös begründetem Extremismus – Chancen und Herausforderungen eines "neuen" Beratungsfeldes 10. Dezember 2020, online emel – Online-Beratung zu religiös begründetem Extremismus Interner Link: Online-Fachgespräch: Religiös begründeter Extremismus: Zielgruppenerreichung über/und digitale Medien in Zeiten von Corona14. Dezember 2020, online emel – Online-Beratung zu religiös begründetem Extremismus Januar 23. Januar 2020, Regensburg Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien In halbtägigen Workshops informiert die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Lehrkräfte über Kommunikationsstrategien extremistischer Akteure in sozialen Medien. Außerdem werden Befunde aus einem Forschungsprojekt präsentiert, das den Kontakt und die Wahrnehmung extremistischer Botschaften durch Jugendliche untersucht hat. Im Anschluss werden in einer gemeinsamen Diskussionsrunde mögliche Schlussfolgerungen für den Schulkontext diskutiert und Handlungsoptionen erarbeitet. Termin: 23. Januar 2020, 14:00-18:00 Uhr Ort: RUL - Regensburger Universitätszentrum für Lehrerbildung, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg Kosten: kostenfrei Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Februar 11. Februar 2020, Bamberg Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien In halbtägigen Workshops informiert die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Lehrkräfte über Kommunikationsstrategien extremistischer Akteure in sozialen Medien. Außerdem werden Befunde aus einem Forschungsprojekt präsentiert, das den Kontakt und die Wahrnehmung extremistischer Botschaften durch Jugendliche untersucht hat. Im Anschluss werden in einer gemeinsamen Diskussionsrunde mögliche Schlussfolgerungen für den Schulkontext diskutiert und Handlungsoptionen erarbeitet. Termin: 23. Januar 2020, 13:30-17:00 Uhr Ort: Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Luitpoldstraße 19, 96052 Bamberg Kosten: kostenfrei Weitere Informationen auf den Seiten der Externer Link: Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit 13. Februar 2020, Berlin Fachtag: Extremismusprävention zwischen YouTube und Jugendtreff Mit dem Fachtag bietet das JFF – Institut für Medienpädagogik pädagogischen Fachkräften Einblick in das Präventionsprojekt "RISE – Jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus". Das von der Bundesbeauftragen für Kultur und Medien geförderte Projekt hat unter anderem sieben Filme zu Themen wie Zugehörigkeit, Religion, Liebe und Gemeinschaft hervorgebracht, die für Präventionsarbeit mit pädagogischem Material und Hintergrundinformationen auf einer Online-Plattform aufbereitet sind. Neben Beiträgen aus Forschung und Praxis gibt es die Möglichkeit auf Austausch mit Vertreter/-innen aus Politik, Wissenschaft, Präventions- und Jugendarbeit. Termin: 13. Februar 2020, 9:00-17:30 Uhr Ort: silent green Kulturquartier, Gerichtstraße 35, 13347 Berlin Kosten: kostenfrei Weitere Informationen auf den Seiten des Externer Link: JFF – Institut für Medienpädagogik März 9.-10. März 2020, Kassel Tagung: Präventionsarbeit in digitalen Lebenswelten Welche Angebote digitaler Bildungs- und Präventionsarbeit gibt es? Wie können diese dabei helfen, neue Zielgruppen zu erreichen, Partizipation zu fördern und Pluralität abzubilden? Diesen und weiteren Fragen sollen die Teilnehmenden aus Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit sowie aus Wissenschaft und Verwaltung im Rahmen einer zweitägigen Veranstaltung nachgehen. Themen am ersten Tag sind unter anderem Strategien islamistischer Akteure im Netz sowie rechte Hetze. Am zweiten Tag besteht die Möglichkeit praxisnahe Projekte aus den Bereichen Digitale Bildung, Webvideo und Online-Streetwork kennenzulernen. Die Tagung wird von Bundeszentrale für politische Bildung organisiert. Termin: 9.-10. März 2020 Ort: H4 Hotel, Baumbacher Str. 2, 34119 Kassel Kosten: kostenfrei Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 17. März 2020, Berlin Abendveranstaltung: Risikoeinschätzung und Umgang mit hochradikalisierten Personen Wie werden Risikoeinschätzungen erstellt und wie kann mit hochradikalisierten Personen und der von ihnen ausgehenden Gefahr umgegangen werden? Auf der Veranstaltung, die sich im Rahmen des "International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism" (InFoEx) der tertiären Prävention widmet, werden Herausforderungen und bewährte Praktiken in Deutschland und dem europäischen Ausland diskutiert. Die Veranstaltung wird durchgeführt vom Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. (DGAP). Termin: 17. März 2020, 18:30-20:00 Uhr Ort: DGAP, Rauchstraße 17/18, 10787 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: den Seiten des DGAP April 6. April 2020, online Online-Seminar: digital streetwork – Radikalisierung im Kontext sozialer Medien Welche Bedeutung haben soziale Medien für extremistische Akteure und wie kann digitale Jugendarbeit diesen begegnen? Kultur- und Medienpädagoge Adrian Stuiber vom Berliner Präventionsprojekt streetwork@online wird in rund 90 Minuten Einblicke in das Thema Digital Streetwork geben. Dabei geht es vor allem um den Lebensraum "soziales Netzwerk" und wie Kinder und Jugendliche über die dortigen Radikalisierungsprozesse aufgeklärt werden können. Das Online-Seminar wird organisiert von der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e. V. (BAG RelEx). Termin: 6. April 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich bis zum 2. April Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 23.-26. April 2020, Köln ***abgesagt*** Theater: IS Deutsche Räuber im Dschihad Das frei nach Schiller inszenierte Stück widmet sich der Frage, was junge Menschen auf dem Weg in den Islamismus bewegt. Finden sie dort einen Gegenentwurf zum verweichlichten Elternhaus? Ist der Dschihad eine Jugendkultur, eine Rebellion gegen das Wertesystem der Gesellschaft oder dessen Fehlen? WEHR51 ist 2019 aus dem Zusammenschluss der beiden Theater theater-51grad und wehrtheater hervorgegangen. Es setzt sich kreativ und kritisch mit politischen und zeitgenössischen Themen auseinander. Termin: 23.-26. April 2020, 20:00 Uhr Ort: Freihandelszone, Krefelderstraße 71, 50670 Köln Kosten: 17 €, ermäßigt 10 € Reservierung: per E-Mail an E-Mail Link: info@wehr51.com Weitere Informationen Externer Link: auf den Seiten von wehr51 30. April 2020, Osnabrück ***abgesagt*** Fachtagung: Religion als Faktor der Radikalisierung Sind insbesondere junge Muslime aufgrund ihrer religiösen Orientierung empfänglich für radikale Botschaften? Können Radikalisierungsprozesse mit einer "richtigen" religiösen Unterweisung unterbunden werden? Auf der Tagung des Forschungsnetzwerkes "Radikalisierung und Prävention" werden die Ergebnisse des Forschungsprojektes "Religion als Faktor der Radikalisierung" und der daraus entstandene Sammelband vorgestellt. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Bundesprogrammes "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend statt. Termin: 30. April 2020, 10:00-17:00 Uhr Ort: Schlossaula der Universität Osnabrück, Neuer Graben 29/Schloss, 49074 Osnabrück Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: kathrin.wagner@uni-osnabrueck.de Weitere Informationen auf den Seiten der Universität Osnabrück Mai 11. Mai 2020, online Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus Warum ist es wichtig, von antimuslimischem Rassismus zu sprechen? In diesem Online-Seminar sollen Mechanismen und Erscheinungsformen sowie die Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von Betroffenen analysiert werden. Darüber hinaus besprechen die Teilnehmenden Möglichkeiten, antimuslimischem Rassismus entgegen zu treten. Die Bildungsstätte Anne Frank organisiert zwei Termine des Online-Seminar, das andere Online-Seminar findet am 27. Mai statt. Termin: 11. Mai 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail unter Angabe des Online-Seminar-Titels an E-Mail Link: erwachsenenbildung@bs-anne-frank.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bildungsstätte Anne Frank 15. Mai 2020, online Online-Talk: Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona "Die Impfindustrie kassiert jetzt ab!" – "Die italienischen Kliniken wollen doch nur an die Finanzhilfen!" – "Cui bono?" In aufgewühlten Zeiten wie diesen haben Verschwörungstheorien wieder eine traurige Hochkonjunktur; ob sie sich nun um Italien, den IS oder die USA drehen. Oliver Fassing und Tom Uhlig von der Bildungsstätte Anne Frank haben sich aktuelle Corona-Verschwörungstheorien angesehen und sprechen über Funktion und Argumentationsmuster dieser Theorien und ihre sozialpsychologische Funktion: Über Verschwörungstheorie erscheinen Erfahrungen eigener Ohnmacht und Entfremdung plötzlich erklär- und beherrschbar. Die beiden geben auch Tipps, was man tun kann, wenn im privaten Umfeld oder in sozialen Medien Verschwörungstheorien umgehen. Die Veranstaltung ist ein Beitrag im Rahmen der digitalen Aktionstage gegen Verschwörungsmythen und Antisemitismus, organisiert von der Amadeu Antonio Stiftung mit dem Anne Frank Zentrum in Berlin. Der Aktionstag ist gleichzeitig der Auftakt der diesjährigen Aktionswochen gegen Antisemitismus. Termin: 15. Mai 2020, 16:00-17:00 Uhr Ort: Externer Link: YouTube-Kanal der Bildungsstätte Anne Frank Kosten: kostenfrei Anmeldung: nicht erforderlich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bildungsstätte Anne Frank 20. Mai 2020, online Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus in Deutschland Das Online-Seminar der Fach- und Informationsstelle Türkischer Ultranationalismus (diyalog) soll einen ersten Einblick in die Thematik ermöglichen. Neben einem Input wird es die Möglichkeit zu einer Diskussion sowie zum interaktiven Arbeiten geben. Das Angebot richtet sich an Fachkräfte, ehrenamtlich tätige Menschen sowie die interessierte Öffentlichkeit. Diyalog steht unter der Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein – einer landesweit tätigen Migrant_innenselbstorganisation, die vom Landesdemokratiezentrum Schleswig-Holstein gefördert wird. Termin: 20. Mai 2020, 10:00-12:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Schreiben Sie bei Interesse bitte bis zum 18.5. eine E-Mail an E-Mail Link: diyalog@tgsh.de unter Angabe Ihres Namens und fachlichen Hintergrundes. Ihre Angaben werden datenschutzrechtskonform behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Die Teilnehmendenzahl ist begrenzt. 27. Mai 2020, online Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus Warum ist es wichtig, von antimuslimischem Rassismus zu sprechen? In diesem Online-Seminar sollen Mechanismen und Erscheinungsformen sowie die Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von Betroffenen analysiert werden. Darüber hinaus besprechen die Teilnehmenden Möglichkeiten, antimuslimischem Rassismus entgegen zu treten. Die Bildungsstätte Anne Frank organisiert zwei Termine des Online-Seminar, das andere Online-Seminar findet am 11. Mai statt. Termin: 27. Mai 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail unter Angabe des Online-Seminar-Titels an E-Mail Link: erwachsenenbildung@bs-anne-frank.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bildungsstätte Anne Frank Juni 2. Juni 2020, online Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung Anhand von Methoden und pädagogischen Ansätzen sowie konkreten Fallbeispielen werden die Abgrenzung zwischen der Religion des Islams und der politischen Ideologie des Islamismus sowie zentrale Merkmale gängiger salafistischer Propaganda vermittelt. In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die einzelnen Termine haben je eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einstündiger Pause 11:30-12:30). Hinweise zum Log-In zum Online-Seminar-Software erhalten Sie rechtzeitig vor Seminarbeginn. Termin: 2. Juni 2020, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention. 3. Juni 2020, online Online-Seminar: Can Convicted Terrorists Be Rehabilitated? Welche Programme zur Deradikalisierung von Personen, die wegen terroristischer Straftaten veruteilt wurden, funktionieren? Wie können bewährte Verfahren übertragen werden? Das Online-Seminar befasst sich mit aktuellen Herausforderungen und Lehren aus unterschiedlichen Ansätzen in der EU und den USA. Das Counter Extremism Project (CEP) richtet das Online-Seminar zusammen mit dem Radicalization Awareness Network (RAN) aus. Unter den vier eingeladenen Fachleuten befindet sich unter anderem Dr. Robert Pelzer, Senior Researcher an der TU Berlin. Das Online-Seminar findet in englischer Sprache statt. Termin: 3. Juni 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: Online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten zur Online-Seminar-Registrierung. 10. Juni 2020, online Online-Vortrag: Die bunte Welt der Verschwörungstheorien und wie man ihr begegnen kann – ein Reiseführer Giulia Silberberger von der Initiative "Der goldene Aluhut" gibt in ihrem Vortrag einen Überblick über aktuelle Verschwörungsmythen. Außerdem berichtet sie von ihrer praktischen Arbeit und geht darauf ein, wie man mit Verschwörungstheoretiker/-innen im beruflichen und privaten Alltag umgehen kann. PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben. Termin: 10. Juni 2020, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention. 11.-12. Juni 2020, online Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment Hassrede, Propaganda und menschenverachtender Content: Extreme Gruppierungen und Personen kapern zunehmend das Netz, um dort ihre gefährlichen Ideologien vornehmlich an junge Menschen weiterzuverbreiten. Diesen Bestrebungen muss mit einer auf das Netz angepassten Form der Zivilcourage begegnet werden, um sich extremistischen Akteuren gezielt entgegen zu stellen. Das je zweitägige Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung richtet sich an Social Web-Multiplikatoren, Social Media- und Community-Redakteure, Online-Journalisten, YouTube-Community-Manager sowie NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure, die in digitalen Diskursen aktiv sind. Ziel ist es, qualifiziertes Wissen zu Strukturen und Wirkungsweisen des ideologischen Extremismus unter Berücksichtigung praktischer Tools und Strategien im Umgang mit Extremismus im Netz zu erarbeiten. Termin: 11.-12. Juni 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf Interner Link: bpb.de 16. Juni, online Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus Das Online-Seminar beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Wie sind Verschwörungsmythen aufgebaut und was macht sie so attraktiv? Welche Elemente verschwörungstheoretischen Glaubens findet man in islamistischen Spektren vor? Und wie kann man damit umgehen, wenn man mit solchen Erzählungen konfrontiert wird? In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30). Termin: 16. Juni, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Online-Seminar-Reihe" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 17. Juni, online Online-Vortrag: Verschwörungsideologien im Islamismus Annabelle Mattick von PROvention setzt sich in ihrem Vortrag mit den Fragen auseinander, welche Elemente verschwörungsideologischen Glaubens in islamistischen Spektren vertreten werden, warum diese attraktiv auf junge Menschen wirken können und wie auf die Konfrontation mit solchen Erzählungen reagiert werden kann. PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben. Termin: 17. Juni, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail. Weitere Informationen auf den Seiten von PROvention 23. Juni, online Online-Seminar: The Repatriation of Foreign Terrorist Fighters and Their Families. Why Not? Das International Centre for Counter-Terrorism – Den Haag (ICCT) veranstaltet ein Online-Live-Briefing mit anschließender Fragerunde zum Thema Rückführung von Terrorist/-innen und ihren Familien. Wie können Probleme bei der Rückführung überwunden werden? Wie sind die Aussichten auf Strafverfolgung? Gibt es praktikable Alternativen zur Rückführung? Die Grundlage für das Online-Seminar bieten die Überlegungen von Tanya Mehra und Dr. Christophe Paulussen, beide vom ICCT, sowie von Anthony Dworking, vom European Council on Foreign Relations. Termin: 23. Juni 2020, 16:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; registrierte Teilnehmende erhalten vor der Veranstaltung die Anmeldedaten für das Online-Seminar. Weitere Informationen auf den Seiten des Externer Link: ICCT. 23. Juni, online Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen In aktuell kursierenden Verschwörungsmythen spielen judenfeindliche Elemente oftmals eine tragende Rolle. Zum Teil wird versucht, solche antisemitischen Stereotypen islamisch zu legitimieren. Im Arbeitsalltag kann Antisemitismus in Form von Mobbing oder rassistisch-religiöser Diskriminierung auftreten. Ziele dieses Online-Seminar sind eine breite Wissensvermittlung zum Thema und die gemeinsame Erarbeitung von Handlungsmöglichkeiten. In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30). Termin: 23. Juni, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Online-Seminar-Reihe" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 23. Juni, online Online-Seminar: Alles gleich, alles gut? – Präventionsansätze für die Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen Die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens machen deutlich, wie wichtig geschlechtsspezifische Präventionsansätze sind. Diversitäts- und Diskriminierungssensibilität sind hier die Gelingensbedingungen, um Mädchen und junge Frauen zu stärken – auch gegenüber ideologischen Ansprachen in Form islamistischer, nationalistischer oder rechtsextremer Gemeinschaftsangebote. Im Online-Seminar wird das neue ufuq.de-Fortbildungsmodul "Mädchenarbeit – geschlechtsspezifische Prävention" vorgestellt. Es soll pädagogische Fachkräfte in ihrer Arbeit mit Fokus auf Mädchen und junge Frauen unterstützen. Termin: 23. Juni, 11:00-12:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail bis zum 19. Juni 2020 an E-Mail Link: serpil.dursun@ufuq.de. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufug.de 24. Juni, online Online-Vortrag: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen In aktuell kursierenden Verschwörungsmythen spielen judenfeindliche Elemente oftmals eine tragende Rolle, wie beispielsweise in der vermeintlichen "zionistischen Weltverschwörung". Zum Teil wird versucht, solchen antisemitischen Stereotypen einen religiösen Anstrich zu geben und diese islamisch zu legitimieren. Pascal Brügge und Jacob Reichel von PROvention diskutieren in ihrem Vortrag verschwörungstheoretische Merkmale, Strukturen und Funktionsweisen von islamisiertem Antisemitismus und geben Handlungsstrategien für die berufliche Praxis. PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben. Termin: 24. Juni, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 24. Juni bis 1. Juli 2020, bundesweit Aktionswoche: Aktionen gegen Hass und antimuslimischen Rassismus Die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit ruft mit einer Aktionswoche bundesweit zu verschiedenen Aktionen gegen Hass und antimuslimischen Rassismus auf. Sie gipfeln im Tag gegen antimuslimischen Rassismus am 1. Juli. Mit Vorträgen, Diskussionen und Kunstaktionen nehmen viele bekannte Akteure der Präventionsarbeit teil. Ideen zu weiteren Aktionen können noch eingereicht werden. Termin: 24. Juni bis 1. Juli 2020 Ort: bundesweit Kosten: kostenfrei Anmeldung: Aktionen können per E-Mail angemeldet werden an E-Mail Link: info@claim-allianz.de Weitere Informationen und das Programm auf den Externer Link: Seiten der Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit 25. Juni 2020, online Online-Seminar: After the Attack – Crisis Communication Strategy and the Role of the Media In diesem Online-Seminar geht es um Medienberichterstattung nach Terroranschlägen. Journalist/-innen stehen vor der Frage, wie sie über Anschläge berichten können, ohne dem Wunsch der Terrorist/-innen nach größtmöglicher Aufmerksamkeit nachzukommen. Als Zusatz zu einer westlichen Perspektive werden Beispiele aus Sri Lanka und Nigeria aufgeführt. Das Online-Seminar ist Teil eines umfassenderen Projekts, das vom Internationalen Zentrum für Terrorismusbekämpfung (ICCT) in Den Haag geleitet und vom EU-Devco zum Thema "Abschwächung der Auswirkungen der Medienberichterstattung über Terrorismus" finanziert wird. Termin: 25. Juni 2020, 11:00-12:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; registrierte Teilnehmende erhalten vor der Veranstaltung die Anmeldedaten für das Online-Seminar Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des ICCT 26. Juni 2020, online Online-Seminar: Auftaktveranstaltung des Arbeitskreises "Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus" Welche Ansätze gibt es für die Online-Prävention? Wie können diese Angebote von Multiplikatoren genutzt werden? Und wie setzt sich die aktuelle Projektlandschaft im Bereich der Prävention von religiös begründetem Extremismus online zusammen? Die folgenden Fachleute und Gründungsmitglieder des Arbeitskreises "Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus" stellen aktuelle vor: Duygu Özer und Laura Tischkau, Onlineberatung EMEL und SABIL, Türkische Gemeinde in Deutschland e. V. und Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Sabrina Radhia Behrens und Adrian Stuiber, streetwork@online, AVP e. V. Sebastian Ehlers, Islam-ist, Violence Prevention Network e. V. Fabian Reicher, Jamal al-Khatib und NISA, TURN e. V. Termin: 26. Juni 2020, 16:00-17:30 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Bis zum 24. Juni per E-Mail an E-Mail Link: sabil@tsgh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 30. Juni, online Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien In diesem Online-Seminar lernen die Teilnehmenden Kernmerkmale einer salafistisch geprägten Erziehung kennen. Dabei werden verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren für Kinder in salafistisch geprägten Familien diskutiert. Zudem erlangen die Teilnehmenden ein Basiswissen zu Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung und Resilienz. Abschließend werden verschiedene Übungen zur Resilienzförderung in Schulklassen präsentiert. In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30). Termin: 30. Juni, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Online-Seminar-Reihe" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention Juli 7. Juli, online Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus Das Online-Seminar wird zunächst eine Einführung in das Phänomen türkischer Ultranationalismus bieten. Anhand von Biographien werden typische Wege in die Szene veranschaulicht und mithilfe von Online-Propaganda in Form von Musikvideos wird die Attraktivität ultranationalistischer Gruppen für Jugendliche herausgearbeitet. Abschließend werden in praxisnahen Übungen Handlungsstrategien für die ehren- und hauptamtliche Arbeit erarbeitet. In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30). Termin: 7. Juli, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff „Online-Seminar-Reihe“ und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 7.-8. Juli 2020, online Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Praktische Ansätze der Präventionsarbeit. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 7.-8. Juli 2020, 12:00-19:30 Uhr und 9:00-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 8. Juli, online Online-Vortrag: Verschwörungstheoretische Narrative im Phänomenbereich Türkischer Ultranationalismus Türkische Ultranationalist/-innen erklären alles zum Feind, was ihrer Meinung nach die Türkei von innen oder außen gefährdet. Dabei wird häufig verschwörungstheoretisch argumentiert und unterstellt, ausländische Mächte würden zusammenarbeiten, die Feinde im Inneren der Türkei "steuern" und so den Staat zerstören wollen. Neben solchen Verschwörungsmythen, welche auch in entsprechenden Milieus in Deutschland verbreitet sind, vermittelt Sobitha Balakrishnan von der Fach- und Informationsstelle diyalog im Vortrag auch konkrete Handlungsstrategien für den beruflichen Alltag. PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben. Termin: 8. Juli, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention Interner Link: Zum Anfang der Seite August 12. August 2020, online Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung In diesem Seminar geht es um eine vertiefte Auseinandersetzung mit religiös begründetem Extremismus und Radikalisierungsprozessen. Vermittelt werden die Abgrenzung zwischen der Religion des Islams und der politischen Ideologie des Islamismus sowie zentrale Merkmale gängiger salafistischer Propaganda. Außerdem werden Methoden, pädagogische Ansätze und Fallbeispiele besprochen, um Radikalisierungstendenzen bei Jugendlichen erkennen zu können. Termin: 12. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 17.-19. August 2020, online Online Summer Programme: Preventing, Detecting and Responding to Violent Extremism In einem interaktiven dreitägigen Online-Kurs können sich interessierte Fachkräfte aus dem Bereich Radikalisierungsprävention mit Trends im Bereich Gewalt und Extremismus auseinandersetzen. Neben Vorträgen erhalten die Teilnehmenden die Möglichkeit ihre Ideen und Erfahrungen mit verschiedenen praktischen Ansätzen der Radikalisierungsprävention mit Wissenschaftler/-innen und anderen Teilnehmenden auszutauschen und zu diskutieren. Der Online-Kurs wird organisiert von der Universität Leiden in Kooperation mit dem International Centre for Counter-Terrorism – Den Haag (ICCT). Termin: 17.-19. August 2020 Ort: online Kosten: 495 Euro Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Universität Leiden 18. August 2020, online Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus Das Online-Seminar beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Wie sind Verschwörungsmythen aufgebaut und was macht sie so attraktiv? Welche Elemente verschwörungstheoretischen Glaubens findet man in islamistischen Spektren vor? Und wie kann man damit umgehen, wenn man mit solchen Erzählungen konfrontiert wird? Termin: 18. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 20. August 2020, online Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus Das Online-Seminar der Fach- und Informationsstelle Türkischer Ultranationalismus (diyalog) soll einen ersten Einblick in die Thematik ermöglichen. Neben einem Input wird es die Möglichkeit zu einer Diskussion sowie zum interaktiven Arbeiten geben. Das Angebot richtet sich an Fachkräfte, ehrenamtlich tätige Menschen sowie die interessierte Öffentlichkeit. Diyalog steht unter der Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein – einer landesweit tätigen Migrant/-innenselbstorganisation, die vom Landesdemokratiezentrum Schleswig-Holstein gefördert wird. Termin: 20. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 25. August - 8. September 2020, online Train-the-Trainer: Online-Beratung in Zeiten von Corona Durch Corona sind klassische face-to-face Situationen, zum Beispiel im Bereich Beratung, auf Online-Angebote angewiesen. Welche Herausforderungen und welche Chancen bringt das mit sich? An drei aufeinander aufbauenden Terminen bietet Violence Prevention Network (VPN) im Rahmen des Kompetenznetzwerks "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) eine digitale Fortbildung im Bereich Online-Beratung an. Die Fortbildung richtet sich an angehende und erfahrene Fachkräfte im Bereich der Extremismusprävention und Deradikalisierung, um sie im Umgang mit der neuen Situation zu stärken. Termin: 25. August, 1. September und 8. September 2020, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: sophie.scheuble@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den auf den Externer Link: Seiten von violence-prevention-network.de 26. August 2020, online Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien In diesem Online-Seminar lernen die Teilnehmenden Kernmerkmale einer salafistisch geprägten Erziehung kennen. Dabei werden verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren für Kinder in salafistisch geprägten Familien diskutiert. Zudem erlangen die Teilnehmenden ein Basiswissen zu Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung und Resilienz. Abschließend werden verschiedene Übungen zur Resilienzförderung in Schulklassen präsentiert. Termin: 26. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 26.-27. August 2020, Wolfsburg Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie praktische Ansätze der Präventionsarbeit. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 26.-27. August 2020, 12:00-18:15 Uhr und 9:00-14:30 Uhr Ort:vhs Wolfsburg, Bildungshaus, Hugo-Junkers-Weg 5, 38440 Wolfsburg Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 31. August bis 3. September 2020, Berlin Train-the-Trainer-Fortbildung 2020: Islam, antimuslimischer Rassismus und universelle Islamismusprävention Ziel der Fortbildung von ufuq.de im Rahmen von "Demokratie leben!" ist es, pädagogisch und/oder thematisch bereits „vorgebildete“ Teilnehmende in die Lage zu versetzen, selbst Fortbildungen oder vergleichbare Formate zu konzipieren und durchzuführen, die sich an der Schnittstelle von Jugendarbeit, Pädagogik, politischer Bildung und universeller Prävention mit Fragen im Kontext von Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus auseinandersetzen. Das Seminar richtet sich zum Beispiel an Multiplikatoren aus Verwaltung und Zivilgesellschaft, Betreuende von Referendar/-innen oder Mitarbeitende von Präventionsprojekten. Termin: 31. August bis 3. September 2020 Ort: Berlin Kosten: Die Teilnahme am Seminar ist kostenlos. Reisekosten können nicht erstattet werden. Für Fachkräfte, die im Auftrag ihrer Einrichtungen/Träger/Projekte am Seminar teilnehmen, entstehen zusätzliche Hotelkosten in Höhe von voraussichtlich circa 460 Euro inklusive Frühstück. Anmeldung: Bis spätestens 1. Juni 2020 per E-Mail bei E-Mail Link: Dr. Jochen Müller Weitere Informationen auf Externer Link: den Seiten von ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite September 2. September 2020, online Konzeptwerkstatt: Chancen und Grenzen von Biografieforschung und Typologisierungen Was kann Biografieforschung für die Präventionsarbeit leisten? Wie sinnvoll sind Versuche individuelle Biografien und Radikalisierungsverläufe zu systematisieren oder zu typologisieren? Das Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) lädt zu einer Konzeptwerkstatt zum Thema Biografieforschung ein. Forschungsergebnisse und Erfahrungen aus der Praxis sowie Fragen und Handlungspotenziale, die sich aus der Biografieforschung ergeben, werden gleichermaßen diskutiert. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte im Bereich der Extremismusprävention und Deradikalisierung. Termin: 2. September, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: sophie.scheuble@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von KN:IX 2. September 2020, online Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen In aktuell kursierenden Verschwörungsmythen spielen judenfeindliche Elemente oftmals eine tragende Rolle. Zum Teil wird versucht, solche antisemitischen Stereotypen islamisch zu legitimieren. Im Arbeitsalltag kann Antisemitismus in Form von Mobbing oder rassistisch-religiöser Diskriminierung auftreten. Ziele dieses Online-Seminar sind eine breite Wissensvermittlung zum Thema und die gemeinsame Erarbeitung von Handlungsmöglichkeiten. Termin: 2. September, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 3. September 2020, online Online-Workshop: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention In diesem Online-Workshop gibt Dr. Jens Ostwaldt, Projektleiter der Fachstelle zur Prävention von religiös begründetem Extremismus (PREvent!on), Einsicht in seine Studie zur Bedeutung von islamischen und migrantischen Vereinen in der Extremismusprävention. Nach dem Vortrag werden Fragen beantwortet und es gibt Raum für Diskussion zum Thema. Termin: 3. September 2020, 13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 28. August Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 7. September 2020, online Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie? Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. in Zusammenarbeit mit ARTIKEL1 – Initiative für Menschenwürde e. V. organisiert. Ziel der Veranstaltung ist unter anderem den persönlichen Umgang mit menschen- und demokratiefeindlichen Einstellungen sowie entsprechenden Äußerungen zu verbessern. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 7. September, 9:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 9.-10. September 2020, Berlin Fachtag: Religion verhandeln?! Aushandlungsprozesse im Kontext von Demokratie, Gesellschaft und Bildung Wie werden persönliche, gesellschaftliche und politische Aushandlungsprozesse mit religiös geprägten Lebenswelten erlebt? Wie kann Bildungsarbeit daran anknüpfen? Ufuq veranstaltet im Rahmen des Kompetenznetzwerks "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) in Zusammenarbeit mit minor – Projektkontor für Bildung und Forschung einen Fachtag zum Thema "Religion verhandeln". Er richtet sich an Praktizierende aus der schulischen und außerschulischen Bildungs- und Jugendarbeit sowie Haupt- und Ehrenamtliche aus Gemeinden und dem interreligiösen Dialog. Die Teilnehmenden können sich an zwei Tagen über Bildungsarbeit im Kontext von Grundrechten, Demokratie, Diversität, Polarisierung und religiösem Extremismus austauschen. Termin: 9.-10. September 2020, 15:00-20:00 Uhr und 9:00-18:00 Uhr Ort: Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: goetz.nordbruch@ufuq.de; die Bestätigung, ob eine Teilnahme möglich ist, erfolgt am 14. August. Weitere Informationen auf den Externer Link: von ufuq 10.-11. September 2020, online Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment Hassrede, Propaganda und menschenverachtender Content: Extreme Gruppierungen und Personen kapern zunehmend das Netz, um dort ihre gefährlichen Ideologien vornehmlich an junge Menschen weiterzuverbreiten. Diesen Bestrebungen muss mit einer auf das Netz angepassten Form der Zivilcourage begegnet werden, um sich extremistischen Akteuren gezielt entgegen zu stellen. Das je zweitägige Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung richtet sich an Social Web-Multiplikatoren, Social Media- und Community-Redakteure, Online-Journalisten, YouTube-Community-Manager sowie NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure, die in digitalen Diskursen aktiv sind. Ziel ist es, qualifiziertes Wissen zu Strukturen und Wirkungsweisen des ideologischen Extremismus unter Berücksichtigung praktischer Tools und Strategien im Umgang mit Extremismus im Netz zu erarbeiten. Termin: 10.-11. September 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf Interner Link: bpb.de 11.-12. September 2020, Augsburg Train-the-Trainer-Seminar: Pädagogische Praxis im Umgang mit Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus Ziel der Fortbildung von ufuq.de im Rahmen von "Demokratie leben!" ist es, die Handlungskompetenz bei Fragen und Konflikten im Zusammenhang mit Religion, Tradition und Herkunft sowie religiös begründeter Radikalisierung zu schärfen. Teilnehmende sollen in die Lage versetzt werden religiös begründete Positionen und Verhaltensweisen von Jugendlichen einschätzen zu können sowie die Gefährdung von Jugendlichen rechtzeitig zu erkennen und situationsgerecht darauf zu reagieren. Die Fortbildung ermöglicht es, Aspekte von Kultur, Ethnizität und Nationalismus differenzsensibel von Religion und religiös begründeter Radikalisierung zu unterscheiden. Teilnehmende erhalten Ansätze, um Jugendliche in Identitätsfindungsprozessen in der Migrationsgesellschaft zu stärken und zu fördern. Das Seminar richtet sich zum Beispiel an Fachkräfte und Multiplikatoren aus Schule, Jugendarbeit und Kommunen. Termin: 11.-12. September 2020 Ort: Adresse folgt, Augsburg Kosten: Der Teilnahmebetrag liegt bei 83 Euro pro Person. Bei Teilnehmenden, die über eine private Übernachtungsmöglichkeit verfügen, reduziert sich der Betrag auf 48 Euro (Reisekosten sind nicht inbegriffen). Wenn Teilnehmende das Seminar im Auftrag ihrer Einrichtungen besuchen, tragen diese die Übernachtungskosten im Tagungshotel. Einzelfallregelungen sind möglich. Anmeldung: Per E-Mail an E-Mail Link: bayern@ufuq.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 17. September 2020, Kiel Fachtagung: Islam und Salafismus in der Kinder- und Jugendhilfe Wie geht man richtig mit religiös aufgeladenen Konflikten um? Wie können Kultur und Religion von Extremismus differenziert werden? Warum ist der Salafismus so attraktiv für junge Menschen? PROvention veranstaltet eine Fachtagung, die Akteure aus dem Bereich Kinder- und Jugendhilfe darin unterstützen soll, Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die sie aus der pädagogischen Praxis kennen. Nach einer Begrüßung und einem Vortrag zur Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus, können die Teilnehmenden zwei Vertiefungsvorträge und einen Workshop besuchen. Die Veranstaltung endet mit einem Aussteigerinterview mit Dominic Schmitz. Termin: 17. September 2020, 9:00-17:00 Uhr Ort: DJH Jugendherberge, Johannesstraße 1, 24143 Kiel Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de; es wird darum gebeten, zwei Vertiefungsvoträge und einen Workshop anzugeben Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 17. September 2020, Kiel Online-Veranstaltung: Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit Das im Januar im Rahmen von "Demokratie leben!" gegründete Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit stellt sich vor. Es setzt sich mit aktuellen Erscheinungsformen und Entwicklungen im Kontext von antimuslimischem Rassismus auseinander, bietet Lösungsansätze für die Bildungsarbeit und dient als zentrale Anlauf-, Transfer- und Beratungsstelle für alle Akteure im Themenfeld. Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Franziska Giffey, eröffnet die Veranstaltung. Termin: 17. September 2020, 13:00-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Kompetenznetzwerks 23. September 2020, online Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie? Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. in Zusammenarbeit mit ARTIKEL1 – Initiative für Menschenwürde e. V. organisiert. Ziel der Veranstaltung ist unter anderem den persönlichen Umgang mit menschen- und demokratiefeindlichen Einstellungen sowie entsprechenden Äußerungen zu verbessern. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 23. September, 9:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 28.-29. September 2020, online Online-Jubiläumskongress: 25. Deutscher Präventionstag Unter dem Schwerpunktthema "Smart Prevention – Prävention in der digitalen Welt"veranstaltet der Deutsche Präsentionstag (DPT) seine 25. Auflage. Aufgrund der Corona-Pandemie findet er digital statt. In vier unterschiedlichen Formaten widmet sich der DPT der Prävention in der digitalen Welt. Neben einem bunten und teilweise live stattfindenden Präventions-TV-Programm, zwölf Online-Vorträgen sowie umfangreichem Informationsmaterial gibt es die Möglichkeit sich am ersten Abend im digitalen Begegnungsangebot "DPT-Open House"mit anderen Teilnehmenden auszutauschen. Termin: 28.-29. September Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Deutschen Präventionstags 30. September bis 1. Oktober 2020, Mannheim Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie praktische Ansätze der Präventionsarbeit. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 30.9.-1.10.2020, 12:00-16:45 Uhr und 9:00-15:15 Uhr Ort: Mannheimer Abendakademie und Volkshochschule GmbH, U1 16-19, 68161 Mannheim Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf auf Externer Link: volkshochschule.de 1. Oktober 2020, Berlin Fachaustausch: Sozialraumorientiertes Arbeiten in Berliner Kiezen Im Rahmen einer Fachdiskussion sollen Entwicklungen, Probleme und Bedarfe der sozialraumorientierten Arbeit im Kontext von Radikalisierungstendenzen in den Berliner Kiezen besprochen werden. Dazu lädt das "Interdisziplinäre Wissenschaftliche Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention" des Denkzeit-Gesellschaft e. V. Fachleute ein, um ihre Eindrücke und Erfahrungen miteinander zu teilen. Die Ergebnisse werden Teil einer Handlungsempfehlung für das Berliner Landesprogramm Radikalisierungsprävention. Termin: 1. Oktober 2020, 10:00-14:00 Uhr Ort: Medical School Berlin, Rüdesheimerstraße 50, 14197 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Kompetenznetzwerks 6. Oktober 2020, Berlin Fachaustausch: Schule und Schulsozialarbeit Im Rahmen einer Fachdiskussion sollen Entwicklungen, Probleme und Bedarfe der Sozialarbeit im Kontext von Radikalisierungstendenzen an Berliner Schulen besprochen werden. Dazu lädt das "Interdisziplinäre Wissenschaftliche Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention" des Denkzeit-Gesellschaft e. V. Fachleute ein, um ihre Eindrücke und Erfahrungen miteinander zu teilen. Die Ergebnisse werden Teil einer Handlungsempfehlung für das Berliner Landesprogramm Radikalisierungsprävention . Termin: 6. Oktober 2020, 10:00-14:00 Uhr Ort: comedu, Lützowstraße 88, 10785 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Kompetenznetzwerks 7. Oktober 2020, online Online-Talk: Radikale Höflichkeit – Entschlossen, sachlich und radikal höflich Stellung beziehen gegen Diskriminierung Wie kann es gelingen, sachlich und entschlossen Haltung gegen populistische und diskriminierende Aussagen zu zeigen? Das zeigt die Initiative "Kleiner 5" anhand einer thematischen Einführung und Praxisbeispielen. Im Rahmen des Online-Talks gibt es außerdem Raum für den Austausch von eigenen Erfahrungen. Der Talk ist Teil der Fachgesprächsreihe #yallahtalks von "Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus". Termin: 7. Oktober 2020, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf der Externer Link: Veranstaltungsseite eveeno 7.-8. Oktober 2020, online Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie praktische Ansätze der Präventionsarbeit. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 7.-8. Oktober 2020, 9:30-14:30 Uhr und 9:45-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 30. September Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 13. Oktober 2020, online Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten" Der Deutsche Volkshochschul-Verband bietet eine Online-Schulung für Multiplikatoren zum Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten" an, das in der primären Präventionsarbeit angesiedelt ist. Ziel der Schulung ist es, die Handlungskompetenzen der Teilnehmenden über die unterschiedlichen Aufgaben und Phasen des Planspiels zu stärken. Die Teilnehmenden setzen sich im Rahmen der Schulung unter anderem mit folgenden Fragen auseinander: Was sind Planspiele? Wie unterscheiden sich Online-Planspiele? Wie funktioniert das digitale Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten"? Wie gelingt die Online-Umsetzung? Termin: 13. Oktober 2020, 10:00-15:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 15. Oktober 2020, online Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten" Der Deutsche Volkshochschul-Verband bietet eine Online-Schulung für Multiplikatoren zum Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten" an, das in der primären Präventionsarbeit angesiedelt ist. Ziel der Schulung ist es, die Handlungskompetenzen der Teilnehmenden über die unterschiedlichen Aufgaben und Phasen des Planspiels zu stärken. Die Teilnehmenden setzen sich im Rahmen der Schulung unter anderem mit folgenden Fragen auseinander: Was sind Planspiele? Wie unterscheiden sich Online-Planspiele? Wie funktioniert das digitale Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten"? Wie gelingt die Online-Umsetzung? Termin: 15. Oktober 2020, 10:00-15:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 15.-16. Oktober 2020, online Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment Hassrede, Propaganda und menschenverachtender Content: Extreme Gruppierungen und Personen kapern zunehmend das Netz, um dort ihre gefährlichen Ideologien vornehmlich an junge Menschen weiterzuverbreiten. Diesen Bestrebungen muss mit einer auf das Netz angepassten Form der Zivilcourage begegnet werden, um sich extremistischen Akteuren gezielt entgegen zu stellen. Das je zweitägige Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung richtet sich an Social Web-Multiplikatoren, Social Media- und Community-Redakteure, Online-Journalisten, YouTube-Community-Manager sowie NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure, die in digitalen Diskursen aktiv sind. Ziel ist es, qualifiziertes Wissen zu Strukturen und Wirkungsweisen des ideologischen Extremismus unter Berücksichtigung praktischer Tools und Strategien im Umgang mit Extremismus im Netz zu erarbeiten. Termin: 15.-16. Oktober 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf Interner Link: bpb.de 20.-21. Oktober 2020, online Aufbauschulung: Wer hat 'das letzte Wort' im Netz? – Digitale Lebenswelten mitgestalten Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Der Fokus der Projektarbeit liegt auf der Vermittlung von Methoden der Radikalisierungsprävention. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 20.-21. Oktober 2020, 9:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 21. Oktober 2020, Berlin *** ausgebucht *** Fachtag: Radikalisierung und extremistische Gewalt. Handlungsgrundlagen für Ärzt/-innen und Psychotherapeut/-innen Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können dabei helfen terroristische Gewalttaten zu verhindern, wenn sie Radikalisierungsprozesse rechtzeitig wahrnehmen. Die Fachveranstaltung richtet sich an Angehörige von Heilberufen und soll praktische Handlungsempfehlungen im Umgang mit radikalisierten Patientinnen und Patienten bieten. Ziel ist außerdem eine bessere Vernetzung untereinander. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Projektes "Grundlagenwissen für Heilberufe zur Identifikation von Radikalisierungsprozessen als Risiko für Taten zielgerichteter Gewalt" der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ulm statt, und wird vom BMI und BAMF gefördert. Termin: 21. Oktober 2020, 10:00-16:15 Uhr Ort: Robert-Koch-Platz 7, 10115 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: *** ausgebucht *** Weitere Informationen gibt es auf der Externer Link: Veranstaltungsplattform doo.net 26.-27. Oktober 2020, online Fachtag: Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit? In Wissenschaft und Praxis werden diverse Einflussfaktoren für eine mögliche Radikalisierung erforscht, beobachtet und diskutiert. Die Folgen und möglichen Auswirkungen sozialer Ungleichheit werden dabei bisher nur bedingt in den Blick genommen. Dies zeigt sich auch im aktuell noch jungen Forschungsstand zu diesem Themenkomplex. Mit dem zweitägigen Online-Fachtag "Radikalisierungsfaktor Soziale Ungleichheit?" will die BAG RelEx sich diesem Thema aus verschiedenen Perspektiven anzunähern. Termin: 26.-27. Oktober 2020, 14:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 27. Oktober 2020, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im ersten von vier Modulen geht es um den "Sozialraum Social Media". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Nutzungsverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen Was macht Social Media für Jugendliche und Extremist/-innen so interessant? Wie kommunizieren junge Menschen in den sozialen Netzwerken? Lebenswelt: Was passiert in virtuellen Communities? Termin: 27. Oktober 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 27.-28. Oktober 2020, online Aufbauschulung: Aus der Rolle (ge-)fallen!? – Jugendliche für die geschlechtsspezifische Ansprache durch Extremist/-innen sensibilisieren Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Der Fokus der Projektarbeit liegt auf der Vermittlung von Methoden der Radikalisierungsprävention. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 27.-28. Oktober 2020, 9:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 3. November 2020, online Online-Workshop: JEDI #6 "Laut sein! Aktiv für die Demokratie" Was kann man tun, wenn sich ein Mensch im ehrenamtlichen oder privaten Umfeld radikalisiert? Woran lässt sich das erkennen? Und wie kann man dann reagieren? In einem Online-Workshop mit der Beratungsstelle Prevent werden auf diese Fragen Antworten gesucht. Im zweiten Teil der Veranstaltung gibt es ein Online-Panel mit dem Titel "Aktiv für die Demokratie?". In der Diskussion mit drei Fachleuten geht es darum, wieso Demonstrationen gegen extremistische Gruppierungen weniger Menschen anziehen als zum Beispiel "Fridays for Future" und wie die Demokratie gestärkt werden kann. Termin: 3. November 2020, 16:00-19:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Interner Link: Bundeszentrale für politische Bildung 3. November 2020, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im zweiten von vier Modulen geht es um den "Phänomenbereich Islamismus". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Begriffsklärung: Islam, Islamismus, (Neo)Salafismus und religiös begründeter Extremismus Basics und Facts zum Islam Muslimisches Leben in Deutschland Islamistische Strömungen in Deutschland und ihre Inhalte Termin: 3. November 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 6. November 2020, Dortmund (ggf. online) Fachtag: Fachtag Islam im Kontext Schule An öffentlichen Schulen ist die religiöse, ethnische und kulturelle Pluralität besonders hoch. Schulen haben daher zur Aufgabe, Diskriminierung zu vermeiden, Teilhabe zu fördern und Differenzen im sozialen Status durch Bildungschancen auszugleichen. Der Fachtag möchte Lehrkräften und Schulsozialarbeitenden Impulse liefern, um sie im Umgang mit muslimischen Schüler/-innen in einer diversitätssensiblen Pädagogik zu unterstützen. Neben einem Vortrag am Vormittag gibt es praxisorientierte Workshops zum Thema Islam im Kontext Schule. Der Fachtag wird organisiert vom Multikulturellen Forum e. V. in Kooperation mit der Islamischen Akademie NRW und dem Verband muslimischer Lehrkräfte. Termin: 6. November 2020, 8:45-16:45 Uhr Ort: online Kosten: 15 Euro, ermäßigt 10 Euro Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Multikulturellen Forums e. V. 10. November 2020, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im dritten von vier Modulen geht es um "Online-Radikalisierungsprozesse im islamistischen Kontext". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Wie Algorithmen, Filterblasen und der Echokammer-Effekt Radikalisierungsprozesse begünstigen können Islamismus Digital: Akteure, Themen, Dynamiken und Gefahren Fake News und Propaganda: Wie werden islamistische Inhalte aufbereitet, damit sie für Jugendliche attraktiv sind? Termin: 10. November 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 17. November 2020, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im vierten von vier Modulen geht es um "Online-Prävention und Grundlagen der Praxis". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Online-Prävention: ein Überblick über verschiedene Ansätze Einführung in das Projekt streetwork@online Ansatz, Haltung und Methoden Fallbeispiele mit praktischen Übungen in Kleingruppen Termin: 17. November 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 17. November 2020, online Online-Fachgespräch: Ansätze in der Beratungsarbeit Im Gespräch mit Fachleuten geht es um verschiedene Ansätze in der Beratungs- und Ausstiegsarbeit im Bereich des religiös begründeten Extremismus sowie um Erfahrungen aus der Praxis. Weitere Informationen gibt es in Kürze auf der Website der BAG RelEx. Das Fachgespräch findet im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“, KN:IX, statt. Termin: 17. November 2020, nachmittags Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 18. November 2020, Neumünster Fachtagung: Verurteilung als Anstoß Das Justizprojekt Kick-off veranstaltet in Kooperation mit PROvention einen ganztägigen Fachtag, der sich dem Feld der Prävention und Deradikalisierung im Kontext Justiz widmet. Der Fachtag richtet sich insbesondere an Vollzugsbedienstete, Bewährungs- und Gerichtshelfer/-innen sowie andere Akteure aus Jugend- und Sozialarbeit und Behörden, die mit straffällig gewordenen Personen in und außerhalb der Haft arbeiten. Neben Vorträgen gibt es ein Angebot an Workshops, aus dem die Teilnehmenden wählen können. Ziel des Fachtags sind ein intensiver interdisziplinärer Austausch und die Erweiterung von Handlungsoptionen in der Arbeit mit straffällig gewordenen Personen im Hinblick auf Radikalisierungsprozesse. Termin: 18. November 2020, 8:00-16:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: unter Angabe von Namen und Institution per E-Mail an E-Mail Link: kick-off@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von TGS-H 19. November 2020, online Online-Seminar: Reintegration of Individuals Formerly Associated with Islamist Violent Extremist Groups Im Online-Seminar geht es um die Deradikalisierung und Reintegration ehemaliger Kämpferinnen und Kämpfer extremistischer Gruppen am Beispiel der Länder Deutschland, Nigeria und Niger. Zunächst berichten Pratikerinnen und Praktiker von ihrer Arbeit. Anschließend gibt es eine Diskussion über das Spannungsverhältnis von Menschenrechten und Sicherheitsinteressen in der Reintegrationsarbeit sowie über die Rolle der Zivilgesellschaft dabei. Das Online-Seminar findet im Rahmen des Projekts "Radikalisierungsprävention in NRW – Wie können die Kapazitäten von Intermediären gestärkt werden" des Bonn International Center of Conversion statt. Die Seminarsprache ist Englisch. Termin: 19. November 2020, 14:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: Luisa Gerdsmeyer (E-Mail Link: luisa.gerdsmeyer@bicc.de); Interessierte werden gebeten, bei der Anmeldung einen kurzen Absatz zu ihrem beruflichen Hintergrund und der Arbeit ihrer Organisation zu schicken. Diese Information wird mit den übrigen Teilnehmenden geteilt. Falls Sie einer Weiterverbreitung Ihrer Daten nicht zustimmen, geben Sie dies bei der Anmeldung bitte an. Weitere Informationen über das Projekt "Radikalisierungsprävention in NRW – Wie können die Kapazitäten von Intermediären gestärkt werden" auf den Seiten von Externer Link: Bonn International Center of Conversion 25. November 2020, online Online-Fachtagung: Von Gesundheitsdiktatur bis Gottes Zorn. Setzt Corona der Radikalisierung die Krone auf? Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf Radikalisierung? Wie kann die Gesellschaft an Krisen wachsen? Und wie können wir handlungsfähig bleiben? Am Vormittag gibt es zwei Vorträge, am Nachmittag können die Teilnehmenden sich zwischen vier verschiedenen Workshops entscheiden. Die Fachtagung findet über Zoom statt – in deutscher und französischer Sprache. Termin: 25. November 2020, 9:00-16:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus 25.-26. November 2020, online DVV-Fachaustausch: "EmPOWERment" Wie kann die Stärkung von Fachkräften und Jugendlichen on- und offline gelingen, um extremistischen Haltungen entgegen zu treten? Im Rahmen des DVV-Fachaustausches werden unterschiedliche Ansätze des Empowerments exemplarisch thematisiert. Es werden sowohl die jeweiligen zielgruppenspezifischen Anforderungen als auch die entsprechenden digitalen und analogen Kommunikationsmuster hervorgehoben. Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Sie richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Termin: 25.-26. November 2020, 9:30-17:30 Uhr und 9:30-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 25. November 2020, online Multimediales Event: Extremismus als Herausforderung für Jugend, Pädagogik und Forschung – Reflexionen und Ausblicke Die Arbeits- und Forschungsstelle für Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) am DJI, begeht ihr 20-jähriges Bestehen. In einer Livestream- Podiumsdiskussion sprechen Expertinnen und Experten über "Die Zukunft des politischen Extremismus im Jugendalter". Zudem findet eine Live-Autorenlesung des Journalisten Yassin Musharbash statt sowie spannende Tagungsbeiträge im Video-Format. Termin: 25. November 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail an Renate Schulze (E-Mail Link: schulze@dji.de). Der Link zur Tagungsseite wird zwei Wochen vor dem Event an alle Angemeldeten versendet. 26. November 2020, online Online-Fachtag: Peer-Education in der universellen Islamismusprävention Welche Fach-, Methoden- und Medienkompetenz und welche (strukturellen) Rahmenbedingungen sind erforderlich, um Teamende für ihre Rolle als Peer-Educator zu qualifizieren? Welche Rolle kommt der Reflexion der eigenen Haltung und der jeweils eigenen Privilegien und Wertvorstellungen zu? Worauf sollte bei der inhaltlichen und methodischen Begleitung geachtet und welche Prioritäten sollten dabei gesetzt werden? Der Fachtag bietet Raum für den Austausch über Herausforderungen und Gelingensbedingungen in der Qualifizierung von Teamenden und leistet einen Beitrag zur Entwicklung von Leitlinien der Qualifizierung. Er richtet sich an Projekte der universellen Islamismusprävention, die mit dem Peer-Education Ansatz arbeiten oder arbeiten wollen. ufuq.de veranstaltet den digitalen Fachtag im Rahmen des KN:IX – Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus". Er wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" sowie von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Termin: 26. November 2020, 9:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail bis zum 13. November an E-Mail Link: canan.korucu@ufuq.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 27. November 2020, online Online-Fachtag: PrEval 2020 Der PrEval-Fachtag bringt Fachpraxis, Behörden und Wissenschaft zusammen für einen Austausch über Evaluation und wissenschaftliche Begleitung in der deutschen Extremismus-prävention und der politischen Bildung. Neben Reflexionen zu Zielen, Bedarfen und Ansätzen von Evaluation, präsentiert der PrEval-Verbund Termin: 27. November 2020, 10:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail unter Angabe von Name, institutioneller Anbindung und Email-Adresse bis zum 23.11.2020, 12 Uhr Weitere Informationen auf den Seiten des PrEval auf Externer Link: hfsk.de 27.-28. November 2020, online Online-Workshop: Sozialisationsbedingungen und fehlende Vaterpräsenz als Radikalisierungsfaktoren? Im zweitägigen Online-Workshop geht es um den Einfluss, den Sozialisationsbedingungen und Erziehung auf Kinder und Jugendliche im Kontext von Radikalisierung haben. Außerdem geht es um die Praxis einer Väterarbeit, die jenseits von Zuschreibungen emanzipatorische Geschlechterleitbilder und Resilienz vermittelt. Neben fachlichem Input und Arbeitsphasen gibt es Raum für Diskussion und Austausch. Der Online-Workshop ist Teil der Seminarreihe "Tafkir statt Takfir # Reflexion statt Exklusion" und richtet sich an Beschäftigte und Aktive in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit sowie in Wissenschaft Termin: 27.-28. November 2020, 14:00-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der bpb Dezember 10. Dezember 2020, online Online-Diskussion: Europäische Ansätze bei der Reintegration von Rückkehrenden aus Syrien und Irak Insbesondere Akteure aus Jugend- und Sozialämtern, Justizvollzug und Bewährungshilfe sowie der psychosozialen Grundversorgung spielen eine wichtige Rolle bei der Reintegration von Rückkehrenden aus Syrien und dem Irak. Im Rahmen von zwei Fallstudien aus Deutschland und Belgien wird die Rolle von beteiligten Institutionen diskutiert – insbesondere außerhalb des Sicherheitskontextes. Es wird erörtert, wie diese wirksam(er) eingebunden werden können. Die Diskussion wird veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Termin: 10. Dezember 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich 10. Dezember 2020, online Online-Seminar: Onlineberatung zu religiös begründetem Extremismus – Chancen und Herausforderungen eines "neuen" Beratungsfeldes Wie funktioniert Online-Beratung? Lohnt sich der Aufbau eines Online-Beratungsangebot? Welche Hürden gibt es? Das Online-Seminar bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, nach einer Einführung in die Online-Beratung anhand eines Fallbeispiels Einblick in die Beratungsabläufe zu erhalten und so selbst erste Erfahrungen in dem Feld zu sammeln. Termin: 10. Dezember 2020, 14:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Bis spätestens 4.12.2020 per E-Mail an E-Mail Link: emel@tgd.de. In einer gesonderten E-Mail erhalten Sie die Zugangsdaten. 14. Dezember 2020, online Online-Fachgespräch: Religiös begründeter Extremismus: Zielgruppenerreichung über/und digitale Medien in Zeiten von Corona Im digitalen Fachgespräch wird über folgende Fragen diskutiert: Wie können wir in Zeiten von Corona Zielgruppen erreichen? Welche Vorteile und Herausforderungen bieten die Sozialen Medien dabei? Wie erreichen wir eine Verbesserung der Suchmaschinenoptimierung (SEO)? Drei Expertinnen und Experten vermitteln praktische Einblicke aus ihrer Arbeit: Götz Nordbruch (Externer Link: ufuq e. V.) Adrian Stuiber und Sabrina Behrens (Externer Link: streetwork@online) Jona Hölderle (Externer Link: Pluralog – Online Marketing) Termin: 14. Dezember 2020, 9:30-15:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Bis spätestens 4.12.2020 per E-Mail an E-Mail Link: emel@tgd.de. In einer gesonderten E-Mail erhalten Sie die Zugangsdaten.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-02-06T00:00:00"
"2019-10-25T00:00:00"
"2023-02-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/299407/termin-rueckblick-2020/
Termine aus dem Arbeitsfeld "Radikalisierungsprävention" aus dem Jahr 2020.
[ "Termine", "Islamismus", "Prävention", "Deradikalisierung", "Präventionsarbeit", "Veranstaltungshinweise und Fortbildungen", "Weiterbildung", "Vernetzung" ]
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Die 68er: politische Verirrungen und gesellschaftliche Veränderungen | Die 68er-Bewegung | bpb.de
Rudi Dutschke im April 1968: ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. (© AP) Einleitung Vor kurzem hielt ich als Zeitzeuge einen Vortrag über die 68er vor dem Abiturjahrgang eines Gymnasiums. Die Schüler und Schülerinnen wirkten mäßig interessiert. Für sie war es ein sehr weit zurückliegendes, schwer verständliches Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik, für mich auch nach vierzig Jahren noch immer eine äußerst lebendige und aufregende Zeit. Der politische Kampf gegen den SDS in Berlin einerseits, das Engagement für Reformen an der Hochschule und in der Gesellschaft gegen das verknöcherte Establishment andererseits, dieser Zweifrontenkampf war aufreibend. Im Sommersemester 1964 hatte ich nach drei Jahren Dienst als Zeitsoldat mein Studium am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität begonnen. Dort war die Zahl der Studenten, die sich durch eine Ummeldung nach Berlin als "Drückeberger" dem Wehrdienst entzogen hatten, besonders hoch. Im OSI wurden meine wenigen Freunde vom Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) und ich als "Faschisten" beschimpft, in der CDU dagegen galten wir als linke Revoluzzer. Bewusst zitierte ich vor den Abiturienten aus den damaligen Schriften der SDS-Theoretiker Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, aber schnell bestätigte sich meine Vermutung, dass meine Zuhörer sie nicht verstanden und sich langweilten. Kein Wunder, denn auch damals haben die meisten Studenten sie weder gelesen noch verstanden. Diese komplizierten neomarxistischen Analysen waren nur etwas für Eingeweihte; verstanden haben dagegen viele Studenten den Sinn der SDS-Aktionen gegen den autoritären Uni-Rektor, gegen die Notstandsgesetze, den Springer-Konzern und gegen den Vietnamkrieg. Unterstützung fand der SDS als der politische Kern der APO für seine geschickt ausgewählten Aktionen gegen bestimmte Missstände, aber nicht für sein eigentliches Ziel, die Abschaffung des bestehenden Ordnungssystems in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Im Gegensatz zum SDS war die Außerparlamentarische Opposition (APO) eine thematisch und politisch breit gefächerte Protestbewegung, die weit über den SDS und die Universität hinausreichte und eine liberalere, tolerantere, weniger autoritäre Gesellschaft anstrebte, ohne gleich, wie der SDS, die Systemfrage zu stellen. Es gab damals in der jungen Generation ein tief sitzendes Unbehagen über die Muffigkeit, die Autoritätsgläubigkeit, die spießige Kleinkariertheit und geistige Enge ihrer Familien und ihres Lebensumfeldes. Diesen latent vorhandenen Protest artikulierte und mobilisierte der SDS. Dies führte zu zahlreichen Protestaktionen gegen die etablierten Autoritäten auch in der Provinz. Der "Mief" der 1960er Jahre Ich gab den Schülern folgendes Beispiel: 1965 wohnte ich in Tempelhof, meine Freundin und jetzige Frau dagegen in Dahlem. Wenn ich meine Freundin besuchte, klopfte spätestens um 22 Uhr ihre Wirtin an die Tür und rief: "Herr Schönbohm!" Das bedeutete, ich musste baldmöglichst das Zimmer verlassen, damit sich die Wirtin, wie sie uns entschuldigend erklärt hatte, nicht wegen des Verstoßes gegen den Kuppeleiparagraphen strafbar machte. Ich musste also raus aus dem Bett in die kühle Nacht, um auf dem Motorroller zu meinem Domizil zu fahren. APO-Postkarte: "Make Love not War". Sex und nackte Haut waren ein absolutes gesellschaftliches Tabu und daher eine beliebte Protestform. (© Günter Zint) Das fanden die 18-/19-Jährigen nun interessant, ja geradezu kurios. So war das eben noch vor vierzig Jahren: Kein Damen- oder Herrenbesuch nach 22 Uhr, kein Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten. In Bonn hatte meine Wirtin sogar meiner Sekretärin, die mir als RCDS-Vorsitzendem ein wichtiges Telegramm überbringen wollte, am helllichten Tage den Zutritt zum Haus verweigert. Ich zog sofort wieder aus und trat gegenüber meiner neuen Wirtin gleich zu Beginn als Verheirateter auf, damit meine Freundin bei mir übernachten konnte. Eltern ließen damals den Freund ihrer Tochter selbstverständlich nicht in ihrem Zimmer schlafen, Homosexualität war mit Strafe bedroht, Nacktheit in der Öffentlichkeit oder in den Medien galt als unschicklich, es gab sogar eine entsprechende Kampagne gegen Schmutz und Schund; über Sexualität und sexuelle Aufklärung wurde öffentlich nicht geredet. An der Universität trug ich Jackett, und man sprach seine Studienkollegen mit "Herr Kommilitone" an. Studentische Wohngemeinschaften hatten keine Chance, einen Mietvertrag zu bekommen. Die Geburt eines unehelichen Kindes war eine Schande für die Mutter und deren Familie. Jede Abtreibung - mit Ausnahme der Schwangerschaftsunterbrechung bei medizinischer Indikation - war verboten. Eine Ehescheidung erfolgte nach dem Schuldprinzip. Die kirchliche Trauung zwischen einem Protestanten und einer Katholikin war nur möglich, wenn der Protestant sich schriftlich gegenüber der katholischen Kirche verpflichtete, dass die Kinder katholisch getauft und erzogen würden. Ehefrauen mit Kindern benötigten für ihren künftigen Arbeitgeber die Genehmigung ihres Ehemannes, wenn sie eingestellt werden wollten. Wenn ein Mann eine Verlobung, also ein Eheversprechen, aufhob, musste er seiner früheren Verlobten als Entschädigung ein "Kranzgeld" zahlen. Ich werde nicht vergessen, wie ablehnend ich auf die langen Haare der Beatles reagierte, die ich 1962 zufällig im Starclub in Hamburg gehört und gesehen hatte. Männer mit langen Haaren wie Frauen - einfach lächerlich! Berlin verstand sich damals als Frontstadt im Kalten Krieg gegen die kommunistische Diktatur, als Symbol der Freiheit. Am 1. Mai versammelten sich in den 1960er Jahren noch über 100 000 Berliner vor der Ruine des Reichstages, um gemeinsam mit den Gewerkschaften und allen Parteien ihren Freiheitswillen und ihren Antikommunismus zu bekräftigen. Die Amerikaner wurden verehrt, denn ihnen hatte die Stadt während der Blockade durch die Sowjets ihr Überleben zu verdanken. Auf die Amerikaner ließ der Berliner nichts kommen. Aufgebrachte Berliner Bürger verbrennen die roten Fahnen der Studenten. (© Günter Zint) Kein Wunder also, dass die Berliner auf die antiamerikanischen Demonstrationen, die Stürmung des Amerika-Hauses, die Verhöhnung und Beleidigung von Staatsgästen durch, wie sie fanden, langhaarige, linksextremistische Studenten gereizt und empört reagierten. Der SDS trieb unter Dutschke die Eskalation bewusst durch gezielte Regelverletzungen voran: vom sit-in und teach-in über die Besetzung von Universitätsinstituten bis zur Gewalt gegen Sachen und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die überforderten Beamten und Politiker, die völlig unvorbereitete, überreagierende Polizei trugen das Ihre zur Anheizung der Auseinandersetzungen bei, die mit dem Tod von Benno Ohnesorg im Juni 1967 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten. Die Berliner Springerpresse hat mit ihrer polemischen und simplifizierenden Berichterstattung, die wahrscheinlich die damalige Mehrheitsmeinung der Berliner Bevölkerung wiedergab, sicherlich zur Verschärfung der Konfrontation beigetragen. Wer aber, wie ich, erlebt hat, mit welcher Skrupellosigkeit die SDS-Vertreter die "Charaktermasken" des Systems beleidigten und beschimpften, der wundert sich doch ein wenig über die Empfindlichkeit dieser Revolutionäre gegenüber grobschlächtiger Kritik. Ich habe im Mai 1965 am OSI den ersten Vorlesungsstreik an der FU miterlebt, der vom SDS aus Protest gegen das Kuby-Veranstaltungsverbot des Rektors ausgerufen wurde. Durch die arrogante Selbstgewissheit der SDS-Matadore fühlte ich mich auf dieser Protestversammlung herausgefordert. Meine dort vorgetragene Kritik an dem Begriff und dem Sinn eines "Streiks" - schließlich seien Studenten keine Arbeitnehmer und ein Verzicht auf die Vorlesung schade nicht der Universität, sondern den Studenten, die dort etwas lernen wollten - wurde unter dem donnerndem Beifall der Versammelten als kleinbürgerliche Kritik eines autoritätsgläubigen Lakaien der Professoren abgetan. So begann meine Karriere als "Faschist". Arroganz, Intoleranz und aggressive Feindlichkeit gegenüber Andersdenkenden waren Wesenszüge dieser Bewegung, obwohl sie selbst doch die Intoleranz und Repression des "Systems" kritisierte. Im weiteren Verlauf dieser innerstudentischen Auseinandersetzungen zwischen linken und alternativen 68ern gewann ich den Eindruck, dass die immer schärferen Abwehrreaktionen auf unsere kritischen Einwände darauf zurückzuführen waren, dass die Linke den Verweis auf die Realitäten, auf Vernunft und Augenmaß deshalb so hasste, weil er ihre utopische und rücksichtslose Radikalität offen legte. Aus meiner keineswegs vollständigen Auflistung von Merkmalen der deutschen Gesellschaft in den 1960er Jahren wird deutlich, wie radikal sich die deutsche Gesellschaft inzwischen geändert hat. Nach 1968 wurden Autoritäten und Regeln infrage gestellt, die NS-Vergangenheit nicht mehr tabuisiert, Sex offener diskutiert und praktiziert, denn schließlich gab es Oswalt Kolle und die Pille. Die Emanzipation der Frau wurde zu einem beherrschenden Thema. Unter dem Einfluss paralleler Veränderungen in den USA und in Großbritannien revolutionierten Rock 'n' Roll und Pop die Musik, lange Männerhaare wurden ebenso Mode wie Miniröcke und Schlabberlook, Drogenkonsum entwickelte sich zu einem Dauerproblem. Eine radikale Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems wurde nur in Deutschland durch den SDS angestrebt. Da war nichts von Flower Power zu spüren, aber viel von utopischer Heilsgewissheit und ernsthafter Arbeit für die Revolution. Von seinen eigentlichen systemüberwindenden politischen Zielen hat der SDS kein einziges durchgesetzt. Im Nachhinein kann man den SDS - zugespitzt formuliert - als "nützlichen Idioten" des Systems bezeichnen, denn er hat es nicht, wie angestrebt, beseitigt, sondern gefestigt und wetterfest gemacht. Von einer politischen Neugründung der Bundesrepublik Deutschland durch den SDS oder die APO kann also keine Rede sein, wohl aber von einer Veränderung der Gesellschaft. Die gescheiterte Revolution Meine Generation hat den Aufstieg unseres zerstörten Landes am eigenen Leibe erlebt. Unsere Eltern haben das Land in kurzer Zeit wieder aufgebaut, die Wirtschaft flott gemacht, die Demokratie zum Laufen gebracht. Arbeit, zunehmender Wohlstand und soziale Sicherheit waren in den 1960er Jahren für beinahe jeden in erstaunlichem Umfang garantiert. Die Bundesrepublik Deutschland war in das westliche Staatensystem politisch und wirtschaftlich integriert. Die europäische Einigung machte sichtliche Fortschritte. Jeder in meiner Generation wird sich auf seine Weise daran erinnern, wie es in seiner Familie aufwärts ging, das erste Auto angeschafft, der erste Urlaub in Italien möglich wurde - und wie es praktisch unmöglich war, mit dem Vater zum Beispiel in Ruhe über den Nationalsozialismus zu sprechen, wobei wir es den Vätern auch schwer gemacht haben, weil wir als besserwisserische Ankläger aufgetreten sind. Nicht alle APO-Aktivisten waren auch mit den Ideen des SDS einverstanden. Berliner Demonstranten am 1. Mai 1968. (© AP) Am Ende der 1960er Jahre herrschte in meiner Generation das weit verbreitete Gefühl vor, die materielle Not sei beseitigt und es gehe jetzt darum, sich den immateriellen Defiziten einer erstarrten Gesellschaft jenseits von Wohlstand, Ordnung und Tradition zuzuwenden. Mitbestimmung in den Unternehmen, Familienpolitik, Reform des Bildungssystems, des Sexualstrafrechts und des Eherechts, die Liberalisierung des Rechtsstaates, Entspannungs- und neue Ostpolitik - diese Reformthemen kamen in den 1970er Jahren auf die Tagesordnung der Politik. Die politischen Ziele des SDS basierten auf einer neomarxistischen Analyse des spätkapitalistischen Systems, das sie auf Grund seiner Irrationalität und Inhumanität in der Krise sahen. Durch Manipulation, Repression und Konsumterror würden die Massen unmündig gehalten und seien daher für eine sozialistische Umgestaltung des Systems nicht ansprechbar. Nur die Intellektuellen, zu denen sich natürlich auch die Studenten zählten, seien in der Lage, die Manipulation zu durchschauen, die Massen aufzuklären und gegen das System zu mobilisieren. Durch die Provokation der Reaktionäre, durch die illegale und im Notfall auch gewaltsame Durchbrechung der ehernen Spielregeln des Systems, müsse in harten Auseinandersetzungen dessen repressiver Gewaltcharakter offen gelegt und das richtige Bewusstsein für den notwendigen Kampf geschaffen werden. Die Unterstützung der revolutionären Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt und deren endgültiger Sieg werde die sozialistische Revolution in die Metropolen der Industrieländer tragen. Parlament, Regierung und Parteien seien nur noch die Fassade zur Verschleierung der Realität des autoritären, präfaschistischen Staates, der im Auftrag des Großkapitals die Massen manipuliere und den Klassenkampf unmöglich mache. Die Klassenjustiz sei das wichtigste Instrument des Großkapitals, um die einzig wahre Opposition, nämlich die demokratisch-sozialistischen Kräfte, zu unterdrücken. Dieser Totalverriss des Systems durch den SDS, diese unversöhnliche, prinzipielle Ablehnung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands, ja des gesamten Westens, demonstriert seine realitätsblinde, fanatische Ideologie, mit der kein Kompromiss möglich war, die durch keine Reform zufrieden gestellt werden konnte. Gesellschaftlicher Pluralismus, die Garantie der Grund- und Menschenrechte, Rechtsstaat, parlamentarisch-repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung und Soziale Marktwirtschaft, die ich als Politologe am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität als große politische Errungenschaften verinnerlicht hatte, wurden von den SDS-Utopisten verachtet und als zu beseitigende Hürden auf dem Weg zur wahrhaft humanen, sozialistischen Gesellschaft bekämpft. Die anti-demokratische Zielsetzung des SDS war von Beginn an offensichtlich, aber kaum jemand hat damals die schon früh vorgetragenen Warnungen ernst genommen. Auch die Medien nicht, denn sie gaben größtenteils das revolutionäre Pathos, die pauschalen Verurteilungen und spektakulären Aktionen unkritisch wieder, denn das waren außergewöhnliche Ereignisse und fernsehgerechte Bilder. Die wenigen Studenten, die die systemüberwindenden Ziele dieses Rebellionsversuches bekämpften und auf deren Folgen hinwiesen, wurden von den Medien souverän ignoriert. Rudi Dutschke im April 1968: ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. (© AP) Für die hohe Aufmerksamkeit und das Ansehen von APO und SDS war nach meiner Einschätzung Rudi Dutschke besonders wichtig. Obwohl er im SDS nie ein wichtiges Amt innehatte, wurde er ab 1966 zunehmend zur zentralen Figur der studentischen Rebellion, denn er war die treibende Kraft für alle zu der Zeit in Berlin stattfindenden Demonstrationen, Aktionen und Kongresse gegen die Notstandsgesetze, gegen den Schah-Besuch und den Vietnamkrieg. Dutschke vertrat die Überzeugung, dass durch gezielte, durchaus illegale Provokationen des Establishments und dessen Reaktionen darauf der unterdrückerische Charakter des Systems verdeutlicht werde, was zu einer Bewusstseinsänderung der Massen führe und dann ihre Mobilisierung ermögliche. Wenn Dutschke sprach, wurde es immer still im Auditorium, und jeder seiner Diskussionsbeiträge dauerte mindestens eine halbe Stunde. Er wirkte wie ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. Ich habe ihn häufiger erlebt und auf dem Podium mit ihm gestritten. Ich gestehe offen, dass er der einzige mir sympathische Linke war. Er machte den Eindruck eines ehrlichen Idealisten, der an der Welt litt und der glaubte, sie mit seinem Konzept retten zu können, ja zu müssen. Sein Charisma, seine Leidenschaft und bezwingende Rhetorik faszinierten die Studenten, auch wenn sie seine häufig sehr verschlungenen theoretischen Ausführungen nicht vollständig verstanden. Er war ein freundlicher, bescheidener, glaubwürdig wirkender junger Mann. In mancher Hinsicht war er auf rührende Art altmodisch oder gar kleinbürgerlich: Er trug keine langen Haare und Parka, dafür aber eine Baskenmütze und hatte immer seine Aktentasche mit Büchern dabei. Er war ein disziplinierter Arbeiter an und mit Texten. In der Zeit freier Liebe heiratete er und bekam einen Sohn, den er nicht in die sozialistische Kinderkrippe gab, sondern zusammen mit seiner Frau aufzog. Ich weiß, dass ihm von einigen meiner früheren RCDS-Kollegen vorgeworfen wird, er habe die Gewalt befürwortet. Habermas hat ihm als Reaktion auf seine voluntaristischen Thesen auf dem Kongress in Hannover 1967 "linken Faschismus" unterstellt. In jedem Fall hat er in seinen theoretischen Schriften die gezielte, illegale Provokation und Eskalation befürwortet und diese auch praktiziert. Damit hat er die Verletzung von Menschen einkalkuliert. Von ihm stammt auch das erste Stadtguerilla-Konzept. Trotzdem war er nie an einer gezielten Gewaltaktion beteiligt. Dutschke hielt den Tyrannenmord und die gewaltsamen revolutionären Bewegungen in den Ländern der Dritten Welt für legitim, verurteilte aber eindeutig die Morde der späteren RAF als individuellen Terror. Als Horst Mahler ihn später in London besuchte, um ihn für den bewaffneten Kampf zu gewinnen, lehnte er ab. Illegale Regelverletzungen und Gewalt gegen Sachen erschienen ihm notwendig, aber Gewalt gegen Menschen verurteilte er als Pazifist und Sozialist als inhuman. Einen persönlichen, von ihm ausgeführten Gewaltakt gegen eine Person konnte ich mir, trotz seiner ambivalenten Haltung zur Gewalt in seinen theoretischen Schriften, bei ihm nicht vorstellen, auch wenn sich die Trennung von Gewalt gegen Sachen und Personen sehr bald als völlig unrealistisch erwies. Rudi Dutschke ist am 11. April 1968 in Berlin von einem verwirrten Attentäter niedergeschossen und schwer verletzt worden. Davon hat er sich nie wieder richtig erholt. Schon 1969 zerfiel ohnehin der ideologische Kern der APO in zahlreiche kommunistische, maoistische und trotzkistische Kleingruppen, der SDS löste sich 1970 selbst auf, die APO war am Ende, der RAF-Terror begann. Es gibt zahllose Artikel, Pamphlete und Bücher aus der SDS- und APO-Szene, die die zwangsläufigen Defizite des spätkapitalistischen Systems in allen Details beschreiben und über den richtigen Weg und die richtige Methode zur Beseitigung des verhassten Systems streiten. Dagegen gibt es praktisch keine Veröffentlichung, die die nahe liegende Frage beantwortet, wodurch denn das bestehende, nicht reformfähige System ersetzt werden sollte. Klar ist nur, dass Dutschke das kommunistische Herrschaftsmodell nach dem Vorbild der Sowjetunion als undemokratisch ablehnte. Wenn man versucht, die Bruchstücke eines sozialistischen, humanen und freiheitlichen Modells als Alternative zum bestehenden zusammenzufassen, ergibt sich folgendes Bild: Gemeineigentum und demokratische Planwirtschaft, überschaubare und direktdemokratisch bestimmte Kommunen und Räte sind die entscheidenden Strukturelemente einer neuen Gesellschaft, in der die Ausbeutung und Vereinsamung des Menschen, die Trennung von Produktionsstätte und Lebensmilieu aufgehoben sind und die Herrschaft von Menschen über Menschen auf ein Mindestmaß reduziert ist. Dieser Traum von einer utopischen Gesellschaft war sehr schnell, nämlich schon nach gut drei Jahren, ausgeträumt. Trotz zahlloser Demonstrationen, einiger harter Straßenschlachten mit der Polizei und hoher Medienresonanz: All die bekämpften Prinzipien, Strukturen und Institutionen der Demokratie, des Rechtsstaates und der Wirtschaft gelten und existieren noch. Sie sind nicht untergegangen, sondern haben sich durch Reformen verbessert, sie wurden liberaler und weniger autoritär. Politische Folgen von 1968 Durch die ernüchternde Erfahrung, dass in Deutschland keine revolutionäre Situation bestand und keine Revolution möglich war, begann zu Beginn der 1970er Jahre der Zerfall des SDS in die verschiedenen sektiererischen Splittergruppen, die sich untereinander spinnefeind waren und bis aufs Messer bekämpften. Die Entstehung der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) aus Teilen der studentischen Protestbewegung ist ohne diese nicht denkbar. Deshalb hat diese ziel- und sinnlose Mordorganisation, die den Rechtsstaat auf eine harte Probe stellte, auch noch so lange und so häufig Unterstützung durch frühere APO-Anhänger erfahren, die sich zur Solidarität verpflichtet fühlten, auch wenn sie die RAF ablehnten. "Die Grünen" wurden politisch stark von der APO beeinflusst. Mit Eintritt in den Bundestag wurde aus der außerparlamentarischen eine parlamentarische Opposition. (© AP ) Die Entstehung zahlreicher Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen zu ganz verschiedenen Einzelthemen sind auch eine Folge der Öffnung und Politisierung der Gesellschaft nach 1968, in der die Bürger sich mitverantwortlich fühlen für deren Entwicklung. Sie entdeckten eigene Ziele und Projekte und versuchten, sie häufig im Gegensatz zu den Planungen staatlicher und kommunaler Behörden durchzusetzen. Dies betraf insbesondere das neue Thema Umweltschutz, welches dann von der neu gegründeten Partei "Die Grünen" aufgegriffen und zu einem politischen Gesamtkonzept kondensiert wurde. Die Grünen beschlossen auf ihrem Gründungsparteitag, dass ökologisch, basisdemokratisch, sozial und gewaltfrei ihre tragenden politischen Prinzipien seien. Diese Partei wurde politisch wesentlich durch die APO beeinflusst, weshalb sich auch viele ihrer früheren Aktivisten und die ehemaligen Mitglieder der radikal-sozialisischen Splittergruppen der Nach-APO-Zeit dort wiederfanden. Das Prinzip "ökologisch" war neu und wurde bald das politische Markenzeichen der Grünen, "sozial" war dagegen eine politische Pflichtübung und entwickelte bei ihnen keine besondere Wirksamkeit. Das Prinzip "basisdemokratisch" wurde direkt von der APO übernommen, die immer eine räte-, also direktdemokratische Willensbildung befürwortet hatte. Die Gewaltfreiheit - eigentlich für jede Partei eine nicht erwähnungsbedürftige programmatische Selbstverständlichkeit - wurde jedoch in bewusster Abgrenzung zu APO, SDS und RAF hervorgehoben. Auch die vom SDS erfolgreich angewandte Organisation von themenzentrierten, sprachlich zugespitzten politischen Kampagnen übernahm die grüne Partei; zum Beispiel bei Themen wie Volkszählung, Atomenergie, Atommüllentsorgung, NATO-Doppelbeschluss. Die anti-amerikanische Grundeinstellung der APO sowie die pazifistische der Friedensbewegung übernahm sie ebenfalls. Die Kinder der 68er wurden Teil der Revolte. Fragen der Erziehung und Debatten um Autorität wurden besonders in Deutschland geführt. (© Günter Zint) Für die APO waren die imperialistischen USA das Feindbild Nummer 1, die revolutionären Befreiungsbewegungen der Dritten Welt dagegen ihr großes Vorbild. Che Guevara, Ho Chi Minh, Castro und Mao galten bei ihnen als Freiheitskämpfer, die sie bei Demonstrationen beinahe wie Heiligenfiguren vor sich her trugen, denn diese Helden kämpften, wie sie, gegen den Imperialismus und für die sozialistische Freiheit. Die "antiautoritäre Bewegung", die alle offiziellen Repräsentanten und Autoritäten im Westen verabscheute, hatte ihre eigenen Autoritäten gefunden, denen sie bedingungslos glaubte und unkritisch folgte. Sieht man von Che Guevara ab, zeigt die Verehrung all dieser rücksichtslosen und brutalen Diktatoren, mit welch wirklichkeitsblinder Nonchalance über Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen wurde, wenn der Diktator sich antikapitalistisch, sozialistisch und antiamerikanisch gebärdete. Die Kommilitonen in den osteuropäischen, kommunistischen Staaten haben ihren SDS-Genossen damals zu Recht bittere Vorwürfe gemacht, dass sie 1968 keinen flammenden Protest organisiert haben gegen die brutale militärische Niederschlagung des Prager Versuchs, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen. Der Protest gegen den Vietnamkrieg der USA war wichtiger. Ein politisch wichtiges Ziel war für SDS und APO die radikale Umgestaltung des Bildungssystems. Eine neue Gesellschaft könne langfristig nur aufgebaut werden mit neuen, sich ihrer selbst bewussten Menschen, die sich der umfassenden Manipulation und Repression durch das System entzögen. Deshalb sei eine antiautoritäre, repressionsfreie Erziehung in Kindergarten, Schule, Familie und Hochschule so wichtig. Durch den Leistungsterror werde an den Schulen und Hochschulen der angepasste, autoritätsgläubige Fachidiot herangezüchtet, der im Sinne des Systems widerstandslos funktioniere. Deshalb sah es der SDS als seine wichtigste Aufgabe an, innerhalb des Bildungssystems die Autorität der Lehrer und Professoren infrage zu stellen, sie lächerlich zu machen und die Leistungsanforderungen und -kontrollen abzubauen. Mit der Reduzierung der Leistungsanforderungen im Bildungssystem ist die APO sehr weit gekommen. Die Aufgeschlossenheit einiger Länderregierungen gegenüber derartigen Ideen und die Verbeamtung ehemaliger 68er als Lehrer und Hochschullehrer beförderten diesen Prozess. Aber für beinahe noch schwerwiegender als die Senkung der Leistungsanforderungen halte ich die Folgen der antiautoritären Erziehung für die Kinder und Jugendlichen. Dieses Erziehungskonzept wurde Ende der 1960er Jahre konsequent angewandt in den neu gegründeten Berliner Kinderläden. Jede Erziehung der Kinder zu Ordnung, Gehorsam, Rücksichtnahme und Gemeinschaftsgefühl war verpönt, weil man von der Annahme ausging, dass sich Kinder selbst am besten erziehen würden und daher jede Art von Vorgabe, Zwang oder gar Strafe schädlich sei. Bekanntlich ist dieses Konzept gescheitert, und viele der Kinder, die dieser Nichterziehung unterworfen waren, gehören zu den Opfern dieser Verirrungen. Die Frage, welche Folgen der Aufstand gegen die Gesellschaft und der Rückzug in die eigene Welt der extremistischen Gruppen, des Terrorismus, der Hausbesetzer, der Autonomen, der Drogenabhängigen für die betroffenen Personen selbst gehabt hat, wäre eine eigene Untersuchung wert. Die Wirkungen der antiautoritären Erziehung auf die Kinder und Jugendlichen thematisiere ich deshalb, weil sie dazu geführt haben, dass ihnen von Seiten der verunsicherten Eltern und Lehrer gar keine oder nur noch wenige Grenzen aufgezeigt wurden. In Bezug auf Kleidung, Sex, Benehmen, Pünktlichkeit, Selbstdisziplin, Rücksichtnahme, Leistungswillen und Anerkennung von Autoritäten wurde von meiner Generation sicherlich zu viel, wurde aber von der nachfolgenden eher zu wenig verlangt. Rudi Dutschke im April 1968: ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. (© AP) APO-Postkarte: "Make Love not War". Sex und nackte Haut waren ein absolutes gesellschaftliches Tabu und daher eine beliebte Protestform. (© Günter Zint) Aufgebrachte Berliner Bürger verbrennen die roten Fahnen der Studenten. (© Günter Zint) Nicht alle APO-Aktivisten waren auch mit den Ideen des SDS einverstanden. Berliner Demonstranten am 1. Mai 1968. (© AP) Rudi Dutschke im April 1968: ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. (© AP) "Die Grünen" wurden politisch stark von der APO beeinflusst. Mit Eintritt in den Bundestag wurde aus der außerparlamentarischen eine parlamentarische Opposition. (© AP ) Die Kinder der 68er wurden Teil der Revolte. Fragen der Erziehung und Debatten um Autorität wurden besonders in Deutschland geführt. (© Günter Zint) Quellen / Literatur Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 14-15/2008) Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 14-15/2008)
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Wulf Schönbohm
"2022-01-06T00:00:00"
"2012-01-08T00:00:00"
"2022-01-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/68er-bewegung/52017/die-68er-politische-verirrungen-und-gesellschaftliche-veraenderungen/
Auch die Fehler und Versäumnisse der 68er-Bewegung müssen benannt werden, wie die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, die antiautoritäre Erziehung sowie das Nicht-Aufbegehren gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings.
[ "68er", "Bewegung", "Rebellion", "Gesellschaft", "Transformation" ]
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Digitale Medien in der Schule? Selbstverständlich! | Open Educational Resources – OER | bpb.de
Den Unterricht komplett umkrempeln – das hat sich die Oskar-von-Miller-Schule in Kassel vor sieben Jahren vorgenommen und bis heute umgesetzt. Die Schüler arbeiten jetzt mit großer Selbständigkeit und hoher Output-Orientierung. Digitale Lernumgebungen, digitale Materialien und selbsterstellte, digitale Ergebnisse sind selbstverständliche Grundlagen des neuen Lernens geworden. Der Lehrer Dietmar Johlen und die Schülerin Charis Pape erklären im #pb21-Podcast mit Jöran Muuß-Merholz das, was man früher "Unterricht" nannte. An der Oskar-von-Miller-Schule, einer Berufsbildenden Schule in Kassel, begann der Umbruch 2005. Der Unterricht sollte grundlegend so verändert werden, dass die Schüler selbstständig lernen und dabei individuell unterstützt werden. "Wir bauen den Unterricht so lange um, bis genau das für unsere Schülerinnen und Schüler möglich wird." beschreibt Dietmar Johlen die damalige Stimmung im Kollegium. Johlen war bis 2012 Abteilungsleiter in Kassel. Das Lernschrittkonzept Digitale Medien sind heute zwar selbstverständlicher Teil des Unterrichts, aber am Anfang stand die Didaktik. Das von den hessischen Machern "Lernschrittkonzept" getaufte Konzept verspricht den "Weg in eine neue Lehr- und Lernkultur" (Externer Link: die Konzeption als pdf-Broschüre). Die Medien kamen dann im zweiten Schritt hinzu, um die Umsetzung der Ziele zu unterstützen. Dietmar Johlen und die Schülerin Charis Pape, die an der Oskar-von-Miller-Schule eine zweijährige Ausbildung in der Informationstechnik absolviert, erklären den Wochenrhythmus an ihrer Schule: In jeder Woche beschäftigen die Schüler sich mit einem Schwerpunktthema. Am Montagmorgen recherchieren sie dazu. Einerseits stellen die Lehrer im Lernmanagementsystem (LMS) Materialien, Checklisten und Aufgabenvorschläge zur Verfügung (die Schule nutzt Externer Link: Moodle als LMS). Die Schüler dürfen und sollen aber auch frei nach interessanten Themenaspekten forschen, die sie im Laufe der Woche vertiefen möchten. An die Sichtung der Materialien schließt die Lernschrittplanung an. In ihrem digitalen Portfolio (hier wird Externer Link: Mahara genutzt) planen die Schüler ihre Lernziele, die angestrebten Lernwege und mögliche Ergebnisse. Im Verlauf der Woche können sich die Schüler ganz auf ihre Arbeiten konzentrieren. Die Recherche und Aufbereitung der Inhalte ist dabei nur eine Hälfte des Lernweges. Jeder Schüler muss zu den bearbeiteten Inhalten selbst Wissensprodukte erstellen, z.B. eine Website, ein Podcast, ein Video oder andere, in der Regel digitale Werke. Der Unterricht ist weder durch einzelne Unterrichtsstunden noch bestimmte Pausenzeiten vorstrukturiert. Zum Abschluss der Woche bespricht jeder Schüler mit seinem Lehrer die erarbeiteten Materialien. Moodle und Mahara Moodle und Mahara sind die zentralen Plattformen der Oskar-von-Miller-Schule. Moodle wird von den Lehrkräften gemeinsam als Team verwaltet. Das heißt: für jeden Themenbereich gibt es nur einen Moodle-Raum (und nicht etwa einen pro Lehrkraft). Dies fordere und fördere den Teamgeist der Lehrkräfte, aber auch die Qualität der Materialien, berichtet Dietmar Johlen. Die Materialien werden dabei in der Regel nur verlinkt. Es wird auf Textquellen im Internet verwiesen, auf Videos, Mindmaps oder andere Quellen. Die Vernetzung mache die Aktualisierung der Materialien einfach. Es müssen keine Dokumente offline angepasst und erneut hochgeladen werden. Alle wird direkt im jeweiligen Online-Dienst bearbeitet. Auch traditionelle Schulbücher können Teil der Materialien sein. Insbesondere wird außerdem Wert darauf gelegt, dass die Lizenzen der Materialien klar sind. Die meisten Unterlagen dürfen im Sinne von OER weiterverwendet werden. Über Lizenzen machen sich an der Oskar-von-Miller-Schule nicht nur die Lehrer Gedanken. Die Schüler erstellen im Verlauf ihrer Arbeitswoche viele Materialien und können selbst entscheiden, ob sie diese für Mitschüler oder noch mehr Menschen unter einer freien Lizenz zur Verfügung stellen. Die Schüler organisieren dies mit der Portfolio-Software Mahara. Diese macht das Teilen von Materialien, aber auch das Durchsuchen der Unterlagen von Mitschülern einfach. Schüler bearbeiten so nicht nur ihr Wochenthema und erstellen ihre eigenen Produkte. Die Plattform unterstützt sie dabei, sich mit Lizenzfragen und Urheberrechten auseinanderzusetzen, sie hilft beim Austausch mit Mitschülern aus anderen Klassen und bietet gleichzeitig eine Dokumentation des gesamten Kompetenzerwerbs jeden einzelnen Schülers. Die Schüler führen in Mahara durchgehend ihr Bewertungsportfolio, das auch Grundlage der wöchentlichen Fachgespräche ist. Außerdem können zusätzliche Bewerbungsportfolios angelegt werden. Hier können Bewerbungsunterlagen und Arbeitsproben auf einfache Weise z.B. mit potenziellen Arbeitgebern geteilt werden. "Wende im Kopf" Dietmar Johlen weiß, dass die Veränderung der Unterrichtskultur nicht leicht ist. "Das ist eine Wende, die im Kopf passieren muss." Dazu brauche es viel Kommunikation. Die neuen Regeln und Rituale werden auch weiterhin zwischen allen Beteiligten an der Schule verhandelt. Für die Seite der Lehrer lässt sich aber sagen, dass sich der Weg lohnt. Es mache Spaß sich als Lehrer seinen Schülern ganz individuell widmen und Inputs auf Nachfrage von Schülern vorbereiten zu können. Charis Pape ist übrigens der Meinung, das der Einsatz digitaler Medien in der Schule nur dann scheitert, wenn diese zu wenig genutzt werden. Sie kennt ihre Vorteile beim selbstständigen Lernen: "Nur Selbstmachen führt dazu, dass ich die Dinge wirklich verstehe."
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-11T00:00:00"
"2016-03-07T00:00:00"
"2022-01-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/222490/digitale-medien-in-der-schule-selbstverstaendlich/
Podcast mit einem Lehrer und einer Schülerin der Kasseler Oskar-von-Miller-Schule, in der seit 2005 verstärkt mit digitalen Medien und OER gearbeitet wird.
[ "OER", "Open Educational Resources", "freie Bildungsmaterialien" ]
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Visionen im Disput | Presse | bpb.de
(Es gilt das gesprochene Wort) "I can't get no education...." lautet die Überschrift unserer Diskussion. Das Motto ist - wenn ich es richtig deute - eine Mischung aus "I can't get no satisfaction" – von den Rolling Stones aus dem Jahr 1967 und "We don't need no education" - von Pink Floyd aus "The Wall" von 1979: Aussagen, die nach 22 und 34 Jahren inzwischen älter sind als diejenigen, über die als "Jugend" verhandelt wird. Dieses Motto ist meines Erachtens aus zwei Gründen nicht besonders glaubwürdig, um die gegenwärtige Situation der Bildung zu beschreiben: Zum einen ist die Abwehr der Zumutung, erzogen zu werden, ein "grundlegendes Element des Erwachsenenwerdens" (Albert Scherr) und damit eine zeitlos durchgehende Haltung der Jugendzeit. Diese Haltung entspricht meines Erachtens mehr der Einstellung von Jugendlichen, als der Wunsch, erzogen zu werden, wie es das eingangs zitierte Motto suggeriert. Diese Haltung scheint übrigens auch die Erinnerung an Pink Floyd lebendig zu halten, wie eine jüngst erschienene CD mit einer Live-Einspielung von "The Wall" in der Ergster Turnhalle durch eine Band der Ökumenischen Jugend Villigst belegt. Zum zweiten: Nie konnte man so viel Bildung kriegen wie heute. Im Gegenteil, der Zwang und die Zumutung lebenslang und lebenslänglich zu lernen, greift um sich. Ist das Motto allerdings als Frage nach einer "zukunftsfähigen" Bildung und Bildungspolitik gemeint, stimmt es durchaus. Hierzu einige kurze Überlegungen und Thesen: Eine längst überfällige Frage Die Frage nach einer "zukunftsfähigen" Bildung und Bildungspolitik ist lange überfällig. Mit zunehmender Globalisierung, mit dem Prozess der europäischen Einigung, mit der Weiterentwicklung und Umstrukturierung der demokratischen, ökonomischen und sozialstaatlichen Grundlagen, mit der sich verändernden ökonomischen und politischen Sicht auf Zukunftsfragen tauchen nicht nur etliche schwerwiegende und ungelöste Probleme im öffentlichen Bewusstsein auf. Es werden auch zentrale Fragen ins Licht gerückt, bei denen es nicht mehr darum geht, Altes zu erhalten, sondern die eine offene Gestaltung der Zukunft fordern. Nach dem Zukunftspessimismus der 80er Jahre vor dem Hintergrund von Ökokrisen, Problem- und Katastrophenszenarios, dem Einigungstaumel der 90iger, bei dem die deutsch-deutschen Probleme wichtiger waren als alles andere, ist jetzt bei der Frage, wie Zukunft gestaltet werden kann - aktiv und positiv - wieder die Jugend gefragt. Jugendliche, auch Kinder, werden wieder zum Thema Nummer eins derjenigen, die bislang bestimmten, wo es lang geht. Positiv gesehen haben sie endlich eingesehen, dass diejenigen, die es angeht, mitreden sollten. Negativ gesehen belasten sie die nächsten Generationen mit ihrer Hilflosigkeit. Der Politikverdruss Und sie wundern sich, dass die Jungen sich dabei nicht an die alten Spielregeln halten. Dass sie die Ideologien und Wertorientierungen der politischen Debatte nicht interessieren. Dass Jugendliche "mit dem Begriff Politik eine Landschaft von Parteien, Gremien und politischen Ritualien verbinden, der sie wenig Vertrauen entgegenbringen" (Arthur Fischer, Mitautor der Shell-Jugendstudie 2000) und dass sie die "ritualisierte Betriebsamkeit von Politikern als wenig relevant und ohne Bezug zum wirklichen Leben" (Fischer) empfinden. Daraus den Schluss zu ziehen, "die Jugend" - die es, wie wir wissen, ohnehin nicht gibt - bräuchte nur wieder die "richtige" Bildung und Erziehung, ist falsch und ohne Perspektive. Eine solche Einstellung verkennt die gesamtgesellschaftlichen Bewegungen, verkennt, dass Jugendliche mit ihren Suchbewegungen, Lebensexperimenten, ihrer Selbstsozialisation und auch ihrer Selbstbildung längst "in der Zukunft angekommen sind", wie die Shell-Studie vermerkt. Pluralität pur Der Prozess der Individualisierung der Gesellschaft bedeutet auch die Differenzierung von Wissen und Meinungen, die Erosion von traditionellen Strukturen und Milieus und die Auflösung eines - wie auch immer hergestellten - gesellschaftlichen Konsenses. Wir steuern auf "Pluralität pur" zu. Die drückt sich aber nicht mehr nur in einer Ausdifferenzierung von Lebensentwürfen, in unterschiedlichen Sozialformen oder im Widerstreit von Gruppeninteressen aus. "Pluralität pur" stellt grundsätzlich alles zur Disposition. Werteverfall ist das Stichwort der einen, Liberalisierung oder Deregulierung das der anderen - je nach geistiger Herkunft oder Diskussionszusammenhang. Davor mag man erschrecken, weil nun - man sieht es an der Debatte um die Gentechnik - Dinge verhandelt werden, die man nicht zur Diskussion stellen möchte. Weil Gewissheiten in Frage gestellt werden, Sachlogik gegen Sachlogik steht, Entscheidungen abverlangt werden. Politiker, Kirchen und auch Pädagogen befürchten ein Befragen ihrer "theoretisch-normativen Grundlagen" (Peter Massing), auf denen sie zu argumentieren und arbeiten gewohnt sind. Seien dies der Rechtsstaat, ethische Grundsätze oder das Ziel einer demokratischen Erziehung. Nun sind die Zweifel an bisherigen Gewissheiten, die sich mit zunehmender Individualisierung häufen und subjektiv erfahren werden, keineswegs nur subjektiver Art, sondern objektive Probleme, die bisher weitgehend strukturell - durch gesellschaftliche Institutionen wie Parteien, Ehe, Generationenvertrag zum Beispiel - geregelt waren. Sie mögen als Probleme der persönlichen Lebensentscheidung, der einzelnen Wissenschaft oder der je aktuellen Bildungspolitik erscheinen. In Wahrheit sind sie aber Ausdruck der Notwendigkeit, neue Formen der Entscheidungsfindung und Problemlösung zu finden, die jenseits traditioneller institutioneller Vorentscheidungen liegen. Diese Erkenntnis setzt sich durch. Ich bleibe bei der Gentechnik. Als vor drei Jahren in der Bundeszentrale für politische Bildung der Plan diskutiert wurde, ein Buch zur Gentechnik aus dem Blickwinkel politischer Bildung zu machen, musste noch darum gestritten werden, ob dieses Thema überhaupt in unsere Zuständigkeit fällt. Zu Unrecht, wie man längst weiss. (Übrigens: Das Buch wurde von der BpB herausgegeben.) Denn in der aktuellen Gentechnik-Debatte wird deutlich, dass es sich dabei keineswegs um einen nur wissenschaftlichen Streit handelt. Auch nicht nur um die Frage der Reichweite von gesetzlichen Regelungen oder der gesellschaftlichen Grundordnung, sondern dass damit direkt Fragen des Zusammenspiels von persönlicher Freiheit und Lebensplanung mit gesellschaftlichen Entscheidungen berührt sind. Die Debatte zeigt, dass viele Menschen unmittelbar betroffen sind und dass sie ebenso als Experten in dieser Debatte gelten müssen wie Wissenschaftler und Politiker. Schwierig wird die gesellschaftliche und politische Situation meines Erachtens erst dadurch, dass sich die mit breiter gesellschaftlicher Beteiligung zu behandelnden Zukunftsfragen mehren, zugleich aber etablierte Einrichtungen und Verfahren der demokratischen Ordnung nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern auch an Wirksamkeit verlieren. Zu sehen ist das auch an der Einrichtung des Ethikrats. Die Einrichtung des Ethikrates ist bereits ein Reflex auf das erkannte Unvermögen, solche Entscheidungen allein an parlamentarische Verfahren zu binden. Neue Anforderungen Alles dies ist keine neue Erkenntnis. Wo Gewissheiten, Autoritäten und Instanzen an Deutungsmacht und Akzeptanz verlieren, wird auf lange Sicht auch Entscheidungsmacht substantiell unterhöhlt. Sie ist nur begrenzt durch Formen und Symbole aufrecht zu erhalten. Ins Praktische übersetzt heißt das: Mag die Politik ruhig Entscheidungen treffen - wo sie dies ohne Akzeptanz der Wählerinnen und Wähler tut, verweigern die irgendwann ihre Zustimmung. Und da alle Teil des Systems sind, Regierung wie Opposition, wird dann gar nicht mehr gewählt. Diese "hochpolitische Politikverweigerung" (Ulrich Beck) betrifft ja schon lange nicht mehr nur die Jugend. Angesichts der dramatisch geringen Wahlbeteiligung dürfte sich Tony Blair als kluger und vorausschauender Politiker über seinen Wahlsieg nur bedingt gefreut haben. Damit ist eine große demokratische Aufgabe umrissen: Die Erkenntnis muss Platz greifen, dass grundlegende strukturelle Veränderungen notwendig sind, um neue Entscheidungs- und Partizipationsformen zu ermöglichen. Statt über das mangelnde Engagement von Bürgerinnen und Bürger zu klagen, sollte deutlich werden, dass Engagement- und Partizipationsmöglichkeiten zunächst neu geschaffen werden müssen. Und zwar auf allen Ebenen, ob in Parteien, Vereinen, im Stadtteil, in der Schule oder am Arbeitsplatz. Solche Möglichkeiten gibt es noch nicht in ausreichender Weise. Sie müssen erst noch "von unten" erstritten werden. Für die Bundeszentrale für politische Bildung ist dies jedenfalls ein kardinaler Ansatzpunkt. Herausforderungen Das alles hätte man schon früher wissen können. Die UNESCO wusste es spätestens 1992 mit der Rio-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung. Im dort verabschiedeten Schlussdokument ging es nur indirekt um Klimaprobleme oder Müll. Die "Agenda 21" und das darin postulierte Prinzip der Nachhaltigkeit von Zukunftsentscheidungen ist vielmehr ein Forderungskatalog an die Zivilgesellschaft: 1) Zukunftsgerechte Lösungen gibt es nicht "von oben". Auch wenn man sich innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin, eines politischen Lagers, zwischen den Generationen darum streitet: Recht zu haben hat niemand gepachtet. Nach diesem Modell hat eine Sache mindestens drei Seiten: eine ökonomische, eine ökologische und eine sozial-kulturelle. Und nur wenn die in Einklang zu bringen sind, kann von einer "nachhaltigen Entwicklung" gesprochen werden - schwere Zeiten für Missionare, Experten und Blockdenker. Demokratie ist eben in diesem Sinne eine diskursive, eine partnerschaftliche Angelegenheit. 2) Nachhaltige Entwicklung ist nicht von oben zu verordnen. Sollen Entscheidungen tragfähig sein, sollen sie praktisch umgesetzt werden, müssen sie breite Akzeptanz finden, von möglichst vielen getragen werden. Das werden sie nur, wenn möglichst viele daran mitgewirkt haben. Sowohl aus dem Blickwinkel eines steigenden Individualismus als auch aus dem einer erstarkenden Zivilgesellschaft ist jede und jeder dort gefragt, wo es um die eigenen Lebensbedingungen geht. Für sein Leben und seine Bedürfnisse ist jeder Experte. Das aber, so heißt es auch in der Agenda 21 klar und deutlich, ist nicht einfach zu haben. Das verlangt von jeder Gruppe, jedem Individuum ein hohes Maß an Kompetenzen, um "mitreden" zu können: Man braucht ein Problembewusstsein, muss Informationen einholen, Wissen organisieren, Komplexität reduzieren, vorausschauend denken, verschiedene Möglichkeiten einbeziehen, sich eine Meinung bilden - über ein Problem reflektieren können. Man muss interdisziplinär arbeiten können, Entscheidungs-Dilemmata aushalten können, Kompromisse ertragen, sich verständigen und einigen können. Man muss Bezüge herstellen können, über den Tellerrand gucken, kooperieren, vernetzen, planen können. Man muss abstrahieren können von eigenen Bedürfnissen, die Wirkung auf andere erkennen und - solidarisch sein können. Man muss sich und andere immer wieder motivieren können, auch wenn es schwierig ist und wird. Man muss Ideen haben können, spinnen, kreativ und mutig sein, entscheidungsfreudig, und fehlerfreundlich. Man muss gestalten können. Kurz: Man benötigt "Gestaltungskompetenz" (Gerd de Haan). Wissensgesellschaft Diese Reihe von Anforderungen - die sicher nicht vollständig ist - entspricht im Übrigen in den Grundzügen dem, was Bildungsexperten als adäquate Ausstattung für die sogenannte Wissensgesellschaft ansehen. Es wird nicht darum gehen, so prognostizieren sie, Wissen anzuhäufen, sich darüber zu streiten, welches Wissen das richtige und welches das falsche ist, nicht darum, unentwegt zu lernen und zu verlernen. Es geht darum, langfristiges Wissen von flüchtigem, nützliches von unnötigem, gesichertes von spekulativem, interessegeleitetes von polyperspektivischem, disziplinäres von interdisziplinärem, Expertenwissen von allgemein zugänglichem, veraltetes von neuwertigem, handlungsleitendes von theoretisch-modellhaftem zu unterscheiden. Es wird darauf ankommen, zu strukturieren, auszuwählen, zu verbinden, zu vergleichen, in Relation zu setzen. Um ein ganz altes, vergessenes Wort der emanzipatorischen Erziehungswissenschaft zu verwenden: Es gilt, Kritikfähigkeit zu schulen, bedeutetet doch Kritik = Krinein (griech.) "unterscheiden". Kerncurriculum Stichwort ‚Kerncurriculum‘ - ist das eine Vision? Oder gar eine Utopie? Gestaltungskompetenz hat man nicht einfach so. Man muss sie erlangen, einüben, braucht dafür Voraussetzungen und Bedingungen. Und darum bezeichnet die Agenda 21 Bildung als Schlüssel für die gemeinsame Lösung der Zukunftsprobleme. Bildung, nicht Information, auch nicht Wissen, auch nicht Bewusstsein oder guten Willen - Bildung als Oberbegriff, der verschiedene Qualitäten und Kompetenzen erfasst. Diese Kompetenzen sind ganz unterschiedlich zu erlangen, in verschiedenen Bildungszusammenhängen, mit verschiedenen Zugängen, Inhalten und Methoden. Das ist eine Art Kerncurriculum. Dieses ist nicht einseitig ökonomisch, politisch oder sozial bestimmt. Es kennzeichnet das "Handwerkszeug", das Erwachsene wie nachkommende Generationen benötigen, um selbst zu bestimmen, wo es lang gehen soll. Es ist nicht normativ außer darin, dass Entscheidungen abgewogen sein müssen und nicht einseitig die eine Generation über die nächste, die Verwaltung über die Bürger, die Wissenschaft über die Politik, die Politik über den Umweltschutz oder die westlichen Industrieländer über die sog. "Dritte Welt" bestimmen. Um es mit einem neudeutschen Wort zu belegen: "Cross-Over" ist angesagt. Die Jugend ist schon angekommen So oder so ist die Jugend schon angekommen - irgendwie. Ob in der Verweigerung etablierter Bildungsinstitutionen, in der Verballhornung traditioneller Symbole, in der Enthaltsamkeit bei Vereinen und Wahlen oder in der Euphorie über digitale Welten - die Suchbewegungen und Lebensexperimente der jungen Menschen sprechen Bände über mögliche Alternativen. Problemlos ist offensichtlich das "Cross-Over" von Lebenswelten, Einstellungen und Interessen: Pfadfinderinnen, die HipHop Fans sind, Computerfreaks, die helfen, den Schulgarten anzulegen oder die Jugendliche inländisch-ausländischer Herkunft, die Polizist werden wollen. Herausforderungen ermöglichen Jugendliche lieben Herausforderungen. Noch mehr lieben sie es, sie "gewinnbringend" zu meistern. Dabei passt es derzeit ins System, wenn sie dies tatsächlich ökonomisch "umsetzen". Der Begriff des "Unternehmergeistes" hat auch in die bildungspolitische Debatte Einkehr gehalten. Die Akteure der "New Economy" gerieren sich wie Gründerpioniere des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Geschichten von 19-jährigen Schülern, die nebenher eine Softwarefirma mit Angestelltenzahlen in zweistelliger Höhe und Millionenumsätzen betreiben, geistern durch die Medien und begeistern diejenigen, die diese Kids als Beispiel einer Elite und als Vorbilder sehen. Ich behaupte dagegen: Ob jemand mit 17 eine Softwarefirma gründet oder einer Jugendmesse vom Bungeeturm springt, signalisiert strukturell das Selbe: Herausforderung, eigenes Erleben, Risiko. Kriegt man das im Netz? "Jedem Einzelnen wird in Zukunft abverlangt, in unternehmerischer Freiheit und Verantwortung zu entscheiden, ob er Altes aufgibt und Neues aufnimmt. Dieser neue Typus von Lebens- und Wissensunternehmern investiert nicht nur neue Kenntnisse und Kompetenzen, sondern auch und vor allem in sich selbst. Kapitalisierung seiner Arbeitskraft, seines Wissens und Vermögens," schrieb Daniel Dettling - noch keine 30 - im Tagesspiegel vom 6.Juni. Und pries den scheinbar mühelosen Erwerb von Informationen, Wissen und Zugangschancen durch das Internet: "Im Gegensatz zum Frontalunterricht bietet das Internet eine individualisierbare Lernarbeit. Jeder lernt, so schnell er kann. Digitale Medien ermöglichen es jedem, seinen eigenen Weg zum Lernen zu finden." Ist das wirklich so? Wir müssen aufpassen, dass das, was wirtschaftlich erwünscht ist, nicht zur Maßgabe jugendlicher Lebensgestaltung gemacht wird, indem es die berechtigten Bedürfnisse und Potentiale Jugendlicher aufnimmt und durch Medien und Jugendkultur zur Norm erhebt. Die Vorstellung, man könne allein, aber kreativ und selbstbewusst vor der Kiste sitzen und "nur das lernen, was interessiert und etwas bringt" suggeriert, dass diese Lernkultur voraussetzungslos zu haben sei und stellt schnell all diejenigen ins Abseits, die das nicht schaffen. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen - ich halte den Zugang zu den digitalen Technologien für eine wesentliche Voraussetzung, gleiche Bildungschancen für möglichst viele zu schaffen. Aber so, wie die Bibliothek allein noch keinen klug und der Fernseher niemanden dumm macht, werden Computer und Internet so nützlich und schädlich sein, wie man damit umgeht. Das aber will gelernt sein. Durch die flächendeckende Ausstattung mit PCs in Bildungseinrichtungen und Schulen wird das Problem nicht gelöst. Die wichtigen Investitionen kommen erst danach. Damit sind nicht die Investitionen in die technische Fortbildung des Lehrpersonals gemeint, die sicherlich auch erheblich sein müssen. Was wir brauchen, ist mehr Wissen über die persönlichen Voraussetzungen für ein Lernen mit Neuen Medien. Wir brauchen mehr Wissen über die Lernerfolge und über notwendige pädagogische Unterstützung. Die Vorstellung, mit dem technischen Zugang könne man nun jedem Einzelnen die Verantwortung für seine Bildung auflasten - möglichst lebenslang -, individualisiert und privatisiert soziale und wirtschaftliche Probleme und entlastet nur scheinbar Politik und Gesellschaft von ihrer Verpflichtung zur Steuerung und Problembewältigung. Auch hier kommt es wieder auf Partnerschaften an oder auf Interaktion, um in der Sprache der Neuen Medien zu bleiben. Der Empfänger der Wissensangebote muss eben auch selber als Sender ins Spiel kommen. Eine Vision, die Berthold Brecht schon in den 30er Jahren entwickelte. Bildungsaufgabe Gegen ein "Curriculum des Ertragenlernens" (Bernhard Koring) setze ich ein Curriculum der Gestaltungskompetenzen. Und dafür liegt der tatsächliche Lernbedarf noch vor uns allen. Vor allem auch vor den Pädagogen und vor den politischen Bildnern. Diese müssen nun nicht mehr die Jugendlichen "da abholen, wo sie stehen" - wie ein altes Sozialpädagogenwort meint- , um sie dann "dorthin zu bringen, wo sie nicht sein wollen" - wie die sarkastische Fortsetzung lautet -, sondern sie müssen, um im Bild zu bleiben, gemeinsam gehen. Politische Jugendbildung Politische Bildung hat das inzwischen in weiten Teilen begriffen - notgedrungen. Denn in der außerschulischen Bildung wird mit den Füßen abgestimmt. Sind die Angebote nicht attraktiv, kommt keiner. Will man, dass jemand kommt, muss man wissen, was interessiert. So einfach ist das. Dabei ist der Trend eindeutig: Weg von dauerhaften Bindungen in Organisationen und Parteien, weg von langfristigen Grundsatzdiskussionen, hin zu punktuellen Aktivitäten und Aktionen und lebensweltlichen, akuten Anliegen. Bildungseinrichtungen machen sich zu Anlaufstätten, die man nutzen kann für eigene Interessen und Aktivitäten, je nachdem, wie man es gerade braucht. Konkret, lebensweltorientiert und kleinschrittig, ambulant, temporär, abnehmerorientiert, gemeinwesenbezogen und in hohem Maß von der Selbsttätigkeit der Beteiligten abhängig sind die Angebote. Rein kognitive und rein erfahrungsorientierte Ansätze verfehlen die Komplexität. Geboten ist eine Kombination aus Wissen, Erfahrung und persönlicher Begegnung. Politische Bildner haben auch verstanden, dass Entgrenzung angesagt ist. Löste bisher mal das Primat der Praxis das Primat der Experten ab, gelten jetzt Verschränkung, Austausch und Verständigung als Meilensteine. Dazu gehört auch eine Entgrenzung der Disziplin. Politische Bildung ist auch soziale, berufliche, kulturelle oder ökologische Bildung. Dabei ist eine neue Kultur der Zusammenarbeit zu entdecken: Bildungsstätten werden Koordinierungsorte für kommunale Agendaprozesse, Schulen zur Beratungsinstanz eines Stadtteils, Jugendtreffs zu Schmieden jugendlicher Unternehmen. Visionen Die konkreten Visionen sollten diejenigen haben, die sie noch leben können und müssen. Das beste, was wir tun können, ist, ihnen zu helfen, Visionen entwickeln zu können, und dieses fair, solidarisch und friedlich zu tun. "Teachers - leave us kids alone" - so geht der Song von Pink Floyd weiter. Bloß nicht! möchte man heute einwerfen. Unterstützen, ermöglichen, zeigen, sich reiben - aber dann allein lassen. Im besten pädagogischen Sinne sich überflüssig machen und als gleichberechtigte Partner neu begegnen. Das ist übrigens auch heute noch viel schwieriger, als zu sagen, wo es lang gehen soll. Und das ist keine Spezialaufgabe von und für Pädagogen. Das ist ein Gesellschaftsprojekt. Aber keines, vor dem man kapitulieren und in alte Muster zurückfallen sollte. Es gibt noch genug zu tun, bevor man sagen könnte, man sei mit einem solchen Projekt gescheitert.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51231/visionen-im-disput/
"I can´t get no education" - Visionen im Disput. Zu diesem Thema hielt Thomas Krüger am 15. Juni 2001 auf dem 29. Evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main einen Vortrag. Er war Teil der Reihe "I can´t get no education. Bildung für das 21. Jahrhu
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Conclusion and future challenges | Brazil | bpb.de
The fact that it is the two biggest national economies, the USA and Japan, that profit most from the brain drain from Brazil is regarded by critics as an unmistakeable indication of the reversal of the development process. In addition, the mass exodus of the highly educated middle classes began just at the moment when the new democracy was constituted after the long period of military dictatorship. Brazil's wish to develop and not to lose pace with the three major, economically booming and emerging countries of Russia, India and China is dependent on numerous factors. It will depend not least upon whether the country succeeds in counteracting the increasing lack of a broad base of well-educated specialists. Over and above economic stability, which offers jobs and opportunities for advancement, education and health reforms, the protection of human rights and a reduction in small-scale crime are decisive factors in prompting potential emigrants to use their training in Brazil. The qualified and entrepreneurial foreign workers needed for economic development will only be attracted to the country in greater numbers if the existing bureaucratic obstacles are removed and the reform of the Aliens Act, so often striven for in vain, is implemented. According to a study carried out by the Brazilian business school, Fundação Dom Cabral, more than two thirds of the companies surveyed are planning to increase the number of foreigners they employ in the next five years. This concerns migrants from the Mercosur member states as well as those from other countries. The present administration is endeavouring to extend trade within Mercosur and with other neighbouring countries. Progress in this regard has been achieved since 2002 with the help of an active foreign policy. However, it will only be possible to achieve this goal on a permanent basis if sensible regulations are agreed upon for the growing number of circular and labour migrants. Here the numerous undocumented migrants who move about in the border areas of the Mercosur member states, living at times in precarious living conditions, form an important starting point. As the strongest economic power in Latin America, Brazil also bears responsibility for the protection of the African and especially the Columbian refugees currently pouring into the country. Whether or not it is perceived as an economically and socially competent country depends not little upon whether there is a reasonable response in the near future to the tens of thousands fleeing from civil warlike conditions in the neighbouring country. See Sindicato Mercosur (2006): Externer Link: http://www.sindicatomercosul.com.br/noticia02.asp?noticia=33033 (as at 18.06.2008).
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Sabina Stelzig
"2022-01-18T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2022-01-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/58271/conclusion-and-future-challenges/
For Brazil it is particularly painful that the best educated leave the country. The fact that it is the two biggest national economies, the USA and Japan, that profit most from the brain drain from Brazil is regarded by critics as an unmistakeable in
[ "Brasilien", "Brazil", "Migration", "immigration", "Emigration" ]
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Freie Zeit im Alter als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe? | Sozialpolitik | bpb.de
Strukturwandel des Alters Die nachberufliche und nachfamiliäre Lebensphase in der bundesdeutschen Gesellschaft verändert sich auf eine bislang unbekannte Weise. Während "Alte" bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine soziale Minorität darstellten und als Gruppe gesellschaftlich weitgehend unbedeutend blieben , konstituierte sich durch die strukturellen Veränderungen der Organisation von Arbeit, insbesondere der Lohnarbeit, sowie die Einführung sozialer Sicherungssysteme und der Zunahme des Lebensalters erst in den letzten 50 bis 60 Jahren die immer größer werdende soziale Gruppe der Älteren . Unter sozialstruktureller Perspektive ist "Alter" dabei auf Grund der "Institutionalisierung des Lebenslaufs" und der damit verbundenen Chronologisierung und Dreiteilung des Lebenslaufs vor allem durch das sozial geregelte Ausscheiden aus Erwerbszusammenhängen charakterisiert, unabhängig von Merkmalen der Erwerbsfähigkeit. In den letzten Jahrzehnten ist in nahezu allen Industrieländern ein einschneidender "Strukturwandel des Alters" zu verzeichnen, der durch "Verjüngung", "Entberuflichung", "Feminisierung", "Singularisierung" und "Hochaltrigkeit" gekennzeichnet ist . Besonderen Einfluss auf die zeitliche Ausweitung der Altersphase üben nach wie vor die Veränderungen in der Arbeitswelt aus. So ist seit den siebziger Jahren die Erwerbsquote der älteren männlichen Arbeitnehmer konstant rückläufig . Auffällig ist dabei der drastische Rückgang der Erwerbsbeteiligung bei Männern im Alter von 60 bis 65 Jahren , aber auch in der Gruppe der 55- bis 60-Jährigen sanken in den alten Bundesländern die Erwerbsquoten von 89,1 Prozent im Jahr 1970 auf 78 Prozent 1996 . Ebenfalls rückläufig ist die Erwerbsbeteiligung von Männern über 65 Jahre. Nur wenige planen über ihr Renteneintrittsalter hinaus eine Erwerbstätigkeit. Nach neueren Studien liegt die Erwerbstätigkeit bei den unter 70-Jährigen bei unter 7,1 Prozent, bei den 70- bis 85-Jährigen bei 2,9 Prozent . Die Erwerbsquote älterer Frauen entwickelt sich als Folge der vermehrten Teilnahme am Erwerbsleben im mittleren Lebensalter gegenläufig. Sie stieg in den alten Bundesländern von 37,2 Prozent 1970 auf 48,8 Prozent 1996. Der Übergang in den Ruhestand konzentriert sich eindeutiger auf das 60. Lebensjahr, während er bei den Männern in der Altersspanne von 57 bis 65 Jahren erfolgt . Zwar kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht von einem Gültigkeitsverlust der männlichen Normalbiographie gesprochen werden, aber durch die faktische Verkürzung der Lebensarbeitszeit erhält die Erwerbsarbeit im Lebenslauf ein anderes Gewicht. Die einst "normale" Altersgrenze ist zum äußersten Arbeitslimit geworden, aber auch die Gefahr frühzeitigen unfreiwilligen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben steigt - so bilden ältere Arbeitnehmer ab 45 Jahren in der Gruppe der Langzeitarbeitslosen mittlerweile eine Zweidrittel-Mehrheit . Die "Freisetzung des Alters in der Arbeitswelt" ist dabei vor allem Folge betrieblicher Personalstrategien, die weniger Leistungsproblemen Älterer geschuldet sind, sondern vielmehr Resultat zumeist völlig altersneutraler betriebswirtschaftlicher Anlässe . Als bedeutsam erweist sich dabei der Trend zur Frühverrentung, der durch die unterschiedlichsten Ablösungsstrategien älterer Arbeitnehmer ihre faktisch eintretende Arbeitslosigkeit kaschieren hilft. Zwar begrüßen viele Betroffene Regelungen, die ihnen einen frühzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben ermöglichen , aber sowohl individuell als auch gesellschaftlich wirkt sich der Frühverrentungstrend ambivalent aus. Beispielsweise begleiten differente materielle Absicherungen die unterschiedlichen Frühverrentungsformen und tragen damit auch zur sozialen Ungleichheit im Alter bei . Unter sozialstruktureller Perspektive hat die Verkürzung der Lebensarbeitszeit eine gravierende Konsequenz - immer mehr Menschen scheiden zu einem immer früheren Zeitpunkt aus dem Erwerbsleben aus, ohne sich "alt" zu fühlen. Viele Ältere sind nicht mehr erwerbstätig, aber durchaus noch erwerbsfähig, und mit zunehmend besseren gesundheitlichen, materiellen und Bildungsressourcen ausgestattet. Auch auf Grund der gestiegenen Lebenserwartung kann die nachberufliche Lebensphase bis zu 25 Jahre und länger dauern. Die Selbstzuschreibung "Alt" erfolgt zumeist erst ab dem 70. bis 75. Lebensjahr und damit weit nach dem Eintritt in den Ruhestand . Dieses Auseinanderklaffen von "sozialem" und "biologischem" Alter hat eine zunehmende Differenzierung des Alters zur Folge. So wird bereits vom "dritten" und "vierten" Lebensalter gesprochen bzw. von "Jungsenioren, Senioren und Hochaltrigen" . Während Letztere dabei vor allem unter der Perspektive wachsender Hilfs- und Pflegebedürftigkeit öffentliche Aufmerksamkeit finden, richtet sich das öffentliche Interesse an den "jungen", "fitten" "Alten" zunehmend auf ihre Kompetenzen und Ressourcen. In der gerontologischen Diskussion ist dabei ein Perspektivwechsel zu verzeichnen. Lange Zeit stand die Frage der individuellen Bewältigung des Übergangs in den Ruhestand und des damit in arbeitszentrierten Gesellschaften verbundenen Verlustes an sozialer Integration, Anerkennung und Partizipationsmöglichkeiten im Vordergrund. Insbesondere im männlichen Lebenslauf galt die Erwerbsaufgabe als kritisches Lebensereignis, zu dessen Bewältigung gesellschaftliche Unterstützung vonnöten sei. Kritisch hinterfragt wurde in diesem Zusammenhang die empirisch nie eindeutig belegte Theorie des notwendigen "Disengagements" Älterer, d. h. der Annahme, dass der Rückzug Älterer aus sozialen Rollen der Erwerbs- und Familienarbeit eine individuell wie gesellschaftlich funktional notwendige Vorbereitung auf den Tod sei . Statt dessen wurde aus der Perspektive der "Aktivitätstheorie" betont, dass "erfolgreiches Alter(n)" im Sinne (weitgehend) selbständigen, gesunden und befriedigenden Alter(n)s durch körperliche, aber auch soziale Betätigung positiv beeinflusst werde und dementsprechend die Rolleneinbußen im Ruhestand durch neue Aktivitäten kompensiert werden sollten. Angesichts der kürzer werdenden Lebensarbeitszeiten, der kontinuierlich steigenden Zahl Älterer und der damit verbundenen zunehmenden Belastung der sozialen Sicherungssysteme wird in den letzten Jahren jedoch verstärkt die Frage aufgeworfen, ob es sich eine Gesellschaft überhaupt noch leisten kann, die vorhandenen Zeit- und Kompetenzressourcen Älterer ungenutzt zu lassen . Damit entwickelt nicht nur "Aktivität", sondern zunehmend auch "Produktivität" einen normativen Charakter für die Gestaltung des Alters bis hin zu Überlegungen, die vor allem auf die - dann allerdings unentgeltliche - Wiederverpflichtung Älterer abzielen . Vor allem im Hinblick auf den steigenden Hilfe- und Pflegebedarf bei Hochaltrigkeit erscheinen Modelle in der Form "Ältere helfen Älteren" wünschenswert und förderungswürdig; in der derzeit boomenden Ehrenamtsdiskussion werden Ältere als eine der vorrangigen Zielgruppen identifiziert. In Vergessenheit geraten im Zuge dieser Debatten die (bereits langjährig ausgeübten) familiären Pflegeleistungen Älterer gegenüber ihren hochaltrigen Eltern. Sie scheinen im breiten Spektrum der inter- und intragenerationellen Hilfeleistungen Älterer ein nach wie vor stabiler Faktor zu sein. Obgleich auch die "Alltagsaushilfen" zwischen den Generationen im Zuge der Individualisierung einem Wandel unterliegen, praktizieren gerade die älteren Generationen familiäre Solidarität zugunsten der erwachsenen Kinder und deren Familien durch nennenswerte finanzielle Unterstützungsleistungen wie auch durch die faktische Ausübung von "Großeltern-Diensten" zugunsten der Enkelkinder und ihrer Eltern . So erstaunt angesichts der geleisteten Beiträge Älterer zur Generationensolidarität, dass bei den hier vorgestellten Forderungen in ihrer Argumentationsweise vielfach die Anerkennung von bereits ausgeübten sozialen Aktivitäten sowie der Tatbestand unterschiedlicher Lebenslagevoraussetzungen für aktives wie produktives Alter(n) nicht ausreichend berücksichtigt werden. Wie die folgenden Ausführungen zeigen, ist Zeit auch im Alter eine Ressource, die nicht nur entpflichtete - freie - Zeitanteile enthält. Zeitverwendung im Alter Wie viel freie Zeit haben Ältere und wie verbringen sie diese? Die Sonderauswertung der Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 1991/92 zur Zeitverwendung Älterer kommt zu dem Ergebnis, dass ältere Menschen zwischen 60 und 64 Jahren durchschnittlich 19 Stunden des Tages zu Hause verbringen, über 70-Jährige 20,5 Stunden. Dies ist gegenüber der Altersgruppe der 35- bis 44-Jährigen ein Mehr von knapp vier Stunden. Ältere Männer sind dabei etwas weniger häuslich als ältere Frauen . Im Hinblick auf die generelle Zeitverteilung ist festzuhalten, dass mit zunehmendem Alter erwartungsgemäß mehr Zeit für Freizeitaktivitäten und Regeneration verwendet wird. So steigen die Zeitanteile für Freizeitaktivitäten bei den über 60-Jährigen Männern auf 6 bis 7 Stunden und bei den Frauen auf knapp 6 Stunden an. Parallel hierzu findet sich aber auch ein nicht unerheblicher zeitlicher Aufwand für "unbezahlte Arbeit" im Sinne von hauswirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten, ehrenamtlichem Engagement und Kinderbetreuung . Bei Männern über 60 erfolgt eine Ausweitung "unbezahlter Arbeit" gegenüber den mittleren Altersklassen um 1 Stunden auf 4 Stunden täglich. Bei den Frauen liegt auf Grund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung das Budget für unbezahlte (Haus-) Arbeit mit 5 bis 6 Stunden täglich in allen Altersgruppen höher und weist nur geringe altersspezifische Steigerungsraten auf. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Tätigkeitsspektrum unbezahlter Arbeit zeigen sich bis ins hohe Alter - während verheiratete ältere Männer sich mehr mit Pflanzen- und Tierpflege sowie handwerklichen Tätigkeiten beschäftigen, entfallen bei älteren Frauen fast vier Stunden täglich allein auf hauswirtschaftliche Arbeiten . Für das höhere Lebensalter, die über 70-Jährigen, kommt die Berliner Altersstudie zu dem Ergebnis, dass von täglich durchschnittlich 16,2 Stunden freier Zeit fast 38 Prozent auf Freizeitaktivitäten, 7 Prozent auf soziale Aktivitäten im Sinne von Gesprächen und Besuchen und 15 Prozent auf Ruhen entfallen. Mit steigendem Lebensalter werden dabei die täglichen Ruhezeiten ausgeprägter, während die aktive Freizeit zurückgeht. Die meisten Aktivitäten werden alleine (64 Prozent) und zu Hause (80 Prozent) ausgeübt . Freizeitaktivitäten Bezüglich der Handlungsmuster, die die Freizeit älterer Menschen bestimmen, kommt die Freizeitforschung seit den achtziger Jahren immer wieder zu folgenden Ergebnissen : 1. Der höhere Anteil an Freizeit im Leben älterer Menschen wird zumeist zu Hause verbracht, wobei in der Regel alte Gewohnheiten ausgedehnt und intensiviert werden. 2. Das Freizeitverhalten im Alter wird weniger durch das chronologische Alter oder den Gesundheitszustand, sondern in erster Linie durch die Tätigkeiten und Interessen bestimmt, die bereits vor dem Ruhestand entwickelt worden sind, dies gilt auch für hilfs- und pflegebedürftige Personen; vor der Pensionierung gepflegte Pläne für Neues werden demgegenüber selten realisiert. 3. Geschlecht, Familienstand, sozioökonomischer Status, früherer Beruf sowie der Gesundheitszustand und das psychische Wohlbefinden haben allerdings ebenfalls einen Einfluss auf das Freizeitverhalten im Alter. Das individuelle Freizeitverhalten weist somit über die Jahre eine hohe biographische Kontinuität auf, aber auch das Tätigkeitsspektrum der Gruppe der so genannten "jungen Alten" scheint sich in den letzten Jahren kaum verändert zu haben. Eine Befragung des BAT-Freizeit-Institutes (BAT= British American Tobacco) kommt zu dem Ergebnis, dass die Alltagsaktivitäten mehrheitlich männlicher Ruheständler im Alter zwischen 58 und 68 Jahren in den neunziger Jahren denen der achtziger Jahre sehr ähnlich und immer noch eher traditionell sind . Medienkonsum steht auch in den neunziger Jahren an der Spitze der Freizeittätigkeiten. Dabei hat das Fernsehen weiter an Bedeutung gewonnen - die Zahl der Ruheständler, die täglich oder häufig fernsehen, ist gemäß der BAT-Freizeitstudie um 5 Prozent auf 83 Prozent gestiegen; 29 Prozent der Befragten, mehr als doppelt so viel wie 1983, sehen dabei bereits nachmittags fern. Mediennutzungsanalysen zufolge findet sich 1997 bei den 60- bis 69-Jährigen mit über 6 Stunden pro Tag das höchste Zeitbudget für audiovisuelle Medien wie Fernsehen und Radio; die Nutzungsdauer hat sich seit 1988 um fast eine Stunde erhöht . Neben dem Medienkonsum sind "ausgiebige Frühstücke", "Spazierengehen" und "sich der Familie widmen" Tätigkeiten, die zwei Drittel und mehr der Ruheständler sowohl in den achtziger wie den neunziger Jahren täglich oder häufig in ihrer Freizeit betreiben . Ältere pflegen damit vor allem Freizeitbeschäftigungen, die sich auch im Bevölkerungsdurchschnitt einer hohen Beliebtheit erfreuen. Sie werden gemäß der Dehnungs- und Intensivierungsthese im Alter nur intensiver praktiziert. Aber: Generell ebenfall beliebte Freizeittätigkeiten wie z. B. Sport und geselliges Beisammensein finden sich bei den über 60-Jährigen entgegen der Bedeutung, die ihnen für ein zufriedenes und gesundes Alter zugemessen werden, eher unterdurchschnittlich häufig . Auch die regelmäßige Inanspruchnahme von Bildungsangeboten ist noch gering - trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Altenbildung zugemessen wird. Den Ergebnissen des Alterssurveys folgend, hatten in einem Zeitraum von zwölf Monaten von den 60- bis 85-Jährigen zwar 14 Prozent wenigstens einen Kurs oder Vortrag besucht, davon jedoch 8 Prozent seltener als einmal im Monat . Die Ergebnisse der BAT-Freizeitstudie deuten allerdings erste Veränderungen des Freizeitverhaltens im Alter an, insbesondere auch eine Zunahme von ehrenamtlichem Engagement und geselligen Aktivitäten mit Freunden und Bekannten. Wesentlich auffälliger sind jedoch die Haltungsänderungen auf Seiten der Seniorinnen und Senioren. So scheint die "Geschäftigkeitsethik" der achtziger Jahre an Stellenwert zu verlieren, während Einstellungen wie: "das zu tun, wozu man gerade Lust hat" (1983: 46 Prozent; 1997: 57 Prozent) und selbstbewusster einfach "nur zu faulenzen und nichts zu tun" (1988: 25 Prozent; 1997: 40 Prozent) an Bedeutung gewinnen. Insgesamt vermittelt die Studie den Eindruck, dass sich das Freizeitverhalten zwar nur geringfügig verändert hat; im Gegensatz zu den achtziger Jahren scheinen heutige Seniorinnen und Senioren aber wesentlich zufriedener und weniger beeindruckt vom gesellschaftlichen Diskurs über die Notwendigkeit aktiven und produktiven Alter(n)s zu sein. Dies dokumentiert sich auch in dem gestiegenen Prozentsatz derer, die mit der Art und Weise, wie sie ihre Freizeit verbringen, "zufrieden sind, sich wohlfühlen und nichts im Leben vermissen" (1983: 18 Prozent; 1997: 42 Prozent) . Für kommende Generationen "junger Alter" ist von einer Intensivierung dieser Haltung auszugehen - handelt es sich doch zunehmend um Angehörige rund um die 68er Generation und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Wertewandel. Der steigende Stellenwert von Selbstverwirklichung, Genuss, aber auch gesellschaftskritischen Haltungen in Kontrast zu den klassischen Sekundärtugenden wie Leistungsorientierung, Fleiß und Affirmation dürfte kaum den geeigneten Boden zur Umsetzung von "Wiederverpflichtungsplänen", insbesondere auch mit Blick auf den steigenden Hilfebedarf mit zunehmendem Lebensalter, hergeben. Eine ausgeprägtere Beteiligung an Initiativen zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation sowie die Ausweitung von Bildungsaktivitäten sind demgegenüber wesentlich wahrscheinlicher. Produktive Tätigkeiten In der Diskussion um die Gestaltung der nachberuflichen bzw. nachfamiliären Lebenszeit kommt in den letzten Jahren, wie eingangs bereits erwähnt, den "produktiven Tätigkeiten" ein besonderes Augenmerk zu. Mit Blick auf den gesellschaftlichen Beitrag Älterer konzentriert sich die empirische Erfassung dabei bislang auf solche Tätigkeiten, die ökonomisch fassbare Werte schaffen, wie z. B. Alterserwerbstätigkeit, Pflegetätigkeiten, (Enkel-)Kinderbetreuung, soziale Netzwerkhilfe, Hausarbeit und ehrenamtliches Engagement . Während die Alterserwerbstätigkeit deutlich rückläufig ist, binden unentgeltliche produktive Tätigkeiten im privaten oder ehrenamtlichen Bereich stärker die Ressourcen vieler Älterer. Auswertungen des Alterssurveys ergeben z. B., dass 14,2 Prozent der 55- bis 69-Jährigen und 8,3 Prozent der 70- bis 85-Jährigen in der Pflege von Angehörigen, z. T. aber auch von Nachbarn und Bekannten, tätig sind. Zwar liegt die Quote der pflegenden Frauen über der der Männer, die Unterschiede sind jedoch mit einem Plus von 2,5 Prozent geringer als erwartet. (Enkel-)Kinderbetreuung geben im Rahmen des Alterssurveys 27 Prozent der 55- bis 69-Jährigen und 15 Prozent der 70- bis 85-Jährigen an. Frauen engagieren sich hier wesentlich häufiger als Männer, Ältere beiderlei Geschlechts in den neuen Bundesländern stärker als in den alten, wobei diese regionalen Unterschiede auch Folge unterschiedlicher Sozialisationsstrukturen sind. Auch für den Bereich der informellen Netzwerkhilfe geben im Alterssurvey für den Zeitraum eines Jahres fast ein Drittel aller 55- bis 69-Jährigen und immerhin noch ein knappes Fünftel der 70- bis 85-Jährigen an, haushaltsfremde Personen aktiv unterstützt zu haben. Schließlich erfreut sich unter den produktiven Tätigkeiten im Alter das ehrenamtliche, also freiwillige Engagement einer steigenden öffentlichen Aufmerksamkeit. Bei der Frage nach individuell wie gesellschaftlich sinnvollen Betätigungsmöglichkeiten für Ältere wird gerne auf ehrenamtliche Aufgabenfelder und noch nicht ausgeschöpfte Potenziale verwiesen . Die vorliegenden Befunde zum Ausmaß ehrenamtlichen Engagements im Alter sind dabei äußerst uneinheitlich . Während z. B. der Alterssurvey bundesweit für die Altersgruppe der 55- bis 69-Jährigen 13,3 Prozent und für die über 70-Jährigen 6,9 Prozent ehrenamtlich Aktive ausweist , ermittelt die derzeit aktuellste bundesweite Repräsentativbefragung "Freiwilligenarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement" , dass im Alter zwischen 60 und 70 Jahren etwa jede bzw. jeder Dritte sich unentgeltlich engagiert. Im höheren Alter nimmt die Beteiligung allerdings deutlich ab. Die beliebtesten Engagementfelder Älterer sind die Bereiche "Sport und Bewegung", "Freizeit und Geselligkeit" sowie der religiöse/kirchliche und der soziale Bereich. Die Ergebnisse der Studie widersprechen der These, dass neue Tätigkeiten im Alter nur selten aufgenommen werden - immerhin 23 Prozent der Älteren haben ihr Engagement erst nach dem 50. Lebensjahr begonnen . Längsschnittdaten zeigen zudem, dass seit Mitte der achtziger Jahre auch bei den über 60-Jährigen die Engagementbereitschaft gestiegen ist. Allerdings nehmen vor allem die Anteile der Älteren zu, die sich eher sporadisch ehrenamtlich engagieren . Denn obwohl bei den jetzigen Generationen Älterer noch eine ausgeprägtere Pflichtethik bezüglich des Ehrenamtes zu finden ist , lässt zunehmend auch bei ihnen die Bereitschaft nach, sich auf zeitlich und inhaltlich umfangreiche und verpflichtende Tätigkeiten einzulassen; ferner steigen "Rückerstattungserwartungen" an geleistete Investitionen von Zeit und Arbeit . Aktivität und Produktivität als Resultat positiver Lebenslagemerkmale Als bisheriges Fazit ist festzuhalten, dass die Zeitverwendung Älterer zum einen immer noch durch ein häuslich orientiertes und eher traditionelles Freizeitverhalten, zum anderen aber auch durch die nicht unwesentliche Erbringung von Leistungen für Dritte gekennzeichnet ist, auch im höheren Alter. Wie die Lebensphase Alter gestaltet wird, hängt dabei nur z. T. von individuellen Gelegenheitsstrukturen und persönlichen Präferenzen ab. Immer wieder zeigen Untersuchungen, dass Möglichkeiten und Optionen für Aktivität und Produktivität im Alter sozial ungleich verteilt sind . So belegt die Berliner Altersstudie, dass "Personen mit höherer Bildung . . . höhere Aktivitätsniveaus angaben" . Insbesondere für die "modernen" Formen der Altenarbeit - wie z. B. Bildung im Alter, Selbsthilfeinitiativen oder ehrenamtliches Engagement - wird konstatiert, dass höhere Schul- und Berufsausbildung, zumeist einhergehend mit einem höheren Einkommen, sich positiv auf die Bildungs- und Tätigkeitsbereitschaft auswirken . Aber auch Reisen, Ausflüge und außerhäusige gesellige Aktivitäten setzen zumindest ausreichende materielle Ressourcen voraus. Verminderte Alterseinkommen führen demgegenüber zu einem deutlichen Rückzug aus den sozialen Bezügen außerhalb der Familie. So genannte Risikogruppen wie ältere Langzeitarbeitslose, Bezieher von Mindestrenten u. a. beteiligen sich kaum bis gar nicht an sozialen und kulturellen Angeboten. Ihnen fehlen schlichtweg die Mittel, um in einer sozial-aktiven Form ihre Ruhestandsphase gestalten zu können. Diesen Aspekten wird in der öffentlichen Diskussion z. T. nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Im Gegenteil, über die Verteilung von positiv wie negativ eindeutig wertenden Lebensstiletiketten wie "resignierte Ältere", "sicherheits- und gemeinschaftsorientierte Ältere", "pflichtbewusst-häusliche Ältere" und "neue Alte" werden die dem Lebensstil mit zugrunde liegenden unterschiedlichen materiellen und geschlechtsspezifischen Lebenslagevoraussetzungen Älterer individualisiert und zu persönlichen Haltungen umdefiniert. Derzeit bestehende Ansätze zur gesellschaftlichen Gestaltung des Alters und zur Unterstützung einer "tätigen nachberuflichen Lebensphase" - wie z. B. die Förderung von Seniorenbüros, Selbsthilfeinitiativen, Seniorengenossenschaften, Seniorenvertretungen oder ehrenamtliches Engagement Älterer - versuchen über infrastrukturelle bis hin zu finanziellen Anreizen, Ältere für Freizeitaktivitäten, selbstorganisierte Interessenvertretung oder freiwilliges Engagement zu aktivieren. Dabei erlaubt die Individualisierung des Freizeitverhaltens Älterer generös darüber hinwegzusehen, dass a) der Organisationsgrad in seniorenspezifischen Angeboten - auch im Vergleich zu Mitgliedschaft wie ehrenamtlichem Engagement in altersunabhängigen geselligen Vereinigungen, Vereinen oder wohltätigen Organisationen - derzeit noch sehr gering und b) die entwickelten Ansätze eher mittelschichts- und stadtorientiert sind, "da sich grundsätzlich von einer ,Komm-Struktur' bereits aktive und über materielle und intellektuelle Ressourcen verfügende Menschen angesprochen fühlen" . Zwar legitimieren sich die bestehenden Programme darüber, dass in jeder kommenden Altengeneration bessere Bildungs-, Einkommens- und Gesundheitsvoraussetzungen erwartet werden und dementsprechend die gegenwärtig eher noch recht kleine Gruppe der "neuen Alten" bald den Lebensstil im Alter prägen werde. Diese Perspektive klammert allerdings einige gegenläufige Tendenzen aus: - Trotz durchschnittlich steigender Alterseinkommen ist für die Zukunft von einer zunehmenden "ökonomischen Polarisierung" des Alters auszugehen , mit der Folge weiterhin sehr unterschiedlicher Voraussetzungen für "aktives" und "produktives" Alter(n). - Erwerbs- und vor allem familiäre Versorgungsbiographien werden insbesondere für Frauen zunehmend instabiler und unsicherer mit dem Resultat eines höheren Armutsrisikos im Alter. Zugleich ändern sich jedoch auf Grund der gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie der (langsamen) Veränderungen der Geschlechterrollen auch die Eintrittsbedingungen von Frauen in die Lebensphase des Alters. - Als ein weiteres Risiko in der Lebenslage gilt der Gesundheitszustand älterer Menschen. Auf Grund der Zunahme chronischer Krankheiten ist die Gruppe der hochaltrigen Alten besonders betroffen . Mit steigendem Lebensalter vergrößert sich also das Risiko, aus krankheitsbedingten Gründen im eigenen Mobilitäts- und Aktivitätsradius eingeschränkt zu sein . Dennoch: Alter ist nicht pauschal gleichzusetzen mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Die meisten Menschen leben im Alter selbständig und ohne Abhängigkeit von der Hilfe Dritter. - Die Zahl älterer Migranten wird in Zukunft deutlich steigen. Ihre Lebenslagen sind in ausgeprägtem Maße von ungünstigen Bedingungen gekennzeichnet. Dementsprechend wird zukünftig ein - regional z. T. sehr ausgeprägter - gesellschaftlicher Handlungsbedarf auch im Bereich der offenen Altenhilfe entstehen. Konsequenzen für die Altenpolitik Gerade weil die Mehrheit zukünftiger Älterer über ausreichende Finanz-, Bildungs- und soziale Ressourcen verfügt, ist davon auszugehen, dass sie das "Alter" erfolgreich bewältigen und zunehmend in der Lage sein werden, eigene Interessen zu organisieren. Diese Ansätze gilt es gesellschaftlich zu unterstützen. Versteht sich Altenpolitik als sozial verantwortliches Handeln mit dem Ziel des Ausgleichs sozialer Disparitäten, so ist jedoch zukünftig eine verstärkte Aufmerksamkeit für die benachteiligten Gruppen unter den Älteren vonnöten. Dabei ist die Stärkung von Eigeninitiative, Selbsthilfe und Bürgerengagement grundsätzlich zu begrüßen; aber "dort, wo die Potentiale auf Grund materieller, gesundheitlicher oder sozialer Defizite eingeschränkt bzw. ihrer Nutzung Grenzen gesetzt sind, sollen besondere Anstrengungen unternommen werden, um diese Beschränkungen abzumildern oder ganz aufzuheben" . Neuere Ansätze und Projekte in der Altenarbeit müssen vor diesem Hintergrund immer auch dahingehend geprüft werden, ob sie nicht implizit vor allem die Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung der "jungen Alten" - und hier vor allem relativ gutsituierter älterer Mittelschichtangehöriger - mit öffentlichen Mitteln fördern. Dies dürfte vor allem dann der Fall sein, wenn die geförderten Projekte immer ausgeprägtere Schwerpunkte im Bereich Selbsterfahrung entwickeln, sich zukünftig die Dominanz der ,selbstorientierten' gegenüber den altruistischen Motivationen in der Freiwilligenarbeit noch verstärken sollte und selbstorganisierte Initiativen Älterer sich nicht selten nach Ablauf der Aufbauphase als ,closed-shop' konstituieren mit begrenzter Offenheit für neue Mitglieder. Notwendig ist demgegenüber eine stärkere Zielgruppenorientierung und soziale Differenzierung in der Altenarbeit, die unterschiedlichen Kompetenzen, biographischen Erfahrungen, ethnischen Voraussetzungen und materiellen wie immateriellen Ressourcen Rechnung tragen. Wichtig ist darüber hinaus die infrastrukturelle Verankerung im vorrangigen Lebensraum gerade auch benachteiligter Älterer, dem Stadtteil . Der Rückgriff auf bereits bestehende Netzwerkstrukturen und Multiplikatoren vor Ort ist dabei zentrale Voraussetzung, um bestehende Interessen und Selbsthilfepotenziale überhaupt zu mobilisieren. Dennoch gibt es angesichts des fälligen strukturellen und konzeptionellen Reformbedarfs zur Verankerung einer Freiwilligenkultur keine moralische und politische Entpflichtung zur Solidarität gegenüber denjenigen alten Menschen, die der gesellschaftlich erwünschten Produktivität nicht (mehr) Folge leisten können noch wollen. Ausblick Es ist offenkundig, dass die demographischen Entwicklungen und ihre sozialen Folgen nicht ohne Konsequenzen für die Sozialpolitik in Deutschland und für die künftige Finanzlage der sozialen Sicherungssysteme sein werden. Angesichts des Altersstrukturwandels gewinnt folglich die Frage nach der Tragfähigkeit des Generationenvertrages noch stärker an Bedeutung. Dessen vorrangige Ausrichtung auf die finanzielle Sicherung der älteren Generation hat bereits den Nimbus der allein ausreichenden Altersvorsorge verloren, da die immaterielle Versorgung älterer Menschen zunehmend Einfluss auf deren Lebenslage nimmt. Insbesondere sind hier die personenbezogenen sozialen Dienste, in ihrer Wichtigkeit als nicht-monetäre Unterstützungsleistungen, maßgeblich für die Lebenslagen der wachsenden Gruppe der Älteren. Eine moderne Interpretation des Generationenvertrages hätte dieser Erkenntnis durch die gleichzeitige Absicherung der materiellen und immateriellen Risiken des Alters Rechnung zu tragen . Zwar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (noch) von einem funktionierenden System der intergenerationellen familiären Unterstützungsleistungen auszugehen (sowohl von den Jüngeren für die Älteren, aber auch der wirtschaftlich Stärkeren für die wirtschaftlich Schwächeren ), auf Grund der demographischen Entwicklungen stellt sich jedoch zunehmend die Frage, inwieweit der tatsächlich vorhandene Bedarf an personenbezogenen Diensten - außerhalb der Familienverbände - angesichts der Knappheit der finanziellen Mittel zukünftig organisierbar ist. Die bislang gesellschaftlich nicht organisierte Nutzung der persönlichen Potenziale Älterer scheint in ihrer Kopplung mit dem verjüngten Ruhestandsalter eine Möglichkeit zur Problemlösung darzustellen. Doch kann für die zu erwartenden Dienste im Bereich pflegerischer Versorgungshilfen wie auch alltäglicher kleinerer Hilfeleistungen im Haushalt eine Quasiverpflichtung der "fitten" Alten dem interpersonalen Verhältnis zwischen Gebenden und Nehmenden nicht dienlich sein. Das Vertrauen auf eine naturwüchsige (verbindliche) Freiwilligkeit - bei einer gleichzeitigen Abhängigkeit der älteren Menschen von diesen Unterstützungsleistungen - entbehrt der realistischen Grundlage des ,Machbaren'. Darüber hinaus stellt sich im Gesamtbild der sozialen Veränderungen der Faktor der ,Freien Zeit' - und dies nicht nur bezüglich der Älteren - als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe dar. Dabei stehen die gegenwärtigen Zeitstrukturen, die sich am Konzept der so genannten "Normalarbeitszeit" orientieren, grundsätzlich zur Disposition. Denn die - selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit - nach wie vor starre Ordnung der Lebensarbeitszeitstrukturen, durch die die Zugangsbedingungen zu Bildung, Arbeit und Freizeit altersspezifisch festgelegt werden und durch die zugleich Erwerbsarbeit als die dominante, sozial akzeptierte Form der Arbeit "privilegiert" wird, hat eine ungleiche Verteilung der Zeitsouveränität zwischen den Generationen zur Folge. Ziel sollte dementsprechend eine gerechtere Verteilung von freier Zeit über den gesamten Lebenslauf sein. Erste Schritte in Richtung flexiblerer Lebensarbeitszeitmodelle werden dabei in den Diskussionen über Teilzeitarbeit, Wahlarbeitszeiten, Erziehungs- und Pflegeurlaube, Weiterbildungszeiten und Sabbaticals sowie vor allem der Altersteilzeit deutlich . Eine Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit kommt dabei den Bedürfnissen einer alternden Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht entgegen: Erstens werden die mittleren Generationen entlastet und so auch zeitliche Freiräume für die Unterstützung hilfe- und pflegebedürftiger Älterer geschaffen. Zweitens werden im mittleren Lebensalter Freiräume für die selbstbestimmte Gestaltung von Lebenszeit eröffnet, in denen Handlungskompetenzen - z. B. durch die Pflege von sozialen, politischen und kulturellen Interessen - für nicht erwerbsbestimmte Lebensphasen und damit auch für den Ruhestand erworben werden können. Die Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit dient somit nicht zuletzt der Vorbereitung eines aktiven Alters. Schließlich wird, drittens, der immer frühzeitigeren Freisetzung Älterer aus der Arbeitswelt durch gleitendere Übergänge vorgebeugt, was sich auch positiv auf die Höhe der finanziellen Transferleistungen an Ältere auswirkt. Angesichts der demographischen Entwicklung ist somit eine größere Zeitsouveränität eine der zentralen Voraussetzungen für den weiteren Fortbestand der derzeit praktizierten intergenerationellen Solidarität. Dabei sollte insbesondere die individuelle Entscheidung zur Unterstützung hilfebedürftiger alter Menschen durch die staatlichen Sicherungssysteme - etwa durch entsprechende Strukturvorgaben und durch Anrechnung der Pflegezeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung bzw. der Pflegeversicherung - unterstützt werden. Für beide Bereiche der staatlichen Sozialversicherung sind die ersten Schritte getan oder zumindest angedacht. Für den ebenso wichtigen Bereich der personenbezogenen sozialen Dienste sind demgegenüber zusätzliche Anstrengungen vonnöten. Dazu zählt auch die Neuorganisation von Lebensarbeitszeit, indem sie die dafür erforderlichen zeitlichen Freiräume schafft. In der Konsequenz wird so für eine perspektivische Erweiterung des Generationenvertrags in Richtung auf intergenerationelle Solidarität in beide Richtungen plädiert. Dies kann mit dazu beitragen, die demographischen Herausforderungen der Zukunft ohne nennenswerte Generationenkonflikte zu lösen. Vgl. Gertrud M. Backes, Alter(n) als "Gesellschaftliches Problem"?, Zur Vergesellschaftung des Alter(n)s im Kontext der Modernisierung, Opladen 1997. Vgl. Gertrud M. Backes/Wolfgang Clemens, Lebenslagen im Alter - Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen, in: dies. (Hrsg.), Lebenslagen im Alter. Gesellschaftliche Bedingungen und Grenzen, Opladen 2000. Martin Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs: historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1985) 1, S. 1-29. Vgl. Hans Peter Tews, Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: Gerhard Naegele/Hans Peter Tews (Hrsg.), Lebenslagen im Strukturwandel des Alters, Opladen 1993. Vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Hrsg.), Landessozialbericht. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerhaushalte mit Niedrigeinkommen, Bergheim 1998. Vgl. Martin Kohli, Altern in soziologischer Perspektive, in: Paul Baltes/Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, Berlin-New York 1992. Vgl. Gerhard Naegele, Arbeit und Alter - Neueres zur Entberuflichung des Alters und zur Notwendigkeit einer Trendwende, in: Peter Zeman (Hrsg.), Selbsthilfe und Engagement im nachberuflichen Leben. Weichenstellungen, Strukturen, Bildungskonzepte, Regensburg 2000, S. 30. Vgl. Harald Künemund, "Produktive" Tätigkeiten in der zweiten Lebenshälfte, in: Martin Kohli/Harald Künemund (Hrsg.), Die zweite Lebenshälfte - Gesellschaftliche Lage und Partizipation, Ergebnisse des Alters-Survey, Band 1, Berlin 1998, S. 326. Vgl. Martin Kohli, Altersgrenzen als gesellschaftliches Regulativ individueller Lebensgestaltung: ein Anachronismus?, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 33 (2000), Suppl. I/15-I/23. Vgl. Gerhard Naegele, Lebenslagen älterer Menschen, in: Andreas Kruse (Hrsg.), Psychosoziale Gerontologie, Göttingen u. a. 1998, S. 17. Vgl. G. Naegele (Anm. 7), S. 31. Vgl. M. Kohli (Anm. 6), S. 244. Vgl. Hans Peter Tews, Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: WSI Mitteilungen, (1990) 8, S. 478-491; ders., Produktivität des Alters, in: Margret Baltes/Leo Montada, Produktives Leben im Alter, Frankfurt-New York 1996; Margret Dieck/Gerhard Naegele, "Neue Alte" und alte soziale Ungleichheiten - vernachlässigte Dimensionen in der Diskussion des Altersstrukturwandels, in: G. Naegele/H. P. Tews (Anm. 4). Vgl. M. Kohli (Anm. 3), S. 20. Horst W. Opaschowski, Leben zwischen Muss und Muße. Die ältere Generation: Gestern. Heute. Morgen, Hamburg 1998, S. 18. Vgl. Elaine Cumming/William E. Henry, Growing old, New York 1961. Vgl. Detlef Knopf/Gerhard Schäuble/Ludger Veelken, Früh beginnen. Perspektiven für ein produktives Altern, in: Annette Niederfranke/Gerhard Naegele/Eckart Frahm (Hrsg.), Funkkolleg Altern, Opladen-Wiesbaden 1999, S. 99. Vgl. Hans Peter Tews, Alter zwischen Entpflichtung, Belastung und Verpflichtung, in: Günter Verheugen (Hrsg.), 60 plus. Die wachsende Macht der Älteren, Köln 1994. Vgl. Leopold Rosenmayr, Alt und jung - Gegensatz oder Ergänzung?, in: Gerhard Naegele/Rudolf-M. Schütz (Hrsg.), Soziale Gerontologie und Sozialpolitik für ältere Menschen. Gedenkschrift für Margret Dieck, Opladen 1999, S. 159 f. Vgl. Christine Küster, Zeitverwendung und Wohnen im Alter, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.), Wohnbedürfnisse, Zeitverwendung und soziale Netzwerke älterer Menschen. Expertisenband 1 zum Zweiten Altenbericht der Bundesregierung, Frankfurt/M.-New York 1998, S. 71. Als Freizeitaktivitäten gelten Restaurantbesuche, Reisen, kulturelle Ereignisse, sportliche Aktivitäten u. a. Anders als es dem gerontologischen Verständnis entspricht, vertritt die Soziologie die Auffassung, dass die Ruhestandszeit nicht per se als "freie Zeit" zu verstehen ist, sondern auch (zeitbindende) Pflichtanteile enthält. Demgegenüber definiert die Gerontologie den Ruhestand als Freizeit, da die Zeitstrukturvorgaben des Erwerbslebens für den Ruhestand keine Gültigkeit besitzen. Abgrenzungskriterium für "unbezahlte Arbeit" ist, dass die Tätigkeiten gegen Entgelt auch von Dritten übernommen werden können. Vgl. Karin Blanke/Manfred Ehling/Norbert Schwarz, Zeit im Blickfeld. Ergebnisse einer repräsentativen Zeitbudgeterhebung, Stuttgart u. a. 1996, S. 78. Vgl. Margret M. Baltes/Ineke Maas/Hans-Ulrich Wilms/Markus Borchelt, Alltagskompetenz im Alter: Theoretische Überlegungen und empirische Befunde, in: Karl-Ulrich Mayer/Paul B. Baltes (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie, Berlin 1996, S. 529 ff. Vgl. Walter Tokarski/Reinhard Schmitz-Scherzer, Freizeit, Stuttgart 1985; Rudolf M. Schütz/Hans Peter Tews, Ältere Menschen in Schleswig-Holstein, Kiel 1991; Dorothea Roether, Tagesstrukturierung und Interessen bei alten Menschen in Abhängigkeit vom Hilfe- und Pflegebedarf, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, 10 (1997) 2, S. 75-83; Hilke Brockmann, Die Lebensorganisation älterer Menschen. Eine Trendanalyse, Wiesbaden 1998; H.W. Opaschowski (Anm. 15). Vgl. H.W. Opaschowski (Anm. 15), S. 59 ff. Vgl. Sigurd Agricola, Freizeit in Deutschland 1998. Aktuelle Daten und Grundinformation, DFG-Jahrbuch, Düsseldorf 1998, S. 41. Vgl. H.W. Opaschowski (Anm. 15), S. 127. Vgl. S. Agricola (Anm. 27), S. 37 ff. Vgl. Martin Kohli/Harald Künemund, Alter und gesellschaftliche Partizipation als Thema der Soziologie, in: Susanne Becker/Ludger Veelken/Klaus Peter Wallraven (Hrsg.), Handbuch Altenbildung. Theorien und Konzepte für Gegenwart und Zukunft, Opladen 2000, S. 101. Jürgen Wolf, Langeweile und immer Termine. Zeitperspektiven beim Übergang in den Ruhestand, in: Gerd Göckenjan/Hans-Joachim von Kondratowitz (Hrsg.), Alter und Alltag, Frankfurt/M. 1988, S. 202. Vgl. H.W. Opaschowski (Anm. 15), S. 127. Vgl. ebd., S. 66, S. 74. Vgl. Martin Kohli/Harald Künemund, Nachberufliche Tätigkeitsfelder. Konzepte, Forschungslage, Empirie, Stuttgart u. a. 1996; dies., Produktive Tätigkeiten im Ruhestand. Ein internationaler Vergleich, in: Forum Demographie und Politik, (1997) 9. Vgl. H. Künemund (Anm. 8). Im Zuge dieser als wünschenswert erachteten Nutzung vorhandener Potenziale Älterer bringt die sozialpolitisch geführte Diskussion über den Generationenvertrag reale Maßstäbe ein. Dieser Aspekt wird im letzten Kapitel vorgestellt. Vgl. Christiane Rohleder/Petra Bröscher, Freiwilliges Engagement Älterer - integrativ oder sozial selektiv?, in: Gerhard Naegele/Gerd Peters (Hrsg.), Arbeit - Alter - Region - ein aktives Handlungsfeld für NRW, Münster 2000. Vgl. H. Künemund (Anm. 8), S. 316. Bernhard von Rosenbladt/Sibylle Picot, Freiwilligentätigkeit, ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement. Repräsentative Erhebung 1999. Kurzbericht, Infratest München, München 1999. Vgl. Bernhard von Rosenbladt, Freiwilligenarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement. Materialband, Infratest München, München 1999, S. 20 ff. Vgl. Marcel Erlinghagen/Karin Rinne/Johannes Schwarze, Ehrenamtliche Tätigkeiten in Deutschland - komplementär oder substitutiv? Analysen mit dem Sozio-ökonomischen Panel 1985 bis 1996, Diskussionspapier Nr. 97-10, Fakultät für Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum, Bochum 1997, S. 35. Vgl. Jörg Ueltzhöffer/Carsten Ascheberg, Engagement in der Bürgergesellschaft. Die Geislingen-Studie. Ein Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts für Gegenwartsfragen (SIGMA), in: Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Bürgergesellschaftliches Engagement, Stuttgart 1996, S. 241. Vgl. Rolf G. Heinze/Christoph Strünck, Das soziale Ehrenamt in der Krise - Wege aus dem Dilemma, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, (1999) 5, S. 163. Vgl. J. Wolf (Anm. 31); G. Naegele (Anm. 10). Ineke Maas/Ursula M. Staudinger, Kontinuität und Diskontinuität der gesellschaftlichen Beteiligung, des Lebensinvestments und ökonomischer Ressourcen, in: K.-U Mayer/P. B. Baltes (Anm. 24). Vgl. M. Kohli/H. Künemund (Anm. 30), S. 103; M. Erlinghagen u. a. (Anm. 41); Helmut Klages/Thomas Gensicke, Bürgerschaftliches Engagement 1997, in: Heiner Meulemann (Hrsg.), Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung, Opladen 1998, S. 182 f.; Norbert Schwarz, Ehrenamtliches Engagement in Deutschland. Ergebnisse der Zeitbudgeterhebung 1991/92, in: Wirtschaft und Statistik, (1996) 4, S. 264; B. v. Rosenbladt/S. Picot (Anm. 39), S. 22. Infratest Sozialforschung/Sinus/Horst Becker, Die Älteren - Zur Lebenssituation der 55- bis 70-Jährigen, Bonn 1991, S. 89 ff. Vgl. D. Knopf/G. Schäuble/L. Veelken (Anm. 17), S. 130 ff. Vgl. H. Künemund (Anm. 8), S. 330. Karin Beher/Reinhard Liebig/Thomas Rauschenbach, Strukturwandel des Ehrenamtes. Gemeinwohlorientierung im Modernisierungsprozess, Weinheim-München 1999, S. 256. Vgl. Frerich Frerichs/Gerhard Naegele, Zum internationalen Jahr der Senioren (IV). Offene Altenarbeit - ein vernachlässigter Bereich der Altenpolitik in Deutschland, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, (1999) 5, S. 170. Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" - Herausforderung unserer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik, Bonn 1994. Vgl. Ulrich Schneekloth/Peter Potthoff/Regine Piekara/Bernhard v. Rosenbladt, Hilfe und Pflegebedürftige in privaten Haushalten. Endbericht, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Band 111.2, Stuttgart u. a. 1996. F. Frerichs/G. Naegele (Anm. 51), S. 170 f. Vgl. C. Rohleder/P. Bröscher (Anm. 37). Vgl. Gerhard Naegele, Der Generationenvertrag in Deutschland vor neuen Herausforderungen, unveröffentlichtes Manuskript, Dortmund 2000. Vgl. Bert Rürup, Hält der Generationenvertrag? Soziale Sicherung im Alter, in: A. Niederfranke/G. Naegele/E. Frahm (Anm. 17). Vgl. Gerhard Bäcker/Brigitte Stolz-Willig, Förderung von Teilzeitarbeit - eine Aufgabe für die Tarif-, Sozial- und Gleichstellungspolitik, in: Bernd Keller/Hartmut Seifert (Hrsg.), Atypische Beschäftigung - verbieten oder gestalten?, Köln 1995, S. 35 ff. Gerhard Bäcker/Gerd Naegele, Alternde Gesellschaft und Erwerbstätigkeit. Modelle zum Übergang vom Eerwerbsleben in den Ruhestand, Köln 1993, S. 142 ff.
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Bröscher, Petra / Naegele, Gerhard / Rohleder, Christiane
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25467/freie-zeit-im-alter-als-gesellschaftliche-gestaltungsaufgabe/
Seit Jahrzehnten vollzieht sich ein Strukturwandel des Alters. Nun geraten die Zeit- und Kompetenzressourcen älterer Menschen zunehmend in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung.
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Parallel Open Forums - Consultation Panels (10:30 am – 12:00 pm) | NECE - Networking European Citizenship Education | bpb.de
Fundraising and resource acquisition in citizenship education with regard to the EU programmes In this consultation panel EU funding programme, in particular the “Europe for Citizens” - programme, will be presented. Mirka Ľachká, Cultural Contact Point (Slovakia)EU Funding of exchange projects with North Africa In this consultation panel funding programmes, which support the exchange with the Euro-Med Region will be presented. Maram Hassan Anbar, Freelance Consultant and Trainer (Spain) Interner Link: Presentation Interner Link: Report Interner Link: Back to the conference programme
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-09-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/145077/parallel-open-forums-consultation-panels-10-30-am-12-00-pm/
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Lehren aus der Stasi-Überwachung | Stasi | bpb.de
Dem bis 1989 amtierenden Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, wird ein Satz zugeschrieben, der das Selbstverständnis der Stasi besser kennzeichnet als manche umfangreiche Studie: "Um sicher zu sein, muss man alles wissen" (zit. nach Per Ström, Das Parlament, Nr. 34/35 2005). Das Streben der DDR-Elite nach Allwissenheit, dessen wirkliche Ausmaße erst in den Jahren nach dem Verschwinden der DDR erkennbar wurden, hat offenbar in doppelter Hinsicht sein Ziel verfehlt: Weder ist es der Partei und dem Staatsapparat gelungen, wirklich "alles" zu wissen, noch hat die umfangreiche Bespitzelung und systematische Überwachung die Erosion des "ersten Arbeiter- und Bauernstaats auf deutschem Boden" aufhalten können. In diametralem Gegensatz zur Allwissensphantasie standen die Bemühungen der DDR-Organe, Fakten über die wirtschaftliche und soziale Situation und über politische Vorgänge geheim zu halten und der Öffentlichkeit - wenn überhaupt - nur dosiert und teilweise in manipulierter Form über die staatlich kontrollierten Medien mitzuteilen. Selbst aus westlicher Sicht harmlose Informationen wurden als vermeintliche Staatsgeheimnisse geschützt. Kurz nach der Wende – es muss im Sommer 1990 gewesen sein – hatte ich die Möglichkeit, ein Gebäude zu besichtigen, das zuvor vom statistischen Amt der DDR genutzt worden war. Die Gebäudesicherung ging über alles hinaus, was ich von den westlichen Statistikämtern kannte. Vor allem die Innentüren waren mit auffälligen, vor die Schlösser gesetzten Einrichtungen zur Zugangssicherung versehen. Auf meine Frage nach dem Sinn und Zweck dieser sehr aufwendigen Abschottungsmaßnahmen bekam ich eine überraschende Antwort: In den betreffenden Räumlichkeiten lagerten die Ergebnisse statistischer Erhebungen. Alle Informationen, die Einblick in die tatsächliche Lage des Landes hätten geben können, wurden als Geheimsachen behandelt und waren nur wenigen Stellen in Partei und Staat zugänglich. Dagegen galten die statistischen Einzelunterlagen, insbesondere die personenbezogenen Daten über die DDR-Bürger, als wesentlich weniger schützenswert. Fremdwort Datenschutz Datenschutz war den DDR-Eliten ziemlich fremd, vielleicht weil es sich dabei aus ihrer Sicht um ein Ergebnis des überwunden geglaubten kapitalistischen Individualismus handelte. So blieben Bürgerinnen und Bürger in der DDR generell im Unklaren, wo und wie lange Daten von ihnen gespeichert wurden, worauf Behörden Zugriff hatten und wie sich Behörden, Geheimdienst, Partei, Post, Sparkasse, Vereine und auch die staatseigenen Betriebe untereinander mit personenbezogenen Daten austauschten. Die Stasi hatte beispielsweise in Sparkassen Zugriff auf Einzahlungsbelege - um bei Bedarf Handschriftproben zu sammeln. Darüber hinaus führte der Staatssicherheitsdienst umfangreiche Akten über politische und persönliche Verhältnisse vieler Menschen. Die umfassende Bespitzelung und Informationssammlung sollte Aktionen des "Klassenfeindes" unterbinden und vermeintlich staatsfeindliches Denken und Handeln aufdecken. Wanzen, Richtmikrofone und inoffizielle Stasi-Mitarbeiter überwachten deshalb auch den privaten Bereich. Niemand war davor sicher, dass im Schlafzimmer oder in der Toilette heimlich angebrachte Mikrofone intimste Einzelheiten registrierten. Die so gesammelten Unterlagen waren so umfangreich wie brisant. Die Stasi hat in den fast vierzig Jahren ihres Bestehens rund 6 Millionen personenbezogene Akten zusammengetragen, insgesamt spricht die Stasi-Unterlagen-Behörde von 111 Kilometer erhalten gebliebenem Aktenmaterial. Als sich das Ende der DDR abzeichnete, bemühten sich die Verantwortlichen aus MfS und SED um eine möglichst zügige und gründliche Tilgung der Spuren. Sie waren dabei zum Glück nur teilweise erfolgreich, auch wenn sie sich bei ihrem Anliegen die Unerfahrenheit mancher Oppositioneller zu Nutze machen konnten. So beschloss der "Zentrale Runden Tisch", an dem auch Bürgerrechtler beteiligt waren, im Februar 1990 zunächst eine groß angelegte Löschungsaktion. Viele ehemalige Oppositionelle traten aus rechtsstaatlichen Gründen für die Tilgung der gegen alle Grundsätze des Menschenrechts durch die Stasi erhobenen Daten ein. Die am runden Tisch beteiligten Stasi-IMs und die Repräsentanten der bisherigen DDR-Führung unterstützten die Idee der Datenlöschung nach Kräften. Für sie war eine solche Maßnahme ein attraktiver Weg, um belastendes Material aus der Welt zu schaffen und sich dabei zugleich als gewendete Demokraten zu inszenieren. Aber auch im Westen war man sich der Konsequenzen der geplanten Datenlöschung zunächst nicht bewusst. Bei den amtlichen Datenschutzbeauftragten stieß die Idee, die zu Unrecht gespeicherten Stasi-Daten restlos zu vernichten, zunächst durchaus auf Sympathie. Erst allmählich setzte sich die Meinung durch, dass die Datenlöschung der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit einen Bärendienst erweisen würde. Bei der Forderung nach umgehender Datenlöschung war nämlich übersehen worden, dass nicht nur die zu Unrecht gesammelten Informationen verschwinden, den Opfern und der Öffentlichkeit jedoch gleichzeitig die Aufklärung der Schuld und der Verantwortlichkeiten für erlittenes Unrecht erschwert würde. Selbst eine vollständige Vernichtung der Stasi-Akten hätte schließlich nicht das Herrschaftswissen ehemaliger Stasi-Funktionsträger beseitigt, das sie – ohne Widerlegung befürchten zu müssen – bei Gelegenheit an die Öffentlichkeit hätten lancieren können. Wie negativ sich die ungelöste Frage des Umgangs mit Geheimdienstakten auswirkt, ist immer noch in einigen osteuropäischen Staaten zu beobachten. Auch wenn der Löschungsbeschluss nur teilweise umgesetzt wurde, war dies eine schwere Hypothek für die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit, da die notwendigen Informationen bisweilen mühselig aus verschiedenen verbliebenen Quellen rekonstruiert bzw. erschlossen werden mussten, darunter hunderte Säcke Papierschnipsel mit brisanten Informationen über die Auslandsaktivitäten der Stasi – Aktenüberreste, die wohl nur durch Zufall einer Verbrennung entgingen. Stasi-Unterlagen-Gesetz als erstes bundesdeutsches Informationsfreiheitsgetz Nach der deutschen Vereinigung wurde die Debatte über den Umgang mit den Stasi-Daten fortgesetzt. 1991 beschloss der Deutsche Bundestag das "Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG). Im Mittelpunkt dieses Gesetzes steht die Erschließung der von der Stasi gesammelten Datenmengen, um den Opfern die Wahrnehmung ihrer Rechte zu erleichtern und zugleich die Öffentlichkeit darüber zu informieren, wie das DDR-System tatsächlich funktionierte. Vor allem die zielgerichtet ausgespähten Opfer erhielten das Recht auf Einsichtnahme zu den über sie gesammelten Unterlagen. Für die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter und von der Stasi Begünstigte gibt es nur ein eingeschränktes Auskunftsrecht. Im Nachhinein kann man sagen, dass das Stasi-Unterlagengesetz das erste deutsche Gesetz war, das primär das Ziel verfolgte, den Bürgerinnen und Bürgern Einblick in staatliche Akten- und Datenbestände zu geben. Das Informationszugangs-recht ist dabei nicht auf die Wahrnehmung individueller Rechtsansprüche beschränkt und es war auch nicht - wie der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch - auf die zur eigenen Person gespeicherten Daten beschränkt. Der Bundesgesetzgeber folgte hier - vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein - der vom berühmten US-amerikanischen Rechtswissenschaftler Luis C. Brandeis vor mehr als 100 Jahren auf den Punkt gebrachten Maxime, dass Transparenz das beste ist, um den Gebrauch und vor allem den Missbrauch von Macht zu begrenzen: "Sunlight is said to be the best of disinfectants" (Louis D. Brandeis, Harpers Weekly, No. 20, 1913). Brandeis verkörperte in seiner Person wie kaum ein anderer beide Seiten, den Schutz des der Privatsphäre und die Forderung nach umfassender Transparenz staatlichen Handelns. Datenschutz und Informationsfreiheit Der 1990 vom "Zentralen Runden Tisch" der DDR erarbeitete – jedoch nicht mehr von der Volkskammer beschlossene – Verfassungsentwurf für die DDR enthielt ein Grundrecht auf Datenschutz. Alle "neuen Bundesländer" haben in den Folgejahren den Datenschutz in ihre Landesverfassungen aufgenommen. Die Berücksichtigung des Datenschutzes im Grundgesetz war später auch Gegenstand der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundes und der Länder. Entsprechende Vorschläge fanden jedoch nicht die erforderliche ⅔-Mehrheit. Die weiter oben erwähnte Kombination des Strebens nach Totalüberwachung mit strikter Geheimhaltung aller ungefilterten Informationen über den Zustand der Gesellschaft beschreibt einen wesentlichen Unterschied zu demokratischen Staaten. In modernen Demokratien soll der freie Zugang zu Informationen dazu beitragen, die gesellschaftliche Realität transparent zu gestalten und die öffentliche Debatte über unterschiedliche Meinungen zu ermöglichen. Amtliche Daten sollen objektive quantitative Grundlagen für hoffentlich rationale und verlässliche Entscheidungen für Politik und Wirtschaft liefern - und sie stehen nicht nur einer wie auch immer definierten Machtelite zur Verfügung. Bereits in seinem Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 beschreibt das Bundesverfassungsgericht sehr grundsätzlich die Grenzen staatlichen Informationshungers gegenüber dem Bürger. Jedermann hat ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, in das der Staat nur im überwiegenden Allgemeininteresse eingreifen darf. Das Gericht ist dieser Linie bis heute treu geblieben. In einer Vielzahl von Entscheidungen - um nur einige Gegenstände zu nennen: Großer Lauschangriff, heimliches Ausspionieren von IT-Systemen, Vorratsdatenspeicherung, Anti-Terror-Dateien - hat es verdeutlicht, dass selbst dem Gesetzgeber Grenzen bei der Einräumung von staatlichen Überwachungsbefugnissen gesetzt sind und dass Behörden in ihrer Praxis den durch das Grundgesetz garantierten "Kernbereich privater Lebensgestaltung" zu wahren haben. SED und ihr Machtinstrument Stasi wollten den komplett gläsernen Bürger. Der aber hat ein vielfältiges Recht auf Datenschutz - und auf einen transparenten Staat. So wurden auch als Ergebnis der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in den letzten 25 Jahren die Informationsrechte für die Bürgerinnen und Bürger verbessert. Das Recht auf freien Informationszugang ist nicht an eine bestimmte Rolle oder Funktion gebunden. Nach den inzwischen auf Bundesebene und in den meisten Bundesländern eingeführten Informationsfreiheitsgesetzen kann jeder Auskunft oder Akteneinsicht bei öffentlichen Stellen verlangen und muss keine Gründe dafür nennen. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis beim Umgang staatlicher Stellen mit Informationen wird damit umgekehrt: Während zuvor galt, dass die Behörden die Kenntnisse, die Ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit zufließen, geheim zu halten haben (Amtsgeheimnis), sollen sie nach den Informationsfreiheitsgesetzen grundsätzlich für jeden einsehbar und nachvollziehbar sein. Während Bürgerinnen und Bürger früher ausdrücklich begründen mussten, warum sie eine Information begehren, muss heute die Behörde begründen, warum sie eine Information nicht herausgeben will. Die Behörde darf den Informationszugang nur verweigern, wenn ein gesetzlich festgelegter Ausnahmetatbestand vorliegt. Insbesondere in osteuropäischen Staaten, die erst nach der Beendigung der Blockkonfrontation zwischen Ost und West zur Demokratie (zurück-)gefunden haben, besteht ein durch die Verfassung verbriefter Anspruch auf Informationszugang. In Deutschland enthält nur die Verfassung des Landes Brandenburg von 1992 ein ausdrückliches Informationszugangsrecht: "Jeder hat nach Maßgabe des Gesetzes das Recht auf Einsicht in Akten und sonstige amtliche Unterlagen der Behörden und Verwaltungseinrichtungen des Landes und der Kommunen, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen", heißt es in Art. 21 Absatz 4 der Brandenburgischen Landesverfassung. Es ist naheliegend, dass die Erfahrungen mit dem DDR-Staatsapparat, die damals noch sehr präsent waren, zu diesem Verfassungsartikel beigetragen haben. Vorschläge zur Einfügung eines solchen Grundrechts in das Grundgesetz, die auf dem Runden Tisch zur Verfassungsreform im Zuge der Wiedervereinigung diskutiert wurden, fanden aber leider nicht die erforderlichen verfassungsändernden Mehrheiten. Grundwerte auch in der Informationsgesellschaft Geltung verschaffen Auch wenn die Erinnerungen an die Stasi-Überwachung und den Geheimhaltungsfimmel der DDR-Bürokraten inzwischen verblassen, sind die daraus zu ziehenden Konsequenzen nach wie vor aktuell: Zivilisatorische Werte und demokratische Prinzipien, Demokratie, Freiheit des Individuums, verbriefte Grund- und Menschenrechte, die unter Inkaufnahme schmerzhafter Opfer erkämpft wurden, verlieren nicht dadurch ihren Wert, dass sie nicht immer mit den Vorstellungen von Bequemlichkeit, Sicherheit und Reichtum harmonieren, die gerade in den letzten Jahren einen neuen Hype erleben. Mehr noch: Die Grundrechte müssen weiterentwickelt werden, damit sie den digitalen Herausforderungen standhalten. Notwendig ist die Verankerung eines Jedermann-Rechts auf Informationszugang im Grundgesetz. Entgegen der ersten Vermutung ist die heutige Informationsgesellschaft vor allem einseitig transparent, wie ein venezianischer Spiegel: Gläsernen Nutzern stehen weitgehend undurchsichtige, digitale Machtzentren gegenüber. Wir brauchen keine totale Transparenz, aber sehr viel mehr Durchblick bei Verfahren, Strukturen und Entscheidungsprozessen. Auch das ist es, was der Sieg der Bürger im Jahr 1989/90 über die Stasi lehrt. Zum Thema: Interner Link: Die Snowden-Archive - Erben der DDR-Bürgerbewegung? Stasi - Interner Link: was war das eigentlich?
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2016-03-11T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/222810/lehren-aus-der-stasi-ueberwachung/
Alles wissen über jeden - diese Allwissenheitsphantasie ist auch verführerisch für heutige Regierungen. Doch im Rechtsstaat haben Bürger ein Recht auf Datenschutz und auf einen transparenten Staat.
[ "Ministerium für Staatssicherheit Stasi", "Big Data und Datenschutz", "Informationsfreiheit" ]
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digita 2012 für Smartphone-App "Die Berliner Mauer" | Presse | bpb.de
Die Smartphone-App "Die Berliner Mauer" wurde am Mittwoch, den 15. Februar 2012, mit dem Deutschen Bildungsmedien-Preis digita ausgezeichnet. Das Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V. und des Deutschlandradios erhält den Preis in der Kategorie "Privates Lernen" in der Sparte "über 16 Jahre". Die Verleihung erfolgte durch den Schirmherren des digita 2012, den Niedersächsischen Kultusminister Dr. Bernd Althusmann, auf der Bildungsmesse didacta in Hannover. Die Anwendung für iPhone und Android bietet dem User eine Karte mit detailliertem Mauerverlauf und multimediale Touren entlang der Berliner Mauer. Geschichte wird so interaktiv erlebbar – vor Ort und von zu Hause aus. Für die Software wurden über 50 Points of Interests (POIs) in Berlin zusammengestellt. Texte, zahlreiche Bilder, O-Töne und Videos dokumentieren an den einzelnen Punkten die dramatischen Vorgänge des Mauerbaus, der Geschichte und des Falls der Mauer. "Wir freuen uns über die Auszeichnung und verstehen sie als Motivation, weitere Geschichts- und Bildungsangebote für die mobile Online- und Softwarenutzung zu veröffentlichen", so Thomas Krüger, Präsident der bpb. Der digita ist eine Qualitätsauszeichnung für digitale Bildungsmedien. Die Veranstalter zeichnen mit dem digita Lehr- und Lernangebote aus, die inhaltlich und formal als hervorragend gelten können und die digitalen Medien beispielgebend nutzen. Der digita wird seit 1995 jährlich verliehen. Er zählt zu den renommiertesten Preisen in der Bildungswirtschaft im deutschsprachigen Raum. Träger des digita sind das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (IBI), die Intel GmbH und die Stiftung Lesen. Die App basiert auf der Website www.chronik-der-mauer.de. Hier wird die 28jährige Geschichte der Berlin Mauer umfassend multimedial dokumentiert. "Die Berliner Mauer"-App für iPhone und Android sowie die Webseite www.chronik-der-mauer.de sind zusammen die bisher umfangreichste multimediale Darstellung zur Geschichte der Mauer. Das Angebot richtet sich vor allem an junge Leute, die die Mauer nicht mehr selbst erlebt haben, aber auch an Lehrer, Journalisten und Multiplikatoren sowie Berlintouristen aus dem In- und Ausland. Die kostenlose App ging im August 2011 zunächst in einer Version für das iPhone an den Start, seit November 2011 steht auch die Android-Version zur Verfügung. Die Anwendung wird kontinuierlich inhaltlich und technisch weiterentwickelt. Die App ist in deutsch und englisch verfügbar und kann kostenlos im iTunes-Store und im Android-Market heruntergeladen werden. Interner Link: Pressemitteilung (PDF-Version: 236 KB)Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/64039/digita-2012-fuer-smartphone-app-die-berliner-mauer/
Die Smartphone-App "Die Berliner Mauer" wurde am Mittwoch, den 15. Februar 2012, mit dem Deutschen Bildungsmedien-Preis digita ausgezeichnet. Das Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, des Zentrums für Zeithistorische Fors
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"Limitless opportunities" | Indien | bpb.de
One of the fundamental changes that have occurred in 21st century India is the advent and rapid dominance of the Internet. Cyber cafes opened not only in big cities but even in small towns and villages. Students started to connect with the outside world. The Internet brought them in touch with myriad sources of information and national frontiers broke down in the virtual world. So pervasive is its reach that more and more young people prefer the virtual world to the real world and spend considerable time in its addictive environs. "Internet is mainstream in India" According to the International Telecommunication Union, 40 per cent of all households in the world use Internet and 2.7 billion people are online. In India, there were around 239 million Internet subscribers at the end of 2013 as per government data. Predictions suggest that by middle of 2014 the number will rise to 243 million, at which point India is expected to overtake the United States as the second largest Internet base in the world after China. "Internet is now, clearly, mainstream in India", states Rajan Anandan, chairman of the Internet Mobile Association of India (IAMAI). Before this, the mobile phone revolution had already changed the life of average Indians and cellular connectivity had reached even remote villages. According to government data, there were 873.3 million mobile subscribers in the country at the end of 2013. With the advent of smart phones, they can now connect to the world around the clock – and more then 150 million Indians already do this by using mobile Internet. By the end of 2014 this number could rise to 364 million as US market research firm Mediacells predicts. More and more Indians are using social media online and the Internet has begun to decisively influence the way information, knowledge, entertainment, innovation and dissent are being accessed and articulated. According to a report by The Times of India, the number of monthly active users of Facebook in India stood in early 2014 at 93 million of which 75 million logged in through their mobile phones. Around 33 million Indians us Twitter, 18 million connect through LinkedIn. As girls and boys are not allowed to freely interact with one another in India, they have found the social media sites very useful to make friends and acquaintances. Such interactions often result in fruitful friendships, exchange of ideas, emotions and dreams in the security of the virtual world. However, they at times also end up in ugly situations as a number of people set up fake accounts and dupe and harass unsuspecting victims. Internet abuse and stalking is witnessing a growing tendency and resulting in distortions and infirmities in the use of the medium. Experts therefore are demanding the implementation of legal safeguards. "Blogging became a national pastime" Democracy is all about self-assertion and participation. So the Internet revolution also changed the social and political landscape even further as it offered limitless opportunities to people to express themselves in the way they liked. Access to traditional media – newspapers or television – was available to only a few. However, Internet brought about a fundamental change and people's creativity as well as voice found newer platforms for self-expression. Consequently, blogging became a national pastime. Anyone could start his or her own blog and post articles, comments, poems, short stories and even novels. So far, no study has been done to ascertain the number of blogs in India. However, Jagadishwar Chaturvedi, social media analyst from Calcutta University and author of the book Democracy and Social Media, estimates that there are at least 16,000 bloggers who publish in Hindi and some 75,000 Indian blogs altogether. There are several directories that list popular Indian blogs and help readers to get orientation such as indianbloggers.org external LINK, www.blogadda.com external LINK or www.topindianblogs.com external LINK. Blogs and their content have assumed such a great importance that the traditional media can no longer afford to ignore them. Therefore, a number of newspapers in various languages have begun to regularly reproduce blog content. Jansatta was the first Hindi daily to pioneer this trend. "We call it samanatr (parallel) because it is a parallel medium", says executive editor Om Thanvi. "Many talented people are writing their blogs that remain inaccessible to those who do not have computers or Internet connections. That's why we took the decision to reproduce some of them on a daily basis." Blogs have become battlegrounds for competing ideas where intense discussions and debates take place. As is natural, they sometimes become rather acrimonious. Personal scores are settled, rumours are spread and aspersions are cast. However, blogs do contribute towards creating a lively atmosphere of free exchange of ideas and information. A large number of discussion forums have been formed on the Internet to spread as well as to counter sectarian and fanatic ideologies. Many blogs are devoted to the world of media and keep track of developments in this field. In short, an explosion of democratic expression has taken place on account of availability of the Internet. Thus, Internet has become a tool of empowerment as it has given voice to the voiceless millions and opened new horizons before the common man. "Social media as a vehicle of political consciousness" In a vast country like India where democracy has taken root only after independence from British colonial rule in 1947, the functioning of political parties as well as the government has for decades not been very transparent. However, after the spread of the Internet, political parties have started their own websites where people get authentic information about them. Similarly, a large number of social and non-governmental organisations maintain websites disseminating relevant information about their activities. Therefore, it is not surprising that campaigns are launched and causes espoused on the Internet by various individuals and groups to gather support, thus transforming it into a vehicle for mobilisation and change. India's 2014 parliamentary election proved to be 'historic' because, for the first time, all political parties as well as candidates and their supporters made full use of social media as they turned the virtual world into an important segment of the electoral arena. Election campaigns were launched on Facebook, Twitter and Youtube. Political parties were well aware of the fact that more than half of the 811 million voters are younger then 35 years and that many of them are online. Therefore, they hired large teams of professionals to look after social media round the clock and make contact with as many young voters as possible. Many political leaders are also increasingly using Twitter to express their views. According to an IAMAI study, poll outcome in 160 of the total 543 parliamentary seats can be influenced by those who regularly use Internet and social media. It is also widely accepted that those who regularly use social media are more likely to go to the polling booth to cast their vote than those who are outside the pale of the social media. In other words, social media has emerged as an important vehicle of political consciousness. However, in view of the burgeoning influence of social media, the Election Commission of India had decided to monitor its use during the election campaign to prevent misuses. "Internet governance as increasingly important issue" Social media had made its political presence felt on the world stage during the so-called Arab Spring as it played an important role in giving rise to a mass movement that eventually renegotiated the political arrangement in Tunisia and Egypt. But also in Delhi, when a young woman was brutally raped in a moving bus in December 2012, a spontaneous protest movement involving thousands of young demonstrators sprang in no time as a result of the use of social media through which young men and women connected with one another and formed an awe-inspiring protest group. Tanvi, a student at Delhi's Jawaharlal-Nehru-Unversity, remembers: "We exchanged information as well as plans about where to meet and how to go about continuing our protests day after day." In 2011, when social activist Anna Hazare launched a mass movement against corruption, social media played a big role in mobilising support for him and his campaign among youth. The emergence of the Aam Aadami Party (Common Man Party, AAP) and its leader Arvind Kejriwal is also attributed to a considerable extent to the support base provided by users of social media. Internet governance is also becoming an increasingly important issue considering the reach and influence of the medium. India is in favour of a multilateral body that would formulate international Internet-related public policies under the aegis of the United Nations. India wants that all the stakeholders and relevant international organisations should also be associated with such a body in an advisory capacity. At the moment, Internet connects a little less than three billion people in the world. Some people feel that the task of Internet governance should not be left to governments of various countries or the United Nations and all decisions must be taken after a consensus among governments, industry, academia, scientists and technocrats, civil society, media, youth and other stakeholders. Internet surveillance is also a big issue exercising everybody after the disclosures made by Edward Snowden. Users of social media are particular upset as it concerns violation of their privacy. These issues will have to be addressed in the days to come.
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Kuldeep Kumar
"2022-02-08T00:00:00"
"2014-08-20T00:00:00"
"2022-02-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/asien/indien/190259/limitless-opportunities/
Internet, Blogs and Social Media in India
[ "Indien", "Soziale Medien" ]
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Menschen mit Behinderungen, Sozialrecht und Sozialpolitik | Behinderungen | bpb.de
1. Menschen mit Behinderungen in Sozialrecht und Sozialpolitik Mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft wurde Behinderung als Lebenslage und soziales Risiko sichtbar. Beeinträchtigungen und Barrieren schließen aus zentralen Institutionen der Vergesellschaftung wie Schule, Erwerbsarbeit und Wohnen in der Gemeinde aus. Sozialpolitik und Sozialrecht haben darauf reagiert, indem das Risiko von Behinderung für einzelne Menschen und aus den Lebenszusammenhängen herausgenommen wurde. Dazu wurden besondere Einrichtungen geschaffen. So wurde Behinderung aus der allgemeinen Armenfürsorge gelöst und es wurden große Wohneinrichtungen geschaffen. Die Rentenversicherung (als Invalidenversicherung) versicherte seit 1889 behinderungsbedingten Einkommensausfall. Mit Rehabilitation wurde schon bald versucht, der Ausgliederung aus dem Erwerbsleben und der Gesellschaft entgegenzuwirken („Rehabilitation vor Rente“), wozu gesonderte Einrichtungen der Gesundheitsversorgung geschaffen wurden. Für die vielen Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs waren neue Regelungen erforderlich. Dazu gehörten die Beschäftigungspflicht und Unterstützung in den Betrieben. Die nationalsozialistische Entrechtung und Tötung von hunderttausenden Menschen mit Behinderungen pervertierte Sozialpolitik, indem sie sich nicht gegen Behinderung, sondern gegen Menschen mit Behinderungen richtete. Nach dem zweiten Weltkrieg reagierte Behindertenpolitik zeitgebunden auf Arbeitskräftemangel oder Arbeitslosigkeit, indem Menschen in Arbeit rehabilitiert oder in frühzeitige Verrentung gebracht wurden, sie bearbeitete Abstimmungsprobleme zwischen verschiedenen Institutionen und erhielt neue Impulse durch eine politische Behindertenbewegung sowie durch die Grund- und Menschenrechte. 2. Diskriminierungsverbot und Sozialpolitik Seit 1994, in Folge der Deutschen Einheit, ist das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung im Grundgesetz verankert. Die Neuregelung war in der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgeschlagen worden und knüpfte an die Verfassungen der neuen Länder und die Diskussionen am „Runden Tisch“ an. Seit 1997 ist die Nichtdiskriminierung Teil des EU-Rechts. 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland in Kraft getreten, die Selbstbestimmung, Teilhabe, Inklusion und Zugänglichkeit (Barrierefreiheit) für die sozialen Menschenrechte auf Leben in der Gemeinde, Mobilität, Bildung, Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit für Menschen mit Behinderungen entfaltet. Mit dem SGB IX, dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und weiteren Reformen wird versucht, diese Grundsätze zu konkretisieren. 3. Sozialrechtliche Grundsätze Teilhabe für Menschen mit Behinderungen ist ein soziales Recht, an dessen benachteiligungsfreier und barrierefreier Konkretisierung fast alle Sozialleistungsträger in Deutschland beteiligt sind. Dazu gehört, dass ihre Gebäude, Internetangebote und Verwaltungsabläufe sowie die Leistungserbringung barrierefrei sein müssen. So sind Gebärdensprachdolmetscher und Kommunikationshilfen zu stellen und Leichte Sprache ist zu benutzen. In der Praxis gibt es noch erhebliche Defizite in der Umsetzung, weil die Normen nicht bekannt sind oder es an Impulsen für die Umsetzung fehlt. Die Sozialleistungsträger müssen die Individualität und das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen achten. Sie müssen bei den Antragsverfahren und der Bedarfsfeststellung miteinander zusammenarbeiten und die Teilhabe gemeinsam planen. Dazu arbeiten sie in der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zusammen. Die Anerkennung als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) ab 50 erfolgt durch die Versorgungsämter, die Gleichstellung mit Schwerbehinderten ab GdB 30 durch die Bundesagentur für Arbeit. Sie hat verschiedene Funktionen im Arbeitsleben und darüber hinaus. Durch Merkzeichen werden spezifische Beeinträchtigungen nachgewiesen. Aktuell sind fast 8 Millionen Menschen als schwerbehindert anerkannt. 4. Lebensunterhalt, Rente, Grundsicherung Wenn behinderungsbedingt die Möglichkeit eingeschränkt ist, Erwerbseinkommen zu erzielen, besteht ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente von der gesetzlichen Rentenversicherung für aktuell ca. 1,8 Millionen Menschen. Versicherungsrechtliche Voraussetzungen (Zeiten mit Beitragszahlung) müssen erfüllt sein. Die Rentenhöhe ergibt sich aus einer Hochrechnung der bisher gezahlten Beiträge auf den Rest des Erwerbslebens (Zurechnungszeit). In den letzten Jahrzehnten waren viele Renten niedrig. Der Gesetzgeber hat nun nachgebessert. Besteht kein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente oder reicht diese nicht zum Existenzminimum, so kann Grundsicherung bei dauerhafter Erwerbsminderung vom Sozialamt beansprucht werden. Diese hat die gleichen Regelsätze wie die Grundsicherung für Arbeitssuchende (Bürgergeld), unterscheidet sich jedoch in der Anrechnung von Einkommen und Vermögen. Bei Arbeitsunfällen (Verletztenrente), für Kriegs- und Verbrechensopfer und während einer Rehabilitation gibt es andere, teils höhere Sozialleistungen. Behinderungsbedingte Mehrbelastungen werden bei Menschen, die Steuern zahlen, durch Steuerfreibeträge berücksichtigt, die vom GdB abhängen. 5. Soziale Teilhabe und Wohnen Für Menschen mit Behinderungen, die für ihre soziale Teilhabe und das Wohnen auf Unterstützung angewiesen sind, soll selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde außerhalb von besonderen Wohnformen (Heimen) möglich werden. Um die bisherigen Einrichtungen in diesem Sinne zu transformieren, wurde durch das Bundesteilhabegesetz die Unterstützung zum Wohnen (Kosten der Unterkunft) von den Fachleistungen (Assistenz) getrennt. Die Kosten der Unterkunft trägt, wenn erforderlich, die Sozialhilfe, für die Leistungen zur sozialen Teilhabe wie Assistenz ist die Eingliederungshilfe zuständig. Beide Träger sind bei den Städten und Kreisen oder bei Kommunalverbänden (z.B. Landschaftsverbände) angesiedelt. Es soll in einem längeren Transformationsprozess erreicht werden, dass mehr Menschen mit Behinderungen Unterstützung außerhalb von besonderen Wohnformen ambulant erhalten können. In besonderen Wohnformen gelten besondere Verbraucherschutzgesetze und Aufsichtsgesetze. 6. Mobilität Menschen, die in der Mobilität beeinträchtigt sind, haben Ansprüche auf Freifahrt im öffentlichen Nahverkehr, zum Teil auf Mitnahme von Begleitpersonen, Nutzung von Behindertenparkplätzen sowie auf Hilfsmittel wie Prothesen und Rollstühle. Weitergehende Hilfen, einschließlich Zuschüsse zur Anschaffung und dem Umbau von Autos, werden geleistet, wenn sie zur Fahrt zur Arbeit erforderlich sind. Barrierefreiheit und Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel sind noch nicht hinreichend umgesetzt. 7. Langzeitpflege Die soziale Pflegeversicherung und die Hilfe zur Pflege stehen außerhalb des im SGB IX koordinierten Behindertenrechts. Sie sind jedoch sehr wichtig für Menschen mit Behinderungen. Bei anhaltender Pflegebedürftigkeit werden von der Pflegeversicherung Leistungen in Pflegeheimen und durch ambulante Pflegedienste übernommen oder es wird bei selbst sichergestellter Pflege Pflegegeld gezahlt. Diese Leistungen sind jedoch nicht kostendeckend. Bei Bedürftigkeit kommt ergänzend die Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe auf. In besonderen Wohnformen für Menschen mit Behinderungen übernimmt die Pflegeversicherung nur einen geringeren Teil der pflegebedingten Aufwendungen. 8. Kinder mit Behinderungen Für die Leistungen zur sozialen Teilhabe und Teilhabe an Bildung für Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen sind die Träger der Eingliederungshilfe zuständig, für die Leistungen für Kinder mit seelischen Behinderungen die Träger der Kinder- und Jugendhilfe. In Sozialpädiatrischen Zentren und Interdisziplinären Frühförderstellen arbeiten Medizin und Heilpädagogik zusammen. Diese Leistungen der Früherkennung und Frühförderung werden gemeinsam von Krankenkassen und Eingliederungshilfe finanziert. Für die stationäre Kinderrehabilitation ist die Rentenversicherung zuständig, für Rehabilitation von Müttern und Vätern und gemeinsame Rehabilitation von Eltern und Kindern die Krankenkasse. Es ist geplant, dass die Zuständigkeit für Leistungen der sozialen Teilhabe und Teilhabe an Bildung bis 2028 bei den Jugendämtern zusammengeführt wird. Diese sind auch heute schon dafür zuständig, dass Kindertageseinrichtungen inklusiv und barrierefrei verfügbar sind. 9. Teilhabe an Bildung Die primäre Verantwortung für die Teilhabe an Bildung von Menschen mit Behinderungen liegt bei den Bildungseinrichtungen und in der Bildungspolitik. Allerdings werden notwendige unterstützende Leistungen zur Teilhabe an Bildung, z.B. Schulbegleitung, durch die Träger der Eingliederungshilfe und der Jugendhilfe finanziert. Das gilt auch für die Unterstützung eines Studiums mit Behinderung, wobei bei berufsqualifizierenden Studiengängen auch die Bundesagentur zuständig sein kann. 10. Teilhabe am Arbeitsleben Alle Betriebe, die mindestens 20 Arbeitsplätze haben, sind verpflichtet, mindestens 5 % schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Tun sie das nicht, müssen sie Ausgleichsabgabe bezahlen. Aus dieser Abgabe werden insbesondere Leistungen der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben der Integrationsämter finanziert, um die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zu erleichtern. Schwerbehinderte Menschen haben besonders konkretisierte Rechte auf behinderungsbedingte Beschäftigung, besonderen Kündigungsschutz, über den die Integrationsämter wachen, sowie mit der Schwerbehindertenvertretung eine spezifische betriebliche Interessenvertretung. Behinderte Menschen, die nicht als schwerbehindert anerkannt sind, werden durch das AGG – noch nicht genug – vor Diskriminierung im Arbeitsleben geschützt. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) werden hauptsächlich in Zuständigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung für Personen erbracht, die bereits im Arbeitsleben stehen. Für andere und für die Berufsausbildung ist vor allem die Bundesagentur für Arbeit (BA) zuständig. Dies gilt auch für Personen, die Bürgergeld erhalten. Hier ist die BA der Rehabilitationsträger für das Jobcenter. LTA können Leistungen wie Ausbildung und Weiterbildung in Berufsbildungswerken und Berufsförderungswerken und im Betrieb erforderliche Eingliederungszuschüsse, Hilfsmittel, technische Arbeitshilfen oder Mobilitätshilfen sein. Für Menschen, die keine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden können, sind die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) als Arbeitsstätten und Teilhabeeinrichtungen vorgesehen. Hier arbeiten aktuell mehr als 300.000 Menschen. Einen Schritt näher am allgemeinen Arbeitsmarkt sind Inklusionsbetriebe. Der Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt dienen auch Integrationsfachdienste und Einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber, die von den Integrationsämtern finanziert werden. Die WfbM sind umstritten, da sie eine abgeschlossene Arbeitswelt darstellen. Verbände und der Fachausschuss der Vereinten Nationen fordern einen Übergang von der geschützten zur unterstützten Beschäftigung. Kritisiert wird auch, dass aktuell in den WfbM kein Mindestlohn gilt, sondern die Beschäftigten nur mit ergänzender Grundsicherung oder Erwerbsminderungsrente das Existenzminimum erreichen. Immerhin vermittelt die Beschäftigung in WfbM den Schutz der Krankenversicherung, Rentenversicherung und Unfallversicherung, allerdings nicht der Arbeitslosenversicherung. Eine Alternative zur WfbM soll das Budget für Arbeit darstellen, ein Lohnkostenzuschuss der Eingliederungshilfe für Menschen des gleichen Personenkreises, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig werden. 11. Medizinische Rehabilitation und Krankenbehandlung Der Rehabilitation zum Ausgleich, zur Minderung und Prävention von Behinderung dienen Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Sie werden in Deutschland traditionell vor allem in stationären Einrichtungen in Kurorten erbracht. Ambulante und betriebsnahe Formen gewinnen an Bedeutung. Wichtigster Träger der medizinischen Rehabilitation ist die Rentenversicherung für Erwerbstätige, zuständig sind außerdem die Krankenkassen, die Unfallversicherung und die Versorgungsämter. Die Medizinische Rehabilitation kann mit einer stufenweisen Wiedereingliederung verbunden werden, mit der Menschen an den Arbeitsplatz zurückgebracht werden sollen. Zur medizinischen Rehabilitation gehören auch die meisten Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich. Wichtig für den Erfolg der medizinischen Rehabilitation ist auch eine länger anhaltende Nachsorge und oft die organisierte Selbsthilfe. Selbsthilfegruppen und Organisationen werden von den Rehabilitationsträgern unterstützt. Für Menschen mit Behinderungen ist auch eine an die Behinderung angepasste barrierefreie Krankenbehandlung notwendig. Dazu sind die Krankenkassen und Leistungserbringer dem Grunde nach verpflichtet, es gibt jedoch noch erhebliche Defizite. Für eine spezialisierte Versorgung sind insbesondere die Sozialpädiatrischen Zentren und die Medizinischen Zentren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung (MZEB) eingerichtet. 12. Ausblick Die Weiterentwicklung von Sozialpolitik und Sozialrecht für Menschen mit Behinderungen ist eine dauernde Aufgabe, die im Lichte der UN-BRK und des gesellschaftlichen Wandels erhebliche Transformationen von Sondereinrichtungen und eine wachsende Inklusivität des Arbeitsmarkts und des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen fordert. Die Beteiligung der Menschen mit Behinderungen durch ihre Interessenvertretungen und Verbände ist dabei wichtig. Vgl. Externer Link: https://www.mohrsiebeck.com/buch/behinderung-und-rehabilitation-im-sozialen-rechtsstaat-9783161487255?no_cache=1 Interner Link: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/sozialpolitik-327/214326/geschichte-der-sozialpolitik-normen-und-prinzipien/ Interner Link: https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/rentenpolitik/289604/geschichte-der-rentenversicherung-in-deutschland/ Interner Link: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-beginn-der-ns-euthanasie-programme/ Interner Link: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32707/die-geschichte-der-behindertenpolitik-in-der-bundesrepublik-aus-sicht-der-disability-history/; Externer Link: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4389-3/aufbrueche-und-barrieren/ Interner Link: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/284888/eine-dekade-un-behindertenrechtskonvention-in-deutschland/; Externer Link: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Handbuch_Behindertenrechtskonvention.pdf; https://www.uibk.ac.at/iup/buecher/9783991060284.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html; Externer Link: https://dserver.bundestag.de/btd/12/060/1206000.pdf Externer Link: https://dserver.bundestag.de/btd/16/108/1610808.pdf; Externer Link: https://dserver.bundestag.de/btd/16/112/1611234.pdf Externer Link: https://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/2418.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/agg/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__10.html; Externer Link: https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/stichwortkommentar-behindertenrecht-id-98142/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__33c.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__17.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__29.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/__9.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/__11.html Externer Link: https://dserver.bundestag.de/btd/20/044/2004440.pdf Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__33.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__8.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__14.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__12.html Externer Link: https://www.bar-frankfurt.de/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__2.html; Externer Link: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/k710-versorgungsmed-verordnung.pdf?__blob=publicationFile&v=1 Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_6/__43.html Externer Link: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistiken-und-Berichte/statistikpublikationen/erwerbsminderungsrenten_zeitablauf.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_6/__59.html Externer Link: https://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_295.pdf Externer Link: https://dserver.bundestag.de/btd/20/020/2002074.pdf; Externer Link: https://www.bundestag.de/ausschuesse/a11_arbeit_soziales/Anhoerungen/896398-896398 Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/__41.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/estg/__33b.html Externer Link: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsschutz/datenbanken/datenbank-fuer-menschenrechte-und-behinderung/detail/artikel-19-un-brk; Externer Link: https://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/RehaRecht/Diskussionsforen/Forum_A/2019/A5-2019_Theben_Artikel_19_UN-BRK.pdf Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-e4-2018 Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a26-2021 Externer Link: https://www.bagues.de/de/ Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a28-2021; Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a14-2022/; Externer Link: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/bthg-kompass/bk-trennung-von-leistungen/kosten-der-unterkunft/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/wbvg/; Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a27-2021 Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__228.html Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a2-2022 Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/__43.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/__36.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/__37.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/__61.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/__43a.html; Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d36-2016; Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a5-2023 Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__119.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__46.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_6/__15a.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__41.html Externer Link: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748938460/inklusion-und-die-rechte-junger-menschen?page=1; Externer Link: https://dip.bundestag.de/vorgang/gesetz-zur-st%C3%A4rkung-von-kindern-und-jugendlichen-kinder-und-jugendst%C3%A4rkungsgesetz/272013?f.deskriptor=Kinderschutz&rows=25&pos=20 Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__75.html Externer Link: https://www.studentenwerke.de/de/behinderung; Externer Link: https://kobra.uni-kassel.de/handle/123456789/11886 Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__154.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__160.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__185.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/schwbav_1988/BJNR004840988.html Externer Link: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Rechtsgutachten/rechtsgutachten_angemessene_vorkehrungen.pdf?__blob=publicationFile&v=4 Externer Link: https://dip.bundestag.de/vorgang/.../273808 Externer Link: https://www.bagbbw.de/berufsbildungswerke/ Externer Link: https://www.bv-bfw.de/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__219.html; Externer Link: https://www.bagwfbm.de/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__215.html; Externer Link: https://www.bag-ub.de/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__192.html Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__185a.html Externer Link: https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb-586-studie-entgeltsystem-fuer-menschen-mit-behinderungen-zwischenbericht.html Externer Link: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G22/518/57/PDF/G2251857.pdf?OpenElement Externer Link: https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/das-budget-fuer-arbeit-forschungsbericht-online/ Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__44.html; Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d3-2023 Externer Link: https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/barrierefreie-gesundheitsversorgung-id-73635/; Externer Link: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d7-2016 Externer Link: https://dserver.bundestag.de/btd/20/070/2007053.pdf Externer Link: https://bagmzeb.de/
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-06-29T00:00:00"
"2023-06-22T00:00:00"
"2023-06-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/inklusion-teilhabe/behinderungen/522248/menschen-mit-behinderungen-sozialrecht-und-sozialpolitik/
Wie sind Menschen mit Behinderung sozial abgesichert in Deutschland? Felix Welti skizziert die Grundlagen von Sozialrecht und Sozialpolitik.
[ "Behinderung und Inklusion", "Barrierefreiheit", "Sozialrecht" ]
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Vor 55 Jahren: Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess | Hintergrund aktuell | bpb.de
In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es die Alliierten, die die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes strafrechtlich verfolgten. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof fanden von 1945 bis 1949 die Interner Link: Nürnberger Prozesse statt, die den Interner Link: Auftakt eines langen Weges der Aufarbeitung bildeten. Ab 1950 erlaubte das Gesetz Nummer 13 des Rats der Alliierten Hohen Kommission auch deutschen Gerichten eine uneingeschränkte Strafverfolgung von nationalsozialistischen Gewalttaten. Erst im Jahr 1963 begann das Strafverfahren über Verbrechen, die im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz begangen wurden: der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Periode des Schweigens Bis 1958 wurde jedoch nur gegen wenige Täter ermittelt. Ein Grund dafür war das gesamtgesellschaftliche Klima in den frühen Jahren der Bundesrepublik: Durch Entnazifizierungsverfahren sollten zwar alle ehemaligen Nazis aus Positionen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft entfernt werden. Diese Verfahren blieben jedoch oft oberflächlich. Ab 1951 wurden viele Staatsbedienstete aus der NS-Zeit Externer Link: wieder eingegliedert. Auch einige Verurteilte aus den Interner Link: Hauptkriegsverbrecherprozessen wurden in den 1950er-Jahren begnadigt. Bundeskanzler Konrad Adenauer forderte gar eine Interner Link: generelle Amnestie für Strafen, die von Gerichten der Alliierten verhängt wurden. Der weit verbreitete Wunsch nach einem "Schlussstrich" unter die Nazi-Verbrechen sowie der anlaufende Wiederaufbau des Landes trugen in der Adenauer-Ära zu einer "Periode des Schweigens" über die NS-Gräuel bei. Die meisten Deutschen fühlten sich damals als Kriegsopfer. Ulmer Prozess 1958 Das änderte sich erst mit dem Externer Link: Ulmer Prozess von 1958. Hauptangeklagter war Bernhard Fischer-Schweder, der Kommandeur des Einsatzkommandos Tilsit, das 1941 im litauischen Memel (heute: Klaipėda) mehrere tausend Jüdinnen und Juden ermordet hatte. Dem Gericht gelang es, ihm und neun weiteren Angeklagten die Beteiligung an insgesamt 5.502 Morden nachzuweisen. Es war der erste Prozess vor einem deutschen Gericht, in dem Massenmorde verhandelt wurden. Er machte öffentlichkeitswirksam deutlich, dass NS-Verbrecher unbestraft in Deutschland lebten und arbeiteten. Zwei Monate nach dem Urteil, im November 1958, gründeten die Justizminister der Bundesländer die Externer Link: Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Ihre Aufgabe ist es bis heute, auf der Grundlage systematischer Quellenauswertung Vorermittlungen zu führen, die sie an die zuständigen Staatsanwaltschaften übergibt. Hermann Langbein und Fritz Bauer Zwei Männer, die maßgeblichen Anteil daran hatten, dass ab 1963 der Frankfurter Auschwitz-Prozess stattfinden konnte, waren Interner Link: Hermann Langbein und Interner Link: Fritz Bauer. Hermann Langbein war Historiker und Publizist, und hatte selbst als Häftling Auschwitz überlebt. 1954 gründete er das Externer Link: Internationale Auschwitz Komitee mit und versorgte die Justiz mit Hinweisen zu Ermittlungen gegen mutmaßliche Täter von Auschwitz. Fritz Bauer war 1930 jüngster Amtsrichter der Weimarer Republik, wurde jedoch 1933 von den Nationalsozialisten wegen seines jüdischen Glaubens aus dem Justizdienst entlassen und für acht Monate im Konzentrationslager Heuberg interniert. Ab 1936 lebte er im Exil, erst in Dänemark, von wo aus er wegen der drohenden Deportation der dänischen Juden durch die deutschen Besatzer nach Schweden flüchten musste. Erst 1949 kehrte er nach Deutschland zurück.1956 wurde er zum hessischen Generalstaatsanwalt ernannt, wo er sich unermüdlich für die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen engagierte. Er gab unter anderem dem israelischen Geheimdienst den entscheidenden Hinweis zum Aufenthaltsort von Adolf Eichmann, der zu dessen Ergreifung und schließlich zum Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem führte. Er engagierte sich auch dafür, dass die Verhandlungen über die Verbrechen, die in Auschwitz begangen wurden, in einem großen Prozess abgehalten wurden, und nicht in vielen kleinen Verfahren. Mord oder "Befehlsnotstand"? Ein Problem bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen war die Diskrepanz zwischen dem Ausmaß des organisierten Massenmordes an europäischen Juden und einem Mordparagrafen, der für eine Verurteilung individuelle Tatnachweise voraussetzt. Das bedeutet: Täter konnten nur dann verurteilt werden, wenn ihnen eine direkte Beteiligung an Morden nachgewiesen werden konnte, was einschließt, dass die Tat ohne Befehl und aus niederen Motiven wie zum Beispiel Rassenhass begangen wurde. Dem stand entgegen, dass sich Täter oft auf den so genannten "Befehlsnotstand" beriefen und bekundeten, dass ihnen bei Unterlassung ihrer Taten Gefahr für Leib und Leben gedroht hätte. Als besonders schwierig erwies sich, in dem quasi-industriell aufgebauten Mordkomplex des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz einer einzelnen Person die Hauptverantwortung für eine einzelne Tat nachzuweisen. Auschwitz – Symbol für den Holocaust In Auschwitz, dem heutigen Oswiecim (Polen), befand sich das größte Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Es gilt als Symbol für den Holocaust, den systematischen Mord an den Juden Europas. Insgesamt wurden in Auschwitz mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet, etwa eine Million von ihnen waren Juden. Der Lagerkomplex, im Mai 1940 errichtet, bestand aus drei Hauptteilen. Im Stammlager (Auschwitz I) waren unter anderem sowjetische Kriegsgefangene und Frauen eingesperrt. Im Lager Birkenau (Auschwitz II) trafen die Deportationszüge ein. Dort befanden sich auch die Gaskammern und Krematorien. Wer die Selektion an der Rampe überlebte, wurde als Zwangsarbeiter im Lager Monowitz (Auschwitz III) untergebracht. Die zumeist jüdischen Häftlinge arbeiteten bis zur Erschöpfung auf dem angrenzenden Werksgelände der I.G. Farbenindustrie AG, einem Zusammenschluss deutscher Chemieunternehmen, sowie anderen Fabriken, die sich rund um das Lager angesiedelt hatten. Insgesamt hatte der Lagerkomplex eine Ausdehnung von 40 Quadratkilometern. Die Anhörungen Der Frankfurter Auschwitz-Prozess begann am 20. Dezember 1963. Externer Link: Insgesamt sollten 24 Männer wegen NS-Verbrechen im Kontext des Konzentrationslagers Auschwitz angeklagt werden. Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz, starb ein halbes Jahr vor Prozessbeginn, ein weiterer Mann schied krankheitsbedingt aus dem Verfahren aus. Hauptangeklagter war Robert Mulka, der Adjutant des früheren Lagerkommandanten Rudolf Höß. Der Prozess hieß offiziell "Strafsache gegen Mulka u.a.". Neben Mulka standen unter anderem drei Lagerärzte und Mitglieder der SS-Wachmannschaften vor Gericht. Angehört wurden insgesamt 359 Zeugen aus 19 Ländern. Etwa zwei Drittel von ihnen waren ehemalige Interner Link: KZ-Häftlinge. Für sie waren die Aussagen oft besonders belastend – nicht nur, weil sie traumatische Erlebnisse schildern mussten, sondern auch, weil ihre Erinnerungen zum Teil von den Verteidigern und Richtern infrage gestellt wurden. Sie berichteten von Foltermethoden, "Selektionen", Tötungen und Misshandlungen durch Ärzte. Diese Aussagen sorgten auch international für großes Aufsehen. Die Angeklagten ihrerseits leugneten die Existenz der Verbrechen in Auschwitz oft nicht. Sie gaben jedoch häufig an, Erinnerungslücken zu haben, oder bestritten, persönlich an diesen Taten beteiligt gewesen zu sein. Außerdem beteuerten sie, auf Befehl gehandelt zu haben. Interner Link: Scham oder Reue für die Taten zeigten sie nicht. Urteile lösen Debatte aus Am 19. und 20. August 1965 wurden Externer Link: die Urteile verkündet. Sechs Angeklagte wurden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, darunter Josef Klehr, der Leiter des SS-Desinfektionskommandos in Auschwitz, dem 475 Morde und gemeinschaftliche Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens sechs Fällen zur Last gelegt wurden. Auch Emil Bednarek, der als sogenannter Funktionshäftling von der SS in Auschwitz eingesetzt worden war und dem 14 Morde nachgewiesen werden konnten, erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er wurde jedoch 1975 begnadigt. Robert Mulka selbst bekam wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen und an mindestens je 750 Menschen eine 14-jährige Freiheitsstrafe, die er jedoch nie antrat: Ihm wurde noch vor Rechtskraft des Urteils im Jahr 1968 Haftverschonung gewährt. Mulka starb 1969. Drei weitere Angeklagte wurden freigesprochen. Insgesamt wurden die Urteile oft als zu milde empfunden. Auch Interner Link: Fritz Bauer zeigte sich enttäuscht. Die Prozesse halfen jedoch, Debatten in Gang zu bringen, die den Umgang mit NS-Verbrechen in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bestimmten. Mehr Menschen wurde bewusst, Interner Link: dass es keinen "Schlussstrich" unter nationalsozialistische Verbrechen geben konnte. Parallel zum Prozess debattierte der Bundestag darüber, Interner Link: die Verjährungsfrist von Mord aufzuheben, was 1979 beschlossen wurde – auch, weil dadurch Nazi-Verbrechen weiterverfolgt werden konnten. Wende durch den Demjanjuk-Prozess 2011 Die Rechtsauffassung, dass nur jene Nazi-Täter zur Verantwortung gezogen werden können, denen eine persönliche Beteiligung an Morden nachgewiesen werden konnte, änderte sich dagegen nur allmählich. Beihilfe zum Mord und Mord sind die einzigen Verbrechen aus der Nazi-Zeit, die noch nicht verjährt sind. Gleichzeitig galten aber beispielsweise SS-Wachen, die mit ihren Taten einen Anteil daran hatten, dass Morde geschehen konnten, im juristischen Sinne nicht als Beihelfer. Das änderte sich mit dem Prozess gegen den in der Ukraine geborenen SS-Wachmann John Demjanjuk, der 2011 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 28.060 Fällen im Interner Link: Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Demjanjuk starb 2012, bevor das Urteil rechtskräftig wurde. Ab 2011 wurde es möglich, auch jene Mittäter zur Verantwortung zu ziehen, die ihren Anteil daran hatten, dass die Mordmaschine der Nationalsozialisten funktionieren konnte. Deswegen gibt es auch immer noch Prozesse gegen NS-Täter: Ein 93-jähriger ehemaliger SS-Wachmann im KZ Stutthof wurde beispielsweise Ende Juli 2020 zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Mehr zum Thema: Interner Link: Peter Jochen Winters: Der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ein Rückblick 50 Jahre nach dem Urteil Interner Link: Das Ende der "Verjährungsdebatte" – Warum Mord nicht verjährt (Hintergrund aktuell, 01.07.2019)Interner Link: Jörg Echternkamp: Die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen Joachim Wolf: Leugnen aus Tradition. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse Interner Link: Webdocumentary "Auschwitz heute" Zwei Männer, die maßgeblichen Anteil daran hatten, dass ab 1963 der Frankfurter Auschwitz-Prozess stattfinden konnte, waren Interner Link: Hermann Langbein und Interner Link: Fritz Bauer. Hermann Langbein war Historiker und Publizist, und hatte selbst als Häftling Auschwitz überlebt. 1954 gründete er das Externer Link: Internationale Auschwitz Komitee mit und versorgte die Justiz mit Hinweisen zu Ermittlungen gegen mutmaßliche Täter von Auschwitz. Fritz Bauer war 1930 jüngster Amtsrichter der Weimarer Republik, wurde jedoch 1933 von den Nationalsozialisten wegen seines jüdischen Glaubens aus dem Justizdienst entlassen und für acht Monate im Konzentrationslager Heuberg interniert. Ab 1936 lebte er im Exil, erst in Dänemark, von wo aus er wegen der drohenden Deportation der dänischen Juden durch die deutschen Besatzer nach Schweden flüchten musste. Erst 1949 kehrte er nach Deutschland zurück.1956 wurde er zum hessischen Generalstaatsanwalt ernannt, wo er sich unermüdlich für die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen engagierte. Er gab unter anderem dem israelischen Geheimdienst den entscheidenden Hinweis zum Aufenthaltsort von Adolf Eichmann, der zu dessen Ergreifung und schließlich zum Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem führte. Er engagierte sich auch dafür, dass die Verhandlungen über die Verbrechen, die in Auschwitz begangen wurden, in einem großen Prozess abgehalten wurden, und nicht in vielen kleinen Verfahren. In Auschwitz, dem heutigen Oswiecim (Polen), befand sich das größte Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Es gilt als Symbol für den Holocaust, den systematischen Mord an den Juden Europas. Insgesamt wurden in Auschwitz mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet, etwa eine Million von ihnen waren Juden. Der Lagerkomplex, im Mai 1940 errichtet, bestand aus drei Hauptteilen. Im Stammlager (Auschwitz I) waren unter anderem sowjetische Kriegsgefangene und Frauen eingesperrt. Im Lager Birkenau (Auschwitz II) trafen die Deportationszüge ein. Dort befanden sich auch die Gaskammern und Krematorien. Wer die Selektion an der Rampe überlebte, wurde als Zwangsarbeiter im Lager Monowitz (Auschwitz III) untergebracht. Die zumeist jüdischen Häftlinge arbeiteten bis zur Erschöpfung auf dem angrenzenden Werksgelände der I.G. Farbenindustrie AG, einem Zusammenschluss deutscher Chemieunternehmen, sowie anderen Fabriken, die sich rund um das Lager angesiedelt hatten. Insgesamt hatte der Lagerkomplex eine Ausdehnung von 40 Quadratkilometern.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-05-24T00:00:00"
"2020-08-14T00:00:00"
"2023-05-24T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/314099/vor-55-jahren-urteil-im-frankfurter-auschwitz-prozess/
Am 19. und 20. August 1965 wurden die Urteile im Frankfurter Auschwitz-Prozess verkündet. Es war das Ende des bis dahin wichtigsten Verfahrens gegen NS-Verbrecher vor einem deutschen Gericht. Der Prozess prägte die Debatte um die deutsche Auseinande
[ "Auschwitz Prozesse", "NS-Verbrechen", "Aufarbeitung der NS-Verbrechen", "Aufarbeitung historischer Schuld", "Fritz Bauer", "Hermann Langbein" ]
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Info 03.04 Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Erstellung einer Kreuztabelle mit GrafStat | KlassenCheckUp! | bpb.de
Erstellen einer Kreuztabelle GrafStat bietet mit der Auszählung in Kreuztabellen ein effektives Instrument zur Auswertung in zwei Dimensionen. Die Darstellung in Kreuztabellenform ermöglicht es, Tendenzen eventueller Korrelationen zweier Merkmalsausprägungen auszumachen und somit beispielsweise geschlechtsspezifische Aussagen zu überprüfen. Das Errechnen eines Korrelationskoeffizienten ist mit der Software leider nicht möglich. Beispiel-Hypothese: "Mädchen geben im Vergleich zu Jungen häufiger an, dass sie auch ziemlich häufig über andere in der Klasse lästern." Auswahl der Merkmale Wie in unserer Beispielhypothese geht es bei den meisten Auswertungen darum, Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen zwei Merkmalen zu untersuchen. Daher ist es nach der Wahl eines ersten Merkmals notwendig, noch ein zweites Merkmal auszuwählen, um eine Korrelation der beiden Merkmale überprüfen zu können. In der Beispiel-Hypothese wird ein Zusammenhang behauptet zwischen Merkmal 1: dem Geschlecht (Frage 48) und Merkmal 2: der Einschätzung zur eigenen "Lästerei" (Frage 19). Auszählung in % Bei der Erstellung von Kreuztabellen ist besonders darauf zu achten, wie die Auszählung auf 100% zu wählen ist, um die "richtigen" Zahlen für die Auswertung zu bekommen. Auswählbar sind die Auszähloptionen: auf "Zeilen", "Spalten" oder auf "N". Bei der Entscheidung, welche dieser Einstellungen gewählt werden sollte, ist es hilfreich, sich vorab die Hypothese/ Fragestellung, die überprüft werden soll, aufzuschreiben. So hat man stets vor Augen, was die unabhängige und was die abhängige Variable ist. Ist man sich nicht sicher, welches der beiden Merkmale die unabhängige Variable ist, so hilft meist die Frage nach den Gruppen, die man miteinander vergleichen möchte, also in unserem Beispiel die beiden Gruppen "Jungen" und "Mädchen" weiter. Das Item zu diesen Gruppen, also die unabhängige Variable, muss auf 100% ausgezählt werden, damit diese – trotz evtl. unterschiedlicher Größe – vergleichbar werden. Kurzanleitung Wählen Sie auf dem Karteikartenreiter "Merkmal" zunächst das erste Merkmal aus. Um das benötigte zweite Merkmal auswählen zu können, klicken Sie den Knopf "2. Merkmal" (unten links). In der rechten Hälfte des jetzt zweigeteilten Fensters können Sie nun das zweite Merkmal einstellen. Klicken Sie anschließend auf die Registerkarte "Kreuztabelle", um sich die Daten beider Merkmale in einer solchen anzeigen zu lassen. Überprüfen Sie, welche Auszählung auf 100% für die Hypothese am sinnvollsten ist. Lesen von Kreuztabellen Um ungleiche Vergleichsgrößen zueinander in Beziehung zu setzen, müssen sie in der Kreuztabelle auf 100% gesetzt werden. (© BpB) Auszählen in Prozent Grafstat bietet die Möglichkeit, Kreuztabellen (in der Prozentdarstellung) unterschiedlich auszählen zu lassen. Man kann die Reihen, die Spalten oder die Gesamtanzahl der auszuwertenden Fragebögen auf 100% auszählen lassen. Wie ausgezählt wird, hängt von der Hypothese/Ausgangsfrage ab. In unserem Beispiel soll die Gruppe der Mädchen mit der Gruppe der Jungen hinsichtlich ihres "Interventionsverhaltens" verglichen werden. Da die Vergleichsgrößen bzw. -gruppen "männlich" und "weiblich" in der Befragung nicht gleich groß sind, müssen sie zu Vergleichszwecken auf 100 Prozent gesetzt werden, da sich nur so der Anteil derer, die angeben, einzugreifen, wenn andere Schüler gemobbt werden (Frage 33), innerhalb der jeweiligen Gruppe miteinander vergleichen lässt. Es müsste hier also eine Auszählung der Spalten (Merkmal "Geschlecht") auf 100% erfolgen (s. Abb.). Reihenfolge der Merkmale tauschen Sollen die beiden Merkmale in der Tabelle bzw. in der späteren Grafik genau anders herum angeordnet werden als dargestellt, so kann dies ganz einfach über den Tauschen-Knopf erreicht werden. Hierbei ist zu beachten, dass dann gegebenenfalls auch die Auszählung auf Reihen und Spalten angepasst werden muss. Hinweis: Über das Setzen von Filtern kann man zusätzlich zu den beiden Merkmalen in der Kreuztabelle noch ein drittes oder viertes etc. Merkmal hinzuschalten. Quelle: Eigener Text in Anlehnung an die GrafStat-Hilfe von Uwe Diener. Um ungleiche Vergleichsgrößen zueinander in Beziehung zu setzen, müssen sie in der Kreuztabelle auf 100% gesetzt werden. (© BpB)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-09-21T00:00:00"
"2011-12-06T00:00:00"
"2021-09-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/klassencheckup/46395/info-03-04-schritt-fuer-schritt-anleitung-zur-erstellung-einer-kreuztabelle-mit-grafstat/
Diese Schritt-für-Schritt-Anleitung hilft beim Erstellen und Lesen einer Kreuztabelle mit GrafStat.
[ "Anleitung", "Grafstat", "KlassenCheckUp", "Auswertung", "Kreuztabelle" ]
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1. Fantasiereise: Ich mache eine Reise … | VorBild – Politische Bildung für Förderschulen und inklusive Schulen | bpb.de
1. Schritt Alle Schüler/-innen schließen die Augen. Sie sollen sich vorstellen, sie säßen in einem Schiff und würden gemeinsam zu einer Insel fahren. Die Schüler/-innen können sich gerne mit geschlossenen Augen auf ihren Plätzen langsam bewegen, um die Wellen des Meeres zu erleben und darzustellen. Das gestaltet die Reise etwas lebhafter. Erzählen Sie, dass das Schiff nun auf ruhigem Meer friedlich auf eine neue Insel zusteuert und bitten Sie die Schüler/-innen, die Wellenbewegungen einzustellen. Regen Sie die Schüler/-innen dazu an, darüber nachzudenken, was sie auf dieser Insel benötigen und gerne mitnehmen möchten. Sie sollen ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Sie sollen überlegen und davon träumen, wie diese Insel in ihren Vorstellungen aussieht, was sie dort sehen, was sie dort benötigen etc. Geben Sie ihnen hierfür 2 bis 5 Minuten Zeit. 2. Schritt Verteilen Sie in der Zwischenzeit die roten Umschläge an die einzelnen Gruppen. Die Schüler/-innen öffnen die Augen und schreiben den Namen ihrer Insel auf den roten Umschlag. Die Schüler/-innen dürfen anschließend den roten Umschlag mit den Bedürfniskarten öffnen. Sie können aus den Bedürfniskarten die Sachen heraussuchen, die sie gerne auf die neue Insel mitnehmen möchten. Diese Karten legen sie anschließend in den Schuhkarton mit dem Inselmotiv. Die leeren Karten dienen dazu, weitere Dinge aufzuschreiben, die sie gerne mitnehmen möchten, die aber bei den vorgefertigten Bedürfniskarten nicht dabei sind. Diese legen die Schüler/-innen ebenfalls in den Karton mit dem Inselmotiv. Die übrig gebliebenen Karten werden in die roten Umschläge zurückgelegt und eingesammelt. Zwischenreflexion Wie habt ihr die Reise empfunden? Hat die Reise Spaß gemacht? Wie hat es sich angefühlt, Sachen für die Reise auszusuchen? Fiel es schwer oder war es leicht? 3. Schritt Hängen Sie nun das rote DIN A3-Kartonpapier an die Tafel und beschriften Sie dieses mit dem Satz "Was ich unbedingt brauche". Teilen Sie das Kartonpapier mit einem Stift in Spalten auf (pro Kleingruppe eine Spalte). Notieren Sie die Namen der Kleingruppen (Name der Insel) in die jeweiligen Spalten. Bitten Sie die Kleingruppen nacheinander, zunächst ihre Auswahl der vorgegebenen Bedürfniskarten untereinander und anschließend die weißen, selbst hinzugefügten Karten an das rote Kartonpapier zu heften. Reflexion Was hat jede Gruppe als dringend notwendig empfunden mitzunehmen? Gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Gibt es Sachen, die jeder Mensch braucht? Gibt es Sachen, die nur einige brauchen? Und warum? Lassen Sie das rote Bedürfnisplakat im Klassenzimmer hängen!  
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-20T00:00:00"
"2022-03-23T00:00:00"
"2022-07-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/vorbild/506499/1-fantasiereise-ich-mache-eine-reise/
Die Schüler/-innen gehen gemeinsam auf eine Fantasiereise und setzen sich mit ihren Wünschen und Bedürfnissen auseinander – was würden sie auf dieser Insel benötigen und was möchten sie gerne mitnehmen?
[ "VorBild", "Politische Bildung", "Förderschule", "Reise", "Wünsche" ]
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Aus russischen Blogs: Die Debatte um das Verfahren gegen Nadeschda Sawtschenko | Russland-Analysen | bpb.de
Am 9. März fand die letzte Gerichtssitzung im umstrittenen Prozess gegen Nadeschda Sawtschenko statt. Die ukrainische Militärangehörige und Freiwillige des Bataillons "Ajdar" war 2014 in der Ostukraine von Separatisten gefangen genommen worden und auf ungeklärte Weise in die Hand russischer Behörden gelangt, von denen sie dann vor Gericht gestellt wurde. Die russische Anklage wirft der ukrainischen Kampfpilotin vor, an dem Artillerieangriff im Gebiet Lugansk als Koordinatorin beteiligt gewesen zu sein, bei dem zwei russische Journalisten getötet wurden. Die Staatsanwaltschaft fordert 23 Jahre Freiheitsentzug. Das Urteil soll am 21. und 22. März verkündet werden. Sawtschenko bestreitet die Anschuldigungen. Die Verteidigung weist darauf hin, dass die Angeklagte bereits in Gefangenschaft war, als die russischen Journalisten getötet wurden. Ihr Schlusswort sprach Sawtschenko in der südrussischen Provinz Rostow auf Ukrainisch; sie äußerte sich dabei scharf zum "totalitären Regime" in Russland, drohte auch dem Kreml mit einem "Maidan", sprang dann auf die Bank, zeigte den "Stinkefinger" und sagte, das sei ihr letztes Wort. Wegen "ungebührlichen Verhaltens" vor Gericht wurde ihr ein Arzttermin gestrichen. Aus Protest gegen ihre Inhaftierung war die ukrainische Pilotin 2015 mehrere Wochen in einem Hungerstreik gewesen. Am 3. März 2016 trat sie erneut in einen Hungerstreik, verweigerte dieses Mal aber nicht nur Nahrung, sondern auch Wasser. Am 10. März brach sie den Hungerstreik plötzlich ab, nachdem einer ihrer Rechtsanwälte ihr einen Brief übergeben hatte – angeblich ein Brief des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko mit der Bitte, den Hungerstreik zu beenden. Am Folgetag stellte sich jedoch heraus, dass der Brief nicht von der ukrainischen Präsidialadministration stammt, sondern die Fälschung zweier Aktivisten war, die dadurch Sawtschenko das Leben retten wollten. Im Vorfeld des letzten Verhandlungstages kam es vor der russischen Botschaft in Kiew und den Konsulaten in Charkiw, Odessa und Lwiw zu Protesten. Die Demonstranten forderten die sofortige Freilassung Sawtschenkos und bewarfen die offiziellen Vertretungen Russlands mit Steinen und Farbbeuteln. In Russland begingen Dutzende Aktivisten den internationalen Frauentag mit Mahnwachen für Sawtschenko. Nach Angaben des Menschenrechtsportals "MWD-Info" wurden dabei in Moskau 30 Demonstranten und in St. Petersburg 11 Menschen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz von der Polizei festgenommen. Darüber hinaus forderten Hunderte prominente Politiker, Wissenschaftler und Kulturschaffende sowie mehrere Mitglieder des russischen PEN-Klubs, darunter die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die Freilassung der ukrainischen Pilotin. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Sawtschenko als politische Gefangene an. Die ehemalige Chefin des russischen Senders REN-TV, Irena Lesnewskaja, veröffentlichte am Frauentag einen emotional geladenen Appell an Wladimir Putin. Grigorij Jawlinskij, einer der Gründer der russischen Oppositionspartei "Jabloko", nannte in seinem Blog die Gerichtsverhandlung um Sawtschenko eine Abrechnung des Kreml. Der kremlnahe Blogger Alexej Ostalzew kritisierte die Protestaktion der ukrainischen Kampfpilotin im Gericht scharf und bezeichnete es als typisches Verhalten aller Ukrainer. Die Leiterin des Auswärtigen Dienstes der EU Federica Mogherini sowie die Außenminister Frankreichs und der USA riefen den Kreml zur sofortigen Freilassung der ukrainischen Pilotin auf. Dutzende Abgeordnete des europäischen Parlaments forderten neue Sanktionen gegen Russland und veröffentlichten den Entwurf einer "Sawtschenko-Liste" mit 29 russischen Politikern und Beamten, die an der Inhaftierung der Ukrainerin beteiligt gewesen sein sollen, unter anderem Präsident Wladimir Putin, FSB-Chef Alexander Bortnikow und der Leiter des Ermittlungskomitees Alexander Bastrykin. Der Kremlsprecher Dmitrij Peskow kritisierte das als Versuch europäischer Parlamentarier, sich in den Gerichtsprozess in Russland einzumischen. Zuvor hatte Maria Sacharowa, eine Vertreterin des russischen Außenministeriums, auf "Facebook" Stellung zu den Forderungen des US-amerikanischen Außenministers John Kerry genommen. Ihr Beitrag auf Facebook wurde viele Tausend Male geliket und gesharet. Poroschenko gab am 9. März zum ersten Mal bekannt, dass ein Austausch von Nadeschda Sawtschenko nicht ausgeschlossen sei. Sergej Parchomenko, Journalist von "Echo Moskwy", weist aber darauf hin, dass der Preis für den Austausch von Nadeschda Sawtschenko sehr hoch wäre. Die russischen Gefangenen in der Ukraine seien für den Kreml uninteressant, stattdessen habe man eher an Viktor But ein Interesse, der in den USA wegen Waffenhandels zu 25 Jahren Haftstrafe verurteilt wurde. Lesnewskaja: Herr Präsident, stoppen Sie diese Willkür! "Herr Präsident! Ich schreibe Ihnen am Vorabend des internationalen Frauentags als Bürgerin Russlands und als einfache Frau. In einem russischen Gefängnis und vor den Augen der ganzen Welt, stirbt im trockenen Hungerstreik eine mutige Frau – Nadeschda Sawtschenko! Ich bitte, appelliere an das Menschliche, Christliche, ja Männliche in Ihnen, damit Sie diese Willkür beenden und Nadeschda unverzüglich gegen russische Gefangene austauschen oder sie durch Ihren Erlass begnadigen! Beleidigen Sie nicht Russland, seine Männer und Offiziere, die noch eine Vorstellung von Ehrgefühl haben! Selbst wenn Sie eine ukrainische Offizierin, die die Souveränität ihres Landes verteidigt, für eine Feindin halten – haben Sie Respekt für Feinde! Ich betrachte Sie auch als ideologischen Feind; doch lassen Sie mich bitte den Präsidenten meines Landes wenigstens als jemanden wahrnehmen, der ein Mann ist!" Externer Link: Irena Lesnewskaja am 6. März 2016 bei "Echo Moskwy" Jawlinskij: Das Gerichtsverfahren gegen Sawtschenko ist ein Akt der Vergeltung des Kreml "Die russische Justiz hat wieder einmal unter Beweis gestellt, dass ihr Ruf nicht nur auf dem Nullpunkt, sondern im Minusbereich angekommen ist. Das Regime hat mit Nadeschda Sawtschenko öffentlich abgerechnet. Es war eben ein Akt der Vergeltung und kein Akt der Rechtsprechung. Dem Regime ging es in diesem Gerichtsprozess ganz offensichtlich nicht um eine objektive Untersuchung des Todes unbewaffneter russischer Bürger im Osten der Ukraine, sondern vielmehr darum, Rechnungen zu begleichen. Deswegen geriet das Gerichtsverfahren zu einem schändlichen, einseitigen Prozess. Eine gerechte Verhandlung des Falls Sawtschenko, wie auch generell eine Untersuchung der Ereignisse der letzten zwei Jahre im Südosten der Ukraine sind nur unter der Zuständigkeit eines speziell eingerichteten internationalen Gerichts möglich. Eines Gerichts, das Recht spricht, und nicht einen politischen Schauprozess veranstaltet." Grigorij Jawlinskij am 9. März 2016 auf "Facebook" Ostalzew: Recht – das ist zu kompliziert für Abkömmlinge eines Vergeltungsbataillons "Sawtschenko verkörpert sehr gut die heutige Ukraine. Sie versteht aufrichtig nicht, was sie vor Gericht soll. Und zwar nicht nur, weil sie vor einem russischen Gericht steht. Sondern weil sie Gericht als Erscheinung generell nicht versteht. Recht – das ist zu kompliziert für Abkömmlinge eines Vergeltungsbataillons. Das Bewusstsein Sawtschenkos, wie auch das kollektive Bewusstsein der Ukraine, befindet sich in einem "prärechtlichen" Feld – in einer Ära, in der ein Lebensweg von Macht, List, Erfolg und Schläue abhing. Deswegen springt sie wie ein Orang-Utan auf den Stuhl und zeigt dem Richter den Mittelfinger, denn nur so wurden in der "prärechtlichen" Gesellschaft Probleme gelöst. Die gerichtliche Suche nach der Wahrheit ist zu lang, zu langweilig und zu unverständlich. […] Wir, die Russen, versuchen uns in dem Fall Sawtschenko an ein Strafrecht zu halten, vor dem alle gleich sind. Aber das alles verblasst vor dem energischen "Ruhm der Ukraine!" und dem Widerhall "Ruhm den Helden!". Und genau darin besteht das ganze Wesen der ukrainischen Willkür." Externer Link: Alexej Ostalzew am 10. März 2016 bei "vz.ru" Sacharowa: Die USA instrumentalisieren die Menschenrechte "Morgen soll eine Gerichtsverhandlung zum Fall N. Sawtschenko stattfinden. Am Vorabend wurde die Stellungnahme J. Kerrys veröffentlicht, dem Außenminister der USA, in der von dessen tiefer Besorgnis um das Schicksal von N. Sawtschenko die Rede ist, u. a. wegen ihres Hungerstreiks, wegen "mutmaßlicher" "erzwungener psychiatrischer Begutachtung" und Einzelhaft und davon, dass ihre andauernde Inhaftierung angeblich von der Missachtung internationaler Standards durch Russland und einem Verstoß gegen das Minsker Abkommen zeugt. Am Ende wird an Russland appelliert, N. Sawtschenko unverzüglich freizulassen und sie in die Ukraine zurückzubringen. All das ruft Zweifel an der Autorenschaft hervor. Es kann nicht sein, dass J. Kerry Nicht weiß, dass N. Sawtschenko im Minsker Abkommen mit keinem Wort erwähnt wird und dieser Fall unter keine der dort festgehaltenen Bestimmungen fällt.Nicht versteht, dass die Veröffentlichung eines Appells zur Freilassung der Angeklagten einen Tag vor der Gerichtsverhandlung direkten Druck auf das Gericht ausübt, mit dem Ziel der Einflussnahme auf dessen Entscheidung.Sich nicht an die russischen Opfer amerikanischer "Linkssprechung" erinnert (But, Jaroschenko und andere), die Washington schon seit Jahren nicht "unverzüglich freilassen" will, und die erst nach der Einmischung von Vertretern des russischen Außenministeriums medizinische Behandlung erhielten.Sich nicht bewusst ist, dass die veröffentlichte Stellungnahme vor dem Hintergrund der monatlich erscheinenden neuen Informationen über CIA-Geheimgefängnisse und das Schicksal des ausländischen Kontingents von Guantanamo, das jenseits des Gerichtssystems und der Verfassung der USA steht, grotesk anmutet.Nicht darüber nachdenkt, dass sein Ministerium kein Interesse an der Ermittlung der Ermordung zweier russischer Journalisten von WGTRK [Staatliches Rundfunkunternehmen; d. Red.] gezeigt hat. I. Korneljuk und A. Woloschin waren Journalisten, die zum Zeitpunkt ihres Tods ihren Beruf ausübten. Das völlige Desinteresse an der Suche nach Mördern von Medienvertretern, deren Schicksal dem US-Außenministerium in der Regel doch so sehr am Herzen liegt, stellt einen unmittelbaren Beweis dafür dar, dass Washington die menschenrechtliche Problematik ausschließlich zu politischen Zwecken einsetzt.Nicht ahnt, dass die USA bei der Zahl illegal entführter ausländischer Staatsangehöriger sich für mehrere Jahre im Voraus eine Führungsrolle gesichert hat, wobei sich niemand im Wettbewerb mit ihnen befindet. Nicht mal im Ansatz. Und letztendlich sollte man sich vor der Veröffentlichung eines solchen Appells festlegen, ob eine Rechtsanwendung außerhalb des Hoheitsgebiets legal ist oder nicht. […]" Maria Sacharowa am 8. März 2016 auf "Facebook" Parchomenko: Russland könnte Sawtschenko gegen But austauschen "[…] Russland ist bereit, Sawtschenko auszutauschen. Aber nicht gegen russische Militärangehörige in ukrainischer Gefangenschaft (etwa Jerofejew und Alexandrow). Sondern gegen Viktor But, der in den Staaten wegen einer Reihe von Verbrechen zu 25 Jahren "Gefängnis unter maximal strengen Haftbedingungen" verurteilt wurde, darunter wegen "criminal conspiracy zur Waffenlieferung an terroristische Organisationen". Ganz nebenbei: In der Debatte um den Fall But tauchte ziemlich oft der Name Igor Setschin auf, der mit But als Dolmetscher in Mosambik gearbeitet hat und ihn gut kannte. Damit ist alles klar. Die Chancen, dass die USA But gegen Sawtschenko austauschen, gehen aber meiner Ansicht nach gegen Null." Sergej Parchomenko am 11. März 2016 auf Facebook Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Moskau (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-04-07T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-312/224400/aus-russischen-blogs-die-debatte-um-das-verfahren-gegen-nadeschda-sawtschenko/
Der Prozess um die ukrainische Soldatin Nadeschda Sawtschenko nähert sich dem Ende. Die russischen Ankläger werfen ihr vor, bei einem Artillerieangriff im Gebiet Lugansk für den Tod zweier Journalisten verantwortlich zu sein. Dabei gleicht der Prozes
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Erneuerbare Energien | Europa | bpb.de
Der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Primärenergie-Versorgung unterscheidet sich stark zwischen den einzelnen europäischen Staaten. Besonders hoch war er im Jahr 2016 in Island (87,2 Prozent). Mit großem Abstand folgten Norwegen (51,2 Prozent), Albanien (42,2 Prozent) und Lettland (38,2 Prozent). Auf der anderen Seite lag der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Primärenergie-Versorgung in zehn Staaten bei weniger als 7,5 Prozent. Bei den 46 hier betrachteten Staaten entfielen beim Energiemix der erneuerbaren Energien 54,4 Prozent auf Biomasse, Biogas und biologisch abbaubare Abfälle, 25,1 Prozent auf Wasserkraft und 20,5 Prozent auf neue erneuerbare Energien (Geothermie, Solar-, Wind- und Meeresenergie). Auch hier sind die Unterschiede zwischen den Staaten riesig. Beispielsweise hatte in Norwegen die Wasserkraft einen Anteil von 88,2 Prozent an den erneuerbaren Energien. In Island beruhten 74,5 Prozent der erneuerbaren Energien auf neuen erneuerbaren Energien (insbesondere geothermische Energie). Fakten In den 46 europäischen Staaten, für die die IEA Daten bereitstellt, dominieren bei der Primärenergie-Versorgung insgesamt die fossilen Energieträger: Öl, Gas und Kohle hatten im Jahr 2016 einen Anteil von 77,3 Prozent. 11,0 Prozent der Primärenergie-Versorgung basierten auf Kernenergie, die erneuerbaren Energien hatten einen Anteil von 10,7 Prozent. Von den erneuerbaren Energien entfielen 54,4 Prozent auf Biomasse, Biogas und biologisch abbaubare Abfälle, 25,1 Prozent auf Wasserkraft und 20,5 Prozent auf neue erneuerbare Energien (Geothermie, Solar-, Wind- und Meeresenergie). Der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Primärenergie-Versorgung sowie der Energiemix unterscheiden sich stark zwischen den einzelnen europäischen Staaten. Aufgrund des hohen Anteils der geothermischen Energie sowie der Wasserkraft lag der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Primärenergie-Versorgung in Island im Jahr 2016 bei 87,2 Prozent. Mit großem Abstand folgten Norwegen (51,2 Prozent), Albanien (42,2 Prozent), Lettland (38,2 Prozent), Schweden (37,1 Prozent) und Montenegro (34,3 Prozent). Auch in Finnland (31,2 Prozent), Dänemark (30,3 Prozent) sowie Österreich (30,2 Prozent) lag der entsprechende Anteil bei mehr als 30 Prozent. Auf der anderen Seite lag in 16 Staaten der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Primärenergie-Versorgung lediglich zwischen 7,5 und 15 Prozent. Darunter Deutschland mit einem Wert von 12,5 Prozent bzw. Rang 25 von 46. Schließlich hatten in zehn Staaten die erneuerbaren Energien einen Anteil von weniger als 7,5 Prozent an der Primärenergie-Versorgung. Im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten war der Anteil von Biomasse, Biogas und biologisch abbaubaren Abfällen an der gesamten Primärenergie-Versorgung in Lettland (33,7 Prozent), Finnland (27,2 Prozent), Dänemark (25,5 Prozent), Schweden (25,2 Prozent) und Österreich (20,1 Prozent) am größten. Es folgten mit Litauen, der Republik Moldau, Montenegro, Estland und Kroatien fünf weitere Staaten, in denen der entsprechende Anteil 2016 bei mehr als 15 Prozent lag (Deutschland: 9,9 Prozent). Norwegen konnte 2016 mit 45,1 Prozent fast die Hälfte der gesamten Primärenergie-Versorgung über die Wasserkraft decken. In Albanien lag der Anteil bei grob einem Drittel (29,7 Prozent), in Island bei gut einem Fünftel (21,9 Prozent). Darauf folgten Georgien und Montenegro (16,7 bzw. 16,4 Prozent). In der Schweiz, in Schweden und Österreich lag der Anteil der Wasserkraft zwischen 13 und 10 Prozent. In Deutschland hat die Wasserkraft mit einem Anteil von 0,6 Prozent nahezu keine Bedeutung für die Versorgung mit Primärenergie. Schließlich hebt sich bei keinem anderen Energieträger ein Staat so deutlich von allen anderen ab, wie Island bei den neuen erneuerbaren Energien. Aufgrund der besonderen geografischen Lage bzw. den guten Voraussetzungen für die Nutzung geothermischer Energie lag der Anteil der neuen erneuerbaren Energien in Island im Jahr 2016 bei 65,0 Prozent der gesamten Primärenergie-Versorgung. In den auf Island folgenden Staaten Dänemark (7,4 Prozent), Türkei und Portugal (6,3 Prozent), Spanien (6,2 Prozent) sowie Italien (6,1 Prozent) sinkt der Anteil bereits auf unter 8 Prozent. In 29 der 46 hier betrachteten Staaten/Gebiete lag der Anteil der neuen erneuerbaren Energien 2016 bei 1,5 Prozent oder weniger (Deutschland 3,5 Prozent). In den 22 europäischen Mitgliedstaaten der IEA (ohne Estland; siehe "Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen") hatten die erneuerbaren Energien im Jahr 1990 einen Anteil von 5,7 Prozent an der gesamten Primärenergie-Versorgung. Bis zum Jahr 2010 stieg der Anteil auf gut 10 Prozent und im Jahr 2016 lag er bei 14,0 Prozent. Diese Steigerung ist auch auf staatliche Förderung zurückzuführen, die dabei im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: Erstens soll durch die Reduzierung des Verbrauchs fossiler Energieträger der CO2-Ausstoß gesenkt werden. Zweitens soll durch die Nutzung von erneuerbaren Energien die Energiesicherheit erhöht bzw. die Abhängigkeit von Energie-Importen verringert werden. Drittens soll das Beschäftigungspotenzial im Bereich erneuerbarer Energien genutzt werden. Bei der Bewertung des zunehmenden Anteils der erneuerbaren Energien an der gesamten Primärenergie-Versorgung muss allerdings berücksichtigt werden, dass die traditionelle Nutzung von Biomasse und auch die Nutzung der Wasserkraft nicht immer nachhaltig sind. Vor allem die Nutzung der Wasserkraft durch große Staudämme geht häufig mit negativen ökologischen Folgen einher. Das Gleiche gilt für Biokraftstoffe, bei denen die Ökobilanz stark von der Rohstoffbasis sowie der Herstellung und Herkunft (insbesondere der Anbaufläche) der Biokraftstoffe abhängt. Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen Weitere Informationen zum Energiemix der einzelnen europäischen Staaten erhalten Sie Interner Link: hier... Primärenergie ist die von noch nicht weiterbearbeiteten Energieträgern stammende Energie. Primärenergieträger sind zum Beispiel Steinkohle, Braunkohle, Erdöl, Erdgas, Wasser, Wind, Kernbrennstoffe, Solarstrahlung und so weiter. Aus der Primärenergie wird durch Aufbereitung zum Beispiel in Kraftwerken oder Raffinerien die Endenergie (Sekundärenergie). Die Form der Energie, in der sie tatsächlich vom Anwender verwendet wird, wird Nutzenergie genannt. Ein Beispiel: Rohöl (Primärenergie) wird zu Heizöl (Endenergie/Sekundärenergie) wird zu Wärme (Nutzenergie). Nach der IEA entspricht die Primärenergie-Versorgung der Primärenergie-Produktion zuzüglich der Importe und abzüglich der Exporte; zudem wird die Veränderung der Lagerbestände – bei Produzenten, Importeuren, großen Konsumenten etc. – eingerechnet. Um die Energieträger vergleichbar zu machen, werden sie mithilfe einzelner Umrechnungsfaktoren auf das Öl bezogen (Öläquivalent). Nach Angaben des Energiekonzerns British Petroleum (BP) entspricht eine Tonne Öläquivalent beispielsweise in etwa 1,5 Tonnen Steinkohle, 1.163 Kubikmeter Erdgas oder auch 12 Megawattstunden (Primärenergie). Bei den Angaben zum Anteil der erneuerbaren Energien ist zu beachten, dass es unterschiedliche Methoden zur Bestimmung des Primärenergieäquivalents von Strom gibt. Die IEA verwendet die sogenannte Wirkungsgradmethode. Verglichen mit der tatsächlich zur Verfügung stehenden Energie (Endenergie/Sekundärenergie) führt diese Methode dazu, dass die erneuerbaren Energien insgesamt unterrepräsentiert sind. Aus diesem Grund kann alternativ auf die sogenannte Substitutionsmethode zurückgegriffen werden. Der absolute Wert der Primärenergie-Versorgung auf der Basis von zum Beispiel Wasser, Wind und Photovoltaik ist bei der Substitutionsmethode gut zweieinhalbmal so hoch wie bei der Wirkungsgradmethode. Anders formuliert fällt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Primärenergie-Versorgung bei Anwendung der Substitutionsmethode höher aus als bei der von der IEA angewandten Wirkungsgradmethode. Weitere Informationen zur Wirkungsgrad- bzw. Substitutionsmethode erhalten Sie Interner Link: hier... Lesebeispiel: Nach Angaben des Energiekonzerns British Petroleum (BP) – der die Substitutionsmethode anwendet – lag im Jahr 2016 der Anteil der Energie aus Wasserkraft am Primärenergie-Verbrauch EU-weit bei 4,8 Prozent und der Anteil der Kernenergie bei 11,4 Prozent. Bei der IEA, die die Wirkungsgradmethode verwendet, lag der Anteil der Wasserkraft an der Primärenergie-Versorgung EU-weit bei lediglich 1,9 Prozent und der Anteil der Kernenergie bei 13,7 Prozent. Unter Meeresenergie wird beispielsweise die Stromerzeugung in Gezeiten-, Strömungs- und Wellenkraftwerken verstanden. Photovoltaik bezeichnet die direkte Umwandlung von Sonnenlicht in elektrische Energie mittels Solarzellen. Anfang 2019 hatte die International Energy Agency (IEA) 23 europäische Mitgliedstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland (seit 2014), Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Slowakei, Spanien, Tschechien, Türkei, Ungarn und das Vereinigte Königreich. Quellen / Literatur IEA World Energy Balances database © OECD/IEA 2018, www.iea.org/statistics IEA World Energy Balances database © OECD/IEA 2018, www.iea.org/statistics
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-13T00:00:00"
"2012-03-06T00:00:00"
"2022-01-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/75139/erneuerbare-energien/
Besonders hoch war der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Primärenergie-Versorgung im Jahr 2016 in Island (87 Prozent), in zehn europäischen Staaten lag er bei weniger als 7,5 Prozent.
[ "Erneuerbare Energien", "Wasserkraft", "Biomasse", "Biokraftstoff", "Energie", "Zahlen und Fakten", "Europa", "EU", "EU-28", "EU-27" ]
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Logos und Druckanzeigen | Baden-Württemberg 2021 | bpb.de
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"2021-02-01T00:00:00"
"2021-01-29T00:00:00"
"2021-02-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wahl-o-mat/baden-wuerttemberg-2021/326326/logos-und-druckanzeigen/
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[ "bpb Wahl-O-Mat", "Pressematerial", "Landtagswahl Baden-Württemberg 2021" ]
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Einfach mal die andere Seite der Stadt kennen lernen | Weltfestspiele 1973 | bpb.de
Textversion des Video-Interviews Ich war eigentlich nur ein allgemeiner Interessent, weil ich in Westberlin wohnte und mich durchaus interessierte, was hinter der Mauer stattfand, wo man ja auch mit Hilfe von Tagesvisen jederzeit einreisen konnte. Man sah natürlich im Zentrum an allen Ecken und Plätzen, dass das was Besonderes war, diese Tage der Weltjugendfestspiele. Die Stimmung war sehr fröhlich und ich fand das gleich ein bißchen aufgesetzt, weil ich so eine skeptische Grundhaltung habe. Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich ins Gespräch gekommen wäre, aber das war auf dem Alexanderplatz nicht richtig möglich. Das war auch gar nicht so intendiert, von der DDR, ist meine Vermutung. Die wollten das gar nicht so auf einer intensiven Gesprächsebene stattfinden lassen. Die haben da so mehr an größere Gruppen gedacht und sind auch bwusst – nach meinen Eindrücken – im allgemeinen Politischen geblieben. Also, es ging nicht um aktuelle tagespolitische Probleme, schon gar nicht um kommunalpolitische zwischen Ost und West, bewahre! Daran sind die DDR-Oberen nicht interessiert gewesen, an solchen Diskussionen.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-18T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/weltfestspiele-73/65311/einfach-mal-die-andere-seite-der-stadt-kennen-lernen/
Es hatte den Westberliner Gunnar Rohn schon immer geärgert, dass er kaum etwas über das Leben auf der anderen Seite der Stadt erfahren konnte. So fuhr er kurz entschlossen mit einem Tagesvisum nach Ostberlin zu den Weltfestspielen.
[ "Weltfestspiele 1973", "Weltbund der Demokratischen Jugend", "politische Inszenierung", "Kulturpolitik DDR", "Gunnar Rohn" ]
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Kiezfonds als niedrigschwellige Förderung bürgerschaftlichen Engagements | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Erstmals hat Pankow einen Kiezfonds im Rahmen des „Modellprojekts zur bezirklichen Bürgerbeteiligung“ der Berliner Senatskanzlei initiiert. Was hat Sie dazu bewogen? In einigen Bezirken Berlins hat sich das Bürgerbudget über Jahre hinweg zu einem wichtigen Aktivierungs- und Mitbestimmungsinstrument der Bürgerbeteiligung entwickelt und wurde deshalb auch für den Bezirk Pankow fortwährend über die BVV in die (politische) Diskussion eingespeist. Im Rahmen des Modellprojekts „Bezirkliche Bürgerbeteiligung“ konnte diese Idee aufgegriffen und im Jahr 2019 erstmalig in einem guten Rahmen realisiert werden. Welche Hoffnungen verbinden sich damit? Die Hoffnung, die mit der Einrichtung eines Kiezfonds einhergeht, ist die kurzfristige und sichtbare verwaltungsseitige Unterstützung von Aktionen im Quartier vor Ort. Dabei steht die niedrigschwellige Förderung bürgerschaftlichen Engagements im Vordergrund. Wie war die erste Resonanz? Mit einem Budget von insgesamt 24.000 Euro, aufgeteilt auf die Regionen Pankow, Weißensee und Prenzlauer Berg mit jeweils 8.000 Euro, war der Fonds für die vergleichsweise kurze Förderperiode von September bis November 2019 finanziell gut ausgestattet. Mit rund 20.400€ konnte nahezu das gesamte Budget an die Projekte ausgezahlt werden. Insgesamt gab es 36 konkrete Projekteinreichungen, von denen 25 durch den Kiezfonds gefördert werden konnten. Die Resonanz zeigt, dass ein solcher Fonds von der Pankower Bürgerschaft sehr gut angenommen wird. Haben Sie sich bei der Konzeption des Verfahrens an anderen Bezirken oder Kommunen orientiert? Die inhaltlichen Förderkriterien wurden anhand etablierter Kriterienkataloge bestehender Fondsstrukturen aus den Bezirken Berlins festgelegt. Die Verfahrensgrundsätze für den Kiezfonds Pankow wurden losgelöst entwickelt und speziell für den Bezirk Pankow konzipiert, da die kurze Laufzeit von drei Monaten ein möglichst unbürokratisches und direktes Verfahren vorausgesetzt hat. Nach welchen Kriterien wurde das Auswahlgremium besetzt? Das Auswahlgremium wurde abhängig von der Antragsstellung aus den verschiedenen Regionen besetzt. Es setzte sich aus einem*einer Vertreter*in des jeweiligen Stadtteilzentrums, einem*einer Regionalkoordinator*in des Büros für Bürgerbeteiligung und der Geschäftsstelle des externen Dienstleisters von AG.Urban zusammen. Die spezifische Vor-Ort Expertise seitens des Büros für Bürgerbeteiligung und den Vertreter*innen aus den Stadtteilzentren gewährleistete die nötige inhaltliche Entscheidungskompetenz über die jeweiligen Aktionen und Projekte. Welche Themen bewegen die Bürger*innen am meisten? Die Projektideen unterlagen einer großen Bandbreite. Neben temporären Projekten, wie z.B. einem partizipativen Fotoprojekt, einer interkulturellen Feier für Frauen und Bastelnachmittagen in der Vorweihnachtszeit wurde mit Hilfe verschiedener Projekte auch dauerhaft ein Mehrwert für die Nachbarschaft erzielt, indem z.B. Tischtennisplatten, Kiezspielkisten und ein Veranstaltungspavillon angeschafft wurden. Es gab aber auch eine Reihe von Projekten, die über den Bezirk Pankow hinauswirkten und noch wirken. So wurden u.a. ein feministisches Festival, historische Stadtteilspaziergänge sowie (inklusive) Ausstellungen umgesetzt. Gibt es noch etwas, das Sie erwähnen möchten? Die Resonanz aus der Bürgerschaft auf den Projektaufruf war großartig. Aufgrund der Kurzfristigkeit der Mittelvergabe war sowohl vom Auswahlgremium als auch aus der Bürgerschaft sehr häufig Kreativität und Spontanität gefordert. Schlussendlich konnten tolle Ideen umgesetzt werden.
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Interview: Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt - Alexandra Lau
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-08-18T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512079/kiezfonds-als-niedrigschwellige-foerderung-buergerschaftlichen-engagements/
Christian Büttner, Leiter des Büros für Bürgerbeteiligung Pankow, über Herausforderungen und Chancen des Kiezfonds im Rahmen des „Modellprojekts zur bezirklichen Bürgerbeteiligung“
[ "Bürgerhaushalt - Bürgerbudget", "bürgerliches Engagement", "Bürgerhaushalt", "Kiezfonds" ]
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Die Palästinensische Gesellschaft zu Zeiten des Britischen Mandats | Israel | bpb.de
Eine brennende und bis heute von allen Beteiligten intensivst diskutierte Frage der Geschichte Palästinas zur Zeit des britischen Mandats ist die nach den Gründen der Transformation der arabisch sprechenden Bevölkerung in Palästina in eine reduzierte und vertriebene Minderheits- oder Flüchtlingsgesellschaft, von der weder der Name des Landes noch der Bevölkerung übrigblieb. Am Ende des Mandats und nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg wurden 78% des britischen Mandatsgebiets der neue Staat Israel, ein kleiner Küstenstreifen wurde von Ägypten verwaltet und unter dem Namen Gazastreifen bekannt, der Rest des Gebiets wurde dem Haschemitischen Königreich Jordanien zugeschlagen. Im Jahre 1918 lebten nach Zählungen der britischen Militärregierung 573.000 Araber (davon ca. 10% Christen) und 66.000 Juden (ca. 10.3% der Gesamtbevölkerung) in Palästina. 1936 hatte sich das Verhältnis nach massiver Einwanderung aufgrund des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland in folgender Weise verändert: 955.000 Araber (davon ca. 12% Christen) und 370.000 Juden (27% der Gesamtbevölkerung). Selbst am Vorabend des ersten arabisch-israelischen Krieges konstituierte die jüdische Bevölkerung mit 600.000 Personen nur ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Im Folgenden soll in aller gebotenen Kürze hauptsächlich ein Blick auf die innere Konstituiertheit und Entwicklung der arabischen Bevölkerung Palästinas, d.h. der palästinensischen Gesellschaft unter dem britischen Mandat geworfen werden. Palästina unter osmanischer Herrschaft Weder unter mamlukischer noch unter osmanischer Herrschaft hatte es jemals einen Verwaltungsdistrikt "Palästina" gegeben. Teile dieser Küstenregion gehörten zur Provinz Damaskus, andere zum Vilayet Tripoli oder Sidon und später Beirut. Im 19. Jahrhundert wurde Jerusalem ein unabhängiger Distrikt, der direkt Istanbul unterstellt war. Erst die britische Militärverwaltung richtete am Ende des 1. Weltkriegs einen Verwaltungsdistrikt "Palästina" ein, der ursprünglich auch Gebiete der Syrischen Wüste östlich des Jordans mit einschloss. Mit der Abtrennung Transjordaniens 1921 und der Verabschiedung des Mandatsstatus 1923 für das Gebiet waren die Grenzen Palästinas festgelegt. Diese wie alle anderen Mandatsgrenzen wurden von den Arabern als "künstlich" bezeichnet, d.h. sie wurden von den Interessen von Außenmächten bestimmt ohne jede Rücksichtnahme auf die Wünsche der Bevölkerung oder der wirtschaftlichen, kulturellen und geographischen Gegebenheiten vor Ort. Der "künstliche" Charakter der Grenzen sollte aber nicht über die Verfestigung solcher Grenzen hinwegtäuschen: Auf dem Logo der Hamas werden ausgerechnet die von den Briten festgelegten Grenzen benutzt, um das Territorium des – so die Charta der Hamas – "islamischen Waqf [fromme Stiftung] Palästina, die immer bestand und bis zum Tag der Auferstehung so bleiben wird", zu definieren. Das britische Mandat Das Mandatssystem war ein politisches Konstrukt, das einen Kompromiss des von Präsident Wilson angemahnten "Selbstbestimmungsrecht der Völker" mit den imperialistischen Ambitionen der europäischen Mächte im Nahen Osten erwirken sollte. Prinzipiell wurde das Selbstbestimmungsrecht von allen Beteiligten anerkannt, seine Durchführung aber in eine unbestimmte Zukunft verschoben aufgrund der "mangelnden politischen Reife" der betroffenen Völker. Die Mandatsverträge verpflichteten die Mandatsmächte, die Bevölkerungen auf das notwendige Niveau "politischer Reife" zu bringen, um sie in die Unabhängigkeit zu entlassen. Dieses Ziel erwähnt der Mandatsvertrag für Palästina nicht, sondern die Mandatsmacht verpflichtet sich in der Präambel des Vertrags die britische Unterstützung für die Errichtung einer "nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina", die in der im November 1917 veröffentliche Balfour Deklaration zugesichert wurde, in die Tat umzusetzen. Auf diese Verpflichtung wird auch in den Artikeln 2, 4, 6 und 11 ausführlich eingegangen. Auf die Mehrheitsbevölkerung wird in der Präambel eingegangen, wo im Zusammenhang mit der Verpflichtung für die "nationale Heimstätte" festgestellt wird, dass "nichts unternommen werden sollte, das die zivilen und religiösen Rechte von existierenden nicht-jüdischen Gemeinschaften beeinträchtigt". Die Förderung und der Schutz des zionistischen Projekts wurden durch die Übernahme der Balfour-Erklärung in den Mandatsvertrag der offizielle der Grund für die Präsenz der Briten in Palästina. Dementsprechend war die Zusammenarbeit der Briten mit dem Jischuv bei der Errichtung von politischen, gesellschaftlichen und Sicherheitsinstitutionen meist eng, während die Mehrheitsbevölkerung der Araber als politische Entität oder zumindest Problem überhaupt nicht angesprochen war. Während des 1. Weltkriegs hatte Großbritannien widersprüchliche Versprechungen gegeben, die kaum miteinander zu vereinbaren waren. Dazu gehörten die Husain-McMahon Korrespondenz von 1915/1916, die arabische Unabhängigkeit versprach, dem Sykes-Picot Abkommen von 1916, das die Aufteilung des Gebiets zwischen Frankreich und Großbritannien festlegte sowie die Balfour-Erklärung von 1917, die den Juden die Schaffung einer "nationalen Heimstätte" in Aussicht stellte. Im Verlaufe der Mandatsherrschaft verfolgten die Briten oft einen scheinbar widersprüchlichen Kurs und noch lange nach dem Ende des Mandats beschuldigten sowohl die Palästinenser als auch die Zionisten die Briten, während ihrer Herrschaft jeweils die andere Seite unterstützt zu haben. Allerdings war die britische Politik in Palästina keineswegs wankelmütig oder einseitig. Sie verfolgte geradlinig ein Ziel: die britische Kontrolle über die Land- und Wasserverbindungen (Suez) zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean - also den "imperial highway" nach Indien – möglichst kostengünstig zu erhalten. Das ließ sich häufig am besten in Zusammenarbeit mit den Zionisten erreichen. Zu gewissen Gelegenheiten war aber eher eine Unterstützung der arabischen Seite zur Durchsetzung der wirklichen Interessen Großbritanniens geboten. So wurde nach den arabischen Unruhen von 1920 das sogenannte "Churchill White Paper" veröffentlicht, in dem zum ersten Mal der Umfang jüdischer Einwanderung von den "Kapazitäten" des Landes abhängig gemacht wurde. Nach den arabischen Unruhen 1929 wurde ein Jahr später von der britischen Regierung das sogenannte "Passfield-White-Paper" veröffentlicht, in dem eine Begrenzung jüdischer Einwanderung und zionistischen Landkaufs empfohlen wurde. Allerdings wurde dieses White Paper auf jüdischen Protest hin in einem Brief der britischen Regierung an Chaim Weizmann (von den Arabern als "Black Letter" bezeichnet) wieder zurückgenommen. Teilungsplan der Peel-Kommisson von 1937. (© Beck Verlag) Die dramatisch zunehmende Auswanderung aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Palästina führte in den 1930er Jahren zu neuen Unruhen. Nach dem Beginn des arabischen Boykotts 1936 veröffentlichte die Peel Commission ihren Bericht im Juli 1937. In diesem Bericht wurde zum ersten Mal von einer Teilung des Landes in einen jüdischen und arabischen Staat gesprochen. Nach heftigen Diskussionen nahm der zionistische Weltkongress den Teilungsvorschlag an. Die palästinensischen Araber lehnten ihn - genauso wie davor das ganze Konzept des Mandates - sofort ab. Dies führte zu weiterer Gewalttätigkeit, Verhaftung verschiedener palästinensischer Führer und der Flucht des Großmuftis Hajj Amin al-Husaini. Nach drei Jahren palästinensischer Unruhen und am Vorabend des 2. Weltkriegs veröffentlichte die britische Regierung 1939 erneut ein White Paper. Darin wurde bestimmt, dass in 10 Jahren ein unabhängiger Staat Palästina errichtet würde, in dem Araber und Juden gleichermaßen vertreten und an Regierung und Verwaltung beteiligt sein würden. Die Einwanderung sollte auf 75.000 Juden während der nächsten 5 Jahre begrenzt sein. Illegale Einwanderer würden davon abgezogen. Landverkäufe an Zionisten sollten beschränkt werden. Die jüdische wie arabische Seite lehnten das White Paper ab. Der Mandatsmacht gelang es nicht, eine Lösung in der Palästinafrage zu erreichen. Großbritannien ging aus dem 2. Weltkrieg geschwächt hervor, und als Indien 1947 seine Unabhängigkeit und der "Imperial Highway" seine Funktion verloren hatte, gab die britische Regierung ihr Mandat an die neu gegründete UNO zurück. Die arabische Bevölkerung unter dem britischen Mandat Die arabische Bevölkerung des neu konstituierten Mandats Palästina befand sich von Anfang an in einer schwierigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation. Der vierhundertjährige politische Bezugsrahmen, durch das Osmanische Reich und den Sultan gegeben, war weggebrochen. Ein gerade entstehender, sich selbst noch definierender, politischer arabischer Nationalismus forderte die Freiheit und Unabhängigkeit aller Araber und verweigerte die Aufteilung des Territoriums durch die Europäer anzuerkennen. Traditionellerweise hatten Teile der Bevölkerung der nun Palästina genannten Region sich politisch nach Damaskus ausgerichtet (das heutige Westjordanland bis nach Jaffa und das östliche Galilea) andere mussten sich mit dem Gouverneur von Tripoli, Sidon oder Akko aueinandersetzen. Jerusalem war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine irrelevante Kleinstadt (ca. 10.000 Einwohner) geblieben. Die Konstruktion einer politischen und territorialen Einheit Palästinas hatte keinerlei historische Vorbilder, auf die man sich hätte berufen können. Die Frage nach nationaler Identität (Araber oder Palästinenser) und politischer Loyalität (Damaskus oder das neuerdings zur Hauptstadt Palästinas erhobene Jerusalem) war daher völlig offen und führte zu vielen Spaltungen. Die politische Zerissenheit wurde darüberhinaus von einer Vielzahl alter und neuer Weltanschauungen und Ideologien geprägt. Neben traditionellen, religiös legitimierten patriarchalischen Herrschaftsmodellen entstand ein politischer Islam; der Panarabismus bestand neben einem arabischen, territorialen Nationalismus; Sozialismus, Säkularismus, Fortschrittsglaube, Forderungen nach politischer Partizipation und Demokratie bestanden nebeneinander und gegeneinander. Diese Zerissenheit stand im scharfen Gegensatz zu der relativen, politischen Homogenität des Jischuvs. Er spiegelte jedoch keineswegs das gesamte Spektrum der osteuropäischen jüdischen Gemeinde vor dem ersten Weltkrieg wider. Die Zionisten waren eine verschwindend kleine Gruppe, deren Ideen die große Masse der Juden nicht teilte. Von den ca. 2,2 Millionen jüdischer Emigranten aus dem Zarenreich bis zum 1. Weltkrieg gingen nur ungefähr drei Prozent nach Palästina. Diese teilten in der Tat eine dezidiert nationalistische und sozialistische Weltanschauung; sie waren gebildet und jung. Eine Gruppe der neuerdings Palästinenser genannten Araber konnte sich durchaus gut mit den Gegebenheiten des Mandats abfinden: die Notabeln in Jerusalem, die nun von der Elite einer geringfügigen Stadt im Begriff waren zur Elite eines ganzen Landes aufzusteigen. Das politische Verhältnis der arabischen Bevölkerung zur britischen Mandatsregierung blieb trotzdem weiterhin höchst problematisch. Im Mandatsvertrag waren nur die Zionisten als politische Gemeinschaft erwähnt worden, im übrigen war von einer "nicht-jüdischen Bevölkerung" die Rede, deren Rechte nicht beschnitten werden sollten, für die aber auch kein politischer Plan existierte. Praktisch sah sich die Mandatsregierung als höchste Instanz über den beiden Gemeinwesen, dem jüdischen Jischuv und der arabischen Bevölkerung und förderte den Gedanken, dass die zwei Gemeinwesen unter neutraler, britischer Aufsicht und Leitung ihre eigenen Erziehungssysteme, Sicherheitsdienste, Krankenversicherungen, Gewerkschaften und Wirtschaft aufbauen würden. Der jüdische Jischuv bediente sich mit Enthusiasmus der Empfehlungen der Mandatsregierung und der Kooperation mit ihr, um alle Funktionen einer vorstaatlichen Gesellschaft auszubauen. Die palästinensische Seite befürchtete, dass eine derartige institutionelle Kooperation die Anerkennung der Legitimität des britischen Mandats über Palästina und damit implizit die Anerkennung der Ansprüche der Zionisten und der Balfour Deklaration bedeuten würde. So beraubte nicht nur die oben erwähnte innere Zerissenheit der Gesellschaft, sondern auch die prinzipielle Ablehnung der Kooperation die Palästinenser der Möglichkeit, ihr eigenes nationales Gemeinwesen systematisch aufzubauen und zu organisieren. Trotzdem existierte gleichzeitig eine tatsächliche Kollaboration zwischen den Briten und traditionellen Notabeln und Elitefamilien, die sich davon für sich selbst Vorteile versprachen, häufig aber eher von den Briten zum eigenen Interesse manipuliert wurden. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage der arabischen Bevölkerung Gesellschaftlich und wirtschaftlich war die Lage der Bevölkerung Palästinas am Anfang der Mandatszeit durchaus vorteilhaft vergleichbar mit der anderer arabischer Regionen, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ihre Eigenstaatlichkeit entwickeln mussten: Beduinen hatten schon im 19. Jahrhundert jede ernstzunehmende Rolle in Wirtschaft und Politik verloren. Zahlenmäßig den größten Teil stellte die bäuerliche Gesellschaft dar, die zunehmend von einem modernen Großgrundbesitzertum dominiert wurde. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren wichtige Teile der landwirtschaftlichen Produktion für den Weltmarkt bestimmt: Seide, Baumwolle, Tabak, Apfelsinen und Getreide. Bis zum Ende des Mandates sollte die palästinensische Gesellschaft zum größten Teil eine bäuerliche Gesellschaft bleiben, während der jüdische Jischuv – obwohl stark vereinnahmt von einer Ideologie des Bodens, den es zu besitzen, bearbeiten und erweitern galt – von vorneherein eine überwiegend urbane Gesellschaft war (mindestens ¾ der jüdischen Bevölkerung). In der urbanen Gesellschaft der Palästinenser hatte die Klasse der Schriftgelehrten bedeutende Machteinbußen hinnehmen müssen: Sie hatten das Monopol über Erziehung, Rechtsprechung und Weltanschauung verloren und mit der Verbreitung des Nationalismus war auch ihre Rolle als Quelle der Legitimierung politischer Herrschaft nicht mehr gefragt. In den Städten hatte sich in der Endphase des Osmanischen Reiches moderne Bildung und Ausbildung rapide durch Staats- und Privatschulen ausgedehnt. Eine neue Klasse modern trainierter Professioneller und Intellektueller entstand. Die Alphabetisierungsrate in Palästina war eine der höchsten. Das Druck- und Zeitungswesen wuchs und in den sich modernisierenden Städten übernahmen die neuen Professionellen mehr und mehr Funktionen in der Verwaltung der Großgemeinden. Vom Gedanken des Nationalismus getragen sahen sich diese neuen Schichten nicht nur fähig sondern auch berechtigt, die Geschicke der Nation in eigener Regie zu führen. Die fast komplette Verneinung dieser Erwartungen durch die Mandatsmächte war einer der wesentlichen Gründe, die zu einer Radikalisierung des arabischen Nationalismus führte, der nun im antikolonialen Kampf seine Hauptaufgabe sah. Trotzdem unterschied sich die Entwicklung in Palästina aufgrund der besonderen Bedingungen wesentlich von denen in anderen Gebieten. Schon aus Kostengründen mussten die Briten in Transjordanien, im Irak und auch in dem halb unabhängigen Königreich Ägypten auf die neuen urbanen Klassen zurückgreifen, um Verwaltungsapparat, Schulsystem, Polizei und später das Militär auszubauen. Das waren die Basen, auf denen die neuen nationalen Eliten aufbauten und sich organisierten, um in den Nachfolgestaaten der Mandate die politische Macht auszuüben. So schlecht auch die in den anderen Mandaten eingerichteten demokratischen Institutionen von Parlamenten, Parteien und Wahlen funktionierten (und von den Mandatsmächten immer wieder manipuliert wurden), so wurden sie doch die Basis für die Bildung neuer, einheimischer, politischer Eliten. Diese Institutionen existierten nicht einmal im Ansatz für die arabische Bevölkerung Palästinas. Stattdessen versuchten die Briten "nicht-nationale" traditionelle und religiöse Institutionen zu fördern oder, wo nötig, zu erfinden. Eklatantes Beispiel dafür war die Einrichtung der Position eines Großmuftis von Palästina, der u. a. die finanzielle Kontrolle über die frommen Stiftungen zugeordnet wurde. Als erster Inhaber dieser Position wurde ein junger Mann ausgewählt, der mit Mühe zwei Jahre religiöse Studien an al-Azhar Universität in Kairo abgeschlossen und in der osmanischen Armee als Offzier gedient hatte. Allerdings gehörte er der wohl wichtigsten Familie in Jerusalem, den al-Husainis, an. Mit seiner Ernennung konnten die Briten die Familie in eine Kooperation einbinden und gleichzeitig einen rivalisierenden Zweig innerhalb der Familie, der traditionell den Bürgermeister von Jerusalem stellte, in seiner Macht reduzieren. Im Gegenzug versprach der junge Mann, Hajj Amin al-Husaini für "Tranquilität" zu sorgen. Für fünfzehn Jahre verstand er es gut andere palästinensische, nationale Bewegungen zu schwächen, besonders im muslimischen Ausland Unterstützung für die palästinensische Sache zu mobilisieren, seine eigene Macht zu erhalten und auszubauen und d.h. sich nicht die Briten zum Feind zu machen. Erst mit dem arabischen Boykott und den Unruhen, als er deutlich gegen die Briten Position bezog, musste er fliehen. Über Irak, die Schweiz und Italien erreichte er im Herbst 1941 Deutschland. Nachdem er lange Jahre mit den Briten kollaboriert hatte, bot er sich nun dem Naziregime an. Die Zeit war ungünstig für ihn, denn der Russlandfeldzug beschäftigte das deutsche Regime viel mehr als der Nahe Osten, den man durchaus bereit war den Briten zu überlassen. Aber mit seinem Talent, sich immer als wichtiger darzustellen als er wirklich war, fand al-Husaini Zugang zu einigen Nazigrößen, besonders Himmler. Er identifizierte sich völlig mit der nationalsozialistischen Ideologie der Judenvernichtung. Palästina war paradoxerweise ein Land mit weltweit extrem hohen Investitions- und Wachstumsraten in der Zwischenkriegszeit. Besonders an der Küste entstanden Industriebetriebe, Infrastruktur wurde massiv erweitert, städtische und strategische Bauvorhaben wurden durchgeführt. Die bei weitem wichtigsten Investoren waren die Britische Armee und der jüdische Jischuv. Die bessere Bezahlung in diesen Wirtschaftsektoren zog viele arabische Landarbeiter an. Die Migranten aus den arabischen Dörfern wurden in den Städten proletarisiert, ohne dass es eine begleitende Entwicklung einer neuen Führungsschicht gab. Die Abwanderung gefährdete den Wohlstand der Großgrundbesitzer und verringerte ihren Einfluss unter der arbeitenden Bevölkerung, die bessere Einkommensquellen fand. Aber da fast alle größeren Investitionen von den Briten oder dem jüdischen Jischuv getätigt wurden, entwickelte sich auch keine moderne, arabische Wirtschaftelite oder Unternehmerschicht, wie sie sich zumindest teilweise in Ländern wie Ägypten und Syrien entwickelten. In einem Wort: Im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung verloren alte Eliten ihre Funktionen, Legitimation und Autorität. Aber im Gegensatz zu anderen arabischen Ländern wurde die Entwicklung neuer Eliten mit der Einrichtung des Mandats in Palästina fast völlig arrestiert. Spätestens mit dem Zusammenbruch des arabischen Aufstands 1939 gab es, unabhängig von der Zahl der Reichen, Gebildeten oder Begabten, für die Palästinenser keine funktionierende Führungselite mehr. Das Ende des Britischen Mandats Sucht man nach den Gründen für die Niederlage der arabischen Bevölkerung in Palästina, so findet man sie in der grundsätzlichen Ablehnung der Legitimität des Mandats, das in seiner spezifischen Verfassung und Zielsetzung jeden politischen Raum für die arabische Bevölkerung negierte; in der Ambivalenz zur eigenen Identität als Araber oder Palästinenser; in der Vielfalt politischer Ideologien und Weltanschauungen; in der ersatzlosen Auflösung alter, innerlich zerspaltener Eliten; in der Radikalisierung der politischen Lage, die zwar wiederholt zu Unruhen führte, aber mangels neuer Eliten nicht zu politischer Veränderung. Hinzu kommt die überwältigende Dynamik des rivalisierenden Nationalismus der Zionisten. Resultate dieser Entwicklungen oder deren Mangel waren schon im Februar 1939 erkennbar, als die britische Regierung einen letzten Lösungsversuch des Problems unternahm und dazu auch die Vertreter arabischer Staaten nach London zur sogenannten St. James Konferenz einlud, sozusagen als Fürsprecher für die Palästinenser. Die arabische Seite lehnte allerdings direkte Gespäche mit den zionistischen Vertretern ab, so dass die Briten als Vermittler auftraten. Die Konferenz ging ohne eine Einigung zu Ende. Im Februar 1947 übergab Großbritannien das Palästinaproblem an die neugegründeten Vereinten Nationen. Nach der Annahme des UN-Teilungsplans für Palästina 1947, griffen die benachbarten arabischen Staaten 1948 Israel an, nicht so sehr, wie sie vorgaben, um die Palästinenser sondern um ihre eigenen widersprüchlichen Interessen zu verteidigen. Palästina verschwand buchstäblich von der Bildfläche und es sollte zwanzig Jahre dauern, bevor – unter völlig anderen Umständen – sich wieder eine nationale, politische Elite der Palästinenser entwickeln sollte. Teilungsplan der Peel-Kommisson von 1937. (© Beck Verlag) Palästina bildete über Jahrhunderte keine eigenständige geographisch-politsche Einheit, die Namen, Grenzen und die Bevölkerung des Gebiets wechselten. Die Bevölkerung Palästinas setzte sich aus verschiedenen Gruppem zusammen, den arabischen Christen, Muslimen, Drusen, und Beduinen.
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Thomas Philipp
"2022-01-27T00:00:00"
"2011-12-02T00:00:00"
"2022-01-27T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/israel/44991/die-palaestinensische-gesellschaft-zu-zeiten-des-britischen-mandats/
Nach Ende des Ersten Weltkrieges war Palästina noch ein Teil des Osmanischen Reiches. Mit dem Sieg der Briten über die türkischen Truppen 1917 fiel Palästina unter britische Herrschaft. Aber welche Politik verfolgten die Briten und welche Rolle spiel
[ "Israel", "Palästina", "Völkerbund", "Mandat", "Osmanisches Reich", "Israel" ]
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Erster und Zweiter demografischer Übergang | Demografischer Wandel und Migration in Europa | bpb.de
Erster demografischer Übergang Als erster demografischer Übergang wird in der Bevölkerungswissenschaft der Übergang von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenziffern bezeichnet. Er beginnt idealtypisch mit dem Rückgang einer hohen Sterblichkeit. Die Ursachen des Rückgangs umfassen sowohl einen höheren Lebensstandard und bessere Hygiene der Bevölkerung als auch den medizinischen Fortschritt, wobei zuerst die Säuglings- und Kindersterblichkeit zurückgeht. Da die Geburtenzahl zunächst hoch bleibt, wächst die Bevölkerung vorübergehend schnell an und ihre Altersstruktur beginnt sich zugunsten jüngerer Altersjahrgänge zu verschieben. Mit einer zeitlichen Verzögerung setzt dann ein Rückgang der Geburtenzahlen ein. Dieser kann als Anpassung an die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern und einer sich unter dem Einfluss gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und verändernder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen wandelnden idealen Kinderzahl interpretiert werden. Das Bevölkerungswachstum schwächt sich ab und die Bevölkerung beginnt, auch aufgrund der während des demografischen Übergangs stark gestiegenen Lebenserwartung, zu altern. Historisch verlief die Phase mit den höchsten Bevölkerungswachstumsraten in vielen europäischen Ländern zeitgleich zur Industrialisierung und ging bis zum Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam zurück. Inzwischen haben auch die meisten Entwicklungsländer eine Phase erreicht, in der die Fertilität zu sinken begonnen hat und in zahlreichen Ländern ist gegenwärtig zudem der Höhepunkt des Bevölkerungswachstums bereits überschritten. Zweiter demografischer Übergang Die sich abzeichnende Alterung der Bevölkerung wurde in vielen Ländern Europas zunächst noch von einem sogenannten “Babyboom“ überlagert, der mit der wirtschaftlichen Erholung während der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs einherging. In Deutschland fiel der “Babyboom“ Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre zeitlich mit der Phase des “Wirtschaftswunders“ mit hohen Wachstumsraten und Vollbeschäftigung zusammen. Diese, auch als “Goldenes Zeitalter der Heirat“ bezeichnete Periode, bildet den Auftakt für den zweiten demografischen Übergang. Dieser bezeichnet den raschen Einbruch des Fertilitätsniveaus unter das für den langfristigen Bestandserhalt der Bevölkerung erforderliche Maß von im Durchschnitt 2,1 Kindern je Frau, der seit den 1970er Jahren alle europäischen Länder in unterschiedlichem Ausmaß erfasste. Unter anderem eine sich verbessernde gesellschaftliche Stellung der Frau mit Zugang zu höherer Bildung und beruflichen Möglichkeiten hat dazu beigetragen, den Kinderwunsch zu senken und die Verfügbarkeit moderner Empfängnisverhütungsmittel ermöglicht seitdem eine effektive Kontrolle der Fertilität. Inzwischen haben viele europäische Länder die Schwelle von 2,1 Kindern je Frau deutlich unterschritten und nur in einigen Ländern zeigt sich derzeit eine Erholung auf oder knapp unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus (siehe Abb. 1). Als Folge der anhaltend niedrigen Fertilität und der gestiegenen Lebenserwartung weisen die europäischen Bevölkerungen zunehmend ein Defizit des natürlichen Bevölkerungssaldos aus Geburten und Sterbefällen auf. Wird dieses Geburtendefizit nicht durch Zuwanderung ausgeglichen, schrumpft die Bevölkerung. Zwischen Zu- und Abwanderungsregionen sind so in den letzten Jahren große Unterschiede hinsichtlich der demografischen Folgen entstanden. Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Demografischer Wandel und Migration in Europa".
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-22T00:00:00"
"2014-01-10T00:00:00"
"2021-11-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/176227/erster-und-zweiter-demografischer-uebergang/
Als erster demografischer Übergang wird in der Bevölkerungswissenschaft der Übergang von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenziffern bezeichnet. Er beginnt idealtypisch mit dem Rückgang einer hohen Sterblichkeit. Die Ursachen des Rückgangs umfasse
[ "demografischer Wandel", "Demografischer Wandel und Migration", "Abbildung 2: Demografischer Übergang" ]
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Die zerrissene Republik | Hartz IV | bpb.de
Das im Volksmund "Hartz IV" genannte Gesetz war keine Arbeitsmarkt- oder Sozialreform wie jede andere. Denn das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene, vom damaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement als "Mutter aller Reformen" gewürdigte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hat die Bundesrepublik so tief greifend verändert wie sonst kaum eine innenpolitische Entscheidung von Parlament und Regierung. Während seine Befürworter/innen den anschließenden Konjunkturaufschwung und die Halbierung der Arbeitslosigkeit wesentlich auf Hartz IV zurückführen, machen seine Kritiker/innen geltend, dass die Bundesrepublik Deutschland unsozialer, kälter und inhumaner geworden sei. Im Folgenden zeige ich, wie sich die Arbeitsmarktreform individuell, also auf die unmittelbar Betroffenen, und gesamtgesellschaftlich, also auf das soziale Klima und die politische Kultur der Bundesrepublik, ausgewirkt hat. Betroffene und Profiteure Insgesamt haben seit Anfang 2005 etwa 20 Millionen Personen zumindest eine Zeit lang die Grundsicherungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit bezogen. Aufgrund der hohen personellen Fluktuation innerhalb des Grundsicherungssystems haben sehr viele Bürger/innen einmal oder sogar wiederholt die deprimierende Erfahrung von Hartz-IV-Hilfebedürftigkeit gemacht. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger/innen zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa an einem Rückgang der materiellen Bedürftigkeit von Leistungsberechtigten, sondern primär an den durch die Hartz-Reformen drastisch verschärften Anspruchsvoraussetzungen, Kontrollmechanismen und Repressalien der für die Leistungsgewährung zuständigen Jobcenter und Sozial- beziehungsweise Grundsicherungsämter. Durch das Gesetz hat sich die finanzielle Situation von Millionen Langzeit- beziehungsweise Dauererwerbslosen und ihren Familien spürbar verschlechtert. Insbesondere durch das Abdrängen der Langzeiterwerbslosen, die vorher Arbeitslosenhilfe erhalten hatten, in den Fürsorgebereich mit seinen für alle gleich niedrigen Transferleistungen trug Hartz IV dazu bei, dass sich die Kinderarmut beinahe verdoppelte. Gab es im Dezember 2004, also unmittelbar vor dem Inkrafttreten des Gesetzespakets, 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die Sozialhilfe bezogen, so lebten im Dezember 2017 etwas mehr als zwei Millionen und im Dezember 2018 knapp unter zwei Millionen unverheiratete Minderjährige von Hartz-IV-Leistungen. Stark betroffen waren Ostdeutsche, alleinerziehende Mütter und Migranten, deren soziale Probleme sich durch Hartz IV verschärften. Weil das Arbeitslosengeld II als ergänzende Transferleistung zu einem geringen Lohn konzipiert war, dürfte Hartz IV außerdem entscheidend dazu beigetragen haben, dass der Niedriglohnsektor, das Haupteinfallstor für heutige Erwerbs-, Familien- und Kinderarmut wie für spätere Altersarmut, mittlerweile beinahe ein Viertel der Beschäftigten umfasst. Ungefähr eine Million der Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen sind gar nicht arbeitslos, sondern können von dem Lohn, den sie erhalten, bloß nicht leben, ohne ergänzend Hartz IV in Anspruch zu nehmen. In der politischen, medialen und Fachöffentlichkeit bleibt die Frage, ob Hartz IV arm macht oder ob damit erfolgreich Armutsprävention betrieben wird, bis heute umstritten. Das verwundert kaum, weil "Armut" ein politisch-normativer, sehr komplexer, mehrdimensionaler sowie moralisch und emotional aufgeladener Begriff ist. Hieraus resultieren eine unterschiedliche bis gegensätzliche Haltung der Kommentator(inn)en zu ihrem Gegenstand und stark differierende Bewertungen. Dies gilt auch für das 2011 eingeführte Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, das seine Befürworter/innen als Etappensieg im Kampf gegen die Kinderarmut feiern, während seine Kritiker/innen darin ein bürokratisches Monstrum sehen, das die meisten anspruchsberechtigten Eltern davon abhält, die entsprechenden Leistungen zu beantragen. Wie das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) errechnete, wurden Hartz-IV-Bezieher/innen in den vergangenen Jahren immer mehr von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt. Sowohl absolut wie relativ hat sich der Abstand zwischen dem Regelbedarf (ohne Miet- und Heizkosten) und der Armutsgefährdungsschwelle, die laut einer EU-Konvention bei 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt, seit Einführung von Hartz IV erheblich vergrößert. Betrug er 2006 noch 401 Euro (absolut) und 53,8 Prozent (relativ), stieg er bis 2018 auf 619 Euro beziehungsweise 59,8 Prozent. Einerseits kann man also von einer zunehmenden Verarmung der Transferleistungsempfänger/innen ausgehen, andererseits traf die Armut weitere Personengruppen. So kam eine Studie, die die deutliche Senkung der Arbeitslosigkeit auf die Hartz-Gesetze zurückführte, gleichwohl zu dem Ergebnis, dass diese "keine armutslindernde Wirkung nach sich gezogen" hätten, sondern die Armut im Gegenteil nach zehn Jahren um etwa ein Drittel größer ausfalle als vor den Reformmaßnahmen. Inge Hannemann, jahrelang Mitarbeiterin eines Jobcenters, klagt darüber, dass die Menschlichkeit bei dem Versuch, die Vermittlung, Beratung und Begleitung von Personen auf ihrer Suche nach Erwerbstätigkeit in betriebswirtschaftliche Zahlen umzuwandeln, auf der Strecke geblieben sei. Hartz IV macht nicht bloß viele Menschen arm, sondern auch krank. Der massive Druck, den Jobcenter auf Bezieher/innen des Arbeitslosengeldes ausüben, zieht nicht selten Depressionen nach sich. Das vorgeblich "aktivierende" Hartz-IV-System führt die Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen oftmals in einen Teufelskreis aus Perspektivlosigkeit und Passivität hinein, in dem mit Frustrationserfahrungen, Überhand nehmenden Resignationstendenzen und sinkendem Anspruchsniveau auch die Eigenaktivität nachlässt: "Wer sich nicht mehr intensiv um sich selbst sorgt, wer permanent Abstriche nicht nur bei der Job-, sondern auch bei der Lebensqualität macht, der verliert allmählich auch den Antrieb, seine individuelle Erwerbs- und Lebenslage aktiv zu verändern." Unterscheidet man zwischen Betroffenen und Profiteur(inn)en der Arbeitsmarktreform, gibt es neben den Verlierergruppen auch Nutznießer/innen und Gewinner/innen. Dazu gehörten bisherige Sozialhilfebezieher/innen, die erwerbsfähig waren und nun die Eingliederungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmen konnten, sofern die Jobcenter sie in deren Genuss kommen ließen und ihre Fördermaßnahmen nicht auf Höherqualifizierte konzentrierten. Die eigentlichen Profiteure der rot-grünen Arbeitsmarktreformen waren jedoch Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften, die möglichst billig, willig und wehrlos sein sollten. "Getreu dem Grundsatz, wonach (nahezu) jede Arbeit besser ist als keine, zielt Hartz IV auf die möglichst umfassende Internalisierung eines allgemeinen Arbeitszwangs." Mit dem Gesetz wurde nicht bloß enormer Druck auf Langzeiterwerbslose, sondern auch auf das Lohnniveau ausgeübt. Reallohnverluste vor allem im unteren Einkommensbereich waren die Folge. Aufgrund der verschärften Zumutbarkeitsregeln und der massiven Sanktionsdrohungen führt Hartz IV dem Niedriglohnsektor ständig neuen Nachschub zu. Unter dem Damoklesschwert von Hartz IV sind Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften außerdem eher bereit, schlechte Arbeitsbedingungen und/oder niedrigere Löhne zu akzeptieren. Schließlich bescheren sinkende Löhne und Gehälter von Arbeitnehmer(inne)n deren Arbeitgebern höhere Gewinne. Für die Bezieher/innen von Arbeitslosengeld II ist Hartz IV ein Disziplinierungsinstrument und für "normale" Arbeitnehmer/innen eine Drohkulisse und ein Druckmittel. Hingegen bieten die Grundsicherungsleistungen für Arbeitgeber die Möglichkeit, Hartz IV gewinnsteigernd als Kombilohnmodell zu nutzen. Für exzessives Lohndumping betreibende Unternehmer, die überwiegend aus der Leiharbeitsbranche stammen, bildet das an sogenannte Erwerbsaufstocker/innen gezahlte Arbeitslosengeld II eine indirekte Subvention, deren Höhe sich auf über zehn Milliarden Euro pro Jahr beläuft. Veränderungen des sozialen Klimas und der politischen Kultur Hartz IV hat einen sozialen Klimawandel bewirkt und die politische Kultur der Bundesrepublik nachhaltig beschädigt. Stärker als vor der Arbeitsmarktreform werden Langzeit- und Dauererwerbslose öffentlich als "Drückeberger", "Faulenzer" und "Sozialschmarotzer" diffamiert. Hatte man die Bezieher/innen der mit Hartz IV abgeschafften Arbeitslosenhilfe noch als früher Sozialversicherte und ehemalige Beitragszahler/innen wahrgenommen, wurden Langzeiterwerbslose nach dem Inkrafttreten von Hartz IV und Medienberichten über die steigende Belastung des Bundeshaushalts durch das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld und die Übernahme eines Teils der Unterkunftskosten häufiger als faule Müßig- beziehungsweise teure Kostgänger/innen des Steuerstaates empfunden, was sich im Gefolge der globalen Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008/09 verstärkte. Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen und ihre Kinder werden als "Hartzer" verlacht und sozial ausgegrenzt. Wilhelm Heitmeyer, damaliger Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (IKG), machte eine "neue Verhöhnung" aus, die seit der Reform in weiten Bevölkerungskreisen um sich gegriffen habe. Daraus zog der Journalist Bruno Schrep den Schluss, dass die Solidargemeinschaft der Bundesbürger/innen auseinandergebrochen sei: "Viele Arbeitsplatzbesitzer, viele Nichtbetroffene haben einen stillschweigenden Pakt geschlossen: Sie grenzen sich von den Hartz-IV-Empfängern ab, reißen Witze über sie, vermeiden Kontakte, brechen Freundschaften ab. Dahinter steckt die pure Angst, womöglich schon bald selbst betroffen zu sein." Heitmeyer sprach von "roher Bürgerlichkeit", die einen Rückzug aus der Solidargemeinschaft einschließe: "Die Entkultivierung des Bürgertums offenbart sich im Auftreten seiner Angehörigen und in der Art und Weise, wie sie versuchen, eigene Ziele mit rabiaten Mitteln durchzusetzen. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Abwertung schwacher Gruppen." Hier liegt ein wichtiger Grund für die Herausbildung einer Subkultur im Bereich der Arbeitslosengeld-II-Empfänger/innen samt ihren Familien, die von Hartz-IV-Kochbüchern über Sozialkaufhäuser bis zu Hartz-IV-Kneipen reicht, wo Leistungsbedürftige unter sich bleiben und ihr Bier zu Niedrigpreisen trinken. Manchmal scheint es, als ob innerhalb der Bundesrepublik zwei Welten oder eine "Parallelgesellschaft" existieren. In den Hochhausvierteln am Rand der Großstädte besuchen die "Abgehängten" jene Suppenküchen, die sich heute nobel "Lebensmitteltafeln" nennen und deren Zahl nach 2005 rapide anstieg, erhalten Wäsche in Kleiderkammern der Wohlfahrtsverbände, holen sich Einrichtungsgegenstände aus Möbellagern und beschaffen sich vieles, was sie darüber hinaus zum Leben benötigen, in Sozialkaufhäusern. In den vergangenen 15 Jahren waren hierzulande neben Tendenzen der Entsicherung und Entsolidarisierung auch Prozesse der Entdemokratisierung zu beobachten. Hartz-IV-Bezieher/innen werden nicht bloß sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt. Das parlamentarisch-demokratische Repräsentativsystem befindet sich in einer Krise, das wegen seiner Stabilität gerühmte Modell der "Volksparteien" franst aus, und die politische Partizipationsbereitschaft sozial Benachteiligter sinkt. "Während Bessergestellte weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit wählen, bleiben viele Arme zu Hause." Wie es scheint, ist Wahlabstinenz häufig die politische Konsequenz einer prekären Existenz. Offenbar haben vor allem Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen, die von den etablierten Parteien keine Vertretung ihrer Interessen (mehr) erwarten, das Gefühl, mit ihrer Stimmabgabe wenig bewirken und nichts bewegen zu können. Hauptleidtragende der Erosionstendenzen im parteipolitischen Raum ist die SPD, innerhalb der Hartz IV von Anfang an stark umstritten war. Selbst als die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles im November 2018 erklärte, Hartz IV "hinter sich lassen" zu wollen, hatte sie nicht alle Spitzenfunktionäre hinter sich. Dass die SPD aufgrund der Agenda 2010 hunderttausende Mitglieder und mehrere Millionen Wähler/innen verlor, hat sie nicht zu glaubwürdiger Selbstkritik veranlasst. Statt die "aktivierende" Arbeitsmarktpolitik für grundfalsch zu erklären, räumt man nur ein, dass sie heute fehl am Platze sei, weil inzwischen Fachkräftemangel statt Massenarbeitslosigkeit herrsche. Unterschwellig lautet die Botschaft: Wenn der Arbeitsmarkt in dem sich anbahnenden Konjunkturrückgang erneut aus den Fugen gerät, machen wir dieselbe Politik wie damals Gerhard Schröder und Wolfgang Clement. Dabei hat deren Regierungspraxis den Niedergang der SPD eingeleitet, und zwar nicht bloß wegen der massenhaften Enttäuschung davon (potenziell) Betroffener, sondern auch, weil die Partei ihre eigene sozialstrukturelle Basis mit Hartz IV zerstört hat. An die Stelle aufstiegsorientierter und selbstbewusster Facharbeiter/innen sind vielfach Niedriglöhner/innen getreten, die nicht mehr aus Traditionsbewusstsein oder in alter Verbundenheit die SPD unterstützen, sondern aus Enttäuschung über deren Politik und die eigene soziale Perspektivlosigkeit gar nicht mehr oder womöglich die AfD wählen, deren Parteiname sie als erhoffte "Alternative" zum Neoliberalismus ausweist. Schließlich haben Gerhard Schröder und Angela Merkel ihren Regierungskurs allzu oft als "alternativlos" dargestellt. "Indem die etablierten Kräfte, einschließlich beträchtlicher Teile der politischen Linken, sich der neoliberalen Sachzwangslogik ergeben haben, kann der Rechtspopulismus sich als die Kraft inszenieren, die ein Primat der Politik wiederherstellt." Dass die Angst vor dem sozialen Abstieg durch Hartz IV bis zur Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist, nutzt der AfD ebenfalls. Angst verleitet Menschen zu irrationalen Reaktionen, weshalb sich das deutsche Kleinbürgertum in ökonomischen Krisen- und gesellschaftlichen Umbruchsituationen politisch vorwiegend nach rechts orientiert. Erfolgreich ist der Rechtspopulismus auch, weil seine Mittelschichtsideologie eine Zwangslage fleißiger Bürger/innen zwischen "korrupten Eliten" und "faulen Unterschichten" konstruiert. Mittelschichtangehörige, denen die etablierten Parteien keinen Schutz vor Deklassierung bieten, erkennen ihr Weltbild in dem rechtspopulistischen Narrativ wieder, dass sie als die eigentlichen Leistungsträger/innen der Gesellschaft nach Strich und Faden ausgeplündert werden. Wenn sich außerdem die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, die sozioökonomische Ungleichheit wächst und der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet, gerät die Demokratie in Gefahr. Dass die Bundesrepublik heute vor einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zerreißprobe steht, ist nicht zuletzt Hartz IV geschuldet. Vgl. ausführlich Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, Weinheim–Basel 20183. Vgl. ders., Armut, Köln 20194, S. 8ff. Vgl. als typisch für die unterschiedliche Bewertung Sandy Pahlke, Bildungspaket 2011. Guter Einfall oder Reinfall?, Berlin 2014; Mara Dehmer/Jennifer Puls/Joachim Rock, Das Bildungs- und Teilhabepaket: eine Misserfolgsgeschichte. Bürokratische Hürden und fehlende Mittel reduzieren Bildungschancen, in: Soziale Sicherheit 10–11/2016, S. 400–408. Vgl. BIAJ, BIAJ-Materialien: Absolute und relative Lücke zwischen Regelbedarf (Hartz IV) und Armutsgefährdungsschwelle 2006–2018, 20.8.2019, http://biaj.de/archiv-materialien/1262-absolute-und-relative-luecke-zwischen-regelbedarf-hartz-iv-und-armutsgefaehrdungsschwelle-2006–2018.html. Siehe Simon Jung, Die Hartz-Reformen und die Armutsentwicklung in Deutschland. Ursachen und armutsbeeinflussende Folgen (von) Deutschlands umfangreichster Sozialreform, Norderstedt 2012, S. 72f. Vgl. Inge Hannemann, Die Hartz-IV-Diktatur. Eine Arbeitsvermittlerin klagt an, Reinbek 2015, S. 138. Klaus Dörre et al., Bewährungsproben für die Unterschicht? – Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt/M.–New York 2013, S. 366. Ders., Hartz-Kapitalismus. Vom erfolgreichen Scheitern der jüngsten Arbeitsmarktreformen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 9, Berlin 2010, S. 294–305, hier S. 295. Bruno Schrep, Die neue Verhöhnung: "Bierdosen sind Hartz-IV-Stelzen", in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 6, Frankfurt/M. 2008, 218–223, hier S. 222. Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin 2012, S. 15–41, hier S. 35. Stefan Selke, Schamland. Die Armut mitten unter uns, Berlin 2013, S. 231. Armin Schäfer, Der Nichtwähler als Durchschnittsbürger: Ist die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie?, in: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hrsg.), Der unbekannte Wähler? – Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen, Frankfurt/M.–New York 2011, S. 133–154, hier S. 139. Ralf Ptak, Der Neoliberalismus entlässt seine Kinder: Krise(n) und Rechtspopulismus, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/Bettina Lösch (Hrsg.), Auf dem Weg in eine andere Republik? – Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus, Weinheim–Basel 2018, S. 64–75, hier S. 73. Vgl. Christoph Butterwegge, Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Weinheim–Basel 2019, S. 271ff., S. 286ff.
Article
, Christoph Butterwegge
"2023-01-11T00:00:00"
"2019-10-24T00:00:00"
"2023-01-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/299216/die-zerrissene-republik/
Das im Volksmund "Hartz IV" genannte Gesetz war keine Arbeitsmarkt- oder Sozialreform wie jede andere.
[ "Hartz IV", "Arbeitslosigkeit", "Erwerbstätigkeit", "Arbeitsmarkt", "Sozialstaat", "Wohlfahrtsstaat", "Armut", "Ungleichheit" ]
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Bürgerhaushalte: Chancen und Grenzen | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Wer sich vertieft mit den Chancen und Grenzen des Beteiligungsinstrumentes "Bürgerhaushalt" auseinandersetzen möchte, dem sei die folgende Veröffentlichung von Jochen Franzke und Heinz Kegler empfohlen: Bürgerhaushalte – Chancen und Grenzen, edition sigma Verlag, 2010. In dieser Veröffentlichung wird versucht – auch unter Bezugnahme auf (die wenigen existierenden) wissenschaftlichen Studien, die Herkunft, Entwicklung und die vielfältigen Formen und Methoden und ebenfalls (die damit verbundenen) vielfältigen Zielsetzungen von Bürgerhaushalten aufzuzeigen. Anhand von Praxisbeispielen werden (mögliche) Wirkungen diskutiert und Probleme aufgezeigt, wie zum Beispiel Repräsentativität, Einfluss von Lobbyismus. Es wird aber auch nicht versäumt, den Bürgerhaushalt in größeren Kontext der lokalen Demokratie als auch gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zu stellen und zu diskutieren. Bürgerhaushalte sind eine moderne Form der Beteiligung der Bürger an der Erstellung kommunaler Haushalte, bei der die Einwohner direkt, dauerhaft und eigenständig bei dessen Diskussion und Entscheidung mitwirken. Die Idee partizipativer Haushalte hat sich seit ihrer erstmaligen Verwendung im brasilianischen Porto Alegre 1989 weltweit verbreitet. Sie entfaltet sich unter differierenden politisch-administrativen Umständen und wird mit unterschiedlichen politischen und sozialen Inhalten gefüllt. Auch in Deutschland findet der Gedanke der Bürgerhaushalte immer mehr Befürworter. Sie gelten als probater Weg, die lokale Demokratie zu fördern, breitere Bevölkerungsschichten in die kommunalpolitische Debatte einzubinden und problemadäquatere Lösungen zu finden, indem lokales Bürgerwissen stärker genutzt wird. Dieses Buch diskutiert die Möglichkeiten von Bürgerhaushalten, aber auch ihre Grenzen und die Probleme der Realisierung. Die Autoren stellen Lösungen für die Vorbereitung und Durchführung vor, thematisieren die Wahl und Reichweite des Verfahrens, den nötigen Verfahrenskonsens, Kombinationen mit anderen Verfahren lokaler Demokratie, die Steuerungsinstitutionen, die Verfahrensabläufe und –standards sowie Fragen der Rechenschaftslegung. Erschienen ist das Buch im Verlag Edition Sigma, Reihe: Modernisierung des öffentlichen Sektors, Bd. 36
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-08-22T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512196/buergerhaushalte-chancen-und-grenzen/
Anhand von Praxisbeispielen werden (mögliche) Wirkungen und Probleme von partizipativen Verfahren aufgezeigt und diskutiert.
[ "Bürgerhaushalt - Bürgerbudget", "Literaturtipps", "Praxisbeispiele", "Chancen und Grenzen", "Kommunen" ]
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Radikale Rechte als ostdeutsches Problem? | Rechte Gewalt in den 1990er Jahren | bpb.de
Handelt es sich bei den Akteuren, Erfolgen und gesellschaftlichen Einbettungen der radikalen Rechten in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik um ein ausschließlich, vor allem oder in besonderer Weise ostdeutsches Problem? Diese Frage wird seit Anfang der 1990er Jahre und verstärkt wieder seit 2014/15 gestellt und in der politischen Öffentlichkeit, aber auch in den Sozialwissenschaften intensiv diskutiert – aktuell im Kontext der sich radikalisierenden Proteste gegen die Russland-Sanktionen und Energiepolitik. Bevor ich mich dieser Frage nähere, ist zu bestimmen, was im Folgenden unter der "radikalen Rechten" verstanden wird. In kritischer Aufnahme einer breiten Debatte fasse ich unter Rechtsradikalismus sowohl rechtsextremistische als auch rechtspopulistische Ideologien, Bewegungen und politische Akteure, die die grundsätzliche Ablehnung des menschenrechtsfundierten, liberalen sowie repräsentativ-demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaates, seiner politischen Eliten sowie der ihm entsprechenden demokratischen politischen Kultur eint. Dabei basiert der zeitgenössische Rechtsextremismus in seinen verschiedenen Varianten – vom Nationalsozialismus bis zum Rassismus – auf der Prämisse einer unaufhebbaren, auf askriptiven Merkmalen wie "Rasse", Ethnie oder Geschlecht ruhenden Ungleichwertigkeit sozialer Gruppen und Individuen. Die Durchsetzung dieser Ungleichwertigkeitsideologie erfordert eine systematische physische und psychische Gewaltanwendung, letztendlich eine Gewaltherrschaft, also eine Diktatur. Der gegenwärtige Rechtspopulismus, der durch Parteien wie Lega Nord in Italien, Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen oder die Alternative für Deutschland (AfD) repräsentiert wird, setzt demgegenüber zunächst auf ein homogen verstandenes "Volk" (lateinisch populus), das nativistisch, ethnisch oder kulturell begriffen wird und als Träger eines starken Wir- und Heimat-Gefühls fungiert. Diese "Volksgemeinschaft" erscheint heute grundsätzlich bedroht. Im Inneren sind es die etablierten liberal-demokratischen und kosmopolitischen Eliten, denen Korruption und Verrat am Volk vorgeworfen wird; äußere Feinde sind "einströmende" fremde Völker und deren Kulturen. Zur Abwehr dieser doppelten Bedrohung muss von der "formalistischen", bürokratischen oder elitären Demokratie zur "wahren" Demokratie übergegangen werden, in der nicht nur plebiszitäre oder direktdemokratische Verfahren, sondern in substanzieller Hinsicht geschichtsgesättigte Gemeinschaftswerte dominieren. Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien sind outputorientiert, das heißt, sie konzentrieren ihre politische Arbeit weniger auf die demokratische Partizipation der Mitglieder, sondern legitimieren sich vor allem durch Erfolge in der taktisch flexiblen Umsetzung ihrer Interessenpolitik. Mit Blick auf konkrete Politikangebote zeichnen den gegenwärtigen Rechtspopulismus außenpolitisch ein klarer Nationalismus sowie instrumentelle Europäisierungs- beziehungsweise Globalisierungsauffassungen aus. Innenpolitisch dominieren ein nativistisch oder kulturell fundiertes Staatsbürgerrecht, restriktive und instrumentelle Einwanderungsstrategien, konservative bis autoritäre Law-and-Order-Auffassungen unter Kombination mit direktdemokratischen Verfahrenselementen, ein Wohlfahrts(staats)chauvinismus sowie ein teils patriarchaler, autoritärer oder rechtskonservativer, teils auf nicht-westliche Lebensweisen und Weltanschauungen fokussierender Antipluralismus und Traditionalismus. Angesichts dieser Merkmale kann es nicht überraschen, dass es Varianten des Rechtspopulismus gibt, die sich weitgehend im Rahmen von Rechtsstaat und Demokratie bewegen, aber auch solche, die fließend in rechtsextremistische Politikformen und -inhalte übergehen. Zum Teil sind beide Strömungen innerhalb einer Partei vorzufinden, wie etwa in der AfD. Ist die radikale Rechte der Bundesrepublik ostdeutsch? Damit zurück zur Ausgangsfrage: Sind nur, dominant oder in spezifischer Weise Ostdeutsche – also die Bevölkerung in den östlichen Bundesländern und Ostberlins, namentlich diejenigen, die entweder selbst noch in der DDR geboren und aufgewachsen sind oder deren Eltern wesentlich durch die DDR-Gesellschaft geprägt wurden – die Träger*innen und Unterstützer*innen der radikalen Rechten in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik? Wenn damit ausgesagt oder suggeriert werden soll, dass der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik nur oder vor allem ein ostdeutsches Problem ist, braucht es kaum mehr als vier Sätze, um dieser "These" deutlich zu widersprechen. Erstens gab es nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen der deutschen Zweistaatlichkeit vielfältige rechtsradikale Bewegungen, Parteien und terroristische Akteure in der alten Bundesrepublik – von den Republikanern und der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) bis zur Wehrsportgruppe Hoffmann oder den Attentätern des Münchner Oktoberfestes 1980 –, die offenkundig eine genuin westdeutsche Traditionslinie verkörpern. Zweitens lässt sich für die Zeit nach 1990 allein anhand der tödlichen rechtsextremistischen Gewalttaten zeigen, dass der Rechtsextremismus weder auf den Osten beschränkt ist, noch dort hochgradig konzentriert agiert. Dafür ist es hinreichend, an die Toten des Anschlags in Mölln 1992, den Mord an Walter Lübcke 2019 oder an den rassistischen Amoklauf in Hanau mit neun Toten 2020 zu erinnern. Drittens zeigen die Wahlergebnisse klassischer rechtsradikaler Parteien wie NPD, Republikaner oder Deutsche Volksunion sowie der AfD, dass sie keineswegs nur im Osten der Bundesrepublik erfolgreich waren beziehungsweise sind, sondern auch im Westen. So erreichte die AfD bei den Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg 15, 2018 in Bayern 10 oder 2022 in Niedersachsen knapp 11 Prozent der Stimmen. Viertens stammt ein beachtlicher Anteil der Führungskräfte rechtsradikaler Akteure auf Bundes- oder ostdeutscher Länderebene nach 1990 aus Westdeutschland. Exemplarisch soll auf Thorsten Heise (Freie Kameradschaften/NPD) und Björn Höcke (AfD) verwiesen werden. Mein Widerspruch soll aber die These eines wesentlich ostdeutschen Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik keineswegs schlicht umkehren und das Phänomen im Kern als westdeutsches oder nur durch "den Westen" verursachtes beschreiben. Dagegen spricht nicht nur der Umstand, dass es in den 1980er Jahren eine aktive rechtsextremistische Szene in der DDR gab, sondern auch mit Blick auf die jüngere Vergangenheit, dass die AfD im Osten fast durchgängig zwischen doppelt und viermal so hohe Stimmenanteile in den Bundes- und Landtagswahlen der vergangenen Jahre erreicht hat wie im Westen: Anteile von 25 oder fast 30 Prozent wie in Sachsen-Anhalt oder Sachsen hat es in den westlichen Bundesländern nie gegeben. Im Folgenden soll vielmehr die These entfaltet werden, dass es sich in Ostdeutschland um eine gegenüber den westlichen Ländern eigentümliche radikale Rechte handelt, die sich langzeitig formiert hat, nicht zuletzt im Zuge der Transformations- und Vereinigungsprozesse seit 1989/90. In meiner Analyse konzentriere ich mich auf den Rechtspopulismus, wobei mich weniger die Seite der organisierten Akteure interessiert, sondern die Attraktivität, Annahme und Unterstützung rechtsradikaler Ideologien und Bewegungen durch relevante Teile der Bevölkerung. Historisches Gewordensein Es ist analytisch und gesellschaftspolitisch ausgesprochen wichtig, Erklärungen sozialer Phänomene sowie Diskussionen ihrer (Um-)Gestaltungschancen nicht auf die unmittelbare Gegenwart zu beschränken, sondern ihr historisches Gewordensein einzubeziehen und zu rekonstruieren. Dazu zählen die intergenerationale Aufschichtung sozialer Erfahrungen und deren Folgen für die gegenwärtigen Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsschemata sozialer Gruppen. Aufschichtungsprozesse und Wirkungsketten umfassen nicht nur wenige Jahre oder Jahrzehnte, sondern in wichtigen Dimensionen selbst Jahrhunderte, vollziehen sich also in der sogenannten longue durée. Das gilt auch für Mentalitäten oder (politische) Kulturen des Rechtsradikalismus. Diese können für die ostdeutsche Region hier nicht substanziell nachvollzogen, ja nicht einmal ernsthaft skizziert werden. Zumindest soll hier aber verwiesen werden auf den Status weiter Teile Ostdeutschlands als umkämpfte Grenzgebiete seit dem frühen Mittelalter; auf die in der Reformation entstandene und dann dominierende lutherische Religion und (Staats-)Kirche; auf eine spezifische Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert – in Mitteldeutschland mit krisenanfälliger Branchenstruktur, vielen Kleinunternehmen und aktiver Arbeiterbewegung; sowie auf die auch deshalb besondere Stärke extremistischer Akteure, nicht zuletzt der kommunistischen, später der nationalsozialistischen Bewegung und des NS-Herrschaftsregimes zwischen 1918 und 1945. Die staatssozialistische Epoche von 1946/49 bis 1989 schloss in vielfacher Hinsicht an die vorgängigen Wirtschafts- und Sozialstrukturen, Herrschaftsregime und die sie mittragenden (politischen) Mentalitätsmuster mit ihren soziokulturellen Homogenisierungsstrategien, einer kaum versteckten Xenophobie sowie gleichzeitiger Unter- und Überpolitisierung der Gesellschaft unter (post-)totalitären Vorzeichen an. Das führte zur Formierung eines eigentümlichen staatssozialistischen Populismus, der sich dem klassischen Links-Rechts-Schema verweigerte. Als Alltagsideologie und politisches Kulturmuster der deutlichen Bevölkerungsmehrheit umfasste dieser ein staatszentriertes Politikverständnis. Darin verbanden sich die individualisierte Adressierung des Staates als allzuständige Instanz, Pflichtübungen des Engagements in Massenorganisationen sowie der Rückzug in private Lebenswelt-Nischen in paradoxer Weise mit Systemmisstrauen, einer allgemeinen Elitenkritik sowie einem vielfach attentistischen Wir-hier-unten-die-da-oben-Dualismus. Für eine Mehrheit delegitimierte sich das staatssozialistische Regime nicht in erster Linie durch seine demokratischen Beteiligungsdefizite, sondern – outputorientiert – durch die gravierenden Einschränkungen in der Reise- und Meinungsfreiheit sowie die Mangelwirtschaft, namentlich im Konsumgüterbereich. Das werktätige DDR-Volk brachte sich zunehmend gegen den versagenden Fürsorgestaat in Stellung, von dem es zugleich in paternalistischer Weise die Verbesserung der Lage einforderte. In der Friedlichen Revolution 1989 erfuhren weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung eine Mobilisierung und die Wirkmächtigkeit demokratisch-politischen Protests auf der Straße. Vor allem in Mitteldeutschland, hauptsächlich in Sachsen, transformierte sich aber bereits im Dezember 1989 der politische Diskurs in Richtung etatistisch-rechtspopulistischer Orientierungen: von "Wir sind das Volk!" zu "Wir sind ein Volk!", vom Hoffen auf einen autonomen demokratischen Neuansatz hin zur Überhöhung der westdeutschen Regierungspolitik und Helmut Kohls zum Heils-, also Wohlstandsbringer, vom politischen Experiment der Runden Tische zum Beitritt und zur Anpassung an den Westen. Das zeigte sich auch im Umgang mit "Anderen". Nach der Auflösung der autoritären Staatsmacht wurden linke Jugendkulturen vom rechtsradikalen Mob ebenso attackiert wie alle nicht-deutsch erscheinenden Bevölkerungsgruppen. Die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind dafür zwei herausragende Beispiele. Formierungslogik nach 1990 Warum und mit welchen Aufschichtungslogiken es nach dem 3. Oktober 1990 zur Formierung des heute so präsenten und wirkmächtigen (rechts)populistischen Mentalitäts- und politischen Kulturmusters in Ostdeutschland kam, lässt sich in fünf Schritten und Zeitabschnitten rekonstruieren: Die unmittelbar dem Beitritt folgende Wirtschaftskrise, Entlassungswelle und Deindustrialisierung in den "neuen Ländern", aber auch frühe Abwertungserfahrungen der Ostdeutschen angesichts ihrer Unkenntnisse und Hilfsbedürftigkeit begründeten eine erste herbe Enttäuschung. Bereits ab Juli 1990 formierten sich daher Massenproteste. Der sich rasch auf die Treuhandanstalt konzentrierende Sozialprotest war allerdings nicht nachhaltig erfolgreich. Das galt ebenso für die Kritik und alternative Strategieentwürfe zur ostdeutschen Transformation, wie sie durch die Protestakteure oder von ostdeutschen Organisationen auf der lokalen Ebene formuliert wurden, etwa von Parteien, Vereinen, Verbänden und Verwaltungen. Das Zerschellen der Hoffnungen auf raschen Wohlstand an den bundes-, also wahrgenommen: westdeutschen Machtzentralen gaben den tradierten populistischen Mentalitäten neue Nahrung und restrukturierten sie unter den veränderten Bedingungen. In diesen und auch den folgenden Jahren noch äußerte sich neben eskalierenden rechtsradikalen Praktiken von unten der organisierte Protest stärker auf der linken politischen Seite. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) erschien vielen Ostdeutschen als einzige konsequente system- und elitenkritische Kraft mit einem Verständnis ihrer Arbeits- und Lebenswelten. Das demonstrierten die Wahlerfolge in den ostdeutschen Bundesländern von 10 bis 23 Prozent deutlich. Die Jahre zwischen 1993 und 2004 waren für eine Mehrheit der Ostdeutschen durch anhaltende Ungleichheits-, Abwertungs- und Ohnmachtserfahrungen geprägt. Das resultierte in der Abwanderung Hunderttausender in die westlichen Bundesländer und verschob die Sozialstruktur im Osten nachhaltig hin zu einem Überhang Älterer, Männer und geringer qualifizierter beziehungsweise immobilerer Arbeitskräfte. Wer nicht abwandern wollte oder konnte, stürzte sich in die Arbeit, das eigene Gewerbe und den Konsum (Eigenheim, Freizeit, Reisen). Hier wollten gerade die Angehörigen der Mittelschichten den Anspruch der Freiheit, der Leistungsgesellschaft und der Angleichung von Ost und West schrittweise durch eigene Anstrengung einholen. Die zweite massive Enttäuschungs- sowie anschließende Empörungs- und Protestwelle formierte sich zwischen 2004 und 2006. Sie ging einerseits auf die Verlangsamung des Angleichungsprozesses in praktisch allen Dimensionen vom BIP bis zum Vermögen seit Ende der 1990er Jahre zurück, andererseits auf die Regelungen und Wirkungen der Agenda 2010. Die Agenda-Politik weitete gerade in Ostdeutschland den prekären Arbeitsmarkt noch einmal aus und Verarmungsrisiken nahmen zu. Dabei konnten Ostdeutsche weniger als Westdeutsche überbrückende Einkommen und Vermögen heranziehen. Zudem verstanden sich die Ostdeutschen mit ihrer DDR-Erfahrung stärker noch als westdeutsche Arbeitnehmer*innen als "Opfer" eines Systemversagens. Die Versuche, über die etablierten Partizipationsverfahren in Parteien und Verbänden Widerstand und Änderungen herbeizuführen, fruchteten kaum. Daher wurden die neuen "Montagsdemonstrationen" sowie alternative Empörungsforen organisiert. Wieder reagierte die politische Klasse in den Augen der Betroffenen nur mit hohlen Phrasen und fernen Evaluationsversprechen. In Ostdeutschland ließ das die Unzufriedenheit mit und das Misstrauen gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Institutionen auf neue Höchststände steigen. Zugleich erhielten Parteien und Initiativen auch in Wahlen wachsende Zustimmung, die sich als Fundamentalopposition links oder rechts der die Regierung tragenden Mitte-Parteien positionierten, darunter auch rechtsradikale Parteien wie die NPD. Die letzte Enttäuschungswelle war gerade halbwegs bewältigt, als sich vor dem Hintergrund der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2008 bereits die nächste aufbaute. Gerade in Ostdeutschland blieb es für eine überwältigende Mehrheit nicht nachvollziehbar und der blanke Hohn, dass für sie als ostdeutsche Erwerbstätige noch vor wenigen Jahren keine Finanzmittel für die Fortführung des bisherigen deutschen Wohlfahrtsstaates zu Verfügung gestanden hatten, mithin die Agenda-Politik 2010 "alternativlos" erschien, nun aber nicht nur für die einheimischen und globalen Großbanken, sondern auch noch für die vermeintlich wenig(er) hart arbeitenden, aber hohe Wohlfahrtsleistungen beziehenden Griechen und weitere Südeuropäer Milliarden für Zahlungen und Kredite vorhanden waren. Erneut erschienen die etablierten Eliten entrückt, korrupt und nicht am "Volkswohl" interessiert. Die vierte Welle von Enttäuschung, Empörung und Protest wurde 2015/16 durch die Aufnahme Hunderttausender Geflüchteter aus Syrien, Irak, Afghanistan, aber auch von neuen Arbeitsmigrant*innen aus Europa und Afrika ausgelöst. Die massenhaften Aufenthaltsgenehmigungen und humanitäre Versorgung dieser Menschen wurden für viele zu einer weiteren Enttäuschungs- und Entfremdungserfahrung. Nicht nur, dass "der Strom an Fremden" als Bedrohung ihrer geschützten Lebensweisen erschien, was xenophobe Reflexe auslöste und verstärkte. Auch der Bezug "leistungslosen Einkommens" stieß einer Mehrheit vor dem Hintergrund der ostdeutschen Enteignungs- und sozialen Verunsicherungsgeschichte sowie ihrer harten Arbeitsanstrengungen unter Krisenbedingungen bitter auf. Vor allem empörte sie sich über die offenkundige Irrelevanz der vermeintlich ostdeutschen Mehrheitsmeinung für die Gestaltung der Migrationspolitik, zum anderen über die linksliberale Kritik an eben dieser Haltung. Die Artikulation radikaler Empörung und Kritik mit Rufen von "Volksverräter!" bis "Lügenpresse!" zunächst auf Pegida-Demonstrationen in Dresden waren die eine Folge, die "Suche" nach einer politischen Kraft, die diese aufzunehmen und im etablierten Politikbetrieb soweit wie möglich durchzusetzen vermochte, die zweite. Die Partei Die Linke kam dafür angesichts ihrer Migrationspolitik und Wirkungslosigkeit unmöglich infrage, wohingegen die AfD rasch zum Sachwalter, Systematisierer und Radikalisierer dieses Habitus aufstieg. Es ist nur folgerichtig, dass die AfD gerade in denjenigen sozialen Milieus und Regionen Ostdeutschlands die größten (Wahl-)Erfolge feiert, in denen materielle Deprivationserfahrungen und Vulnerabilitäten am ausgeprägtesten sind – vom prekären Milieu älterer Männer und junger Menschen mit geringer und mittlerer Bildung bis zu den peripheren Grenzregionen im Osten und Südosten –, in denen aber auch in der symbolischen Dimension die stärksten Traditionsbestände von Heimatstolz, Xenophobie, Pluralitätsängsten und Systemmisstrauen existieren und am intensivsten rechtsradikale Narrative (weiter)gesponnen wurden. Neu in der vierten Welle, die sich in der Pandemie- und Energiekrisenpolitik seit 2020 mit der (An-)Klage eines Unwissens, Unwillens und Unvermögens der etablierten Eliten nahtlos fortsetzte, ist nicht nur, dass die "etablierte Politik" anders als bisher auf die sich Empörenden und Protestierenden kommunikativ und in Teilen auch inhaltlich zuging. Vielmehr rückte die Welle Ostdeutschland und die Politiken für Ostdeutsche nach einer Pause von gut 15 Jahren wieder in den Fokus der bundesrepublikanischen Aufmerksamkeit und (umverteilungs)politischer Initiativen. Zwei Gründe sind dafür maßgebend: Zum einen war und ist es nicht nur ein ostdeutsches Problem, wie die Wahlergebnisse im Westen und inhaltliche Debatten um die richtige Politik auch in den anderen Parteien zeigen. Zum anderen aber bedeuten gerade im Osten die hohen Stimmenanteile für die AfD unter Berücksichtigung der Anteile für Die Linke, die bei etwa 10 bis 30 Prozent liegen, dass entweder gegen diese beiden radikalen Parteien gar keine Regierungsbildung mehr oder – wie in Sachsen oder Sachsen-Anhalt geschehen – nur noch durch eine Koalition aller anderen in den Parlamenten vertretenen Parteien möglich ist. Dieses neue Koordinatensystem stellt für die politischen Programmatiken, Strategieentwicklungen und Taktiken der klassischen Parteien wie für die Regierungsbildung und das Regierungshandeln eine historische Zäsur dar. Keine Regierung im Osten, aber auch im Bund kann gegenwärtig jenseits rechtspopulistischer Bewegungen, Interessen und Mentalitäten agieren. Resümierend ist festzuhalten, dass sich in den skizzierten Erfahrungsaufschichtungen und Formierungslogiken seit 1990 ein ostdeutscher rechtspopulistischer Habitus entwickelt und mittlerweile konsolidiert hat, dessen zentrale Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsschemata sich auch jenseits der Zukunft der AfD bei etwa 30 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung diagnostizieren lassen. Dieser Habitus zeichnet sich insbesondere aus durch eine eigentümliche Kombination von regionalem Heimatstolz, darauf bezogenem kollektiven Identitätsüberschuss (etwa als Sachse) und kulturell begründeter Xenophobie; seine wichtige lutherische Grundierung bei heute weitgehend religionsfreier Praktizierung, ja anti-religiöser Aufladung; sein staatssozialistisches Fundament, also sein output- und dabei gleichheitsorientiertes Demokratie- und Staatsverständnis, ein tiefsitzendes Elitenmisstrauen sowie Distanz gegenüber konfliktorientierten intermediären Organisationen; eine eher anarchische Protestkultur; seine Einfärbung durch das Ost-West-Verhältnis nach 1989/90 und die vielfache Wahrnehmung des versagenden Staates und korrupter Eliten als (wesentlich) westdeutsch; eine damit inhaltlich fragmentierte Gestalt, die etwa Orientierungen und Argumentationsmuster linkspopulistischer Ideologien eher unproblematisch integriert. Fazit Was folgt aus alldem – für das Begreifen und gesellschaftspolitisches Handeln? Erstens: So wenig die radikale Rechte in der Bundesrepublik ein alleiniges oder auch nur dominant ostdeutsches Problem darstellt, so sehr entpuppt sich der ostdeutsche Rechtsradikalismus und hier konkreter der Rechtspopulismus als besonderer. Dieser lässt sich ohne eine Reflexion seines langzeitigen Gewordenseins, seiner aktuellen regionalen Kontexte und seiner Eigenheiten nicht angemessen verstehen. "Besonders" heißt aber keinesfalls kausal singulär oder "autark", vielmehr zeigen etwa ostmitteleuropäische rechtspopulistische Kulturen deutliche Verwandtschaften zu den ostdeutschen und bestehen intensive Verknüpfungen mit den westdeutschen Dynamiken, nicht zuletzt im Rahmen der AfD. Zweitens: Wenn es richtig ist, dass der ostdeutsche Rechtspopulismus als politische Kulturformation auf langzeitigen Erfahrungsaufschichtungen sowie narrativen wie diskursiven Verdichtungen basiert und in relevanten Bevölkerungsgruppen gerade der ländlichen Peripherie habituell verfestigt ist, kann er hier nicht kurz- oder selbst mittelfristig verschwinden oder irrelevant für das soziale Handeln werden. Drittens: Der ostdeutsche Rechtspopulismus speist sich wesentlich aus den in der DDR geformten Mentalitäten, den widersprüchlichen Erfahrungen der revolutionären Transformation und der Vereinigungspolitik, darin insbesondere aus den materiellen wie symbolischen Verteilungs-, Partizipations- sowie Anerkennungsdefiziten gegenüber wichtigen Gruppen von Ostdeutschen. Eine Debatte, die die Erklärung und Überwindung des Rechtspopulismus nur auf eine dieser Dimensionen beschränken will, wird nicht erfolgreich sein. Viertens: Die angesichts der fließenden Übergänge in den Rechtsextremismus von nicht wenigen geforderte Ausgrenzung rechtspopulistischer Akteure und ihrer Unterstützer aus dem demokratischen Diskurs ist verständlich, bleibt aber politisch problematisch. Neben einer harten Abgrenzungslinie gegenüber Rechtsextremisten und extremistischen Rechtspopulisten, die einen starken Rechtsstaat benötigt, braucht es Artikulationsgelegenheiten für, eine diskursive Offenheit gegenüber und die konfliktbereite Integration von rechtspopulistischen Akteuren und Argumentationen in den demokratischen Prozess. Politische Abschottungen und Kommunikationsverweigerungen machen demokratische Konfliktintegration sowie Lernprozesse unmöglich und würden zudem rechtspopulistische Vorurteile wie Systemkritik bestätigen. Fünftens: Eine langfristig erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem ostdeutschen Rechtspopulismus erfordert neben der kritischen Aufarbeitung der Geschichte der DDR, der friedlichen Revolution und der Vereinigung sowie einer auch darauf bezogenen neuen Selbstanerkennung und Selbstkritik der Ostdeutschen und ihres Handelns den systematischen Versuch eines politischen Diskurses, der die Grenzen von Ost und West, von sozialen Schichten und Milieus und von politischen Lagern sowie von Weltbildern überschreitet – mit dem Ziel des Perspektivwechsels, des wechselseitigen Lernens und der Gewinnung auch systemverändernder Handlungschancen. In der gegenwärtigen neuen Transformationsperiode wird der Rechtspopulismus – und nicht nur der ostdeutsche – unsere Demokratie vielfach herausfordern. Darauf sollte sie, sollten also wir alle, vorbereitet sein. Vgl. Exemplarisch Matthias Quent, Sonderfall Ost – Normalfall West? Über die Gefahr, die Ursachen des Rechtsextremismus zu verschleiern, in: Wolfgang Frindte/Nicole Haußecker/Franziska Schmidtke (Hrsg.), Rechtsextremismus und "Nationalsozialistischer Untergrund". Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen, Wiesbaden 2016, S. 99–118; Reinhard Bingener/Eckart Lohse, Haben die Ostdeutschen ein Rechtsextremismus-Problem?, 31.5.2021, Externer Link: http://www.faz.net/17366013.html; Marco Wanderwitz, Rechtsextremismus im Osten – "Es wird eher schlimmer als besser", 15.9.2020, Externer Link: http://www.welt.de/215735958. Zur Debatte vgl. Fabian Virchow, Rechtsextremismus: Begriffe – Forschungsfelder – Kontroversen, in: ders./Martin Langebach/Alexander Häusler (Hrsg.), Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2016, S. 5–42. Vgl. Karin Priester, Rechtspopulismus – ein umstrittenes theoretisches und politisches Phänomen, in: ebd., S. 533–560; Raj Kollmorgen, Rechtspopulismus in Ostdeutschland. Sieben Thesen zu seiner Formierung, Attraktivität und Ausprägung aus historisch-soziologischer Perspektive, in: ders./Johannes Schütz/Steven Schäller (Hrsg.), Die neue Mitte? Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten, Weimar u.a. 2021, S. 159–188. Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: ders./Marc Bloch/Lucien Febvre, Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt/M. 1977, S. 47–85. Vieles davon trifft in besonderer Weise auf Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen zu. Vgl. Kollmorgen (Anm. 3), S. 168–188. Dieses populistische Mentalitätsmuster war insbesondere in den ländlich geprägten Regionen und unter Angehörigen proletaroider sowie kleinbürgerlicher sozialer Milieus bis hinein in Teile der sozialistischen Dienstklasse verbreitet, das heißt, nach meiner Schätzung, unter rund 60 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung. Vgl. Helmut Rainer et al., Deutschland 2017, ifo-Institut, Forschungsbericht 96/2018, S. 93–99. Davon verfügen bis zu 60 Prozent über ein geschlossenes rechtspopulistisches Weltbild. Vgl. Kollmorgen (Anm. 3), S. 184.
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Kollmorgen, Raj
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-11-29T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/rechte-gewalt-in-den-1990er-jahren-2022/515774/radikale-rechte-als-ostdeutsches-problem/
Die radikale Rechte in den ostdeutschen Bundesländern ist eigentümlich und ohne Reflexion ihres historischen Gewordenseins nicht zu verstehen.
[ "Rechtsextremismus", "Rechtsterrorismus", "Rechtspopulismus", "Rechtsradikal", "Ostdeutschland", "DDR" ]
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Veranstaltungskalender | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Übersicht Zu den Termindetails gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken. August Interner Link: Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Interner Link: Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung14. August 2023, Berlin & online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?24. August 2023, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) September Interner Link: Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten4. September 2023, Düsseldorf CoRE NRW Interner Link: BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September 2023, Leipzig Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media12. September 2023, online Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Interner Link: Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit13. September 2023, Berlin ufuq.de Interner Link: Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention28. bis 29. September 2023, Berlin cultures interactive e. V. Oktober Interner Link: Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus04. und 18. Oktober 2023, Berlin cultures interactive e. V. Interner Link: Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur19. Oktober 2023, Berlin Violence Prevention Network (VPN) November Interner Link: Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus9. bis 10. November 2023, Berlin Hochschule Fresenius Interner Link: Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und AbsolventenNovember 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Interner Link: Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Pädagogische Hochschule Heidelberg Februar 2024 Interner Link: Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 202428. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite August Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online In der Online-Fortbildung des Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) geht es darum, Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit extremistischer Ansprache in den sozialen Medien zu schulen. In den Lehrgängen wird zudem die Funktionslogik von sozialen Medien thematisiert und die allgemeine Medienkompetenz der Teilnehmenden verbessert. Mögliche Abläufe von Radikalisierungsprozessen sowie Grundlagen des Online Streetwork bekommen ebenfalls einen Raum in den Seminaren. Ziel ist es, eigene digitale Angebote der Demokratieförderung zu entwickeln und menschenfeindlichen Inhalten im Netz selbstbewusst entgegenzutreten. Die Online-Fortbildung gibt es in drei Durchgängen: 31. Juli 2023 bis 16. Oktober 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr 12. September 2023 bis 21. November 2023, immer dienstags & donnerstags von 11:00-12:30 Uhr 9. Oktober 2023 bis 18. Dezember 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr Termin: 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 Ort: online Veranstalter: Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CEOPS Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung 14. August 2023, Berlin & online Was brauchen wir als Gesellschaft, um zunehmenden Polarisierungstendenzen zu begegnen? Was braucht es auf individueller und struktureller Ebene, um Menschen zu stärken, die anfällig sind für extremistische Ansprachen? Das diesjährige Politik- und Pressegespräch der BAG RelEx widmet sich den strukturellen Faktoren von Radikalisierung. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Lösungsstrategien im politischen Handeln wie auch auf Ebene der zivilgesellschaftlichen Träger. Diese werden im Rahmen eines Impulsvortrags und einer Podiumsdiskussion erörtert. Im Anschluss bietet die Veranstaltung Raum für Rückfragen. Das hybride Politik- und Pressegespräch richtet sich an Vertreter:innen aus Medien und Politik, an Fachkräfte sowie die breite Öffentlichkeit. Journalist:innen können sowohl vor Ort als auch online teilnehmen. Weitere Interessierte können der Veranstaltung online beiwohnen. Termin: 14. August 2023, 18:00-19:30 Uhr Ort: Berlin-Wedding & online Veranstalter: BAG RelEx Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen? 24. August 2023, online Das Online-Seminar beschäftigt sich mit islamistischer Ansprache in den sozialen Medien. Dabei geht es vor allem darum, wie Staat und Zivilgesellschaft auf die damit einhergehenden Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention reagieren können. Das Seminar liefert eine Einordnung zu Ansätzen der Präventionsarbeit und vermittelt Überblick über Projekte der digitalen Jugendarbeit. Im Anschluss werden mögliche Bedarfe in der Jugend- und Präventionsarbeit skizziert. Das Online-Seminar richtet sich an Teilnehmende des Plan P.-Netzwerks sowie Fachkräfte der Jugendhilfe, insbesondere aus den Bereichen des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Jugendarbeit und der Sozialarbeit. Termin: 24. August 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. August möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AJS September Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten 4. September 2023, Düsseldorf In einer wehrhaften Demokratie stehen staatliche Institutionen vor der Aufgabe, immer wieder zu überprüfen, inwieweit sie selbst gegen antidemokratische und extremistische Einstellungen gefeit sind. Staatsbedienstete sind gegen die Verbreitung von extremistischen Einstellungs- und Vorurteilsmustern nicht immun. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz, Polizei und Nachrichtendienste, sondern auch der Schul- und Erziehungssektor. Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen, wie wir sie in Polizeien in mehreren Bundesländern gesehen haben, und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Darüber soll auf dem Netzwerktreffen intensiv diskutiert werden. Neben Vorträgen und Diskussionen gibt es ausreichend Zeit für Gespräche zur Vernetzung. Termin: 4. September 2023, 9:30-17:00 Uhr Ort: Townhouse Düsseldorf, Bilker Straße 36, 40213 Düsseldorf Veranstalter: CoRE NRW Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail bis zum 25. August unter Angabe des vollen Namens sowie der institutionellen Anbindung Weitere Informationen in Kürze auf den Externer Link: Seiten von CoRE NRW BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September, Leipzig Im September 2023 findet in Leipzig ein interaktives BarCamp der Bundeszentrale für politische Bildung zum Themenfeld Islamismus statt. Die Fachtagung bietet einen Raum für Akteurinnen und Akteure, die in der Radikalisierungsprävention und der politischen Bildung tätig sind, einmal innezuhalten, gemeinsam über die Entwicklungen zu reflektieren, sich über aktuelle Themen, Debatten aber auch die Belastung in der täglichen Arbeit auszutauschen und gleichzeitig Ideen, multiprofessionelle Perspektiven und neue Energie aufzutanken. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte aus dem Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildung, Wissenschaftler/-innen und Multiplikator/-innen, die sich bereits intensiver mit dem Phänomen Islamismus und dem Feld der Islamismusprävention auseinandergesetzt haben oder in diesem arbeiten. Auch das Team des Infodienst Radikalisierungsprävention wird auf der Tagung vertreten sein und freut sich, Sie dort zu begrüßen. Termin: 4. bis 6. September 2023 Ort: Hyperion Hotel, Sachsenseite 7, 04109 Leipzig Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: Teilnahmegebühr ohne Übernachtung 50 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 21. August 2023 möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media 12. September 2023, online Mit welchen Argumenten verbreiten extremistische "Prediger" online ihre Botschaften? Welche Themen und vermeintliche Belege führen sie an? Welche Plattformen und Formate nutzen sie? Und wie gewinnen sie das Vertrauen von Jugendlichen? Der Workshop beginnt mit einer Auswahl gängiger Phrasen, Aussagen und Argumente extremistischer Online-"Prediger". Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden gemeinsam über folgende Fragen: Welche Formate und Argumente sind bei Jugendlichen besonders wirksam? Welche Themen stehen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund? Welche Fragestellungen scheinen für Jugendliche zentral zu sein, werden von extremistischen Online-Akteuren jedoch bewusst ausgeklammert? Fachkräfte können vorab Beispiele und konkrete (anonymisierte) Fälle aus der eigenen Arbeit einreichen. Diese werden dann im Rahmen der Veranstaltung aufgegriffen. Termin: 12. September 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 1. September 2023 Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der IU Internationalen Hochschule Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit 13. September 2023, Berlin Wie können Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit auf antimuslimischem Rassismus reagieren und diesem entgegenwirken? Welche Rolle spielt die persönliche Haltung zu Religion? Wie können Betroffene von diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen unterstützt und gestärkt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Fortbildung. Pädagogische Mitarbeitende aus Schule, Sozialarbeit und außerschulischer Bildungsarbeit sind eingeladen, daran teilzunehmen und Anregungen zum Umgang mit Religion, Resilienz und Rassismus für ihre Arbeit mitzunehmen. Termin: 13. September 2023, 9:00-16:00 Uhr Ort: Räume der Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin Veranstalter: ufuq.de Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 11. September Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene 20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Inwiefern kann Radikalisierung beziehungsweise die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen auch als mögliche Bewältigungsstrategie angesichts struktureller gesamtgesellschaftlicher Problemlagen verstanden werden? Welche Implikationen ergeben sich hieraus für die Ausrichtung von Präventionsstrategien und -ansätzen? Welche stigmatisierenden Effekte birgt die Arbeit der Islamismusprävention? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Fachtag. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte und Interessierte. Termin: 20. bis 21. September 2023 Ort: Frankfurt am Main Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Anmeldung: Externer Link: online bis 1. September möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von BAG RelEx Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention 28. bis 29. September 2023, Berlin Wie lässt sich Gaming für die Präventionsarbeit nutzen und wie können Jugendliche darüber erreicht werden? Die Fortbildung beschäftigt sich mit diesen Fragen und zeigt auf, wie Menschenrechte, demokratische Haltungen und Medienkompetenz in diesem Bereich vermittelt werden können. Mit Hilfe des Spiels „Adamara“, das cultures interactive e. V. entwickelt hat, sollen die Teilnehmenden lernen, wie Jugendliche eigene Handlungsoptionen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Lebenserfahrungen im Spiel verarbeiten können. Ziel ist es, ein Verständnis für die Gaming-spezifischen Anforderungen in der Präventionspraxis zu gewinnen. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte aus der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen Bildung. Termin: 28. bis 29. September 2023 Ort: Tagen am Ufer, Ratiborstraße 14, 10999 Berlin-Kreuzberg Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Oktober Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus 4. und 18. Oktober 2023, Berlin Wie prägen Gendervorstellungen den islamisch begründeten Extremismus? Welche Chancen bieten mädchen*spezifische Präventionsansätze? Und wie sehen erfolgreiche Strategien aus für den Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen*? Diese Fragen stehen im Fokus der zweitägigen Fortbildung für Fachkräfte der Jugendarbeit in Berlin. Neben interaktiven Elementen werden auf der Veranstlatung aktuelle Forschungsergebnisse zu Mädchen* im Salafismus vorgestellt. Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden, welche erfolgreichen Strategien es im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen gibt. Termin: 4. und 18. Oktober 2023, jeweils von 17:00 – 20:00 Uhr Ort: Berlin Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur 19. Oktober 2023, Berlin Bei diesem Fachtag im Rahmen des Projekts „Islam-ist“ geht es um die Frage, wie islamistische Akteur:innen digitale Räume nutzen, um junge Menschen zu beeinflussen und zu mobilisieren. Thematisch wird das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Anpassung sowie radikaler Narrative und Verharmlosung ideologisierter Weltbilder bearbeitet. Ziel ist es, konkrete Konsequenzen für die Arbeit von Fachkräften herauszuarbeiten, um unterschiedlichen Ansprachestrategien zu begegnen, ohne dass junge Muslim:innen stigmatisiert werden. Der Fachtag teilt sich in Impulsvorträge, Workshops und Panels auf und lädt zum gemeinsamen Austausch ein. Termin: 19. Oktober 2023, 9:30 – 17:30 Uhr Ort: Berlin, Alt-Reinickendorf Veranstalter: Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von VPN November Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus 9. bis 10. November 2023, Berlin Welche Faktoren motivieren Frauen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Welche Funktionen und Rollen nehmen Frauen in den verschiedenen Phänomenbereichen ein? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der zweitägige Workshop der Hochschule Fresenius. Die Veranstaltung richtet sich an Nachwuchswissenschaftler:innen des Themenfelds Extremismus und soll einen Rahmen schaffen, um eigene Forschungsprojekte mit Expert:innen zu besprechen. Hierfür sind die Teilnehmenden dazu eingeladen, eigene Abstracts einzureichen und bei Interesse einen Vortrag zu halten. Termin: 9. bis 10. November 2023 Ort: Berlin Veranstalter: Hochschule Fresenius Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per Mail möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Fresenius Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und Absolventen November 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Wie bedingen gesellschaftliche Konflikte Veränderungen innerhalb der islamistischen Szene? Welche Strategien, Inhalte und islamistischen Gruppierungen sind für die Präventionsarbeit in Deutschland relevant? Und wie gelingt der Berufseinstieg in dieses Arbeitsfeld? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die MasterClass der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Veranstaltung richtet sich an Masterstudierende sowie Absolventinnen und Absolventen mit Interesse an einer beruflichen Tätigkeit in der Islamismusprävention. In fünf Modulen erhalten sie einen Einblick in Theorien, Methoden und Praxis der Präventionsarbeit. Die Umsetzung der Module findet in Präsenz an verschiedenen Orten in Deutschland und online statt. Termin: 17. November 2023 bis 8. November 2024, insgesamt fünf Module Ort: Berlin/Köln/Erfurt und online Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: 150 Euro Teilnahmegebühr. Reisekosten, Hotelkosten und Verpflegung werden übernommen. Bewerbung: Externer Link: online möglich bis zum 7. August. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist findet eine Auswahl der Teilnehmenden durch die bpb statt. Die Teilnehmendenzahl ist auf 25 Personen begrenzt. Weitere Informationen zur MasterClass auf den Interner Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Wie können pädagogische Fachkräfte souverän reagieren, wenn sich junge Menschen demokratiefeindlich äußern? Wie kann man erkennen, ob jemand nur provozieren möchte oder tatsächlich eine extremistische Haltung entwickelt hat? Die sechstägige Online-Weiterbildung soll Pädagog:innen dazu befähigen, eine Radikalisierung zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Das Kontaktstudium besteht aus einer Verknüpfung von Theorie und Praxisbeispielen und bietet die Möglichkeit, sich mit Expert:innen aus verschiedenen Fachbereichen auszutauschen. Die Weiterbildung richtet sich an Pädagog:innen, die mit jungen Menschen arbeiten. Sie findet an folgenden Terminen statt: Freitag, 1. Dezember 2023, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 2. Dezember 2023, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 19. Januar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 20. Januar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 23. Februar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 24. Februar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Termin: 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024 Ort: online Veranstalter: Pädagogische Hochschule Heidelberg Kosten: 490 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. Oktober möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der pädagogischen Hochschule Heidelberg Februar 2024 Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 2024 28. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Auch im nächsten Jahr veranstaltet MOTRA wieder eine Jahreskonferenz. MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung. Im Mittelpunkt der Konferenz steht der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis zum aktuellen Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Dazu bietet die Veranstaltung ein vielfältiges Programm aus Beiträgen der Radikalisierungsforschung und Präventionspraxis zu einem jährlich wechselnden Schwerpunktthema. Fachkräfte sind dazu eingeladen, Forschungs- und Praxisprojekte zu diesem Thema einzureichen und auf der Konferenz zu präsentieren. Der entsprechende Call for Papers sowie Informationen zum Schwerpunktthema und den Bewerbungs-, Teilnahme- und Anmeldemöglichkeiten werden in Kürze veröffentlicht. Termin: 28. und 29. Februar 2024 Ort: Wiesbaden Veranstalter: Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung werden auf den Externer Link: Seiten von MOTRA bekannt gegeben. Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-08-04T00:00:00"
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Veranstaltungshinweise und Fortbildungen aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus & Prävention
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Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern | Sozialer Wandel in Deutschland | bpb.de
In der industriellen Gesellschaft hatte sich eine besondere Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung herausgebildet, und zwar in der Arbeitswelt, im öffentlichen Leben und in der Privatsphäre. Zwischen Frauen und Männern existierten typische Unterschiede in den sozialen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Rollenanforderungen, die sich über geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse auch auf die Persönlichkeit, auf Einstellungen, Motivationen und Verhaltensweisen niederschlugen. So geht die Sozialstrukturanalyse davon aus, dass soziale Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern nicht von natürlichen, biologischen Unterschieden herrühren, sondern dass ihnen im Wesentlichen soziale Ursachen zugrunde liegen. Wie in allen entwickelten Gesellschaften sind auch in Deutschland Differenzierungen dieser Art in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt worden. Offenbar gehört die Tendenz zur Minderung der sozialen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu den allgemeinen "emanzipatorischen Trends" (Norbert Elias 1989) der modernen Gesellschaft. Mit der Verringerung der geschlechtstypischen Unterschiede erhöht sich zugleich die Sensibilität gegenüber den verbliebenen. Es breitet sich das Bewusstsein aus, dass viele der weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern sozial ungerecht sind; die soziale Ungleichheit zwischen Frauen und Männern wird zunehmend "entlegitimiert". Bildung und Ausbildung Anteil der Schulabgängerinnen mit unterschiedlichen Schulabschlüssen (© Datenquelle: Statistisches Bundesamt) In den ersten Nachkriegsjahrzehnten erwies sich der Bildungsbereich als derjenige gesellschaftliche Sektor, in dem sich geschlechtstypische Ungleichheiten am schnellsten und besten abbauen ließen. Mädchen erzielten schon immer die besseren Schulnoten und blieben seltener sitzen. Aber erst die Diskussion um die Ungleichheit der Bildungschancen in den 1960er-Jahren ermutigte sie dazu, die besseren Schulleistungen auch in angemessene Bildungsabschlüsse umzusetzen. Anfang der 1980er-Jahre entsprach ihr Anteil an den Abiturienten ihrem Anteil an der Bevölkerung; in der DDR war dies bereits etwa zwei Jahrzehnte vorher der Fall gewesen. Inzwischen hat sich der früher erhebliche weibliche Bildungsrückstand im allgemeinbildenden Schulsystem im Zuge der Bildungsexpansion in einen leichten Bildungsvorsprung verwandelt. Unter den Schulabgängern ohne und mit Hauptschulabschluss stellten Mädchen 2012 nur Minderheiten von 40 bzw. 42 Prozent; dafür waren sie unter den Abiturienten mit 55 Prozent und beim Erwerb der Fachhochschulreife mit 52 Prozent überrepräsentiert. Frauenanteil unter Studierenden an Universitäten (© Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 7., grundlegend überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2014, S. 376) Die Barrieren, auf die junge Frauen auf dem Weg in die Hochschulen stießen, waren höher und schwerer aus dem Weg zu räumen. Noch 1960 waren in beiden deutschen Gesellschaften fast drei Viertel der Studierenden Männer. Durch eine stärkere Reglementierung bei der Zulassung zum Studium, aber auch durch eine gezielt mütterfreundliche Gestaltung von Studienbedingungen (kostenlose Kinderbetreuung an den Hochschulen, besondere Unterkünfte, Kinderzuschläge bei Stipendien, Sonderregelungen beim Studienablauf) konnten in der DDR die Studienchancen der Frauen innerhalb eines Jahrzehnts denen der Männer angeglichen werden. In der Bundesrepublik vollzog sich die Entwicklung zögerlicher. Der Anteil der Frauen an den Universitäten stagnierte in den 1980er-Jahren bei etwa 40 Prozent, 1995 lag er bei 44 Prozent. Erst im vergangenen Jahrzehnt konnten die Frauen mit den Männern gleichziehen. 2012 lagen die Frauenanteile unter den Studierenden an Universitäten in Ost und West bei 50,5 bzw. 50,4 Prozent. Seit einigen Jahren macht die Formel von den Jungen als den "neuen Bildungsverlierern" die Runde. Die Ursachen für die männlichen Bildungsdefizite sind bisher nur sehr unzureichend erforscht. Es wird darauf verwiesen, dass Jungen erheblich häufiger von Erziehungsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten betroffen sind, zum Beispiel als Patienten in entsprechenden Therapiezentren oder als Betroffene des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADS) oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Umstritten ist, ob durch die starke Feminisierung der Erziehung in Kindertagesstätten und Grundschulen "weiblich geprägte Schulbiotope" entstanden sind, die den Bedürfnissen von Jungen nach männlichen Vorbildern, körperlicher Bewegung, Sach- und Technikorientierung, Konkurrenzverhalten und "Aufmüpfigkeit" nicht angemessen entsprechen. Allerdings sollte angemerkt werden, dass sich die Benachteiligung der "alten Bildungsverlierer" – der Kinder aus bildungsfernen Familien oder bestimmten Migrantengruppen – in ganz anderen Dimensionen bewegt. Im Vergleich zu deren dramatischen Bildungsdefiziten, die zudem noch in weitere soziale Benachteiligungen eingebettet sind, nehmen sich diejenigen der Jungen eher harmlos aus. Die Geschlechterproportionen an den weiterführenden Bildungseinrichtungen beleuchten nur einen Aspekt der geschlechtstypischen Chancengleichheit. Zu Recht hebt die Frauenforschung hervor, dass traditionelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei der Entscheidung für bestimmte Schul- und Studienfächer und insbesondere auch bei der Berufsausbildung weiterhin fortbestehen. Frauen tendieren nach wie vor dazu, sich auf "frauentypische" Studiengänge wie Erziehungs-, Sozial-, Sprach- und Kulturwissenschaften zu konzentrieren. Ihr Anteil an den Studienanfängern der Ingenieurwissenschaften machte 2011 gerade einmal 20 Prozent (West) bzw. 19 Prozent (Ost) aus und in Mathematik/Naturwissenschaften lediglich 34 bzw. 35 Prozent. In der Berufsausbildung stößt die Gleichstellung der Mädchen und Frauen auf größere Probleme als im Schul- und Hochschulbereich. Frauen sind in der Berufsausbildung an Vollzeitschulen zum Beispiel für Erzieherinnen, Kranken- und Altenpflegerinnen oder Physiotherapeutinnen stark überrepräsentiert. Obwohl diese Ausbildungen vergleichsweise lange dauern und teuer sind (keine durchgängige Ausbildungsvergütung, zum Teil hohe Schulgelder), lässt sie sich nicht in entsprechende Gehälter auf dem Arbeitsmarkt umsetzen. Ein Jahr nach Ausbildungsabschluss verdienen Frauen durchschnittlich 14 Prozent weniger als Männer. Nachteilig wirkt sich weiterhin aus, dass sich junge Frauen in wenigen Ausbildungsberufen zusammendrängen. 2011 waren in Deutschland 52 Prozent der weiblichen Auszubildenden auf die zehn häufigsten Berufe konzentriert, von den männlichen Auszubildenden waren es lediglich 36 Prozent. Frauen sind – wie schon vor 25 Jahren – hauptsächlich in Dienstleistungsberufen mit Tätigkeitsprofilen wie Pflegen, Helfen, Verkaufen, Assistieren, Betreuen zu finden und nur selten in der Produktion oder in technischen Berufen. Eine interessante Abweichung von dieser Struktur gibt es beim Kochen. Der Beruf des Kochs steht mit 32.300 Auszubildenden bei den Männern auf Rang 10. Unter den Frauen rangiert Köchin lediglich auf Platz 18, nur 6900 wollen diese "Hausfrauenpflicht" zu ihrem Beruf machen. Eventuell lassen sich die Frauen auch von den niedrigen Einkommen abschrecken, denn den Vollzeit arbeitenden Köchinnen werden nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes nur 2027 Euro pro Monat bezahlt, während Köche mit 3351 Euro das 1,7-Fache verdienen. Arbeitswelt "Erfolgreich in der Schule – diskriminiert im Beruf" – dieser plakative Titel eines Aufsatzes von Hannelore Faulstich-Wieland und anderen aus dem Jahr 1984 weist mit Nachdruck darauf hin, dass sich bessere Bildungschancen der Frauen nicht angemessen in bessere Berufschancen umsetzen lassen. Auch heute noch sind die Männerprivilegien in der Arbeitswelt erheblich widerstandsfähiger als im Bildungssystem. Frauen sind in den vergangenen Jahrzehnten in allen entwickelten Gesellschaften immer stärker in den Arbeitsmarkt vorgedrungen. Die Erwerbstätigkeit gehört inzwischen zum Lebensentwurf der modernen Frau. In den alten Bundesländern stieg die Erwerbsquote der Frauen im Alter von 15 bis 65 Jahren von 46 Prozent im Jahr 1970 auf 71 Prozent im Jahr 2012 an. In Ostdeutschland, wo die Berufstätigkeit aller Frauen zu DDR-Zeiten eine Selbstverständlichkeit (und Pflicht) war, liegt sie mit 76 Prozent weiterhin etwas höher. Trotz der Arbeitsmarktkrise hat sie den Stand von 1991 (77 Prozent) fast gehalten. Der Anstieg der Erwerbsquote ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass verheiratete Frauen und Mütter immer häufiger einer bezahlten Arbeit nachgehen bzw. nach der Familienphase (Kinderbetreuung) wieder in den Beruf zurückkehren. Mütter mit Kindern von über zwölf Jahren arbeiten heute genauso häufig wie kinderlose Frauen. Deutliche Unterschiede zwischen Ost und West bestehen in der Zahl der absolvierten Wochenstunden. Von den westdeutschen Müttern arbeitete 2010 jeweils ein knappes Viertel Vollzeit bzw. weniger als 15 Stunden pro Woche. Bei den ostdeutschen Müttern dagegen haben mehr als die Hälfte eine Vollzeitstelle, und nur 6 Prozent sind geringfügig beschäftigt. Und auch Teilzeitarbeit verrichten in den neuen Bundesländern viele lediglich der Not gehorchend, weil Vollzeitstellen nicht zur Verfügung stehen. Obwohl Frauen zunehmend in die bezahlten Arbeitsprozesse einbezogen werden, haben sich in der Arbeitswelt markante Ungleichheiten zu ihrem Nachteil erhalten. Zum einen existieren geschlechtsspezifisch geteilte Arbeitsmärkte, die für Frauen tendenziell schlechtere Arbeitsbedingungen, niedrigere Einkommen, ein niedrigeres Sozialprestige sowie höhere Armuts- und zum Teil auch Arbeitsplatzrisiken mit sich bringen. Zum anderen stoßen Frauen auf erhebliche Hindernisse beim Aufstieg in die höheren Etagen der Berufshierarchien. Diese Benachteiligung der Frauen in der Arbeitswelt soll im Folgenden durch einige ausgewählte Daten dokumentiert werden. Verdienste von Männern und Frauen (© Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 7., grundlegend überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2014, S. 384 (Datenquelle: Statistisches Bundesamt)) Der Einkommensabstand (bei Vollerwerbstätigkeit) zu den Männern hat sich zwar im letzten halben Jahrhundert langsam und kontinuierlich verringert, aber auch heute verdienen Männer noch erheblich mehr Geld. Westdeutsche Frauen erzielten 1990 als vollbeschäftigte Angestellte nur 65 Prozent und als Arbeiterinnen 73 Prozent der Bruttoverdienste ihrer männlichen Kollegen. In der DDR sah es für Frauen etwas besser aus; vollbeschäftigte Frauen kamen 1989 auf 76 Prozent der Männerverdienste. Der "Gender Pay Gap", wie die Einkommenslücke zwischen den Geschlechtern heute häufig genannt wird, hat sich in den zwei vergangenen Jahrzehnten in beiden Teilen Deutschlands weiter geschlossen. In Westdeutschland lag er 2011 bei 19 bzw. 20 Prozent, in den neuen Bundesländern ist er im produzierenden Gewerbe mit 16 Prozent etwas kleiner, und im Dienstleistungsbereich verdienen vollzeitbeschäftigte ostdeutsche Frauen hier inzwischen fast dasselbe wie Männer. Die Lohnungleichheit hat sehr vielfältige Ursachen. Am stärksten schlägt die "indirekte Benachteiligung" durch die Struktur der geschlechtstypischen Aufteilung des Arbeitsmarktes zu Buche. Teile der Differenz sind zurückzuführen auf weniger Überstunden, kürzere Wochenarbeitszeiten, längere Familienpausen, weniger übertarifliche Zulagen (z. B. für Schichtarbeit oder andere Arbeitserschwernisse), Beschäftigung in kleineren Betrieben mit weniger Aufstiegsmöglichkeiten, seltenere Forderungen der Frauen nach mehr Gehalt und stärkere Zurückhaltung beim Auftreten in Gehaltsverhandlungen; in Westdeutschland auch auf weniger Berufsjahre und kürzere Betriebszugehörigkeiten. Wichtig ist auch ein anderer Ursachenkomplex: Frauen sind häufiger in schlechter bezahlten Berufspositionen, Lohngruppen und Branchen tätig. Ab und zu offenbart der Gender Pay Gap skurrile Verwerfungen: So wird die Pflege von Tieren als "Männerberuf" besser bezahlt als die Pflege von Menschen – ein typischer "Frauenberuf". Auch unter den Selbstständigen ist der Frauenanteil in den drei vergangenen Jahrzehnten gestiegen – zwischen 1991 und 2011 in Westdeutschland von 25 auf 31 Prozent und in Ostdeutschland von 28 auf 33 Prozent. Zugenommen haben insbesondere die Kleinstbetriebe: 2008 arbeiteten zwei Drittel der Frauen ohne Mitarbeiterinnen, waren also Solo-Selbstständige. Die Situation der weiblichen Selbstständigen ist häufiger unsicher, instabil und von kurzer Dauer, unter den "Ich-AGs" sind Frauen überproportional vertreten. Der "Gender Income Gap" ist bei den Selbstständigen mit 35 Prozent deutlich größer als bei den Arbeitnehmerinnen. Frauen haben es erheblich schwerer als Männer, beruflich Karriere zu machen. Zwar rücken sie inzwischen zunehmend in die höheren Ebenen der Berufswelt vor, dennoch vollzieht sich beim Aufstieg in die leitenden Positionen eine deutliche Auslese nach Geschlecht. Es gilt weiterhin die Regel von der nach oben hin zunehmenden Männerdominanz: je höher die Ebene der beruflichen Hierarchie, umso kleiner der Anteil der Frauen und umso ausgeprägter die Dominanz der Männer. Die Chefetagen der Berufswelt sind inzwischen keine "frauenfreien Zonen" mehr; immer häufiger gelingt Frauen der Aufstieg bis in die Spitzenpositionen. Aber auch heute bilden sie dort nur kleine Minderheiten, wie die folgenden Beispiele aus verschiedenen Bereichen zeigen. Hochschulen Frauenanteile in der Hochschulhierarchie (© Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 7., grundlegend überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2014, S. 388) Das Schaubild zum Frauenanteil an den Hochschulen zeigt wichtige Veränderungen zugunsten der Frauen in den beiden letzten Jahrzehnten, macht aber zugleich auch das "Frauensterben" auf dem Weg nach oben drastisch sichtbar. Die deutsche Professorenschaft ist eine männerdominierte Gesellschaft geblieben. Von den Professuren war 2011 nur jede fünfte durch eine Frau besetzt, von denjenigen mit der besten Besoldung und Ausstattung, den C4-Professuren, ist es lediglich gut jede zehnte. Gesundheitswesen Auch in den Führungspositionen des "weiblichen Berufsfeldes" Gesundheitswesen dominieren die Männer. 2010 waren mehr als drei Viertel der Studienanfänger für den Arztberuf weiblich, aber die Führungspositionen des Gesundheitssektors – die Lehrstühle und Chefarztsessel – waren 2012 weiterhin zu über 90 Prozent von Männern besetzt. Medien In den einflussreichen Massenmedien wiederholt sich dieses Muster. In den Redaktionen des ZDF waren 1999 bereits 42 Prozent Frauen tätig. Die Spitzen der zwölf öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die zusammen die ARD bilden, waren allerdings bis 2002 "frauenfreie Zonen", alle Intendanten waren Männer. 2003 eroberte mit Dagmar Reim erstmals eine Frau eine Intendantenposition beim neu geschaffenen Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB). Von 2007 bis 2013 wurde auch der große Westdeutsche Rundfunk und seit 2011 der Mitteldeutsche Rundfunk von einer Frau geleitet – der WDR von Monika Piel, der MDR von Karola Wille. Wirtschaft Auch in den Chefetagen der größten Wirtschaftsunternehmen sind Frauen weiterhin Ausnahmeerscheinungen geblieben. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) waren Anfang 2010 von den Vorständen der größten 200 Unternehmen (ohne Finanzsektor) nur 2,5 Prozent weiblichen Geschlechts, lediglich ein Unternehmen wurde von einer Chefin geführt. In den Aufsichtsräten lag der Frauenanteil bei knapp 10 Prozent. Der Sprung in den Vorsitz eines Aufsichtsrates gelang lediglich zwei Frauen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch in der CDU die umstrittene Frauenquote kein Tabuthema mehr ist: Die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen schlug 2011 eine verbindliche Quote von 30 Prozent für Vorstände und Aufsichtsräte vor. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wurde 2013 vereinbart, dass Aufsichtsräte in voll mitbestimmungspflichtigen und börsennotierten Unternehmen, die ab 2016 neu besetzt werden, eine Frauenquote von mindestens 30 Prozent aufweisen müssen. Die Ursachen für die Schwierigkeiten der Frauen beim beruflichen Aufstieg sind vielschichtig. Das wichtigste Hindernis ist die traditionelle geschlechtstypische Rollenaufteilung in der Familie, die den Frauen die Hauptlast bei der Kindererziehung und privaten Haushaltsführung aufbürdet. Aber auch geschlechtstypische Sozialisationsprozesse sowie Vorurteile gegenüber Frauen in der Arbeitswelt spielen eine Rolle. So beklagten 74 Prozent der westdeutschen und 75 Prozent der ostdeutschen Frauen im Jahr 2010, dass sie mehr leisten müssten als Männer, um akzeptiert zu werden. Männer beobachten die aufstiegsmotivierte Frau offenbar häufig mit einem besonders kritischen Blick und zweifeln an ihrer Kompetenz, Belastbarkeit und Führungstätigkeit. Dazu kommen unter Umständen noch geschlechtstypische Vorbehalte nach dem Muster "Wenn der Chef mit der Faust auf den Tisch haut, ist er dynamisch; wenn die Chefin mit der Faust auf den Tisch haut, ist sie hysterisch." Da die wichtigen formellen und informellen Netzwerke in den höheren Bereichen der Berufswelt von Männern beherrscht werden und in der Regel Männer über den beruflichen Aufstieg von Frauen entscheiden, können die geschilderten Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Frauen reale Wirkung entfalten. Mehrere neue Studien belegen, dass die Vorbehalte gegenüber Frauen in Führungspositionen einer empirischen Untersuchung nicht standhalten. Dorothea Assig und Andrea Beck brachten diese Ergebnisse schon 1998 auf die Formel: "Sie bewältigt insgesamt die modernen Management-Anforderungen besser als er." Managerinnen sind demnach nicht nur kommunikativer und integrativer, teambewusster, ehrlicher und offener, sondern auch entscheidungsfreudiger, innovativer, die besseren Planer und wirtschaftlich erfolgreicher. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1996 über 22.000 französische Unternehmen hat gezeigt, dass von Frauen geleitete Betriebe doppelt so schnell wuchsen und doppelt so rentabel waren wie Unternehmen, die von Männern geführt wurden. In der neueren Forschung sind die skizzierten Thesen allerdings nicht unumstritten. Bei einer Befragung von Führungskräften der deutschen Wirtschaft im Jahr 2010 stimmte jedoch eine klare Mehrheit der Männer (West 75 Prozent, Ost 74 Prozent) und insbesondere der Frauen (West 86 Prozent, Ost 83 Prozent) der Einschätzung zu, dass die Beteiligung von Frauen im gehobenen Management den ökonomischen Erfolg eines Unternehmens erhöht. Politik Frauenanteile an Parteimitgliedern (© Datenquelle: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland. Version 2013, Berlin 2013, S. 16) Nach und nach fassen die Frauen auch im politischen Bereich Fuß. Dennoch sind die Folgen der jahrhundertelangen Ausgrenzung der Frauen von der Politik auch heute noch deutlich spürbar. So bekundeten 47 Prozent der westdeutschen Männer im Jahr 2010 sehr starkes oder starkes Interesse für Politik, aber nur 19 Prozent der Frauen (Hanf u. a. 2011). Entsprechend schlechter ist dann auch der politische Informationsstand der Frauen. In den Parteien sind die Frauen bis heute mehr oder weniger starke Minderheiten geblieben, ihr parteipolitisches Engagement haben sie seit 1997 kaum gesteigert. Ende 2012 stellten sie bei der CSU nur 19,5 Prozent der Mitglieder, bei der FDP 23 Prozent, bei der CDU 25,6 Prozent und bei der SPD 31,5 Prozent. Die höchsten Frauenanteile finden sich bei den Grünen (37,8 Prozent) und den Linken (37,7 Prozent). 2010 waren nur 2 Prozent (West) bzw. 1 Prozent (Ost) der Frauen Mitglieder einer politischen Partei im Vergleich zu 5 Prozent (West) bzw. 3 Prozent (Ost) der Männer. Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Parlamentarierinnen in den vergangenen drei Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen hat. Ihr Anteil an den Bundestagsabgeordneten stieg von knapp 9 Prozent im Jahr 1980 über 21 Prozent im Jahr 1990 auf 36 Prozent im 2013 gewählten 18. Deutschen Bundestag. Die Werbung der Parteien um die Gunst der Wählerinnen, aber auch die Quotendiskussion dürften diese Entwicklung begünstigt haben. Auch in politischen Spitzenämtern tauchen Frauen inzwischen häufiger auf. Seit Konrad Adenauer 1961 mit Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) die erste Frau in sein Kabinett holte, regierten bis 1987 auf Bundesebene stets ein bis zwei Frauen mit; sie waren allerdings stets für "frauentypische" Bereiche wie Gesundheit, Familie, Jugend oder später auch Bildung zuständig – bis auf Marie Schlei, von 1976 bis 1978 Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit. 1988 berief Helmut Kohl erstmals eine dritte Frau vorübergehend in seine Regierungsmannschaft, und 1992 eroberte mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erstmals eine Politikerin ein sogenanntes klassisches Ressort, das Justizministerium. In der Regierungszeit von Gerhard Schröder (1998-2005) wurden zunächst ein Drittel, später dann sechs von dreizehn Ministerien von Frauen geleitet, und auch von den 26 parlamentarischen Staatssekretären waren 2005 elf weiblichen Geschlechts. Im November 2005 gelang es schließlich Angela Merkel als erster Frau, ins Zentrum des Herrschaftssystems einzurücken und Bundeskanzlerin zu werden. Ihr Kabinett startete mit zehn Männern und fünf Frauen in die Amtszeit – ein Proporz, mit dem die Kanzlerin auch in ihrer zweiten Amtsperiode im Jahr 2013 regierte und seitdem in der Großen Koalition weiterhin regiert – unter anderem mit Ursula von der Leyen als erster deutscher Verteidigungsministerin. Auf Landesebene gelang es den Frauen leichter, in die bisherige Männerdomäne der Kabinette einzudringen. 1996 hatten sie immerhin 46 von 172 Regierungsämtern (27 Prozent) inne. Allerdings dauerte es bis 1993, ehe mit Heide Simonis (SPD) in Schleswig-Holstein die erste Frau zur Ministerpräsidentin (bis 2005) gewählt wurde. Und es gingen wieder über eineinhalb Jahrzehnte ins Land, ehe ihr in Thüringen Christine Lieberknecht (CDU; 2009-2014), In Nordrhein-Westfalen Hannelore Kraft (SPD; ab 2010), im Saarland Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU; ab 2011) sowie in Rheinland-Pfalz Marie Luise Dreyer (SPD; ab 2013) folgten. Die Frauenanteile in den Landesregierungen waren zudem nach 1996 leicht rückläufig: 2005 war nur noch ein Fünftel der Regierungsämter von Frauen besetzt. Auch zwei weitere der vier höchsten Staatsämter wurden bereits von Frauen erobert – das Bundestagspräsidium schon relativ früh von Annemarie Renger (SPD; 1972-1976) und später nochmals von Rita Süssmuth (CDU; 1988-1998) sowie das Präsidium des Bundesverfassungsgerichts von Jutta Limbach (SPD; 1994-2002). Lediglich das höchste Staatsamt wartet noch auf die Besetzung durch eine Bundespräsidentin. Im europäischen Vergleich sind die Chancen der deutschen Frauen, in einflussreiche politische Ämter aufzusteigen, gut. Im Jahr 2003 lag Deutschland beim Frauenanteil in den nationalen Regierungen und Parlamenten der 15 EU-Länder auf den Rängen 3 bzw. 6. Die Ursachen für die Probleme der Frauen, sich angemessen und erfolgreich in die Politik einzubringen, werden von Beate Hoecker (APuZ 24-25 / 2008) treffend skizziert: Die politischen Institutionen, informellen Strukturen und Karrieremuster sind männlich geprägt. Ihre Regeln entsprechen der typischen Lebenswirklichkeit der Männer und kollidieren mit derjenigen der Frauen. Aus ihren beruflichen Erfahrungen und Karrieren bringen Männer das Fachwissen und das Wissen über die Bedeutung sozialer Netzwerke ein. Für die "Ochsentour" zum Aufbau einer Hausmacht stehen ihnen – im Gegensatz zu vielen Frauen – die erforderliche Zeitsouveränität und Abkömmlichkeit zur Verfügung. Familie Die Schwierigkeiten bei der Gleichstellung der Frauen in Beruf und Politik hängen insbesondere mit ihrer Rolle in der Familie zusammen. In der bürgerlichen Gesellschaft waren dem Mann die bezahlte Erwerbsarbeit außer Haus sowie die öffentlichen Aktivitäten zugewiesen, der Frau oblagen die unbezahlten privaten Verpflichtungen bei der Haushaltsführung und der Kindererziehung. Übernimmt die Frau zusätzliche Verpflichtungen in Beruf oder Politik, muss man sie in der Familie entlasten, um sie nicht zu überlasten. Die eingefahrene traditionelle Rollentrennung zwischen Männern und Frauen in den Familien erweist sich jedoch als sehr zählebig. "An der traditionellen Zuweisung der Frauen zur Hausarbeit und Kindererziehung hat sich nur wenig geändert" (Huinink u. a. 2004). Obwohl Frauen immer häufiger einem Beruf nachgehen, nehmen ihnen die Männer nur zögerlich Teile der häuslichen Aufgaben ab. Am ehesten lassen sie sich noch dazu erwärmen, die Vaterrolle zu spielen und sich an der Betreuung der Kinder zu beteiligen. Der harte Kern der traditionellen Hausarbeiten – Waschen, Putzen und Kochen – wird jedoch weiterhin in den meisten Familien von den Frauen erledigt. Die Starrheit der herkömmlichen Arbeitsteilung in der Familie war und ist das Haupthindernis für die Gleichstellung der Frauen in Arbeitswelt und Politik. Dies lässt sich unter anderem an den folgenden Punkten konkretisieren: Viele Mütter mildern die Kollision von Familien- und Berufspflichten durch den vorübergehenden Ausstieg aus dem Beruf oder durch Teilzeitarbeit. Die Entscheidung für eine dieser Varianten ist gleichbedeutend mit mindestens vorübergehendem Verzicht auf beruflichen Aufstieg, in vielen Fällen bedeutet sie auch beruflichen Abstieg. Spitzenberufe sind meist "Anderthalb-Personen-Berufe". Sie sind auf einen helfenden Partner zugeschnitten, der dem Berufstätigen den Rücken freihält, damit dieser Zeit und Energien möglichst vollständig dem Beruf widmen kann. Die Rolle der Helfenden fällt nach dem traditionellen Rollenverständnis der Frau zu und bedeutet für sie Abstriche an ihren eigenen beruflichen Ambitionen. Weitere wichtige Voraussetzungen für Spitzenkarrieren sind der Einstieg im richtigen Alter und das ständige "Am-Ball-Bleiben". Frauen können diese Bedingung häufig nicht erfüllen, weil wichtige Fundamente für den beruflichen Aufstieg in einer Lebensphase gelegt werden, in der sie durch Kinder besonders stark in Anspruch genommen sind. Frauen sind eher bereit, Konflikte zwischen Beruf und Familie zugunsten der Kinder und des Partners zu lösen und Abstriche an ihren Karrierewünschen vorzunehmen. Auch junge und gut gebildete Paare, in deren Köpfen sich ein gleichberechtigtes, "egalitäres" Rollenverständnis entwickelt hat, geraten als Eltern in eine "Zeit- und Verfügbarkeitszwickmühle" und lösen das Dilemma meist unter Rückgriff auf das herkömmliche Rollenverhalten. So hat auch das 2007 eingeführte Elterngeld mit dem "Lockmittel" der Partnermonate die väterliche Zurückhaltung nur geringfügig aufgelockert. Es wird nicht nur 12, sondern 14 Monate lang bezahlt, wenn sich die Partner die Elternzeit teilen und eine/r von ihnen mindestens zwei Monate übernimmt. Bei den 2010 geborenen Kindern beteiligten sich 25 Prozent der Väter an der Elternzeit, aber drei Viertel davon nur während der beiden Partnermonate, lediglich 6 Prozent verzichteten ein ganzes Jahr lang auf einen Teil ihrer Berufstätigkeit. Welchen Verzicht im familiären Bereich Frauen leisten müssen, die auf beruflichen Aufstieg setzen, wird aus einer Studie deutlich, die das Sinus-Institut im Auftrag des Familienministeriums durchgeführt hat: Frauen in den Führungspositionen der westdeutschen Privatwirtschaft leben fast doppelt so häufig allein wie Männer (31 Prozent der Frauen, 16 Prozent der Männer), und 60 Prozent von ihnen sind kinderlos geblieben (Männer 25 Prozent). Ostdeutsche Frauen – Verliererinnen der Einheit? In der DDR gehörte die Gleichstellung der Frau von Beginn an zu den offiziellen Zielen der sozialistischen Gesellschaftspolitik. Diese "Emanzipation von oben" vollzog sich paternalistisch-autoritär: Sie wurde von Männern gesteuert und war dem öffentlichen Diskurs entzogen. Motiviert war sie ideologisch, politisch und ökonomisch: Ideologisch war die Gleichheit von Männern und Frauen ein Element der egalitären Utopie von der kommunistischen Gesellschaft. Politisch sollten die Frauen durch den Abbau von Nachteilen für das neue sozialistische System gewonnen werden. Und ökonomisch stellten sie ein dringend benötigtes Arbeitskräftepotenzial für die Wirtschaft dar. Empirische Daten belegen, dass diese Politik den Frauen in der DDR einen strukturellen Gleichstellungsvorsprung im Vergleich zu den westdeutschen Frauen einbrachte – im Bildungssystem, in der Arbeitswelt, in einigen politischen Sektoren und auch in der Familie, hier allerdings sehr abgeschwächt. Durch die Wiedervereinigung ist das modernere "realsozialistische" Arrangement der Geschlechter in gewisse Schwierigkeiten geraten. Teile des Gleichstellungsvorsprungs sind mit dem Verschwinden der Lenkungsmechanismen, dem Abbau frauenpolitischer Unterstützungsmaßnahmen und unter dem Einfluss der Arbeitsmarktkrise beim Umbau der Wirtschaftsordnung weggeschmolzen. Sind die ostdeutschen Frauen also die Verliererinnen der Einheit? Diese mitunter auftauchende plakative These wird den differenzierten Entwicklungen im Verhältnis der Geschlechter nicht gerecht und bedarf einiger Relativierungen. Die höhere und längere Arbeitslosigkeit der Frauen in den ersten Jahren der Vereinigung gehört seit einem Jahrzehnt der Vergangenheit an. Geblieben ist der Zwang zur meist ungewollten Teilzeitarbeit mit Folgen für das Privatleben: Bei einem Teil der Paare und in Familien wird das gewünschte "Doppelverdiener-Modell" zu einem "Eineinhalbverdiener-Modell" herabgestuft. Auf dem Negativkonto der Vereinigung lassen sich drei weitere Folgen verbuchen: Die Arbeitsmarktkrise und der Abbau der außerhäuslichen Kinderbetreuung haben zu einer gewissen "Retraditionalisierung" der häuslichen Arbeitsteilung geführt. So hat sich zum Beispiel der Zeitaufwand für Hausarbeiten zuungunsten der Frauen verschoben, egal ob diese ganztags, in Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig sind. Der Abbau der außerhäuslichen Kinderbetreuung, insbesondere der Kinderkrippen, erschwert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In Bedrängnis geraten sind die vielen alleinerziehenden Mütter. Sie gehören zu den "neuen" Problemgruppen in der Armutszone. Trotz aller Probleme hat der "doppelte weibliche Lebensentwurf" – die hohe Erwerbsorientierung, das Streben nach beruflichem Erfolg und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – nicht nur weiterhin Bestand, er hat sich eher noch verstärkt. Bei den Frauen und auch bei den Männern ist er fest verwurzelt. Im Osten ist die weibliche Erwerbsquote weiterhin höher als im Westen, und das "Doppelverdiener-Modell" wird erheblich häufiger gelebt. Gut qualifizierte Frauen in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und öffentliche Verwaltung können sich nach der Vereinigung im Arbeitsmarkt behaupten. In den wirtschaftlichen Führungspositionen haben sie ihre Anteile im letzten Jahrzehnt gesteigert und den deutlichen Vorsprung gegenüber ihren westdeutschen Kolleginnen nicht eingebüßt. So waren im Jahr 2012 nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zu den Unternehmen mit mindestens fünf Beschäftigten in Ostdeutschland 32 Prozent der Führungspositionen in Frauenhand – im Vergleich zu 22 Prozent in Westdeutschland –, und 16 Prozent der ostdeutschen Unternehmen werden von einer Frau geleitet – von den westdeutschen sind es nur 10 Prozent. Und im großen Dienstleistungssektor ist die Einkommenslücke zu den Männern, anders als in Westdeutschland, fast geschlossen worden. Es gibt also unter den ostdeutschen Frauen nicht nur Verliererinnen, sondern auch Gewinnerinnen. Dies wird auch in den Antworten zur sogenannten Gewinn-Verlust-Bewertung deutlich: 2010 sahen 38 Prozent der ostdeutschen Frauen "fast zwanzig Jahre deutsche Einheit" eher als Gewinn und 26 Prozent eher als Verlust an. Bei den Männern waren diese Proportionen allerdings mit 47 Prozent Gewinnern versus 23 Prozent Verlierern günstiger. Auch im politischen Bereich haben die ostdeutschen Frauen ihren Modernisierungsvorsprung gehalten: Sie sind politisch stärker interessiert und in wichtigen Institutionen besser vertreten. 2012 waren von den ostdeutschen Abgeordneten des Deutschen Bundestags 39 Prozent Frauen, von den westdeutschen waren es nur 31 Prozent. Es kommt offensichtlich nicht von ungefähr, dass die erste deutsche Bundeskanzlerin in der DDR aufgewachsen ist und die Ostdeutschen im dritten Kabinett Merkel mit zwei Frauen vertreten sind – Johanna Wanka (CDU) als Ministerin für Bildung und Forschung und Manuela Schwesig (SPD) als Familienministerin. In der Regel unterliegt die ostdeutsche Sozialstruktur einem massiven Anpassungsdruck an westdeutsche Verhältnisse. Bei der geschlechtstypischen Ungleichheit lassen sich jedoch umgekehrte Einflüsse von Ost nach West ausmachen: Rückständige Westverhältnisse passen sich moderneren Ostverhältnissen an. Hinter den öffentlichen Diskussionen um den Ausbau der Kinderbetreuungsstätten und Ganztagsschulen, um Pflegeurlaub, Elterngeld, Erziehungsurlaub bzw. Elternzeit mit Beschäftigungsgarantie, um die besondere Unterstützung studierender Mütter, die berufliche Frauenförderung oder die bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und häuslichen Pflichten stehen – meist unausgesprochen – auch Regelungen, Einstellungen und Selbstverständlichkeiten, die in der DDR bereits einmal in einem anderem politischen Kontext Realität waren. QuellentextVereinbarkeit von Karriere und Familie … … eine Illusion … Seit fünf Jahren treffen sich die Ärztin, die Unternehmensberaterin und die beiden Anwältinnen jeden Donnerstagnachmittag. Am Anfang waren sie zu viert, zusammen im Geburtsvorbereitungskurs, später zu acht, und mittlerweile sind sie elf und sprengen jedes Wohnzimmer. Zu den vier Kindergartenkindern haben sich drei kleine Geschwister gesellt, und vielleicht kommen noch mehr hinzu. Fragt man die Freundinnen nach den vergangenen fünf Jahren, sagen sie, dass es eine unglaubliche Zeit gewesen sei, intensiv, anstrengend, aber auch voller Glücksgefühle, die sie vorher nicht erahnt hätten. Nach ihren Jobs gefragt, werden die Freundinnen einsilbiger. Denn in dem Maße, wie ihre Familien wuchsen, sind ihre Karriereaussichten geschrumpft. Hätte man sie vor fünf Jahren gefragt, ob die Kinder etwas daran ändern würden, hätten die Freundinnen den Kopf geschüttelt. Sie hätten von Vorgesetzten erzählt, die sie dabei unterstützen wollen, trotz der Kinder aufzusteigen. Sie hätten ihre Ehemänner gelobt, die auch Elternzeit nehmen wollen. Zwei Freundinnen wollten ohnehin nach sechs Monaten wieder an den Schreibtisch zurückkehren – natürlich in Vollzeit. Es ist anders gekommen. Weil der Chef auf einmal nicht mehr so verständnisvoll war, als die Tochter den dritten Infekt in zwei Monaten hatte. Weil der Vater zwar sechs Monate Elternzeit genommen, aber noch nie eine Dienstreise wegen Scharlach abgesagt hat. Vor allem aber, weil auch die Freundinnen, die fest vorhatten, schnell wieder durchzustarten, sich nach der Geburt einfach nicht mehr vorstellen konnten, zehn Stunden am Tag von ihren Kindern getrennt zu sein. Jeden Tag erleben sie eine Binsenweisheit, die so banal ist, dass sie sich im Nachhinein wundern, warum sie es nicht haben kommen sehen: Wer Karriere machen will, muss viel arbeiten. Wer viel arbeitet, hat wenig Zeit für Kinder. […] Wie es ist, Kinder aufzuziehen, weiß erst, wer welche hat. Bei den meisten Frauen verschieben sich die Prioritäten. […] Die Freundinnen haben ihren Kindern bewusst den Vorzug gegeben. Aber sie würden sich wünschen, dass ihre Vorgesetzten den gleichen Blick auf das (Arbeits-)Leben haben wie die Eltern eines Kleinkindes: als eine Abfolge verschiedener Phasen, die nicht linear verlaufen müssen. Im Moment mögen die Kinder im Mittelpunkt stehen. Aber das kann morgen anders sein. Und dann möchten die Freundinnen noch eine Chance. Judith Lembke, "Vereinbarkeit ist eine Lüge", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. März 2014 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. … oder eine (hart erkämpfte) Möglichkeit? DIE ZEIT: […] Wie viel Zeit haben Sie in dieser Woche mit Ihren Kindern verbracht? B.H.: Viel weniger als mit Arbeit. Ich bringe meine Tochter morgens um acht Uhr in den Kindergarten, und abends sehe ich sie selten vor sieben, halb acht. N.V.: […] [Z]u Hause war ich diese Woche gar nicht. […] Das ist aber die Ausnahme. Normalerweise bin ich nur an drei Tagen in der Woche nicht zu Hause. J.F.: Ich arbeite 80 Prozent und versuche, die Kinder so gegen 16 Uhr aus der Kita und dem Hort abzuholen. Zweimal in der Woche arbeite ich länger, da unterstützen uns die Großeltern. P.K.: Ich arbeite Vollzeit, genau wie mein Mann. Wir sehen zu, dass einer von uns um 19 Uhr zu Hause ist. […] ZEIT: Dieses Lebensmodell, nicht nur Kinder haben zu wollen, sondern die Karriere in vollem Umfang noch dazu – wie akribisch haben Sie das geplant? N.V.: Ich glaube nicht, dass man das planen kann. Mir war immer klar, dass ich beides will, das schon. […] Aber solche Vorstellungen umzusetzen, das hat ja mit viel mehr Faktoren zu tun. Ganz entscheidend: Finde ich einen Mann, der meine Lebensplanung teilt? […] B.H.: Ich hatte lange Zeit keinen Mann, mit dem ich ein Kind hätte bekommen können. Ich […] habe einfach mit Vollgas Karriere gemacht. Dann traf ich meinen Mann. Wir haben erst mal die Zweisamkeit genossen, und dann kam das Kind. J.F.: […] Man geht in die Schule, macht ein Studium, erlernt einen Beruf, ist eine eigenständige Person. Und dann kriegt man ein Kind und soll plötzlich nichts anderes mehr machen, als sich darum zu kümmern? Das war für mich nie im Entferntesten eine Option! Dann habe ich in einer Kanzlei gearbeitet und war in meinem Büro irgendwann die einzige angestellte Anwältin mit Kindern. ZEIT: Wo waren die anderen? J.F.: Nicht mehr da. […] In einem solchen Umfeld haben Sie als junge Mutter keinen Ansprechpartner. […] Sie stehen überwiegend Männern gegenüber, die sich in Ihre Lage nicht hineinversetzen können […], weil bei ihnen im Hintergrund die Frau alles abdeckt, die Kinder, den Haushalt. Und dann denken diese Chefs, das Problem sei nur die Vereinbarkeit, und bieten Teilzeit an. ZEIT: Das ist es aber nicht? J.F.: Es geht doch auch um Inhalte! Wenn die Frauen nach dem Wiedereinstieg das Gefühl haben, man setzt sie einfach irgendwohin, obwohl sie schon einiges an Berufserfahrung haben, dann fühlen sie sich entwertet. Aber wenn sie merken, der Chef hat sich was überlegt, bietet ihnen trotz reduzierter Arbeitszeit Aufstiegschancen an, dann sind sie motiviert. […] P.K.: […] Extrem wichtig ist es, von Anfang an den Partner einzubeziehen. Denn in der Tat ist das, was wir hier machen, ohne Partner oder Netz und doppelten Boden kaum zu schaffen. ZEIT: Ihre Männer packen also mit an? B.H.: Mein Mann ist in der Regel unter der Woche unterwegs. Natürlich übernimmt er Aufgaben, wenn er da ist, aber das ist nicht planbar. Aber es geht auch so. […] N.V.: Bei uns ist mein Mann derjenige, der die Familienfäden zusammenhält. Er arbeitet genauso viel wie ich, ist aber etwas flexibler. Die Terminabsprache ist ein wichtiger Bestandteil unseres Sonntagabendgesprächs. Wer ist wann wo? P.K.: […] Mein Mann macht alles, was mit Küche, Einkaufen und Fußballverein zu tun hat. Ich koordiniere die Kinderbetreuung und die Schulsachen. Konflikte gibt es bei Themen, die außerhalb der Alltagsroutine liegen […]. […] DIE ZEIT: (W)ie gehen Sie mit der Frage um: Ist das überhaupt gut für mein Kind? B.H: […] Ich weiß, dass meine Tochter sich wünscht, dass ich manchmal mehr Zeit für sie hätte. Also versuche ich das zu kompensieren. Wenn wir zusammen sind, bin ich vielleicht intensiver Mutter als viele andere, die sehr viel mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen. […] P.K.: […] Wenn ein Vater die Entscheidung trifft, Vollzeit zu arbeiten, würde ihm niemand Egoismus unterstellen. Jeder würde sagen: "Der sorgt für die Familie." Ich wehre mich dagegen, dass das Arbeiten von Müttern allein der Selbstverwirklichung dient. Es trägt genauso zum Familieneinkommen bei, und ich kenne nicht wenige Fälle, in denen die Frauen die Hauptverdiener in der Familie sind. […] ZEIT: […] Was passiert, wenn in diesem komplizierten Gefüge, das Sie sich geschaffen haben, einer nicht mehr funktioniert - das Kind, die Kita, das Au-pair oder Sie selbst? […]. P.K.: Wir standen […] schon mal plötzlich ohne Kinderfrau da. Von einem Tag auf den anderen musste ich vier Wochen lang Homeoffice machen. Aber da zeigt sich die Flexibilität auf beiden Seiten: In meinem Job muss ich gelegentlich auch mal ein Wochenende durcharbeiten oder eine echte Abend- oder sogar Nachtschicht einlegen. Da biete ich Flexibilität. Aber ich fordere sie auch ein. Ein guter Arbeitgeber beharrt nicht auf starren Anwesenheiten. ZEIT: Beschweren sich die Kinder denn nie, dass Sie so wenig zu Hause sind? P.K.: Wir haben eine Vereinbarung, dass ich nicht mehr als zwei Abendtermine pro Woche habe. Wenn es mehr sind, beschweren sie sich. Dann gleiche ich das in der nächsten Woche wieder aus. N.V.: […] Ich darf nicht sagen: "Ich bin zum Abendessen da", und dann nicht kommen. […] Aber wenn ich sage: "Ich bin jetzt drei Tage nicht da, aber am Donnerstag komme ich zurück", dann können sie damit gut umgehen. […] B.H.: Ich versuche, zu den wichtigsten Veranstaltungen da zu sein. Zu Aufführungen im Kindergarten oder beim Vorspielen. Selbst wenn es um zwei Uhr nachmittags ist. Dann lasse ich alles stehen und liegen. ZEIT: Und das ist mit Ihrem Job vereinbar? B.H.: Das ist ja das Gute daran, wenn man Karriere macht: Die Freiheiten nehmen zu! Viele denken, wir rennen immer nur mit dem Köfferchen unterm Arm hierhin und dorthin und sind nur im Stress. Dabei wird es einfacher. Man muss sich nicht rechtfertigen, warum man mal kurz weg muss. […] ZEIT: Wären Ihre Jobs […] weg gewesen, wenn Sie eine […] lange Auszeit genommen hätten? P.K.: Ich wurde eingestellt, da war ich mit meinem ersten Kind schwanger. Ich habe meinem Chef damals versichert, dass ich vier Monate nach der Geburt wieder einsteigen würde. Das hat er mir geglaubt, und ich habe es auch gemacht. N.V.: Mir ist aber auch aufgefallen: Es gibt da durchaus einen Ost-West-Unterschied. Von all den Freundinnen, die mit mir in Leipzig studiert haben, blieb fast keine ein ganzes Jahr zu Hause. ZEIT: In den Diskussionen um den Spagat zwischen Beruf und Familie mehren sich die Stimmen, die von einer "Vereinbarkeitslüge" sprechen. Es jedem recht zu machen funktioniere einfach nicht. Einer leidet, zerbricht, geht unter. Warum haben Sie selbst so gar keine Zweifel an Ihrem Modell? N.V.: Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es wäre einfach. Es ist nicht einfach. Aber ich habe diese Wahl bewusst getroffen und bin damit zufrieden. Wenn ich nicht mehr zufrieden bin, muss ich etwas ändern. P.K.: Ich denke auch, dass es möglich ist. […] Der Partner sollte wissen: Ich erwarte, dass wir uns die Verantwortung für die Kinder teilen. Den Kindern sollte klar sein: Mama und Papa arbeiten, das bedeutet, dass ihr Verantwortung übernehmt, eure Schulsachen selber packt. Und natürlich Klarheit gegenüber dem Chef: Da muss man als Frau auch mal den Blinker setzen und die Lichthupe verwenden, damit überhaupt einer merkt, dass sie weiter vorankommen will. […] "Zu Hause war ich diese Woche gar nicht", Interview mit vier vollzeitberufstätigen Müttern, in: Die ZEIT Nr. 43 vom 16. Oktober 2014. Das Gespräch führten Margarete Moulin und Jeanette Otto Anteil der Schulabgängerinnen mit unterschiedlichen Schulabschlüssen (© Datenquelle: Statistisches Bundesamt) Frauenanteil unter Studierenden an Universitäten (© Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 7., grundlegend überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2014, S. 376) Verdienste von Männern und Frauen (© Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 7., grundlegend überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2014, S. 384 (Datenquelle: Statistisches Bundesamt)) Frauenanteile in der Hochschulhierarchie (© Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 7., grundlegend überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2014, S. 388) Frauenanteile an Parteimitgliedern (© Datenquelle: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland. Version 2013, Berlin 2013, S. 16) … eine Illusion … Seit fünf Jahren treffen sich die Ärztin, die Unternehmensberaterin und die beiden Anwältinnen jeden Donnerstagnachmittag. Am Anfang waren sie zu viert, zusammen im Geburtsvorbereitungskurs, später zu acht, und mittlerweile sind sie elf und sprengen jedes Wohnzimmer. Zu den vier Kindergartenkindern haben sich drei kleine Geschwister gesellt, und vielleicht kommen noch mehr hinzu. Fragt man die Freundinnen nach den vergangenen fünf Jahren, sagen sie, dass es eine unglaubliche Zeit gewesen sei, intensiv, anstrengend, aber auch voller Glücksgefühle, die sie vorher nicht erahnt hätten. Nach ihren Jobs gefragt, werden die Freundinnen einsilbiger. Denn in dem Maße, wie ihre Familien wuchsen, sind ihre Karriereaussichten geschrumpft. Hätte man sie vor fünf Jahren gefragt, ob die Kinder etwas daran ändern würden, hätten die Freundinnen den Kopf geschüttelt. Sie hätten von Vorgesetzten erzählt, die sie dabei unterstützen wollen, trotz der Kinder aufzusteigen. Sie hätten ihre Ehemänner gelobt, die auch Elternzeit nehmen wollen. Zwei Freundinnen wollten ohnehin nach sechs Monaten wieder an den Schreibtisch zurückkehren – natürlich in Vollzeit. Es ist anders gekommen. Weil der Chef auf einmal nicht mehr so verständnisvoll war, als die Tochter den dritten Infekt in zwei Monaten hatte. Weil der Vater zwar sechs Monate Elternzeit genommen, aber noch nie eine Dienstreise wegen Scharlach abgesagt hat. Vor allem aber, weil auch die Freundinnen, die fest vorhatten, schnell wieder durchzustarten, sich nach der Geburt einfach nicht mehr vorstellen konnten, zehn Stunden am Tag von ihren Kindern getrennt zu sein. Jeden Tag erleben sie eine Binsenweisheit, die so banal ist, dass sie sich im Nachhinein wundern, warum sie es nicht haben kommen sehen: Wer Karriere machen will, muss viel arbeiten. Wer viel arbeitet, hat wenig Zeit für Kinder. […] Wie es ist, Kinder aufzuziehen, weiß erst, wer welche hat. Bei den meisten Frauen verschieben sich die Prioritäten. […] Die Freundinnen haben ihren Kindern bewusst den Vorzug gegeben. Aber sie würden sich wünschen, dass ihre Vorgesetzten den gleichen Blick auf das (Arbeits-)Leben haben wie die Eltern eines Kleinkindes: als eine Abfolge verschiedener Phasen, die nicht linear verlaufen müssen. Im Moment mögen die Kinder im Mittelpunkt stehen. Aber das kann morgen anders sein. Und dann möchten die Freundinnen noch eine Chance. Judith Lembke, "Vereinbarkeit ist eine Lüge", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. März 2014 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. … oder eine (hart erkämpfte) Möglichkeit? DIE ZEIT: […] Wie viel Zeit haben Sie in dieser Woche mit Ihren Kindern verbracht? B.H.: Viel weniger als mit Arbeit. Ich bringe meine Tochter morgens um acht Uhr in den Kindergarten, und abends sehe ich sie selten vor sieben, halb acht. N.V.: […] [Z]u Hause war ich diese Woche gar nicht. […] Das ist aber die Ausnahme. Normalerweise bin ich nur an drei Tagen in der Woche nicht zu Hause. J.F.: Ich arbeite 80 Prozent und versuche, die Kinder so gegen 16 Uhr aus der Kita und dem Hort abzuholen. Zweimal in der Woche arbeite ich länger, da unterstützen uns die Großeltern. P.K.: Ich arbeite Vollzeit, genau wie mein Mann. Wir sehen zu, dass einer von uns um 19 Uhr zu Hause ist. […] ZEIT: Dieses Lebensmodell, nicht nur Kinder haben zu wollen, sondern die Karriere in vollem Umfang noch dazu – wie akribisch haben Sie das geplant? N.V.: Ich glaube nicht, dass man das planen kann. Mir war immer klar, dass ich beides will, das schon. […] Aber solche Vorstellungen umzusetzen, das hat ja mit viel mehr Faktoren zu tun. Ganz entscheidend: Finde ich einen Mann, der meine Lebensplanung teilt? […] B.H.: Ich hatte lange Zeit keinen Mann, mit dem ich ein Kind hätte bekommen können. Ich […] habe einfach mit Vollgas Karriere gemacht. Dann traf ich meinen Mann. Wir haben erst mal die Zweisamkeit genossen, und dann kam das Kind. J.F.: […] Man geht in die Schule, macht ein Studium, erlernt einen Beruf, ist eine eigenständige Person. Und dann kriegt man ein Kind und soll plötzlich nichts anderes mehr machen, als sich darum zu kümmern? Das war für mich nie im Entferntesten eine Option! Dann habe ich in einer Kanzlei gearbeitet und war in meinem Büro irgendwann die einzige angestellte Anwältin mit Kindern. ZEIT: Wo waren die anderen? J.F.: Nicht mehr da. […] In einem solchen Umfeld haben Sie als junge Mutter keinen Ansprechpartner. […] Sie stehen überwiegend Männern gegenüber, die sich in Ihre Lage nicht hineinversetzen können […], weil bei ihnen im Hintergrund die Frau alles abdeckt, die Kinder, den Haushalt. Und dann denken diese Chefs, das Problem sei nur die Vereinbarkeit, und bieten Teilzeit an. ZEIT: Das ist es aber nicht? J.F.: Es geht doch auch um Inhalte! Wenn die Frauen nach dem Wiedereinstieg das Gefühl haben, man setzt sie einfach irgendwohin, obwohl sie schon einiges an Berufserfahrung haben, dann fühlen sie sich entwertet. Aber wenn sie merken, der Chef hat sich was überlegt, bietet ihnen trotz reduzierter Arbeitszeit Aufstiegschancen an, dann sind sie motiviert. […] P.K.: […] Extrem wichtig ist es, von Anfang an den Partner einzubeziehen. Denn in der Tat ist das, was wir hier machen, ohne Partner oder Netz und doppelten Boden kaum zu schaffen. ZEIT: Ihre Männer packen also mit an? B.H.: Mein Mann ist in der Regel unter der Woche unterwegs. Natürlich übernimmt er Aufgaben, wenn er da ist, aber das ist nicht planbar. Aber es geht auch so. […] N.V.: Bei uns ist mein Mann derjenige, der die Familienfäden zusammenhält. Er arbeitet genauso viel wie ich, ist aber etwas flexibler. Die Terminabsprache ist ein wichtiger Bestandteil unseres Sonntagabendgesprächs. Wer ist wann wo? P.K.: […] Mein Mann macht alles, was mit Küche, Einkaufen und Fußballverein zu tun hat. Ich koordiniere die Kinderbetreuung und die Schulsachen. Konflikte gibt es bei Themen, die außerhalb der Alltagsroutine liegen […]. […] DIE ZEIT: (W)ie gehen Sie mit der Frage um: Ist das überhaupt gut für mein Kind? B.H: […] Ich weiß, dass meine Tochter sich wünscht, dass ich manchmal mehr Zeit für sie hätte. Also versuche ich das zu kompensieren. Wenn wir zusammen sind, bin ich vielleicht intensiver Mutter als viele andere, die sehr viel mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen. […] P.K.: […] Wenn ein Vater die Entscheidung trifft, Vollzeit zu arbeiten, würde ihm niemand Egoismus unterstellen. Jeder würde sagen: "Der sorgt für die Familie." Ich wehre mich dagegen, dass das Arbeiten von Müttern allein der Selbstverwirklichung dient. Es trägt genauso zum Familieneinkommen bei, und ich kenne nicht wenige Fälle, in denen die Frauen die Hauptverdiener in der Familie sind. […] ZEIT: […] Was passiert, wenn in diesem komplizierten Gefüge, das Sie sich geschaffen haben, einer nicht mehr funktioniert - das Kind, die Kita, das Au-pair oder Sie selbst? […]. P.K.: Wir standen […] schon mal plötzlich ohne Kinderfrau da. Von einem Tag auf den anderen musste ich vier Wochen lang Homeoffice machen. Aber da zeigt sich die Flexibilität auf beiden Seiten: In meinem Job muss ich gelegentlich auch mal ein Wochenende durcharbeiten oder eine echte Abend- oder sogar Nachtschicht einlegen. Da biete ich Flexibilität. Aber ich fordere sie auch ein. Ein guter Arbeitgeber beharrt nicht auf starren Anwesenheiten. ZEIT: Beschweren sich die Kinder denn nie, dass Sie so wenig zu Hause sind? P.K.: Wir haben eine Vereinbarung, dass ich nicht mehr als zwei Abendtermine pro Woche habe. Wenn es mehr sind, beschweren sie sich. Dann gleiche ich das in der nächsten Woche wieder aus. N.V.: […] Ich darf nicht sagen: "Ich bin zum Abendessen da", und dann nicht kommen. […] Aber wenn ich sage: "Ich bin jetzt drei Tage nicht da, aber am Donnerstag komme ich zurück", dann können sie damit gut umgehen. […] B.H.: Ich versuche, zu den wichtigsten Veranstaltungen da zu sein. Zu Aufführungen im Kindergarten oder beim Vorspielen. Selbst wenn es um zwei Uhr nachmittags ist. Dann lasse ich alles stehen und liegen. ZEIT: Und das ist mit Ihrem Job vereinbar? B.H.: Das ist ja das Gute daran, wenn man Karriere macht: Die Freiheiten nehmen zu! Viele denken, wir rennen immer nur mit dem Köfferchen unterm Arm hierhin und dorthin und sind nur im Stress. Dabei wird es einfacher. Man muss sich nicht rechtfertigen, warum man mal kurz weg muss. […] ZEIT: Wären Ihre Jobs […] weg gewesen, wenn Sie eine […] lange Auszeit genommen hätten? P.K.: Ich wurde eingestellt, da war ich mit meinem ersten Kind schwanger. Ich habe meinem Chef damals versichert, dass ich vier Monate nach der Geburt wieder einsteigen würde. Das hat er mir geglaubt, und ich habe es auch gemacht. N.V.: Mir ist aber auch aufgefallen: Es gibt da durchaus einen Ost-West-Unterschied. Von all den Freundinnen, die mit mir in Leipzig studiert haben, blieb fast keine ein ganzes Jahr zu Hause. ZEIT: In den Diskussionen um den Spagat zwischen Beruf und Familie mehren sich die Stimmen, die von einer "Vereinbarkeitslüge" sprechen. Es jedem recht zu machen funktioniere einfach nicht. Einer leidet, zerbricht, geht unter. Warum haben Sie selbst so gar keine Zweifel an Ihrem Modell? N.V.: Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es wäre einfach. Es ist nicht einfach. Aber ich habe diese Wahl bewusst getroffen und bin damit zufrieden. Wenn ich nicht mehr zufrieden bin, muss ich etwas ändern. P.K.: Ich denke auch, dass es möglich ist. […] Der Partner sollte wissen: Ich erwarte, dass wir uns die Verantwortung für die Kinder teilen. Den Kindern sollte klar sein: Mama und Papa arbeiten, das bedeutet, dass ihr Verantwortung übernehmt, eure Schulsachen selber packt. Und natürlich Klarheit gegenüber dem Chef: Da muss man als Frau auch mal den Blinker setzen und die Lichthupe verwenden, damit überhaupt einer merkt, dass sie weiter vorankommen will. […] "Zu Hause war ich diese Woche gar nicht", Interview mit vier vollzeitberufstätigen Müttern, in: Die ZEIT Nr. 43 vom 16. Oktober 2014. Das Gespräch führten Margarete Moulin und Jeanette Otto
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-07T00:00:00"
"2014-12-16T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/sozialer-wandel-in-deutschland-324/198038/ungleichheiten-zwischen-frauen-und-maennern/
Neben den schichtspezifischen Differenzierungen gehören die sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu den wesentlichen Merkmalen moderner Gesellschaften. Während die Benachteiligung der Frauen im Bildungssystem inzwischen verschwunden ist
[ "Gender", "Frau", "Mann", "Weiblich", "sexismus", "soziale Ungleichheit", "Diskriminierung", "Benachteiligung", "Vorurteil", "Deutschland" ]
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Wann ist man angekommen? | Deutschland Archiv | bpb.de
"Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat. Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hatten, und davon wollte keiner in der Stadt etwas hören". Christoph Hein, selbst Vertriebener aus Schlesien, hat in seinem Roman "Landnahme" die tiefen Konflikte innerhalb der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Bis zu 14 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge strömten in das verbliebene Deutschland, ohne Rückfahrkarte im Gepäck. Sie stammten aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen, aus Czernowitz, aus Siebenbürgen, aus der Gottschee. Mitnichten kamen jedoch Deutsche zu Deutschen, denn zu unterschiedlich waren kulturelle und mentale Prägungen. Bauern aus Galizien trafen auf urbane Württemberger, Prager Großbürger auf Oberfranken auf dem Land. Dialekte, Mentalitäten, Konfessionen und Sozialisationen – die Unterschiede konnten kaum größer sein. Fundamentale Änderungen der Gesellschaft "Wir können alles. Außer Hochdeutsch!“ lautet eine geniale Werbekampagne des Landes Baden-Württemberg. Mit dieser Aktion propagiert der Südwest-Staat eine spezifische Eigenart, selbstbewusst und lokalpatriotisch. Im Zeitalter von Globalisierung und Krisen sehnen sich viele nach dem Regionalen, dem Fassbaren, dem Vertrauten. Was aber macht baden-württembergische Identität aus? Daraus ergibt sich ebenfalls die Frage: Wann ist man angekommen, wann Badener oder Württemberger, aber für ganz Deutschland auch wann Westfale, Rheinländer, Niedersachse, Holsteiner, Sachse oder Franke? Gleichzeitig scheint ebenfalls die Frage berechtigt, ob einige vielleicht nie ankommen, weil sie immer fremd bleiben. Wussten die Marketing-Experten in Baden-Württemberg überhaupt von den fundamentalen Änderungen durch die Ankunft von Flüchtlingen und Vertriebenen? Nach 1945 konnten bis zu zwanzig Prozent aller Menschen, insgesamt fast zwei Millionen Vertriebene und Flüchtlinge, in Baden und Württemberg weder Schwäbisch noch Badisch, ja, viele können es bis heute nicht. Sie sprachen Egerländisch, Böhmisch, Schlesisch, Ostpreußisch oder die Idiome Siebenbürgens, des Banats, der Batschka oder das russlanddeutsche Schwäbisch. Doch ist ihr kulturelles und sprachliches Erbe integraler Teil der baden-württembergischen Identität geworden, ist Schwaben in seinem Bewusstsein böhmischer oder schlesischer geworden? Zweifel sind angebracht. An diesem Beispiel zeigt sich, wie schwierig "Integration" ist, und vor allem, ab wann sie als gelungen betrachtet werden kann. Vorsicht ist ebenfalls geboten, wenn zwar Begriffe wie "Eingliederung" oder "Integration" verwendet werden, man aber eigentlich als Wunschziel die Assimilation von Flüchtlingen und Vertriebenen vor Augen hat. Wahrnehmung der "Fremden" Die fremden Deutschen aus dem Osten wurden in den vier Besatzungszonen, vielfach als "Polacken", als "Zigeuner", als "Rucksackdeutsche" diffamiert. Willkommen waren sie nicht, vielmehr bestimmte Fremdheit ihren Alltag. Wenn Flüchtlinge zwangsweise ihre Heimat verlassen, tauchen historisch immer wiederkehrende Bilder auf, die uns seit den ältesten schriftlichen Überlieferungen im Alten Testament vertraut sind: Die Geschichte vom Eigenen und Fremden, von Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit, von Hilfsbereitschaft und Rassismus, von Integration, Assimilation oder dauerhaft empfundenem Exil. 2015 kamen eine Million Flüchtlinge nach Deutschland, eine neue Willkommenskultur brach sich vorübergehend Bahn. Deutschland handelte anders als viele europäische Nachbarn. Menschen auf der Flucht 2015 – diese Bilder rufen historische Erfahrungen von Millionen Deutschen wach. Mutig und nicht unumstritten wehte am Leipziger Rathaus 2015 ein Banner mit flüchtenden Frauen und Kindern in Danzig 1945 sowie im syrischen Kobane 2015, ohne weitere Kommentierung. Bewusst lud Oberbürgermeister Burkhard Jung damit zur Reflexion ein, um die Menschen durch das Prisma eigener nationaler Erfahrungen empathiefähiger für die Flüchtlinge unserer Tage zu sein. Die Stadt Leipzig dokumentierte damit, dass historische Erfahrungen einen Resonanzraum in der Gegenwart haben. Das unterstreicht auch der Initiator der Initiative Cap Anamur, der kürzlich verstorbene Rupert Neudeck. Er begründet seine eigene Fluchterfahrung 1945 aus Danzig für sein Engagement für Flüchtlinge unserer Tage: "Die Bilder von damals blieben in mir gespeichert, prägten mein weiteres Leben – und machten mir etwas sehr Wichtiges klar: Eigentlich haben die meisten Menschen einen Hintergrund, der mit Migration und Flucht zu tun hat. Und auch wer zu wissen meint, dass seine Familie schon immer da war, wo er jetzt lebt, sollte sich nicht so sicher fühlen. Es könnte durchaus sein, dass es ihn oder seine Nachkommen in Zukunft doch noch erwischt. Denn in uns allen steckt ein Flüchtling". Diese Beispiele zeigen, wie nachhaltig die Ankunft von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen war, denn sie haben Deutschland fundamental, ja revolutionär, verändert. Dennoch gewinnt man manchmal den Eindruck, als sei uns das immer noch nicht recht bewusst. Anders war es in London, als 2014 dort unter großer medialer Beachtung im Britischen Museum eine außergewöhnliche Ausstellung "Germany. Memories of a Nation" eröffnet wurde. Unter den wenigen Objekten, die dort die deutsche Geschichte von ihren Anfängen bis heute repräsentierten, wählte das Kuratorenteam unter Neil MacGregor ein Fluchtgefährt, einen Handwagen, mit dem eine deutsche Familie aus Pommern 1945 in den Westen geflüchtet war. Flucht als kollektive Erfahrung der Deutschen im 20. Jahrhundert: In London hatte man die Dimensionen des Fluchtgeschehens für die deutsche Gesellschaft nach 1945 längst erkannt und ihrer Bedeutung entsprechend exemplarisch an diesem zentralen Ort britischer Geschichte präsentiert. Deutschland – Flüchtlingsland Aufgrund jener kollektiven Erfahrungen ist Deutschland eigentlich ein Flüchtlingsland. Mehr noch, diese Bundesrepublik ist ohne Flüchtlinge nicht zu denken. Besorgte Pegida-Wutbürger ziehen auf die Straßen mit Transparenten wie "Bitte weiterflüchten", vielleicht nicht einmal ahnend, dass ihre Eltern oder Großeltern nach 1945 im besetzten Nachkriegsdeutschland selbst Zuflucht suchen mussten. Im November 2014 erinnerte der Nobelpreisträger Günter Grass in Hamburg an die Not am Ende des Zweiten Weltkrieges: Er forderte – in der ihm eigenen pointierten Zuspitzung – ähnlich den Nachkriegsjahren nichts weniger als Zwangseinquartierungen in den gepflegten Eigenheimen der Deutschen. Damit sollte Flüchtlingen unserer Tage ein Obdach gegeben werden. Siebzig Jahre später eine ungeheuerliche Zumutung für behagliche Wohlstandsmilieus durch einen intellektuellen Provokateur. Doch Grass erinnert zurecht an reale Lebenswelten im Deutschland jener Jahre, als Heimatlose, zu denen auch der gebürtige Danziger zählte, nach Kriegsende in dieses Land kamen, ohne die Möglichkeit ihrer Rückkehr. Von der konkreten Ankunftserfahrung geprägt, trat Günter Grass als früher Mahner gegen die eine gelungene Integration zelebrierende westdeutsche Politik auf, deren Leistungsstolz die tiefgreifenden Probleme der Vertriebenen kaschieren wollte. Hier sprach er, das ist unverkennbar, als persönlich Betroffener. "Während der ersten Nachkriegsjahre bestimmten Hunger und Kälte, die Not von Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgebombten den Alltag. In allen vier Besatzungszonen konnte der zunehmende Andrang von schließlich mehr als zwölf Millionen Deutschen, die aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien, dem Sudetenland geflüchtet waren oder ausgewiesen wurden, nur durch Zwangseinweisung in beschränkten Wohnraum reguliert werden. […] Mithin eine Leistung besonderer Art. Denn die Zwangseinweisung von Flüchtlingen und Vertriebenen mußte oft genug gegen den fremdenfeindlichen Widerstand seßhaft einheimischer Bevölkerung durchgesetzt werden; die Einsicht, daß alle Deutschen, nicht nur die Ausgebombten und nunmehr Heimatlosen, den Krieg verloren hatten, dämmerte nur zögerlich; so früh wurde hierzulande das bis heute virulente Verhalten gegenüber Ausländern im Umgang von Deutschen mit Deutschen eingeübt." Nicht willkommen Willkommen waren sie nicht, die Flüchtlinge. "Verschwinds, damisches Gesindel", entgegnete man im Chiemgau einem kleinen Flüchtlingsjungen aus Ostpreußen, manchmal ließ man die Hunde von der Kette. "Flüchtlingsschweine", "Mulattenzucht" und "Polacken" schimpfte man sie. Allein auf sich gestellt, waren sie auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. "Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge", sagte man nach dem Krieg im Emsland. Für einige Zeitgenossen erschien es, als drängten sie ein wie eine "biblische Plage", obwohl die Flüchtenden selbst keinen Einfluss auf das Geschehen hatten. Zwangseinquartierungen von Vertriebenen in die Häuser der Einheimischen, an die Günter Grass erinnert, gefährdeten mancherorts die soziale Ordnung. Maschinenpistolen der Besatzungsmächte mussten häufig unter Androhung von Gewalt die Aufnahme der Obdachlosen erzwingen. 1946 traf Grass seine Eltern und Schwester im Bergischen Land nach fast zwei Jahren Trennung wieder. Er erlebte persönlich die erzwungene Einquartierung bei einer eingesessenen Bauernfamilie und beschrieb diese Ankunftssituation in seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" so: "Vor mir standen Vertriebene, als einzelne zwar, doch unter Millionen von nur statistischem Wert. Ich umarmte Überlebende, die, wie es hieß, mit dem Schrecken davongekommen waren. Man existierte noch irgendwie, aber…. […] Die zuständige Behörde hatte die Eltern und die Schwester bei einem Bauern eingewiesen. Dieser Zwang war üblich, denn freiwillig wurden Flüchtlinge und Vertriebenen selten aufgenommen. Besonders dort, wo keine Schäden sichtbar waren, Haus, Stall und Scheune wie unbekümmert auf Erbrecht fußten, zudem keinem Bauernschädel ein Haar gekrümmt worden war, verweigerte man die Einsicht, den siegreich bejubelten Krieg gemeinsam mit den Geschädigten verloren zu haben. Nur weil von der Behörde gezwungen, hatte der Besitzer des Hofes meinen Eltern den zweigeteilten Raum mit Betonfußboden überlassen: eine ehemalige Futterküche für Schweinemast. Beschwerden halfen nichts. "Geht doch hin, wo ihr hergekommen seid!" hieß die Antwort des seiner Hektar sicheren Bauern, der so katholisch war wie jener, dem ich im Frühjahr des vergangenen Jahres davongelaufen war. Allerorts hatte man sich schon immer mißtrauisch bis feindselig gegenüber Fremden verhalten und – wie es hieß – Hergelaufenen verhalten; dabei sollte es bleiben." Hier wagt Grass Zusammenhänge herzustellen, die für die großen Nachkriegsnarrative von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, aber auch von Verdrängung und Verantwortung, schwere Kost waren. Die ihren Opferstatus herausstellenden Vertriebenenverbände hingen am Subventionstropf der von Einheimischen geprägten Landes- und Bundesregierungen und stimmten frühzeitig in den westdeutschen Hurrapatriotismus der "gelungenen Integration" ein. Grass sah diesen Integrationsprozess von Anfang an kritischer, sah die mentalen Verletzungen, das Heimweh insbesondere der Alten. Diskriminierung, Ausgrenzung und Feindschaft gegenüber den deutschen Vertriebenen innerhalb der deutschen Gesellschaft thematisierte er bereits frühzeitig. Traumatische Ankunftserfahrungen Zahlreiche Belege für die teilweise traumatischen Ankunftserfahrungen im Westen bietet die deutsche Nachkriegsliteratur. Sie ist ein verlässlicher Seismograf für die Erfahrungen von Heimatverlust und Exil. Neben vielen anderen Autoren sind es Christoph Hein, Günter Grass, Siegfried Lenz und auch Christa Wolf, die dieses Schicksal selbst teilten. Viele Heimatlose konnten ihren Verlust nicht verkraften und zerbrachen regelrecht daran. Heimweh als Todesursache, davon erzählt Christa Wolf in ihrem 1976 erschienenen Buch "Kindheitsmuster": "Für die Alten – für die, die seit Jahren vom Tod gebrabbelt hatten, um den Widerspruch der Jüngeren zu hören – wurde es Zeit, zu schweigen; denn was jetzt vor sich ging, das war ihr Tod, sie wußten es gleich, sie alterten in Wochen um Jahre, starben dann, nicht schön der Reihe nach und aus den verschiedensten Gründen, sondern alle auf einmal und aus ein und demselben Grund, mochte man ihn Typhus nennen oder Hunger oder ganz einfach Heimweh, was ein überaus triftiger Vorwand ist, um daran zu sterben." Oft wurde von der gelungenen Integration gesprochen, das war jedoch oft eine Reduzierung auf die materiellen Folgen der Vertreibung. Andere Dimensionen übersah man dabei häufig gern, sie passten nicht ins Bild der zupackenden Bundesrepublik. Insbesondere alten Menschen fehlte vielfach die Kraft zu einem Neuanfang. Auf den Friedhöfen in Deutschland künden Grabinschriften von dieser Sehnsucht der Flüchtlinge: die Heimatorte der Verstorbenen – Stettin, Waldenburg, Allenstein, Flatow, Glatz, Eger – unterstreichen in Stein gemeißelt ihre irdische Heimatlosigkeit. Deutschland und seine Vertriebenen: Nach 1945 war ihre Anwesenheit die ungeliebte Mahnung an den gemeinsam verlorenen Krieg, den man am liebsten verdrängen und vergessen wollte. Allein auf sich gestellt, waren die Vertriebenen auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. Katharina Elliger berichtet über ihre Ankunft in Westfalen: "Am Morgen darauf machte ich mich mit meiner Mutter auf den Weg, um ausfindig zu machen, wo wir einquartiert werden sollten. […] Schließlich baten wir einen Mann, der auf dem Feld arbeitete, um Auskunft. Er machte nur eine unbestimmte Geste und fragte: ‚Wo kommt ihr denn wech?‘ Ich fand seine Aussprache lustig. Auf meine Antwort: ‚Aus Schlesien‘ schüttelte er den Kopf: ‚Kalte Heimat, watt? Polacken! Kieschitzki und Co!‘ Wir waren entsetzt. Mit einem Schlag war uns klar, wofür man uns hielt: dahergelaufenes Pack mit zweifelhafter Herkunft." Frontal trafen zwei Welten aufeinander: Habenichtse und Besitzende. Die Vertriebenen kamen überwiegend auf dem Land in eine feindliche Welt einheimischer Besitzstände. Im nordhessischen Oberlistingen sagte ein einheimischer Bauer im Jahr 1950, überfordert mit dem, was seine vertriebenen Landsleute erlebt und erlitten hatten: "Die Heimatvertriebenen können uns nicht immer auf der Pelle sitzen. Sie wollen nun schon Schweine und Hühner halten. Wir sollen ihr Viehzeug mit in unsere Ställe sperren. […] Wir sind nicht schuld, daß sie ihre Heimat verlassen mußten. Sie sprechen zwar immer davon, daß wir gemeinsam den Krieg verloren hätten; aber man kann doch nicht so einfach alles teilen wollen." Materielle Hilfen Dass es mit Soforthilfegesetz und Lastenausgleichsgesetzgebung materielle Möglichkeiten für einen Neuanfang gab, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere in der Bundesrepublik eine wirkliche Entschädigung nie erfolgt ist, auch gar nicht erfolgen konnte. Im Nachgang darf man die geleistete Hilfe nicht verklären, denn es hat handfeste Verteilungskämpfe und Interessenkonflikte gegeben. Deutlich kritisierte Günter Grass die in seinen Augen ungerechte Verteilung der Kriegsfolgen. Insbesondere Verarmung und soziale Ungerechtigkeiten des Lastenausgleichs offenbarten, dass die Flüchtlinge aus dem Osten die Hauptlast für die deutsche Schuld bezahlt hätten. Eine wahre solidarische Umverteilung sei unterblieben, das westdeutsche Eigentum unangetastet geblieben. "Nachdem die letzten Illusionen zu schwinden beginnen und deutlich wird, daß die verlorenen Ostprovinzen – Schlesien, Pommern und Ostpreußen – weder durch bloßes Wünschen noch durch die demagogische Formel ‚friedliche Rückgewinnung’ zurückgewonnen werden können, zeichnet sich ab, wie einseitig die Hauptlast des verlorenen Krieges den ehemaligen Flüchtlingen aufgebürdet worden ist: Während sie ihre Heimat verloren, klammerte sich der westdeutsche Besitzstand an Grund und Boden, kam es nicht zum Lastenausgleich." Und dennoch: Auf revolutionäre Weise hat sich Deutschland nach 1945 durch die Ankunft der Flüchtlinge verändert; alles schien aus den Fugen geraten. Die bloße Anwesenheit der Flüchtlinge stellte gewachsene Hierarchien und Traditionen in Frage. Kurzum: Flüchtlinge waren Motoren einer ungeahnten Modernisierung, sie brachen verkrustete Strukturen auf und trugen maßgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands bei. Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit war für Millio¬nen Deutsche eine Grunderfahrung, was nicht ohne Auswirkungen auf die Gesellschaft bleiben konnte. Auch die Einheimischen standen vor gewaltigen Herausforderungen. Zwei völlig unterschiedliche Erfahrungswelten trafen aufeinander, die häufig einem "cultural clash" gleichkamen. Der große Unterschied liegt auf der Hand: Wer sich seiner Heimat stets sicher sein konnte, brauchte sich nie Fragen nach Identität zu stellen. Wer sie verloren hatte, musste sie das ständig tun. Erzwungener Heimatverlust bringt jedoch die Gewissheit vom geschützten Raum, vom Elternhaus, vom Dialekt der Kindheit, den Gerüchen der Küche, diese von frühester Kindheit geprägte Gewissheit von Zugehörigkeit durcheinander. Für Millionen Deutsche war das eine konkrete persönliche Erfahrung. Verdrängte Erinnerung Die Trauer um die verlorene Heimat, die Verletzungen durch die Ankunftserfahrungen – sie fanden hinter verschlossenen Türen statt, privatisiert in den Familien. Und die Geschichten begleiten die Familienangehörigen bis heute. Nachgeborene Kinder von Vertriebenen werden häufig erst durch den Tod der Eltern noch einmal mit den Traumatisierungen in der Familiengeschichte konfrontiert. Solche Geschichten sind in Deutschland millionenfach zu erzählen und wirken weiter nach. Doch wurden sie – wenn überhaupt – in den Familien weitergegeben, der Welt der Einheimischen blieben sie oft verborgen. Die innere, die mentale Kluft zwischen Deutschen, die ihre Heimat verloren haben und denen, die sie nicht verloren haben, existiert nach wie vor – so der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, obwohl äußerlich kein Unterschied mehr feststellbar ist. In vielen Millionen deutscher Wohnzimmer wurde getrauert um den Verlust der Heimat. Daher verlaufen die unterschiedlichen Erzählungen auch nicht entlang politischer Linien, sondern, ob die Heimat der Familie im Böhmerwald, Riesengebirge oder Siebenbürgen war oder im Westerwald, Lüneburger Heide oder Schwarzwald. Lange Zeit begnügte man sich in der Darstellung der Ankunft der Vertriebenen im verbliebenen Teil Deutschlands mit der Erzählung der Erfolgsgeschichten, die allein die materiell messbare Integration unterstreichen sollten. Sind die Flüchtlinge und Vertriebenen als neue Hessen oder Rheinland-Pfälzer Teil einer neuen Landesidentität geworden? Das wäre ein Zeichen von gelungener Integration. Nicht nur die Angekommenen mussten sich an die neuen Gegebenheiten anpassen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaften veränderten sich. Doch hinterließen diese Veränderungen kaum Spuren im kollektiven Bewusstsein. Noch heute lohnt exemplarisch ein Blick in Ortschroniken und Regionalgeschichten. Wenn überhaupt, kommt die Ankunft der Vertriebenen – die häufig bis zwanzig bis fünfzig Prozent der örtlichen Bevölkerung nach Kriegsende ausmachen konnten – in wenigen Sätzen vor, dann wird die Dorfgeschichte weitererzählt, als habe die Ankunft der Schlesier, Ostpreußen oder Donauschwaben gar nichts in der lokalen Gemeinschaft verändert. Viele Vertriebene empfanden ihren Aufenthalt viele Jahrzehnte deshalb nur als Geduldetsein, deshalb wählten viele die innere Emigration. Flüchtlinge, die heute vor Unmenschlichkeit, Terror und Kriegen fliehen, rufen bei vielen Deutschen historische Bilder wach. Dieses Land hat trotz der beschriebenen Schwierigkeiten mit der Integration von Millionen Vertriebener eine ungeheure kulturelle und soziale Herausforderung gestemmt, als manche ein Scheitern oder gar ein schwelendes revolutionäres Pulverfass voraussagten. Dass es dennoch auf der physischen und finanziellen Ebene gelungen ist, erleichtert vielleicht heute Mitgefühl und Solidarität, unaufgeregt und souverän. Gleichzeitig lohnt einmal mehr ein neuer Blick auf eigene Familienbiografien. Das "Bitte weiterflüchten" der Dresdener Transparente hingegen offenbart einen Zynismus, der diese elementaren historischen Erfahrungen ausblendet. Millionen Biografien in Deutschland sind in ihrem Kern von einem Flüchtlingsschicksal geprägt. Vertreibung, Heimatlust und unerwünschte Ankunft haben als millionenfache Erfahrung in der deutschen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen und das Flüchtlingsschicksal damit in der mentalen Verfassung der deutschen Gesellschaft eingeschrieben. Die beschriebenen Schwierigkeiten auf der emotionalen Ebene aber sollten gleichzeitig das Bewusstsein für die enormen Herausforderungen einer wirklichen und gelungenen Integration schärfen. Zitierweise: Andreas Kossert, Wann ist man angekommen? Flüchtlinge und Vertriebene im Nachkriegsdeutschland, in: Deutschland Archiv, 30.11.2016, Link: www.bpb.de/238108 Christoph Hein, Landnahme, Frankfurt/Main 2005, S. 35. Fotobanner am Rathaus Leipzig thematisiert Flucht und Vertreibung, in: Leipziger Volkszeitung, 8.10.2015, Externer Link: www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Fotobanner-am-Rathaus-Leipzig-thematisiert-Flucht-und-Vertreibung, letzter Zugriff am 3.11.2016. Rupert Neudeck, In uns allen steckt ein Flüchtling. Ein Vermächtnis, München 2016, S. 7–8. In einer leicht veränderten Form wurde die Ausstellung unter dem Titel "Der Britische Blick: Deutschland – Erinnerungen einer Nation" vom 8. Oktober 2016 bis 9. Januar 2017 im Berliner Gropius Bau gezeigt. Vgl. dazu die deutsche Übersetzung des Essaybandes von Neil MacGregor, Deutschland. Erinnerungen einer Nation, München 2015. Vgl. auch: Andreas Kossert, Böhmen, Pommern, Syrien, in: DIE ZEIT Nr. 5, 29.1.2015. Grass fordert private Unterbringung von Flüchtlingen, in: ZEIT Online, 27. November 2014, Externer Link: www.zeit.de/gesellschaft/2014-11/guenter-grass-fluechtlinge-asylrecht-unterbringung, letzter Zugriff am 3.11.2016. Günter Grass, Essays und Reden Bd. 4. Werkausgabe, Göttingen 2008, S. 201f. Siehe dazu etwa die Erinnerungen von Olaf Ihlau, Der Bollerwagen, München 2014. Ihlau wählt für seine Autobiografie insgesamt den Bollerwagen als Begleiter durch sein Leben, vom ostpreußischen Königsberg bis schließlich auf seiner Finca auf Ibiza. Interview mit Manfred Meißner, in: Andreas Eiynck (Hg.), Alte Heimat – Neue Heimat. Flüchtlinge und Vertriebene im Raum Lingen nach 1945, Lingen 1997, S. 495. Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006, S. 272–273. Christa Wolf, Kindheitsmuster, München 2002, S. 412. Katharina Elliger, Und tief in der Seele das Ferne. Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien. Reinbek 2006, S. 182f. Wolfgang Schröder, Oberlistingen, Kreis Wolfhagen, und seine bäuerlichen Heimatvertriebenen, in: Eugen Lemberg und Lothar Krecker (Hg.), Die Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen, Marburg 1950, S. 44–54, hier S. 49. Günter Grass, Essays und Reden Bd. 2, 1970–1979. Werkausgabe. Göttingen 2001, S. 96f. Karl Schlögel, Topographie des Verlustes. Europäische und brandenburgische Erfahrungen, in: Christoph Kleßmann, Burghard Ciesla und Hans-Hermann Hertle (Hg.), Vertreibung, Neuanfang, Integration, Potsdam 2001, S. 11–35, hier S. 14.
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Andreas Kossert
"2022-02-14T00:00:00"
"2016-11-28T00:00:00"
"2022-02-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/238108/wann-ist-man-angekommen/
Flüchtlinge, die heute vor Unmenschlichkeit, Terror und Kriegen fliehen, rufen bei vielen Deutschen historische Bilder wach. Millionen Biografien in Deutschland sind in ihrem Kern von einem Flüchtlingsschicksal geprägt. Andreas Kossert über Schwierig
[ "Migration", "Flucht. Flüchtlinge", "Geflüchtete" ]
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Die Wahrheit soll leben – das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto | Geheimsache Ghettofilm | bpb.de
Im November 1941 gründeten der jüdische Historiker Emanuel Ringelblum und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter das Untergrundarchiv "Oneg Schabbat" – "Freude am Sabbat". Sie dokumentierten für die Nachwelt minutiös das Leben im Warschauer Ghetto, ebenso die Tage vor ihrer eigenen Ermordung. Der Historiker Samuel D. Kassow schildert in seinem international anerkannten Buch "Ringelblums Vermächtnis" die Entstehung des geheimen Archivs, er erzählt die Lebensgeschichten der Macher und Macherinnen. Teile des Archivs konnten gerettet werden: Das überlieferte Material bietet bis heute wichtige Einblicke in das Leben im Ghetto. Auch Yael Hersonski lässt in ihrem Film "Geheimsache Ghettofilm" Berichte aus dem Untergrundarchiv einfließen, um den propagandistischen Filmaufnahmen der deutschen Besatzer im Warschauer Ghetto im Mai 1942 das wirkliche Leben entgegenzusetzen. Im Gespräch mit bpb.de bewertet Samuel Kassow das Archiv als kulturellen Widerstand. Herr Kassow, Sie sind der erste, der die Geschichte des Ringelblum-Archivs so intensiv erforscht und aufgeschrieben hat. Warum hat es fast 60 Jahre gedauert, nachdem die ersten Teile des Archivs 1946 gefunden wurden, dass solch eine wichtige Arbeit entstanden ist? Ich bin nicht wirklich der erste. Die polnische Historikerin Ruta Sakowska hat ebenfalls zum Ringelblum-Archiv geforscht. Doch ihre Arbeiten dazu wurden nicht aus dem Polnischen übersetzt. Auch unterscheiden sich unsere Herangehensweisen, sodass die Frage berechtigt bleibt: Wieso hat es so lange gedauert? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen die physische Vernichtung der polnischen Juden. Ebenso das Auslöschen ihrer komplexen Kultur, eine wichtige Basis für den Aufbau des Ringelblum-Archivs. Dieser Verlust ließ das wissenschaftliche Interesse am polnischen Judentum schwinden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war es einfacher, die getöteten Juden als Kollektiv zu begreifen, als gesichtslose Opfer. Anstatt tatsächlich zu erforschen, wie diese Menschen gelebt hatten, welche Hoffnungen sie hatten, wie sie im Alltag auf die deutsche Besatzung reagiert hatten. Mehr Das Ringelblum-Archiv Wer waren die Mitstreiterinnen und Mitstreiter von Emanuel Ringelblum? Wie kann man sich ein Untergrundarchiv vorstellen? Interner Link: "Das Ringelblum-Archiv" liefert weitere Informationen zum geheimen Archiv im Warschauer Ghetto. Zum anderen gestaltet sich wissenschaftliche Forschung sehr viel einfacher, wenn man auf ordentliche Dokumente zurückgreifen kann. Diese gibt es vor allem von den Tätern, nicht von den Opfern. Die Erforschung der Tätergeschichte ist deshalb sehr viel umfangreicher. Dass die Forschung über die Opfer weniger umfangreich ist, ergibt sich aus der Zwangsläufigkeit, dass ihre Dokumente ungeordnet sind. Das gilt auch für das Ringelblum-Archiv: Es war ein "work-in-progress", eine fortlaufende Arbeit unter großen emotionalen Strapazen. Wenn sie sich die Dokumente anschauen, dann schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen, so uneinheitlich ist die Sammlung. Außerdem ist es schwierig, einen persönlichen Zugang zum Ringelblum-Archiv selbst zu finden. Ich habe lange Zeit gebraucht, um herauszufinden, wie ich solch ein Buch gestalten möchte, um wirklich die Idee des Archivs herauszuarbeiten. Und um seine Geschichte mit der Kultur des polnischen Judentums vor dem Zweiten Weltkrieg zu verknüpfen. Die Aufarbeitung des Untergrundarchivs war auch eine ganz praktische Herausforderung. Die Mitglieder des Oneg Schabbat fertigten von jedem Dokument drei Kopien an. Doch ihnen blieb keine Zeit, diese zu indexieren. Sie vergruben die Dokumente wenige Tage nachdem die SS damit begonnen hatte, das Ghetto aufzulösen und jeden zu verhaften. Als der erste Teil des Archivs im August 1942 vergraben wurde, standen die Mitglieder des Oneg Schabbat unter großem emotionalem Stress und sie waren ganz einfach in Lebensgefahr. Sie steckten das Material unsortiert in verschiedene Behälter. Es gab keine systematische Klassifikation der Dokumente und Kopien als der erste Teil des Archivs vergraben wurde. Außerdem erlitten manche Dokumente Wasserschäden und waren später nicht mehr lesbar. In den Jahren 1946 und 1950 wurden Teile des geheimen Archivs gefunden. Insgesamt konnten 30.000 Blatt des Archivmaterials gerettet werden. Danach, wie auf dem Foto zu sehen, wurden die zahlreichen Dokumente gesichtet, ausgewertet und katalogisiert. (© Yad Vashem, 8839/1) Nach dem Fund des Archivs ging es darum, tausende und tausende Dokumente durchzuarbeiten, um Duplikate zu finden, die in verschiedenen Behältern waren und diese zusammenzuführen. Es war wie ein Puzzlespiel. Die Dokumente blieben in Warschau, Kopien gingen nach Jerusalem und Washington. Das Archiv wurde erstmals in Polen in den Jahren 1946 und 1950 katalogisiert. Vor wenigen Jahren hat das US Holocaust Memorial Museum gemeinsam mit der Indiana University Press einen modernen und aktuellen Katalog herausgegeben mit über 500 Seiten. Reden wir über Emanuel Ringelblum selbst. Er war Historiker, Schullehrer und Aktivist. Er war Ehemann und Vater. Sein Interesse galt der säkularen jüdischen Kultur und zugleich war er ein polnischer Patriot. Wie sehen Sie Emanuel Ringelblum? Er war das Produkt jener Generation polnischer Juden, geboren um das Jahr 1900, die im Laufe des Ersten Weltkriegs heranwuchsen. Anschließend fanden sie sich als Erwachsene in der polnischen Republik wieder. Dort waren Juden in der Theorie gleichberechtigte Bürger, in der Praxis aber waren sie Bürger zweiter Klasse bis hin zu Ausgestoßenen. Damit schlug die polnische Mehrheit einer gesamten Generation von Juden die Tür vor der Nase zu. Diese junge Generation polnischer Juden suchte deshalb eine Art emotionaler Kompensation in Ideologien, in Jugendbewegungen, in Gemeindearbeit. Viele jüdische Jugendliche gingen in politische Parteien. Auch wenn diese Parteien keine wirkliche Macht hatten, waren sie stark ideologisch geprägt – sie brauchten keine Kompromisse einzugehen. Die Parteien wurden für viele quasi zu Ersatzfamilien. Auch für Ringelblum, er lernte seine Frau bei der politischen Arbeit kennen. Die Ironie hierbei ist, dass obwohl die polnische Mehrheit die Juden zurückwies, diese trotzdem eine Art imaginärer Zuflucht in der polnischen Kultur und Literatur fanden. Sie waren in Polen erzogen worden, sie kannten die polnische Kultur. Sie nahmen die Polen selbst zum Großteil als antisemitisch wahr, aber zugleich bot ihnen die polnische Kultur eine große Inspiration. So zum Beispiel die Poeten Adam Mickiewicz oder Julius Słowacki – im Grunde die gesamte Romantik. Dort fanden sie den Traum von Freiheit und Toleranz. Je mehr die polnische Nation selbst antisemitisch wurde, desto mehr bot die polnische Kultur den jungen polnischen Juden Trost. Emanuel Ringelblum und seine Gefährten riskierten ihre Leben, um das Untergrundarchiv aufzubauen. Was trieb sie an, die Geschichte, die Leben und das Leid der Menschen im Warschauer Ghetto zu dokumentieren? War es der Traum von Freiheit? Es gab verschiedene Phasen der Arbeit. Zunächst war den Menschen im Ghetto nicht klar, dass sie allesamt ermordet werden sollten. Man sammelte Dokumente für die Zeit nach dem Krieg. Man wollte festhalten, wie sich das Leben im Ghetto gestaltete, welche Persönlichkeiten wichtig waren und so weiter. Ringelblum selbst war ein Marxist, er richtete sich gegen das Großbürgertum und den Kapitalismus. Ich glaube, er hatte die Hoffnung, dass sich das polnische Judentum nach dem Krieg politisch sehr progressiv entwickeln würde. Wer waren die Mitstreiterinnen und Mitstreiter von Emanuel Ringelblum? Wie kann man sich ein Untergrundarchiv vorstellen? Interner Link: "Das Ringelblum-Archiv" liefert weitere Informationen zum geheimen Archiv im Warschauer Ghetto. In den Jahren 1946 und 1950 wurden Teile des geheimen Archivs gefunden. Insgesamt konnten 30.000 Blatt des Archivmaterials gerettet werden. Danach, wie auf dem Foto zu sehen, wurden die zahlreichen Dokumente gesichtet, ausgewertet und katalogisiert. (© Yad Vashem, 8839/1) Als jedoch klar wurde, dass der Krieg nicht bald enden würde, als mehr und mehr Menschen im Ghetto verhungerten und als sich Gerüchte von Massentötungen verbreiteten, die sich nach und nach bestätigten, entwickelte sich ein neuer Impetus. Diese Motivation wird deutlich im Originaltitel meines Buches: "Who Will Write Our History?" – "Wer wird unsere Geschichte aufschreiben?" Ringelblum wusste, dass die Deutschen die Juden töten wollten und dass dann die Deutschen die Geschichte der Juden aufzeichnen und bestimmen würden. Hinweise gab es genug: Filme, wie "Der ewige Jude" wurden überall in Europa gezeigt. Juden wurden mit Ratten und Parasiten verglichen. Dann kam im Mai 1942 ein Filmteam ins Warschauer Ghetto. [Anmerk. d. Red.: Vom 2. Mai bis zum 2. Juni 1942 drehte eine deutsches Filmteam im Warschauer Ghetto. Mit dem damals entstandenen Propagandamaterial setzt sich der Film "Geheimsache Ghettofilm" von Yael Hersonski auseinander.] Die Vorstellung, dass die Deutschen nicht nur den Krieg gewinnen sollten, sondern auch kontrollieren wollten, wie die ausgerottete jüdische Bevölkerung in der Erinnerung künftigen Generationen erscheinen würde, war unfassbar. Deshalb wollten die Mitglieder des Oneg Schabbat mit dem gesammelten Material quasi Zeitkapseln hinterlassen – auch wenn sie selbst sterben sollten. Künftige Generationen sollten auch jüdische Quellen haben, nicht nur deutsche, um die Wahrheit über die Geschichte der Juden zu erfahren. Um diese Zeitkapseln zu erstellen, also die Geschichte der Juden festzuhalten, wollte Ringelblum ein präzises Abbild des Lebens im Ghetto schaffen. Er bat seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten, ihre Erlebnisse und Gedanken unmittelbar aufzuschreiben. Herr Kassow, Sie haben all diese einzigartigen Dokumente durchgearbeitet: Wie würden Sie den alltäglichen Kampf der Menschen im Ghetto beschreiben? Im Ghetto lebten zweitweise etwa 460.000 Menschen. Um zu überleben, brauchte man auch eine Portion Glück: Jene, die ihr persönliches Eigentum hatten verstecken können, konnten sich glücklich schätzen. Jene, deren Häuser zufälligerweise im Ghettobereich lagen, mussten nicht zwangsweise umziehen. Jene, die in der Provinz lebten, wurden binnen Minuten aus ihren Häusern hinausgeworfen; sie wurden als Flüchtlinge im Ghetto quasi abgeladen. Glück bedeutete auch, die richtigen Kontakte zu haben. Jene, die ein Geschäft hatten und irgendetwas herstellten, das sie aus dem Ghetto herausschmuggeln konnten, wie Schuhe oder Bürsten, und die Kontakte zu Polen hatten, konnten etwas Geld verdienen. Im Ghetto gab es eine große soziale Bandbreite. Als im Juli 1942 die großen Deportationen und die Ermordung der Juden des Warschauer Ghettos begannen, waren 80 Prozent der ursprünglichen Ghettobevölkerung noch am Leben. Die Menschen kämpften hart für ihr Überleben, sie wollten nicht verhungern. Emanuel Ringelblum verfolgte mit dem Archiv nachdrücklich ein Ziel: Er wollte, was er als das stille Heldentum der jüdischen Massen bezeichnete herausstellen. Er ahnte, dass die Geschichte eines gewöhnlichen Menschen im Warschauer Ghetto, der versuchte seiner Familie und seinen Nachbarn zu helfen, der trotz der Verfolgung versuchte, seine Würde zu bewahren und sich nicht verformen zu lassen, dass dieser gewöhnliche Bürger keine Spuren hinterlassen würde. Diese Menschen würden alle ermordet werden. Sie würden in den Gaskammern verschwinden ohne jegliche Hoffnung, ein Echo zu hinterlassen. Ebenso wollte Ringelblum, dass das Archiv die objektive Geschichte des Ghettos erzählt – nämlich inklusive der jüdischen Polizei, der Korruption, der Denunziation. Das war ein unschöner Teil des Ghettolebens. Aber Ringelblum war davon überzeugt, solange sie die ganze Wahrheit erzählten und nichts ausließen, würden Historiker später die tatsächliche Geschichte des Ghettos erkennen. Auch das stille Heldentum der Massen, das nicht offensichtlich war. Diese Tapferkeit, die nichts mit einer bewaffneten Rebellion zu tun hatte. Es war das Heldentum gewöhnlicher Juden, die versuchten menschlich und mitfühlend zu bleiben. Diese sozialen Strukturen im Warschauer Ghetto beschreiben Sie auch in Ihrem Buch. Sie sprechen sogar von einer Art öffentlichem Raum, der entstand. Zumindest in den Jahren 1940 und 1941 gab es ein Netzwerk von Hilfsorganisationen und Hauskomitees, die durch verschiedene Aktionen die Hausmitbewohner unterstützten. Ihrer Meinung nach war im Warschauer Ghetto mehr Raum für solche Strukturen als in anderen Ghettos. Was war anders in Warschau? Jedes Ghetto war anders. Aber im Warschauer Ghetto gab es ein paar Besonderheiten. Es lag – anders als zum Beispiel das Ghetto in Łódź ("Litzmannstadt") – im Generalgouvernement, also dem nicht vom Deutschen Reich einverleibten Mittelteil Polens. [Anmerk. d. Red.: Das Generalgouvernement war von den Deutschen besetztes polnisches Gebiet und wurde von einer deutschen Regierung und Administration verwaltet. Łódź, Litzmannstadt, lag auf annektiertem Gebiet im Deutschen Reich.] Das machte einen Unterschied. Auf der "arischen" Seite des Warschauer Ghettos lebten Polen, keine Volksdeutschen. Die Polen und die Juden schätzten sich zwar nicht besonders, aber sie vereinte ihr Hass auf die Deutschen. Die Juden konnten mit den Polen Geschäfte machen, es gab wirtschaftliche Verflechtungen. Das Warschauer Ghetto war nicht komplett abgeriegelt – trotz der Ghettomauern. So wurden schätzungsweise 80 Prozent des Kalorienbedarfs der Ghettoinsassen hineingeschmuggelt. Łódź ("Litzmannstadt") beispielswiese war vollständig abgesperrt, es gab keinen Schmuggel. Jeder war dort auf die offiziellen Essensrationen angewiesen. Das gab der jüdischen Verwaltung große Macht; sie entschied, wer aß oder nicht. Im Warschauer Ghetto gab es keine solch starke Hierarchie. Im Jahr 1942 bestätigten sich die Gerüchte über die Massenmorde an den Juden im Osten Polens. Die Menschen im Warschauer Ghetto ahnten, dass sie das Ghetto nicht überleben würden. Auch Ringelblum und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter realisierten die Situation. Wie hat das die Arbeit des Oneg Schabbat verändert? Die Mitglieder begannen Dokumente über die Massenmorde zu sammeln. Neue Prioritäten kamen hinzu: Berichte über das Morden wurden an die polnische Exilregierung nach London geschickt. Im Laufe des Jahres 1942 wurden vier Berichte verschickt. Sie enthielten Interviews mit wenigen Juden, die dem Morden in den Vernichtungslagern Chełmno und Treblinka entkommen waren. Ein Interview mit Abraham Jacob Krzepicki, der am 25. August 1942 nach Treblinka deportiert wurde und zwei Wochen in dem Vernichtungslager verbrachte, umfasste allein 100 Seiten. Die Dokumente, die im November 1942 nach London verschickt wurden, enthielten eine Zeichnung des Vernichtungslagers Treblinka. David Graber, 19 Jahre jung und Mitglied des Oneg Schabbat, schrieb im August 1942 in seinen letzten Aufzeichnungen kurz vor seinem Tod: "Was wir nicht in die Welt hinausrufen und -schreien konnten, haben wir im Boden vergraben. ...Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt." Bis heute sind die Dokumente des Untergrundarchivs sehr bewegend. Sehen Sie in den Anstrengungen, das Archiv aufzubauen, eine Art Widerstand? Absolut, absolut. Das Zitat von Graber ist ein perfektes Beispiel dafür, ein Dokument als Teil eines kulturellen Widerstands zu hinterlassen. Widerstand erfolgt nicht allein durch Waffen, sondern eben auch mit Papier und Stift. Einen Bericht zu hinterlassen, um zu zeigen, dass die Menschen im Ghetto nicht nur eine gesichtslose Masse waren, sondern Individuen, ist Widerstand. Das Interview führte Sonja Ernst. Quellen / Literatur Externer Link: Das US Holocaust Memorial Museum hat 2009 gemeinsam mit der Indiana University Press und dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau einen aktuellen Katalog und Einführung zum Ringelblum-Archiv herausgegeben. Das Material des Ringelblum-Archivs befindet sich im Externer Link: Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Das Album des Externer Link: Joint Distribution Committee im Warschauer Ghetto findet sich auf der Website von Yad Vashem. Externer Link: Das US Holocaust Memorial Museum hat 2009 gemeinsam mit der Indiana University Press und dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau einen aktuellen Katalog und Einführung zum Ringelblum-Archiv herausgegeben. Das Material des Ringelblum-Archivs befindet sich im Externer Link: Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Das Album des Externer Link: Joint Distribution Committee im Warschauer Ghetto findet sich auf der Website von Yad Vashem.
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Samuel D. Kassow
"2022-01-12T00:00:00"
"2013-01-17T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/geheimsache-ghettofilm/153354/die-wahrheit-soll-leben-das-untergrundarchiv-im-warschauer-ghetto/
Bis heute ist das geheime Archiv des Warschauer Ghettos eine bedeutsame Quelle. Auch der Film "Geheimsache Ghettofilm" greift auf das Material zurück. Der Historiker Samuel D. Kassow hat in seinem international anerkannten Buch die Geschichte des Arc
[ "Warschauer Ghetto", "Ghetto", "Emanuel Ringelblum", "Oneg Schabbat", "Geheimsache Ghettofilm", "Archiv" ]
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Bonner Tage der Cybersicherheit 2016 | Presse | bpb.de
Industrie 4.0, virtuelle Realitäten, autonom fahrende Fahrzeuge – Digitalisierung durchdringt unsere Lebens- und Arbeitswelten und verändert diese nachhaltig. Um mehr Bewusstsein für die Digitale Revolution zu schaffen, haben verschiedene Akteure in Bonn 2016 erstmals die Bonner Tage für Cybersicherheit ins Leben gerufen und vom 24. bis 28 Oktober verschiedene Veranstaltungen koordiniert. Neben Fachkonferenzen sind auch Veranstaltungen geplant, die sich an eine breite Öffentlichkeit richten. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb bietet in diesem Rahmen einen Medienkompetenz-Workshop für Eltern und Pädagogen zum Thema „Soziale Netzwerke“ an. Am 27. Oktober 2016, von 17.30 bis 21 Uhr, im bpb:medienzentrum, Adenauerallee 86, 53113 Bonn www.bpb.de/232709. Initiatoren der Bonner Tage für Cybersicherheit sind die Bundeszentrale für politische Bildung, das Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie FKIE, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), die Bonner Wirtschaftsförderung, die Deutsche Telekom AG sowie die Industrie und Handelskammer Bonn/Rhein-Sieg. Ihr Ziel ist es, Kompetenzen und Angebote zum Thema gebündelt sichtbar zu machen. So können die Akteure voneinander lernen, sich ergänzen und vernetzen, das Thema ins Bewusstsein der Menschen rücken und notwendige Kernkompetenzen vermitteln. In Bonn wird Cybersicherheit durch unterschiedliche Akteure gestaltet. Neben international tätigen Unternehmen der Telekommunikation und spezialisierten Mittelstandsbetrieben im Bereich der IT-Sicherheit, sind zahlreiche wissenschaftliche Einrichtungen vor Ort, die sich mit dem Thema Sicherheit beschäftigen. Komplettiert wird das Netzwerk durch öffentliche Einrichtungen wie das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, die Bundesdatenschutzbeauftragte oder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Alle Veranstaltungen und weitere Informationen zu den Bonner Tagen für Cybersicherheit auf Externer Link: www.fkie.fraunhofer.de/btcs. Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-10-18T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/235631/bonner-tage-der-cybersicherheit-2016/
Verschiedene Akteure in Bonn haben 2016 erstmals die Bonner Tage für Cybersicherheit ins Leben gerufen und vom 24. bis 28 Oktober eine Reihe von Veranstaltungen koordiniert. Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet in diesem Rahmen einen Medi
[ "bpb-Pressemitteilung; Bonner Tage der Cybersicherheit", "Bonn" ]
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Erklärung zu der Barriere-Freiheit | Über die Bundes-Zentrale für politische Bildung | bpb.de
Die Erklärung zu der Barriere-Freiheit ist für unsere Internet-Seite: Interner Link: www.bpb.de Wir sind die Bundes-Zentrale für politische Bildung. Bundes-Zentrale für politische Bildung wird bpb abgekürzt. Wir möchten unsere Internet-Seite barriere-frei anbieten. Dafür beachten wir: das Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz. Das Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz wird BGG abgekürzt. die Barriere-Freie Informations-Technik Verordnung 2.0. Die Barriere-Freie Informations-Technik Verordnung 2.0 wird BITV 2.0 abgekürzt. Wie barriere-frei ist unsere Internet-Seite? Die Gesetze zu der Barriere-Freiheit von Internet-Seiten gibt es wegen dem Paragraphen 1 2 d in dem BGG. In dem Gesetz steht ein Pflicht zu der Barriere-Freiheit. Die Voraussetzungen zu der Barriere-Freiheit von Internet-Seiten stehen in dem Paragraph 3 und 4 von der BiTV 2.0. Die Internet-Seite www.bpb.de erfüllt nicht alle Anforderungen. Das hat eine Bewertung von unserer Internet-Seite ergeben. Die Bewertung der Erfüllung der Anforderungen haben wir selbst durch-geführt. Wir haben die Erfüllung der Anforderung selbst eingeschätzt. In dem Monat Januar von dem Jahr 2 0 2 2 haben wir unsere Internet-Seite neu gestaltet. Damit wir unserer Internet-Seite barriere-frei anbieten können. Die Neu-Gestaltung unserer Internet-Seite berücksichtigt: die Anforderungen von der BITV 2.0 die Web Content Accessibility Guidelines Die Web Content Accessibility Guidelines werden WCAG abgekürzt Die WCAG sind Richt-Linien für die barriere-freie Gestaltung von Internet-Angeboten. Die Richt-Linien der WCAG sind für die Länder von der Europäischen Union einzuhalten. Nach der Veröffentlichung unserer neuen Internet-Seite erfolgt eine Überprüfung. Die Überprüfung soll unsere Internet-Seite auf die Einhaltung der Anforderungen an die Barriere-Freiheit kontrollieren. Danach wird die Erklärung zu der Barriere-Freiheit erneuert. Welche Barrieren gibt es auf unserer Internet-Seite? Zuerst müssen wir unsere neue Internet-Seite überprüfen. Dann werden wir an dieser Stelle alle Inhalte mit Barrieren auf-listen. Die hier auf-gelisteten Bereiche stimmen nicht mit den Anforderungen von der BITV 2.0 überein. Unsere Internet-Seite wird bald noch mehr Inhalte in Leichter Sprache enthalten. Die Inhalte in Leichter Sprache sind aber erst auf unserer Internet-Seite, wenn die neue Erklärung der Barriere-Freiheit fertig ist. Die neuen Inhalte unserer Internet-Seite www.bpb.de in Leichter Sprache sind: die Erklärung unserer Internet-Seite die Erklärung der Navigation die Erklärung von dem Bestell-Prozess Unsere Internet-Seite wird bald noch mehr Inhalte in Deutscher Gebärden-Sprache enthalten. Die Inhalte in Deutscher Gebärden-Sprache sind aber erst auf unserer Internet-Seite, wenn die neue Erklärung der Barriere-Freiheit fertig ist. Die neuen Inhalte unserer Internet-Seite www.bpb.de in Deutscher Gebärden-Sprache sind: die Erklärung der Bundes-Zentrale für politische Bildung die Erklärung der Navigation die Erklärung von dem Bestell-Prozess die Erklärung zu der Barriere-Freiheit die Erklärung zu dem Feedback-Mechanismus Feedback ist englisch. Es bedeutet soviel wie: Rück-Meldung. Der Feedback-Mechanismus ist eine Möglichkeit für Rück-Meldungen zu Barrieren. Wir bemühen uns die neuen Inhalte sehr schnell anzubieten. Die Veröffentlichung von den neuen Inhalten soll späten bis zum Ende von dem Monat März in dem Jahr 2 0 2 2 geschehen. Auf unserer Internet-Seite Externer Link: www.bpb.de gibt es Inhalte mit eingeschränkter Barriere-Freiheit. Hier erklären wir Beispiele für Inhalte von unserer Internet-Seite mit eingeschränkter Barriere-Freiheit: PDF-Downloads Ein PDF ist eine Text-Datei. Manchmal auch mit Bildern. Egal von welchem Endgerät eine PDF geöffnet wird. Die PDF sieht immer gleich aus. 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Die Hilfe der Schlichtungs-Stelle gibt es wegen dem § 1 6 BGG. Schlichtungs-Stelle bedeutet: Gerechte Menschen helfen bei einer Einigung. Hier finden Sie alle Informationen zu der Schlichtungsstelle-Stelle. Die Internet-Seite heißt: www.schlichtungsstelle-bgg.de Auf der Internet-Seite finden Sie Informationen zu dem Schlichtungs-Verfahren. Zudem finden Sie dort Informationen zu der Antrags-Stellung. Sie können der Schlichtungs-Stelle auch eine E-Mail schreiben an: E-Mail Link: info@schlichtungsstelle-bgg.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-09-07T00:00:00"
"2022-02-02T00:00:00"
"2022-09-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/informationen-in-leichter-sprache/504503/erklaerung-zu-der-barriere-freiheit/
Wir sind die Bundes-Zentrale für politische Bildung. Bundes-Zentrale für politische Bildung wird bpb abgekürzt. Wir möchten unsere Internet-Seite barriere-frei anbieten.
[ "Barrierefreiheit", "leichte Sprache", "Einfache Sprache", "Feedbackmechanismus", "Erklärung zur Barrierefreiheit" ]
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Ausländische Direktinvestitionen (ADI) pro Jahr | Globalisierung | bpb.de
Die durchschnittlich pro Jahr getätigten Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) haben sich bei einem Vergleich der Jahre 1970 bis 1979 mit den Jahren 2010 bis 2014 nahezu verfünfzigfacht. Dabei hat die relative Bedeutung der ökonomisch entwickelten Staaten deutlich abgenommen: Während sie in den 1970er-Jahren die weltweiten ADI nahezu komplett tätigten, lag ihr Anteil in den Jahren 2010 bis 2014 bei gut zwei Dritteln (67,4 Prozent). Seit Anfang der 1990er-Jahre verlieren die ökonomisch entwickelten Staaten auch als Zielländer von ADI relativ an Bedeutung: In den Jahren 2010 bis 2014 entfiel auf die ökonomisch entwickelten Staaten weniger als die Hälfte der weltweiten ADI (48,3 Prozent) – von 1980 bis 1989 waren es noch vier Fünftel (77,9 Prozent). Von diesen Entwicklungen profitierten die ökonomisch sich entwickelnden Staaten sowie die Staaten Süd-Osteuropas und der GUS, wobei insbesondere Asien (ohne Japan) hervorzuheben ist. Unter den einzelnen Staaten sind die USA und China die wichtigsten Ursprungs- und Zielländer von ADI. Fakten Die laufend getätigten Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) lagen im Durchschnitt der Jahre 1970 bis 1979 bei 28 Milliarden US-Dollar pro Jahr. 1990 bis 1999 bzw. 2000 bis 2009 stieg der entsprechende Wert auf 414 bzw. 1.073 Milliarden US-Dollar. Im Durchschnitt der fünf Jahre 2010 bis 2014 erhöhten sich die laufend getätigten ADI auf 1.380 Milliarden US-Dollar. Der höchste Wert entfiel dabei auf das Jahr 2007: Vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 wurden ADI in Höhe von 2.130 Milliarden US-Dollar getätigt. Im Jahr 2014 lag der Wert bei 1.354 Milliarden US-Dollar. Der Anteil der ökonomisch entwickelten Staaten an den ADI ist insgesamt rückläufig: In den Jahren von 1970 bis 1979 tätigten die ökonomisch entwickelten Staaten noch 98,9 Prozent der weltweiten ADI. 1990 bis 1999 waren die ökonomisch entwickelten Staaten für 90,0 Prozent der weltweit getätigten ADI verantwortlich und in den Jahren 2000 bis 2009 für 84,5 Prozent. Dieser langfristige Trend wurde durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise beschleunigt: Seit 2009 liegt der Anteil der ökonomisch entwickelten Staaten bei unter 75 Prozent. In den Jahren 2010 bis 2014 tätigten die ökonomisch entwickelten Staaten lediglich 67,4 Prozent der weltweiten ADI. 2014 lag der Wert bei 60,8 Prozent. Auf der anderen Seite ist der Anteil der ökonomisch sich entwickelnden Staaten sowie der Staaten Süd-Osteuropas und der GUS an den weltweit getätigten ADI gestiegen. Bei den Staaten Süd-Osteuropas und der GUS nahm der Anteil von 0,3 Prozent in den Jahren 1990 bis 1999 auf 5,0 Prozent in den Jahren 2010 bis 2014 zu. Bei den ökonomisch sich entwickelnden Staaten stieg der Anteil an den weltweit getätigten ADI von 1,1 Prozent (1970-1979) auf 9,7 Prozent (1990-1999) und weiter auf 27,6 Prozent (2010-2014). Bezogen auf die einzelnen Regionen hat insbesondere Asien (ohne Japan) von dieser Entwicklung profitiert: Lag der Anteil in den Jahren 1970 bis 1979 noch bei 0,2 Prozent, wurden im Zeitraum 2010 bis 2014 gut ein Fünftel der weltweiten ADI von einem asiatischen Staat getätigt (21,9 Prozent). Bezogen auf die einzelnen Staaten und die Jahre 2010 bis 2014 stammte der mit Abstand größte Anteil an den ADI aus den USA (23,9 Prozent). Darauf folgten die Staaten/Gebiete China (13,6 Prozent), Japan (7,8 Prozent), Deutschland (6,0 Prozent), Russland (4,5 Prozent), die Britischen Jungferninseln (4,4 Prozent), Kanada (3,5 Prozent), die Niederlande und die Schweiz (je 3,0 Prozent) sowie Frankreich (2,9 Prozent). Nicht nur als Ursprungs-, sondern auch als Zielländer von ADI verlieren die ökonomisch entwickelten Staaten an Bedeutung – zumindest seit Anfang der 1990er-Jahre. In den Jahren von 1980 bis 1989 erhielten die ökonomisch entwickelten Staaten noch 77,9 Prozent der weltweiten ADI. 1990 bis 1999 sank dieser Wert auf 70,1 Prozent und in den Jahren 2000 bis 2009 auf 64,4 Prozent. Auch hier wurde der langfristige Trend durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise beschleunigt: Seit 2008 liegt der Anteil der ökonomisch entwickelten Staaten bei unter 55 Prozent. In den Jahren 2010 bis 2014 entfielen auf die ökonomisch entwickelten Staaten lediglich 48,3 Prozent der weltweiten ADI. 2014 lag der Wert bei 40,6 Prozent und damit zum ersten Mal unter dem Anteil der ökonomisch sich entwickelnden Staaten, auf die im selben Jahr 55,5 Prozent der weltweiten ADI entfielen. Die ökonomisch sich entwickelnden Staaten sowie die Staaten Süd-Osteuropas und der GUS sind immer häufiger das Ziel der weltweiten ADI. Bei den Staaten Süd-Osteuropas und der GUS nahm der Anteil von 1,0 Prozent in den Jahren 1990 bis 1999 auf 5,8 Prozent in den Jahren 2010 bis 2014 zu. Bei den ökonomisch sich entwickelnden Staaten stieg der Anteil an den weltweiten ADI von 22,1 Prozent (1980-1989) auf 31,5 Prozent (2000-2009) und weiter auf 45,9 Prozent (2010-2014). Bezogen auf die einzelnen Regionen hat auch hier insbesondere Asien (ohne Japan) profitiert: Lag der Anteil in den Jahren 1980 bis 1989 noch bei 9,8 Prozent, entfielen im Zeitraum 2010 bis 2014 gut ein Viertel der weltweiten ADI auf einen asiatischen Staat (26,5 Prozent). Bezogen auf die einzelnen Staaten und die Jahre 2010 bis 2014 erhielten China und die USA mit Abstand die höchsten Anteile von den weltweit getätigten ADI (14,9 bzw. 13,2 Prozent). Darauf folgten die Britischen Jungferninseln (4,7 Prozent), Brasilien (4,4 Prozent), Singapur (4,2 Prozent), das Vereinigte Königreich (4,0 Prozent), Australien (3,7 Prozent), Russland (3,4 Prozent), Kanada (3,3 Prozent) sowie Deutschland (2,5 Prozent). Im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2014 lagen die ADI-Zuflüsse pro Kopf in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten bei 126 US-Dollar. Bei den Staaten Süd-Osteuropas und der GUS waren es 269 US-Dollar und bei den ökonomisch entwickelten Staaten 648 US-Dollar. Die entsprechenden ADI-Abflüsse pro Kopf lagen in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten bei 83 US-Dollar. Bei den Staaten Süd-Osteuropas und der GUS waren es 265 US-Dollar und bei den ökonomisch entwickelten Staaten 893 US-Dollar. Die ADI-Zuflüsse entsprachen im Mittel der Jahre 2010 bis 2014 in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Bei den Staaten Süd-Osteuropas und der GUS lag der entsprechende Wert bei 3,1 Prozent und bei den ökonomisch entwickelten Staaten bei 1,5 Prozent. Im selben 5-Jahres-Zeitraum entsprachen die ADI-Abflüsse in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten im Durchschnitt 1,8 Prozent des BIP. Bei den Staaten Süd-Osteuropas und der GUS waren es 2,8 Prozent und bei den ökonomisch entwickelten Staaten 2,1 Prozent. Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen Ausländische Direktinvestitionen (ADI) sind im Wesentlichen Unternehmensfusionen, -käufe und -beteiligungen, reinvestierte Erträge von Tochtergesellschaften im Ausland, Kredite an ausländische Tochtergesellschaften innerhalb eines Unternehmens und Kapitaltransfers zur Gründung von Unternehmen im Ausland. ADI sind durch eine langfristige Beziehung und ein dauerhaftes Interesse des Direktinvestors gekennzeichnet. Ein Ziel der Investoren ist auch, durch die ADI den Einfluss auf das Management des im Ausland ansässigen Unternehmens zu erhöhen. Bei ADI muss der Beteiligungsgrad bei mindestens 10 Prozent der Stimmrechte oder Anteile liegen. Vor allem Transnationale Unternehmen (TNU) haben die technischen, finanziellen und politischen Ressourcen, um eine Strategie des 'global-sourcing' umzusetzen. Die ADI der TNU dienen in erster Linie der Markterschließung, Marktsicherung und Kostenersparnis. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden. Das BIP ist gegenwärtig das wichtigste gesamtwirtschaftliche Produktionsmaß. China einschließlich Hongkong und Macao GUS – Gemeinschaft unabhängiger Staaten / CIS – Commonwealth of Independent States Quellen / Literatur United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD): Online-Datenbank: UNCTADstat (Stand: Januar 2016) United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD): Online-Datenbank: UNCTADstat (Stand: Januar 2016)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-13T00:00:00"
"2012-01-10T00:00:00"
"2022-01-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52575/auslaendische-direktinvestitionen-adi-pro-jahr/
Die durchschnittlich pro Jahr getätigten Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) haben sich bei einem Vergleich der Jahre 1970 bis 1979 mit den Jahren 2010 bis 2014 nahezu verfünfzigfacht. Dabei hat die relative Bedeutung der ökonomisch entwickelten
[ "Zahlen und Fakten", "Globalisierung", "Direktinvestitionen", "Unternehmen", "Ausländische Direktinvestitionen", "Ausländische Direktinvestition", "ADI" ]
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Editorial | Neue Formen der Staatlichkeit | bpb.de
Über das Ende des Staates in seiner "klassischen" Form ist in den vergangenen Jahren oft spekuliert worden: Ist der souveräne Nationalstaat tot? Was kann er im Zeitalter der Globalisierung noch leisten? Welche Muster von Staatlichkeit könnten an seine Stelle treten? Trotz aller Kritik an den Unzulänglichkeiten dieser Staatsform ist insbesondere die dritte Frage bisher unbeantwortet geblieben. Sicher ist nur, dass die Räume begrenzter Staatlichkeit zunehmen, sodass sich der territoriale Nationalstaat womöglich als historische Ausnahme erweisen könnte. In Räumen begrenzter Staatlichkeit bilden sich politische Regelungsformen heraus, die in der sozialwissenschaftlichen Governance-Diskussion als "neue Formen des Regierens" beschrieben werden. Nach diesem Verständnis müssen Regierungen Leistungen erbringen, ohne über die volle Gebietsherrschaft zu verfügen. Zu den Räumen begrenzter Staatlichkeit gehören neben den "failed states" auch Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften, in denen es entweder kein Gewaltmonopol mehr gibt oder ein solches nur eingeschränkt gegeben ist. Im Zeitalter der Globalisierung scheint es unzureichend zu sein, funktionierende Staatlichkeit auf die Beschreibung von Institutionen des europäischen "Nationalstaats" zu reduzieren. Dadurch wird verkannt, dass sich Staatlichkeit historisch stets unterschiedlich ausgeprägt hat. In anderen Weltregionen gab es schon immer ein Nebeneinander von Staatlichkeit und traditionellen Formen sozialer Ordnung. Konnte nicht in vielen schwachen Staaten die Fassade der "Souveränität" nur aufrecht erhalten werden, weil gleichzeitig traditionelle Gesellschaftsstrukturen weiter funktionierten?
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Watzal, Ludwig
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30463/editorial/
Im Zeitalter der Globalisierung scheint es unzureichend zu sein, funktionierende Staatlichkeit auf die Beschreibung von Institutionen des europäischen "Nationalstaats" zu reduzieren. Dadurch wird verkannt, dass sich Staatlichkeit historisch stets unt
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Ein Leben auf Reisen | Deutschland Archiv | bpb.de
Als unehelicher Sohn einer jüdischen Mutter im Berliner Scheunenviertel geboren, wurde Walter Kaufmann mit zwei Jahren von einem wohlhabenden jüdischen Ehepaar aus Duisburg adoptiert, was er erst Jahre nach deren Tod in Auschwitz erfährt. Indizien ließen es ihn später für denkbar halten, dass der Adoptivvater auch sein leiblicher war. Was er nur im vertrauten Kreis erwähnte – wir kannten uns lange. Zu Hause zunächst wohlbehütet aufgewachsen, bleiben ihm die Demütigungen auf dem Schulhof nicht erspart. Dafür, dass sein Bester Freund zu ihm hält, wird der von den anderen verpönt, es rutscht ihm heraus: „Schade, dass du Jude bist.“ (Daraus wurde viel später der Titel eines Buches, das für „meisterliche Kurzprosa“ mit dem Literaturpreis des Ruhrgebietes ausgezeichnet wurde.) Als 14-Jähriger erlebte er das Grauen beim Anblick der brennenden Synagoge, deren Flammen auf seine Schule übergriffen, und wie sein Vater am selben Tag brutal verhaftet und seine Anwaltskanzlei demoliert wurde. Mit einem der letzten Transporte für jüdische Kinder schickten die Eltern ihn nach London. Dort wurde er allerdings an seinem 15. Geburtstag als feindlicher Ausländer interniert und später mit 2000 anderen Flüchtlingen nach Australien geschifft, wo er die ersten 18 Monate in einem eingezäunten Wüstencamp verbringen muss. Weiterer Haft entkommt er durch freiwillige Meldung zur Armee, ist danach mal Obstpflücker, Hafenarbeiter, Fotograf, am liebsten Seemann. Ob dort Decksmann oder Kohlentrimmer, neben der Knochenarbeit bleibt Zeit, um an Deck erste Schreibversuche zu machen. Die Short Storys trägt er Interessierten gleich vor Ort vor, bekommt so Kontakt zur Gewerkschaft und zur KP-nahen Melbourne Realist Writers Group. 1953 erscheint auf Englisch sein erster Roman: Stimmen im Sturm. Zwei Jahre später wird er von der Australischen Seemannsgewerkschaft zu den Weltfestspielen nach Warschau delegiert. Dort lernt er den DDR-Verleger Bruno Peterson kennen, der ihn zum bald stattfindenden Schriftstellerkongress nach Ostberlin einlädt. Die dortige Begegnung mit namhaften Re-Migrant*innen wie Anna Seghers, Arnold Zweig, Bodo Uhse, die sich nach ihrem Exil alle für die DDR entschieden hatten, und ihn „ungemein beeindruckten“, war der Auslöser, sich für die DDR zu interessieren. Doch der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, der Spanienkämpfer Eduard Claudius, selbst aus dem Ruhrgebiet, sagte ihm: „Du kommst aus dem Ruhrgebiet, auch dort werden gute Leute gebraucht. Überleg dir das.“ Kaufmann nimmt den Rat an und reist nach 17 Jahren erstmalig wieder nach Duisburg. Es kostet ihn Überwindung, an seinem Elternhaus zu klingeln. Seit die Villa „frei gezogen“ war, so hatte er gehört, wohnte dort eine Unternehmerfamilie. Hereingelassen wird er nicht. Auf der Steintreppe erklärt ihm die nunmehrige Besitzerin großherzig, sie habe seiner Mutter auf deren Bitten ihr festes Schuhwerk mit auf „die lange Reise“ gegeben. Durch die offene Tür sieht er im Foyer noch das Bild hängen, dass seine Mutter einst gemalt hatte. Von Nachbarn, auf Behörden und Ämtern wird er kühl empfangen – niemand weiß was, niemand will was wissen. „Ich fand die Erfahrung so kläglich, so wenig ermunternd, dass für mich nur die Alternative blieb, entweder nach Ostberlin oder zurück nach Australien“, sagt er im Mai 2019 der Jüdischen Rundschau. „Aber Sie hatten nicht irgendwelche prinzipiellen Sympathien für das ´andere System´“, fragte das konservative Blatt nach und musste sich anhören: „Ich wollte, wenn überhaupt nach Deutschland, nur in dieses, das rote, das linke Deutschland, wo versucht wurde, den Sozialismus aufzubauen.“ Als perfekt Englisch sprechender Autor mit australischem Pass ist er in der DDR willkommen, wird als Berichterstatter in die ganze Welt geschickt. Etwa zum Prozess gegen Angela Davis in die USA. Im Künstlerort Kleinmachnow, dem Westberliner Zehlendorf benachbart, bekommt er bald ein schmuckes Häuschen am Waldrand zugewiesen. Später bin ich als Oberschülerin im örtlichen Jugendclub für Literatur verantwortlich und lade als allerersten diesen Kaufmann ein, der uns mit seinem charakteristischen, schwarzen Schnauzbart an Mark Twain erinnert. Er liest aus „Stefan, Mosaik einer Kindheit“, noch aus dem Englischen übersetzt. Und wir begriffen betroffen: Um Abenteuer geht es hier nicht. Das Buch erschien, wie andere autobiografische Romane und Kinderbücher auch, in mehreren Auflagen und machte Walter Kaufmann in der DDR zu einem der authentischen Zeitzeugen der NS-Judenverfolgung. Ob er nicht gespürt habe, dass die Presse nicht frei war, insistierte die Jüdische Rundschau weiter. „Ich war ein jüdischer Emigrant in der DDR und wurde als solcher wahrgenommen. Alles, was ich an Erfahrungen mitbrachte, wurde unverfälscht gedruckt.“ Das betraf auch seinen 1980 erschienenen Reportage-Band „Drei Reisen ins gelobte Land“, der enorme Resonanz fand. Israel hatte ihn fasziniert, etwa Begegnungen mit der Anwältin Felicitas Langner und mit Arbeitern oder Minderheiten aller Art; seine Beobachtungen veranlassten ihn aber auch zu dem dringlichen Appell, Araber und Juden mögen friedlich und freundschaftlich zusammenleben. Zweifellos blieb auch Walter Kaufmann kleinkarierter Dogmatismus nicht erspart, aber er wusste sich übers Reisen hinaus Freiräume zu schaffen. Von 1985 bis 1993 war er Generalsekretär des ostdeutschen PEN und nahm als solcher manch repräsentative oder auch vermittelnde Funktion war. So konnte er durchsetzen, dass die eigentlich verfemten PEN-Mitglieder Stefan Heym und Ralph Giordano in der Vorwendezeit eine öffentliche Lesung bekamen. In seinem 2010 erschienenen Buch „Im Fluss der Zeit“ beschrieb er dann seine Freude über die geöffnete Grenze, gleichzeitig war ihm, als habe er „ein Stück Heimat verloren“. Auf eine roten Ziegelmauer in Berlin-Lichtenberg sah er mit weißer Farbe einen Galgen gepinselt, an dem die Buchstaben GYSI hingen. „Damals fragte ich mich, ob nicht eine Rückkehr nach Australien zu erwägen wäre.“ Schon bald wurde sein Kleinmachnow zum Hotspot für Rückgabeforderungen einstiger westlicher Hausbesitzer. Erst da erinnerte er sich wieder der elterlichen Villa – schließlich wurde jüdisches Eigentum nun zurecht bevorzugt restituiert. Er erzählte mir, wie der Anwalt Otto Schily den Fall übernahm und ihm sagte: Das erledigen wir mit links. Doch beide mussten sich von Rechts wegen belehren lassen. Das Bundesministerium der Finanzen teilte Herrn Kaufmann im Juni 1995 mit: „Ansprüche nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen sind nicht gegeben, da dieses Gesetz nur für im Beitrittsgebiet belegenes Vermögen gilt.“ Der Gesetzgeber hatte es also ermöglicht, dass in Ostdeutschland 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe von Immobilien gestellt werden konnten, in Westdeutschland aber kein einziger. Trotz manchen Frustes gehörte Walter Kaufmann nach der Vereinigung zu den nicht so zahlreichen Ost-Autoren, die auch im Westen Verlage und Beachtung fanden. „Ein Leben auf Reisen“, so der Titel eines 2016 erschienenen Buches, blieb sein Thema. Aber er war auch in Berlin ständig auf Achse – ob auf Demos, Konferenzen, im Theater, auf Ausstellungen, bei Lesungen von Kollegen oder PEN-Club Treffen –, es war eine vertraut gewordene, schöne Gewohnheit, Walter und seine Lissy zu treffen. Man traf ihn auch auf dem Bildschirm, etwa 2018 im von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten rbb-Film „Schalom Neues Deutschland – Juden in der DDR“. Nach dessen Voraufführung im Kino schrieb er mir: „Meine Aussage, dass ich in der DDR nie mit Antisemitismus konfrontiert worden war, fehlt im Film – sie wurde weggelassen oder fiel einer Panne bei den Dreharbeiten zum Opfer. Ich habe sie mündlich bei der Premiere wiederholt – es ist eine Plage mit diesen Filmmenschen!“ Im letzten Jahr setzte er sich einer solchen Plage noch zweimal aus und machte gute Erfahrungen. Sobald das Berliner Kino Babylon öffnen kann, wird man ihm dort immerhin wiederbegegnen, in einem Dokumentarfilm zu seinem dramatischen Leben. Wie schon jetzt in dem zweistündigen, biografischen Interview, das Sabine Kebir zuletzt auf weltnetz.tv mit dem Hellwachen führte. Nun ist seine Reise zu Ende gegangen. Nicht aber die Möglichkeit, sich auf die literarische Wanderschaft zu begeben, auf der er den Bedrängten eine Stimme gab. Der Nachruf auf Walter Kaufmann von Daniela Dahn erschien zuerst in der Ossietzky-Ausgabe 09/2021. Zitierweise: Daniela Dahn, „Ein Leben auf Reisen“, in: Deutschland Archiv, 27.7.2021, Link: www.bpb.de/337055.
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Daniela Dahn
"2022-02-10T00:00:00"
"2021-07-23T00:00:00"
"2022-02-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/337055/ein-leben-auf-reisen/
Bis zuletzt hat der 97-jährige Walter Kaufmann geschrieben, noch Tage vor seinem Tod eine Buchbesprechung für Ossietzky. Mit dieser Energie hat er es auf über 40 welthaltige Bücher gebracht, in einem Leben, von dem mitunter gesagt wird, es habe selbs
[ "Schriftststeller", "DDR", "Bundesrepublik Deutschland", "Kleinmachnow" ]
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Notizen aus Moskau: Memorial und die Hoffnung | Russland-Analysen | bpb.de
Dies werden keine üblichen Notizen aus Moskau. Denn diese Notizen sind mit Herzblut geschrieben. Meinem ganz persönlichen Herzblut. Memorial ist in Gefahr. Nicht einfach nur in Gefahr (wie schon seit mindestens zehn Jahren), sondern in tödlicher Gefahr. In der Gefahr, vom russischen Staat unter Wladimir Putin einfach zugemacht zu werden. Und Memorial ist, ich schreibe das ohne jede Scham so pathetisch, das Herz eines demokratischen Russland. Memorial ist nicht nur die wohl größte und eine der ältesten unabhängigen russischen NGOs, sondern auch ein Vorbild innerer Demokratie. Memorial lebt, mit allen Kämpfen und Brüchen, den schwierigen Weg, demokratische Regeln nicht nur nach außen zu fordern, sondern auch im Inneren einzuhalten. Das macht es manchmal ein wenig unbeweglich und ist mitunter ermüdend, aber auf Dauer dürfte es der erfolgreichere, auch der stabilere Weg (gewesen) sein. Genug der Dithyramben… Am Nachmittag des 11. Novembers saßen wir im Konferenzsaal von Memorial in einer größeren Runde von etwa 20 Personen. Es ging darum, wie Memorial mit Fällen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz umgeht und wie, ganz allgemein, ein diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld sichergestellt werden soll. Anlass für die schon vor der Pandemie begonnene Diskussion waren weniger Vorfälle bei Memorial selbst (auch wenn es, fast möchte ich schreiben: natürlich, kleinere Beschwerden gegeben hat), sondern der Fall Andrej Jurow , der vor einigen Jahren die russischen NGO-Welt erschütterte. Der langjährige Vorsitzende einer sehr aktiven Menschenrechtsgruppe hatte zugegeben, oder besser: zugeben müssen, ihm untergebene Frauen in seiner Organisation sexuell bedrängt zu haben. Bei Memorial organisierte sich daraufhin eine vorwiegend aus jüngeren Mitarbeiter*innen bestehende Arbeitsgruppe, die ein Anti-Diskriminierungsstatut erarbeitete. Über die vergangenen zwei Jahre wurde es in unterschiedlichen Foren innerhalb von Memorial diskutiert und immer wieder überarbeitet. Die Runde am 11. November wollte noch einmal alle Punkte durchgehen, bevor das Statut an den Vorstand gehen sollte, um dort hoffentlich beschlossen zu werden. Wir waren etwa bei der Hälfte des Statuts angekommen, als Jelena Schemkowa, die Geschäftsführerin von Memorial, die Diskussion mit den Worten unterbrach: "Wir haben einen Notfall!" Dann las sie eine just eingetroffene E-mail des russischen Obersten Gerichts vor. Die Generalstaatsanwaltschaft habe die Schließung (im russischen Original: "Liquidierung") von Memorial International (MI) beantragt und die Verhandlung auf den 25. November angesetzt. Kurze Zeit später traf die Nachricht ein, dass vor dem Moskauer Stadtgericht schon am 23. November wegen der von der Moskauer Staatsanwaltschaft geforderten Schließung des Menschenrechtszentrums Memorial (MRZ) verhandelt werden solle. Allen Versammelten, darunter dem Vorstandsvorsitzenden des Dachverbands Memorial International Jan Ratschinskij, dem langjährigen Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums und zahlreichen anderen Vorstandsmitgliedern, war sofort klar, dass das ein Generalangriff ist und es nun buchstäblich um Leben und Tod geht. Wie so oft, gab es wohl niemand im Raum, die oder der damit nicht gerechnet, ja so einen Angriff irgendwann für wahrscheinlich gehalten hatte. Und trotzdem war die Welt, nachdem es nun passiert war, plötzlich eine andere. Die Vorstellung, dies alles, Memorial, das Archiv, die Bibliothek, den (zumindest einigermaßen) geschützten Raum am Moskauer Karetnyj Rjad zu verlieren, wurde augenblicklich sehr konkret. Im selben Moment (das ist keine Übertreibung) begann aber auch die Vorbereitung der Verteidigung. So wenig irgendjemand der Versammelten sich darüber Illusionen machte, dass der russische Staat Memorial vernichten kann, wenn er oder besser seine Führung das ernsthaft will, so wenig durfte das ohne Kampf geschehen. Zum einen natürlich, weil eben niemand wirklich wissen kann, was der oder die dort oben wollen und was sie für ihr Wollen in Kauf zu nehmen bereit sind. Zum anderen aber selbstverständlich auch, weil es ohnehin ein ständiger Kampf ist, in Putins Russland als Memorial zu bestehen. Entsprechend vorbereitet und entschlossen gingen die Vertreter*innen von Memorial gemeinsam mit ihren Anwält*innen in die beiden Gerichtsverhandlungen. Das Moskauer Stadtgericht vertagte am 23. November, nach ein paar eher lustlosen Scharmützeln, die Verhandlung gegen das MRZ sehr schnell um eine Woche. Wie es aussieht, wollte der Richter erst einmal schauen, was das Oberste Gericht macht. Die erste Verhandlung gegen MI am 25. November dauerte länger. Die im Gerichtssaal anwesenden Memorial-Mitarbeiter*innen hatten den Eindruck, dass die Vertreter*innen der Anklage (Generalstaatsanwaltschaft, Justizministerium und die für die Internetkontrolle zuständige Aufsichtsbehörde Roskomnadsor ) ernsthaft darauf aus waren, die Schließung schnell über die Bühne zu bringen. Allerdings waren sie schlecht vorbereitet, einen (aus juristischer Sicht) noch schlechter erstellten Schließungsantrag zu rechtfertigen. Beides kann übrigens darauf hindeuten, dass die Schließung von Memorial längst von oben angeordnet ist, und das Gericht entsprechend instruiert. Warum also sich Mühe machen, wenn ohnehin alles vorentschieden ist? Memorials Anwälte begannen, den Schließungsantrag auseinanderzunehmen. Das machte anscheinend Eindruck. Erst beim Gericht und dann auch bei den Anklagevertreter*innen. Es kam zu einer richtigen Gerichtsverhandlung, an deren Ende sich das Gericht auf den 14. Dezember vertagte. Das Moskauer Stadtgericht vertagte sich nach der zweiten Verhandlung gegen das MRZ auf den 16. Dezember. Beide Termine dürften nicht zufällig gewählt sein. Denn am 9. Dezember traf sich Wladimir Putin, wie jedes Jahr, um den Internationalen Tag der Menschenrechte mit dem Menschenrechtsrat beim Präsidenten. Dieses offizielle Beratungsgremium, dessen Vorsitzender Mitarbeiter der Präsidentenadministration mit Büro und Stab am Moskauer Staraja Ploschtschad ist, hatte sich in einer Erklärung, wenn auch ein wenig klausuliert-vorsichtig, gegen die Schließung von Memorial ausgesprochen (Externer Link: http://president-sovet.ru/presscenter/). Wie zu erwarten war, hat sich Putin aber nicht in die Karten schauen lassen. Er nannte Memorial eine "lange von vielen geachtete Organisation", um dann aber praktisch die Argumente der Staatsanwaltschaften in ihren Schließungsanträgen zu referieren: Das MRZ leiste mit seiner Liste der politischen Gefangenen extremistischen und terroristischen Organisationen Vorschub und Memorial International halte sich nicht an das Agentengesetz. Trotzdem könnte eine vorsichtig hoffnungsfrohe Lesart lauten: Offenbar hat die öffentliche Solidaritätskampagne zugunsten Memorials auch die Gerichte nicht unbeeindruckt gelassen. Immerhin verzeichnete Memorial auf seiner Website Anfang Dezember 92 Petitionen, Solidaritätserklärungen, offene Briefe und vieles mehr (Externer Link: https://www.memo.ru/ru-ru/memorial/departments/intermemorial/news/627). Und offenbar war das Signal von oben, Memorial zu schließen, nicht ganz so klar und eindeutig, um die Gerichte nicht doch zu veranlassen, sich vor Vollzug lieber noch einmal rückzuversichern. Die Anweisung, gegen Memorial vorzugehen, könnte auch nicht direkt aus dem Kreml gekommen, sondern eine konzertierte Aktion der drei beteiligten Behörden sein, von denen allen bekannt ist, keine sonderlichen Freunde von Memorial zu sein. Andererseits sind, soweit erkennbar, in auch nur einigermaßen einflussreichen Stellungen schon längst keine Freund*innen von Memorial mehr übriggeblieben. Die weniger optimistische Lesart wäre dann, dass das alles Teil eines Theaterstücks namens unabhängige russische Gerichte ist. Dass auch das Treffen Putins mit dem Menschenrechtsrat zu diesem Spektakel gehört, und dass dann, als Finale, sowohl Memorial International als auch das Menschenrechtszentrum aufgelöst werden. In der Wahrnehmung vieler Beteiligter (von Memorial ebenso wie von Beobachter*innen von außen) schien die Sache direkt nach den Schließungsanträgen vor einem Monat klar: Nun geht es Memorial an den Kragen. Nach den drei Gerichtsverhandlungen und dem Treffen Putin-Menschenrechtsrat hat sich die Stimmung ein ganz klein wenig aufgehellt. Zwar scheint das Schicksal der MRZ weiter besiegelt, aber für Memorial International könnte es eine kleine Chance geben. So ein Ausgang, MRZ zu, Memorial International gerade noch einmal davongekommen, wäre auch durchaus im Stile Putins. Allerdings im Stile Putins vor 2021. In diesem Jahr macht der Staat mit unabhängigen Organisationen (bisher) eher Tabula rasa. Da wir das aber alles nicht wissen, sondern maximal Vermutungen anstellen können (wie gut informiert oder argumentiert die auch immer sein mögen), bleibt wenig mehr übrig, als sich so lange wie möglich an die letzten Strohhalme zu klammern. Memorial wird also zusammen mit seinen Anwälten weiter so tun, als handele es sich um ganz normale Gerichtsverhandlungen, wird auf Recht, Gesetz und einzuhaltende Verfahrensregeln verweisen und diesen Rechtsweg bis zum Schluss beschreiten (wobei der Schluss, wie so oft in Russland, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein dürfen, vor dem Memorial zweifellos Recht bekommen wird, ohne davon, zumindest vorerst, mehr als moralische Genugtuung erhalten zu können). Und wir alle sollten versuchen, den öffentlichen Druck möglichst lange hochzuhalten (in der Hoffnung, dass hier von Druck zu sprechen kein Euphemismus ist), so laut zu schreien, wie wir können. Und weiter hoffen.
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Jens Siegert (Moskau)
"2022-01-26T00:00:00"
"2021-12-21T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-411/345184/notizen-aus-moskau-memorial-und-die-hoffnung/
"Memorial ist das Herz eines demokratischen Russlands". In persönlichen Worten schildert Jens Siegert seine Sicht auf die mögliche Schließung der Menschenrechtsorganisation.
[ "Russland", "Menschenrechte", "Zivilgesellschaft", "Geschichtsbewusstsein", "Vergangenheitspolitik", "Russland" ]
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Linksammlung und Literaturhinweise | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de
Vorbereitungstipps für Schüler/innen Entsprechende Links und Hinweisen finden sich im Teil I nach den einzelnen Unterkapiteln, im Teil III bei den jeweiligen Fragen. Praktische Trickfilmarbeit (Anleitungen): Stop Motion Tutorial (Anfänger Tutorial: Ganz einfach zu deinem ersten Stop Motion Film) Externer Link: http://www.stopmotiontutorials.com/stop-motion-anleitung-einfuehrung.phpLMZ Baden-Württemberg: Trickfilmarbeit Externer Link: http://www.landkreis-esslingen.de/site/LRA-Esslingen-ROOT/get/68923/4-Trickfilmkoffer-SW-Anleitung%5B1%5D.pdftrickkino.de Externer Link: http://www.trickino.de/Trickfilmworkshop Externer Link: http://trickfilmworkshop.com/?section=trickhilfe Link zu Die Abenteuer des Prinzen Achmed: Externer Link: http://www.lottereiniger.de Links zu Der Dieb von Bagdad: Externer Link: http://www.criterion.com/current/posts/496-the-thief-of-bagdad-arabian-fantasiesExterner Link: http://criterionreflections.blogspot.de/2009/05/thief-of-bagdad-1940-431.htmlExterner Link: http://thethunderchild.com/Movies/Fantasies/ThiefofBagdad/MakingBagdad.htmlExterner Link: http://www.powell-pressburger.org/Reviews/40_Thief/Thief00.html Link zu Aladdin: Externer Link: http://www.kino.de/kinofilm/aladdin/24353Externer Link: http://www.rogerebert.com/reviews/aladdin-1992Externer Link: http://www.washingtonpost.com/wp-srv/style/longterm/movies/videos/aladdinghowe_a0af3c.htm Weiterführende Literatur und Filme Filmanalyse allgemein: Grundlagen zur Filmanalyse Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse, UTB Verlag, Stuttgart 2013Ganguly, Martin: Filmanalyse, Klett-Verlag, Stuttgart/Leipzig 2011Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Metzler-Verlag, Stuttgart 2012Kamp, Werner/ Rüsel, Manfred: Vom Umgang mit Film. Volk u. Wissen/Cornelsen-Verlag. Berlin 1998Korte, Helmut: Einführung in die systematische Filmanalyse. Erich-Schmidt-Verlag, Berlin 2001Monaco, James: Film verstehen. Rowohlt, Hamburg 2009Steinmetz, Rüdiger: Filme sehen lernen. DVD mit Begleitbuch. Zweitausendeins-Verlag, Frankfurt a. M. 2005Deutsche Filmakademie: Faszination Film – Eine Lehr-DVD zu den einzelnen Filmgewerken mit Daniel Brühl und Jana Pallaske, Berlin 2011 Geschichte des Animationsfilms: Cavalier, Stephen: The World History of Animation, University of California Press, Oakland 2011Friedrich, Andreas (Hrsg.): Filmgenres – Animationsfilm, Reclam, Stuttgart 2007Giesen, Rolf: Lexikon des Trick- und Animationsfilms, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2003Schoemann, Annika: Der Deutsche Animationsfilm von den Anfängen bis zur Gegenwart (1909-2001), Gardez! Verlag, St. Augustin 2003Schwebel, Florian: Der Animationsfilm für Erwachsene. Von Fritz the cat bis Waltz with Bashir, Schüren-Verlag, Marburg 2010Solomon, Charles: Enchanted Drawings – The History of Animation, Edition Alfred A.Knopf, New York, 1989Wells, Paul: Animation. Prinzipien, Praxis, Perspektiven, Stiebner Verlag, München 2006 Walt Disney: Barrier, Michael: The Animated Man: A Life of Walt Disney University of California, Princton, 2007, auch als E-BookEliot, Marc: Walt Disney – Genie im Zwielicht, Heyne, München 1994Finch, Christopher: Walt Disney. Sein Leben, seine Kunst, Krueger-Verlag, Berlin/Hamburg, 1982Girveau, Bruno/ Dierden, Roger (Hg.): Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen Kunst, Ausstellungskatalog der Hypo-Kulturstiftung, Hirmer-Verlag, München 2008Smith, Dave: Disney A to Z: The Official Encyclopedia, Hyperion, New York 1996. Lotte Reiniger Happ, Alfred: Lotte Reiniger 1899-1981: Schöpferin einer neuen Silhouettenkunst, Universitätsstadt Tübingen, Tübingen 2004Happ, Helga und Alfred (Hrsg.):Von Herzen! Lotte Reiniger und ihre Zeit in Dettenhausen: Erinnerungen an die Meisterin des Scherenschnitts, Schwäbisches Tagblatt Buchedition, Tübingen 2007 Alexandra Korda Korda, Michael: ... und immer nur vom Feinsten. Das turbulente Leben der Kordas, des glanzvollsten Clans der Filmgeschichte, Heyne, München 1984 DVD-Tipps Die Geschichte des deutschen Animationsfilms (6 DVDs), FSK 12, absolut Medien GmbH: DVD 1: "Animierte Avantgarde - Der künstlerische Animationsfilm im Deutschland der 20er und 30er Jahre"DVD 2: "Animation in der Nazizeit"DVD 3: "Zwischen Staatskunst und Underground - Animationsfilm in der DDR"DVD 4: "Kritik und Experiment - Der westdeutsche Animationsfilm"DVD 5: "Zeitgenossen - Deutscher Animationsfilm der Gegenwart"DVD 6: "Von tanzenden Zigaretten und Elchen - Der deutsche Animationsfilm in Werbung und Musikvideo" Lotte Reinigers schönste Filme, verschiedene Scherenschnitt-Filme der Künstlerin, FSK o.A., absolut Medien GmbH Über Walt Disney As Dreamers Do (Walt Disney - Ein Mann und seine Maus, USA 2014, R: Logan Sekulow, FSK: 0), Spielfilm über Leben und Werk Walt DisneysSaving Mr Banks (USA 2013, R: John Lee Hancock, FSK: 6), Disney Studio
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-25T00:00:00"
"2016-08-17T00:00:00"
"2022-02-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/232779/linksammlung-und-literaturhinweise/
Hier finden Sie eine Auswahl von Links und Hinweisen zur Hilfe bei der Vorbereitung vor dem Screening der drei Filme "Die Abenteuer des Prinzen Achmed", "Der Dieb von Bagdad" und "Aladdin".
[ "Film", "Filmbildung", "Animation", "links", "Literatur" ]
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Die letzte Volkskammer als „Schule der Demokratie“ | Deutschland Archiv | bpb.de
Beginnen sollen diese Gedanken mit einigen Bemerkungen zur DDR, danach über die Revolution, die zur Freiheit führte. Anschließend folgen Reflexionen über die Gestaltung unserer Demokratie sowie der Einheit mit der Übernahme des Rechtsstaates. Das Leben in der DDR spielte sich für die meisten Menschen in begrenzten Räumen ab, auch „Nischen“ genannt. Dadurch hatten sie eine beschränkte Sicht, aus der sie auf das Ganze schlossen. Es gab keine Öffentlichkeit, keine Berichte und Diskussionen über die anderen. Das förderte allerdings auch Zusammenhalt und Gemeinschaft, was heute von vielen vermisst wird. Außerdem waren die Menschen nicht nur unterschiedlich gebildet wie überall, sondern hatten auch mehr oder weniger sogenannte Westkontakte, Verbindungen zur Bundesrepublik, folglich weniger direkte Kenntnisse darüber. Unsere Verbindungen waren sehr gut. Informationen erhielten wir nicht nur über Fernsehen und Radio, sondern auch über Briefe und intensive Gespräche. Nahezu jedes Buch, das uns interessierte, konnten wir beschaffen, teils auf abenteuerlichen Wegen. Wir hatten Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ gelesen und auch das Buch des Jugoslawen Milovan Djilas „Die neue Klasse“. Einige Bücher von Solschenizyn ließ ich in Leinen binden, damit sie häufiger an Freunde und Kollegen verborgt werden konnten. Andere wurden für dergleichen eingesperrt. Ich behaupte, von der Landung der in Moskau ideologisch geprägten „Gruppe Ulbricht“ im Frühjahr 1945 bis zu den Schüssen an der Mauer gibt es eine zwangsläufige Kette. Es wurde ein scheindemokratisches Staatsgebilde aufgebaut, Gegner vernichtet, verjagt oder gleichgeschaltet. Im Wettbewerb mit der Bundesrepublik konnte man nicht mithalten. Das merkten die Leute und etliche liefen weg. Als die sogenannte Republikflucht überhandnahm wäre der Staat bald am Ende gewesen. Folglich musste aus Sicht der Herrschenden die Grenze geschlossen und 1961 die Berliner Mauer gebaut werden. Wer eine solche Mauer baut, um Menschen an der Flucht zu hindern, muss sie sichern. Er kann nicht erlauben, dass jemand mit einer Leiter kommt und drübersteigt. Also muss geschossen werden. Das alles war zwangsläufig und dem totalitären System innewohnend. Der Bevölkerungsverlust hat bis heute weitreichende Folgen, zumal er nach dem Mauerbau nicht beendet war. Bis 1989 verließen weitere 400.000 Menschen die DDR, und nach dem Mauerfall über eine weitere Million. Es waren überwiegend Jüngere, wohl auch Gesündere, viele von ihnen waren leistungsbereit und voller Unternehmergeist. Ein solcher Verlust hat tiefgreifende und lang anhaltende Auswirkungen. Die meisten aktuellen Statistiken, in denen sich die Bevölkerung in unserem Lande als vergleichsweise weniger leistungsfähig oder leistungsbereit zu erweisen scheint, sind auf diese Ursachen zurückzuführen. Wir wollten nicht weg. Unsere familiäre Haltung war kurz gesagt so: Wir leben in einem besetzten Land, aber hier ist auch Deutschland. Dazu wäre noch viel zu sagen. Entscheidend war, sich unter diesen Bedingungen einigermaßen anständig zu verhalten. Dazu gehörte, nicht in die SED einzutreten, aber viele andere Organisationen als harmlos anzusehen. Nachteile zu akzeptieren gehörte auch dazu. Beispielsweise wurde ich zwar nicht gehindert wissenschaftlich zu arbeiten, mit 33 Jahren war ich habilitiert. Doch als ich meinen 40. Geburtstag feierte, war ich noch immer Assistenzarzt. Das hat uns nicht aufgeregt, denn andere hatten wirkliche Härten zu ertragen, nicht nur Nachteile. Damals haben wir ebenso wie viele andere gezeigt, dass man auch im falschen System ein richtiges Leben führen kann und nicht nur im richtigen ein falsches. Nun zur Revolution. Das geht nicht ohne die Betrachtung der Weltlage. Im Sommer 1988 las ich in einer Wiener Zeitung den Satz: „Der Kalte Krieg ist vorbei, und der Russe hat ihn verloren“. Ich freute mich zwar, dachte aber noch nicht an die möglichen Folgen. Später wurde klar, dass eine Weltmacht keinen Krieg verlieren kann und nichts von ihrer Macht verliert. Zu den glücklichen Umständen in dieser Zeit gehörte Michail Gorbatschow, der sich als genialer Konkursverwalter der Sowjetunion erwies.Zunächst wurde schrittweise klar, dass die Sowjetunion mit ihren schwächer werdenden Händen ihre „Beute“ aus dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dauerhaft festhalten konnte. In dieser Zeit entstanden, ganz ähnlich wie in den anderen Ostblockstaaten, mehr und mehr Gruppen, die an dem DDR-System etwas ändern wollten. Sie kann man als Revolutionäre bezeichnen. Zugleich boten Kirchen in vielen Gemeinden mit ihren „Friedensgebeten“ einen geschützten Raum an, der sich immer mehr füllte. Anfang September trug ich mich beim neu gegründeten Bürgerbündnis „Neues Forum“ ein und merkte, dass von Seiten der Staatsgewalt nichts geschah. In diesen Wochen nahm die Revolution ihren Lauf. Ich unterscheide vier Stufen, die vorwiegend in Leipzig durch markante Rufe gekennzeichnet sind. 1. „Wir wollen raus!“ riefen Ausreisewillige auf der Straße und versteckten sich nicht mehr hinter Formularen und Anträgen. Eine strenge Reaktion der Staatsmacht blieb 1989 jedoch aus. 2. „Wir bleiben hier!“ riefen die nächsten. Das war eine Drohung. DDR-Bürger und Bürgerinnen wollten nicht mehr untätig bleiben und alles geschehen lassen, sondern pochten auf Reformen. Nichts, um dies nachhaltig niederzuschlagen, geschah. 3. „Wir sind das Volk!“ war schließlich der DDR-weite Ruf, dem die selbsternannte Arbeiter-und-Bauern-Macht gar nichts mehr entgegenzusetzen hatte, die gefürchtete Stasi protokollierte nur noch die Interner Link: Parolen. Das war die Revolution. Jede Revolution hat ihr zeitliches und räumliches Zentrum. In unserem Fall war dies am Interner Link: 9. Oktober 1989 der Leipziger Ring. Die Staatsmacht war vorbereitet, Proteste niederzuschlagen, durfte jedoch nicht eingreifen, weil sie aus Moskau nicht die Erlaubnis bekam und russische Panzer ohnehin nicht rollen würden. Und wenn sie an diesem Tag nicht eingriffen, warum sollten sie das eine Woche später an vielen Orten der DDR gleichzeitig tun? Die Macht war gebrochen. Es bestätigte sich der Satz, wonach eine Revolution nichts anderes ist als eine morsche Tür einzutreten. Übrigens kann man über den Namen „Friedliche Revolution“ oder „Herbstrevolution“, wie Richard Schröder vorschlug, unterschiedlicher Auffassung sein. Doch die von Interner Link: Egon Krenz geprägte Bezeichnung „Wende“ ist falsch. Er wollte keine Revolution, keine grundsätzliche Umwälzung, die zwangsläufig zur Einheit Deutschlands führen musste. Er wollte nur in der DDR einiges ändern, ohne zu sagen, was das konkret sein könnte. Es ist eigentlich ein Jammer, dass dieser Wende-Begriff sich so eingebürgert hat, dass man ihn nicht wieder aus der Welt schaffen kann. 4. und Letztens erklang im Dezember der Ruf: „Wir sind ein Volk!“. Damit war die deutsche Frage wieder offen. Und weil es so war, wie Konrad Adenauer schon in den fünfziger Jahren prophezeite, „Der Schlüssel zur deutschen Einheit liegt in Moskau“, kam es nun auf die Herrschenden in der Sowjetunion an. In Halle nahm ich an allen Demonstrationen teil, organisierte sie mit und sprach wiederholt bei Kundgebungen. Das war nichts Heldenhaftes, denn Angst brauchte man nicht mehr zu haben. Heute beschreiben das manche anders, und es bestätigt sich das deutsche Sprichwort: „Es sind viele mutig, wenn der Feind weg ist“. Nun zum 9. November und dem „Mauerfall“. Zufall oder nicht, das Datum wurde zum Wichtigsten in den Geschichtsbüchern, weil die Weltöffentlichkeit dieses Ereignis als epochal verstand. Doch klar war damals schon, dass die Mauer nach dem 9. Oktober in Leipzig nicht mehr lange zu halten war. Auf Transparenten fordern Teilnehmer des friedlichen Demonstrationszuges am 09.10.1989 durch die Leipziger Innenstadt immer wieder "Freiheit". (© picture-alliance, Lehtikuva Oy) Und ebenso klar ist, dass sie durch die Ereignisse innerhalb der DDR, also durch die Revolution geöffnet werden musste, und nicht von außen geöffnet worden ist. Insofern liegt das Verdienst bei den Menschen in der DDR. Doch das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn die gesamte politische Lage eine andere gewesen wäre oder beispielsweise Breschnew noch einige Jahre am Leben und an der Macht geblieben und nicht durch Andropow, Tschernenko und bald darauf Gorbatschow abgelöst worden wäre. Außerdem sollte man die Bewegungen in den anderen Ostblockstaaten nicht außer Acht lassen. Die deutschen Revolutionäre waren es jedenfalls nicht allein, und wer zu Recht Revolutionär genannt werden kann ist auch nicht klar. Ich war jedenfalls keiner, aber ich kenne einige, die es gewesen sind. Nun zur Freiheit und Demokratie. Unter Freiheit verstanden die meisten zunächst nur Reisefreiheit. Doch in Wahrheit ist sie unendlich viel mehr, muss gestaltet werden und bedarf der Demokratie. Der Ruf nach freien Wahlen erschallte. Doch Demokratie ist mehr als die Durchführung von freien Wahlen. Es gehören Strukturen im Lande dazu. Diese zu schaffen war die nächste Aufgabe. Und damit kommen wir zu den politischen Parteien, ohne die die Demokratie nicht bestehen kann. Mir brachte die Mitgliedschaft im Neuen Forum keine Aufgaben. Die wenigen Versammlungen waren interessant, erschienen aber unstrukturiert und ergebnisarm. Als ich später den Satz las: „Ohne Tagesordnung und Geschäftsordnung funktioniert die Demokratie nicht“, wurde mir klar, woran das lag. In Halle gab es an der Georgenkirche sehr bald eine Mahnwache „Gegen Gewalt“. Dort fand man zahlreiche Zettel mit Nachrichten, darunter über die Gründung der „Sozialdemokratischen Partei in der DDR“ – SDP. Der Ortsverein Halle wurde am 27. Oktober 1989 gegründet, am 4. November trat ich ein. Für SED und Stasi eine besondere Herausforderung - SDP-Demonstranten Mitte Oktober 1989 in Ost-Berlin, fotografiert vom MfS (© BStU, MfS, HA XX/Fo/1255, Bild 236) Seither habe ich mich nie nach einer Funktion gedrängt, doch auch keine ausgeschlagen, wenn ein ernsthafter anderer Bewerber oder eine Bewerberin nicht da waren. So wurde ich bald Bezirksvorsitzender und war 12 Jahre lang Landesvorsitzender der SPD Sachsen-Anhalts. Schließlich, um diesen Weg hier abzukürzen, bin ich nicht nur Mitglied des Bundesparteirates gewesen, sondern 11 Jahre lang auch dessen Vorsitzender. Daraus ergab sich das ständige Gastrecht beim SPD-Bundesvorstand. Hinzu kamen die deutschlandweiten Runden aller Landesvorsitzenden und auch die der Fraktionsvorsitzenden. Das bedeutete, dass ich über viele Jahre vom Ortsverein bis zum Bund mit fast allen wichtigen Leuten der SPD bekannt und im Austausch war. Dergleichen bringt einen Informationsstand, der die Arbeit sehr erleichtert. Nachdem die Kommunisten bzw. die DDR-Machthaber ohne Widerstand verschwunden waren, ist die Grundfrage klar gewesen: Wer soll es denn nun richten? Und die Antwort? Natürlich wir selbst, wer denn sonst. Und somit hatten wir bereits im Januar 1990 drei Aufgabenbereiche: Aufbau der Partei, Mitarbeit an den verschiedenen Runden Tischen und Vorbereitung der Wahlen. Denn es war selbstverständlich, dass wir am 18. März für die Volkskammer kandidierten – wobei wir eine herbe Enttäuschung erlebten. Auch das musste gelernt werden, ebenso wie der Umgang damit, dass auch in unseren Reihen immer wieder Personen auftauchten, die als Stasi-Mitarbeiter entlarvt worden sind. Das war gar nicht anders möglich, denn ohne die gegenseitige Gewährung eines Vertrauensvorschusses hätten wir nie zusammengefunden. Meine Voraussetzungen für die politische Arbeit waren denkbar gut. Ich hatte hinreichende politische Bildung und eine günstige familiäre Ausgangssituation. Unsere Kinder waren fast erwachsen und meine Frau politisch ebenso engagiert wie ich. Außerdem stimmten unsere politischen Überzeugungen überein. Einen großen Vorteil erkannte ich nach und nach durch meinen vorherigen Beruf. Arzt und Politiker haben viele Gemeinsamkeiten. Der Unterschied ist nicht so groß, wie man allgemein glauben mag. Beide haben direkt mit Menschen zu tun und sind sich der Grenzen ihrer Möglichkeiten bewusst. Ärzte hoffen nicht darauf, den Menschen alle Krankheiten und Leiden nehmen oder gar den Tod abschaffen zu können. Und der Politiker weiß genau, dass auch er nur in geringem Maße helfen und schon gar nicht alle Menschen glücklich machen kann. Zum Arzt kommen sie, wenn sie krank sind und leiden. Sie schildern ihm ihre Beschwerden, aber kommen nicht regelmäßig vorbei, um zu sagen, wie glücklich und gesund sie sind. Zum Politiker kommen die Menschen, wenn sie vermeintliche oder tatsächliche Gründe zur Klage haben und jemanden brauchen, der ihnen hilft. Autor Rüdiger Fikentscher 1990 (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0217-304 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0) In beiden Fällen gibt es sowohl die Möglichkeit zur unmittelbaren Hilfe als auch das Bemühen, künftige Krankheiten und Leiden zu verhindern. Ärzte müssen auch bereit sein, ein und denselben Sachverhalt immer wieder und wieder neuen Patienten zu erklären, ohne gelangweilt zu wirken. Der Politiker erläutert immer wieder seine Ziele, Vorstellungen und Vorschläge. Hierzu hilft ein kaukasisches Sprichwort: „Wiederholung schadet keinem Gebet“. Bei Erfolglosigkeit entwickelt sich Unmut aufgrund der enttäuschten Hoffnungen sowohl gegenüber dem Arzt als auch gegenüber dem Politiker. Der eine riskiert, nicht mehr aufgesucht zu werden, der andere gefährdet seine Wiederwahl. Einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Tätigkeiten gibt es aber doch, nämlich: Der Politiker steht in der Öffentlichkeit, der Arzt eher weniger. Das alles galt es damals rasch zu verstehen und zu lernen, damit aus Laien Fachleute wurden, die sich bemühten, die allgemeinen öffentlichen Angelegenheiten zu regeln. Bereits in der Volkskammer haben wir viel gelernt und viel entschieden. Ein Meister der Geschäftsordnung und der Verhandlungen im parlamentarischen Raum war unser späterer Ministerpräsident Reinhard Höppner. Er brachte seine Erfahrungen aus der evangelischen Synode ein, deren Präses er bis dahin war. Auch insofern war die Volkskammer eine Schule der Demokratie. Doch wir sind nicht zum Unterricht hingegangen, sondern mussten grundlegende Entscheidungen treffen. Das waren der Aufbau demokratischer Strukturen, Eingliederung des Militärs und anderer staatlicher Machteinrichtungen, Festlegung der Kommunalwahlen, Währungsunion, Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und anderes mehr. Schließlich wurde in jener Nachtsitzung zum 23. August morgens 3 Uhr unter Leitung von Reinhard Höppner der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Nur die Volkskammer durfte das, niemand sonst. Auf Transparenten fordern Teilnehmer des friedlichen Demonstrationszuges am 09.10.1989 durch die Leipziger Innenstadt immer wieder "Freiheit". (© picture-alliance, Lehtikuva Oy) Für SED und Stasi eine besondere Herausforderung - SDP-Demonstranten Mitte Oktober 1989 in Ost-Berlin, fotografiert vom MfS (© BStU, MfS, HA XX/Fo/1255, Bild 236) Autor Rüdiger Fikentscher 1990 (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0217-304 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0) Nun zur Einheit Deutschlands. Sie wurde am 3. Oktober 1990 formal und juristisch vollzogen. Ich stand zusammen mit meiner Frau in jener Nacht auf den Stufen des Reichstags und war dabei, als die „Fahne der deutschen Einheit“ aufgezogen wurde. Noch immer, wenn ich sie dort sehe, denke ich an diese bewegende Stunde. Doch dem Symbol folgten viele Fragen der Umgestaltung und Neugestaltung, die für uns neue Aufgaben enthielten. Dabei war Hilfe aus der alten Bundesrepublik höchst willkommen. Um politisch zu entscheiden, waren wir sehr bald sicher genug. Doch die gesamte Verwaltung musste umgebaut und neu geordnet, auch vielfach neu besetzt werden. Dazu brauchten wir zusätzliche Fachleute. Ich persönlich hatte nie mit ihnen Schwierigkeiten. Offenbar haben sie meinen Standpunkt auch unausgesprochen akzeptiert. Er war ganz einfach: Wir sind gemeinsam in den Krieg gezogen, haben Schlimmes angerichtet, haben zu Recht verloren, und unser Land ist geteilt worden. Ihr hattet es leichter im Leben und beim Wiederaufbau. Nun lasst uns gemeinsam auch den Teil unseres Vaterlandes wiederaufbauen, der so viel mehr und so viel länger gelitten hat. Das ist Eure Aufgabe genauso wie die unsere. Wir haben mehr Feldkenntnisse, ihr mehr Fachkenntnisse. Wir stehen auf Augenhöhe. Ich persönlich habe auch nie die Begriffe „Ossi“ und „Wessi“ verwendet. Sie erscheinen mir als Etikett für Menschen ungeeignet. Die sogenannten „Westhilfen“ hielt und halte ich für selbstverständlich. Leider ist das nicht überall so gewesen und von allen so gesehen worden. Doch auf die vielen Schwierigkeiten und Missverständnisse einschließlich menschlicher Unzulänglichkeiten, die Treuhanderfahrungen und den Hochschulumbau und so vieles andere kann ich hier nicht eingehen. Aber ich weiß: Man kann jeden Fehler vermeiden, aber niemals alle Fehler. Zur Treuhand nur noch eine Bemerkung. Es heißt immer wieder, da seien Leute aus dem Westen gekommen, die unsere Betriebe plattgemacht haben. Doch die Wirklichkeit sah doch auch so aus, dass niemand mehr einen „Trabant“ oder „Wartburg“ fahren wollte. Endlich einen Westwagen zu steuern, darauf kam es jetzt den meisten an. Auch wollte kaum noch jemand Weißenfelser Schuhe tragen oder Halle’sches „Meisterbräu“ trinken. Und jedermann und jedefrau wissen, dass sich diese Reihe beliebig fortsetzen ließe. Mit der Einheit war auch der Rechtsstaat gekommen. Diesen in einer länger bestehen DDR aufzubauen hätte viele Jahre gedauert. Deswegen war es aus meiner Sicht gut, ihn zu übernehmen. Nicht gut dagegen war die Haltung jener, die sich einen künftigen Idealstaat vorgestellt hatten, in dem alle Fehler und Unzulänglichkeiten anderer Staaten vermieden werden sollten. Dieser Idealismus musste in die Irre laufen. Er gipfelte in dem Wort: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“. Das war üble Demagogie und Verunglimpfung. Dieser Standpunkt ist genauso töricht, wie wenn jemand sagte: „Wir wollte Gesundheit und bekamen das Gesundheitswesen“. Beides, Gerechtigkeit und Gesundheit, sind abstrakte Begriffe, Idealvorstellungen, denen man sich nur annähern kann, sie aber nie erreichen wird. Für diese Annäherung braucht man das Gesundheitswesen und eben den Rechtsstaat. Eine andere naheliegende Frage tauchte in diesen Monaten immer wieder auf, nämlich: Wie lange wird das alles dauern. Hier scheint mir, dass wir hinsichtlich der Reihenfolge fast alles richtig vorausgesehen, uns nur in der Zeitschiene grandios geirrt haben. Wer zu Weihnachten 1989 vorhergesagt hätte, dass wir ein Jahr später in einem geeinten Deutschland mit einem frisch gewählten gemeinsamen Bundestag feiern würden, wäre nicht ernst genommen worden. Und wer nach der Vereinigung vermutet hätte, dass wir drei Jahrzehnte später noch immer über Ost-West-Unterschiede sprechen und den Soli-Beitrag zahlen, wären als notorischer Pessimist bezeichnet worden. Beides ist eingetreten und noch vieles mehr. Darüber gilt es immer noch zu sprechen, heute, und noch eine Weile länger. Zitierweise: "Die Volkskammer als Schule der Demokratie“, Rüdiger Fikentscher, in: Deutschland Archiv, 16.4.2020, Link: www.bpb.de/307812. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. In dieser Reihe bereits erschienen: - Sabine Bergmann-Pohl, Interner Link: "Ein emotional aufgeladenes Parlament" - Rüdiger Fikentscher, Interner Link: "Die 10. Volkskammer als Schule der Demokratie" - Hinrich Kuessner Interner Link: „Corona führt uns die Schwächen unserer Gesellschaft vor Augen“ - Klaus Steinitz, Interner Link: "Eine äußerst widersprüchliche Vereinigungsbilanz" - Richard Schröder -Interner Link: "Deutschland einig Vaterland" - Maria Michalk, Interner Link: "Von PDS-Mogelpackungen und Europa?" - Markus Meckel, Interner Link: "Eine Glücksstunde mit Makeln" - Hans-Peter Häfner, Interner Link: "Brief an meine Enkel" - Konrad Felber, Interner Link: "Putins Ausweis" - Walter Fiedler, Interner Link: "Nicht förderungswürdig" - Hans Modrow, Interner Link: "Die Deutsche Zweiheit" - Joachim Steinmann, "Interner Link: Antrag auf Staatsferne" - Christa Luft, Interner Link: "Das Alte des Westens wurde das Neue im Osten" - Dietmar Keller, "Interner Link: Geht alle Macht vom Volke aus?" - Rainer Jork, Interner Link: "Leistungskurs ohne Abschlusszeugnis" - Jörg Brochnow, Interner Link: "Vereinigungsbedingte Inventur" - Gunter Weißgerber, "Interner Link: Halten wir diese Demokratie offen" - Hans-Joachim Hacker, Interner Link: "Es gab kein Drehbuch" - Marianne Birthler - Interner Link: "Das Ringen um Aufarbeitung und Stasiakten" - Stephan Hilsberg - Interner Link: "Der Schlüssel lag bei uns" - Ortwin Ringleb - Interner Link: "Mensch sein, Mensch bleiben" - Martin Gutzeit, Interner Link: "Gorbatschows Rolle und die der SDP" - Reiner Schneider - Interner Link: "Bundestag - Volkskammer 2:2" - Jürgen Leskien - Interner Link: "Wir und der Süden Afrikas" - Volker Schemmel - Interner Link: "Es waren eigenständige Lösungen" - Stefan Körber - "Interner Link: Ausstiege, Aufstiege, Abstiege, Umstiege" - Jens Reich - Interner Link: Revolution ohne souveränes historisches Subjekt - Carmen Niebergall - Interner Link: "Mühsame Gleichstellungspolitik - Eine persönliche Bilanz" - Susanne Kschenka - Interner Link: "Blick zurück nach vorn" - Wolfgang Thierse - Interner Link: "30 Jahre später - Trotz alldem im Zeitplan" - u.a.m. Mehr zum Thema: - Die Interner Link: Wahlkampfspots der Volkskammerwahl - Die Interner Link: Ergebnisse der letzten Volkskammerwahl - Film-Dokumentation Interner Link: "Die letzte Regierung der DDR" - Analyse von Bettina Tüffers: Interner Link: Die Volkskammer als Schule der repräsentativen Demokratie, Deutschland Archiv 25.9.2020
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Rüdiger Fikentscher
"2023-01-03T00:00:00"
"2020-04-15T00:00:00"
"2023-01-03T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/307812/die-letzte-volkskammer-als-schule-der-demokratie/
Am 12. April 1990 begann die eigentliche parlamentarische Arbeit der letzten Volkskammer der DDR. Ihr Ziel war es, die Deutsche Einheit vorzubereiten. Der Mediziner Rüdiger Fikentscher erinnert sich.
[ "DDR-Volkskammer", "Deutsche Einheit", "Friedliche Revolution", "DDR" ]
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Der Wahl-O-Mat für die Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin 2023 ist ein Produkt der Bundeszentrale für politische Bildung und der Externer Link: Berliner Landeszentrale für politische Bildung. Thesen und Inhalte des Wahl-O-Mat wurden von einem Redaktionsteam aus Jungwählerinnen und Jungwählern aus Berlin, Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Journalismus und Bildung sowie den Verantwortlichen der Bundeszentrale für politische Bildung und der Berliner Landeszentrale für politische Bildung entwickelt. Für den Wahl-O-Mat für die Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin 2023 wurden im Vorfeld einige neue Thesen erarbeitet, andere Thesen stammen aus dem Redaktionsprozess des Wahl-O-Mat zur Abgeordnetenhauswahl Berlin 2021. Das Redaktionsteam zur Wiederholungswahl setzte sich Ende 2022 aus Mitgliedern des Redaktionsteams von 2021 zusammen und wurde um einzelne Mitglieder ergänzt. Diensteanbieter gemäß § 5 Telemediengesetz (TMG) Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-0 Fax: +49 228 99515-113 Internet: Interner Link: https://www.bpb.de Präsident: Thomas Krüger Verantwortlich gemäß § 18 Medienstaatsvertrag (MStV) Thorsten Schilling (Anschrift s.o.) Leitung Fachbereich Multimedia Projektleitung für die Bundeszentrale für politische Bildung Pamela Brandt Martin Hetterich Lea Schrenk E-Mail: E-Mail Link: info@wahl-o-mat.de Projektleitung für die Berliner Landeszentrale für politische Bildung Melike B. Ҫınar Hardenbergstraße 22-24 10623 Berlin Tel.: +49 30 90227-4966 Internet: Externer Link: https://www.berlin.de/politische-bildung E-Mail: E-Mail Link: landeszentrale@senbjf.berlin.de Pressekontakt Journalistinnen und Journalisten wenden sich bitte an die Pressestelle der Bundeszentrale für politische Bildung oder an die Externer Link: Pressestelle der Berliner Landeszentrale für politische Bildung. Inhalt und Redaktion Jungwählerinnen und Jungwähler Veronic von Chamier, Johannes Dong-Hyok Park, Constantin Drendel, Tobias Fabian, Mark Hamburg, Janne Jungenkrüger, Marc-Andre Juritz, Michael Kern, Pauline Knöpper, Olek Meyer, Paula Mörke, Jonas Müller, Marie-Lena Nelle, Sophia Schütz, Friederike Speckmann Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Journalismus und Bildung Berin Arukaslan, Julius Betschka, Tanja Binder, Ayşe Demir, Wolf Dittmayer, Henrik Domansky, Prof. Dr. Thomas Faas, Najda Ivazovic, Uwe Lübking, Katharina Wengenroth, Dr. Johanna Schnabel Berliner Landeszentrale für politische Bildung Melike Ҫınar, Thomas Gill Bundeszentrale für politische Bildung Pamela Brandt, Martin Hetterich, Lea Schrenk, Frederik Schetter, Anna Schulze Umsetzung, Gestaltungskonzept & Design 3pc GmbH Neue Kommunikation E-Mail: E-Mail Link: info@3pc.de Internet: Externer Link: https://3pc.de Programmierung GLAMUS GmbH E-Mail: E-Mail Link: santo@glamus.de Internet: Externer Link: https://www.glamus.de Nach einer Idee von ProDemos - Huis voor democratie en rechtsstaat Den Haag/Niederlande Die Vervielfältigung, Verbreitung und die öffentliche Wiedergabe des Wahl-O-Mat ist nicht gestattet. Der Wahl-O-Mat ist urheberrechtlich geschützt.
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Strom der Erinnerung | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Johannes Bobrowski, der wohl bekannteste Lyriker Ostpreußens, hat in seinem Gedicht Die Memel den Ton vorgegeben, der angeschlagen wird, wenn in Deutschland nach 1945 von diesem Fluss die Rede ist: Hinter den Feldern, weit, hinter den Wiesen der Strom. Von seinem Atem aufweht die Nacht. Über den Berg fährt der Vogel und schreit (...) Aus der Finsternis Kommst du, mein Strom, aus den Wolken. Wege fallen dir zu und die Flüsse, Jura und Mitwa, jung, aus Wäldern, und lehmschwer Szeszupe. Mit Stangen die Flößer treiben vorbei. Die Fähre liegt auf dem Sand. (…) Strom, alleine immer kann ich dich lieben nur. Bild aus Schweigen. Tafeln dem Künft’gen: mein Schrei. Der dich nie erhielt. Nun im Dunkel halt ich dich fest. Ein Deutscher im Osten Bobrowskis Gedicht erschien 1961 im Bändchen Sarmatische Zeit, zuerst in der Stuttgarter Deutschen Verlags Anstalt, kurz darauf im Ostberliner Unionsverlag. Die SED hatte gerade die Mauer bauen lassen, der Eiserne Vorhang zog sich zu, fast blickdicht verhängte er den Westdeutschen die Sicht auf verlorene Heimaten: die Sudeten, Schlesien, Pommern, Westpreußen, Ostpreußen, das Memelland. In der DDR, wiewohl auf der östlichen Seite des Vorhangs gelegen, war es nicht anders. Über Flucht und Vertreibung hatte das SED-Regime, auch aus Rücksicht auf die Sowjetunion, den Mantel des Schweigens gelegt – und das Erinnern an die Orte und Flüsse der Kindheit ins Private gedrängt. Und plötzlich erhob da einer seine Stimme und besang einen Strom, der vor allem durch die erste Strophe des Deutschlandlieds bekannt war. Was war das für einer, der da mit einem Male ins literarische Geschehen drängte? Ein Ewiggestriger, ein Unerschrockener, ein unpolitischer, gar ein naiver Poet? Es war Bobrowski selbst, der Auskunft gab über sein literarisches Erinnern an den Verlust. 1961, als sein erster Gedichtband veröffentlicht wurde, schrieb der 44-Jährige an den Schriftstellerverband der DDR: "Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmsee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit." Nein, ein Ewiggestriger war das nicht, der da über die "lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens" sinnierte, wohl aber einer, der sich die Erinnerung nicht nehmen ließ. Horst Bienek, der Westdeutsche aus dem ehemaligen deutschen Osten, der ihm darin in nichts nachstand, urteilte nach dem frühen Tod seines Schriftstellerkollegen 1968: "Seine Welt war begrenzt, sein Werk nicht umfangreich; aber in dem Ausschnitt, den er gab, hat er Vollkommenheit erreicht." Johannes Bobrowski wurde am 9. April 1917 in Tilsit geboren, er wuchs, wie er in seiner "Bio-Bibliographie" an den Schriftstellerverband notierte, "auf beiden Seiten der Memel" auf. "Der Strom", wie ihn alle nannten, hat ihn geprägt – und auch die multikulturelle Atmosphäre, die in Tilsit herrschte. Dieser vielsprachigen Grenzlandschaft setzte er mit seinem letzten Roman Litauische Claviere ein literarisches Denkmal. Die Geschichte handelt vom Gymnasiallehrer Voigt und dem Konzertmeister Gawehn, die im Jahre 1936 dem litauischen Nationaldichter Kristijonas Donelaitis eine Oper widmen wollen. Doch das Miteinander hat zu dieser Zeit bereits erste Risse bekommen, wie die Fahrt mit der Kleinbahn zeigt, die Voigt und Gawehn über den Strom in Richtung des Dörfchens Willkischken antreten: "Es hatte ihn festgehalten am Fenster, jetzt begannen die Wiesen, er hatte kaum bemerkt wie der Zug hielt, hatte dem litauischen Zollbeamten die Grenzkarte für den Tagesstempel hingehalten und sie wieder eingesteckt, der Zug war weitergefahren, in die Wiesen hinein." Zollbeamte, Grenzkarten, Grenze. Bobrowskis Erzählung spielt in einer Zeit, in der das drohende Unheil bereits aufgezogen war. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Memelland ein Politikum geworden. Zuerst unter französischer Verwaltung, wurde das Gebiet nördlich der Memel 1923 von litauischen Truppen besetzt. Die internationale Gemeinschaft akzeptierte die Annektion, forderte von der litauischen Regierung im Gegenzug aber weitreichende Minderheitenrechte für die Deutschen. Vor allem nach 1933 begannen die Hitleranhänger im Memelland gegen die litauische Verwaltung Stimmung zu machen. Nicht mehr die Grenzgänger hatten nun das sagen, sondern die Grenzschützer. In Bobrowskis Litauischen Clavieren mündet der Kampf der Nationalitäten in eine Massenschlägerei am heiligen Berg der Litauer, dem steil über dem Ufer der Memel aufragenden Rombinus. Die deutsch-litauische Oper, die der Gymnasiallehrer Voigt und der Konzermeister Gawehn im Sinn hatten, bleibt unvollendet. Eine imaginäre Welt Wer heute im russischen Sowjetsk durch die Straßen schlendert, kann den literarischen Spuren von Voigt und Gawehn noch immer folgen. Erhalten blieb das Gymnasium, in dem die Romanfigur Professor Voigt einst unterrichtete, an ihm nahm der gemeinsame Ausflug ins litauische Willkischken seinen Anfang. Erhalten blieb auch das Theater, an dem Bobrowskis Gawehn als Konzermeister arbeitete. Selbst die Hohe Straße, die Prachtmeile von Tilsit mit ihren Jugendstilhäusern, hat den Krieg überstanden. Sie heißt heute ulica Pobedy, Straße des Sieges. Und auch Johannes Bobrowski, der Dichter der vergessenen Landschaft, ist in seiner Geburtsstadt wieder präsent. Schon 1992, zu seinem 75. Geburtstag, brachte die Stadtverwaltung eine Gedenktafel in der ulica Smolenskaja, der ehemaligen Grabenstraße an. Auf ihr ist zu lesen, dass "in dieser Straße der bekannte deutsche Schriftsteller und Kulturschaffende Johannes Bobrowski geboren wurde und lebte". Allerdings: Die Grabenstraße 7, das Geburtshaus des Dichters, steht nicht mehr. Die Gedenktafel wurde kurzerhand am Nachbarhaus angebracht. All das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit den Deutschen an der Memel auch die deutsche Memelliteratur in Vergessenheit geraten ist. Johannes Bobrowski, der wenige Tage nach der Vollendung seiner Litauischen Claviere am 2. September 1965 in Berlin starb, muss die Vergeblichkeit seiner literarischen Erinnerung bewusst gewesen sein. Nicht umsonst schrieb er sich, auch mit den Titeln seiner Gedichtbände – Sarmatische Zeit oder Schattenland Ströme – in eine Sphäre, die Horst Bienek, der Freund, als "eine fiktive, eine imaginäre Welt" bezeichnet hat. Bobrowski dichtete gegen das Vergessen an, in dem er die Welt, die er davor bewahren wollte, der Gegenwart noch weiter entrückte – in eine ferne Vor-Vergangenheit, in der die Ufer der Memel tatsächlich allen gehörten. Nicht nur als Dichter des deutschen und litauischen Memellands hat sich Bobrowski der Nachwelt vermittelt, sondern auch als Dichter des Mittel- und Oberlaufs des Stroms. Nirgendwo wird dies so deutlich wie in seinem Gedicht über Wilna, dem kulturellen Zentrum des Großfürstentums Litauen, das zugleich eine poetische Vermessung des litauischen, polnischen, ruthenischen und jüdischen Raums des Memelstroms und seiner Geschichte ist: Wilna, du reifer Holunder! Mit grünen Augen ist deine Wolfzeit versunken. Ur und Bär und der Eber, da sie erschreckte der Hornschrei Giedimins, sie hielten erst am Njemen atmend, im Eichwald über dem Ufer, äugten hinab. Es hat Mickiewicz besungen der wilder leuchtenden Tage Glanz und das Düster. Der multikulturelle Nationalheld Über Sowjetsk/Tilsit wacht heute immer noch Genosse Lenin. (© Inka Schwand) Ortswechsel. Einige hundert Kilometer stromaufwärts von Tilsit/Sowjetsk erhebt sich aus dem Tiefland Weißrusslands eine zauberhafte Anhöhe. 355 Meter misst sie an ihrer höchsten Stelle, dem Berg von Nawahrudak, um den die Memel einen großen Bogen macht. Nawahrudak ist ein besonderer Ort, das sieht man schon von weitem. Auf der ehemaligen Burg herrschte von 1238 bis 1263 der litauische Staatsgründer Mindaug, hier soll er auch begraben sein. Nawahrudak ist zudem mit jenem Dichter verbunden, von dem Johannes Bobrowski sagte, er habe "der wilder leuchtenden Tage Glanz und das Düster" dieser Landschaft besungen. Tatsächlich war Adam Mickiewicz, den die Polen als Dichterfürsten verehren, in seinen Gedichten und Poemen immer wieder zur Landschaft seiner Kindheit in Zawossie bei Nawahrudak zurückgekehrt, wo er am 24. Dezember 1798 geboren wurde. Zu dieser Landschaft zählte er auch die Memel, die hier, an ihrem Oberlauf, von zahlreichen Zuflüssen gespeist wird. Selbst im fernen Exil in Paris war ihm der Strom ein Band der Erinnerung an die Heimat und an längst entrückte Kindheitstage: Niemen, mein Heimatstrom! Wo sind die Wellen, Die einst das Kind genetzt, wenn’s Blumen pflückte, In die der Jüngling dann, der glutberückte, Getaucht an wild einsamen Waldesstellen? Dass Adam Mickiewicz zum polnischen Nationaldichter wurde, war zu Lebzeiten nicht abzusehen: Wohl verhalf er als Romantiker der aufstrebenden Nationalbewegung zu ihren Volksmärchen, Balladen und Sagen. Als Patriot setzte er sich für den Kampf gegen die russische Fremdherrschaft und die Schaffung eines neuen, freien Polen ein. Als Dichter schuf er mit der Versdichtung Pan Tadeusz ein Werk, das ohnegleichen in der Weltliteratur ist – ein ebenso patriotisches wie spöttisches Sittengemälde des polnischen Adels, an dessen Streitigkeiten einst die Rzeczpospolita, die polnisch-litauische Adelsrepublik, zugrunde ging. In der Einigung des Adels sah Mickiewicz die Voraussetzung für die Wiedergeburt Polens. Über Sowjetsk/Tilsit wacht heute immer noch Genosse Lenin. (© Inka Schwand) Doch zum Nationalhelden wurde Mickiewicz erst posthum. Zu Lebzeiten hatte er sich, vor allem aus den Reihen der Warschauer Kritiker, sogar des Vorwurfs erwehren müssen, die polnische Sprache zu verunstalten. Dass die Hüter der polnischen Sprache derartige Geschütze gegen den Dichter aus dem Osten auffuhren, wundert kaum. Schließlich galt die Gegend um Nawahrudak nicht nur als eine ferne und fremde Landschaft, in der sich Geschichte und Gegenwart, Dichtung und Wahrheit vermengten. Der Oberlauf der Memel war auch ein ethnischer, religiöser und sprachlicher melting pot, in dem die Wörter, Dialekte und Sprachen fließend ineinander übergingen. Dort, in jenem Babylon an der Memel, fühlte sich Mickiewicz zuhause. Warschau dagegen sah er nie und auch nicht die alte Königsstadt Krakau, in der sein Leichnam im Jahre 1900 seine letzte Ruhestätte fand. Einer, der an den anderen, den nicht nur polnischen Adam Mickiewicz erinnern möchte, ist Anatol Jaumieniau. In Zawossie, inmitten einer sanften, hügeligen Landschaft zwischen Nawahrudak und Baranawitschy, steht das Geburtshaus von Adam Mickiewicz, und Anatol Jaumieniau, der Direktor des dazugehörigen Museums, will darin das vielstimmige Grundrauschen an der Memel wieder aufleben lassen. Vom Glück der Kindheit des jungen Adam spricht er, der ersten Liebe zu Maryla, die unerfüllt blieb, von der Schreibstube, die sich der junge Student im Wirtschaftsgebäude des elterlichen Folwark eingerichtet hat, da war er längst nach Wilna gezogen, ins intellektuelle Zentrum der polnisch-litauisch-weißrussischen-jüdischen Welt, die so anders war als das vorwiegend polnischsprachige Warschau. Immer schneller spricht Jaumieniau, und immer öfter wechselt er die Sprache, mal weißrussisch, mal polnisch, dazwischen ein paar Wörter auf Litauisch. "So hat Mickiewicz gesprochen", sagt er und lächelt vielsagend. Seine Botschaft ist eindeutig: Nicht nur den Polen gehört der Dichter des Pan Tadeusz, sondern auch den Weißrussen und den Litauern. An Orzeszkowas Memel Adam Mickiewicks Pan Tadeusz wird in Grodno in der belarussischen Ausgabe ausgestellt. (© Inka Schwand) Nächster Ortswechsel. Keine 20 Kilometer von Grodno entfernt – mit seinen 328.000 Einwohnern ist es die fünftgrößte Stadt in Belarus – zeigt sich das Memeltal von seiner abgeschiedenen Seite. Wir fahren durch Dörfer mit bunten Holzhäusern, bewacht von wackligen Bretterzäunen, über einsame Nebenstraßen, die wie mit einem Lineal über die weiten Felder gezogen sind, überholen ein paar Radfahrer und Trecker, dann stehen wir an der Kreuzung mit dem hölzernen Wegweiser, eine mit menschlichem Antlitz geschnitzte Gestalt aus der goldenen Zeit der Ritter und Gutsbesitzer. Kein Zweifel: Der Orzeszkowa-Pfad ist kein gewöhnlicher Touristenweg, sondern eine Zeitreise in die literarische Vergangenheit eines Dorfes, in dem auf den ersten Blick alles normal scheint: Auf den Feldern arbeiten die Bauern schon im Februar, aus den Kaminen der Holzhäuser steigt dunkler Rauch, die Fenster der Gutshäuser sind zerbrochen. Doch dann finden wir das Grab von Jan und Cecylia, den mythischen Begründern des Geschlechts der Bohatyrowicze, das dem Dorf de Namen gegeben hat. Etwas weiter thront auf einem Hügel im Wald ein Denkmal, gewidmet ist es den Gefallenen des Januaraufstandes 1863, die letzte der polnischen Erhebungen gegen die Fremdherrschaft der Zaren. Bohatyrowicze ist beides: reales Dorf am Steilufer der Memel und literarischer Erinnerungsort. Hier spielt das große Epos Nad Niemnem – An der Memel der polnischen Autorin Eliza Orzeszkowa. An der Memel ist tatsächlich ein Roman von epischer Größe, in dem, der Titel sagt es bereits, die Memel eine ganz besondere Rolle spielt. Wie schon in Mickiewicz' Pan Tadeusz geht es um den Streit zweier Familien. Im Mittelpunkt steht die junge Justyna Orzelska, die bei ihrem Onkel auf dem Gut der Korczyńskis lebt. Das Familienoberhaupt will sie mit einem adligen Hasardeur verheiraten, ansonsten drohe der Familie die Pleite. Doch Justyna verliebt sich in Jan Bohatyrowicz, den Sohn einer Bauernfamilie im Nachbardorf. Heimlich treffen sie sich an der Memel, wo Jan ihr die Geschichte beider Familien offenbart. Damals, sagt Jan, habe es keine Rolle gespielt, ob einer adlig war oder Bauer, der Gegner habe das polnische Volk über die Standesgrenzen hinweg geeint. Und noch etwas erfährt Justyna an der Memel: Die Familie der Bohatyrowicze waren nicht immer Bauern gewesen. Jan trägt ihr ein Volkslied vor, das von Jan und Cecylia, den Ahnen der Familie, handelt. Auch diese Liebenden trennten die Standesunterschiede, also flohen sie im 16. Jahrhundert aus ihrer Heimat an die Memel und gründeten dort das Geschlecht der Bohatyrowicze samt dem gleichnamigen Dorf. So nimmt die Erzählung ihren Lauf – und endet mit einer Liebesheirat. Dass Orzeszkowas Roman die Memel im Namen trägt, ist kein Zufall, weiß die polnische Literaturwissenschaftlerin Ewa Petniak: "Der Niemen erscheint auf vielen Karten im Buch und ist eigentlich die Hauptperson des Romans. Seine Bestimmung erinnert an ein Gemälde impressionistischer Meister, auf dem sich das Spiel der Farben und des Lichts abwechseln. So ist es auch im Fall des Niemen. Das Bild des Stroms ist mit Sicherheit nicht statisch, weil alles hier wogt, funkelt, schwingt und sich in verschiedenen Farben zeigt, es ist also ungewöhnlich lebendig." Vielsprachige Provinz An der Memel, das war für Eliza Orzeszkowa nicht nur ein Roman, es war auch ein biografischer Ort. Geboren am 6. Juli 1841 in Milkowszczyzna in der Nähe von Grodno, ging sie nach dem frühen Tod des Vaters nach Warschau in eine Ordensschule. Im Alter von 16 Jahren wurde sie mit dem 16 Jahre älteren Piotr Orzeszko verheiratet, kam zum ersten Mal nach Grodno – und staunte über die umliegende Landschaft. Vor allem im Sommer erkundete sie die Ufer der Memel und kam dabei immer wieder nach Bohatyrowycze. Es ist ein Arkadien, an das sie sich zeitlebens erinnern sollte: "Auf der einen Seite des Horizonts steigt maßvoll der Höhenrücken an mit seinen sich verdunkelnden Borken und Hainen. Auf der anderen das Hochufer der Memel, eine Wand aus Wäldern, die aus dem Grün der Erde emporwächst, mit einer Krone dunklen Geästs, abgeschnitten vom blauen Himmel. In einem riesigen Halbkreis umfasst es das weite und ebene Flachland, aus dem hier und da ein paar wilde Birnbäume wachsen, alte, krumme Weiden und einsame, schlanke Pappeln." Was für ein Gegensatz zu Grodno, der lauten, provinziellen Stadt, an der Orzeszkowa anfangs kein gutes Haar lässt. Immer wieder beklagt sie sich in Briefen an Freunde über dieses "Ongród", wie sie es nennt, das einer "traurigen, leblosen Gruft" gleiche. Doch dann entdeckt sie das andere Grodno, eine Provinz zwar, aber eine überaus bunte. Sie erlebt das vielsprachige Treiben der Stadt, in der Jiddisch gesprochen wird, Polnisch, Russisch und das "Hiesige", ein weißrussisch-polnischer Dialekt, den die Bauern aus der Umgebung in die Stadt tragen. Eliza Orzeszkowa hielt "Ongród" die Treue – und die Grodnoer dankten es ihr. Als die Schriftstellerin im Frühjahr 1910 in ihrem "grauen Hof" im Sterben lag, versammelten sich die Einwohner und bedeckten das Pflaster mit Mänteln, um der Todkranken wenigstens den Straßenlärm zu ersparen. Ihr Begräbnis am 23. Mai 1910 geriet schließlich zu einer Manifestation, wie sie die russische Gouverneursstadt seit den Teilungen Polens-Litauens nicht gesehen hatte. 15.000 Menschen waren gekommen, um ihrer Heldin das letzte Geleit zu geben: Juden vom Heumarkt und den ärmlichen Vierteln am linken Memelufer, der polnische Landadel von seinem Gutshöfen in der Umgebung, russische Beamte, polnische Bürger, weißrussische Bauern aus den Dörfern und natürlich die Armen der Stadt, um die sich Orzeszkowa zeit ihres Lebens gekümmert hatte. Ihr Haus schien in der Menge der Trauernden zu verschwinden. Nur den Schülern hatte die zaristische Verwaltung nicht freigegeben – aus Angst vor Unruhen. Sowjetische oder europäische Erinnerung Im "grauen Hof", der heute hellblau glänzt, wartet Lidija Malzewa. Stolz führt sie durch den "Gedenkraum an Orzeszkowa" und erzählt aus dem Leben der Dichterin: von der Zwangsheirat mit dem ersten Ehemann, die sie als Autorin immer wieder verarbeitet hat, dem Engagement als Frauenrechtlerin oder der Spendenaktion für die Obdachlosen nach der großen Feuersbrunst 1885. Von dem Roman Meier Ezofowicz berichtet Malzewa, mit dem Orzeszkowa dem jüdischen Grodno ein Denkmal gesetzt hat, und von ihrer Utopie einer sozial gerechten Ordnung. Je mehr Malzewa in Fahrt kommt, desto mehr wird aus der Schriftstellerin Orzeszkowa die Vorkämpferin für Frieden und Sozialismus, nach der auch die Straße benannt ist, an der das heute "blaue Haus" steht. Kein Zweifel: Im "Gedenkraum" der Gebietsbibliothek von Grodno hält man an der sowjetischen Erinnerung an eine Autorin fest, deren Denkmal aus den zwanziger Jahren schon 1947 wieder an seinem alten Platz aufgestellt worden war. Zwei Jahre später lobte die Grodnenskaja Prawda die russischsprachige Ausgabe ihrer Werke ausdrücklich: "Die Werktätigen unseres Bezirks bewahren voller Elan das Gedächtnis an Eliza Orzeszkowa. Nach ihr ist eine zentrale Straße der Stadt ernannt, die durch ein von der Sowjetmacht wiedererrichtetes Denkmal verschönert wird. Das Werk Eliza Orzeszkowas ist den sowjetischen Menschen in seinem demokratischen Geiste nahe, der sich aufopfert für den Kampf um das Glück des Volkes." Was für ein Kontrastprogramm ist dagegen der Orzeszkowa-Pfad an den Ufern der Memel in Bohatyrowicze! Vor allem im Sommer wandeln polnische Touristen, ausgerüstet mit Landkarten aus der polnischen Zwischenkriegsrepublik, Fotoapparaten und einer Ausgabe von Nad Niemnem auf den Spuren einer Autorin, die in Polen nicht nur als Demokratin und Frauenrechtlerin verehrt wird, sondern auch als glühende Patriotin. Was aber wäre ein europäisches Gedenken an Orzeszkowa? Welcher Gestalt kann ein nicht mehr vor-, sondern postmodernes Babylon an der Memel sein? Antworten auf Fragen wie diese stellen sich in Polen, Belarus und Litauen vor allem jüngere Autoren. Aufbruch in Minsk Die letzte Station der literarischen Reise an der Memel führt ins Hier und Jetzt. In einem Café der weißrussischen Hauptstadt Minsk wartet Barys Piatrovich, der Chefredakteur der unabhängigen Literaturzeitschrift Dziejaslou. Gerade erst hat er in seinem Verlag Fundacja Njoman einen Band mit unveröffentlichten Gedichten von Jakub Kolas herausgegeben, neben Jan Kupala der Begründer der modernen weißrussischen Literatur. "Kolas spricht von der Memel als 'Vater Njoman'", sagt Piatrovich. "Das hat auch damit zu tun, dass die Memel in Weißrussland entspringt und uns mit Europa verbindet." Tatsächlich ist die Memel aus der weißrussischen Literatur, vor allem aus den Volksliedern, nicht wegzudenken. Namentlich für die Generation von Kolas und Kupala, die wie die jungen Autoren in Polen und Litauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts für eine "nationale Wiedergeburt" kämpften, war die Memel das Symbol für die Unabhängigkeit des Landes. Das wichtigste Sprachrohr der weißrussischen Nationalbewegung war die Zeitschrift Nascha Niwa (Unsere Flur). Zu ihren Autoren gehörte auch Ciška Hartny (1887-1937). In seinem Gedicht An die Memel beschwört er die Hoffnung auf eine neue Zeit: "Oh du, Niemen Fluss! / Hast du je gedacht, geträumt, / Als du die Träne des Bauern / In deinem Gewässer auffingst, Als über dir / Der abgemagerte Sohn des Unglücks stand / Und über dem dunklen Wasser / Melancholische Lieder sang, Dass die Zeit kommen wird, / Wo die Ohnmacht vergeht, / Die Morgenröte der Wiedergeburt / Über dem Volk erstrahlen wird? Dass aus der schmerzenden Brust / Der Kinder Weißrusslands / Über dir / Das Lied freier Menschen aufbrausen wird." Hartnys Hoffnung wurde enttäuscht. Anders als Litauen und Polen wurde Weißrussland nach dem Ersten Weltkrieg nicht unabhängig – sondern als Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der Sowjetunion. Hartny selbst versuchte, das Beste daraus zu machen, und wurde Direktor des Weißrussischen Staatsverlags, Direktor des Staatsarchivs und Stellvertreter des Volkskommissars für Bildungswesen. Darüber hinaus war er seit ihrer Gründung 1928 Mitglied der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften. Doch dann erging es ihm wie Kolas und Kupala. 1931 wurde er als "Nationalist" aus der KP ausgeschlossen und 1937, auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors, verhaftet. Hartny starb kurz darauf in einer Heilanstalt. Barys Piatrovich hingegen, der Chefredakteur von Dziejaslou, sieht in der Memel keineswegs einen Fluss der verpassten Möglichkeiten. Für ihn weist sie geradewegs in die Zukunft. "Wenn wir uns Europa öffnen, und wenn Europa sich uns öffnet, wird die Memel die Völker nicht mehr teilen, sondern verbinden." Einen ersten Anfang hat das Goethe Institut in Minsk mit dem Festival "European Borderlands" gemacht. Junge Autoren aus Belarus, Litauen, Polen und Russland stellten im September 2009 ihre Texte vor und stießen auf ein begeistertes Publikum. Nicht mehr nach tragischen Helden dürstet es die Jugend von heute, sondern nach Austausch und Vernetzung in einem freien Europa. So schiebt sich also, ganz allmählich, die Gegenwart vor das Bild der Memel als ein "Strom der Erinnerung" – vor die sanften Hügel im Memelbogen um Nawahrudak, vor die literarische Landschaft von Adam Mickiewicz, vor die Steilufer des Stroms oberhalb Grodnos und seiner Eliza Orzeszkowa, vor die Memelschleifen bei Tilsit, deren Bilder Johannes Bobrowski in die deutsche Literatur gerettet hat. Chronologie 1798: Geburt von Adam Mickiewicz in Zawossie, heute Weißrussland 1834: Im Pariser Exil erscheint Mickiewicz' Versepos Pan Tadeusz 1841: In der Nähe von Grodno wird die Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa geboren 1863: Januaraufstand in Polen und Weißrussland gegen die die russische Fremdherrschaft 1910: Orzeszkowas Beerdigung ist eine Manifestation gegen die russische Zarenherrschaft 1917: In Tilsit an der Memel wird Johannes Bobrowski geboren 1965: Bobrowski vollendet seine Novelle Litauische Claviere. Kurz darauf stirbt er 2009: Literaturfestival "European Borderlands" am Goethe Institut Minsk Adam Mickiewicks Pan Tadeusz wird in Grodno in der belarussischen Ausgabe ausgestellt. (© Inka Schwand)
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Uwe Rada
"2021-12-13T00:00:00"
"2012-05-10T00:00:00"
"2021-12-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/135630/strom-der-erinnerung/
Johannes Bobrowski hat mit seiner Novelle "Litauische Claviere" die Memel in der deutschen Literatur verewigt. Doch die Literatur an diesem Fluss reicht weit über den einst ostpreußischen Unterlauf hinaus. Eine Erkundung in vier Etappen.
[ "Johannes Bobrowski", "Memel", "Fluss", "Literatur", "Ostpreußen", "Adam Mickiewicz", "Polen", "Weißrussland", "Nahwahrudak" ]
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Protokoll Nr. 4 | Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten | bpb.de
Fassung des Protokolls Nr. 11 - Straßburg, 16. September 1963 Bereinigte Übersetzung zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Fassung: Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des Europarats - entschlossen, Maßnahmen zur kollektiven Gewährleistung gewisser Rechte und Freiheiten zu treffen, die in Abschnitt I der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im folgenden als "Konvention" bezeichnet) und in den Artikeln 1 bis 3 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten ersten Zusatzproto­kolls zur Konvention noch nicht enthalten sind - haben folgendes vereinbart: Artikel 1 [Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden] Niemandem darf die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen. Artikel 2 [Freizügigkeit] Jede Person, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und ihren Wohnsitz frei zu wählen.Jeder Person steht es frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen.Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterwor­fen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Frei­heiten anderer.Die in Absatz 1 anerkannten Rechte können ferner für bestimmte Gebiete Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt sind. Artikel 3 [Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger] Niemand darf durch eine Einzel- oder Kollektivmaßnahme aus dem Hoheitsgebiet des Staates ausgewiesen werden, dessen Angehöriger er ist.Niemandem darf das Recht entzogen werden, in das Hoheitsgebiet des Staates einzurei­sen, dessen Angehöriger er ist. Artikel 4 [Verbot der Kollektivausweisung von ausländischer Personen] Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig. Artikel 5 [Räumlicher Geltungsbereich] Jede Hohe Vertragspartei kann im Zeitpunkt der Unterzeichnung oder Ratifikation dieses Protokolls oder zu jedem späteren Zeitpunkt an den Generalsekretär des Europarats eine Erklärung darüber richten, in welchem Umfang sie sich zur Anwendung dieses Protokolls auf die in der Erklärung angegebenen Hoheitsgebiete verpflichtet, für deren internationale Beziehungen sie verantwortlich ist.Jede Hohe Vertragspartei, die eine Erklärung nach Absatz 1 abgegeben hat, kann jeder­zeit eine weitere Erklärung abgeben, die den Inhalt einer früheren Erklärung ändert oder die Anwendung der Bestimmungen dieses Protokolls auf irgendein Hoheitsgebiet beendet.[1] Eine nach diesem Artikel abgegebene Erklärung gilt als eine Erklärung im Sinne des Arti­kels 56 Absatz 1 der Konvention.Das Hoheitsgebiet eines Staates, auf das dieses Protokoll aufgrund der Ratifikation oder Annahme durch diesen Staat Anwendung findet, und jedes Hoheitsgebiet, auf welches das Protokoll aufgrund einer von diesem Staat nach diesem Artikel abgegebenen Erklärung Anwendung findet, werden als getrennte Hoheitsgebiete betrachtet, soweit die Artikel 2 und 3 auf das Hoheitsgebiet eines Staates Bezug nehmen.[2] Jeder Staat, der eine Erklärung nach Absatz 1 oder 2 abgegeben hat, kann jederzeit danach für eines oder mehrere der in der Erklärung bezeichneten Hoheitsgebiete erklären, daß er die Zuständigkeit des Gerichtshofs, Beschwerden von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen nach Artikel 34 der Konvention entgegenzunehmen, für die Artikel 1 bis 4 dieses Protokolls insgesamt oder für einzelne dieser Artikel annimmt. Artikel 6 [Verhältnis zur Konvention [1]] Die Hohen Vertragsparteien betrachten die Artikel 1 bis 5 dieses Protokolls als Zusatzartikel zur Konvention; alle Bestimmungen der Konvention sind dementsprechend anzuwenden. Artikel 7 [Unterzeichnung und Ratifikation] Dieses Protokoll liegt für die Mitglieder des Europarats, die Unterzeichner der Konvention sind, zur Unterzeichnung auf; es wird gleichzeitig mit der Konvention oder zu einem späteren Zeitpunkt ratifiziert. Es tritt nach Hinterlegung von fünf Ratifikationsurkunden in Kraft. Für jeden Unterzeichner, der das Protokoll später ratifiziert, tritt es mit der Hinterlegung der Rati­fikationsurkunde in Kraft.Die Ratifikationsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt, der allen Mitgliedern die Namen derjenigen Staaten, die das Protokoll ratifiziert haben, notifiziert. Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Protokoll unter­schrieben. Geschehen zu Straßburg am 16. September 1963 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich [3] ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Euro­parats hinterlegt wird. Der Generalsekretär übermittelt allen Unterzeichnerstaaten beglaubigte Abschriften. Anmerkungen [1] Wortlaut geändert in Übereinstimmung mit Protokoll Nr. 11 (SEV Nr. 155). [2] Wortlaut hinzugefügt in Übereinstimmung mit Protokoll Nr. 11 (SEV Nr. 155). [3] A: authentisch © Europarat Die Wiedergabe mit Quellenangabe ist vorbehaltlich anders lautender Bestimmungen gestattet. Eine Benutzung zu kommerziellen Zwecken bedarf der vorherigen Genehmigung des Europarats.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-08T00:00:00"
"2011-11-30T00:00:00"
"2022-02-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/menschenrechte/menschenrechtskonvention/44132/protokoll-nr-4/
Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des Europarats - entschlossen, Maßnahmen zur kollektiven Gewährleistung gewisser Rechte und Freiheiten zu treffen, die in Abschnitt I der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Me
[ "Konvention", "Menschenrechte", "Gesetz", "Staatsrecht", "Deutschland" ]
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Stummes Schreibgespräch | Partizipation vor Ort | bpb.de
Didaktische Hinweise Das Stumme Schreibgespräch bietet als Methode den Vorteil, dass althergebrachte Kommunikationsmuster aufgebrochen werden. Schülerinnen und Schüler, die sich im Unterricht mündlich zurückhalten, haben hier die Möglichkeit der aktiven Beteiligung. Alle Schülerinnen und Schüler sind aufgefordert mitzuwirken. Vorbereitung Im Vorfeld müssen Arbeitstische hergerichtet und große Papierbögen darauf verteilt werden. Verlauf Auf den vorbereiteten Arbeitstischen liegen große Poster bzw. Tapetenbahnen, auf denen Fragen, Themen, Aussagen oder andere Impulse notiert sind. Die Schülerinnen und Schüler haben nun die Aufgabe zu diesen Impulsen kurze Kommentare bzw. Stellungnahmen zu verfassen. Die anderen Teilnehmer lesen die Ideen der Mitschüler und sind aufgefordert darauf ein Statement zu erwidern oder einen anderen Aspekt hinzuzufügen. Es ist auch möglich Fragen zu formulieren oder Pfeile und Verbindungslinien einzufügen. Das Sprechen ist in dieser Phase nicht gestattet. Das Schreibgespräch endet nach einer vorgegeben Frist oder wenn der Schreibfluss sichtbar abgenommen hat. Zum Schluss verständigen sich die Schülerinnen und Schüler über die Ergebnisse. Hinweise zur Durchführung Die Kommunikation erfolgt ausschließlich schriftlich. Damit kein "Schreibstau" entsteht, sollten die Themen/Thesen/Impulse möglichst weit auseinander notiert werden. So können viele Schülerinnen und Schüler zur gleichen Zeit aktiv mitwirken. Es gibt die Option entweder einen langen Tisch mit einer großen Papierbahn auszulegen oder mehrere kleine Tische herzurichten. Einsatzmöglichkeiten Diese Methode kann sowohl dem Einstieg in ein Thema dienen, als auch zur Feedbackformulierung benutzt werden. Literatur Schulministerium NRW (Hrsg.): Stummes Schreibgespräch (2011), Externer Link: www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de (10.07.2012).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-02-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-vor-ort/155250/stummes-schreibgespraech/
Das Stumme Schreibgespräch bietet als Methode den Vorteil, dass althergebrachte Kommunikationsmuster aufgebrochen werden. Schülerinnen und Schüler, die sich im Unterricht mündlich zurückhalten, haben hier die Möglichkeit der aktiven Beteiligung. Alle
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Migrationspolitik | Kroatien | bpb.de
Die kroatische Migrationspolitik war lange Zeit Teil einer umfassenderen und in Kroatien zum Teil auch so genannten Diasporapolitik. Mit dem Diasporakonzept ist in Kroatien die Geschichte einer Vertreibung aus der Heimat (vertrieben wurden in dieser Lesart Kroaten vom serbisch dominierten sozialistisch-autoritären Regime), ein kollektiver Mythos über die Heimat inklusive ihrer territorialen Ausdehnung, Geschichte und Errungenschaften, eine Idealisierung der Heimat samt der Verpflichtung zur Bewahrung des heimatlichen Erbes, eine ambivalente Einstellung zu den Zielländern der Migration sowie der Glaube an eine Rückkehr verbunden. Daraus folgt, dass die Politik sich einerseits um die Rückkehr von im Ausland lebenden Kroatinnen und Kroaten samt deren Nachkommen bemühte und sich andererseits im Sinne einer Minderheitenpolitik für sie im Ausland einsetzte. Entsprechend muss diese Diasporapolitik nach der Staatsgründung 1991 als ein wichtiges Mittel der ethnisch-nationalen Festigung und Schließung Kroatiens verstanden werden. Obwohl die Diasporaprogrammatik an Bedeutung verloren hat, wirkt sie in der gegenwärtigen Migrationspolitik nach – das Interesse an aktuellen oder potenziellen nicht-kroatischen Zuwanderern ist bis heute gering. Zielgruppen Historisch bedingt, und mit der skizzierten Idee der Diaspora verbunden, adressiert die kroatische Migrationspolitik drei mehr oder weniger unterschiedliche Gruppen: Erstens jene Migranten (samt deren Nachkommen), die Kroatien oder das frühere Jugoslawien aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben. Zweitens Kroatinnen und Kroaten, die selbst nicht zwingend migriert sind, aber aufgrund historischer Entwicklungen nicht auf kroatischem Territorium leben – im Wesentlichen handelt es sich dabei um Kroaten in Bosnien-Herzegowina und zu einem geringeren Teil in Serbien. Von diesen beiden 'Diasporagruppen' ist eine dritte unspezifische Zielgruppe der kroatischen Migrationspolitik zu unterscheiden. Diese dritte Gruppe umfasst Zuwanderer generell, ist aber sowohl politisch als auch quantitativ eher unbedeutend. Entwicklung Der mit dem Begriff der Diaspora angestimmte normative Grundton macht die Entwicklung der kroatischen Migrationspolitik verständlich. Unmittelbar nach der Staatsgründung 1991 wurde in Parteiprogrammen, im Gesetz über die kroatische Staatsbürgerschaft, in Regierungsprogrammen zur Entwicklung Kroatiens sowie im Rahmen der zahlreichen Besuche hochrangiger Politiker bei im Ausland lebenden Kroaten Migrationspolitik betrieben. Auch die Gründung eines Ministeriums für Immigration im November 1996 belegt die Bedeutung, die Kroatien der Diaspora beimaß. Das Staatsbürgerschaftsrecht und mit einer potenziellen Remigration zusammenhängende Rechtsbereiche (z. B. Zollrecht) waren entsprechend liberal gestaltet. Zu dieser Politik gehörte auch, dass sich Kroatien, nachdem es die in der Krajina und Ostslawonien lebenden Serben 1995 vertrieben hatte, aktiv um die Ansiedlung von Kroaten in diesen Gebieten bemühte. Formale Neustrukturierung und historische Kontinuität Nachdem der überschwängliche Nationalismus international zunehmend skeptisch betrachtet, die Siedlungspolitik in der Krajina scharf verurteilt und Kroatien dazu gedrängt wurde, die Rückkehr der einst vertriebenen Serben zu ermöglichen oder sie für ihren Eigentumsverlust zu entschädigen sowie nach dem Tod des übermächtigen Präsidenten Franjo Tuđman im Jahr 1999, wurde die Migrationspolitik im Jahr 2000 neu strukturiert. Mit Blick auf eine in Aussicht gestellte Mitgliedschaft in der EU und deren Regelwerke wurde das Ausländerrecht neu formuliert und ein Asylrecht etabliert. Obwohl die Gesetze seitdem den EU-Anforderungen entsprechen (oder später minimal nachjustiert wurden) und keine signifikanten rechtlichen Unterschiede zwischen Nachfahren von Kroaten und 'Nicht-Kroaten' vorsehen, richtet sich die kroatische Migrationspolitik de facto weiterhin primär an Kroatinnen und Kroaten bzw. deren Nachkommen. Dies geschieht auch ungeachtet der Tatsache, dass eine Reihe von Gründen (z.B. die Altersstruktur der kroatischen Bevölkerung, die niedrige Geburtenrate, der negative Migrationssaldo) eine auf Zuwanderung ausgerichtete Migrationspolitik sinnvoll erscheinen lassen. Vgl. Cohen (1997), S. 26. Vidak (1998), S. 58. Vgl. dazu ausführlich Leutloff-Grandits (2010).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-11T00:00:00"
"2013-05-17T00:00:00"
"2022-01-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/160549/migrationspolitik/
Die kroatische Migrationspolitik war lange Zeit Teil einer umfassenderen und in Kroatien zum Teil auch so genannten Diasporapolitik. Mit dem Diasporakonzept ist in Kroatien die Geschichte einer Vertreibung aus der Heimat (vertrieben wurden in dieser
[ "Migration", "Migrant", "EU", "Grenze", "Transitland", "Auswanderung", "Einwanderung", "Kroatien" ]
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Kommentar: Wird Russland die Militarisierung von Information verhindern können? | Russland-Analysen | bpb.de
Am 25. September schlug Präsident Putin den USA umfassende Maßnahmen im Bereich der Informationssicherheit vor (Externer Link: http://en.kremlin.ru/). Es war abzusehen, dass die USA den russischen Vorschlag aus vielerlei Gründen ablehnen würden. Erstens ist jedes Abkommen mit Russland unabhängig vom Politikbereich und umso mehr, wenn es um Cybersicherheit geht, politischer Selbstmord für Donald Trump. Zweitens würde das amerikanische politische Establishment niemals glauben, dass Russland sich nicht in die Präsidentschaftswahlen im November einmischen würde, selbst wenn man von Donald Trumps persönlichem Verhältnis zu Wladimir Putin einmal absieht. Eine russische Selbstverpflichtung, sich nicht in die Wahlen einzumischen, ist in den USA nicht glaubwürdig. Drittens erwartet Russland von den USA, dass sie das stoppen, was die russischen Behörden als amerikanische Einmischung in die russische Innenpolitik ansehen. In erster Linie ist das die Unterstützung von Medienfreiheit und kritischen Berichten über die russische Regierung. Die USA wiederum sehen darin eine Verletzung der Meinungsfreiheit. Der russische Vorschlag von Maßnahmen ist die Fortsetzung von zwei Jahrzehnten währenden Bemühungen, die Militarisierung des Internets zu verhindern. Die Geschichte der internationalen Informationssicherheitspolitik Russlands lässt sich in drei große Perioden unterteilen, von denen jede einzelne sowohl von Russlands Innenpolitik als auch den Veränderungen im internationalen Umfeld bestimmt war. Periode 1: Ende der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre. Das Internet war chaotisch. Die USA gründeten die Internet Corporation on Assigning Names and Numbers (ICANN), eine Organisation, die in Russland als Versuch angesehen wurde, den Cyberspace zu dominieren. Daraufhin brachte Russland eine UN-Resolution ein, die dazu aufrief, Informationstechnologien nur für friedliche Zwecke einzusetzen. Seit dieser Zeit führte Russland die internationalen Bemühungen im Bereich der Internet Governance an und trug wesentlich dazu bei, bei der UN ein Forum für diese Debatte zu etablieren: die Gruppe von Regierungsexperten (UNGGE). Periode 2: Ende der 2000er Jahre bis 2014. Das Internet wurde organisierter, was vor allem auf den Aufstieg der Internetgiganten zurückzuführen ist. Die russische Regierung war zunehmend besorgt darüber, dass soziale Netzwerke und soziale Medien für politische Zwecke genutzt werden. Die Erfahrungen der Farbrevolutionen und des arabischen Frühlings verleiteten Russland dazu, die staatliche Kontrolle über das Internet zu verstärken. Trotzdem kamen sich die russischen und amerikanischen Positionen ein wenig näher. Russland versuchte zwar immer noch, das Internet stärker zu regulieren, schloss aber auch eine Reihe bilateraler (darunter auch eines mit den USA) und regionaler Abkommen ab. Periode 3: 2014 bis heute. Die russisch-westlichen Beziehungen befinden sich in einer Sackgasse. Es war absehbar, dass Russland Verteidigungsmaßnahmen gegen die westliche Einflussnahme vornehmen würde, denn diese wurde in Russland als eine gezielte, gegen Russland gerichtete Informationsoperation angesehen. Die russische Regierung ergriff eine Vielzahl von Maßnahmen zur Kontrolle der Internetnutzer, die insgesamt als "Souveränisierung des Internets" definiert werden können. Ein großer Teil der Politik, die auf die Schaffung eines souveränen Internets abzielt, ist Außenpolitik, die wiederum als Analogie zum Eisernen Vorhang des Kalten Krieges gesehen wurde. Einerseits sollen die russischen Bürger nur Zugang zu "richtiger" Information bekommen. Über Russland soll die internationale Gemeinschaft nur das erfahren, was Russland als "zuverlässige" Information ansieht (Externer Link: http://www.scrf.gov.ru/). Russland lehnte die militärische Nutzung des Internets aber nach wie vor ab und schaffte es, eine internationale Koalition zu bilden, um der militärischen Nutzung von Informationen entgegenzuwirken. 2018 wurde zu einem bedeutenden Meilenstein in Russlands Bemühungen in der globalen Internet Governance. Die UN verabschiedete zwei Resolutionen, von denen die eine von Russland und seinen Verbündeten unterstützt und die andere von den USA und westlichen Demokratien eingebracht wurde. Die russische Resolution enthielt 13 Normen für verantwortungsvolles Verhalten von Staaten im Cyberspace. Außerdem schuf sie ein neues Forum für weitere Diskussionen über Internet Governance – die sogenannte Open Ended Working Group . Die amerikanische Resolution verlängerte das Mandat der UNGGE. Die beiden Organisationen haben unterschiedliche Aufgaben und arbeiten nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich. Es liegt auf der Hand, dass die Verabschiedung globaler Normen für verantwortungsbewusstes Verhalten im Cyberspace ohne einen Konsens zwischen Russland und den USA unmöglich ist. Eine der zentralen Bestrebungen Russlands ist es, die Anerkennung der Existenz von Cyberwaffen zu verweigern. Dies impliziert, dass kein Land das Recht auf Selbstverteidigung gegen einen Cyberangriff hätte, weil diese Kategorie von Waffen verboten ist. Es braucht jedoch nicht erwähnt zu werden, dass viele Länder, angefangen bei den USA, robuste militärische Cyber-Fähigkeiten entwickelt haben. Dass militärische Cybertechnologien geheim gehalten werden, leuchtet ein. Aber auffällig ist, dass sogar US-amerikanische Cybersicherheitsstrategien geheim gehalten werden. Die USA haben mehrfach erklärt, dass Russland zu den wichtigsten amerikanischen Gegnern im Cyber-Raum gehört. Die amerikanische Cyberstrategie (Externer Link: https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2018/09/National-Cyber-Strategy.pdf) erklärt, dass Gegner die US- Cyberinfrastruktur ständig angreifen. Das Dokument führt den Begriff "anhaltendes Engagement" ("persistent engagement ") ein – eine kontinuierliche Operation "unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts". Ein solches Verhalten impliziert, dass die Gegner einen gewissen Schaden anrichten, der jedoch nicht ausreicht, um einen Vergeltungsschlag der USA durch militärische Operationen zu provozieren. Russlands Haltung, Cyberwaffen als solches abzulehnen, impliziert, dass die offene Entwicklung militärischer Cyber-Fähigkeiten anderer Länder höchstwahrscheinlich als eine Erklärung feindseliger Absichten und folglich als Quelle potenzieller Konflikte wahrgenommen wird. Es ist unklar, wie Russland auf Cyberangriffe reagieren würde. Argumente, dass Russland keine eigenen militärischen Cyber-Fähigkeiten entwickelt, sind nicht glaubwürdig, insbesondere aus Sicht der USA, die Russland ständig Cyber-Aggressionen vorwerfen. Ich glaube, dass es für russische Diplomaten sehr unerwartet kam, dass die Themen der internationalen Informationssicherheit mit den Vorwürfen der Wahlbeeinflussung in Verbindung gebracht wurden. Vor diesen Anschuldigungen schien das Argument der USA, Russlands tatsächlich friedliche Vorschläge zurückzuweisen, schwach zu sein. Aber nun, da Russland die Kontur eines "Cyber-Aggressors" angenommen hat, klingt die amerikanische Kritik schon viel solider. Nach fast einem Monat des Schweigens gab Washington schließlich eine Antwort auf die Vorschläge Moskaus in Bezug auf ein Informationssicherheitsabkommen. Sechs russische mutmaßliche GRU-Offiziere wurden wegen verschiedener Fälle von Hacking angeklagt. Der amerikanische Außenminister Mike Pompeo sagte: "[…] diese Cyber-Aktivitäten demonstrieren eine völlige Missachtung der öffentlichen Sicherheit und der internationalen Stabilität. Russland, das sich selbst als Verfechter der Stabilität im Cyberspace präsentiert, ist in der Tat einer der größten Störfaktoren des globalen Internets. Wir fordern Russland auf, seinem unverantwortlichen Verhalten ein Ende zu setzen" (Externer Link: https://www.state.gov/united-states-charges-russian-military-intelligence-officers-for-cyber-crimes/). Und der stellvertretende Generalstaatsanwalt für Nationale Sicherheit, John Demers, sagte, dass "diese Anklageschrift die Nutzung der Cyber-Fähigkeiten Russlands zur Destabilisierung und Einmischung in die innenpolitischen und wirtschaftlichen Systeme anderer Länder offenlegt und damit eine kalte Erinnerung daran liefert, warum Russlands Vorschlag nichts weiter als unehrliche Rhetorik und zynische und billige Propaganda ist" (Externer Link: https://www.justice.gov/opa/speech/remarks-assistant-attorney-general-national-security-john-c-demers-announcement-charges). Präsident Trump und seine Regierung sind eindeutig nicht in der Lage, die Beziehungen zu Russland im Bereich der Cybersicherheit ernsthaft zu diskutieren. Dies hat viele Gründe, unter anderem auch die innenpolitische Lage. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Probleme im Bereich der Cybersicherheit ohne einen Dialog zwischen Moskau und Washington nicht zu lösen sind. Wahrscheinlich wären die USA bereit, Cybersicherheitsfragen mit Russland als Teil der Gespräche über Rüstungskontrolle zu diskutieren. Dies würde aber eine grundlegende Änderung der russischen Position erfordern: Russland müsste Cyber als Waffe anerkennen. Präsident Trumps Position zur Rüstungskontrolle bleib ebenfalls recht unklar. Während John Bolton noch im Nationalen Sicherheitsrat war, schien es als würden sich die USA aus jedem Rüstungskontrollabkommen zurückziehen, das die amerikanische Militärmacht in irgendeiner Form einschränkt. Wahrscheinlich sind die Demokraten eher bereit, über Rüstungskontrolle, Cybersicherheit inbegriffen, ins Gespräch zu kommen. Aber die Demokraten werden sich wohl kaum auf ein Nichteinmischungsabkommen mit Russland einlassen können. Bei einem Abkommen zur Cybersicherheit gibt es zudem noch viele andere Probleme. Erstens ist es unmöglich, sich über den Gegenstand des Abkommens zu einigen, denn Cyber-Fähigkeiten sind unmöglich zu quantifizieren. Zweitens ist es unmöglich, die Einhaltung der Cybersicherheitsverpflichtung zu überprüfen und sicherzustellen. Wenn die Mitglieder der Demokratischen Partei ihren Einfluss im Weißen Haus und im Kongress nach den Wahlen im November ausbauen, ist es möglich, dass die russisch-amerikanischen Beziehungen etwas pragmatischer und etwas weniger ideologisch werden. Der Vorschlag Russlands hinsichtlich Maßnahmen im Bereich der Informationssicherheit ist schwerlich ernst zu nehmen; es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Moskau bereit und gewillt ist, zu verhandeln und zu kooperieren. Im Bereich der Cybersicherheit scheinen für Russland und die USA eine Reihe kleiner Schritte machbar. Erstens könnten die russischen und amerikanischen Spitzenpolitiker eine deklaratorische Erklärung abgeben, dass sie von Cyber- und/oder Informationsangriffen aufeinander Abstand nehmen. Zweitens kann angenommen werden, dass militärische Cyber-Fähigkeiten entwickelt werden, um schweren Schaden anzurichten. Deswegen ist es wichtig, bei der Bekämpfung, Verfolgung und Untersuchung von Cyberkriminalität und nichtmilitärischen Cyberattacken zusammenzuarbeiten. Es ist unbedingt notwendig, ein Glossar zu entwickeln, um sicherzustellen, dass die Diplomaten dieselbe Sprache sprechen. Es ist auch offensichtlich, dass kein Cybersicherheitsabkommen zwischen Russland und den USA ohne eine allgemeine Verbesserung der bilateralen Beziehungen möglich ist. Russland und die USA sind in vielerlei Hinsicht Widersacher, deswegen könnte eine zufällige Eskalation zu katastrophalen Folgen führen. Selbst wenn sich ein Zwischenfall im Cyberspace ereignet, wird die Konflikteskalation im Cyberspace kaum vom physischen Raum und dem Einsatz kinetischer Waffen zu trennen sein. Bei vertrauensbildenden Maßnahmen sollte es nicht darum gehen, den Cyberspace von anderen konfliktträchtigen Themen zu trennen. Lesetipp Sharikov, Pavel. "Alternative Approaches to Information-Age Dilemmas Drive U.S. and Russian Arguments about Interference in Domestic Political Affairs". (2020). Abrufbar unter: Externer Link: https://cissm.umd.edu/research-impact/publications/alternative-approaches-information-age-dilemmas-drive-us-and-russian.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-11-11T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-393/318637/kommentar-wird-russland-die-militarisierung-von-information-verhindern-koennen/
Seit 2014 hat die russische Regierung eine Vielzahl von Maßnahmen zur Kontrolle des Internets eingeführt. So sollen die russischen Bürger nur Zugang zu "richtiger" Information bekommen. Gleichzeitig soll die internationale Gemeinschaft über Russland
[ "Militarisierung", "Information", "Informationssicherheit", "Internet", "USA", "Russland" ]
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Bayernpartei | Parteien in Deutschland | bpb.de
Ein Wahlplakat der Bayernpartei aus dem Jahr 2013 in München. (© picture-alliance) Die "Bayernpartei" (BP) wurde 1946 als sezessionistische Regionalpartei gegründet. Bei der Bundestagswahl im Jahr 1949 errang die Partei ihren größten Erfolg (20,9 Prozent der Stimmen in Bayern, 4,2 Prozent bundesweit); dank der nur landesweit gültigen Fünfprozenthürde war sie mit 17 Mandaten im ersten Bundestag vertreten, was ihr danach nie wieder gelang. Im Bayerischen Landtag war sie dagegen von 1950 bis 1966 durchgängig repräsentiert, verlor jedoch stetig Wähler und Mitglieder an die CSU. Von 1954 bis 1957 war sie an einer Landesregierung mit SPD, FDP und BHE beteiligt. Zwischen 1962 und 1966 ging sie dagegen mit der CSU eine Koalition ein, obwohl diese selbst über die absolute Mehrheit der Mandate verfügte. Anschließend verpasste die BP es jedoch bei allen Wahlen, erneut in den Bayerischen Landtag einzuziehen: 1966 erhielt sie 3,4 Prozent der Stimmen, seitdem bewegt sich die Wählerschaft bei allen Wahlen zwischen 0,1 und 1,7 Prozent der bayerischen Stimmen, lediglich bei der Landtagswahl 2013 konnte sie sich auf 2,1 Prozent steigern. Den stärksten Rückhalt genießt die BP traditionell in den südöstlichen Regionen Nieder- und Oberbayerns. Programmatischer Schwerpunkt der Partei ist heute ein "gemäßigter" Regionalismus. So wird die Unabhängigkeit Bayerns auch weiterhin als Kernziel der BP formuliert, soll aber auf Grundlage eines Referendums zu "gegebener Zeit" umgesetzt werden. Bis dahin sieht es die Partei als ihre Aufgabe an zu verhindern, dass Bayern zu "einer von der Zentralmacht verwalteten Provinz" herabsinkt. Dazu sollen u.a. die föderale Aufgabenteilung zugunsten der Länder gestärkt und die Sozialversicherungen regionalisiert werden. Für den Freistaat fordert die BP die Einführung eines gewählten Staatspräsidenten sowie die Direktwahl des Ministerpräsidenten. In anderen Politikfeldern wie der Familien- und Bildungspolitik zeigt sie ein weitgehend konservatives Weltbild. Außenpolitisch strebt die Partei ein "Europa der Regionen" und einen Euro-Austritt an. Ein Wahlplakat der Bayernpartei aus dem Jahr 2013 in München. (© picture-alliance) Quellen / Literatur Kranenpohl, Uwe, Bayernpartei (BP), in: Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, 3., erw. u. akt. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 185-188. Mintzel, Alf, Die Bayernpartei, in: Stöss, Richard (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980 (= Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 38), Bd. 1: AUD bis EFP, Opladen 1983, S. 395-489. Bayernpartei, Weiß-Blaue Grundsätze der Bayernpartei, München 2017. Kranenpohl, Uwe, Bayernpartei (BP), in: Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, 3., erw. u. akt. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 185-188. Mintzel, Alf, Die Bayernpartei, in: Stöss, Richard (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980 (= Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 38), Bd. 1: AUD bis EFP, Opladen 1983, S. 395-489. Bayernpartei, Weiß-Blaue Grundsätze der Bayernpartei, München 2017.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-02T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-11-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/500845/bayernpartei/
Die BP wurde 1946 als sezessionistische Regionalpartei gegründet. Sie war mit 17 Mandaten im ersten Bundestag vertreten.
[ "Bayernpartei", "Regionalismus", "Eigenständigkeit" ]
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Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit | Nach dem Ende der Sowjetunion | bpb.de
Einleitung Vor 20 Jahren verschwand die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) von den Landkarten. Eduard Schewardnadse, ihr letzter Außenminister, erinnert sich: "Es zerbrach das letzte Imperium des 20. Jahrhunderts, die Sowjetunion, dieses blutige, utopische, gegen den Willen Gottes und die Gesetze der Natur entstandene Reich." Ganz plötzlich tauchten neue Staaten auf. Ihre "Mutter", die Sowjetunion, war über lange Zeit so abgeschottet gewesen, dass für viele vor dem Eisernen Vorhang die Sowjetunion einfach "russisch" war. Die Vielfalt des riesigen Vielvölkerreiches, die sich bei dessen Zerfall 1991 Bahn brach, wurde erst langsam sichtbar. Die Sowjetunion zerfiel in ihre Einzelteile. Kam dieser Zerfall für viele überraschend und plötzlich, so war doch die Lähmung des Regimes seit Beginn der 1980er Jahre unübersehbar gewesen. Das innenpolitische Klima hatte sich durch die Unterdrückung von Regimegegnern verhärtet, Reformversuche waren steckengeblieben, außenpolitisch stemmte sich die Großmacht gegen jede Veränderung, und ökonomisch lag sie am Boden. Der Rüstungswettlauf mit den USA bedeutete für die Volkswirtschaft eine Anstrengung, der sie nicht mehr gewachsen war. Die Reforminitiative mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung), eingeleitet durch Michail Gorbatschow, konnte das Ende der Sowjetunion nicht mehr aufhalten. Im Gegenteil, Gorbatschow wirkte letztendlich als Wegbereiter der Auflösung der Sowjetunion. 1987 verwarf er die Breschnew-Doktrin und erklärte bei einem Besuch in Prag, dass das gesamte Rahmenwerk der politischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten auf Unabhängigkeit basieren müsse. Jede Nation solle ihren Weg selbst wählen und über ihr Schicksal, ihr Territorium und ihre Ressourcen selbst bestimmen können. Nicht nur in den Staaten des Warschauer Paktes horchte man auf, auch in den verschiedenen Sowjetrepubliken. Die baltischen Staaten waren die ersten, die sich von der Sowjetunion lossagten. Am 11. März 1990 erklärten Litauen, am 20. und 21. August 1991 Estland und Lettland ihre Unabhängigkeit. Dabei hatten die baltischen Sowjetrepubliken immer den Ruf genossen, etwas Besonderes zu sein. In den Zwischenkriegsjahren zu Nationalstaaten geworden, wurden sie 1940 wieder ihrer Selbstständigkeit beraubt. In der Sowjetunion galten sie als potentieller Unruheherd, was durch die Ansiedlung einer russischen Minderheit und mit Massendeportationen bekämpft wurde. Ihre Kultur wurde zurückgedrängt und ihre Geschichte neu interpretiert, doch ist es vor allem die Interpretation ihrer Vergangenheit, auf die sich ihr Anspruch stützt, zu Europa zu gehören und dorthin zurückzukehren. Bereits 1989 nutzten sie den wind of change in Form von Gorbatschows Perestroika, um den gesamten Verbund der UdSSR in Frage zu stellen. Obwohl die Sowjetunion die Unabhängigkeit der baltischen Staaten am 6. September 1991 anerkannte, befürchteten die Litauer, Letten und Esten, dass ihre Unabhängigkeit nicht von langer Dauer sein könnte. Deshalb drängten die drei Staaten schon in den 1990er Jahren in Richtung NATO und Europäische Union (EU), denen sie 2004 schließlich beitraten. Als einzige Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich die baltischen Staaten in den Westen, seine ökonomischen und politischen Institutionen sowie seine Sicherheitsstrukturen integriert. Im Verlauf des Jahres 1991 folgten die Unabhängigkeitserklärungen Georgiens, Weißrusslands, der Ukraine, Moldaus, Kirgistans, Usbekistans, Tadschikistans und Armeniens sowie schließlich Aserbaidschans und Turkmenistans und zuletzt, am 16. Dezember 1991, Kasachstans. Viele dieser Staaten können auf keine Erfahrungen mit eigener Staatlichkeit zurückblicken. Losgelöst von der Sowjetunion, die durch die Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) am 21. Dezember 1991 offiziell aufhörte zu existieren, waren die alten Strukturen zerrissen, aber noch keine neuen geschaffen. Die Transformation zu Marktwirtschaft und Demokratie, aber auch die nationale Identitätsbildung stellen bis heute große Herausforderungen dar. Anders die Russische SFSR (Sozialistische Föderative Sowjetrepublik): Sie erklärte formal ihre Souveränität, nicht aber die Unabhängigkeit. Russland wurde Rechtsnachfolger der Sowjetunion bei den Vereinten Nationen, einschließlich des Sicherheitsrates. Auch Russland strebte die Transformation an. Unter Präsident Boris Jelzin schaffte es Russland nach 1991 aber nicht, Anschluss an den zügiger verlaufenden Demokratisierungs- und Transformationsprozess in Osteuropa zu finden. Neue Gemeinsamkeiten? 1991 wurde die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet. Anders als die Sowjetunion ist die GUS ein loser Zusammenschluss ehemaliger Teilrepubliken der UdSSR (ohne die baltischen Staaten). Für Russland war von Beginn an klar, dass mit der GUS "kein Staat" zu machen sei. Wladimir Putin, ein Freund der klaren Aussprache, brachte es auf den Punkt: "Die GUS wurde gebildet, um einen zivilisierten Scheidungsprozess zu ermöglichen. Alles andere ist Beiwerk." Ihre Erlässe und Verträge sind oft Papiertiger geblieben, Mitglieder werden immer wieder abtrünnig. Putins und auch Dmitri Medwedjews Politik zielt auf veränderte Strukturen: Beide wollen die GUS durch ein Geflecht neuer politischer und wirtschaftlicher Beziehungen ersetzen, bei denen Russland eine zentrale Position einnimmt und versucht, einzelne Staaten stärker an sich zu binden. Beispiele sind die angestrebte Union mit Weißrussland, die 1999 vereinbart wurde, oder die Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland. Putins Idee ist die Gründung einer Eurasischen Union, die alle ehemaligen Sowjetrepubliken mit Ausnahme der baltischen Staaten umfassen soll. Dabei hat er sich einen höheren Grad an Integration als den in der EU zum Ziel gesetzt. Dies sei ein Weg aus der globalen wirtschaftlichen Krise. Zweifel an der Durchführbarkeit dieses Projekts kommen jedoch auf, da viele der potentiellen Mitglieder schlichtweg kein Interesse zeigen. Sicherheitspolitisch überschneiden sich heute die Interessen Russlands und des Westens. Die Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik, die 2009 einsetzte, zeigt, dass man zu einer gemeinsamen, weltweiten Bedrohungsanalyse finden und gemeinsam auf diese Bedrohungen reagieren kann. Der Westen ist auf ein stabiles Russland zur Abwehr islamistischer Gefahren angewiesen und kann aus wirtschaftlichen Gründen auf den großen Markt nicht verzichten. Insofern ist es durchaus vorstellbar, dass sich Europa und Russland in zehn oder 15 Jahren in einer neuen europäischen Partnerschaftsstruktur wiederfinden, welche auch die transatlantischen Beziehungen neu definiert. Trotz des Zerfalls der UdSSR und des Entstehens neuer Bündnisse bleiben Gemeinsamkeiten zwischen den Nachfolgestaaten der UdSSR bestehen. Die gemeinsame Sowjetvergangenheit wirkt in ihren ehemaligen Teilrepubliken nach. Sei es die Erinnerung an die Stalinzeit oder an den Afghanistankrieg, sei es die russische Sprache oder gemeinsame Traditionen: Vieles verbindet noch heute. Die Menschen, die in den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion leben, sind durch Gewohnheiten und Erinnerungen aus den Nischen der Sowjetdiktatur miteinander verbunden geblieben. Von der Ukraine bis nach Kirgistan hört man die gleiche Musik, mag die gleichen Filme, pflegt die gleichen Bräuche und versteht die gleichen Witze. Die gemeinsame Sozialisierung in der Sowjetunion verbindet die Menschen - bis hin zu einer weit verbreiteten Sowjetnostalgie. Obwohl die Zustimmung zur Sowjetunion in Russland am höchsten ist, betrachtet man mittlerweile auch in anderen Nachfolgerepubliken die Sowjetunion mit nostalgischen Gefühlen. Selbst in Litauen, das sich 1990 zuerst und am kraftvollsten von Moskau losgesagt hatte, gaben 2009 über 50 Prozent der Befragten an, "dass es zu Sowjetzeiten mehr Demokratie und ein besseres Gesundheitssystem gab und dass Menschenrechte mehr respektiert wurden als heute". Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Lettland im September 2011 wurde der von ethnischen Russen dominierte Parteienblock "Harmoniezentrum" Wahlsieger. Erstmals wird damit eine dem linken Teil des Spektrums zugerechnete Partei, die noch dazu als pro-russisch gilt, stärkste Kraft. Obwohl der Wahlsieger nicht der Regierung angehören wird, stellt das Wahlergebnis eine deutliche Absage an die politische Elite und deren Politik seit der Finanz- und Wirtschaftskrise dar. Nationale Identitäten Um ein selbständiges Nationalbewusstsein zu begründen und ihre eigene nationale Identität zu legitimieren, griffen manche ehemalige Sowjetrepubliken auf Personen, Volksgruppen oder Reiche zurück, die vormals auf ihrem Staatsgebiet existierten. Ihre neue Unabhängigkeit untermauern sie mit dem Verweis auf eine historische "Goldene Ära". Oftmals stießen die postsowjetischen Republiken auf Schwierigkeiten, an eine frühere Identität anzuknüpfen, da die heutigen Grenzen zumeist auf die Grenzziehungs- und Nationalitätenpolitik der Sowjetunion zurückzuführen sind. Zur Legitimation des neuen Nationalstaates mussten deshalb manchmal fragwürdige historische Rückgriffe vorgenommen oder einfach die nötigen Traditionen erfunden werden. Orte, Symbole und Ereignisse wurden mitunter aus dem historischen Kontext gerissen und in eine nationale Geschichte eingerückt. Doch ohne Rückgriff auf Mythen oder Legenden und ohne Zukunftsvisionen wäre es nicht möglich gewesen, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem neuen Staatsvolk zu schaffen. Für Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion war die Suche nach nationaler Identität und nach dem Konzept eines neuen Staatsverständnisses besonders schwierig. Die Russische Föderation stand nicht nur innenpolitisch und ökonomisch vor enormen Transformationsaufgaben. Geopolitisch musste sich die einstige Weltmacht damit abfinden, diese Rolle auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte verloren zu geben, was bei den Eliten, aber auch bei der Mehrheit der Bevölkerung ein psychologisches Trauma auslöste. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde bereits in der Jelzin-Ara der Ruf nach Rückerlangung verlorener Stärke und Macht laut. Viele haben Boris Jelzin vor allem wegen seines Alkoholkonsums und einiger peinlicher Auftritte im Ausland in Erinnerung. Unter seiner Präsidentschaft schlitterte Russland von einer Krise in die nächste. Vom Westen als Demokrat gefeiert, betrachten die meisten Russen die 1990er Jahre unter Jelzin im Rückblick als eine Zeit, in der sie durch einen De-facto-Staatsbankrott im Jahre 1998 nicht nur ihr Hab und Gut verloren, sondern in der Clanwirtschaft und Oligarchentum entstanden. Jelzins Nachfolger Wladimir Putin schaffte es, Russland zu konsolidieren. Unter ihm wurde das Land wieder zu einem ernst zu nehmenden Akteur auf der Weltbühne. Die Popularität, die Putin in Russland genießt, verdankt er auch geschickten Rückgriffen auf die Sowjetvergangenheit. Als er für die von Jelzin verbannte Nationalhymne der Sowjetzeit 2001 einen neuen Text dichten und sie wieder zur Hymne der Russischen Föderation erheben ließ, waren ihm die meisten Russen zutiefst dankbar. Mit dieser Hymne verbanden sie nicht nur Heimat, sondern auch Größe. Sergej Michalkow, der Textdichter der Sowjethymne, schrieb bereitwillig auch die neuen Verse. Das ideologische Vakuum, das es nach dem Ende der Sowjetunion gab, wird in Russland zunehmend auch von der Russisch-Orthodoxen Kirche ausgefüllt. Der 1990 von der Heiligen Synode zum Patriarchen und damit Kirchenoberhaupt gewählte Alexej II., ein Kirchenmann mit vermuteter KGB-Vergangenheit, wurde trotz dieses Hintergrundes zu einem Symbol der Wiedergeburt der Orthodoxie und des Christentums nach der langen Zeit der inneren Diaspora während des Kommunismus. Kyrill, sein "Außenminister", war nicht nur für die Außenbeziehungen des Patriarchats der Russisch-Orthodoxen Kirche zuständig, er war ihr intellektueller Vordenker. Eine charismatische Persönlichkeit, genauso sehr Machtpolitiker wie Kirchenmann, ist er fest davon überzeugt, dass Russland seine moralische Stärke wiedergewinnen und der Westen, den er mittlerweile eher für schwach hält, die Allianz mit Russland in absehbarer Zukunft brauchen wird. Als Alexej II. im Jahr 2008 starb, wurde Kyrill sein Nachfolger. Überall im Land werden nun die Kirchen restauriert. Das Bild russischer Städte wird heute mehr und mehr von goldenen Kirchenkuppeln geprägt. Kyrill spart nicht an Geld für Kirchen in anderen früheren Sowjetrepubliken, deren Russisch-Orthodoxe Gemeinden seinem Patriarchat unterstehen. An Schulen lässt er den Religionsunterricht wieder einführen. Auf diese Weise wird eine Brücke zum vorrevolutionären Russland geschlagen und die Kontinuität der russischen Nation untermauert. Auf weltlicher Seite dienen historische Figuren wie Alexander Newski, Dmitri Donskoi, Peter der Große und Katharina II. diesem Ziel. Die monströse Skulptur Peters des Großen am Ufer der Moskwa, geschaffen vom georgisch-russischen Bildhauer und Maler Surab Zereteli, hätten die Moskauer wohl nicht als Ausdruck ihrer neuen nationalen Identität akzeptiert. Sie wurden jedoch nicht gefragt. Zereteli war der Lieblingskünstler des ehemaligen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow. Trotz der Symbolkraft Peters des Großen für die russische Geschichtsschreibung kann zumindest dieser Versuch, ein neues Nationalbewusstsein aus Kupfer zu gießen, als gescheitert betrachtet werden. Solche Probleme sind in Weißrussland unbekannt. Dort mussten die sowjetischen Denkmäler erst gar nicht neuen Standbildern weichen. Lenin weist nach wie vor an seinem angestammten Platz, direkt vor dem Regierungssitz, den Weg in die Zukunft. Zunächst gab es nach der Unabhängigkeit Bemühungen, sich bei der nationalen Selbstfindung auf das Großfürstentum Litauen zu berufen, das bis 1791 Teile des heutigen Weißrusslands umfasste. Zwischen 1991 und 1995 führte Weißrussland die Pahonja, das Staatswappen dieses alten Reiches, wieder ein. Doch dann beschloss der autoritäre Präsident Aljeksandr Lukaschenka, keine grundsätzliche Abkehr vom sowjetischen Geschichtsverständnis zuzulassen. Während in den anderen postsowjetischen Staaten die Abgrenzung zur Sowjetzeit betont wird, knüpfte Lukaschenka an die alte Symbolik an. Die in einem Referendum 1995 eingeführte neue Staatsflagge entspricht exakt der Flagge aus der Zeit der Weißrussischen Sowjetrepublik, allein Hammer und Sichel wurden entfernt. Weißrussland ist den meisten Westeuropäern unter dem Etikett "letzte Diktatur Europas" geläufig. Für Lukaschenkas Regime zeichnet sich trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in dem sich die größtenteils immer noch nach planwirtschaftlichen Prinzipien geleitete Wirtschaft derzeit befindet, kein Ende ab. Der Präsident hat es über Jahre hinweg geschafft, Russland und die EU gegeneinander auszuspielen. In der Ukraine schwanken nationalistische Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Historiker seit 1991 zwischen den Extremen. Manche sehen in der Kiewer Rus keinen russischen, sondern einen ukrainischen Staat und beschreiben damit das heutige Russland indirekt als Nachfolger eines ukrainischen Staatsgebildes. Andere wollen generell alles Russische verbannt sehen. 2008 wurde die Forderung erhoben, russische Fernsehkanäle aus den Standardnetzen der Kabelfernsehfirmen zu entfernen; in einem Land, in dem Russisch im Gegensatz zur Staatssprache Ukrainisch als Mutter- oder als Zweitsprache von fast allen Bewohnern gesprochen und verstanden wird, ein absurdes Anliegen. Da die Ukraine kulturell in einen sehr russlandfreundlichen Ost- und einen ukrainischstämmigen, eher europaorientierten Westteil zerrissen ist, konnten sich solch extreme Forderungen nicht durchsetzen. Die Entwicklungen in der Ukraine in den 1990er Jahren standen in Bezug auf Chaos, Clanwirtschaft und der Entstehung eines Oligarchensystems denen in Russland in nichts nach. Allerdings löste sich die Ukraine erst relativ spät von ihrer Sowjetvergangenheit. Die Sowjetverfassung wurde erst 1996 ersetzt. 2004, nach Ende der Ära des Präsidenten Leonid Kutschma, nahm die "Orangene Revolution" ihren Lauf. Der "große Nachbar" Russland wurde durch diese Revolution bis ins Mark getroffen. Viele Russen empfanden damals: Je mehr sich die Ukraine dem Westen zuwendet, desto mehr verliert Russland von seiner Geschichte. Heute weht unter Wiktor Janukowitsch als Präsident wieder ein autoritärerer und pro-russischer Wind. Die Ukraine schwankt weiter zwischen Europa und Russland. Eine Sonderrolle kommt Litauen , Estland und Lettland zu. Fest in die Strukturen der EU integriert, haben die drei baltischen Staaten heute die größten Fortschritte bei der Demokratisierung und der Durchsetzung der Marktwirtschaft erreicht. Seit Ende der 1990er wuchs die Wirtschaft der drei Republiken zusehends. Ein böses Erwachen gab es 2008 im Zuge der weltweit einsetzenden Wirtschaftskrise: Offenbar hatte man lange über seine Verhältnisse gelebt. Für Litauen und vor allem für Lettland führte dies fast zum Staatsbankrott. Auch Estlands Wirtschaft war stark betroffen, doch das Land ist nach wie vor der Musterschüler des Baltikums. Die Esten gelten als "vorbildliches Nordlicht". Nichts machte Estland so berühmt wie seine elektronische Revolution. Das Land wirbt mit dem Logo "e-Estonia" für sich. Der weltweite Siegeszug des Internettelefondienstes Skype begann in Tallinn. Der estnische Staat garantiert den kostenlosen Zugang zum Internet. Die meisten Einwohner erledigen ihre Bankgeschäfte online. Mit einigen Mausklicks bekommt man Einblick in seine Krankendatei. Wer eine Firma gründen will, profitiert von der in Europa einmaligen Digitalisierung des Staates. Das zog ausländische Kapitalgeber an wie kaum anderswo. Seit 2011 kann man in Estland mit dem Euro zahlen. Die Republik Moldau liegt wie die beiden anderen, direkten östlichen Nachbarn der EU, die Ukraine und Weißrussland, im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU. Moldau ist seit der Unabhängigkeit ein gespaltenes Land. Nachdem es 1992 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen moldauischen und transnistrischen Einheiten kam, griff Russland ein. Seitdem sind russische Truppen in Transnistrien stationiert, und Transnistrien ist de facto von Moldau unabhängig, eine Unabhängigkeit, die international nicht anerkannt wird. Dieses Schicksal teilt die Regierung in der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol mit den Regierungen anderer separatistischer Gebiete auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion: Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien. In den Kaukasusrepubliken Georgien , Armenien und Aserbaidschan waren Konflikte und Kriege in den vergangenen Jahren an der Tagesordnung. Sezessionsbewegungen von Abchasien über Südossetien zu Berg-Karabach machen den Südkaukasus zur kompliziertesten Konfliktregion der untergegangenen Sowjetunion. Vor allem in Berg-Karabach brechen alte und zur Zeit der Sowjetunion unterdrückte Konflikte wieder auf. Schon zu Sowjetzeiten hat Armenien für eine Angliederung des hauptsächlich von Armeniern besiedelten Gebietes an die eigene Sowjetrepublik geworben, was jedoch scheiterte. Heute stehen sich Armenien und Aserbaidschan nach wie vor unnachgiebig gegenüber, dem jeweils anderen die Schuld an der Situation zuschiebend. In Berg-Karabach sind armenische Truppen stationiert. Das Gebiet ist von Armeniern bewohnt. Dennoch gehört es weiterhin zu Aserbaidschan. Auch in Georgien kennt man diese Probleme, der Konflikt mit den abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien spitzte sich im August 2008 dermaßen zu, dass er in eine militärische Auseinandersetzung mit Russland mündete. Was das Nationalgefühl angeht, so dreht sich in Georgien alles um den Heiligen Georg, den Schutzpatron des Landes. Seit 2005 zieren fünf sogenannte Georgskreuze die Nationalflagge des südkaukasischen Landes. Die fünf mittelasiatischen Staaten Usbekistan , Kasachstan , Turkmenistan , Kirgistan und Tadschikistan , in denen heute über 63 Millionen Menschen mit über hundert ethnischen Zugehörigkeiten leben, existierten vor Gründung der UdSSR nicht. Mittelasien war in so genannte Khanate, aus Stämmen bestehende Staatsgebilde, aufgeteilt, die zum Großraum Turkestan gehörten. Bei der Aufgliederung der Region in fünf Sowjetrepubliken wurden die einstigen Khanatsgrenzen bewusst unberücksichtigt gelassen und die Völkerschaften vermischt. Ziel war es, regionale Spannungen zu schaffen, um die Völker von Aggressionen gegen die Zentralmacht in Moskau abzuhalten. Heutige ethnische Konflikte liegen in Mittelasien wie auch im Kaukasus unter anderem in dieser Nationalitätenpolitik Stalins begründet, die seine Nachfolger fortsetzten. Viele Länder haben sich mit ihren neuen Nationalideologien übernommen. In Taschkent steht das Denkmal von Amir Timur - im Westen bekannt als Timur Lenk oder Tamerlan -, dem Nationalhelden des neuen Usbekistan, auf demselben Sockel, auf dem zunächst der zaristische Generalgouverneur für Turkestan, Konstantin von Kaufmann, danach Josef Stalin und dann Karl Marx thronten. 1991, als in Usbekistan die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung verschwand, wurden in allen Teilen des Landes Historiker gesucht, die sich mit der Geschichte der Timuridenzeit auskannten. Derer gab es nicht viele. Tamerlan, der Mongolenführer aus dem 14. Jahrhundert, der nun der Nationalheld des neuen Usbekistan ist, hatte nicht zu den Arbeiterhelden der Sowjetgeschichtsschreibung gehört. Auf einem der zentralen Plätze der Hauptstadt Turkmenistans, Aschgabat, stand die 40 Meter hohe Statue des neuen turkmenischen Nationalhelden, des Turkmenbaschi ("Führer der Turkmenen"). Ihr architektonisch zweifelhafter Unterbau ähnelte einer Raketenabschussrampe. Darauf drehte sich ein vergoldeter Mann sonnengottähnlich um die eigene Achse und breitete seine Hände segnend über sein geliebtes Volk. Der Turkmenbaschi war niemand Geringeres als der damals noch lebende turkmenische Präsident Saparmurat Nijasow. Als KP-Chef hatte er das Land schon zu Sowjetzeiten regiert. Mangels anderer verfügbarer turkmenischer Nationalhelden entschied er sich, diesen Platz selbst einzunehmen. Sein Nachfolger, Gurbanguly Berdimuchamedow, seit 2007 an der Macht, beseitigte zwar einige der Auswüchse des Personenkultes, ohne aber das System als solches in Frage zu stellen. In Kirgistan diente der sagenumwobene Volksheld Manas zur Neu-Identifikation. Die persischsprachigen Tadschiken hingegen betrachten sich als arisches Volk und pflegen diesen Kult. Selbst ein "Haus der Arier" ist zu besichtigen. Den größten finanziellen Aufwand zur Stärkung der nationalen Identität seines Landes trieb Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew mit der kompletten Verlegung der Hauptstadt von Alma-Ata in die Steppe im Jahr 1999. Für mehrere Milliarden Dollar wurde die neue Metropole Astana mit futuristischer Architektur zum Zentrum Eurasiens und Mittelpunkt des kasachischen Heimatlandes stilisiert. Clanstrukturen und tiefe Spuren, die die Sowjetherrschaft in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat, prägen zusammen mit neuen, mehr oder weniger stark ausgeprägten marktkapitalistischen Strukturen das Bild in allen Staaten der Region. Die Menschen sind patriotisch, Traditionen spielen im alltäglichen Leben eine große Rolle. Die Bevölkerungen Mittelasiens glauben an starke Führer und Autoritäten, Sippen- und Claninteressen herrschen vor, Meinungsvielfalt und Kompromissfähigkeit werden oft als Zeichen von Schwäche interpretiert. In der mittelasiatischen Region sind die Regierungssysteme autoritärer geprägt als in den übrigen postsowjetischen Staaten. Eine wichtige Ursache der Probleme in Zentralasien liegt in der Vernachlässigung regionaler Kooperationen in solch lebenswichtigen Bereichen wie der Regelung der Wasserverteilung oder der Bekämpfung des Drogenhandels. In einer funktionierenden regionalen Kooperation lägen große Chancen. Durch gemeinsames Handeln könnte sie die politischen und ökonomischen Voraussetzungen für eine spätere Weltmarktöffnung schaffen. Doch die fünf Staaten streben lediglich formal eine stärkere wirtschaftliche Integration an. Zwar sind sie Mitglieder in verschiedenen Integrationsgemeinschaften (GUS, Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit). Eine Politik, die zu einer funktionierenden regionalen Integration führt, ist aber nicht in Sicht, noch immer herrschen Misstrauen und Egoismus vor. Ausblick Die Sowjetunion, einst flächenmäßig das größte Land der Erde, zerfiel Anfang der 1990er Jahre. Die 15 früheren Sozialistischen Sowjetrepubliken, aus denen sich die UdSSR zusammensetzte, wurden selbständig und gingen unterschiedliche Wege. Die baltischen Länder gehören seit 2004 zur EU. Die Russische Föderation hat nach einer Schwächeperiode zu neuer Stärke gefunden. Weißrussland, die Ukraine und Moldau befinden sich im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU. Die südkaukasischen Republiken Armenien, Georgien und Aserbaidschan tragen bis heute ungelöste Territorialkonflikte aus. Die mittelasiatischen Staaten hoffen, durch autoritäre Staatsführung Stabilität in einem muslimischen Umfeld und in unmittelbarer Nahe zu Afghanistan, Pakistan und zum Iran bewahren zu können. Lassen wir in Gedanken weitere 20 Jahre vergehen: Die Geschwindigkeit, mit der sich politische Entwicklungen vollziehen, macht Prognosen nicht einfach. Vieles wird davon abhängen, wie sich der Westen entwickelt. Unsere Beziehungen zum postsowjetischen Raum befinden sich am Scheideweg. Lediglich Estland, Lettland und Litauen sind im Westen verankert. Doch wohin tendieren Russland, Weißrussland, die Ukraine und Moldau, wohin die Staaten des Südkaukasus? Am spannendsten, aber vielleicht auch am risikoreichsten wird die Entwicklung in Mittelasien verlaufen. Werden es die dort Regierenden schaffen, den militanten Islamismus einzudämmen und ihre Staaten Teil der modernen Welt werden zu lassen? Wir wagen eine Vorausschau: Russland, das untrennbar mit der europäischen Kultur und Zivilisation verbunden ist, wird in 20 Jahren zu einem Europäischen Haus gehören, das größer ist als die EU und eigene Strukturen ausgebildet hat. Es wird sich unserem Modell von Freiheit und Demokratie annähern, wenn wir verstehen, dieses Modell zu verteidigen und attraktiv zu gestalten. Weißrussland und die Ukraine würden dann nicht mehr zwischen der EU und Russland hin- und hergerissen sein. Sie hätten eine Zukunft in einem Europa, das keinen ideologisch geprägten Umgang mehr mit Russland pflegt, sondern zu dem Russland wie selbstverständlich dazugehört. Die Republik Moldau könnte eine Sonderrolle spielen und schon früher, etwa durch eine Vereinigung mit dem Nachbar Rumänien, Teil der EU werden. Im Kaukasus dürfte es dagegen eher unruhig bleiben. Zwar werden Georgien, das heute noch mit Russland verfeindet ist, und Armenien vermutlich in die Strukturen des größer werdenden Europäischen Hauses streben, doch genauso gut sind Rückschläge und neue Konflikte möglich. Russische Nordkaukasusprovinzen wie Tschetschenien und Dagestan könnten sich abspalten und die gesamte Region in einen Unruheherd verwandeln. In Mittelasien werden sich die Länder unterschiedlich entwickeln. Kasachstan, das heute schon durch eine Zollunion mit Russland verbunden ist, dürfte sich noch stärker dem großen Nachbarn und damit Europa annähern, was durch den enormen Ressourcenreichtum des Landes für alle Beteiligten gewinnbringend sein dürfte. Weiter südlich könnte die Entwicklung anders aussehen: Die Bindungen an Russland lockern sich, der radikale Islam erstarkt, und der Kampf um Wasserressourcen führt zu Auseinandersetzungen mit den Nachbarländern, die kriegerisch ausgetragen werden. Usbekistan wird möglicherweise islamischer und weniger säkular sein als heute. Ob es dann noch eine stabilisierende Rolle in der Region spielen kann, ist ungewiss. Kirgistan könnte in zwei Teile zerfallen und das persischsprachige Tadschikistan in die Einflusssphäre eines erstarkten Iran geraten, so dass Teile Mittelasiens wieder mit dem Mittleren Osten verschmelzen, zu dem sie vor Jahrhunderten einmal gehörten. Ein solcher Vorausblick gehört natürlich ins Reich der Spekulationen und der politischen Phantasie. Welche Entwicklungen eintreten werden und welche nicht, ist von vielen unwägbaren Faktoren abhängig. Fest steht jedoch, dass es den großen Block der alten Sowjetunion nicht mehr geben wird und von dem sozialistischen Experiment bald nur noch die Alten sprechen werden. Ein Zurück gibt es nicht. Eduard Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss. Begegnungen und Erinnerungen, Duisburg 2007, S. 208. Die Breschnew-Doktrin war Ausdruck des sowjetischen Anspruches auf Vorherrschaft. Sie wurde am 12. November 1968 verkündet und sollte den Einmarsch in die Tschechoslowakei nachträglich rechtfertigen. Die Doktrin besagte, dass die Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages nur begrenzt souverän waren und dass bei einer Gefährdung des Sozialismus in einem Mitgliedstaat die Sowjetunion intervenieren würde. Zit. nach Russland-aktuell vom 26.8.2005, online: www.aktuell.ru/russland/politik/gus-gipfel_kasan_wird_1000_jahre_alt_gus_nicht_2899.html (31.10.2011). Katharina Kloss, Vilnius' Kinder der (N)Ostalgie, Reportage, in: Cafebabel. Das Europamagazin vom 25.6.2009, online: www.cafebabel.de/article/30555/litauen-vilnius-kinder-der-sowjet-nostalgie.html (31.10.2011). Vgl. Andreas Stein, Ukrainische Kulturschaffende fordern radikale Ukrainisierung, in: Ukraine Nachrichten vom 7.5.2008, online: http://ukraine-nachrichten.de/ukrainische-kulturschaffende-fordern-radikale ukrainisierung_435_gesellschaft _nachrichten (31.10.2011). Sascha Rose, Vorbildliches Nordlicht, in: Focus Money, Nr. 25 (2010), online: www.focus.de/finanzen/boerse/estland-vorbildliches-nordlicht_aid_520080.html (31.10.2011). Vgl. http://estonia.eu/about-estonia/economy-a-it/e-estonia.html (31.10.2011). Vgl. Thomas Kunze/Thomas Vogel, Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch 15 frühere Sowjetrepubliken, Berlin 2011, bes. Kapitel 4: "Von der UdSSR zu neuen Bündnissen".
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-07-28T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2023-07-28T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/59638/von-der-sowjetunion-in-die-unabhaengigkeit/
Die Sowjetunion zerfiel Anfang der 1990er Jahre. Die 15 früheren Sozialistischen Sowjetrepubliken, aus denen sich die UdSSR zusammensetzte, wurden selbständig und gingen unterschiedliche Wege.
[ "Sowjetunion" ]
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JA, ein Gesetz gegen Hass im Netz kann helfen | Debatte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) | bpb.de
Dieser Beitrag ist zuerst bei Externer Link: fluter.de erschienen. "Gemeinsam gegen Hass im Netz!" – mit dieser Devise startete Bundesjustizminister Heiko Maas vor zwei Jahren eine Initiative gegen Hate Speech in sozialen Netzwerken. Das war ein wichtiger und richtiger Schritt. Die Politik wollte nicht länger zusehen, wie Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, körperlichen Einschränkungen oder Religion angegriffen werden. Ob in Kommentaren, Bildern oder Videos – im Netz wimmelt es von Inhalten, die Diskriminierung fördern, rechtfertigen oder dazu anstiften. Hate Speech vergiftet nicht nur die Kommunikation im Netz Seit 2015, als besonders viele Asylbewerber nach Deutschland kamen, hat der Hass im Netz stark zugenommen. Verbaler Hass auf Facebook korreliert mit der Anzahl an körperlichen Angriffen auf Flüchtlinge, berichtete die britische Zeitung "The Economist" kürzlich. Verbaler Hass ist zum Teil strafbar, etwa im Falle von Volksverhetzung, Bedrohung oder Beleidigung. Cybermobbing zerstört die Kommunikation im Netz, doch dabei bleibt es oft nicht. Egal ob nun strafbar oder in der Grauzone der Meinungsfreiheit: Hate Speech kann laut Forschung schlimme Folgen haben, psychisch und unter Umständen sogar physisch. Betroffene sollen etwa unter Kopfschmerzen und erhöhtem Blutdruck leiden. Auch Aggressivität, Angstzustände und Suizid sind möglich. Das Schlimmste daran ist: Hate Speech wird ganz gezielt als verbale Waffe eingesetzt. Etwa um Aktivisten einzuschüchtern, um Gleichgesinnte zu finden oder schlichtweg, um Hass und Hetze in der Gesellschaft zu verbreiten. Kritiker sind Sturm gelaufen gegen dieses Gesetz Die Initiative gegen Hass im Netz hat nun das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (kurz: NetzDG) hervorgebracht. Es besagt, dass die großen sozialen Netzwerke – etwa Youtube, Facebook und Twitter – strafbare Inhalte nach Meldung einzelner Nutzer prüfen und gegebenenfalls löschen müssen, offensichtlich Rechtswidriges innerhalb von 24 Stunden, andere zweifelhafte Beiträge innerhalb einer Woche. Andernfalls drohen hohe Geldstrafen. Kritiker sind Sturm gelaufen gegen dieses Gesetz. Sie haben Angst, dass die sozialen Netzwerke nicht ordentlich prüfen und im Zweifel mehr löschen, als sie müssten. Oder dass rechtspopulistische Akteure das Meldesystem missbrauchen, um legale Inhalte von politischen Gegnern löschen zu lassen. Sie kritisieren auch, dass das Gesetz darauf ausgelegt ist, Hassbotschaften zu löschen, aber nicht darauf, die Täter strafrechtlich zu verfolgen. Was ist also das Gute an der Sache? Die sozialen Netzwerke haben das Thema Hass im Netz lange ignoriert. Ordentliche Verfahren, um mit Beschwerden umzugehen, gab es nicht, obwohl Twitter, Facebook und Google sich gegenüber der Bundesregierung selbst dazu verpflichtet hatten. Deshalb überhaupt die staatliche Regelung. Mit dem Gesetzgebungsverfahren hat ein Prozess begonnen, der zu einem Austausch zwischen den Plattformen, Politikern und Betroffenen geführt hat. Der das Problem der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat. Und: der zahlreiche Initiativen ins Leben gerufen hat, die rechtspopulistischen Medienprovokationen Kreatives entgegnen. Dazu gehören auch Netzwerke, in denen Menschen sich im Falle von Angriffen gegenseitig unterstützen: wie zum Beispiel die Facebook-Gruppe #Ichbinhier. Endlich haben Betroffene eine effektive Möglichkeit, sich zu beschweren Das NetzDG ist sicherlich nicht die Lösung, aber immerhin ein Lösungsansatz, der verbessert werden kann. Der Gesetzgeber muss den Rahmen vorgeben, um gegen Hate Speech vorzugehen. Betroffene haben nun eine Adresse, an die sie sich bei Vorfällen wenden können. Denn bisher haben die Plattformbetreiber nur äußerst zögerlich auf Meldungen und Beschwerden reagiert. In seiner jetzigen Fassung übersieht das NetzDG aber etwas Wichtiges: Es sind nicht nur einzelne Nutzer, die Hass und Hetze im Internet verbreiten, sondern auch die Algorithmen. Die Filtermechanismen der sozialen Netzwerke – der Newsfeed bei Facebook oder die Empfehlungen bei Youtube ­– verstärken das, was die einzelnen Nutzer schon kennen und mögen. Die sogenannte Filterblase führt dazu, dass Menschen sich gut informiert fühlen, egal wie unvollständig oder falsch die Informationen sind. Und weil sie sich gut informiert fühlen, sind sie motivierter, ihren Überzeugungen gemäß zu handeln. Die Filterblasen führen also zu einer Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft zu immer mehr Hass und Hetze, an denen das Löschen einzelner Tweets, Posts oder Comments im Zweifelsfall wenig ausrichten kann. Und die den wenigsten bewusst ist. Hier gilt es, Transparenz einzufordern für die Art und Weise, wie die sozialen Netzwerke gesellschaftliche Diskurse beeinflussen. Denn ansonsten droht den Menschen tatsächlich Manipulation und Kontrolle. Sie wissen nur nicht, wer sie da manipuliert und warum.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-07T00:00:00"
"2018-03-16T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/265194/ja-ein-gesetz-gegen-hass-im-netz-kann-helfen/
Es ist richtig, dass die Plattform-Betreiber in die Pflicht genommen werden, findet Julia Krüger.
[ "NetzDG", "Netzwerkdurchsetzungsgesetz", "Hate Speech", "Hass im Netz", "Hassrede" ]
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FREIE WÄHLER | Landtagswahl Schleswig-Holstein 2022 | bpb.de
FREIE WÄHLER (FREIE WÄHLER) Freie Wählervereinigungen spielen in der kommunalen Politik Schleswig-Holsteins seit langem eine wichtige Rolle. Die zur Landtagswahl antretende Partei "Freie Wähler Schleswig-Holstein" (FREIE WÄHLER) wurde 2008 gegründet. Sie ist jedoch nicht als landespolitischer Arm der lokalen Gruppen anzusehen, sondern ist seit 2012 ein Landesverband der "Bundesvereinigung Freie Wähler". In Bayern sind die FREIEN WÄHLER seit 2008 im Landtag vertreten und seit 2018 Teil der Landesregierung. Die Partei wurde außerdem 2021 in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt. Sie erlangte, aufgrund der weggefallenen Fünf-Prozent-Hürde, 2014 ein und 2019 zwei Mandate im Europäischen Parlament. In Schleswig-Holstein verfehlte die Partei 2017 mit 0,6 Prozent der Zweitstimmen den Einzug in den Landtag. Fakten zur Partei Gründungsjahr Landesverband: 2008* Landesvorsitz: Gregor Voht* Mitgliederzahl in Schleswig-Holstein: 160* Wahlergebnis 2017: 0,6 % * nach Angaben der Partei Die FREIEN WÄHLER verstehen sich als eine Alternative zu den etablierten Parteien und beanspruchen, eine "Bürgerbewegung aus der Mitte der Gesellschaft für die Mitte der Gesellschaft" zu sein. Zu ihren Grundsätzen gehören die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, eine bessere Finanzausstattung der Gemeinden und eine größere Bürgerbeteiligung. Für Schleswig-Holstein fordern die FREIEN WÄHLER eine Stärkung der Städte und Gemeinden. Dazu zählen sie eine kurzfristig umzusetzende Digitalisierung der kommunalen Verwaltung und einen Ausbau der digitalen Infrastruktur. Die Partei fordert zusätzliche Stellen in Polizei und Justiz sowie die Beibehaltung der Polizeidienststellen im ländlichen Raum. Der öffentliche Wohnungsbau in Mittel- und Oberzentren soll mit dem Ziel eines Anteils von 30 Prozent Sozialwohnungen weiter gefördert werden. Die FREIEN WÄHLER setzen sich für zusätzliches Lehrpersonal an Schulen und ein Investitionsprogramm für Schulen und Kinderbetreuung ein. Kitas sollen schrittweise beitragsfrei werden. In der Migrationspolitik fordert die Partei einen Schutz der Außengrenzen vor illegaler Einwanderung und eine "hohe Integrationsbereitschaft" bei zugewanderten Personen. Asylverfahren sollen beschleunigt und abgelehnte Bewerberinnen und Bewerber umgehend rückgeführt werden. FREIE WÄHLER (FREIE WÄHLER) Gründungsjahr Landesverband: 2008* Landesvorsitz: Gregor Voht* Mitgliederzahl in Schleswig-Holstein: 160* Wahlergebnis 2017: 0,6 % * nach Angaben der Partei
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-04-21T00:00:00"
"2022-03-23T00:00:00"
"2022-04-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/schleswig-holstein-2022/506535/freie-waehler/
Die FREIEN WÄHLER in Schleswig-Holstein wurden 2008 gegründet. Sie fordern eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, eine bessere Finanzausstattung der Gemeinden und mehr Bürgerbeteiligung.
[ "FREIE WÄHLER (FREIE WÄHLER)", "Landtagswahl Schleswig-Holstein 2022", "Wer steht zur Wahl " ]
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Karriere- und Berufsförderung im Frauenverband | Frauen in Deutschland | bpb.de
Auch heute noch ist es für Frauen nicht selbstverständlich Karriere zu machen. Hochqualifizierte Frauen erreichen in Unternehmen häufig nur die mittlere Managementebene. Neben behindernden Strukturen am Arbeitsplatz und in den Betrieben wirkt sich auch die Gründung einer Familie nachteilig auf den Berufsweg von Frauen aus. Denn nach wie vor wird die Herausforderung Beruf und Familie zu vereinbaren vor allem von Frauen bewältigt. Studien zeigen, dass traditionelle Geschlechterbilder in den Köpfen der männlichen Kollegen und Vorgesetzten, aber auch in den Köpfen der Frauen selbst, den beruflichen Aufstieg ebenfalls erschweren können. Zudem sind häufig männliche 'Normalarbeitsbiographien‘ mit Vollerwerbszeiten und lückenlosen Beschäftigungsverhältnissen Voraussetzung für erfolgreiche Karrieren. Solche Erwerbsbiographien haben Frauen aber nur selten, denn Familienphasen und Kindererziehungszeiten führen zu beruflichen Ausfallzeiten. Frauen können daher oftmals weniger Berufsjahre vorweisen als ihre Kollegen. Um diese Karriere-Hemmnisse zu überwinden, können die Mitgliedschaft und das ehrenamtliche Engagement in einem Frauenverband förderlich sein. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Ergebnisse eines Forschungsprojektes, in dem die karrierefördernden Potenziale von Frauenverbänden untersucht wurden. Dieses Forschungsprojekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und am Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel durchgeführt. In 45 Interviews wurden Frauen aus dreizehn verschiedenen Frauenverbänden nach ihrem Karriereverständnis, den Voraussetzungen, unter denen sie bereit sind, eine Karriere zu machen, und nach dem Nutzen ihres frauenverbandlichen Engagements für den beruflichen Erfolg befragt. Ziel war es herauszufinden, welche Strukturen, Maßnahmen und Verhaltensweisen der Verbände einerseits und der Verbandsmitglieder andererseits sich positiv auf die Karrieren von Frauen auswirken. Im Folgenden werden einige der Ergebnisse dieses Projektes dargestellt. Ein typisch weibliches Karriereverständnis? Allgemein wird Karriere verstanden "als Abfolge von sozialen Positionen oder Stationen im Lebenslauf einer Person". Eng mit diesem Karriereverständnis verbunden sind traditionelle Vorstellungen von sozialem Aufstieg, von Statusgewinn und Erweiterung der Einflussmöglichkeiten und der Verantwortung im Berufsleben. Karrieren finden nicht einfach statt, sondern müssen entworfen, aufgebaut, entwickelt und stabilisiert werden. Das bedeutet, dass Karrieren in Kooperation entstehen und unter bestimmten sozio-historischen, gesellschaftlichen, institutionellen und individuellen Rahmenbedingungen stattfinden. Wie wirken sich die eingangs beschriebenen Erschwernisse für den Karriereweg auf das Karriereverständnis von Frauen aus? Orientieren sich Verbandsfrauen, wenn sie über Karriere sprechen, an dem oben skizzierten traditionellen Verständnis von Karriere? Oder entwickeln sie ein eigenes, auf ihre speziellen Lebensbedingungen zugeschnittenes Karriereverständnis? Kann man eventuell sogar von einem typisch weiblichen Karriereverständnis sprechen? In den Interviews zeigten die befragten Frauen ein distanziertes Verhältnis zum Thema Karriere, da sie Karriere mit Vorstellungen von Position, Macht und Geld verknüpften. Statt von Karriere sprachen sie bevorzugt von Erfolg. Diese Umschreibung des Begriffs ermöglichte es den Frauen, den Bedeutungsrahmen von Karriere zu erweitern und den Gesamtrahmen ihrer Lebensumstände wie Erwerbsleben, Sorge- und Pflegearbeiten sowie ehrenamtliche Arbeiten darunter zu fassen. Die erfolgreiche Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben hatte für die befragten Frauen Priorität. Gelang dies zufriedenstellend, so bezeichneten sich die Interviewpartnerinnen als erfolgreich und nahmen für sich in Anspruch, eine Karriere gemacht zu haben. Von Erfolg und nicht von Karriere zu sprechen, kann eine Strategie sein, um die mit dem Karrierebegriff verbundenen Assoziationen wie etwa ungehemmtes Machtstreben und Rücksichtslosigkeit nicht mit der eigenen Person in Verbindung zu bringen. Welchen Beitrag können Frauenverbände unter diesen speziellen Voraussetzungen zur Karriere- und Berufsförderung von Frauen leisten? Karriere- und Berufsförderung im Frauenverband Berufs- und Karriereförderung findet in Frauenverbänden auf unterschiedliche Art und in unterschiedlicher Intensität statt, abhängig von der jeweiligen Zielgruppe und der thematischen Ausrichtung des Verbandes. Frauenverbände bieten neben direkten Fortbildungsangeboten für ihre Mitglieder auch ein Übungsfeld, um Kompetenzen zu erwerben, die sich positiv auf ihre berufliche Laufbahn auswirken. Neben Angeboten zur Verbesserung der fachlichen und sozialen Kompetenzen lernen Mitglieder im Verband weibliche Vorbilder kennen und werden durch Mentoring-Programme gefördert. Es gibt die Möglichkeit, sich in Lebensphasengruppen mit gleichaltrigen Frauen auszutauschen oder den Dialog über die Generationen hinweg zu führen und von den Erfahrungen der älteren Verbandskolleginnen zu profitieren. Die Studie hat gezeigt, dass aktive Verbandsfrauen ihre kommunikativen Kompetenzen erweitern. Sie lernen Meinungsbildungsprozesse in Gruppen zielführend zu begleiten, in einem Team auftretende Konflikte zu lösen und erwerben durch das Leiten von Arbeitsgruppen oder durch die Übernahme einer führenden Position im Verband Führungskompetenz. Die Lernprozesse steigern somit nach Aussage von Verbandsfrauen ihre Kompetenzen und stärken ihre Persönlichkeit. Diese Art der Kompetenzsteigerung und -erweiterung beschränkt sich nicht nur auf Frauenberufsverbände, sondern findet auch in konfessionellen Verbänden und in Verbänden mit sozialem Auftrag statt. Entscheidend für den berufs- bzw. karrierefördernden Nutzen des frauenverbandlichen Engagements ist demnach weniger die thematische Ausrichtung des Verbandes als vielmehr die Bereitschaft der Frauen, die Angebote ihres Verbandes zu nutzen und sich aktiv an der Verbandsarbeit zu beteiligen. Durch den Austausch im Verband lernen die Frauen auch, dass viele ihrer Schwierigkeiten, Beruf und Familie in Einklang zu bringen, nicht an ihrer persönlichen Situation und in persönlichem Versagen liegen, sondern dass die Gründe dafür auch gesellschaftspolitischer Natur sind. Außerdem kann die Erkenntnis, dass sie Teil einer Gruppe mit identischen oder ähnlichen Erfahrungen sind, entlasten und motivieren. Hervorgehoben werden soll die Situation junger Frauen in den Frauenverbänden. Die Verbände verwenden den Begriff "junge Frau" sehr breit: Sie bezeichnen damit sowohl Frauen, die als Berufsanfängerinnen im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren Mitglied im Verband werden, als auch jene Frauen, die nach der Elternzeit mit Anfang vierzig oder auch später in ihren Beruf zurückkehren oder sich beruflich neu orientieren wollen. Beide Gruppen stehen in puncto Berufs- und Karriereförderung vor ähnlichen Problemen. Somit wird im Zusammenhang mit der Karriereförderung durch Frauenverbände der Begriff der "jungen Frau" nicht am Lebensalter, sondern an der Lebensphase festgemacht. Berufsanfängerinnen fällt es häufig schwer, einen Zugang zur Frauenverbandsarbeit zu finden. Sie haben hohe Erwartungen an die Möglichkeiten der Berufsförderung in den Verbänden. Gleichzeitig haben sie oft nur vage Vorstellungen darüber, wie Verbandsarbeit funktioniert. Häufig müssen sie erst lernen, dass die Mitgliedschaft in einem Frauenverband erst bei aktivem Engagement besonders förderlich für die berufliche Entwicklung sein kann. In vielen Frauenverbänden ist ein starkes Engagement junger Frauen erwünscht und wird entsprechend gefördert. So erhalten junge Frauen durch die Zusammenarbeit mit erfahrenen Frauen in Gremien und Arbeitsgruppen die Möglichkeit, sich zu qualifizieren und zu profilieren. Traditionelle Geschlechterbilder und ihr Einfluss auf die Karrieren von Frauen Karrieren von Frauen können auch durch traditionelle Rollenbilder sowie unhinterfragte Vorstellungen von Weiblichkeit behindert werden. Diese sind nicht nur bei männlichen Kollegen und Vorgesetzten zu finden, sondern auch bei den Frauen selbst. Ideen, Vorstellungen und Zuschreibungen von dem, was "typisch" weiblich ist oder sein soll, verdichten sich zu Rollenbildern. Diese werden zu unbewussten Wissensbeständen und zur Grundlage für die Bewertung des Verhaltens von Frauen und Männern. In der soziologischen Forschung werden diese in jedem Menschen vorhandenen Wissensbestände über das, was typisch weiblich oder auch typisch männlich ist, unter dem Begriff des Geschlechterwissens zusammengefasst. So offenbart beispielsweise die Art und Weise, wie in Frauenverbänden über die dort stattfindenden Konflikte und deren Beilegung gesprochen wird, eine spezifische Form dieses Geschlechterwissens. Deutlich wird dies zum Beispiel, wenn das Verhalten von Frauen im Konfliktfall von Verbandsfrauen als "Zickenalarm" oder "Mimosigkeiten" bezeichnet wird. Frauen bleiben damit bei der Bewertung von weiblicher Kommunikation und weiblichem Konfliktverhalten in überkommenen Rollen- und Verhaltenszuschreibungen stecken und verstellen sich den Blick für die Wahrnehmung von Veränderungen und Neuinterpretationen des Geschlechterwissens. Dabei sind Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit entscheidend für die Arbeit im Frauenverband. Ähnliches gilt auch für die Bewertung des eigenen Karriere- und Berufsweges, wenn Verbandsfrauen erzählen, dass sie ihre Karriere glücklichen Fügungen zu verdanken haben und die eigene Leistung sowie den persönlichen Ehrgeiz und ihre Ambitionen verschweigen. Diese Art der Selbstdarstellung der eigenen Leistung hängt eng mit vorhandenen Weiblichkeitsbildern zusammen. Die Eigenschaften, die mit karriereorientiertem Handeln verbunden sind, z.B. Ehrgeiz, Dominanz, Durchsetzungsfähigkeit und Durchsetzungswillen sowie eine gewisse Aggressivität, werden als "unweiblich" wahrgenommen. Frauen wollen aber nicht unweiblich sein, darum passen sie ihre Schilderungen über ihr Tun den Vorstellungen über das vermeintlich richtige weibliche Verhalten an. Diese Neigung von Frauen, ihre beruflichen Erfolge eher zurückhaltend und abwägend darzustellen, entspricht auch der in anderen Studien nachgewiesenen Neigung von Frauen, ihre Fähigkeiten und Leistungen klein zu reden und zu verzerren: "In Bewerbungssituationen schätzen sich Frauen trotz gleicher Leistung gemessen an objektiven Indikatoren in allen Aufgabenbereichen als deutlich weniger erfolgreich ein als die getesteten Männer" heißt es beispielsweise im Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2011. Eine mögliche Erklärung dafür wird in einem überhöhten Leistungsanspruch der Frauen gesehen, bei dem die Selbstkritik erwartungsgemäß streng ausfällt. "Frauen bewerten sich schon bei ihrer ersten Bewerbung zurückhaltender als ihre männlichen Kommilitonen und dies trotz besserer Studienabschlüsse" heißt es ebenfalls im Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Frauen in Führungspositionen machen – im Gegensatz zu Männern in entsprechenden beruflichen Stellungen, die ihren Erfolg mit einer gradlinigen Karriereplanung begründen – äußere Faktoren für ihren Erfolg verantwortlich. Das heißt, Frauen formulieren ihre beruflichen Wünsche und Ziele anders als Männer. Sie wirken dabei zurückhaltender und passiver, weniger engagiert. Das wirkt sich beruflich hemmend aus, weil sie selbst ihre Fähigkeiten unterschätzen und auch unterschätzt werden. Zum Teil verleugnen sie in der Rückschau ihre Karriereabsichten und machen zufällige Einflüsse für den Erfolg geltend. An dieser Stelle können Frauenverbände durch gezielte Schulungen bewusstseinsbildend und persönlichkeitsstärkend wirken. Sie können sensibilisieren für das Erkennen von Rollenklischees und dazu beitragen, dass Frauen ihre eigene Leistung würdigen und entsprechend nach außen darstellen. Für Bewerbungsgespräche oder auch das Verhalten in gemischtgeschlechtlichen Teams und besonders für den beruflichen Aufstieg ist dies eine wesentliche Voraussetzung. Wenn Frauenverbände daran mitwirken, den Blick ihrer Mitglieder auf ihre Fähigkeiten in der Kommunikation und im Konfliktaustrag zu richten, dann hilft das Frauen, im gemischtgeschlechtlichen Umfeld Konflikte zielführend und sachorientiert zu bewältigen und erfolgsorientiert zu kommunizieren. Es wird deutlich: Das Engagement im Frauenverband unterstützt und fördert die Karriere. Frauenverbände bieten ihren Mitgliedern einen geschützten Raum zum privaten und beruflichen Austausch und tragen in diesem Rahmen durch unterschiedliche Angebote und Arbeitsformen zur fachlichen Fortbildung und zur Stärkung der Persönlichkeit bei. Bleibt die Frage: Ist das Arbeiten in einem reinem Frauenzusammenhang noch zeitgemäß? Die Aussagen der im Rahmen dieser Untersuchung befragten Verbandsfrauen hierzu sind eindeutig. Mehrfach wurden von den interviewten Frauen die Erfahrungen in der Kommunikation mit männlichen Arbeitskollegen im Vergleich zu denen mit Kolleginnen im Verband angesprochen. Gerade für Frauen in von Männern dominierten Arbeitsfeldern stellt der Frauenverband eine Möglichkeit für einen konstruktiven fachlichen Dialog dar. Frauen brauchen für den Umgang mit den geschlechtsspezifischen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt den Austausch mit und die Erfahrung von anderen Frauen. Beim Umgang mit diesen Problemen sehen sich die Frauen im Frauenverband durch verständige und kompetente Beratung durch Frauen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, gut aufgehoben. Im Frauenverband finden Lernprozesse entspannter statt als am Arbeitsplatz. Der Verband bietet ein Übungsfeld, in dem sich Frauen im geschützten Rahmen ausprobieren können. Das Vorhaben "Karriere mit Tradition. Analyse der unterschätzten Potentiale von Frauenverbänden bei der Karriereplanung junger Frauen" wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds der Europäischen Union gefördert (FKZ 01FP10131). Quellen / Literatur Dausien, Bettina: Machen Frauen Karriere? Gedanken zum Diskurs über Geschlecht, Beruf und "Work-Life-Balance“. In: Schlüter, Anne (Hrsg.): Bildungs- und Karrierewege von Frauen. Wissen – Erfahrung – biographisches Lernen. (Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft, Bd. 2). Opladen 2006, S. 54-74. Dölling, Irene: 'Geschlechter-Wissen‘ – ein nützlicher Begriff für die 'verstehende‘ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23, 1+2, S. 44-62. Dreier, Helke/ Löneke, Regina (2014): "Karrieren von Frauen sind Drahtseilakte.“ Frauenverbände als Netzwerke der Karriereförderung. Opladen/ Berlin/ Toronto 2014. Frauen in Führungspositionen. Barrieren und Brücken. Beauftragt und herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Heidelberg 2010. Gleichstellungsbericht: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gutachten der Sachverständigenkommission. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Drucksache 17/6240 vom 16.6.2011). Berlin 2011. Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela: Politiken der Karriere, oder: Heterogene Antworten auf die Frage, wie man den Karren durch den Dreck zieht. In: Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela (Hrsg): Karrierepolitik. Beiträge zur Rekonstruktion erfolgsorientierten Handelns. Opladen 2003, S. 9-26. Nickel, Hildegard Maria: Führung und Macht in Unternehmen. In: Löw, Martina (Hrsg.): Geschlecht und Macht. Analysen zum Spannungsfeld von Arbeit, Bildung und Familie. Wiesbaden 2009, S. 121-141. Seeg, Britta: Frauen und Karriere. Strategien des beruflichen Aufstiegs. Frankfurt/M. 2000. Dausien, Bettina: Machen Frauen Karriere? Gedanken zum Diskurs über Geschlecht, Beruf und "Work-Life-Balance“. In: Schlüter, Anne (Hrsg.): Bildungs- und Karrierewege von Frauen. Wissen – Erfahrung – biographisches Lernen. (Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft, Bd. 2). Opladen 2006, S. 54-74. Dölling, Irene: 'Geschlechter-Wissen‘ – ein nützlicher Begriff für die 'verstehende‘ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23, 1+2, S. 44-62. Dreier, Helke/ Löneke, Regina (2014): "Karrieren von Frauen sind Drahtseilakte.“ Frauenverbände als Netzwerke der Karriereförderung. Opladen/ Berlin/ Toronto 2014. Frauen in Führungspositionen. Barrieren und Brücken. Beauftragt und herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Heidelberg 2010. Gleichstellungsbericht: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gutachten der Sachverständigenkommission. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Drucksache 17/6240 vom 16.6.2011). Berlin 2011. Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela: Politiken der Karriere, oder: Heterogene Antworten auf die Frage, wie man den Karren durch den Dreck zieht. In: Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela (Hrsg): Karrierepolitik. Beiträge zur Rekonstruktion erfolgsorientierten Handelns. Opladen 2003, S. 9-26. Nickel, Hildegard Maria: Führung und Macht in Unternehmen. In: Löw, Martina (Hrsg.): Geschlecht und Macht. Analysen zum Spannungsfeld von Arbeit, Bildung und Familie. Wiesbaden 2009, S. 121-141. Seeg, Britta: Frauen und Karriere. Strategien des beruflichen Aufstiegs. Frankfurt/M. 2000. Frauen in Führungspositionen. Barrieren und Brücken. Beauftragt und herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Heidelberg 2010, S. 8. Nickel, Hildegard Maria: Führung und Macht in Unternehmen. In: Löw, Martina (Hrsg.): Geschlecht und Macht. Analysen zum Spannungsfeld von Arbeit, Bildung und Familie. Wiesbaden 2009, S. 121-141, S. 125. Die Ergebnisse diese Forschungsprojektes finden sich ausführlich in: Dreier, Helke/ Löneke, Regina: "Karrieren von Frauen sind Drahtseilakte.“ Frauenverbände als Netzwerke der Karriereförderung, Opladen/ Berlin/ Toronto 2014. Dausien, Bettina: Machen Frauen Karriere? Gedanken zum Diskurs über Geschlecht, Beruf und "Work-Life-Balance“. In: Schlüter, Anne (Hrsg.): Bildungs- und Karrierewege von Frauen. Wissen – Erfahrung – biographisches Lernen. (Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft, Bd. 2). Opladen 2006, S. 54-74, S. 62. Seeg, Britta: Frauen und Karriere. Strategien des beruflichen Aufstiegs. Frankfurt/M. 2000, S. 12. Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela: Politiken der Karriere, oder: Heterogene Antworten auf die Frage, wie man den Karren durch den Dreck zieht. In: Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela (Hrsg): Karrierepolitik. Beiträge zur Rekonstruktion erfolgsorientierten Handelns. Opladen 2003, S. 9-26, S. 12. Vgl. hierzu ausführlich: Dreier, Helke/ Löneke, Regina: "Karrieren von Frauen sind Drahtseilakte.“ Frauenverbände als Netzwerke der Karriereförderung, Opladen/ Berlin/ Toronto 2014, S. 105-133. Dreier, Helke/ Löneke, Regina: "Karrieren von Frauen sind Drahtseilakte.“ Frauenverbände als Netzwerke der Karriereförderung. Opladen/Berlin/Toronto 2014, S. 71-81. Dölling, Irene: 'Geschlechter-Wissen‘ – ein nützlicher Begriff für die 'verstehende‘ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23, 1+2, S. 44-62. Dreier, Helke/ Löneke, Regina: "Karrieren von Frauen sind Drahtseilakte.“ Frauenverbände als Netzwerke der Karriereförderung. Opladen/ Berlin/ Toronto 2014, S. 139-150. Gleichstellungsbericht: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gutachten der Sachverständigenkommission. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Drucksache 17/6240 vom 16.6.2011). Berlin 2011, S. 129. Gleichstellungsbericht: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gutachten der Sachverständigenkommission. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Drucksache 17/6240 vom 16.6.2011). Berlin 2011, S. 129. Seeg, Britta: Frauen und Karriere. Strategien des beruflichen Aufstiegs. Frankfurt/M. 2000, S. 81.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-21T00:00:00"
"2014-07-02T00:00:00"
"2021-12-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/frauen-in-deutschland/187498/karriere-und-berufsfoerderung-im-frauenverband/
Vernetzung, Unterstützung und Beratung sind für eine erfolgreiche Karriere unentbehrlich. Welche Rolle spielen Frauenverbände bei der Karriereförderung junger Frauen? Welche Potenziale haben diese Organisationen und wie werden sie genutzt?
[ "Frauenverband", "Frauenverbände", "Karriereförderung", "Berufsförderung", "Gleichberechtigung" ]
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Übergang in Altersrente bei Frauen in Ost- und West-deutschland | Datenreport 2021 | bpb.de
Frauen der Geburtsjahrgänge 1941 bis 1951 hatten die Möglichkeit, ab 60 die sogenannte Altersrente für Frauen zu beziehen und damit auch ohne vorangehende Arbeitslosigkeit früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Die Frühverrentung war daher für Frauen, wenn sie ab dem 40. Lebensjahr überwiegend erwerbstätig waren, hinsichtlich der rechtlichen Möglichkeiten leichter zugänglich als für Männer. Für die Geburtsjahrgänge ab 1952 wurde diese Rentenart abgeschafft (siehe Interner Link: Abbildung 4). In Westdeutschland zeigt sich im Geburtsjahrgang 1941 eine Zweiteilung. Fast die Hälfte der Frauen nahm eine Rente in Anspruch, die längere Versicherungszeiten erfordert, davon der größte Teil die Altersrente für Frauen. Die andere Hälfte (44 %) konnte dagegen nur eine späte Regelaltersrente beantragen. Die Rente für schwerbehinderte Menschen spielte mit einer Inanspruchnahme von 5 % eine geringe Rolle. Im Vergleich der Geburtskohorten bis 1951 stieg der Anteil der Frauen, die nur die Voraussetzungen für die späteste Rentenart erfüllen, sogar noch an und erreichte beim Jahrgang 1946 mehr als die Hälfte (52 %), um dann wieder leicht abzunehmen. Mit der Ausweitung der Kindererziehungszeiten wurde die Schwelle für die Wartezeit von fünf Jahren für die Regelaltersrente von noch mehr westdeutschen Frauen erfüllt, sodass es in den erstmals beschiedenen Renten mehr Fälle von Frauen gab, die in ihrem gesamten Leben sehr wenig oder gar nicht erwerbstätig waren. Deshalb gibt es einen stabilen Anteil von Frauen, die ausschließlich die Regelaltersrente in Anspruch nehmen können. Auf der anderen Seite konnte beinahe jede vierte Frau in Westdeutschland (24 %) im Geburtsjahrgang 1952 eine Versicherungsbiografie von 45 oder mehr Jahren nachweisen und damit die Rente für besonders langjährig Versicherte beziehen. In Ostdeutschland wurde die frühe Verrentungsmöglichkeit durch die Altersrente für Frauen im Geburtsjahrgang 1941 von fast allen Frauen (89 %) in Anspruch genommen. Nur jeweils etwa 5 % nahmen in diesem Jahrgang die Rente für schwerbehinderte Menschen oder die Regelaltersrente in Anspruch. Für die nachfolgenden Jahrgänge ist die Altersrente für Frauen mit mehr Abschlägen berechnet worden und wurde damit zunehmend unattraktiver. Damit stieg der Anteil von Frauen, die eine Rente für langjährig Versicherte anstreben, die ihnen nach 35 Versicherungsjahren zur Verfügung steht. Zugleich erhöhte sich auch der Anteil von Frauen, die die Regelaltersgrenze als späteste Option wählen, auf etwa ein Fünftel. Mit der Einführung der Rente für besonders langjährig Versicherte wird auch erkennbar, wie viele Frauen in Ostdeutschland 45 Versicherungsjahre und mehr aufweisen können. Mit der Abschaffung der Altersrente für Frauen wird dem Geburtsjahrgang 1952 die früheste Altersrente genommen. In der Folge stieg der Anteil der Frauen, die nach 45 und mehr Versicherungsjahren als besonders langjährig Versicherte ohne Abzüge in Rente gehen, auf über ein Drittel. Ein weiteres Drittel der Frauen dieses Jahrgangs konnte 35 Versicherungsjahre für die Rente für langjährig Versicherte vorweisen. Durch die Reformen wurde im Ergebnis erreicht, dass vor allem Frauen des Geburtsjahrgangs 1952 in Ostdeutschland länger auf die Altersrente warten, aber auch seltener Abzüge für vorzeitige Rente in Kauf nehmen mussten.
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Tatjana Mika, Tino Krickl
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/soziale-sicherung-und-uebergaenge-in-den-ruhestand/330179/uebergang-in-altersrente-bei-frauen-in-ost-und-west-deutschland/
Frauen der Geburtsjahrgänge 1941 bis 1951 hatten die Möglichkeit, ab 60 die sogenannte Altersrente für Frauen zu beziehen und damit auch ohne vorangehende Arbeitslosigkeit früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.
[ "Datenreport", "soziale Sicherung", "Rentenalter", "Rentenhöhen", "Renteneintritt", "Renteneintrittsalter", "Rentenentwicklung", "Erwerbsbiografie", "Altersrente für Frauen" ]
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Lügen im Netz: Sich davor schützen und andere aufklären | Digitale Desinformation | bpb.de
Ja. Jeder kann etwas dazu beitragen, dass die Situation eine Spur besser wird und es Fälscher damit insgesamt etwas schwerer haben. Der erste Schritt ist, selbst ein möglichst gutes Radar für dubiose Behauptungen zu entwickeln – um nicht auf Täuschungen hereinzufallen und um andere im Freundeskreis rasch zu warnen. Zweitens können wir geschickter werden im Kontern mit Aufklärung und mit der Betonung dessen, was richtig ist und was falsch. Misstrauen Sie Fotos Fälscher arbeiten häufig mit Bildern, weil diese authentisch anmuten. Fotos werden einerseits retuschiert, andererseits werden auch alte Aufnahmen verwendet und in einen neuen, verzerrten Kontext gestellt: Seit Jahren kursiert zum Beispiel zu Weihnachten ein Video auf sozialen Medien, bei dem dunkelhäutige Kinder auf einem Weihnachtsbaum herumklettern. Dazu wird behauptet, das Video zeige ein Hamburger Einkaufszentrum, und junge Muslime hätten keinen Respekt für das Christentum. Doch diese Aufnahme wurde aus dem Kontext gerissen: Sie ist schon relativ alt und zeigt nicht Hamburg. Das Video wurde in einem Shopping-Zentrum in Kairo aufgezeichnet, wo Kinder tatsächlich einmal auf den Christbaum kletterten – ein eher harmloser Vorfall. Die Security-Bediensteten holten die Kids wieder vom Baum herunter, weil man natürlich auch in Kairo nicht einfach auf die Deko des Shoppingcenters klettern darf. Dieses Video wird jedes Jahr zu Weihnachten erneut hochgeladen und als Beleg umgedeutet, wie sehr das Christentum angeblich in Gefahr sei. Gerade bei solchen – auf den ersten Blick – wütend machenden Aufnahmen sollte man vorsichtig sein. Simpler Trick: Die Authentizität von Bildern kann man häufig überprüfen – Bildersuchmaschinen zeigen einem an, ob eine Aufnahme schon früher im Web hochgeladen wurde. Unter der Adresse Externer Link: images.google.com lässt sich jedes Foto hochladen und darauf überprüfen, ob es bereits im Web zu finden ist. Wurde eine Aufnahme schon vor fünf Jahren geteilt, dann kann sie nicht der Fotobeleg für einen Vorfall gestern sein – hier wurde altes Videomaterial entwendet. Auch manipulierte Bilder lassen sich mitunter entlarven: Vergleicht man das Originalbild mit der neuen Version, sieht man die Unterschiede, also welche Details retuschiert wurden. Wird man bei Google nicht fündig, empfiehlt sich auch die Bilder-Suchmaschine TinEye (Externer Link: tineye.com), die manchmal andere Treffer liefert. Suchmaschinen können natürlich nicht jede Bild-Manipulation auflären, aber sie sind doch ein hilfreiches Tool. Denn Fälscher sind oft überraschend faul und nehmen einfach das erstbeste Bild aus dem Netz. Misstrauen Sie der Optik Unseriöse Seiten schauen oft überraschend "normal" aus. Es ist extrem günstig geworden, eine seriös wirkende Webseite zu starten (unabhängig von der Frage, ob die Inhalte dort seriös sind). Für 100 Euro im Jahr kann man den nötigen Webspace, eine vertrauenswürdig klingende Internetadresse und ein schickes Design für die eigene Seite kaufen. Auf den ersten Blick schaut so ein Webauftritt dann sogar ähnlich wie ein professioneller Nachrichtenanbieter aus – und davon lassen sich Nutzer immer wieder täuschen. Wenn man eine Webseite nicht kennt, sollte man sich also fragen: Moment, wer betreibt denn diese Seite? Simpler Trick: Innerhalb der EU muss jede Seite ein Impressum haben – und dort den Namen der Betreiber und eine Adresse angeben. Bietet eine deutschsprachige Webseite kein richtiges Impressum, ist dies ein absolutes Warnsignal. Auch lohnt es sich, ins Impressum oder den Punkt "Über uns" zu schauen, weil einige Seiten dort erklären, dass alles nur "Satire" oder ein "Witz" sei. Wird man aus dem Impressum nicht schlau oder fehlt dieses, empfiehlt sich auch folgendes: Googeln Sie den Namen der Ihnen unbekannten Seite. Hat ein Onlineportal bereits einen Ruf als Desinformationsschleuder, dann werden Sie in der Google-Suche oft auch warnende Artikel oder Faktenchecks finden. Ich empfehle generell: Teilen Sie keine Inhalte von Seiten, die Sie nicht kennen und deren Vertrauenswürdigkeit Sie nicht einschätzen können. Hinter einer seriös wirkenden Optik kann viel Unsinn stecken. Misstrauen Sie Ihrer Emotion Falschmeldungen funktionieren über Gefühle: Viele irreführende Behauptungen lösen gezielt Wut aus oder bestätigen die eigenen Feindbilder, sodass Menschen den Impuls spüren, prompt die Meldung mit ihren Bekannten zu teilen – weil man sich furchtbar ärgert oder weil man sich so bestätigt fühlt. Im Affekt vergisst man die zentrale Frage: Stimmt die Behauptung wirklich? Simpler Trick: Achten Sie auf Ihre Emotion. Wenn eine Meldung Sie total in Wut versetzt oder Ihnen aus der Seele spricht, sollten Sie prompt vorsichtig werden und schauen, ob diese Behauptung von einer seriösen Seite kommt. Denn gerade Fälscher formulieren Nachrichten so, dass sie uns emotional bestätigen – ein starker emotionaler Impuls ist ein Warnsignal. Nicht alles, was brisant anmutet, ist falsch. Aber die Realität ist oft deutlich langweiliger als eine Falschmeldung. Natürlich will nicht jeder Internetnutzer selbst zum Detektiv werden und skandalös klingenden Aussagen hinterherrecherchieren – die gute Nachricht ist: muss man auch nicht. Besonders weit verbreitete Gerüchte wurden oft schon von Faktencheckern überprüft – im deutschsprachigen Raum liefern Seiten wie Externer Link: Mimikama.at, Externer Link: faktenfinder.tagesschau.de oder Externer Link: Correctiv.org Aufklärung. Googeln Sie einfach eine falsche Behauptung und schreiben Sie dazu das Wort "Faktencheck" oder "Fake", also zum Beispiel "weihnachtsbaum hamburg muslime faktencheck". Sie werden dann oft als ersten Treffer die Ergebnisse eines Faktenchecks angezeigt bekommen. Unter Externer Link: hoaxsearch.com bietet das Aufklärungsportal Mimikama auch eine Suchmaske für alle getätigten Faktenchecks. Man muss nicht alles selbst recherchieren – oft hilft es bereits, zu wissen, wo man nachschauen kann. Andersdenkende aufklären? Selbst keine Falschmeldungen zu verbreiten, ist ein guter erster Schritt. Will man aber zur Aufklärung beitragen, stellt sich die Frage: Wie überzeuge ich Menschen davon, dass eine Behauptung gar nicht stimmt? Nur weil richtige Information erhältlich ist, heißt dies nicht, dass Menschen daran glauben. Gerade bei gesellschaftlich polarisierenden politischen Themen ist es ungemein schwerer, Andersdenkende argumentativ zu erreichen. Das Kernproblem beim Diskutieren im Netz ist, dass dieses häufig in einer feindlichen Atmosphäre stattfindet: Treffen Andersdenkende auf Facebook oder in Zeitungsforen aufeinander, dann oft um sich gegenseitig auszurichten, wie falsch der andere die Welt sieht. Doch wenn politische Debatten eher einem Schlagabtausch als einem respektvollen Gespräch entsprechen, wird logischerweise wenig Aufgeschlossenheit für die andere Sichtweise und deren Argumente existieren. Meine Empfehlung: Diskutieren Sie lieber in jenen Gruppen oder auf jenen Seiten, wo es zwar unterschiedliche Meinungen, aber auch Grundregeln im Austausch gibt – etwa, dass Beleidigungen nicht stehen bleiben dürfen. Wenig überraschend polarisiert das Posten von Beleidigungen und trägt dazu bei, dass sich die Kluft zwischen Andersdenkenden vergrößert. Doch es gibt Szenarien, in denen Fakten eine größere Chance haben. Hier ein paar Tipps: Liefern Sie Erklärungen Die Korrektur einer Falschmeldung ist effizienter, wenn Menschen die Hintergründe verstehen. Bürger merken sich eine Information eher, wenn sie ihnen schlüssig erscheint. Nehmen wir die Behauptung, die deutsche Bundesregierung würde mit Nachtflügen Flüchtlinge ins Land "schleusen". Es ist wenig effizient, einfach zu sagen: "Nein, diese Behauptung ist falsch". Stärker wirkt es, wenn man tatsächlich erklärt, was vorgefallen ist. Zum Beispiel kann man den Sachverhalt folgendermaßen erklären: "Es stimmt, dass im Sommer sogenannte Nachtflüge aus der Türkei kommen – nur hat das speziell mit Urlaubenden zu tun. Menschen wollen möglichst lang am Ferienort sein und nehmen deswegen Flüge, bei denen sie in der Nacht fliegen und viel Zeit im Urlaubsland verbringen können." Indem ich Ihnen diese Erklärung liefere, erhöhe ich die Chance, dass Sie die Information in Erinnerung behalten: Wir Menschen sind keine Computer, die Daten stur abspeichern, wir merken uns eine Information eher, wenn sie für uns nachvollziehbar ist. Zitieren Sie Quellen, der die konkrete Person vertraut Ein Problem in polarisierten Debatten ist, dass ein Teil der Bürger selbst seriöse Quellen nicht akzeptieren will – dann heißt es schlimmstenfalls, der "Spiegel" sei die "Lügenpresse", und der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei "gleichgeschaltet". Wenn Bürger so verfestigte Ansichten vertreten, gibt es einen argumentativen Umweg: Womöglich findet sich eine Quelle, die die richtige Information verbreitet hat, die aber trotzdem Ansehen bei dieser Person genießt. Zum Beispiel kann es sogar sein, dass Prominente eine aufklärende Rolle spielen, wenn sie reale Probleme ansprechen und gleichzeitig hohes Vertrauen genießen. Auch ist es effizienter, bei Menschen eher jene Personen oder Medien zu zitieren, die in ihrem Umfeld Anerkennung genießen. Noch mal zum Beispiel der Nachtflüge: Auch das rechte Medium "Junge Freiheit" hat dieses Gerücht von den Nachtflügen nachrecherchiert – und kam zum Schluss: "Es ist nichts dran an dieser Story." Ein Bürger, der ohnehin die "Junge Freiheit" abonniert, wird dieser Quelle eher glauben als jenen Blättern, denen er "Gutmenschentum" unterstellt. Je mehr man schließlich als Bürgerin und Bürger auch die Mechanismen der großen Plattformen versteht, desto mehr kann man darauf achten, mit dem eigenen Klick-, Link-, und Like- Verhalten nicht ausgerechnet den unseriösen Akteuren zu helfen. Und wenn Sie im Gegenzug sehen, dass gerade ein wichtiger Faktencheck zu einer ärgerlichen Falschmeldung erscheint: Liken Sie das doch, kommentieren Sie es oder verlinken Sie die Info. Natürlich können wir alle einen Beitrag dazu leisten, dass seriöse und richtige Information sichtbarer wird – und die Fälscher und Provokateure es eine Spur schwerer haben. Bearbeiteter Auszug aus: Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik uns manipulieren. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage Copyright © 2018 Ingrid Brodnig/Brandstätter Verlag. Vgl. Nyhan, Brendan/Reifler, Jason: Displacing Misinformation about Events: An Experimental Test of Causal Corrections. In: Journal of Experimental Political Science, Nr. 1/ 2015, S. 81-93. Stein, Dieter: Die Legende der Nachtflüge. In: Junge Freiheit, Nr. 34/2016, S. 2.
Article
Ingrid Brodnig
"2022-02-09T00:00:00"
"2019-05-02T00:00:00"
"2022-02-09T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/290492/luegen-im-netz-sich-davor-schuetzen-und-andere-aufklaeren/
Als Internetnutzer fühlt man sich womöglich ohnmächtig. Was soll man als Einzelner schon gegen die Flut an Desinformation ausrichten? Können Bürger da überhaupt etwas tun?
[ "Digitale Desinformation", "Fake News", "Europa" ]
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Von Brussig bis Brecht | Geschichte und Erinnerung | bpb.de
In zahlreichen Filmen setzte man sich nach der deutschen Wiedervereinigung mit der DDR und Ihrer Geschichte auseinander. Unter anderem in dem preisgekrönten Film "Good bye Lenin" aus dem Jahr 2003. (© X Verleih AG / www.good-bye-lenin.de) Die DDR hinterlässt im neuen deutschen Kino noch immer deutliche Spuren. In Tom Tykwers Thriller "The International" (2009), dem Eröffnungsfilm der jüngsten Berlinale, zieht beispielsweise ein ehemaliger Offizier der Staatssicherheit, gespielt von Armin Mueller-Stahl, die Fäden: Im Auftrag einer global agierenden, an den Kriegen der Welt bestens verdienenden Großbank schafft er Konkurrenten aus dem Weg und kümmert sich darum, dass Interpol weitgehend im Dunkeln tappt. Dass sich der einstige DDR-Kundschafter schließlich zum Besseren wandelt, als ihm ins Gewissen geredet wird, entspricht einer Dramaturgie, wie sie seit Florian Henckel von Donnersmarcks Welterfolg "Das Leben der Anderen" (2005) möglich geworden ist: Auch da war ein Stasi-Offizier vom Saulus zum Paulus mutiert. Die DDR-Vergangenheit prägt ein Familiendrama wie "Novemberkind" (Regie: Christian Schwochow), mit einer jungen Frau als Hauptfigur, die erfahren muss, dass sie Jahrzehnte lang über das Schicksal ihrer Eltern belogen wurde. Tiefe Wunden aus DDR-Zeiten sind auch in "Maria am Wasser" (Regie: Thomas Wendrich) präsent, einem symbolbefrachteten Drama um Schuld und Sühne: Die sächsische Elblandschaft dient hier als Hintergrund für die Aufdeckung eines lange verschwiegenen Unglücksfalls und der daraus entstandenen Lebenslügen. – Die Farce zu den Tragödien liefert "Barfuß bis zum Hals" (Regie: Hansjörg Thurn), in dem die Freunde der in der DDR heftig gepflegten ostdeutschen Freikörperkultur einem Münchner Textilfabrikanten Paroli bieten. – Zeitgleich mit diesen Uraufführungen annonciert eine Hamburger Produktionsfirma den Drehstart für eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte namens "Liebe Mauer", in der sich eine junge Westfrau in einen DDR-Grenzsoldaten verliebt. Regie führt Peter Timm, der einst wegen systemkritischen Denkens aus der DDR ausgewiesen worden war, mit "Go Trabi Go" (1991) einen veritablen Lustspiel-Erfolg verbuchen konnte und mit "Der Zimmerspringbrunnen" (2001) eine amüsante, leider viel zu wenig gesehene Komödie über den mentalen Zustand vieler Ostdeutscher nach zehn Jahren Einheit vorlegte. – Nicht zuletzt bemüht sich Robert Thalheim ("Netto") derzeit um einen Stoff, in dem er von zwei DDR-Schwestern erzählt, die im ungarischen Sommerurlaub über eine Flucht in die Bundesrepublik nachdenken. Das Erbe der DDR im Kino Actionfilm, Lustspiel, Drama, psychologischer Krimi, Agenten-, Liebes- und Heimatfilm – das Erbe der DDR taugt nahezu für alle Kinogenres. Es scheint, als ob das neue deutsche Kino einer Anregung des Autors Thomas Brussig folgt, der dafür plädiert, das verschwundene Halbland für die Leinwand nicht so zu erzählen, "wie es wirklich war", sondern die Besonderheiten, Einmaligkeiten und Absurditäten der DDR als Anlass für pralle Genrefilme zu nutzen. Kino, so Brussig, sei weniger für eine differenzierte, historisch gerechte Sicht zuständig als für Tränen des Lachens und des Weinens. Das Erzählen für die große Leinwand würde erst schön durch Dramatisierungen, Zuspitzungen, Verkürzungen und Verfälschungen. "Die DDR ist ein Geschenk, das uns die Geschichte gemacht hat, und das die Filmemacher mit Stil annehmen sollten", wie Brussig in einer öffentlichen Diskussion im Januar 2008 in Berlin postulierte. Der Autor selbst hatte mit "Sonnenallee" (1999, Regie: Leander Haußmann) gezeigt, wie er sich seine Theorie in der Praxis vorstellte: ein Film, den er als "Meilenstein der Fiktionalisierung" verstanden wissen will. "Sonnenallee" war vom ersten Entwurf an als Pubertätsmärchen aus dem Streichelzoo der DDR-Sozialisation angelegt, ein Film, "bei dem Westler neidisch werden, dass sie nicht in der DDR leben durften" (Brussig). Die Rechnung ging auf, weil das Team einen Sinn für den kultigen, aberwitzigen und albernen Umgang mit dem Thema bewies und damit auch gestalterisch Neuland betrat. Sprach "Sonnenallee" als nostalgischer Rückblick auf eine weit entfernte, im Licht der Erinnerung golden glänzende Jugendzeit ein gesamtdeutsches Publikum an, so war Wolfgang Beckers "Good bye, Lenin!" (2003) ein Film über das Abschiednehmen und die damit verbundenen Schmerzen. Hier wurden die Umbrüche in der Endzeit der DDR zum Anlass genommen, das weit größere Thema des Loslassens von einer überlebten Vergangenheit aufzufächern. DDR im deutschen Genrefilm und in Hollywoodproduktionen Brussigs These, die DDR fände "entweder im Genrekino statt oder gar nicht mehr", trifft auf neue deutsche Spielfilme fast hundertprozentig zu. Spannende Ansätze zur radikalen Fiktionalisierung von DDR-Geschichte hatte es aber auch bereits in einigen Nach-Wende-Arbeiten der DEFA gegeben. Jörg Foths Clownsspiel "Letztes aus der DaDaeR" (1990) geriet zum bilderbogenhaften Kabarettfilm, der heute als Zeitdokument aufregender ist als im Jahr seiner Uraufführung. Das trifft ebenso auf Herwig Kippings zornige Farce "Das Land hinter dem Regenbogen" (1991), Heiner Carows Melodram "Verfehlung" (1991) oder Ulrich Weiߑ surrealistische Parabel "Miraculi" (1992) zu, die sich nicht an einer historischen Authentizität festklammerten, sondern ihren Zorn und ihre Trauer in gleichnishaften Bildern verdichteten. Die metaphernreiche Bildsprache und der hohe künstlerische Anspruch, mit dem das geschah, ließen das Publikum eher verstört zurück. Neuere deutsche Genrefilme sind dagegen sehr viel weniger sperrig, geben dem Kino, was das Kino braucht und scheuen auch nicht vor einer gewissen Anpassung an die Unterhaltungsgewohnheiten eines breiten Zuschauerkreises zurück. Von Hollywood, wo noch immer Filmstoffe über die DDR, zum Beispiel über den Protestsänger Dean Reed und über die von ihrem eigenen Mann bespitzelte Vera Wollenberger herumgeistern, wird man eine streng authentische Rekonstruktion der tatsächlichen Verhältnisse noch weniger erwarten können als von deutschen Spielfilmregisseuren. Der Wollenberger-Stoff, so ist zu vermuten, gerät in den USA zur tränenträchtigen Allegorie über Angst und Verrat. Stasi, Mauer und Schießbefehl, die oft als prägende Konstanten auch in deutschen DDR-Aufarbeitungsfilmen zur Geltung kommen, vor allem in starbestückten TV-Melodramen wie "Die Frau vom Checkpoint Charlie" (2007) oder der verniedlichenden Komödie "Heimweh nach drüben" (2007), dürften hier zur Hochform auflaufen. Wer US-amerikanische Produktionen über das Leben in der DDR kennt, von Alfred Hitchcocks "Der zerrissene Vorhang" (1965) bis Delbert Manns "Mit dem Wind nach Westen" (1981), weiß um die Unbekümmertheit, mit der satte Klischeebilder vom Land hinter dem Eisernen Vorhang ans Publikum gebracht wurden. Andererseits behaupteten solche amerikanischen Filme aber auch nie, eine "absolute Authentizität" anzustreben und das Leben in der DDR "realistisch" auszuforschen. Genrekino verträgt sich eben nicht mit diesem vom Spielfilm sowieso nur schwer einzulösenden Anspruch. Die Reaktionen vor allem ostdeutscher Intellektueller auf "Das Leben der Anderen" oder Dominik Grafs "Der Rote Kakadu" (2005) bewiesen das nachdrücklich: Weil die Regisseure diese Authentizität und diesen Realismus für ihre Filme in Anspruch nahmen, die Filme tatsächlich aber atmosphärisch und sachlich ungenau waren, verlief ihre Aufnahme höchst zwiespältig. Dort allerdings, wo DDR-Realität und Abbild nicht verglichen werden konnten, weil die Realität einfach nicht genügend bekannt war, zum Beispiel in Hollywood, funktionierte "Das Leben der Anderen" prächtig. DDR im Dokumentarfilm Das Authentische mag sowieso eher dem Dokumentarfilm vorbehalten sein. Aber auch da gibt es gravierende Unterschiede. Im Fernsehen dominieren die immer gleichen Kommentare zu den immer gleichen Bildern aus der DDR, wobei ein Klischee das andere erschlägt. Um ihre Zuschauer dennoch bei der Stange zu halten, geben die Redaktionen die absonderlichsten Themen in Auftrag: "Pornografie made in GDR", "Lotte Ulbricht privat", "Weststars im Osten" oder "Wo der Osten Urlaub machte". Dagegen sind im Kino hin und wieder Arbeiten zu besichtigen, die aus diesem Wust des oberflächlichen, auf Spekulation und Sensation zielenden Erinnerns herausragen. Zum Beispiel ist schon jetzt absehbar, dass Thomas Heises auf der Berlinale 2009 uraufgeführtes, 166 Minuten langes Essay "Material" zu diesen Ausnahmefilmen zählen wird. Heise verknüpft Bilder, die er "rechts und links der Filme" zwischen 1988 und 2008 gedreht hat, bislang unveröffentlichte Szenen, Marginalien zum eigenen Œuvre und zur Zeitgeschichte, die sich, gebündelt, zu einer philosophischen Reflexion über deutsche Brüche und Umbrüche verdichten. Dabei werden die Sequenzen nicht, wie im Fernsehen meist üblich, zu einer flott geschnittenen, leicht bekömmlichen, möglichst unterhaltsamen Melange verrührt; im Gegenteil: Heise lässt sich Zeit, entfaltet Situationen und Atmosphären, stülpt Vergessenes, Verdrängtes oder nie Gewusstes nach oben. Die störrische Besessenheit, mit der Regisseur Fritz Marquardt am Berliner Ensemble bei der Inszenierung von Heiner Müllers "Germania Tod in Berlin" (1988) um ein einziges Wort ringt. Die gespannte Nervosität von Rednern, Fotografen oder Zuhörern am 4. November 1989, als auf dem Alexanderplatz die erste große freie Demonstration des DDR-Volkes stattfindet. Die Politbürogrößen, die von einer Sondertagung des SED-Zentralkomitees zu ihren draußen frierenden Genossen eilen und damals noch als Reformer bejubelt werden. Wärter und Gefangene des Zuchthauses Brandenburg, die im Dezember 1989 so offen wie nie zuvor und vermutlich auch nie danach über ihre Arbeit und ihre Lebensbedingungen sprechen. Ein Abgeordneter der Volkskammer, der sich in den letzten Tagen der DDR vor versammeltem Plenum als Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit outet und ausführlich die Gründe für diese Mitarbeit darlegt. In solchen Passagen wird Geschichte nicht auf das schnelle, bequeme Schwarz und Weiß, das "Hosianna!" und "Kreuziget ihn!" reduziert; vielmehr eröffnet sich ein Universum der Vernetzungen und Verstrickungen, und der Zuschauer bekommt eine Ahnung davon, wie weit das Feld zwischen Unschuld und Schuld, Anpassung und Widerstand, politischer Identifikation und systemkritischer Ablehnung sein kann. Nicht zuletzt erweist sich Thomas Heises "Material" als eine Beschwörung jenes Gefühls von Freiheit, das in der DDR zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 für ein paar Wochen von einem utopischen Traum zur greifbaren Realität geworden zu sein schien. Fast am Ende seines Films dokumentiert Heise dann aber auch den Schritt von der Freiheit ins Chaos: Er beobachtet die Uraufführung seines Films "Stau" (1992) in Halle, die Zerstörung des Kinos durch linke Autonome, den Angriff von rechten Randalierern, die Verstörung und Angst der "bürgerlichen Mitte", die dem Krawall hilflos gegenübersteht. Dieses "Material" ist kein leicht zu fassender Stoff, zumal Heise sich jede verbale Kommentierung und Erklärung, jede zeitlichen Einordnung etwa durch Zwischentitel versagt. Die Zuschauer sollen sich durch Sehen ihre Erklärungen selber suchen: Gedankenarbeit im Brechtschen Sinne. Großes, dialektisches Kino. In zahlreichen Filmen setzte man sich nach der deutschen Wiedervereinigung mit der DDR und Ihrer Geschichte auseinander. Unter anderem in dem preisgekrönten Film "Good bye Lenin" aus dem Jahr 2003. (© X Verleih AG / www.good-bye-lenin.de)
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Ralf Schenk
"2022-01-29T00:00:00"
"2011-11-12T00:00:00"
"2022-01-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/erinnerung/geschichte-und-erinnerung/39833/von-brussig-bis-brecht/
Tom Tykwers Eröffnungsfilm auf der Berlinale "The International", "Novemberkind" oder "Das Leben der Anderen": Die DDR hinterlässt im neuen deutschen Kino noch immer deutliche Spuren. Ob Actionfilm, Drama, Krimi, Agenten-, Liebes- und Heimatfilm - da
[ "Geschichte", "Erinnerung", "DDR", "Film", "Kino", "Hollywood" ]
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Europa braucht einen neuen Traum - Essay | Europawahl 2014 | bpb.de
Es war einmal ein europäischer Traum. Der handelte davon, wie aus Feinden Nachbarn werden. Nachbarn, die sich vielleicht nicht unbedingt mögen, Nachbarn, die sich auch streiten, missverstehen, wechselseitig ihre Stereotype pflegen, aber eben Nachbarn und nicht Feinde. Dieser Traum ist paradoxerweise in seiner Erfüllung verblasst. Es ergibt für viele offenbar keinen Sinn mehr, vom Frieden zu träumen, wenn ein Krieg in Europa nahezu undenkbar geworden ist. Heute erleben viele Menschen die Europäische Union als Albtraum – als den Albtraum der Arbeitslosigkeit, des Abstiegs, der Armut, des Verlustes von Würde, Gerechtigkeit, Identität und Demokratie. Ist es möglich, dass die Entfremdung der Menschen von der EU gefährlicher für die EU ist als die Euro-Krise? Ja, das ist möglich. Ist es möglich, dass die skandalöse Jugendarbeitslosigkeit für Europa gefährlicher ist als die Euro-Krise? Ja, das ist möglich. Ist es möglich, dass die neuen Gräben zwischen Nord und Süd, zwischen Gläubigern und Schuldnern, zwischen Euro-Ländern und Nicht-Euro-Ländern gefährlicher für die EU sind, als die Euro-Krise selbst? Ja, auch das ist möglich. Ist es möglich, dass der europäische Traum – Freiheit, Demokratie, Weltoffenheit – in den überfüllten Flüchtlingsbooten im Mittelmeer und von den Menschen, die auf den Straßen Istanbuls, Kairos, Moskaus, Rio de Janeiros und Tokios protestieren, geträumt wird, aber nicht in der EU selbst? Ein Traum, den gerade die auf den Straßen für ihre Zukunft in der EU protestierenden Ukrainerinnen und Ukrainer noch zu träumen verstehen, und den sie leider wohl weiter träumen müssen. Ihre Botschaft an uns alle ist: Europa ist mehr als eine Währung, mehr als ein Fiskalpakt. Europa ist eine Hoffnung, die nicht enttäuscht werden darf! Aber wenn all dies möglich ist, dann muss – um Himmels willen – doch endlich etwas geschehen! Aber was? Europa muss die Kraft des Träumens zurückgewinnen. Diese Kraft des Träumens könnte, in gesellschaftliche und politische Formen gegossen, ein contrat social für Europa werden. Meine Frage lautet: Welche politische Gestalt muss ein Europa annehmen, das sich von einem Albtraum wieder zum Traum verwandelt? Europa im fremden Blick In der bisherigen Betrachtungsweise bleibt zumeist (und das meine ich durchaus selbstkritisch) die Frage ausgeklammert: Welchen Einfluss haben und hatten Prozesse der Entkolonialisierung auf die Herausbildung der Europäischen Union und ihre Entwicklung? Denn auch hier sind es die Siege des modernen, industriellen Kapitalismus und deren Nebenfolgen – globale Risiken, Krisen und geopolitische Verschiebungen speziell seit 1989 –, welche die Grundlagen der nationalstaatlichen Ordnungen innerhalb und außerhalb Europas infrage stellen. Aus der Perspektive der sich entwickelnden Länder betrachtet, zeigt sich gegenwärtig allerdings ein etwas anderes Bild Europas. Es ist gekennzeichnet durch eine Machtverschiebung zugunsten der postkolonialen, sich entwickelnden Länder (die sich beispielsweise auch in ihrer Teilnahme an den neuen G20-Zusammenkünften niederschlägt) und eine Verschiebung des Schwerpunkts der weltökonomischen Machtgeografie vom Atlantik zum Pazifik, verbunden mit der schleichenden Entmonopolisierung des US-Dollars als globale Leitwährung zugunsten einer Bündelung verschiedener Währungen und bilateraler Währungsabkommen. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung der Süd-Süd- und Ost-Süd-Kooperation zur Lösung wirtschaftlicher Probleme und nicht zuletzt der Verlust an moralischer Autorität und Vorbildlichkeit des ehemaligen US-amerikanisch-europäischen Zentrums. Die Konsequenz daraus ist: Das alte, westlich dominierte Zentrum-Peripherie-Modell droht zu kippen. In Zukunft dreht es sich nicht mehr primär um das Verhältnis von Postkolonialismus und Europa. Vielmehr stellt sich die Frage: Inwieweit beginnt eine Art "Prä-Kolonialisierung" des Ex-Zentrums Europa durch seine Ex-Kolonien, insbesondere China und Indien? China jedenfalls mischt sich gegenwärtig immer stärker in die Belange Europas ein – ironischerweise jedoch keineswegs nur zu dessen Nachteil, sondern im Gegenteil auch zur Stützung des Euro und damit der Europäischen Union – und zwar durchaus aus eigenem Interesse. China, selbst im Besitz immenser Euro-Reserven, hat zunächst Griechenland mit einem Kredit über 3,6 Milliarden Euro und dem Kauf von Staatsanleihen geholfen und inzwischen auch Spanien ähnliche Hilfe zugesagt. All das verschiebt das globale Machtgefüge immens. Kosmopolitisierung als Forschungsprogramm Die neuen Tatsachen der postkolonialen Kosmopolitisierung Europas können überhaupt nur dann in den Fokus geraten, wenn die Borniertheit des weiterhin herrschenden methodologischen Nationalismus durchbrochen wird. Methodologischer Nationalismus geht davon aus, dass Nation, Staat und Gesellschaft "natürliche" soziale und politische Formen der modernen Welt seien. Er nimmt eine "natürliche" Aufteilung der Menschheit in eine begrenzte Zahl von Nationen an, die sich im Innern als Nationalstaaten organisieren und nach außen von anderen Nationalstaaten abgrenzen. Er geht sogar noch weiter und stellt diese äußere Begrenzung im Zusammenhang mit der Konkurrenz zwischen Nationalstaaten als Zentralkategorie politischer Organisation dar. Tatsächlich ist das ganze bisherige soziologische Denken, ja sogar die soziologische Imagination, Gefangener des Nationalstaats. Und ebendieser methodologische Nationalismus hindert die Sozialwissenschaften daran, den Prozess der Kosmopolitisierung im Allgemeinen und der Europäisierung im Besonderen überhaupt ins Blickfeld der Analyse zu rücken. Wo soziale Akteure diesem Glauben anhängen, spreche ich von einer "nationalen Perspektive", wo er die Sicht sozialwissenschaftlicher Beobachter bestimmt, von "methodologischem Nationalismus". Und methodologischer Nationalismus ist kein Oberflächenproblem oder Schönheitsfehler. Er betrifft sowohl die Verfahren der Datenerhebung und -produktion als auch Grundbegriffe der modernen Soziologie und politischen Wissenschaft wie "Gesellschaft", "soziale Ungleichheit", "Klassen", "Familien", "Erwerbsarbeit", "Religion", "Staat", "Demokratie" und "imagined communities". Eine Schlüsselfrage, die demgegenüber der methodologische Kosmopolitismus aufwirft, lautet: Wie können Untersuchungseinheiten jenseits des methodologischen Nationalismus gefunden und festgelegt werden, die es erlauben, die komplexen Prozesse und (Inter-)Dependenzen der Kosmopolitisierung zu erfassen und vergleichend zu analysieren? Worauf kann man die sozialwissenschaftliche Analyse beziehen, wenn man sie einerseits aus dem "Container" des Nationalstaats befreien, andererseits aber nicht in abstrakten Konzepten der "Weltgesellschaft" Zuflucht suchen will? Die empirische Forschung in so unterschiedlichen Fächern wie der Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Geografie oder Politikwissenschaft hat in den vergangenen Jahren eine große Zahl von Konzepten entwickelt, die alle das Ziel haben, die vermeintlich natürliche Gleichsetzung von Gesellschaft, Nation und Staat aufzubrechen. Paul Gilroys Konzept des "Black Atlantic", Saskia Sassens Identifizierung der "global city", Arjun Appadurais Auffassung von "scapes", Martin Albrows Konzept des "global age" und meine eigene Analyse des "kosmopolitischen Europas" sind nur einige Beispiele für diese Forschungsrichtung. Für den methodologischen Kosmopolitismus von besonderer Bedeutung ist die Frage nach dem Stellenwert des Nationalen und des Nationalstaats bei der Bestimmung von Untersuchungseinheiten. Die methodologisch radikalste Möglichkeit besteht darin, die nationale Rahmung der Untersuchungseinheit durch andere Blickwinkel zu ersetzen ("replacing the national"). Wenn man den methodologischen Kosmopolitismus jedoch darauf beschränkte, würde man seine Reichweite und seine Anwendungsmöglichkeiten unzulässig eingrenzen. Denn die empirische Globalisierungsforschung hat längst gezeigt, dass der Nationalstaat auch im Zeitalter der Globalisierung nicht gänzlich verschwindet, sondern im Gegenteil aufgewertet wird. Das zeigen exemplarisch die globalen Finanzrisiken, die das institutionelle Instrumentarium der EU entwertet haben. Die EU ist zur "lahmen Ente" geworden, der nur im Zuge neuer europäischer Initiativen der nationalen Regierungen, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, neue Flügel wachsen könnten. Insofern ist es sinnvoll, auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Nationalstaat machtvoll weiter besteht, aber seine erkenntnistheoretische Monopolstellung verliert. Die methodologische Konsequenz bestünde dann darin, neue Untersuchungseinheiten zu finden, in denen das Nationale zwar enthalten ist, die aber nicht mehr deckungsgleich sind mit dem Nationalen. Diese Einbettung des Nationalen in Prozesse der Kosmopolitisierung kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Entsprechend vielfältig sind die neuen Untersuchungseinheiten, die in dieser Variante des methodologischen Kosmopolitismus entwickelt wurden. Ein Beispiel dafür ist das Konzept der "transnationalen Politikregime". Es bezieht sich auf neue Formen der transnationalen Institutionenbildung, die sich im Zusammenhang mit einer Reihe globaler Regelungsprobleme wie dem Klimawandel, dem Internet oder der Besteuerung global agierender Unternehmen herausgebildet haben. Diese Institutionen organisieren transnationale Interaktionen, deren Grenzen nicht durch nationale Hoheitsrechte definiert werden, sondern durch ein spezifisches Regulationsproblem. Sie integrieren auf diese Weise verschiedene und extrem variable Gruppen von Akteuren (öffentliche und private) und erstrecken sich über verschiedene territoriale Ebenen. Für eine empirische Analyse transnationaler Politik sind diese Politikregime vielfach die angemessenste Untersuchungseinheit. Entscheidend ist hier, dass diese neuen Institutionen den Nationalstaat nicht ersetzen, sondern ihn vielmehr integrieren. Die Nationalstaaten sind in neue transnationale Regulationssysteme eingebettet, und eine der wichtigsten Aufgaben empirischer Forschung ist die Analyse der spezifischen Bedeutung, die sie im Rahmen dieser Institutionen – der politischen Institutionen, der Wirtschaft, der Eliten, der Regierungen, des Rechts – annehmen. Was aber bedeutet Europa eigentlich für jede(n) individuell? Und welche Prinzipien für einen möglichen Gesellschaftsvertrag für Europa lassen sich daraus entwickeln? Einen Ansatz für eine denkbare Antwort auf diese Frage kann man bei Jean-Jacques Rousseau finden, in seinem vor etwas über 250 Jahren erschienenen "Contrat social". Darin hat Rousseau in einem bis heute faszinierenden Entwurf dargelegt, wie die Menschen, wenn sie den Naturzustand (l’état de nature) überwinden, durch einen Gesellschaftsvertrag (contrat social) zu Freiheit und Identität in der Gemeinschaft finden könnten. Am Anfang des 21. Jahrhunderts geht es nicht mehr darum, den Naturzustand, sondern den Nationalzustand zu überwinden. An Rousseaus Idee anknüpfend und sie weiterentwickelnd, werde ich im Folgenden meine These "Europa braucht einen neuen Traum – einen contrat social" in vier Schritten entfalten. Erstens: Mehr Freiheit durch ein kosmopolitisches Europa Europa ist keine Nationalgesellschaft und kann auch keine Nationalgesellschaft werden, da es aus demokratisch verfassten Nationalgesellschaften besteht. Und in diesem nationalstaatlichen Sinne ist Europa dann auch keine Gesellschaft. Die europäische "Gesellschaft" muss vielmehr als "post-nationale Gesellschaft der Nationalgesellschaften" begriffen werden. Die Aufgabe, die sich damit stellt, lautet: Finde eine Form des europäischen Zusammenschlusses, die mit ihrer gemeinschaftlichen Kraft jedes Individuum in jeder nationalen Gesellschaft rechtlich schützt und gleichzeitig jeden, indem er oder sie sich mit Individuen anderer Sprachen und politischer Kulturen zusammentut, bereichert und freier macht als zuvor. Der französische Soziologe Vincenzo Cicchelli hat über die junge Generation Europas geforscht, was sie eint, was sie trennt – und woran sie sich in diesen unsicheren Zeiten orientieren kann. In seiner Studie wird deutlich, warum Europa, verstanden als gesellschaftlicher Erfahrungsraum, für die junge Generation ein Mehr an Freiheit und an Reichtum bedeutet: "Überall in Europa wird der Jugend bewusst, dass die Kultur ihres Heimatlandes sicherlich wichtig und konstituierend für ihre Identität ist, aber nicht ausreicht, um die Welt zu begreifen. Die Jugendlichen wollen die anderen Kulturen kennenlernen, denn sie ahnen, dass die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Fragen mit der Globalisierung eng zusammenhängen. Deshalb müssen sie sich an der Andersartigkeit reiben, am kulturellen Pluralismus. Das ist ein langer Lernprozess, über touristische, humanitäre und Studienreisen, aber auch, indem man sich zuhause für kulturelle Erzeugnisse der anderen interessiert, Kino, Fernsehserien, Romane, Kochkunst, Kleidung." Die junge Generation erfährt demnach die europäische Gesellschaft als "doppelte Souveränität": als Summe nationaler und europäischer Entfaltungschancen. Die Jugendlichen beschreiben ihre Identität nicht, wie oft erwartet wird, als eigenständige europäische Identität. Niemand ist nur Europäer. Die jungen Europäer definieren sich zunächst über ihre Nationalität und dann als Europäer. Europa ohne Grenzen und mit einer gemeinsamen Währung bietet ihnen Mobilitätschancen, wie es sie nie zuvor gegeben hat, und dies in einem sozialen Raum mit enormem kulturellen Reichtum, mit einer Vielzahl von Sprachen, Geschichten, Museen, Essenskulturen und vielem mehr. In der Studie von Cicchelli wird allerdings auch sichtbar, wie diese europäische Erfahrung im Gefolge der gegenwärtigen Krise brüchig wird. Zunehmend wird die wechselseitige Anerkennung unterlaufen durch die Wiederkehr alter Rivalitäten und Vorurteile, beispielsweise zwischen dem Süden und dem Norden Europas. Auffallend ist allerdings auch, dass die Welt der Brüsseler Institutionen für die junge Generation weit weg, abstrakt und undurchschaubar ist. Ihre Erfahrung ist ein Europa minus Brüssel. "Das Problem ist nicht das Fehlen von europäischem Gefühl, sondern die Tatsache, dass es mindestens zwei davon gibt. Es gibt das gute Gefühl jener übergroßen Mehrheit, die keine der großen europäischen Freiheiten mehr missen möchte. Und es gibt das ungute Gefühl oft derselben Menschen, dass da fern in Brüssel ein Paralleluniversum existiert, das dem eigenen Leben entrückt ist." Warum kommt diese Erfahrung eines gelebten Europas der Individuen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Euro- und Europa-Krise so gut wie gar nicht vor? Das liegt vor allem daran, dass die europäische Integration in der Politik, aber auch in der Forschung zumeist eindimensional und institutionenorientiert gedacht wird: Das Zusammenwachsen Europas wird als Prozess begriffen, der vertikal, das heißt – von oben nach unten – zwischen europäischen Institutionen und nationalen Gesellschaften stattfindet. Wie die Studie Cicchellis zeigt, bleibt diese institutionelle Seite und Sicht sogar für die europaerfahrene "Erasmus-Generation" undurchsichtig und fremd. Ihr gelebtes Europa verweist auf eine zweite, horizontale Dimension, die in der konventionellen Politik und Europaforschung ausgeblendet bleibt. Das Vergessen der europäischen Gesellschaft der Individuen ist also damit zu erklären, dass ebenjenes gelebte Europa in der Institutionenperspektive der vertikalen Integration nicht auftaucht, während umgekehrt die vertikale Integration im Erfahrungshorizont der einzelnen Menschen nicht präsent ist. Hier wird zugleich deutlich, was den europäisch geprägten Gesellschaftsbegriff ausmacht – im Gegensatz zum nationalstaatlich geprägten: Auch wenn die Jugendlichen sich als Angehörige einer bestimmten Nation fühlen, als Polen, Franzosen oder Schweden, so ist ihr Lebensgefühl doch wesentlich bestimmt von den kosmopolitischen Freiheiten, sich selbstverständlich und ohne Hindernisse über Grenzen hinweg zu bewegen, von einem Land in ein anderes. In diesem Sinne erfahren die Jugendlichen ein kosmopolitisches Europa, in dem sich die nationalen Unterschiede und Gegensätze mischen und verwischen: mehr Freiheit durch ein kosmopolitisches Europa. Zweitens: Mehr Sicherheit durch ein soziales Europa Die europäische Gesellschaft der Individuen ist zugleich geprägt vom Risikokapitalismus, der einerseits geltende moralische Milieus, Zugehörigkeiten und soziale Sicherheiten auflöst, andererseits neue Risiken erzeugt. Die Menschen müssten das Gefühl bekommen, dass nicht alle Risiken der Welt, vor allem auch die der vom Bankrott bedrohten Banken und Staaten, auf ihren Schultern abgeladen werden, sondern dass es etwas gibt, das den Namen "Europäische Gemeinschaft" verdient, weil es in diesen unruhigen Zeiten die Erneuerung sozialer Sicherheit zum Programm erhebt und garantiert. Der verheißungsvolle Begriff "Europäische Gemeinschaft" stünde dann nicht nur für gelebte Freiheit und Risikomaximierung, nicht nur für ein kulinarisches, sondern für ein soziales Europa: mehr soziale Sicherheit durch ein anderes Europa. Die Finanzkrise, die ja nicht die einzelnen Bürgerinnen und Bürger, sondern die Banken ausgelöst haben, und die Antwort der Sparpolitik stehen in den Augen vieler Europäer für eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit: Für irrsinnige Summen, welche die Banken verpulvert haben, müssen am Ende sie, die Bürger, oft die armen Bürger, mit der baren Münze ihrer Existenz bezahlen. Die Kraft des europäischen Traumes müsste den Spieß umdrehen: Nicht bailout für die Banken, sondern ein "sozialer Rettungsschirm" für das Europa der Individuen – das könnte in den Augen der Menschen der europäischen Idee die Kraft verleihen, nämlich Europa glaubwürdiger, gerechter, wichtig für das eigene Leben zu machen. Insofern ist Ralf Dahrendorfs Prognose vom "Ende des sozialdemokratischen Zeitalters" veraltet. Im Gegenteil: Gerade jetzt und in Europa entscheidet sich, ob es mit der Mobilisierungskraft globaler Risiken gelingt, den Traum der sozialen und ökologischen Demokratie aus dem Dornröschenschlaf der wohlfahrtsstaatlichen Routinen zu wecken, ins Europäische hinein zu öffnen und zu einer Vision zu formen, für deren Verwirklichung sich viele Einzelne vieler Nationen online und offline zu sozialen Protestbewegungen außerhalb und innerhalb des politischen Systems und über Grenzen hinweg zusammenschließen. Bislang wurde die Idee sozialer Sicherheit wie selbstverständlich und ausschließlich im Rahmen des Nationalstaates gedacht und von nationalstaatlich orientierten und organisierten Parteien und Gewerkschaften verwirklicht. Aufgrund dieser engen Verkopplung musste dieser Traum im Zeitalter der Globalisierung in die Defensive geraten. Doch die Ausgangssituation hat sich mit dem Taifun der Finanz- und Euro-Krise und den in allen Gesellschaften bestehenden Ungleichheiten dramatisch verschärft. Die soziale Frage ist zur globalen Frage geworden, auf die nur nationalstaatlich leere Antworten gegeben werden. Das kommt (in der alten Sprache gesprochen) einer vorrevolutionären Situation nahe. Der Gesellschaftsvertrag, der die Individuen für Europa gewinnen will, muss die Frage beantworten: Wie kann der realistische Traum sozialer Sicherheit so neu geformt und geträumt werden, dass er nicht, wie das heute der Fall ist, in der einen oder anderen Sackgasse verendet – entweder in der Verteidigung national wohlfahrtsstaatlicher Nostalgie oder im Reformeifer neoliberaler Selbstpreisgabe? Europa zu träumen, heißt zu fragen: Wie kann das soziale und ökologische Gewissen Europas und der Welt geweckt und zu einer politischen Protestbewegung geformt werden, die arbeitslose Spanierinnen, wütende Griechen und die europaweit, ja sogar weltweit in den Abgrund blickende Mittelschicht verbindet – das politische Subjekt bildend, das den Gesellschaftsvertrag durchsetzt? Wie ist die Quadratur des Kreises möglich, einerseits den Sprung in die Transnationalität der europäischen Politik zu schaffen, andererseits nationalstaatliche Wahlen zu gewinnen? Europa befindet sich in einem Notstand, und die politische Macht hat, wer über die Zulassung von Themen zur Öffentlichkeit entscheidet. Lassen Sie mich daher einen Vorschlag zu den Europawahlen machen. Wir haben durchaus Beispiele dafür, wie sich europäischer Enthusiasmus herstellen lässt, etwa die europäische Champions League im Fußball oder kontinentale Schlagerwettbewerbe. Der europäische Traum könnte vielleicht durch so etwas Profanes wie eine Euro-Visions-Sendung (den utopischen Gehalt dieser technischen Vokabel ernst nehmend) zur europaweiten Debatte der Spitzenkandidaten für die Position des zukünftigen Kommissionspräsidenten neue Strahlkraft gewinnen. Dann könnte es endlich einen wirklich europäischen Willensbildungsprozess zu dem Thema geben: Warum Europa? Warum nicht kein Europa? Welches Europa wollen wir? Wir diskutieren viel über die Vereinigten Staaten von Europa, aber um eine Diskussion darüber führen zu können, brauchen wir zunächst die Vereinigten Fernsehanstalten von Europa. Wir brauchen eine Initiative, die in und für Europa überhaupt erst die Öffentlichkeit herstellt, damit wir frei und fokussiert zu europäischen Themen wählen können. Drittens: Mehr Demokratie durch ein Europa der Bürgerinnen und Bürger Die Grundlage des contrat social für Europa ist nicht – wie Rousseau dies dachte – der Gemeinwille (volonté générale), der die Eigeninteressen aufhebt und absolut ist. Grundlage ist vielmehr die Einsicht, dass alte, für die Ewigkeit gedachte Institutionen zerfallen, und dass es im Europa der Individuen für biografische und politische Schlüsselfragen keine fertigen Antworten gibt – und dass dies kein Mangel ist, sondern auch ein Mehr an Freiheit erlaubt. So verstanden ist der europäische Traum ein Gesellschaftslabor für soziale und politische Ideen, wie es nirgendwo sonst existiert. In der Politik wie im Leben der oder des Einzelnen geht es darum, alternative Zukünfte aufzuzeigen und auf diese Weise, suchend und versuchend, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden und den großen Risiken der Gegenwart wirksam entgegenzutreten. Mit dem Aufruf "Wir sind Europa" haben Daniel Cohn-Bendit und ich gemeinsam mit vielen europäischen Intellektuellen 2012 ein freiwilliges europäisches Jahr gefordert. Das soll nicht nur der jüngeren Generation und den Bildungseliten, sondern allen, auch Rentnern, Berufstätigen, Arbeitslosen, ja sogar Theologen ermöglichen, in einem anderen Land, einem anderen Sprachraum ihren Traum von einem Europa der Bürger zu verwirklichen. Bei diesem freiwilligen europäischen Jahr ginge es weder um Sozialdienst noch um Sozialarbeit im üblichen Sinne, sondern darum, dass im Zusammenleben der einzelnen Menschen, in der Begegnung, im gemeinsamen Handeln, in Gesprächen, Beobachtungen, im Miterleben die Situation der anderen nachvollziehbar wird – ihre Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen, Gefühle der Demütigung, ihre Wut. Mit anderen Worten: Es geht um ein Handeln, aus dem der kosmopolitische Blick erwächst. Ein Umbau der europäischen Institutionen (Wirtschaftsregierung, Fiskalunion, Brandmauer, Eurobonds) reicht nicht, um die Krise Europas zu bewältigen. Mit monetären "Rettungsschirmen" allein lässt sich Europa nicht retten. Die Malaise hat ihre Wurzeln darin, dass wir ein Europa ohne Europäer haben. Was fehlt, das Europa der Bürger, kann nur von unten wachsen, aus der Zivilgesellschaft selbst. Deshalb brauchen wir ein freiwilliges europäisches Jahr für alle. Dieses würde auf eigene Weise die Frage beantworten, was Europa für jede(n) Einzelne(n) bedeutet – würde es doch tätige Teilhabe ermöglichen und auf diese Weise eine Verbindung herstellen zwischen dem eigenen Leben und Handeln und jenem (aus der Sicht vieler Europäer) technokratischen Nirwana namens Brüssel. Der Ausbau der politischen Union zu einer gemeinsamen Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ist mit einer demokratischen Garantie zu verbinden, die es für den nationalen Bürger attraktiv macht, zum politischen Bürger Europas zu werden. Dies könnte auf verschiedene Wege erreicht werden, zum Beispiel indem das Europäische Parlament mit dem Recht auf Gesetzesinitiativen ausgestattet wird, die verschiedenen Parlamente direkt miteinander koordiniert werden oder ein EU-Präsident europaweit am selben Tag direkt gewählt wird. Europäische Demokratie ist ohne europäisches Geld, europäische Steuern, europäische Haushaltssouveränität nicht möglich – doch ohne den Ausbau der europäischen Demokratie bleibt all dies technokratisch-autoritär. Mehr Demokratie durch ein anderes Europa braucht also einen eigenen Topf. Es müsste so etwas geben wie eine Europasteuer oder Eurosteuer, die direkt nach Brüssel geht und über deren Verwendung das Europäische Parlament entscheidet. Wenn man sich auf den Standpunkt der Bürger stellt und fragt, was das heißt, dann ist sofort klar: Finger weg von einem "europäischen Solidarzuschlag" nach dem Modell des deutschen "Solidarzuschlags", Finger weg von einer europäischen Mehrwertsteuer und so weiter. Aus Bürgersicht wäre eine Europasteuer wohl nur dann legitim, wenn diese zugleich den Zweck erfüllen würde, den entfesselten Risikokapitalismus zu zähmen, wie dies beispielsweise die (nur in einigen EU-Ländern eingeführte) Steuer auf finanzielle Transaktionen leisten soll. Viertens: Vereinigte Staaten von Europa oder Vereinigte Städte von Europa? "Niemand kann gegen die Märkte Politik machen." Dieses Diktum Joschka Fischers war exemplarisch für das Selbstverständnis der politischen Klasse in den vergangenen beiden Jahrzehnten. In der Finanz- und Euro-Krise endete die Legende der unpolitischen Globalisierung, und damit konnte auch eine kosmopolitische Regulierung der Finanzmärkte zum Thema werden. Regeln braucht auch das Internet, weil es selbst zu einer virtuellen Weltrisikogesellschaft geworden ist, in der gewaltige Bedrohungen stecken. Doch wer schützt? Wer gefährdet wen? Wer regelt? Wer richtet? Das Weltrisiko öffnet, erzwingt vielleicht sogar auch transnationale Koalitionen, ermächtigt zugleich aber die Nationalstaaten. Der nationale Blick, die nationale Brille hat einen blinden Fleck – Europa! Die europäische Krise ist im Kern also keine Finanz-, sondern eine Kopfkrise: Wer national denkt und national handelt, kann Europa noch nicht einmal sehen, geschweige denn verstehen. Der regressive Nationalismus von rechts und links hat die europäische Idee auf dem Gewissen. Die EU ist ein historisch einmaliges Gebilde. Ein europäisches Volk und der europäische Bürger lassen sich nicht am Reißbrett entwerfen. Manchmal habe ich den Eindruck, die europäischen Politiker irren herum und suchen nach dem Volk, das zur EU passt. Die Gretchenfrage aber lautet: Wie kann Europa Frieden und Freiheit für seine Bürger im Lichte alter und neuer Bedrohungen sichern? Wer spricht die Sprache Europas? Die nationalen Regierungen? Das Europäische Parlament? Der Europäische Gerichtshof? Brüssel? Deutschland? (Also die ungewählte Kanzlerin Europas, Angela Merkel?) Oder doch die Bürger Europas? Wir müssen neu überlegen, wie wir den europäischen Souverän definieren. Mein Vorschlag ist, nicht nur über die Vereinigten Staaten von Europa nachzudenken, sondern auch über die Vereinigten Städte von Europa. Das Europa der Bürger bedarf kosmopolitischer Akteure, deren kooperative, politische Gestaltungskraft nicht durch nationale Egoismen und Feindbilder gelähmt wird. Die Nationalstaaten versagen angesichts der globalen Probleme – die cities könnten zu Akteuren der Hoffnung eines kosmopolitischen Europas der Bürger werden. Stadtluft macht frei, Stadtluft macht europäisch! Hier wird der Klimawandel verursacht, erfahren und bekämpft. Hier findet die bessere Demokratie statt. Auch sind die Großstädte das politische Zukunftslabor. Das alles könnte ein guter Ansatzpunkt für eine Erneuerung des europäischen Traumes werden, für den nicht nur die Menschen in Kiew auf die Straße gehen, sondern den auch die Bürger in Europa träumen: Freiheit, Demokratie, soziale Sicherheit und Weltoffenheit! Während die Schuldenkrise vorübergehend in den Hintergrund zu treten scheint, tritt die tiefere politische Krise der europäischen Demokratie und Governance immer sichtbarer hervor. In dieser Situation wird die Europawahl im Mai 2014 auch zu einer historischen Entscheidung über die Frage: Welches Europa wollen wir? Vgl. Ulrich Beck, Methodological Cosmopolitanism – In the Laboratory of Climate Change, in: Soziologie, (2013) 3, S. 278–289. Vgl. Paul Gilroy, Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London–New York 1993; Saskia Sassen, The Global City, New York 1991; Arjun Appadurai, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996; Martin Albrow, Das globale Zeitalter, Frankfurt/M. 2007; Ulrich Beck/Edgar Grande, Europas letzte Chance: Kosmopolitismus von unten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2005) 9, S. 1083–1097; dies., Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/M. 2004. Vgl. Edgar Grande, Vom Nationalstaat zum transnationalen Politikregime – Staatliche Steuerungsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung, in: Ulrich Beck/Christoph Lau (Hrsg.), Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt/M. 2004, S. 384–401. Vgl. Vincenzo Cicchelli, L’esprit cosmopolite: voyages de formation des jeunes en Europe, Paris 2012. "Die Pfade werden kurviger". Interview von Isabelle Rey-Lefebvre mit Vincenzo Cicchelli, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 31.5.2012, S. 15. Daniel Brössler, Das gefühlte Europa, in: SZ vom 29.6.2012, S. 4. "Erasmus" ist der Name des Stipendiums, das es Studierenden erlaubt, an verschiedenen europäischen Universitäten zu studieren. Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 16ff. Vgl. Ulrich Beck/Daniel Cohn-Bendit, Wir sind Europa! Manifest zur Neugründung der EU von unten, in: Die Zeit, Nr. 19 vom 3.5.2012, S. 45, Externer Link: http://www.manifest-europa.eu (3.2.2014).
Article
, Ulrich Beck
"2021-12-07T00:00:00"
"2014-03-11T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/180364/europa-braucht-einen-neuen-traum-essay/
Die europäische Krise vor allem eine Kopfkrise: Wer national denkt und handelt, kann Europa nicht verstehen. In vier Schritten wird ein neuer Gesellschaftsvertrag skizziert.
[ "Zukunft der EU", "Kosmopolitismus", "soziales Europa", "Europawahl 2014", "Europäische Union" ]
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"Aufarbeitung der SED-Diktatur" – heute so wie gestern? - Essay | Geschichte als Instrument | bpb.de
Am 22. März 2013 debattierte der Deutsche Bundestag über den "Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur". Grundlage der Aussprache war der entsprechende Bericht der Bundesregierung, der ein detailliertes Bild von den zahlreichen staatlichen und staatlich unterstützen Institutionen gibt, die sich in Gestalt von Museen, Gedenkstätten, Opferverbänden sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen einschließlich der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) auf unterschiedliche Weise der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit widmen. Der Bericht der Bundesregierung wurde, wie nicht anders zu erwarten, von Seiten der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP mit viel Lob bedacht. Auch die SPD und Bündnis 90/Die Grünen fanden lobende Worte; Kritik übten beide an der immer noch ungewissen Zukunft der BStU – ein Problem, das dann auch einen gewissen Schwerpunkt in der Debatte markierte. Außerdem monierte die SPD fehlende Kriterien, um – etwa in Bezug auf die Rehabilitierung von Haftopfern – "den Stand der Aufarbeitung zu bewerten", während Die Linke die im Bericht zum Ausdruck kommende "Delegitimierung der DDR von Anfang an" beklagte. Im Übrigen, das zeigen Bericht und Debatte, bewegt sich die offizielle "Aufarbeitung der SED-Diktatur" auf altbekannten Pfaden. Der Bericht basiert auf der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption vom Juni 2008, in der festgehalten wurde, dass es um die Vermittlung des "menschenverachtenden Charakter(s)" der "kommunistischen Diktatur" in der SBZ/DDR gehe, wobei zugleich einer "Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur und jeder ‚Ostalgie‘ entschieden entgegenzuwirken" sei. Nahezu wortgleich findet sich diese geschichtspolitische Zielbestimmung im Bericht von 2013 wie auch in dem kurzen Statement des Kulturstaatsministers Bernd Neumann zu Beginn der Aussprache. Ihre Umsetzung lässt sich die Bundesregierung jährlich rund 100 Millionen Euro kosten. Die Frage ist, ob diese konzeptionelle Ausrichtung nach Ende des Ost-West-Konflikts und über zwei Jahrzehnte nach der staatlichen Wiedervereinigung ausreicht, um dem Umgang mit der DDR-Vergangenheit als gesamtdeutscher Unternehmung mit gemeinsamer Zukunft Orientierung zu geben. Das gilt umso mehr, als der Umgang mit der DDR-Vergangenheit im Zuge der Wiedervereinigung zunehmend selbst zum konflikthaften Bestandteil des Vereinigungsprozesses geworden ist. Dass die Verständigungsprobleme zwischen Ost- und Westdeutschen in den vergangenen 15 Jahren eher zu- als abgenommen haben, drückt sich unter anderem in der divergierenden Selbst- und Fremdwahrnehmung im Rückblick auf die DDR aus. Hier scheinen zwei miteinander verwobene Komponenten wirksam zu sein: Zum einen haben die Ziele des sozialistischen Entwurfs, insbesondere "Gleichheit", "Gerechtigkeit" und "Solidarität", durch das Verschwinden der DDR keineswegs an Anerkennung verloren – eingedenk dessen, dass die SED-Politik und der DDR-Alltag ja nicht zu allen Zeiten und durchweg als repressiv wahrgenommen wurden; und zum anderen wird die Rückschau auf die DDR von ambivalenten Gegenwartserfahrungen mitbestimmt, die sich nicht nur auf hinzugewonnene Freiheiten und umfänglichere Konsumangebote beziehen, sondern auch auf soziale Verwerfungen (vor allem im Kontext von Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen) und Zurücksetzungserfahrungen. Beides drückt sich in Umfragen aus, etwa in einer Studie des Emnid-Instituts vom Mai 2010, der zufolge die Hälfte der Ostdeutschen der DDR "mehr gute als schlechte Seiten" bescheinigt. Vor allem aber erklärt beides, weshalb die Erinnerung an die DDR im Rahmen einer bloßen Entgegensetzung von Diktatur und Demokratie von unrealistischen Voraussetzungen ausgeht und als Konzept für nicht wenige Ostdeutsche eher befremdlich sein dürfte. Deshalb kann aus solchen Befunden auch nicht einfach der Schluss gezogen werden, viele Bundesbürgerinnen und -bürger im Osten hätten offenbar noch nicht verstanden, dass die DDR eine Diktatur war, weshalb die entsprechenden "Aufarbeitungs"-Anstrengungen noch verstärkt werden müssten. In einem solchen Interpretationsschema hätte zudem die Überlegung keinen Platz, dass zwischen diesem Schluss und jener "Eigensinnigkeit" ein reaktiver Zusammenhang bestehen könnte. Jedenfalls wird diese Vermutung durch (scheinbar widersprüchliche) Befragungsergebnisse gestützt: Während, wie schon gesagt, die untergegangene DDR für nicht wenige Ostdeutsche "mehr gute als schlechte Seiten" hatte, möchte nach wie vor nur jeder Zehnte "am liebsten die DDR wieder haben". In der Plenumsdebatte im Bundestag kamen entsprechende Problematisierungen nicht vor. Dennoch gab es hier und da kritische Bemerkungen zum Gesamtkonzept "Aufarbeitung der SED-Diktatur". So erinnerte der Abgeordnete Siegmund Ehrmann (SPD) an die "grundlegende und wichtige Arbeit der Sabrow-Kommission", die einige Jahre zuvor mit dem Versuch einer Neujustierung des Aufarbeitungskonzepts befasst war. Im Plenum blieb dieser – angesichts des allgemeinen Debattenverlaufs überraschende – Hinweis ohne Resonanz. Die Empfehlungen dieser Kommission hatten seinerzeit für einigen Wirbel gesorgt, sind aber konzeptionell weitgehend folgenlos geblieben. Von ihrer Aktualität haben sie indes kaum etwas eingebüßt. Deshalb soll ihnen im Folgenden nachgegangen werden. Sabrow-Kommission: Versuch einer Blickwinkelerweiterung Die Einrichtung der sogenannten Sabrow-Kommission geht zurück auf eine Initiative der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Christina Weiss im Frühjahr 2005, also noch zu Zeiten der rot-grünen Koalition. Die Kommission, die sich unter dem Vorsitz des Potsdamer Zeithistorikers Martin Sabrow vor allem aus Historikern und DDR-Bürgerrechtlern zusammensetzte, sollte ein Konzept "für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" unter Einbeziehung aller Einrichtungen "mit gesamtstaatlicher Bedeutung" erarbeiten, mit dem Ziel einer stärkeren arbeitsteiligen Profilierung, Professionalisierung und besseren Vernetzung. Dies bedeutete für die Experten auch eine Überprüfung des bisherigen Konzepts von "Aufarbeitung". Im Juni 2006 legten sie ihre Empfehlungen vor, und zwar nahezu im Konsens. Ihre Vorschläge basierten auf einer zunächst vorgenommenen Bestandsaufnahme, aus der hervorging, dass "die repressiven und überwachenden Aspekte der DDR-Diktatur breit vergegenwärtigt werden, (während) die Bereiche ‚Opposition und Widerstand‘ sowie ‚Herrschaft und Gesellschaft‘ in unvertretbarer Weise unterrepräsentiert (sind)". Als zusätzlich defizitär erwies sich für die Kommission die fehlende Einbettung der SED-Diktatur in den politisch-historischen Kontext der deutschen Teilung und der Blockbildung. Entsprechend wurde als konzeptionelles Ziel formuliert, "dass der geplante Geschichtsverbund sowohl zur Aufklärung über den Diktaturcharakter der DDR (…) und zur Würdigung von Widerstand und Opposition beiträgt, als auch die Vielschichtigkeit, ‚Veralltäglichung‘ und ‚konstitutive Widersprüchlichkeit‘ der DDR abbildet und in die beziehungsgeschichtlichen Dimensionen der deutschen-deutschen Doppelstaatlichkeit (…) und des Ost-West-Konflikts rückt". Die drei "Aufarbeitungsschwerpunkte", welche die Kommission benannte, können als grobe Operationalisierung dieser Überlegungen gelten: "Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand", "Überwachung und Verfolgung" sowie "Teilung und Grenze". In anderen Worten: Die Kommission trat für eine Blickwinkelerweiterung im offiziellen Umgang mit der DDR-Vergangenheit ein, was sich vor allem im ersten "Aufarbeitungsschwerpunkt" ausdrückt, zu dem im Wesentlichen auch die Kategorien "gesellschaftlicher Alltag", "Bindungskräfte" und "Widersprüche" gehören. Implizit ist dieser Perspektive, dass sie nicht auf den Täter-Opfer-Dualismus beschränkt ist, der allzu leicht von der Selbstwahrnehmung all jener absieht, die sich nicht oder nicht ohne Weiteres der einen oder anderen Gruppe zurechnen lassen (wollen). Unberührt davon bleibt das Wachhalten der Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen sowie den diktatorischen Charakter des politischen Systems. In der Substanz handelte es sich keineswegs um gänzlich neue Überlegungen. Renommierte Zeithistoriker wie Jürgen Kocka, Christoph Kleßmann oder Lutz Niethammer hatten mit Blick auf die Einschätzung der DDR-Gesellschaft schon Jahre zuvor aus unterschiedlichen thematischen Perspektiven vor schablonenhaftem Denken gewarnt und die Berücksichtigung historischer Kontexte und Interdependenzen empfohlen. Gleichwohl fanden die Empfehlungen der Kommission ein geteiltes Echo. Das war für ihre Mitglieder offenbar keine Überraschung, wohl aber die Heftigkeit der Kritik. Die Einwände kamen nicht nur von Vertreterinnen und Vertretern von Gedenkstätten und Opferverbänden, sondern auch von Teilen des Wissenschaftsbetriebes. Zum Beispiel sprach der Leiter der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, im Mai 2006 von "staatlich geförderte(r) Ostalgie"; und der damalige Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, fasste einen Teil seiner Kritik in dem Satz zusammen, dass "der Staatssicherheitsdienst charakteristischer für die DDR (ist) als die Kinderkrippen". Ähnlich resümierte Klaus Schroeder, einer der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin: "Die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur verschwindet hinter der Fassade von Alltag und Gesellschaft." Die "Empfehlungen" enthielten eine "Weichzeichnung der DDR". Geteilt wurde diese Einschätzung von dem für den weiteren politischen Gang der "Empfehlungen" zuständigen Kulturstaatsminister Bernd Neumann, der Christina Weiss Ende 2005 mit dem Wechsel von der rot-grünen zur schwarz-roten Koalition im Amt abgelöst hatte. In seiner Fortschreibungsvorlage von 2008 ließ zum Beispiel die inhaltliche Bestimmung des (von der Kommission dem Namen nach übernommenen) Themenschwerpunktes "Gesellschaft und Alltag" keinerlei Spielraum für die Untersuchung und Benennung irgendwelcher, jenseits von Repressionszwängen angesiedelter "Bindungskräfte": "Das Alltagsleben in der DDR wird berücksichtigt, um einer Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur und jeder ‚Ostalgie‘ entschieden entgegenzuwirken. (…) Es muss deutlich werden, dass die Menschen in der DDR einer umfassenden staatlichen Kontrolle unterlagen und einem massiven Anpassungsdruck ausgesetzt waren, ebenso wie die Diktatur ihre Macht auch aus der Mitmachbereitschaft der Gesellschaft schöpfte. (…) Zugleich muss dokumentiert werden, wie und wo sich die Menschen dem Zugriff der Partei zu entziehen suchten." Neumanns Vorlage wurde im Herbst 2008 vom Kabinett gebilligt und fand auch im Bundestag als "Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes" mehrheitlich Zustimmung. Damit wurde, wie Martin Sabrow in der vorausgegangenen Debatte vorsichtig formuliert hatte, in Kauf genommen, dass individuell-lebensgeschichtliche Erfahrungen und das offiziell vermittelte Geschichtsbild bei einem Großteil der Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern auseinanderfallen. Zu den (weiteren) möglichen Konsequenzen gehört ironischerweise die Wiederbelebung einer problematischen Grunderfahrung des "gelernten" DDR-Bürgers: Er musste von Kindesbeinen an Übung darin entwickeln, mit einer vom SED-Apparat inszenierten Wirklichkeitsdeutung umzugehen, die mit der Realität oft nur sehr entfernt etwas zu tun hatte. Ein anderer möglicher Effekt besteht darin, dass das Gegenteil von dem provoziert wird, was intendiert ist: statt eines kritischen Verständnisses der eigenen und kollektiven DDR-Vergangenheit finden apologetische Gegenerzählungen oder andere reaktiv-ausweichende Verhaltensweisen Unterstützung, darunter auch solche, die seit geraumer Zeit unter dem Begriff "Ostalgie" zusammengefasst werden. Für die Gegner der Kommissionsvorschläge fungierten bestimmte Begriffe des Konzepts als Reizwörter: Das galt für die Hinweise auf die für die DDR "konstitutiven Widersprüche" ebenso wie für die DDR-Geschichte als "Teil der gesamtdeutschen Geschichte", mehr noch für die Kategorien "Bindungskräfte" (etwa in Bezug auf "Ideologie") und "gesellschaftlicher Alltag". Das ist insofern nicht verwunderlich, als vor allem diese Begriffe so etwas wie eine Türöffnerfunktion für eine modifizierte "Aufarbeitung der SED-Diktatur" hatten beziehungsweise von den Gegnern des Kommissionsvorschlages als Wegweiser in Richtung "Weichzeichnung der DDR" wahrgenommen wurden. Zugleich kontrastieren sie am deutlichsten mit den ausschließlich diktaturbestimmten "Aufarbeitungs"-Kategorien wie "Staatssicherheit", "Überwachung", "Indoktrination", "Verfolgung" oder "Opfer und Täter". Letztere verweisen nach wie vor auf historische Tatbestände. Als konzeptuelle Bestandteile einer "Aufarbeitung der SED-Diktatur" verlieren sie jedoch dann ihre aufklärerische Funktion, wenn ihnen ein Wahrnehmungs- und Bewertungsschema zugrunde liegt, das – an die Systemkonfrontation im Kalten Krieg und die Totalitarismustheorien erinnernd – aus Schwarz-Weiß-Zeichnungen besteht und kategorial mit entsprechenden Entgegensetzungen arbeitet: "Demokratie/Diktatur", "Freiheit/Unfreiheit", "Recht/Unrecht". Abgesehen davon, dass der historische Adressat der impliziten Freund-Feind-Logik mit dem Zerfall der staatssozialistischen Systeme nicht mehr existent ist: Unter dieser Voraussetzung muss jeder Verweis auf gesellschaftliche Schattierungen, Widersprüche, Ambivalenzen und Wechselwirkungen als Fehleinschätzung beziehungsweise "Weichzeichnung" erscheinen. Dabei käme es gerade unter den veränderten Bedingungen der deutschen Wiedervereinigung darauf an, zu einem möglichst differenzierten Bild von der (eben nicht einfach verschwundenen) DDR-Gesellschaft zu gelangen. Differenziertheit und deutsch-deutsche Bezugnahmen Um die Diskussion weiterzuführen, könnte an die Vorschläge der Sabrow-Kommission angeknüpft werden. Im Gegensatz zu den konzeptionellen Vorstellungen und Praktiken der bisherigen staatlich organisierten "Aufarbeitung der SED-Diktatur", deren Elemente im Kommissionsentwurf überwiegend dem Arbeitsschwerpunkt "Überwachung und Verfolgung" zuzurechnen wären, sind die neuen Überlegungen noch kaum ausgearbeitet und erprobt worden. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte darin bestehen, die entsprechenden Dimensionen und Begriffe auf der Grundlage der inzwischen vorliegenden Materialfülle zur DDR-Gesellschaft zu konkretisieren. Im Folgenden sollen dazu einige stichwortartige Beispiele skizziert werden. Das Erste, was einen systematisch-konzeptionellen Gesichtspunkt enthält, bezieht sich auf die zu berücksichtigenden "beziehungsgeschichtlichen Dimensionen der deutschen Doppelstaatlichkeit". Hierzu gehört eine wichtige Voraussetzung, nämlich die Anerkennung eines gemeinsamen historischen Ausgangspunktes: die Geschichte Nazideutschlands mit seiner von außen herbeigeführten Niederlage nach einem von ihm ausgelösten mörderischen Weltkrieg, zu dessen Folgen die Teilung des Landes durch die Siegermächte gehörte, die mit systemisch unterschiedlichen ökonomisch-sozialen und politischen Entwicklungen verbunden war und in eine Integration sich gegenüberstehender Machtblöcke unter der Führung der USA einerseits und der Sowjetunion andererseits einmündete. Dabei waren trotz der deutschen Teilung Interdependenzen wirksam, die sich im Zeitverlauf veränderten. So dominierten in der Hochphase des Kalten Krieges die wechselseitig negativen Bezugnahmen, welche die Legitimation des jeweils eigenen und zugleich die Delegitimierung des anderen ökonomischen und politischen Systems einschlossen, während in der anschließenden Koexistenz-Phase und erst recht im Gefolge der Neuen Ostpolitik Anfang der 1970er Jahre trotz der weiterhin bestehenden Systemunterschiede vertraglich geregelte Formen des Nebeneinanders angestrebt wurden. Für das geteilte Deutschland gehörte zu dieser Entwicklung eine erhebliche Zunahme des Besucherstroms in Richtung Osten – vor dem Hintergrund, dass in den 1970er und 1980er Jahren etwa zwei Drittel der Ostdeutschen Verwandte in Westdeutschland hatten. Dabei war es für diese auf der Alltagsebene wirksamen deutsch-deutschen Beziehungen charakteristisch, dass aus Verwandten "Ost-West-Verwandtschaften" wurden – verbunden mit jeweils spezifischen Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen. Zu den "Bindungskräften" gehörten offenbar die "sozialistischen Ideale" in Gestalt von "Gleichheit", "Gerechtigkeit" und "Solidarität". Darauf verweist zum Beispiel der hohe Anteil jener, die (heute) dem Statement zustimmen, dass "der Sozialismus eine gute Idee" sei, die bisher nur schlecht umgesetzt wurde. In einer ganzen Reihe individueller Berichte von Besuchsreisen in die DDR in den 1970er und 1980er Jahren wird hervorgehoben, dass in informellen Gesprächen zwar viel über immer wieder auftauchende Versorgungsmängel, bürokratische Gängeleien und eingeschränkte Reisemöglichkeiten geklagt wurde, "der Sozialismus" beziehungsweise die "sozialistischen Ideale" jedoch eher ausnahmsweise in Frage gestellt wurden. Handfester als "Bindungskraft" dürfte sich ein anderes Politikum erwiesen haben, nämlich die Bildungsoffensive in den 1950er und frühen 1960er Jahren, die nicht wenigen Angehörigen traditionell benachteiligter sozialer Schichten einen Bildungsschub und einen beruflichen Aufstieg brachte. Allerdings geschah das nicht nur in Verbindung mit dem Anspruch auf politische Loyalität gegenüber dem SED-Staat, sondern bei gleichzeitigem Ausschluss von Kindern aus anderen, vor allem den alten Mittelschichten zugehörigen sozialen Milieus. Ihnen war der Weg zum Studium häufig versperrt. Zudem wurde jenes Qualifizierungs- und Aufstiegskennzeichen im Laufe der 1960er Jahre zu einem Beispiel für die von der Sabrow-Kommission markierten DDR-typischen "konstitutiven Widersprüche": Denn die erheblich verbesserten Bildungs- und Aufstiegschancen von Kindern aus Arbeiter-, unteren Angestellten- und bäuerlichen Haushalten wurden durch steigende Selbstrekrutierungsraten bei den inzwischen etablierten Funktionseliten faktisch (wieder) eingeschränkt, was als eklatanter Verstoß gegen den egalitären Grundanspruch des politischen Systems gelten kann. Ein anderes Beispiel ist der DDR-spezifische Antifaschismus als politisch-moralische Legitimationsgrundlage des SED-Staates. Seine Betonung enthielt stets eine Abgrenzung von der Bundesrepublik, der eine Re-Faschisierung unterstellt wurde. Der DDR-Antifaschismus knüpfte einerseits an den opferreichen Widerstand auch und gerade der Kommunisten gegen das NS-Regime an und rechtfertigte den (weitgehend) konsequenten Austausch der alten, durch den Nationalsozialismus belasteten Eliten; auf der anderen Seite behinderte er aus ideologischen und machtpolitischen Gründen eine wirksame, mit demokratischer Erfahrungsbildung verbundene Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, in die doch die Mehrzahl auch der Ostdeutschen aktiv oder passiv verstrickt war. Nach dem eigenen ideologischen Verständnis konnte sich der Faschismus in der DDR nicht wiederholen, weil hier seine Voraussetzungen durch die vorgenommenen ökonomisch-sozialen Umwälzungen unter der "Führung der Partei der Arbeiterklasse" eliminiert worden waren. Dies ließ eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als unnötig erscheinen; doch wurde sie sicherlich auch deshalb vermieden, weil eine öffentliche Debatte über die Art der NS-Verwicklungen womöglich nicht nur gewisse Parallelen zu den politischen Organisationsformen und autoritären Entscheidungsstrukturen des SED-Apparats ("demokratischer Zentralismus") offenkundig gemacht, sondern auch die durchaus systemfunktionalen, traditionell obrigkeitsstaatlich geprägten Denk- und Verhaltensmuster infrage gestellt hätte. Zum Beschweigen der Verstrickungen der Bevölkerung in den Nationalsozialismus, das im Übrigen für die Anfangsjahre der Bundesrepublik ebenso gilt (wenngleich aus anderen Gründen), mag dazu ein verschwiegenes Einverständnis zwischen den Herrschern und Beherrschten beigetragen haben, und zwar, wie der Soziologe Wolfgang Engler schreibt, im Sinne eines "Ablasshandels": Die kommunistischen Kader, die den NS-Terror überlebt hatten, haben für die Sünden aller gebüßt. Und dieses Angebot wurde akzeptiert, nicht nur weil es entlastete, sondern weil die mit ihm verbundene Akzeptanz des absoluten Herrschaftsanspruches der SED zugleich als Opfer gelten konnte, das sich mit der eigenen Schuld verrechnen ließ. Es würde sich also hier um eine "Bindungskraft" der besonderen Art handeln. Strukturell widersprüchlich vollzog sich auch die "Gleichstellung von Mann und Frau". Sie wurde, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen (Arbeitskräftemangel), frühzeitig vorangetrieben und verschaffte den Frauen neben der rechtlichen Gleichstellung eine Erweiterung beruflicher Qualifizierungsmöglichkeiten und damit mehr wirtschaftlich-soziale Unabhängigkeit, während die in der familiären Sozialisation vermittelten patriarchalischen Verhaltensmuster weitgehend unbehelligt blieben. Das tradierte Geschlechterverhältnis wurde – wie lange Zeit auch in der Bundesrepublik – nicht thematisiert. Wesentliche Teile des alten Rollenmusters blieben so erhalten und befestigten die überkommene Doppelbelastung vieler Frauen – trotz des ausgebauten Systems der Kinderbetreuung und anderer Erleichterungen. Ein anderes Problem, das einen "konstitutiven Widerspruch" enthält und ebenfalls mit dem Alltag verknüpft war, aber stärkere Auswirkungen auf die "Wende"- und "Nachwende"-Zeit hatte (und noch hat), resultierte aus einem politischen Paradoxon: der permanenten offiziellen Aufforderung, "eine neue, bessere Welt zu schaffen und den Sozialismus aufzubauen", ohne am Wie beteiligt zu werden, also ständig und überall aktiv zu sein und dabei passiv zu bleiben. Nicht die Ziele der auf Dauer gestellten politischen Mobilisierung waren dabei offenbar das Problem, sondern das mit ihr verbundene strukturelle Demokratiedefizit. Weil es kein öffentliches Forum für eine Debatte über entsprechende Widerspruchserfahrungen gab, bildete sich mit der Zeit eine Art Zwei-Welten-Realität heraus: eine offizielle, in der als unerschütterlich geltende Wissensbestände des Marxismus-Leninismus, spezifische Sprachregelungen und symbolische Gesten (wie gelegentliche Massenaufmärsche) Gültigkeit hatten, und eine private, in der überwiegend nach den tradierten Mustern Geschlechterbeziehungen, Erziehung, Konfliktaustragungen, Geselligkeit und Nachbarschaftshilfe funktionierten. In anderen Worten: Die auf Dauer gestellten, weitgehend nebeneinanderher laufenden Wirklichkeitserfahrungen haben in der Breite wahrscheinlich entpolitisierend gewirkt. Im Blick auf die Wiedervereinigung könnte diese Entpolitisierung nicht die Enttäuschungen über ihren Verlauf erklären, wohl aber deren Ausmaß und verbreitete Verarbeitungsformen – nach dem Motto: "Wir sind wieder einmal die Dummen!" Als bloße Kehrseite der gleichen Medaille würde dazu der anfängliche "Helmut, Helmut"-Enthusiasmus passen. Perspektiven Die Beispiele ließen sich fortsetzen und ergänzen, vor allem mit Blick auf die hier nur sparsam angedeuteten deutsch-deutschen Bezüge. Sie zu strukturieren und mit didaktischen Überlegungen zu verknüpfen, würde ein weiterer Schritt in Richtung einer Konzeptualisierung sein, welche die bisherige offizielle "Aufarbeitung der SED-Diktatur" modifiziert. Zentrale Gesichtspunkte wären dabei, das Konzept mit mehr Anschlussfähigkeit an die erlebte (und familiär tradierte) DDR-Geschichte auszustatten und gleichzeitig Bezüge zur parallel verlaufenden Geschichte der "Altbundesrepublik" auch in kritischer Perspektive zu ermöglichen. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit würde so einmünden in eine Aufarbeitung der zeitweiligen, dennoch einschneidenden deutschen Doppelstaatlichkeit. Die Gründe für einen modifizierten Umgang mit der DDR-Vergangenheit lassen sich in einen einzigen zusammenfassen: Es geht um die Bewältigung einer Situation, die mit der Aufhebung der deutschen Teilung eingetreten ist und die es unabdingbar macht, gemeinsam nach Verständigungsmöglichkeiten darüber zu suchen, was war, was sich nicht wiederholen darf und was werden soll. Die Jüngeren, die in den 1970er und 1980er Jahren in Ostdeutschland geboren wurden und so frühzeitig mit unterschiedlichen politischkulturellen Verhältnissen in Berührung gekommen sind, könnten hier vielleicht eine Art Mittlerrolle übernehmen, sowohl generationsbezogen als auch im Ost-West-Verhältnis. Eine entsprechende Initiative, die nicht mehr nur wählen möchte "zwischen der DDR als Unrechtsstaat und einer schalen Ostalgie" gibt es seit geraumer Zeit, und zwar unter westdeutscher Beteiligung. Sie könnte Unterstützung finden durch ein Aufarbeitungskonzept, das diesem Anliegen entgegenkommt. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/232, 22.3.2013, online: Externer Link: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17232.pdf (1.10.2013). Vgl. Deutscher Bundestag, Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur, 16.1.2013, Drucksache 17/12115, online: Externer Link: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/121/1712115.pdf (1.10.2013). Verantwortung, Aufarbeitung, Gedenken. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 18. Juni 2008, dokumentiert in: Deutschland Archiv, (2008) 4, S. 601, S. 608. Vgl. Plenarprotokoll (Anm. 1), S. 29005. Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsch-deutsche Zustände. 20 Jahre nach dem Mauerfall, Bonn 2009, S. 20. Vgl. die seit 1990 erscheinende Reihe "Sozialreport. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern" des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg, z.B. die Ausgabe von 1997, S. 49; Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994; Lutz Niethammer, Annäherung an den Wandel. Auf der Suche nach der volkseigenen Erfahrung in der Industrieprovinz der DDR, in: BIOS, 1 (1988), S. 19–66. Vgl. die Befunde der Sozialreport-Reihe (Anm. 6); Detlef Pollack, Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, in: APuZ, (1997) 13, S. 3–14; Dieter Walz/Wolfram Brunner, Das Sein bestimmt das Bewusstsein, in: APuZ, (1997) 51, S. 13–19; Raj Kollmorgen, Subalternisierung. Formen und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher nach der Wiedervereinigung, in: ders./Frank Thomas Koch/Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Diskurse der deutschen Einheit, Wiesbaden 2011, S. 301–360. Vgl. Ostdeutsche verklären DDR, 17.5.2010, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/umfrage-ostdeutsche-verklaeren-ddr-1.114719 (1.10.2013). 2003 kam eine auf Thüringen bezogene Studie zu einem ähnlichen Ergebnis. Vgl. Einstellungen zur Demokratie. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2003, Jena 2003. Vgl. Volkssolidarität Bundesverband, Pressematerial zur Studie "20 Jahre friedliche Revolution 1989 bis 2009", 20.7.2009, online: Externer Link: http://www.volkssolidaritaet.de/cms/vs_media/-p-28378.pdf (1.10.2013). Plenarprotokoll (Anm. 1), S. 29017. Vgl. Martin Sabrow et al. (Hrsg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Bonn 2007. Dabei bleiben die organisatorisch-institutionellen Aspekte des Themas einschließlich der Spezifik der unterschiedlichen Gedenk- und Aufarbeitungseinrichtungen unberücksichtigt. Vgl. M. Sabrow et al. (Anm. 11), S. 7f. Die Bürgerrechtlerin Freya Klier gab ein Sondervotum ab. Für sie berücksichtigten die "Empfehlungen" zu wenig die Bedrohungen, die von wiedererstarkten alten SED-Kadern ausgingen. Vgl. ebd., S. 44f. Ebd., S. 11. Vgl. Christoph Kleßmann, Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: ders./Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration, Bonn 2005, S. 20–37; Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: J. Kaelble/ders./H. Zwahr (Anm. 6), S. 547–553; Niethammer (Anm. 6), S. 26. Vgl. M. Sabrow et al. (Anm. 11), S. 15. Hubertus Knabe, Das Aufarbeitungskombinat, in: Die Welt vom 8.5.2006, dokumentiert in: M. Sabrow et al. (Anm. 11), S. 189–192, hier: S. 191. Horst Möller während der öffentlichen Anhörung, 6.6.2006, dokumentiert in: ebd., S. 51–59, hier: S. 56. Klaus Schroeder am 21.5.2006 im Deutschlandradio Kultur, dokumentiert in: ebd., S. 279ff., hier: S. 280. Fortschreibung Gedenkstättenkonzeption (Anm. 3), S. 608. Vgl. M. Sabrow (Anm. 11), S. 390. Vgl. Klaus Christoph, "Ostalgie" – was ist das eigentlich?, in: Deutschland Archiv, (2006) 4, S. 681–689. Vgl. Lutz Niethammer, Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR, in: H. Kaelble et al. (Anm. 6), S. 100. In einer Studie von 2009 stimmten dem etwa zwei Drittel der befragten Ostdeutschen zu. Vgl. W. Heitmeyer (Anm. 5), S. 32. Vgl. Heinrich Best et al., Die DDR-Gesellschaft als Ungleichheitsordnung, in: ders./Everhard Holtmann (Hrsg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft: Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt/M. 2012, S. 63–84. Wolfgang Engler, Die Furien der Erinnerung, in: Kommune, (1992) 11, S. 8. Vgl. Susanne Diemer, Patriarchalismus in der DDR, Opladen 1994; Ute Gerhard, Die staatlich institutionalisierte "Lösung" der Frauenfrage, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Anm. 6) S. 383–403. Dem widerspricht nicht, dass am Ende Tausende auf die Straße gingen und wesentlich zum Einsturz des maroden Regimes beitrugen. Allein angesichts der Massenflucht vor allem junger Leute im Sommer 1989 konnte es "so nicht weitergehen!" – wie in jenen Tagen überall zu hören war. Und rasch vollzog sich der Übergang von der revolutionär-demokratischen Parole "Wir sind das Volk!" zu der eher national bestimmten Formel "Wir sind ein Volk!", was einen Bruch mit den meisten oppositionellen Gruppen einschloss. Anregend hierzu: Saskia Handro/Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichtskulturellen Diskurs, Schwalbach/Ts. 2011. Vgl. Sabine Moeller, Vielfache Vergangenheit, Tübingen 2003. Vgl. Michael Hacker et al. (Hrsg.), Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen, Bonn 2012, S. 215.
Article
Klaus Christoph
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-10-08T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/170166/aufarbeitung-der-sed-diktatur-heute-so-wie-gestern-essay/
Der ausschließlich auf die diktatorische Herrschaft gerichtete Umgang mit der DDR-Vergangenheit stößt bei vielen Ostdeutschen auf Ablehnung. Dies mindert die Chance auf eine verständigungsorientierte „Aufarbeitung“.
[ "Geschichte", "Geschichtsfälschung", "Geschichtsmanipulation", "Geschichtsaufarbeitung", "Geschichtspolitik", "SED-Diktatur" ]
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Das Coronavirus und Verschwörungstheorien | Politik aktuell. Blick hinter Nachrichten | bpb.de
Interner Link: Zur Hörversion Das Coronavirus verbreitet sich sehr schnell. In der Corona-Krise verbreiten sich auch Nachrichten über das Virus sehr schnell. Unter diesen Nachrichten sind hilfreiche Informationen. Zum Beispiel gibt es Informationen darüber, wie man sich richtig die Hände wäscht oder wie man sich vor einer Ansteckung schützen kann. Falsche Nachrichten verbreiten sich leider genauso schnell. Diese Nachrichten geben dann zum Beispiel falsche Informationen darüber, was vor einer Corona-Ansteckung schützt. Oder sie geben falsche Informationen darüber, woher der Erreger des Coronavirus stammt. Fake News Solche Falschmeldungen nennt man auch Fake News. Fake News sind falsche Nachrichten. Auch in der Corona-Krise gibt es falsche Nachrichten. Es gab zum Beispiel eine Meldung über kürzere Öffnungszeiten in Supermärkten. Die Supermärkte sollten nur noch wenige Stunden am Tag offen haben. An manchen Tagen sollten sie auch ganz geschlossen bleiben. Diese Nachricht war falsch. Sie hat manchen Menschen Angst gemacht, weil zu dieser Zeit auch oft Mehl, Hefe und Toilettenpapier ausverkauft waren. Richtig war aber: Die Supermärkte haben ihre Öffnungszeiten nicht verkürzt. Sie durften sogar am Sonntag öffnen. Deswegen ist sehr wichtig: Hinterfragen Sie Nachrichten kritisch. Gibt es diese Nachricht auf mehreren Internetseiten, im Radio und in der Zeitung? Hinterfragen Sie den Verfasser oder die Verfasserin: Gibt es von diesem Verfasser oder dieser Verfasserin schon Nachrichten, die falsch sind?Oder hat der Verfasser oder die Verfasserin schon oft zuverlässig zu dem Thema geschrieben? Sie können auch überprüfen, woher die Nachricht kommt: Aus einem Interview mit einer Wissenschaftlerin in der Tagesschau? Nachrichten in der Tagesschau sind meistens glaubwürdig.Oder aus einer anonymen Sprachnachricht, die Ihnen jemand auf WhatsApp geschickt hat? Anonym bedeutet, dass man nicht weiß, wer die Nachricht geschrieben oder gesprochen hat. Anonyme Nachrichten sind meistens nicht glaubwürdig. Eine wichtige Regel für die Weiterverbreitung von Nachrichten ist: Wenn es sich nicht überprüfen lässt, sollte man es nicht weiterverbreiten. Manche Meldungen sind nicht nur falsche Informationen, sondern eine Verbindung von falschen und wahren Informationen, die zusammen ein bestimmtes Problem oder Thema erklären. So etwas nennt man dann Verschwörungstheorie. Was ist eine Verschwörungstheorie? Verschwörung bedeutet, dass Menschen sich im Geheimen zusammentun. Diese Menschen nennt man Verschwörer und Verschwörerinnen. Sie wollen ein gemeinsames Ziel erreichen. Das Ziel schadet aber oft anderen Menschen, darum halten die es geheim. Eine Verschwörungstheorie ist eine Vermutung über eine solche Verschwörung. In einer Verschwörungstheorie gibt es Vermutungen und Überlegungen, wie etwas passiert sein könnte. Es gibt Vermutungen darüber, was eine Gruppe von Verschwörern und Verschwörerinnen gemacht oder geplant haben könnte. Die Menschen, die an eine Verschwörungstheorie glauben, nennt man auch Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen. Zur ersten Mondlandung gibt es zum Beispiel eine bekannte Verschwörungstheorie, die besagt: Die erste Landung auf dem Mond hat nicht stattgefunden. Die Filmaufnahmen der Mondlandung wurden in einem Filmstudio gemacht. Das ist aber falsch. Es gibt Satellitenbilder, auf denen die Landeplätze der Astronauten zu sehen sind. Man kann auch Materialien sehen, die bei der Landung zurückgelassen wurden. Eine Verschwörungstheorie vermischt Realität und erfundene Fakten. Wie kann man Verschwörungstheorien erkennen? Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen fragen: Wem hat etwas genützt? Wenn sie jemanden gefunden haben, glauben sie, dass derjenige schuld ist. Manchmal sollen auch bestimmte Personen schuldig sein! Ein Beispiel: In vielen Geschäften soll man jetzt mit einer EC-Karte zahlen. Man soll ohne Bargeld zahlen. Manche Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen sagen deshalb: Mächtige Menschen in der Finanzwelt wollten uns schon immer das Bargeld wegnehmen. Sie erreichen nun ihr Ziel, weil man mit der EC-Karte zahlen soll. Deshalb sind diese Menschen aus der Finanzwelt schuld am Coronavirus. Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen denken: Diejenigen, die von einer Krise profitieren, müssen die Schuld daran haben. Eine andere Verschwörungstheorie sagt, dass Bill Gates für das Coronavirus verantwortlich ist. Er und seine Frau Melinda Gates sollen das Coronavirus erschaffen haben. Sie wollen so die Welt regieren und die Menschheit durch Zwangsimpfungen kontrollieren. Bill Gates ist sehr reich. Er hat das Computerunternehmen Microsoft gegründet. Er setzt sich seit vielen Jahren für den Gesundheitsschutz ein. Er hat zum Beispiel viel Geld an die Weltgesundheitsorganisation gegeben. Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen glauben, dass er das nur tut, um die Welt zu regieren und um viel Geld mit Impfstoffen zu verdienen. Manche Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen glauben auch, dass Bill Gates das schnelle mobile Internet 5G missbrauchen möchte. Sie glauben, dass er damit die Menschen kontrollieren will. In dieser Verschwörungstheorie ist Bill Gates also der Böse. Oft kann man aber nicht klar zwischen Gut und Böse unterscheiden. Viele Dinge haben zugleich gute und schlechte Seiten. Viele Dinge umfassen unterschiedliche Seiten. Sie sind komplex. Meinungen und Entscheidungen sind auch komplex. Meinungen haben gute und schlechte Seiten. Entscheidungen können manchen Menschen schaden und dieselbe Entscheidung kann anderen Menschen nützen. Verschwörungstheorien beachten das nicht. Sie unterscheiden klar zwischen Gut und Böse. Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen sagen: • Es gibt Verschwörer und Verschwörerinnen, die böse sind. • Es gibt Opfer, die gut sind. Verschwörungstheorien vereinfachen also schwierige Fragen. Die meisten Verschwörungstheorien haben diese drei Kennzeichen: 1. Nichts geschieht durch Zufall, alles wurde geplant Eine Gruppe von Verschwörern handelt im Geheimen. 2. Nichts ist so, wie es scheint Man erkennt erst, was wirklich vor sich geht, wenn man die geheime Gruppe erkennt. Diese Gruppe hat alles geplant. Wenn Probleme auftauchen und Fragen gestellt werden, antworten Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen ähnlich. Sie sagen, dass ein geheimer Plan der Gruppe der Verschwörer dahintersteckt. 3. Alles ist miteinander verbunden Institutionen und Personen arbeiten zusammen, von denen man das nie gedacht hätte. Diese Kennzeichen zeigen auch, dass Verschwörungstheorien nicht stimmen können: 1. In unserer Welt gibt es Zufälle. 2. In unserer Welt kann man nicht alles sehr einfach erklären. 3. Und in unserer Welt sind auch nicht alle Ereignisse miteinander verbunden. Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien? Menschen haben das Bedürfnis, sich Dinge auf der Welt zu erklären. Manche Dinge sind aber schwer oder gar nicht zu erklären. Zum Beispiel ist die Corona-Krise schwer zu erklären. Die Corona-Krise kann deshalb Angst machen. Viele Dinge können Angst machen. Verschwörungstheorien geben immer einfache Erklärungen für schwierige Themen. So können sie manchen Menschen Angst nehmen. Oder sie können ihnen Sicherheit geben. Die Menschen haben dann das Gefühl, gut Bescheid zu wissen und eine Erklärung gefunden zu haben. Oder sie haben durch die Verschwörungstheorie jemanden gefunden, der schuld ist. Das lässt die Angst zwar kleiner werden, ist aber eine falsche Sicherheit. Manche Verschwörungstheorien sind ungefährlich: Wer nicht an die Mondlandung glaubt, gefährdet nicht seine Umgebung. Andere Verschwörungstheorien können aber auch Angst machen. Zum Beispiel machen sie Angst vor der vermuteten Gruppe von Verschwörern oder dem Untergang der Welt. Diese Verschwörungstheorien schaden dann den Menschen, die an sie glauben. Manche Verschwörungstheorien sind auch gefährlich für viele Menschen. Zum Beispiel sind einige Menschen gegen das Impfen. Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen verbreiten die falsche Theorie, dass Impfen Autismus auslöst. Wenn viele Menschen an diese Theorie glauben, lassen vielleicht viele Menschen ihre Kinder nicht mehr impfen. Dann können sich gefährliche Krankheiten schneller verbreiten, wie zum Beispiel die Masern. Wenn man glaubt, dass die Corona-Krise nicht existiert, kann das auch gefährlich sein. Diese Menschen halten sich dann nicht an die Vorsichtsmaßnahmen. Sie waschen sich nicht so oft die Hände und halten keinen Abstand. So gefährden sie sich und andere Menschen. Menschen glauben schneller an Verschwörungstheorien, wenn sie schlecht mit Unsicherheit umgehen können. Die Theorien geben dann Sicherheit. In der Corona-Krise fühlen sich viele Menschen unsicher. Niemand weiß genau, wie die Corona-Krise weitergeht. Deshalb sprechen im Moment Verschwörungstheorien viele Menschen an. Woher kommen Verschwörungstheorien? Es gibt drei Gründe warum jemand eine Verschwörungstheorie erfindet oder verbreitet: 1. Manche Menschen glauben eine wichtige Information entdeckt zu haben. Sie wollen der Welt etwas Gutes tun. Sie denken, sie helfen mit ihrer Verschwörungstheorie anderen Menschen. Sie sind selbst von ihrer Verschwörungstheorie überzeugt. 2. Manche Menschen machen oder verbreiten Theorien wegen ihrer politischen Einstellung Sie glauben oft selber nicht an die Theorie. Sie erfinden zum Beispiel eine Theorie, die sagt: Bürger und Bürgerinnen eines Landes sollen gegen Flüchtlinge ausgetauscht werden. So sind vielleicht manche Bürger und Bürgerinnen des Landes dann gegen Flüchtlinge. Solche Theorien werden oft von rechten oder rassistischen Gruppen unterstützt. 3. Manche Menschen verbreiten Theorien, um damit Geld zu verdienen. Sie verbreiten Verschwörungstheorien zum Beispiel bei YouTube. Sie verdienen dann Geld mit Werbung, wenn viele Menschen auf ihre Seite klicken. Oder Menschen verbreiten Verschwörungstheorien und verkaufen dann Mittel, die gegen etwas helfen sollen. Manche Menschen verbreiten die falsche Theorie, dass die Regierung Gift in das Trinkwasser mischt. Sie verkaufen dann Tabletten, die gegen das Gift helfen sollen. Die Tabletten sind aber nutzlos und teilweise sogar schädlich. Diese drei Gründe können sich auch vermischen. Menschen, die an eine Verschwörungstheorie glauben, wollen damit vielleicht auch Geld verdienen. Menschen, die eine Verschwörungstheorie erfunden haben, glauben vielleicht irgendwann selbst daran. Wie geht man mit Menschen um, die von einer Verschwörungstheorie überzeugt sind? Manche Menschen glauben ganz fest an eine bestimmte Verschwörungstheorie. In solchen Fällen hilft es nicht mehr zu sagen: „Das was du glaubst, ist eine Verschwörungstheorie.“ Es kann eher helfen zu fragen: „Woher kommen deine Informationen?“„Warum glaubst du das?“„Warum glaubst du einem bestimmten Verfasser eher als anderen?“ Vielleicht denkt die Person dann darüber nach und glaubt irgendwann weniger an die Verschwörungstheorie. Bei Menschen, die noch gar nicht oder erst ein bisschen an Verschwörungstheorien glauben, ist das anders. Ihnen kann man erklären, wie Verschwörungstheorien funktionieren und welche es gibt. Das haben wir in diesem Artikel versucht. Wo gibt es Informationen? Bei bestimmten Fernsehsendern und auch im Internet gibt es viele Fakten-Checks. Dort kann man überprüfen, ob etwas eine Verschwörungstheorie ist. Hier ist ein Beispiel-Link für einen Fakten-Check. Er ist recht leicht verständlich. Externer Link: https://www.mdr.de/brisant/corona-verschwoerungstheorien-100.html#sprung0 Eine Verschwörungstheorie ist, dass das Coronavirus eine Waffe ist und in einem Labor erzeugt wurde. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind sich einig: Das Coronavirus kann nicht von Menschen in einem Labor erzeugt worden sein. Externer Link: https://www.mimikama.at/allgemein/coronavirus-alle-behauptungen-und-faktenchecks-im-ueberblick/ Wenn Sie eine Theorie in einem Fakten-Check überprüft haben, wissen Sie besser Bescheid. Sie können dann in Gesprächen, in Nachrichten-Apps oder im Internet etwas gegen eine Verschwörungstheorie sagen. Oder Sie können Menschen fragen, warum Sie an eine bestimmte Theorie glauben. So wissen dann immer mehr Menschen, was Verschwörungstheorien sind und was man gegen sie tun kann. Wenn Sie sich über andere Verschwörungstheorien informieren wollen, empfehlen wir unser „Spezial zum Thema Verschwörungstheorien“. https://www.bpb.de/270188/ Wir empfehlen ebenfalls diese Folge des Podcasts „Die Politikstunde“ Interner Link: https://www.bpb.de/308281/
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Dorothee Meyer/Leon Spickschen/Textprüfung: Andreas Finken
"2022-01-13T00:00:00"
"2020-06-12T00:00:00"
"2022-01-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/311406/das-coronavirus-und-verschwoerungstheorien/
Zum Coronavirus werden falsche Nachrichten, Fake News, und auch Verschwörungstheorien verbreitet. Der Artikel erklärt, was Fake News und Verschwörungstheorien sind und wie man sie erkennen kann.
[ "Coronavirus", "COVID-19", "Verschwörungstheorien", "Einfach Politik", "Einfache Sprache" ]
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Der schwierige Umgang mit der Geschichte – Transitional Justice in Kroatien | Kroatien | bpb.de
Im heutigen Kroatien erinnert kaum noch etwas an den Krieg, der zu Beginn der 1990er Jahre das Leben der Einwohnerinnen und Einwohner bestimmte. Die sichtbaren Zeichen des Krieges wurden beseitigt. Nur in einigen Ortschaften, in denen der Krieg am heftigsten wütete, zeugen noch deutliche Spuren von den kriegerischen Auseinandersetzungen. Bei den unsichtbaren Folgen des Krieges ist eine ähnliche Entwicklung festzustellen. Der Krieg bleibt als eine Erinnerung in den Köpfen der Menschen, jedoch haben andere Themen über die Jahre an Wichtigkeit gewonnen. Dort hingegen, wo die materiellen Folgen des Krieges immer noch sichtbar sind – in Ostslawonien an der Grenze zu Serbien und in der Krajina an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina – ist auch ein gegenwärtiger Konflikt zwischen den in Kroatien lebenden Serbinnen und Serben und Kroatinnen und Kroaten sichtbar. Dies liegt zum einem an der Schwere der bewaffneten Auseinandersetzungen zu Beginn der 1990er Jahre und zum anderem an der relativ hohen Zahl von Einwohnern, die sich nicht als Kroaten verstehen. In diesen Gebieten ist der Begriff ethnisch gespaltene Gesellschaft zutreffend. Die Spaltung manifestiert sich in getrennten Stadtvierteln, Cafés und Vereinen und sogar in verschiedenen Sprachen und Schriften. Sichtbare Zeichen der Trennung sind nicht ungewöhnlich für eine Gesellschaft, die aus verschiedenen ethnischen Gruppen besteht; problematisch ist dieser Zustand jedoch aufgrund der stark divergierenden Erinnerungen an die konfliktive Vergangenheit. Doch sind es nicht nur die Erinnerungen an den vergangenen Krieg der frühen 1990er Jahre, sondern auch Erinnerungen, Geschichten und Mythen aus der weiter zurückliegenden Vergangenheit, die zu einer Spaltung beitragen. Im Rahmen dieses Beitrags wird allerdings nur der Umgang mit der jüngeren Vergangenheit betrachtet. Der Krieg, der von 1991 bis 1995 wütete, wurde anhand ethnischer Konfliktlinien ausgetragen; vereinfacht ausgedrückt kämpften auf dem Gebiet des heutigen Kroatien Serben gegen Kroaten um die territoriale Kontrolle der Gebiete, die einen serbischen Bevölkerungsanteil aufwiesen. Zum Ende dieses Krieges konnten sich die kroatischen Truppen durchsetzen und die ehemals von Serben besetzten Gebiete in der Republik Kroatien wiedervereinen. Für den kroatischen Bevölkerungsanteil kam dieser Ausgang des Krieges einem Sieg gleich; für den serbischen bedeutete der kroatische Sieg jedoch eine Niederlage, die mit vielfacher Flucht und Vertreibung aus den angestammten Siedlungsgebieten einherging. Diese unterschiedlichen Erfahrungen von siegen und besiegt werden geht einher mit grundlegend verschiedenen Deutungen des Krieges. Während für viele Kroaten die Verteidigung gegen eine unrechtmäßige serbische Aggression und das damit verbundene Leid im Vordergrund stehen, ist für viele Serben die Vertreibung aus ihrer Heimat die prägende Erinnerung. Somit sehen sich trotz der klaren Einordnung in Sieger und Besiegte sowohl die kroatischen als auch die serbischen Einwohner häufig als alleinige Opfer des Krieges. Eine gemeinsame Sicht auf die Vergangenheit, die Raum für eine differenzierte Betrachtung des komplexen Konflikts ließe, ist vor Ort nicht auszumachen. Stattdessen entscheidet der ethnische Hintergrund einer Person meist darüber wie diese Person die Vergangenheit wahrnimmt. Es ist dieses noch immer von ethnischen Differenzen geprägte Umfeld, in welchem Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung implementiert wurden und werden. Im Folgenden werde ich einen kurzen Überblick über weniger bekannte Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung in Kroatien geben. Im Anschluss werden Denkmäler und der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als die bekannteren Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung hervorgehoben, um dann exemplarisch darzustellen, wie jene die Perzeption der Bevölkerung bezüglich der kriegerischen Vergangenheit beeinflussen. Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung Ein juristischer Mechanismus der Vergangenheitsaufarbeitung in Kroatien sind nationale Kriegsverbrecherprozesse, die sich ausschließlich mit Fällen extremer Menschenrechtsverletzungen beschäftigen. Für alle anderen Verbrechen, die während des Krieges stattfanden, wurde eine Amnestie beschlossen, wobei deren Bedingungen mehrdeutig formuliert sind und somit oft einer Prüfung des Einzelfalls unterliegen. Trotz der vergleichsweise hohen Zahl von Anklagen, bis 2005 wurden 1675 Personen von nationalen kroatischen Gerichten strafrechtlich geahndet, war der internationale Ruf dieser Gerichte negativ. Grund hierfür war der von Menschenrechtsorganisationen erhobene Vorwurf des einseitigen, pro-kroatisch und anti-serbischen Handelns. Erst durch die Etablierung von vier zentralen Kriegsverbrecherkammern in den größten Städten des Landes verstummten die Kritiker. Dies führte dazu, dass der ICTY, der bis dahin unabhängig agiert hatte, mit den nationalen Gerichten zu kooperieren begann und Fälle aus der eigenen Verantwortung an die nationalen Gerichte in Kroatien auslagerte. Während der Bereich der juristischen Aufarbeitung Fortschritte machte, wurden andere Mechanismen, die gewöhnlich als Teil von Prozessen der Transitional Justice gesehen werden gar nicht oder auf fragwürdige Weise durchgeführt. Ein Beispiel für nicht durchgeführte Maßnahmen der Vergangenheitsaufarbeitung ist die Überprüfung von Staatsbediensteten hinsichtlich ihrer Rolle während des Konflikts. Auch wenn es vereinzelt dazu kam, dass Staatsbedienstete, die unter dem Verdacht standen, während des Krieges in Verbrechen verwickelt gewesen zu sein, unauffällig "ersetzt" oder in Rente geschickt wurden, gab es keine Form der öffentlichen Aufarbeitung. Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um die Vergangenheit transparent aufzuarbeiten. Als Beispiel für Mechanismen der Transitional Justice, die aufgrund ihrer einseitigen Betrachtung der Vergangenheit kritisierbar sind, kann ein 2006 geschaffenes Dokumentationszentrum herangezogen werden. Bereits der Name der Institution – Kroatisches Zentrum zur Erinnerung und Dokumentation an den Vaterländischen Krieg – und mehr noch die Aussagen seines Leiters Ante Nazor, der die Aktionen der kroatischen Armee 1995 als legitime und legale Operationen zur Befreiung des besetzten Territoriums bezeichnete, unterstreichen einen gewissen Zugriff des Zentrums auf die Vergangenheit. Als Reaktion auf die inhaltliche Gewichtung des Zentrums haben lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen damit begonnen, unabhängige Wahrheitsfindungsprojekte anzustoßen. Diese waren bisher allerdings nur mäßig erfolgreich. Die einseitige Darstellung der Vergangenheit, die bei den ersten Prozessen der nationalen Kriegsverbrecherprozesse beobachtet werden konnte, trat bei dem Dokumentationszentrum unter der Leitung von Ante Nazor ebenfalls zutage. Gedenkstätten in Kroatien In Kroatien erinnern unzählige Gedenkstätten an den Krieg der frühen 1990er Jahre. Wie in anderen Regionen des ehemaligen Jugoslawien geben sie meist ausschließlich die Interpretation der Geschichte wieder, die im betreffenden Gebiet von der Mehrheit der ansässigen Bevölkerung vertreten wird. Besonders eindrucksvoll lässt sich dies in Vukovar zeigen. Die Stadt liegt an der Donau, an der serbischen Grenze und hat eine besondere Kriegsgeschichte: Im Spätsommer 1991 widersetzte sich die Bevölkerung trotz monatelangem Beschuss einer serbischen Übermacht, die versuchte, die Stadt einzunehmen. Daher ist Vukovar für viele Kroaten zu einem Synonym für Heldenmut und Durchhaltewillen des kroatischen Volkes geworden. Neben immer noch erkennbaren Kriegsruinen erinnern heute in und um Vukovar sieben zentrale Gedenkstätten an die Belagerung, die Mitte November 1991 mit dem Fall der Stadt endete. Außerhalb der Stadt, am Originalschauplatz, erinnert ein Gedenkraum an ein Massaker, bei dem mehr als 200 kroatische Zivilisten ermordet wurden. Ebenfalls außerhalb der Stadt befindet sich ein Friedhof für die Opfer der Belagerung. Die Gräber der gefallenen Kämpferinnen und Kämpfer auf Seiten der Kroaten sind an einem schwarzen Marmorgrabstein zu erkennen. Dieser ist verziert mit der Inschrift, dass hier eine Heldin oder ein Held des vaterländischen Krieges bestattet ist. Innerhalb der Stadt gibt es fünf weitere Gedenkorte: Ein großes Marmorkreuz an der Donau, das an die Getöteten erinnert, sowie die Ruine eines im Krieg zerstörten Wasserturms sind jeweils zu einer Art Wahrzeichen von Vukovar geworden. Zwei Ausstellungen geben ebenfalls Auskunft über die Zeit der Belagerung. Als fünfte und jüngste Gedenkstätte innerhalb der Stadt wurde 2011 ein Gedenkraum an einer Zufahrtsstraße eröffnet, in welcher zu Beginn der Belagerung der Vormarsch der einrückenden Panzer aufgehalten werden konnte und es zu gewaltigen Verlusten unter den serbischen Angreifern kam. Ähnlich wie das bereits erwähnte Dokumentationszentrum vermitteln die sieben genannten Gedenkstätten ein einseitiges Bild der Vergangenheit. Die kroatischen Verteidigerinnen und Verteidiger werden zu Helden, der getöteten serbischen Zivilsten wird nicht gedacht. Dies mag auf den ersten Blick nicht verwundern, da – wie bereits beschrieben – die Kroaten am Enden des Krieges siegreich waren. Allerdings war und ist Vukovar noch immer eine Stadt mit einem signifikanten serbischen Bevölkerungsanteil, sodass sich die Frage aufdrängt, inwiefern das einseitige Gedenken negative Auswirkungen auf das Zusammenleben der beiden ethnischen Gruppen in der Stadt hat. So fühlten sich alle von mir im Jahr 2011 befragten Serben, die in Vukovar lebten, nicht durch die oben genannten Gedenkstätten repräsentiert und forderten stattdessen zumindest teilweise eigene Gedenkstätten. Auch wenn die Situation in Vukovar nicht verallgemeinert werden darf, zeigt der kurze Überblick über die sieben Denkmäler und ihre Perzeption in Vukovar dennoch, dass Gedenkstätten auf das Zusammenleben der ethnischen Gruppen trennend wirken können, wenn sie nur die Geschichte einer Gruppe darstellen. In einer Region, in der die Geschichte ein umkämpftes Gut ist, wird eine Gedenkstätte dann zu einem steinernen Argument der Sichtweise jener Konfliktpartei, welche die Gedenkstätte errichtet hat. Dennoch lässt sich in Vukovar immer häufiger eine Annäherung zwischen Personen der ehemals verfeindeten ethnischen Gruppen erkennen – jedoch findet diese nicht wegen, sondern trotz der Gedenkstätten statt. Internationaler Strafgerichtshof Gedenkstätten als eine lokale Art des Umgangs mit der Vergangenheit bieten bereits beim Bau die Möglichkeit eine bestimmte Deutung der Geschichte darzustellen, die dann häufig auch von Besuchern genauso perzipiert wird. Im Gegensatz dazu ist der ICTY, der im Folgenden dargestellt wird, ein Projekt der Vereinten Nationen, sodass man erwarten könnte, dass er überparteiisch arbeitet und auch von den Einwohnern Kroatiens als solches wahrgenommen wird. Im Mai 1993 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ins Leben gerufen, verhandelt der in Den Haag ansässige ICTY Kriegsverbrechen aus allen Kriegsregionen im ehemaligen Jugoslawien und hat bis heute insgesamt 161 Personen angeklagt. Am bekanntesten sind die Prozesse gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević sowie die bosnischen Serben Ratko Mladić und Radovan Karadžić. Bezüglich der Prozesse, die den Krieg in Kroatien verhandelten, erlangte vor allem der Prozess des kroatischen Generals Ante Gotovina internationale Bekanntheit. Gotovina war 1995 als führender General maßgeblich an den Rückeroberungen der von serbischen Separatisten gehaltenen Gebiete auf kroatischem Territorium beteiligt. Diese Rückeroberungen sicherten die territoriale Einheit des kroatischen Staates und machten Ante Gotovina zu einem Helden des kroatischen Volkes. Vielen Serben sehen Gotovina jedoch als Kriegsverbrecher, weil die von ihm herbeigeführte militärische Niederlage der serbischen Separatisten dazu führte, dass es zu einem serbischen Exodus aus Gebieten kam, die teils schon seit Jahrhunderten serbisch besiedelt waren. Die Anklageschrift des ICTY aus dem Jahr 2001 berief sich auf diese Vorfälle und warf Gotovina vor, massiv gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen zu haben. Im Speziellen wurde ihm vorgeworfen, persönlich oder zusammen mit anderen (u.a. wird der damalige Präsident Kroatiens Franjo Tuđman namentlich genannt) die Verantwortung für die Tötung von mindestens 150 in der sogenannten Krajina lebenden Serben sowie für Plünderungen und Vertreibung inne zu haben. In erster Instanz verurteilte der ICTY im April 2011 Gotovina zu einer langjährigen Freiheitsstrafe, die zu Protesten in Kroatien führte. Die Tatsache, dass es Demonstrationen gegen das Urteil eines internationalen Strafgerichtshofs gab, zeigt, welch hohe Bedeutung diesem Prozess in Kroatien zugemessen wurde. Der Prozess gegen Gotovina wurde als ein Infragestellen der nationalen Ehre gesehen, der Schuldspruch im Jahr 2011 als eine Demütigung der ganzen kroatischen Nation. Erklären lässt sich dies zum einen durch den Status, den Gotovina als Volksheld innehatte, und zum anderen durch ein generelles Interpretationsmuster der jüngeren Geschichte Kroatiens, wie es von einem Großteil der kroatischen Bevölkerung geteilt wird. Der Kern dieses Interpretationsmusters geht auf die offizielle Position der kroatischen Regierung unter Präsident Tuđman zurück, die postulierte, dass im Kontext des kroatischen Verteidigungskriegs seitens der kroatischen Verteidiger keine Kriegsverbrechen begangen wurden. Die im Jahre 1994 von dem damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts Kroatiens, Milan Vuković, gemachte Aussage: "Kriegsverbrechen werden durch Aggressoren begangen, diejenigen, die sich verteidigen, können nur Verbrechen im Krieg begehen," wurde zu einer Art inoffiziellen Doktrin und bestimmte die Art und Weise, wie viele Kroaten die Rolle Kroatiens im Krieg wahrnehmen. Da die Richter des ICTY dieser Sichtweise nicht folgten, kam es zu einer starken Ablehnung des ICTY unter der kroatischen Bevölkerung. Dabei spielte der eigentliche Gerichtsprozess in dieser Wahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle, da er meist gar nicht aufmerksam verfolgt wurde. Viele Bewohner Kroatiens hatten sich ein Urteil gebildet, das nicht auf Fakten und Beweisen basierte, sondern auf der Perzeption, die von der eigenen ethnischen Gruppe geprägt wurde. So wurde die Verurteilung Gotovinas von vielen Kroaten als negativ, von vielen Serben jedoch als positiv betrachtet. Diese Art der lokalen Interpretation des Prozesses schwächte die Legitimität des internationalen Strafgerichtshofs. Anstelle von Zeugenaussagen und kriminalistischen Beweisen entschied ethnische Zugehörigkeit darüber, was als gerechte Urteilsfindung wahrgenommen wurde. Verstärkt wurde dieser Prozess dadurch, dass viele Medien in Kroatien sich (auch heute noch) entweder an serbische oder an kroatische Konsumenten richteten. Eine differenzierte Betrachtung der Vergangenheit anhand eines solchen Gerichtsprozesses fand und findet kaum statt. Anstatt zu zeigen, dass es auf allen Seiten sowohl Opfer als auch Täterinnen und Täter gab, führte der Gotovina-Prozess dazu, dass sich viele Kroaten von der internationalen Gemeinschaft ungerecht behandelt fühlten. Die Frage, ob die Vorwürfe berechtigt waren, wurde nicht gestellt, auch weil nationale kroatische Medien sie vermieden. Der Gotovina-Prozess ist auch deshalb so interessant, weil der ICTY im Berufungsverfahren im November 2012 sein Urteil revidierte und Ante Gotovina sowie den Mitangeklagten Mladen Markač mit der Begründung freisprach, dass der Krieg ein legitimer Akt der Selbstverteidigung war. Interessanter als die Hintergründe des Urteils, die im Rahmen dieses Artikels nicht ausführlich dargestellt werden können, sind die Reaktionen in der betroffenen Region. Während es in Kroatien spontane Versammlungen und Aufmärsche gab, bei denen das Urteil gefeiert wurde, kam aus Serbien entschiedene Kritik, unter anderem vom dortigen Präsidenten Tanislav Nikolić. Die Reaktionen auf das Urteil verdeutlichen, dass, wie schon das Urteil aus dem Jahr 2011, auch die vom ICTY proklamierte, revidierte Gerechtigkeit nicht von beiden Gruppen gleichzeitig anerkannt wird. Die Wahrnehmung des ICTY hängt vielmehr davon ab, ob eine Angeklagte oder ein Angeklagter der eigenen ethnischen Gruppe verurteilt oder freigesprochen wird, wobei nur letzteres als positiv aufgefasst wird. Urteile werden selten kritisch hinterfragt, sondern dazu benutzt, bestehende Ablehnung und Stereotype gegen die jeweils andere ethnische Gruppe zu reproduzieren. Eine einseitige Interpretation der Vergangenheit wurde vom ICTY in diesem Fall somit nicht aufgehoben sondern setzt sich weiter fort. Ein Schuldeingeständnis für die eigene ethnische Gruppe oder eine Anerkennung der Opfer der anderen ethnischen Gruppe finden nicht statt. Perzeption und Wirkung Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Vergangenheit oder genauer die Deutung der Vergangenheit im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens nach wie vor ein hochgradig umkämpftes Gut ist. In der Politik und den Medien wurde und wird die Vergangenheit häufig einseitig dargestellt und die Gegenwart mit dieser einseitigen Perzeption der Vergangenheit erklärt. So werden Gerichtsurteile des ICTY von der Politik immer noch pauschal abgelehnt oder harmlose Raufereien unter Jugendlichen in den Medien thematisiert, sobald Mitglieder der verschiedenen ethnischen Gruppen beteiligt sind. In diesem gespannten Umfeld findet die Vergangenheitsaufarbeitung statt. Die Gefahr, dass auch diese von Politikern und Medien instrumentalisiert wird, liegt somit nahe. Die Analyse dieses Artikels zeigt, dass insbesondere zwei Formen der Instrumentalisierung auftreten können. Die erste Form kann man am Beispiel der Denkmäler erkennen, welches herausstellt, dass es lokale Mechanismen des Umgangs mit der Vergangenheit gibt, die häufig gar nicht das Ziel einer unabhängigen Aufarbeitung verfolgen. Im Gegenteil: Sie forcieren eine bestimmte Sichtweise der Vergangenheit. Nicht die Tatsache, dass mit den Denkmälern der kriegerischen Vergangenheit gedacht wird, sondern die einseitige Form und Wahrnehmung von Gedenkstätten führt dazu, dass viele Denkmäler nur von einer ethnischen Gruppe akzeptiert werden. Dadurch wird ein Konflikt zwischen ethnischen Gruppen reproduziert. Die zweite Form betrifft internationale und lokale Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung, die den Anspruch haben, unparteiisch zu sein. Die Instrumentalisierung von Urteilen des ICTY kann nicht nur auf Seiten der Perzeption der Bevölkerung beobachtet werden. Auch gab es in der Vergangenheit von den meisten Regierungen eine Politik der Obstruktion gegen das ICTY, anstatt die Arbeit des ICTY zu unterstützen, um eine Rechtsprechung zu ermöglichen, die Kriegsverbrecher verurteilt und der Wahrheitsfindung dient. Gepaart war diese Politik mit starker öffentlicher der Kritik gegenüber dem ICTY. Somit verloren viele Einwohner jede Form des Vertrauens in das ICTY. Die Urteile wurden in der Folge von vielen nicht anhand der Prozesse beurteilt, sondern anhand der Ethnizität des oder der Angeklagten. Gegen diese Form der "wahrgenommenen ethnischen Gerechtigkeit" kann sich eine juristische Gerechtigkeit eines internationalen Strafgerichtshofs kaum durchsetzen. Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Umgang mit der Vergangenheit im ehemaligen Jugoslawien häufig dazu führt, dass vermeintliche Differenzen zwischen den ethnischen Gruppen hervorgehoben werden; sei es auf lokaler Ebene in Städten wie Vukovar, in der die dort lebenden Kroaten und Serben zum Beispiel einseitige Denkmäler errichten lassen oder einfordern, oder auf nationaler Ebene wie im Falle der Kritik des serbischen Präsidenten am Urteil des ICTY. Entscheidend scheint also nicht die Implementierung von Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung selbst zu sein, sondern die Frage wie deren Wahrnehmung von lokalen und nationalen Meinungsmachern beeinflusst wird. Solange die Vergangenheit ein umkämpftes Gut ist und in der Bevölkerung, den Medien und der Politik nur ein schwacher Wille zu einer wirklichen Aufarbeitung gibt, wird die Vergangenheitsaufarbeitung auch an der Aufgabe scheitern, ein friedliches Zusammenleben der Bevölkerungen zu fördern. Und doch gibt es Hoffnung. Wie bereits zu Beginn dieses Artikels erwähnt, nimmt der Bezug der Bevölkerung auf die kriegerische Vergangenheit langsam ab. Diese Entwicklung birgt das Potenzial eines offeneren Umgangs mit der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe. Gefördert wird dieser Prozess auch von positiven Beispielen der Vergangenheitsaufarbeitung. Ein solches Beispiel war das Zusammentreffen des damaligen serbischen Präsidenten Tadić mit seinem kroatischen Amtskollegen Josipović in Vukovar im November 2010. Zusammen besuchten sie sowohl ein Denkmal für kroatische Opfer des Krieges als auch ein Denkmal für serbische Opfer des Krieges. Auch wenn beide Denkmäler für sich gesehen nur eine Seite des Konflikts darstellen, so verdeutlichte der gemeinsame Besuch beider Gedenkstätten, dass durch einen konstruktiven Umgang mit der Vergangenheit eine Annäherung möglich ist, solange dieser gewollt wird. Dieser Artikel basiert auf den Ergebnissen des DFG Projekts "The Politics of Building Peace: An Analysis of Transitional Justice, Reconciliation Initiatives and Unification Policies in War-torn Societies" am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg. Im Rahmen einer zweimonatigen Feldforschung in Vukovar/Kroatien wurden im Sommer 2011 etwa 30 Interviews mit Experten sowie Einwohnern der Stadt durchgeführt. Aus diesem Grund wird der Fokus des Beitrags auf das kroatisch-serbische Verhältnis gelegt. Trotz ihrer Ähnlichkeit gelten Kroatisch und Serbisch gemeinhin als eigenständige Sprachen. Das Serbische verwendet das kyrillische und das lateinische Alphabet, das Kroatische ausschließlich das lateinische Alphabet. Zum Umgang mit der weiter zurückliegenden Vergangenheit siehe auch den Beitrag von Ljiljana Radonic in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Im Verlauf dieses Artikels wird der Fachbegriff Transitional Justice verwendet. Als eine Einführung zum Thema Transitional Justice kann dienen: Susanne Buckley-Zistel, Handreichung Transitional Justice, 7 (2007), online: Externer Link: http://www.konfliktbearbeitung.net/downloads/file889.pdf (18.3.2013). Vgl. Thierry Cruvellier/Marta Valiñas, International Center for Transitional Justice Report, Croatia: Selected Developments in Transitional Justice, New York 2006, S. 14, online: Externer Link: http://www.ictj.org/publication/croatia-selected-developments-transitional-justice (18.3.2013). Vgl. Ivo Josipovic, Responsibility for war crimes before national courts in Croatia, in: International Review of the Red Cross, 88 (2006) 861, online: Externer Link: http://www.icrc.org/eng/assets/files/other/irrc_861_josipovic.pdf (18.3.2012). Vgl. Human Rights Watch. Justice at Risk, War crimes trials in Croatia, Bosnia and Herzegovina, and Serbia and Montenegro, 2004 , S. 9, online: Externer Link: http://wcjp.unicri.it/proceedings/docs/HRW_Justice%20at%20risk_2004_eng.PDF (18.3.2013). Vgl. T. Cruvellier/M. Valiñas (Anm. 5), S. 14. OSCE Mission to Croatia, Background Report: Domestic War Crime Trials 2005, 13. September 2006, S. 28, online: Externer Link: http://www.osce.org/zagreb/20688 (18.3.2013). Vgl. T. Cruvellier/M. Valiñas (Anm. 5), S. 3. Im Original: Hrvatski memorijalno-dokumentacijski centar Domovinskog rata. Vgl. T. Cruvellier/M. Valiñas (Anm. 5), S. 25. Am bekanntesten ist: The Regional Commission for establishing the facts about war crimes and other gross violations of Human Rights committed on the Territory of the Former Yugoslavia (RECOM), online: Externer Link: http://www.zarekom.org/uploads/documents/2011/04/i_836/f_28/f_1865_en.pdf (18.3.2013). Vgl. T. Cruvellier/M. Valiñas (Anm. 5), S. 25. Eine Unterschriftenkampagne zur Einführung einer Wahrheitskommission in Kroatien fand wenig Zuspruch der Bevölkerung. Interview mit einem NGO-Mitarbeiter, Sarajevo 2012. Vgl. Humanitarian Law Center Report, Transitional Justice in Post-Yugoslav Countries, Belgrade 2006, S. 67, online: Externer Link: http://wcjp.unicri.it/proceedings/docs/DOCUMENTA-HLC-RCS_Trans%20justice%20in%20ex%20Yu%20countries_2006_eng.PDF (14.2.2013). Zu Beginn des Krieges kämpfte offiziell noch die Jugoslawische Volksarmee, sodass unter den gefallenen Soldaten auch Personen nicht-serbischer Herkunft waren. Der Zensus des Jahres 2011 ergab für die Stadt Vukovar: Kroaten: 57,37% der Gesamtbevölkerung; Serben: 34,87% der Gesamtbevölkerung. Daten vom Croatian Bureau of Statistics, online: Externer Link: http://www.dzs.hr/default_e.htm (18.3.2013). Diese Befragung war nicht repräsentativ, die Ergebnisse geben daher nur einen subjektiven Eindruck wieder. So das Ergebnis meiner Feldforschung 2011 und der Gespräche mit Bürgern und Experten. Website des ICTY, About the ICTY, online: Externer Link: http://www.icty.org/sections/AbouttheICTY (18.3.2013). ICTY Website, Gotovina Prozess, online: Externer Link: http://www.icty.org/x/cases/gotovina/ind/en/got-ii010608e.htm (18.3.2013). Zit. nach: Institute for War and Peace Reporting, online: Externer Link: http://iwpr.net/report-news/croatian-indictments-expected (14.2.2013). Ante Gotovina. Serben entsetzt über Freispruch für kroatischen General, Spiegel online vom 16.11.2012, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/ausland/serben-entsetzt-ueber-freispruch-fuer-kroatischen-general-ante-gotovina-a-867667.html (18.3.2013). Vgl. zur Kritik am Urteil und Hintergründe z.B. Michael Martens, Nicht nur Nationalisten, 18.11.2012, online: Externer Link: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nach-gotovina-freispruch-nicht-nur-nationalisten-11964570.html (18.3.2013). Vgl. Spiegel Online (Anm. 24) Dieses und ähnliche Beispiele wurden dem Autor während eines Feldforschungsaufenthaltes im Sommer 2011 von Einwohnern Vukovars berichtet. Vgl. Jelena Subotić, The Paradox of International Justice Compliance, in: The International Journal of Transitional Justice, (2009) 3, S. 362–383. Vgl. Thomas Fuster, Gesten der Versöhnung in Vukovar, 4.11.2010, online: Externer Link: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/gesten-der-versoehnung-in-vukovar-1.8265720 (18.3.2013).
Article
, Christian Braun
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-04-16T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/158172/der-schwierige-umgang-mit-der-geschichte-transitional-justice-in-kroatien/
Der Artikel stellt Mechanismen der Vergangenheitsaufarbeitung in Kroatien vor und zeigt exemplarisch am Beispiel der von Serben und Kroaten bewohnten Stadt Vukovar den Einfluss dieser Mechanismen auf das Zusammenleben.
[ "Geschichte", "transitional Justice", "Vergangenheitsaufarbeitung", "Jugoslawienkriege", "Balkankonflikt", "Gedenkstätten", "Internationaler Strafgerichtshof", "ICTY", "Kroatien" ]
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"Nicht in meinem Kiez!" | Bauen und Wohnen | bpb.de
In einem herrscht Einigkeit in der chronisch zerstrittenen Ökonomenzunft: Es gibt selten perfekte Lösungen für soziale Probleme, dafür aber Zielkonflikte. Denn in einer Welt mit knappen Ressourcen existiert nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten, diese zur Lösung der Konflikte zu verwenden. Alle Entscheidungen haben Kosten – und sei es nur, dass wir mit jeder Entscheidung andere Möglichkeiten ausschließen. Politikwissenschaftler sprechen ebenfalls von sozialen Zielkonflikten: Möchte man ein bestimmtes Politikziel erreichen, lassen sich andere erwünschte Ziele nicht mehr oder nicht gleichzeitig erfüllen. Das Problem sozialer Zielkonflikte gilt auch für das Bauen und Wohnen. Weltweit ist Stadtökonomen klar: Wer den Kampf gegen Armut und Klimawandel ernst nimmt, muss im Zentrum der Städte bauen. Gleichzeitig wächst aber der lokale Widerstand gegen urbane Veränderungen. Die entscheidende Frage, die eine politische Ökonomie des Bauens und Wohnens somit stellen muss, ist: Welche institutionelle Ordnung erlaubt es, soziale Zielkonflikte im urbanen Bauen und Wohnen am besten zu verhandeln? Wir wollen im Folgenden zeigen, dass ein liberaler Ordnungsrahmen urbane Zielkonflikte am besten lösen kann. Dabei nutzen wir Argumente aus der politischen Ökonomie in drei Schritten: Zuerst demonstrieren wir die Herausforderung einer wachsenden "Nicht in meinem Kiez"-Einstellung in der Bevölkerung, die die Weiterentwicklung des urbanen Raums zunehmend behindert. Dann begründen wir, warum die Argumente der wohnungspolitischen Widerstandsaktivisten nicht einfach vom Tisch gewischt werden sollten, diese aber häufig die enormen sozialen und ökologischen Kosten unterschätzen, die sie durch ihren Aktivismus verursachen. Schließlich zeigen wir auf, wie ein zweigliedriger, liberaler Ordnungsrahmen dabei helfen kann, den urbanen sozialen Zielkonflikt zu lösen: Märkte sind unterschätzte Mediatoren sozialer Zielkonflikte, denen es durch den Preismechanismus gelingt, Signale und Anreize für soziale Kooperation statt Konflikt zu setzen. Politische Teilhabe ist allerdings eine wichtige Ergänzung des marktwirtschaftlichen Prozesses, um urbanen Wandel unter Berücksichtigung lokaler Interessen mitzugestalten. Soziale Zielkonflikte 400000 Wohnungen will die Bundesregierung pro Jahr neu bauen. So steht es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Die Realität ist jedoch ernüchternd. Statt mehr entstehen in Deutschland derzeit weniger Wohnungen. Im vergangenen Jahr konnten gerade einmal 293400 neue Wohnungen fertiggestellt werden – ein deutlicher Rückgang zum Vorjahr. Und auch die Zahl der Baugenehmigungen für Wohnungen ist geringer als im Vorjahreszeitraum. Das ist besonders besorgniserregend, weil diese negative Entwicklung schon vor den Preisexplosionen und der Energieknappheit infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine begann. Ein besonders krasses Beispiel findet sich in Berlin: Bis September 2022 ging noch kein einziger Förderantrag für sozialen Wohnungsbau bei der Stadt Berlin ein – obwohl 5000 neue Sozialwohnungen in der Stadt geplant sind. Gründe für den stockenden Wohnungsbau in deutschen Städten lassen sich viele nennen: steigende Materialpreise, die hohe angebotsseitige Regulierungsdichte, der Fachkräftemangel. Ein Grund wird jedoch selten thematisiert: der wachsende Widerstand wohnungspolitischer Aktivisten gegen Neubauprojekte. Unter dem Begriff "German Angst" ist die Sorge vieler Deutscher gegenüber großen Infrastrukturprojekten international längst bekannt. Hinzu kommt nun auch aktiver Widerstand gegen die Weiterentwicklung der Wohnungslandschaft, besonders im urbanen Raum. Lokaler Widerstand gegen Neubauprojekte ist so virulent, dass sich 2018 das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung mit der mangelnden "Bauakzeptanz" in Deutschland beschäftigte. In einer Studie wurden mehr als ein Dutzend Wohnungsbauvorhaben in sechs deutschen Städten analysiert. Ein Ergebnis war, dass Bauvorhaben "in vielfältiger Weise von den Anwohnerinnen und Anwohnern als Beeinträchtigung ihrer Wohn- und Lebenssituation empfunden werden" – ein Hemmschuh für zügigen Neubau. Wie lässt sich dieser Widerstand gegen die Ausweitung des Wohnangebotes erklären? Hier hilft ein Blick in die Vereinigten Staaten. In den USA ist das Phänomen der NIMBY schon lange bekannt. NIMBY ist ein Akronym, das für "Not In My Backyard" steht und frei übersetzt so viel wie "Nicht in meinem Kiez" (NIMKI) bedeutet. Es bezieht sich auf Aktivisten, die zwar generell anerkennen, dass es Lösungen für soziale und ökologische Probleme geben muss, dies aber nicht in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie sehen ein, dass es mehr Wohnungsbau in Zentrumsnähe geben sollte, demonstrieren aber gegen zusätzliche Bebauung, wenn diese ihre unmittelbare Umgebung betrifft. Dabei unterschätzen die NIMKI-Aktivisten jedoch häufig, in welchem sozialen Zielkonfliktfeld sie sich befinden und wie hoch die Kosten ihres Engagements sind. Machen wir es konkret und betrachten zwei Zielkonflikte wohnungspolitischen Widerstandsaktivismus: einen ökologischen und einen sozialen. Ökonomen und Umweltwissenschaftler betonen immer wieder die Relevanz des dicht besiedelten urbanen Raums im Kampf gegen den Klimawandel: "Würde die gesamte Bevölkerung so dicht leben wie in Manhattan, würden fast alle acht Milliarden Menschen auf der Welt in ein Gebiet der Größe Deutschlands passen." Das würde das Klima schützen, weil eine hohe Bevölkerungskonzentration mit einer massiven Reduktion von CO2 und dem Schutz von großen Naturflächen einhergeht. Dabei ist die hohe Bevölkerungsdichte von Manhattan gar nicht notwendig: Schon eine Verdoppelung der urbanen Konzentration kann den CO2-Ausstoß durch Verkehr um knapp die Hälfte und den Ausstoß durch Wohnen um mehr als ein Drittel senken. Wenn Stadtbewohner Bauprojekte verhindern, zwingt dies potenzielle Innenstadtbewohner in das dünnbesiedelte Umland. Dort müssen sie weite, CO2-intensive Wege in die Stadt auf sich nehmen, leben statt in hocheffizienten Mehrfamilienhäusern in CO2-intensiven kleineren Immobilien und versiegeln durch Neubau große Naturflächen. "Nicht in meinem Kiez!" steht in einem ökologischen Zielkonflikt und verursacht damit hohe Kosten. Der wohnungspolitische Widerstand verursacht aber auch hohe soziale Kosten. Denn zusätzliche Wohneinheiten in beliebten Stadtteilen führen tendenziell dazu, dass die Preise für einkommensschwache Haushalte sinken – egal, ob sie von Privatvermietern, Unternehmen oder kommunalen Trägern gebaut werden. Die ökonomische Logik lehrt, dass – unter sonst gleichen Bedingungen – eine Ausweitung des Wohnangebots den Preis für Eigentum und Mieten senkt, und dies auch für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen. Beim Bau zusätzlicher Sozialwohnungen mag das schon intuitiv einleuchten, es gilt jedoch auch für Wohnungen, die zum höheren Marktpreis angeboten werden. Eine Vielzahl empirischer Studien aus den vergangenen Jahren zeigt, dass der "Angebotseffekt" wirkt: Zusätzliches Angebot senkt die Mieten in der Umgebung, weil mehr Angebot auf relativ weniger Nachfrage trifft und das bestehende Wohnungsangebot entlastet wird. Das gilt auch für höherpreisige Wohngebäude, die in einkommensschwachen Nachbarschaften gebaut werden, und wirkt schon innerhalb kurzer Zeit. Der Widerstand der NIMKI gegen zusätzlichen Wohnungsbau mag von guten Absichten getrieben sein, doch zählen bei der Betrachtung von sozialen Zielkonflikten nicht die guten Absichten, sondern die sozialen Konsequenzen. Dabei ist die Position der NIMKI-Fraktion durchaus nachvollziehbar: Bürger organisieren sich auf freiwilliger Basis, weil sie sich einer Entwicklung gegenübersehen, die den Charakter ihres Kiezes zum Schlechteren verändert. Die Stadtplanerin Jane Jacobs beschrieb diesen Widerstand schon in ihrem 1962 erschienenen Buch "Tod und Leben großer amerikanischer Städte". Darin kritisierte sie, wie eine zentralistische Stadtplanung ganze Viertel nach ihrem Gutdünken veränderte, ohne die Bürger vor Ort zu beteiligen. In einem Konflikt mit dem technokratischen Stadtplaner Robert Moses lancierte Jacobs in den 1950er und 1960er Jahren erfolgreich Widerstand gegen Highways und Neubauprojekte in New York City, die ganze Communities durchschnitten und zerstört hätten. In ihren Argumenten bedient sie sich aus dem liberalen Instrumentenkasten: Individuen vor Ort wissen oft besser, was ihren Kiez erfolgreich macht, und haben, ob der physischen Nähe, auch stärkere Anreize, ihren Kiez tatsächlich zu verbessern. Daher sollten sie auch stärker an kommunalen Bebauungsprozessen beteiligt werden. Diese Interpretation der NIMKI-Motivation stößt aber an Grenzen. Denn sie unterschätzt, wie schnell Bürgerbeteiligungen von den Interessen privilegierter Gruppen gekapert werden. Die Insider-Outsider-Theorie des Politikwissenschaftlers Mancur Olson warnt davor, dass oft nicht gemeinwohlorientierte lokale Befindlichkeiten, sondern das Eigeninteresse der Kiezbewohner Motor des Widerstands gegen neue Bauprojekte ist. Die Bewohner der beliebten Kieze sind meist privilegierte Insider, weil sie von den Vorteilen der ökonomischen Agglomerationseffekte urbanen Lebens profitieren: ausgezeichnete Verdienstmöglichkeiten, herausragende Aufstiegsmöglichkeiten und (noch) günstige Mieten in Immobilien mit hohem Wert. Die Vorteile der Agglomeration ziehen aber auch Outsider an, die bisher noch nicht in der Stadt leben und von ihren Vorteilen profitieren möchten. Zusätzliches Wohnangebot für die Outsider würde jedoch eine Veränderung des liebgewonnenen Stadtbildes für die Insider bedeuten. Der Charakter der Kieze verändert sich, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt steigt, und Eigentumspreise drohen zu fallen. Daher liegt es im rationalen Eigeninteresse der urbanen Insider – Mieter wie Eigentümer –, sich baulicher Entwicklung aktiv zu widersetzen. Verlierer des sozialen Zielkonfliktes sind die weniger privilegierten Outsider. Sie werden an kommunalen Entscheidungen nicht beteiligt und haben keine Stimme. Die potenziellen Zuzügler leiden unterdessen unter den sozialen Folgen steigender Preise, hoher Suchkosten und mangelnden Angebots im Stadtzentrum, während der Widerstand der NIMKI ökologische Konflikte weiter verschärft. Angesichts der durch den Widerstand gegen urbanes Bauen und Wohnen aufgeworfenen Zielkonflikte stellt sich die Frage, welcher Ordnungsrahmen eine Verhandlung dieser sozialen Konflikte am besten ermöglicht. Von Konflikt zu Kooperation – ein liberaler Ordnungsrahmen für die Stadt Liberalen Lösungen für die Wohnungsfrage begegnet immer wieder das Argument, der Markt sei ein Ort des Konflikts. Diese Charakterisierung des Markts als Raum sozialen Konflikts ist ebenso richtig wie trivial. Begrenzte Ressourcen treffen in jeder polit-ökonomischen Ordnung auf die Unendlichkeit menschlicher Wünsche und Bedürfnisse. Insofern ist nicht die Frage, ob eine polit-ökonomische Ordnung ein Raum des sozialen Konfliktes ist, sondern, welche Ordnung am besten in der Lage ist, die größte Zahl an Wünschen und Bedürfnissen zu erfüllen und Konflikte um begrenzte Ressourcen zu entschärfen. Ein liberaler Ordnungsrahmen aus urbanen Märkten und "hyperlokaler" Demokratie scheint uns dafür besonders geeignet, weil es in ihm gelingen kann, soziale Zielkonflikte um begrenzte Ressourcen in nutzensteigernde soziale Kooperationen zu verwandeln. Kooperation in der urbanen Marktwirtschaft Seit Jahrhunderten prägen Märkte die Städte. Der Stadtplaner Alain Bertaud etwa zeigt am Beispiel verschiedener Städte wie der antiken Stadt Milet im 6. Jahrhundert v. Chr., New York City im 19. Jahrhundert oder den modernen Geschäftsbezirken Shanghais, dass Angebot und Nachfrage die erfolgreiche räumliche Entwicklung von Städten antreiben. Hohe Nachfrage nach bestimmten Gegenden und Wohnformen lässt Preise steigen. Hohe Preise wiederum führen zu hoher Bevölkerungsdichte in nachgefragten Gegenden: Die hohe Konzentration von Wolkenkratzern in den zentralen Geschäftsbezirken moderner Städte ist der vertikale Beweis dafür, wie hohe Nachfrage und begrenzte räumliche Ressourcen Flächennutzung und Gebäudeformen beeinflussen. Was ist, muss aber ja nicht unbedingt wünschenswert sein. Märkte, und mit ihnen das freie Spiel von Angebot, Nachfrage und Preisen, sind aber in der Tat wünschenswerte Vermittler sozialer Zielkonflikte in der Stadt. Denn Preise sind "Signale, eingepackt in Anreize". Ist die Nachfrage und damit der Preis hoch, wie für Wohnraum im Stadtzentrum, signalisiert dies eine relative Knappheit und regt Individuen dazu an, Ressourcen genau in diese Gegend zu investieren. Der Preis ist ein Anreiz, weil hohe Gewinne auf diejenigen warten, die auf das Signal knappen Wohnraumes mit Investitionen reagieren. Der soziale Zielkonflikt um die Verwendung knapper Ressourcen wird so dezentral von Anbietern und Nachfragern entschieden, die, von Preisen angeleitet, zu nutzensteigernden Kooperationen gelangen. Während sich Preissignale im alten Milet, dem Florenz der Renaissance oder im Bombay der Kolonialzeit noch gegen einen autoritären Ordnungsrahmen durchsetzen mussten und, wenn überhaupt, nur gegen politische und rechtliche Widerstände wirksam wurden, macht ein liberaler Ordnungsrahmen sich den Markt zunutze. In Großstädten wie Berlin beispielsweise hat sich der Bestand von Einraumwohnungen in wenigen Jahren um rund ein Drittel erhöht. Der Grund: Individuen in Großstädten sind immer häufiger Singles und kinderlos und fragen deshalb immer mehr kleinere Wohnungen nach. Die individuellen Bedürfnisse der Stadtbewohner schlagen sich in höherer Zahlungsbereitschaft für Einraumwohnungen nieder. Steigt der Preis für Einraumwohnungen in Zentrumslage stärker als der Preis für Vierzimmerwohnungen am Rand der Stadt, so signalisiert der Preismechanismus die Notwendigkeit zusätzlicher Ressourcen für Einraumwohnungen in Zentrumslage. Gleichzeitig setzen hohe Preise einen Anreiz, auf das Signal zu reagieren. Unternehmer verstehen die höheren Preise und die damit verbundenen Gewinnmöglichkeiten als Anreiz, auf das Knappheitssignal zu reagieren und mehr in den Bau von Einraumwohnungen in Berlin-Mitte, Hamburg-Winterhude oder München-Schwabing zu investieren. Gleichzeitig leistet die marktgetriebene urbane Konzentration in den Stadtzentren einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz. Die hohen Preise für Wohnraum in den urbanen Zentren reizen die Angebotsseite gewissermaßen dazu an, die Bevölkerungskonzentration in den Stadtzentren voranzutreiben und knappe Ressourcen genau da einzusetzen, wo sie für eine erfolgreiche Umweltpolitik hingehören: im Zentrum der Stadt. So wie es richtig ist, den Markt zu regulieren, wenn externe Effekte individuellen Handelns die Natur belasten, sollten die Signal- und Anreizfunktionen des Marktes genutzt werden, wenn sie "grüne" Ergebnisse zeitigen. Was passiert, wenn von politischer Seite gegen die kooperationsstiftende Signal- und Anreizfunktion von Preisen angearbeitet wird, zeigt das "Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin", besser bekannt als "Berliner Mietendeckel", das im Frühjahr 2020 beschlossen und vom Bundesverfassungsgericht gut ein Jahr später wegen mangelnder Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin für verfassungswidrig erklärt wurde. Das Gesetz sollte dafür sorgen, dass sich der Mietmarkt in Berlin entspannt. Es erließ (mit einer Reihe von Ausnahmen, die hauptsächlich Neubauten betrafen) einen Mietenstopp, der Mieterhöhungen zum Stichtag 18. Juni 2019 verbot, eine Mietobergrenze, die sich an einer zentralen Berliner Mietentabelle orientierte, und eine Mietsenkung, die eine Verringerung der Bestandsmiete erlaubte, wenn diese in Relation zum Einkommen zu hoch war. Nicht mehr dezentral-marktwirtschaftliche, sondern zentral-politische Faktoren entschieden nun über die Höhe des Mietpreises. Das Ergebnis des Experiments war katastrophal: Der Mietmarkt in Berlin zerfiel in zwei Teile. Der durchschnittliche Mietpreis im regulierten Segment der älteren Wohnungen und Bestandsmietverträge fiel und kam so den privilegierten Insidern zugute, während die Preise im unregulierten Segment für Neubauten überdurchschnittlich stiegen und so den weniger privilegierten Outsidern weiter schadeten. Gleichzeitig brach das Wohnungsangebot ein: Die Anzahl der Mietannoncen fiel nach Einführung des Mietendeckels um bis zu 60 Prozent und "verharrt auch nach dessen Abschaffung auf diesem geringen Niveau". Statt den Preismechanismus des Marktes als Signal und Anreiz zu nutzen und sowohl die private als auch die kommunale Bereitstellung von Wohnraum voranzutreiben, arbeitete die Politik mit dem Mietendeckel aktiv gegen die Preisfunktionen an und verzerrte sie, indem sie den Marktpreis künstlich senkte. Signal und Anreiz, in den Berliner Mietmarkt zu investieren, wurden schwächer, und Anbieter wandten sich ab. Klüger wäre es gewesen, innerhalb eines liberalen Ordnungsrahmens auf freie, urbane Märkte zu setzen, die dabei hätten helfen können, soziale Zielkonflikte über knappe Ressourcen mit Signalen und Anreizen des Preissystems zu lösen. Hyperlokale Entscheidungen statt privilegierter Bürgerbeteiligung Marktwirtschaftlicher Urbanismus ist entscheidend, um soziale Zielkonflikte in der Stadt kooperativ zu lösen. Märkte sind aber nicht perfekt – und Bewohner haben ein legitimes Interesse und Mitspracherecht an der Entwicklung ihres Kiezes. Da Märkte negative externe Effekte urbaner Entwicklung wie zum Beispiel ein höheres Verkehrsvolumen, einen überfüllten Nahverkehr oder die ästhetische Veränderung von Kiezen mitunter nicht mit einpreisen und gewisse Probleme der Vermachtung mit ihnen einhergehen können, braucht die urbane Marktwirtschaft eine korrigierende Ergänzung. In einem liberalen Ordnungsrahmen ist es jedoch nicht der Zentralstaat, der potenzielles urbanes Marktversagen perfekt auflösen könnte. Wie die Ökonomie-Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom argumentierte, gibt es überhaupt kein institutionelles Allheilmittel für das Problem sozialer Zielkonflikte. Allerdings konnten sie und ihre Kollegen anhand jahrelanger Feldforschung zeigen, dass soziale Zielkonflikte häufig weder durch zentrale Politik noch durch den Preismechanismus, dafür aber kooperativ von lokalen Entscheidungsträgern gelöst werden können. Den Ansatz, der sich auf viele verschiedene autonome Entscheidungszentren statt eines einzigen – wie etwa den Zentralstaat – verlässt, nennt sie "Polyzentrismus". Was aber ist das richtige Forum für kollektive wohnungspolitische Entscheidungen? Aus den Vereinigten Staaten lernen wir, dass eine suboptimale Dezentralisierung negative Effekte haben kann. So zeigte sich etwa, dass die "Bemühungen um die Übertragung einiger Befugnisse im Bereich der Raumordnung und Planung auf große nachbarschaftliche Räte mit dreißig- bis hunderttausend Einwohnern nicht sonderlich erfolgreich" waren. Die jüngste Evidenz aus dem von chronischen Wohnungsproblemen heimgesuchten San Francisco zeigt zudem, dass es ganz besonders "ältere, weiße und finanziell abgesicherte" Stadtbewohner sind, die sich in lokalen Entscheidungsprozessen einbringen und gegen neue Bauentwicklungen einsetzen. Eine mögliche Lösung ist deshalb die "hyperlokale" Entscheidungsfindung auf der Ebene von Straßen oder Blocks. Straßen- beziehungsweise Blockwahlen sind ein Konzept, das besonders in den Ballungsgebieten des Vereinigten Königreichs immer mehr Anhänger über die Parteigrenzen hinweg gewinnt. Straßenwahlen ermöglichen räumlich begrenzten Gegenden in einer Stadt, selbst zu entscheiden, wie ihre Grundstücke entwickelt werden sollen. Eigentümer und Mieter von Immobilien in einer Straße oder einem Block bekommen das Recht, mit einer qualifizierten Mehrheit (zum Beispiel einer Zweidrittelmehrheit) darüber zu entscheiden, ob Gebäude mit Wohnungen aufgestockt, Wohnungen vergrößert oder verkleinert oder weitere Teile von einem Grundstück baulich genutzt werden dürfen. Auf diese Weise beteiligt man die direkt betroffenen Eigentümer und Mieter eines Kiezes an der Entwicklung ihrer unmittelbaren Umgebung in einer demokratischen Wahl. Die abstimmenden Parteien sind damit auch diejenigen, die unmittelbar von der Weiterentwicklung ihrer Immobilien in Zentrumslage ökonomisch profitieren. Die Eigentümer können jedoch nicht allein entscheiden, sondern brauchen dafür die Zustimmung der Mieter, die sie auf verschiedene Weise von einer Zustimmung zur Immobilienentwicklung überzeugen können, etwa durch Gewinnbeteiligungsverträge. Dieser Ansatz ergänzt den weiterhin bestehenden Weg von kommunalen Genehmigungsverfahren und ermöglicht einen zusätzlichen Hebel für urbane Entwicklung. So verbinden hyperlokale Straßenwahlen die ökonomischen Interessen der Insider mit dem Wunsch der Outsider nach mehr Wohnraum. Marktwirtschaftliche Lösungen stellen dezentral Wissen und Anreize für die kooperationsgeleitete Entwicklung einer Stadt bereit. Ähnlich wie die zentralisierte Stadtplanung können sie aber auch externe Effekte verursachen, die von Anwohnern getragen werden müssen und zu Widerstand gegen jede Art von Entwicklung und Nachverdichtung führen. Straßenwahlen beteiligen eine begrenzte Anzahl von betroffenen Eigentümern und Mietern an der Gestaltung ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und helfen so dabei, lokalen Widerstand gegen die urbane Entwicklung zu verringern und Zielkonflikte kooperativ zu lösen. Eine Kombination beider Ansätze bildet das Herz eines liberalen Ordnungsrahmens für das Bauen und Wohnen in der Stadt. Fazit Zielkonflikte um begrenzte Ressourcen sind unumgänglich. Denn menschliche Wünsche und Bedürfnisse sind unendlich und soziale Zielkonflikte damit nie zur Zufriedenheit aller lösbar. Gleichzeitig sind Menschen fehlbar und institutionelle Lösungen nie perfekt. Im Vergleich zu anderen unvollkommenen institutionellen Alternativen erlaubt uns ein liberaler Ordnungsrahmen aus urbaner Marktwirtschaft und hyperlokaler Beteiligung aber, Zielkonflikte möglichst kooperativ zu lösen. So wie Jane Jacobs in den 1950er und 1960er Jahren gegen Entwicklungen in New York City ankämpfte, die den historischen Charakter Manhattans ohne Zustimmung der lokalen Bevölkerung verändert hätten, so widersetzen sich NIMKI der Veränderung ihrer Kieze heute. Doch verpassen sie es, die sozialen und ökologischen Kosten einzubeziehen, die durch die mangelnde Verdichtung deutscher Städte entstehen: Die NIMKI-Insider stehen sozial im Konflikt mit den Wohnungsbedürfnissen der urbanen Outsider und ökologisch im Konflikt mit dem Einsatz für eine gesunde Umwelt. Es braucht einen Ordnungsrahmen für die Stadt, der diese beiden schwelenden sozialen Zielkonflikte löst. Eine liberale Lösung setzt dabei auf die kooperative Wirkung urbaner Märkte und hyperlokaler Beteiligung. Märkte erlauben die Verwandlung sozialer Zielkonflikte um begrenzte Ressourcen in Kooperationen, in denen beide Seiten von der Kooperation profitieren. Dabei nutzen Märkte den Preismechanismus, um Wissen und Anreize zu generieren und soziale Konflikte innerhalb der Stadt kooperativ zu lösen. Verhindert ein Marktversagen jedoch, dass begrenzte Ressourcen effizient eingesetzt werden, schlagen wir hyperlokale Beteiligungsformen als Teil der Lösung vor. Straßen- und Blockwahlen erlauben es Eigentümern und Mietern, sich außerhalb des Preismechanismus und dessen potenzieller Machtverzerrung sowie jenseits zentraler politischer Weisungen über die bauliche Entwicklung ihrer unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetzen und so Lösungen für soziale Zielkonflikte zu finden. Vgl. Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021–2025, Berlin 2021, S. 88. Vgl. Statistisches Bundesamt, Baugenehmigungen für Wohnungen im April 2022: +5,1% gegenüber Vorjahresmonat, 17.6.2022, Externer Link: http://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/PD22_249_3111.html. Vgl. 2022 wurde noch kein Förderantrag für sozialen Wohnungsbau in Berlin eingereicht, 9.9.2022, Externer Link: http://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/09/berlin-sozialer-wohnungsbau-foerderung-antraege.html. Vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Erfolgsfaktoren für Wohnungsbauvorhaben im Rahmen der Innenentwicklung von dynamischen Städten, Bonn 2018, S. 12. Gernot Wagner, Warum kann urbanes Leben die Welt retten, Herr Wagner?, 8.9.2022, Externer Link: https://gwagner.com/heute-slk. Vgl. ausführlich ders., Stadt, Land, Klima: Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten, Wien 2021. Vgl. Center for Sustainable Systems, U.S. Cities Factsheets, Externer Link: https://css.umich.edu/publications/factsheets/built-environment/us-cities-factsheet. Vgl. Shane Phillips/Michael Manville/Michael Lens, Research Roundup: The Effect of Market-Rate Development on Neighborhood Rents, 17.2.2021, Externer Link: http://www.lewis.ucla.edu/research/market-rate-development-impacts. Vgl. Brian Asquith/Evan Mast/Davin Reed, Local Effects of Large New Apartment Buildings in Low-Income Areas, in: The Review of Economics and Statistics 2021, Externer Link: https://doi.org/10.1162/rest_a_01055; Evan Mast, JUE Insight: The Effect of New Market-Rate Housing Construction on the Low-Income Housing Market, in: Journal of Urban Economics 2021, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.jue.2021.103383. Vgl. Jane Jacobs, The Death and Life of Great American Cities, New York 1961. Vgl. Mancur Olson, The Logic of Collective Action, Cambridge 1965. Vgl. Alain Bertaud, Order Without Design. How Markets Shape Cities, Cambridge 2018. Tyler Cowen/Alexander Tabarrok, Modern Principles of Economics, New York 2015, S. 120. Vgl. Christian Oberst/Pekka Sagner/Michael Voigtländer, IW-Cube Compact Living Report 2022, Köln 2022. Daniela Arlia et al., Entwicklungen am Berliner Immobilienmarkt ein Jahr nach dem Mietendeckel, in: ifo Schnelldienst 4/2022, S. 50–55. Zur Frage der Macht im Liberalismus vgl. Stefan Kolev, Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich, Berlin 2017. Vgl. Elinor Ostrom/Marco A. Janssen/John Anderies, Going Beyond Panaceas, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 39/2007, S. 15176ff. Vgl. Elinor Ostrom, Governing the Commons, Cambridge 1990. George W. Liebman, Neighborhood Futures: Citizen Rights and Local Control, New York 2017, S. 42. Georgina McNee/Dorina Pojani, NIMBYism as a Barrier to Housing and Social Mix in San Francisco, in: Journal of Housing and the Built Environment 37/2022, S. 553–573, hier S. 553. Vgl. Nick Eardley/Jennifer Scott, Gove Pledges Votes on Neighbours’ Extensions but Leaves Question Mark over Housing Target, 11.5.2022, Externer Link: http://www.bbc.com/news/uk-politics-61400935. Vgl. Samuel Hughes/Ben Southwood, Strong Suburbs. Enabling Streets to Control Their Own Development, London 2021.
Article
Enninga, Justus | Kolev, Stefan
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-12-15T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/bauen-und-wohnen-2022/516386/nicht-in-meinem-kiez/
Lokaler Widerstand gegen neue Bauvorhaben ignoriert ökologische und soziale Zielkonflikte. Ein Rahmen aus marktwirtschaftlichem Urbanismus und hyperlokaler Beteiligung kann diesen Konflikten begegnen.
[ "Soziale Zielkonflikte", "Kooperation", "Marktwirtschaft", "Urbanismus", "hyperlokale Beteiligungsformen", "Demokratie", "Bürgerbeteiligung", "Insider-Outsider-Problematik", "Stadtplanung" ]
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Die Kosten und Erträge der Wiedervereinigung Deutschlands | Lange Wege der Deutschen Einheit | bpb.de
Die Ausgangslage vor der deutschen Wiedervereinigung Den Ausgangspunkt des Prozesses der deutschen Wiedervereinigung und damit auch ihrer Kosten bilden zweifellos die dramatischen Ereignisse des Jahres 1989. Die ersten Wegmarken dieser Entwicklung waren die damaligen Botschaftsbesetzungen in Warschau, Prag und Budapest und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin durch DDR-Flüchtlinge, die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche und die erste Massendemonstration am 9. Oktober ebenfalls in Leipzig. Im November erreichten die friedlichen Revolutionäre 1989 schließlich die Maueröffnung. Damit war klar, dass sich eine epochale Veränderung anbahnte. Doch damit nicht genug. Als bald darauf auf den friedlichen Massenkundgebungen die neue Losung: "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh‘n wir zu ihr" erschall, befürchteten westdeutsche Politiker, dass ein Massenexodus von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik kurz bevorstand, mit einem Kontrollverlust auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. Um dies zu vermeiden wurde nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR im März 1990 der Prozess der Bildung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (11.07.1990) und schließlich die Interner Link: Wiedervereinigung Deutschlands (03.10.1990) massiv beschleunigt. Die Bedingungen für eine Wirtschafts- und Sozialunion waren aber alles andere als günstig. denn die Arbeitsproduktivität betrug in der DDR nach DIW-Schätzungen nur etwa ca. 50 Prozent des westdeutschen Niveaus. Unbestritten war die wirtschaftliche Situation sehr desolat. Zahlen der Treuhandanstalt zufolge sah man für 21 Prozent der übertragenen Betriebe nur die Stilllegung als einzige Alternative (tatsächlich waren es dann 30 Prozent) (vgl. Fischer / Hax / Schneider 1993, S. 138). Als die D-Mark schließlich mit einem Umtauschsatz von 1:1 zur Währung der DDR wurde und die ostdeutschen Unternehmen damit der innerdeutschen und internationalen Konkurrenz schutzlos ausgesetzt waren, hatte dies die absehbaren, fatalen Folgen. Die Struktur der Finanzierung der deutschen Einheit und die Entwicklung der Kosten für die regelmäßigen Transferzahlungen bis 1995 Es war von vornherein klar, dass die Kosten der deutschen Einheit nicht alleine durch die neugegründeten ostdeutschen Bundesländer zu stemmen waren. Neben der Finanzierung eines wesentlichen Teils der Einheitskosten aus der Sozialversicherung (hier bspw. für soziale Leistungen im Rahmen der Arbeitslosen- und Rentenversicherung) und aus Bundesmitteln wurden bis 1994 auch ganz erheblich Mittel aus dem eigens geschaffenen Fonds deutscher Einheit und den Erlösen der Treuhandanstalt verwendet (die letzteren beiden entfielen ab dem Jahr 1995). Begünstigt durch diese Fördermilliarden, stieg die wirtschaftliche Leistungskraft in den östlichen Bundesländern (einschließlich Berlin), gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, sehr schnell bis zum Ende des Jahres 1994 auf 63 Prozent des Interner Link: Westniveaus (vgl. Abb. 1). Zu den schnellen Erfolgen lassen sich zudem die Wohlstands- und Wohlfahrtsgewinne rechnen, die sich in einer deutlich verbesserten Ausstattung mit Haushaltsgeräten und Dingen des täglichen Bedarfs niederschlugen. Vor allem aber gab es nun die Möglichkeit, Interner Link: endlich dorthin zu reisen, wohin man wollte. Von der wirtschaftlichen Entwicklung profitierten aber auch die westdeutschen Unternehmen, deren Waren und Dienstleistungen im Beitrittsgebiet attraktive Absatzchancen fanden. Die hohen West-Ost-Transfers wirkten außerdem wie ein gigantisches Konjunkturpaket für Firmen, die ebenfalls überwiegend in den westlichen Bundesländern und hier speziell im Bausektor angesiedelt waren. Dafür lassen sich insbesondere die 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE) anführen. In diesem Rahmen wurden die maroden Autobahnen, Schienenwege und Wasserstraßen fast vollständig neu gebaut. Bis 2013 wurden für diese Verkehrsprojekte 34 Mrd. Euro verausgabt. Das Bruttoinlandsprodukt im Altbundesgebiet (und Berlin) verzeichnete in den Jahren 1990 und 1991 preisbereinigt Steigerungsraten von über 5 Prozent (vgl. auch Abb. 2). In der Folgezeit trübte sich die Konjunktur in den alten Bundesländern zwar wieder ein und das Bruttoinlandsprodukt im früheren Bundesgebiet wuchs langsamer als zuvor, bzw. sank sogar (preisbereinigt) in einzelnen Jahren. Dennoch erwies sich die Wiedervereinigung auch während dieser Zeit in wirtschaftlicher Hinsicht – wenn auch nicht sofort – als mächtiger Antrieb: Denn zu Anfang und Mitte der 1990er Jahre wurden die neuen Bundesländer zu einer Plattform für die Erschließung neuer Märkte, insbesondere für die ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Länder, von denen die deutsche Wirtschaft in den späteren Jahren in erheblichem Maße profitieren konnte. Die Struktur der Finanzierung der deutschen Einheit und die Entwicklung der Kosten für die regelmäßigen Transferzahlungen ab dem Jahr 1995 Die Finanzierung der deutschen Einheit wurde mit dem Inkrafttreten des ersten Solidarpakts im Jahr 1995 auf eine langfristige Grundlage gestellt. Die ostdeutschen Bundesländer wurden damit in den Länderfinanzausgleich einbezogen, ergänzt um zusätzliche Transferzahlungen des Bundes. Diese Mittel wurden im Wesentlichen für die Modernisierung der Infrastruktur, zur Erhaltung industrieller Kerne und zur Altlastenbeseitigung verwendet. Bis zum Auslaufen des ersten Solidarpakts im Jahr 2004 bezogen die neuen Länder und Berlin daraus insgesamt 94,5 Mrd. Euro (Bundesregierung 2009). Weil schon vor Auslaufen des ersten Solidarpakts klar war, dass die Finanzierung der ostdeutschen Bundesländer auch nach dem Jahr 2004 nicht zu gewährleisten ist, wurde ein zweiter Solidarpakt aufgelegt, der im Jahr 2019 auslief. Dieser Solidarpakt setzte sich wie folgt zusammen: 1. Gesetzlich fixierte Bundesergänzungszuweisungen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs (Korb I, sogenannte Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen, SOBEZ, zur Schließung der teilungsbedingten Infrastrukturlücke und dem Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft, insgesamt 105 Mrd. Euro); 2. Sonstige Zuwendungen des Bundes (Korb II, insgesamt 51,1 Mrd. Euro) zur Förderung der Wirtschaft und Infrastruktur. Diese milliardenschweren Finanztransfers führten jedoch nicht sofort zu einem selbsttragenden Aufschwung. Nach kurzzeitigem Rückgang zu Mitte der 1990er Jahre auf jährlich etwas unter 60 Mrd. Euro stiegen sie bis zum Jahr 2003 sogar auf über 80 Mrd. Euro an, um sich anschließend auf etwas niedrigerem Niveau fortzusetzen. Daher ist es nicht erstaunlich, dass polemische Äußerungen wie: "Absturz West durch Transferleistungen an Ost" (z.B. Der Spiegel 15 und 39/2004) oder Publikationen wie "Wir sind kein Volk." von Wolfgang Herles und "Supergau Deutsche Einheit" von Uwe Müller auf breite mediale Resonanz stießen. Nach Angaben des DIW belief sich die Gesamtnettotransfersumme im Jahr 2011 auf über 1,5 Billionen Euro. Greift man auf die neuesten Daten des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2016 zurück, ergibt sich hierfür, von uns geschätzt, inzwischen ein Wert von 1,72 Billionen Euro (vgl. Abb. 3 und die Diskussion dazu in Brenke, 2014). Allerdings sind dann die Einnahmen aus Steuern und Sozialbeiträgen von Personen gegenzurechnen, die seit 1990 den Osten Richtung alte Bundesländer verlassen haben. Den bis 2016 in das frühere Bundesgebiet abgewanderten knapp 5 Mio. Ostdeutschen stehen dabei die über 2,3 Mio. Westdeutschen gegenüber, die in die neuen Bundesländer (einschließlich Berlin) einwanderten. Im Saldo ergibt sich eine Summe von über 2,5 Mio. Ostdeutschen, Interner Link: die in den alten Bundesländern zu deren Wirtschaftskraft beitragen. Ebenfalls abzuziehen sind Steuereinnahmen, die durch die gewaltigen westdeutschen Exportüberschüsse entstanden sind. Zusammengenommen berechnet sich dem Ökonomen Ulrich Blum zufolge bis 2014 eine Summe von etwa 1,3 Billionen Euro – wir schätzen die Gesamtsumme, von diesen Zahlen ausgehend bis zum Jahr 2016 inzwischen auf 1,4 Billionen Euro – die von der Gesamtnettotransfersumme abzuziehen sind. In dieser Betrachtung nicht enthalten sind die mit der deutschen Wiedervereinigung angefallenen und nicht zu unterschätzenden enormen individuellen und immateriellen Belastungen (vgl. z.B. Gebauer 2019) sowie kostentreibende und problematische gesellschaftlichen Entwicklungen. Darunter zählen die Arbeitsplatzverluste: In nur wenigen Jahren deutscher Einheit schnellte die Arbeitslosenquote im Osten Deutschlands, wo zuvor Arbeitslosigkeit fast unbekannt war, auf zweistellige Werte mit den damit verbundenen Interner Link: psychischen Beeinträchtigungen und finanziellen Einbußen der Betroffenen. Auch die schon angesprochene Abwanderung gutausgebildeter Arbeitskräfte geht unmittelbar mit einer Interner Link: nachhaltigen Abwertung des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland einher. Weitere Standortverschlechterungen sind mit den Geburtenrückgängen nach der Wiedervereinigung verbunden und der Interner Link: Schrumpfung ganzer Regionen. Darüber hinaus stellt sich die heute die ostdeutschen Bundesländer dominierende Interner Link: kleinteilige Wirtschaftsstruktur als problematisch dar: die ungenügende Etablierung einer lokalen Eigentümerklasse, die sich im Ergebnis durch das Fehlen von Konzernzentralen mit ihren strategischen Unternehmensfunktionen und der sich damit auftuenden FuE- und Exportlücke stark bemerkbar macht, trägt zur fortdauernden Transferabhängigkeit bei (vgl. auch IWH 2019, Intelmann 2020). Damit hat sich eine Struktur entwickelt, die zumindest mittelfristig dafür sorgt, dass die finanzschwachen ostdeutschen Bundesländer weiterhin von Transfers abhängig sein werden, wenn auch in geringerem Umfang als bisher. Dazu trägt die seit einigen Jahren rückläufige Arbeitslosenquote bei. Dabei helfen können auch Strategien, die auf schnelles Wachstum von kleinen und mittelgroßen Unternehmen setzen. Ein Beispiel hierfür ist der jüngst auf Initiative des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer gestartete "Dialog Unternehmen wachsen", welcher einen durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begleiteten Erfahrungsaustausch von ostdeutschen Unternehmern ermöglicht. Vor dem Hintergrund der fortdauernden, wenngleich reduzierten Transferabhängigkeit der östlichen Bundesländer ist auch die Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Fortführung des Länderfinanzausgleichs) zu sehen, die auch auf die Finanzschwäche von westdeutschen Bundesländer reagiert und mit der ab dem Jahr 2020 eine Entlastung der Länder in Höhe von jährlich ca. 9,5 Mrd. Euro vorgesehen ist (vgl. Bauer / Ragnitz / Rösel, S. 9, sowie UVB 2016 am Beispiel einer Berechnung für Berlin und Brandenburg). Vorausgesetzt, dass diese Mittel richtig eingesetzt werden, könnte sich die Transferabhängigkeit der finanzschwachen Länder weiter reduzieren. Letzteres ist nach wie vor nicht nur in Hinsicht auf die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse anzustreben, sondern auch vor dem Hintergrund, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass der finanzielle Spielraum für weitere Transfers in Zukunft geringer wird. Ein erster Vorgeschmack hierfür könnten negative Auswirkungen der Corona-Krise sein. Einmalige Sonderkosten der deutschen Einheit Die Bezifferung der Kosten der deutschen Wiedervereinigung wäre unvollständig, wenn sie nicht die einmaligen Sonderkosten berücksichtigen würde, die ebenfalls mit der Wiedervereinigung bzw. ihrem Gefolge verbunden waren. Sie werden an dieser Stelle nur kurz angesprochen. Hier sind es erst einmal die Kosten, die sich mit den Staats- und Auslandsschulden der DDR verbinden (ca. 14,1 Mrd. Euro) und die in den Kreditabwicklungsfonds übernommen wurden. In diesem wurden auch die Kosten integriert, die sich mit der Einführung der D-Mark im Zuge der Schaffung der Währungsunion 1990 ergaben. Bis zu seiner Auflösung am 31.12.1994 entstanden damit Verbindlichkeiten in Höhe von 52,4 Mrd. Euro. Der Kreditabwicklungsfonds wurde nach seiner Auflösung als einheitsbedingte Schuldlast in den Erblastentilgungsfonds überführt. Neben den bereits erwähnten Sonderkosten sind auch diejenigen zu nennen, die durch das Wirken der Treuhandanstalt entstanden. Obwohl hier anfänglich davon ausgegangen wurde, dass sich bedingt durch die Verkaufserlöse der Treuhand ein positiver Abschlusssaldo berechnet, wies die Schlussbilanz schließlich ein Defizit von 105 Mrd. Euro auf, die mit der Auflösung der Treuhand ebenfalls an den Erblastentilgungsfonds übergingen. Auch enthalten waren Teile der Schulden der kommunalen Wohnungswirtschaft, die sich ursprünglich auf rund 16 Milliarden Euro beliefen. Der Erblastenfonds startete mit einem Volumen von 171,9 Milliarden Euro. Weiterhin wurden in den Erblastentilgungsfonds 1997 Altschulden von gesellschaftlichen Einrichtungen der ehemaligen DDR (Schulen, Kultur- und Jugendhäuser) in Höhe von ca. 4,3 Milliarden Euro integriert. Die Tilgung des Fonds erfolgte u.a. über Bundesbankgewinne, über Beiträge der neuen Bundesländer und aus Verkaufserlösen aus UMTS-Lizenzen. Der Höchststand des Erblastentilgungsfonds wurde im Jahr 2002 mit 181,38 Mrd. Euro erreicht. Heute gilt er als getilgt. Zu den einigungsbedingten Sonderkosten gehören auch die für den Abzug der auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationierten Truppen der Roten Armee, die 1994 das Land verließen. Hierfür wurden von der Bundesrepublik rund 12 Mrd. DM (6,1 Mrd. Euro) zur Verfügung gestellt. Insgesamt können die einigungsbedingten Sonderkosten damit auf rund 187,48 Mrd. Euro (ohne Altlastensanierung) beziffert werden. Addiert man diese zur Nettotransfersumme hinzu, die sich bis zum Jahr 2016 auf ca. 1,72 Billionen Euro beläuft, ergibt sich ein Betrag von ca. 1,91 Billionen Euro. Die Friedensdividende: Wegfall der Kosten der Teilung Deutschlands und die vereinigungsbedingte Reduzierung des Verteidigungsetats Kosten der Teilung Deutschlands Wer von den Kosten der Wiedervereinigung redet, darf von den Kosten der Teilung Deutschlands (1945-1990) nicht schweigen. Der einfache Grund hierfür liegt darin begründet, dass die teilungsbedingten Kosten nach der Wiedervereinigung Deutschlands wegfielen. Wir stützen uns im Folgenden auf eine Schätzung des Forscherteams Werner und Alexander Pfennig und Vu Tien Dung aus dem Jahr 2017. Die Kostenaufstellung enthält nur die Ausgaben, die seit 1949 für die Bundesrepublik anfielen und ist zudem unvollständig. Im Einzelnen: Zu den teilungsbedingten Kosten hinzuzuzählen sind die Kosten, die durch die Tätigkeit des 1949 gegründeten Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (BMB) anfielen (14,45 Mrd. DM, vgl. Tabelle 1). Ein solches Ministerium hätte es bei fortwährender staatlicher Einheit nach dem 2. Weltkrieg nie gegeben. Vom BMB ging Anfang der 1960er Jahre ganz maßgeblich die Initiative für den Freikauf von aus politischen Gründen inhaftierten Menschen in DDR-Gefängnissen aus. Seit 1963 führte dieser Freikauf zur Freilassung und Übersiedlung von 33.755 aus politischen Gründen verfolgten Menschen aus der DDR. Insgesamt zahlte die Bundesrepublik alleine dafür 3,5 Mrd. D-Mark (damit verbundene Kosten sind in dieser Summe noch nicht enthalten). Zu den teilungsbedingten Kosten ist auch die Berlinförderung zu zählen. Hier sind u.a. Förderprogramme für in Westberlin ansässige Firmen, aber auch steuerliche Vorteile für Firmen in der alten Bundesrepublik zu nennen. Insgesamt lassen sich die Berlinhilfen auf einen Betrag von weit über 200 Mrd. DM beziffern. Neben den hier angesprochenen und weiteren teilungsbedingten Kosten, die sich auf offizielle Quellen stützen (siehe Übersicht in Tabelle 1), sind weitere Kosten in Betracht zu ziehen, die weiterer intensiver Recherche bedürfen. Darunter zu zählen sind bspw. die Kosten, die sich im Rahmen der Handelsbeziehungen der DDR mit der Bundesrepublik ("Interzonenhandel") und den Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ergaben: In Handelsangelegenheiten wurde die DDR wie ein Mitglied der EWG behandelt und musste bspw. keine Zölle zahlen (seit 1980 Handelserleichterungen von jährlich durchschnittlich ca. 300 Mio. DM). Darüber hinaus konnte sie von einer zinslosen Überziehungskreditlinie (sogenannter Swing) profitieren, die der Bundesrepublik Zinseinnahmeverluste bis in Höhe von jährlich zweistelligen Millionenbeträgen einbrachten. Zählt man im Ergebnis alle Kosten für die Jahre von 1950-1990 zusammen, so unvollständig sie auch überliefert sind, ergibt sich für den betrachteten Zeitraum ein Betrag von über 329 Mrd. DM (vgl. Tab. 1). Legt man die Preise von 1990 zugrunde, so den Ausführungen von Pfennig/Dung/Pfennig zufolge, berechnet sich eine Summe von 975 Mrd. DM (umgerechnet 498,51 Mrd. Euro). Vereinigungsbedingte Reduzierung des Verteidigungsetats Mit der Überwindung der Teilung Deutschlands ergibt sich ebenfalls eine Friedensdividende im engeren Sinn. Diese besteht darin, dass die Kosten, die direkt der Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands dienten, fortan entfielen. Im Einzelnen betrifft das die nachhaltige Reduzierung der Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr, der durch die Stationierung von alliierten Truppen anfallenden Kosten und den ersatzlosen Wegfall von Aufwendungen zur Aufrechterhaltung der Sicherungen an der innerdeutschen Grenze, der Grenztruppen, der NVA und der Staatssicherheit. Im Folgenden wird nur die Reduzierung der Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr betrachtet: Bis zum Jahr 1989 standen sich die Bundeswehr und die Nationale Volksarmee der DDR, eingebunden in ihren jeweiligen Militärblöcken, feindlich gegenüber. Die Personalstärke der NVA stieg bis zu Ende der 1980er Jahre auf 168.000 Personen an. Die Bundeswehr verfügte 1989 über ein Heer von 495.000 Soldaten. Der erhebliche Verteidigungshaushalt der Altbundesrepublik betrug gemessen an der Wirtschaftsstärke Anfang der 1970er Jahre immer noch 3,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts mit einer (relativ gesehen) leicht sinkenden Tendenz bis 1990. Abb. 4: Vergleich der realen Entwicklung der Verteidigungsausgaben (mit Friedensdividende) mit einer Situation ohne Friedensdividende (jährliche Differenz als Projektion jeweilig für die alten Bundesländer anfallender Zusatzkosten) 1991-2018 Interner Link: (Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Mit der Wiedervereinigung sanken die Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr bis zum Jahr 2013 auf Werte von 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts, bei gleichbleibendem Niveau in den Folgejahren. Um die Kosten zu schätzen, die durch die Wiedervereinigung eingespart wurden, kann der durchschnittliche Wert von ca. 3,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts der alten Bundesländer für ein Bedrohungsszenario wie in den 1970er und 1980er Jahren, verwendet werden. Diese Szenariowerte wurden von uns den tatsächlichen Verteidigungsausgaben (ebenfalls gemäß des BIP-Anteils, der auf die alten Bundesländer entfällt) als Differenz gegenübergestellt. Abb. 4 belegt im gewählten Szenario ohne Friedensdividende insgesamt steigende Verteidigungshaushaltsausgaben, während sie tatsächlich nach der Wiedervereinigung in absoluten Beträgen bis in die erste Dekade des 21. Jh. hinein sanken. Begonnen mit dem Jahr 1991 stieg der jährliche Differenzbetrag an und erreichte bis zum Jahr 2018 einen Wert von über 54 Mrd. Euro, Tendenz steigend. Zusammengenommen ergibt sich damit bis zum Ende des Betrachtungszeitraums 2018 ein Betrag von fast 969 Mrd. Euro (2016: ca. 862 Mrd. Euro), die die Bürger in den alten Bundesländern für ihre Verteidigung bei fortwährender Teilung Deutschlands zusätzlich hätten aufbringen müssen. Auf dem Weg zu einer Bilanz Der thematische Schwerpunkt dieses Beitrags lag auf einer vorläufigen Bilanzierung der Kosten und Erträge der deutschen Einheit. Wie gesehen, sind die Kosten, die mit der Einheit Deutschlands verbunden sind, enorm hoch. Das gilt sowohl für die rund 1,72 Billionen Euro, die sich als Nettotransfers bis zum Jahr 2016 beziffern lassen, als auch für die einmaligen Sonderkosten, mit mindestens ca. 187,5 Mrd. Euro. Zusammen beläuft sich die Summe dieser Zahlungen auf rund 1,9 Billionen Euro. Damit noch nicht genug, denn auch in Zukunft werden weitere Transfers notwendig sein. Für eine Bilanzierung sind von den Kosten jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Beträge aus Steuern und Sozialbeiträgen abzuziehen, die von den im Saldo 2,5 Mio. Ostdeutschen in den alten Bundesländern bisher entrichtet wurden. Ebenfalls müssen die Steuereinnahmen, die durch die Exportüberschüsse westdeutscher Unternehmen entstanden sind, abgezogen werden. Zusammengenommen sind das geschätzt 1,4 Billionen Euro. Zieht man zusätzlich die teilungsbedingten Kosten (498,51 Mrd. Euro) und den Betrag ab, der sich durch die geopolitisch und vereinigungsbedingte Reduzierung der Verteidigungskosten (bis 2016 ca. 862 Mrd. Euro) schließt die vorläufige Bilanz der deutschen Einheit mit einem positiven Ergebnis von nominal ca. 880 Mrd. Euro. Das bedeutet, dass die geldwerten Vorteile der deutschen Wiedervereinigung bis zum Jahr 2016, die Kosten überwiegen, die bei einer fortwährenden Teilung aufgelaufen wären. Das ist auch dann noch der Fall, wenn man von etwas höheren Nettotransfers ausgeht. Da unsere Kostenaufstellung unvollständig ist, gehen wir davon aus, dass die Bilanz sogar noch positiver ausfällt, vor allem dann, wenn eine deutsche Gesamtbilanz vorliegt. Dennoch, die Betrachtung der Kosten der deutschen Einheit alleine, so notwendig sie ist, greift zu kurz. Für eine Einheitsbilanz müssen den Kosten selbstverständlich auch weitere Nutzen aus der deutschen Einheit gegenübergestellt werden. Aus wirtschaftlicher Sicht ist dazu der Zugewinn von neuen Produktionsstandorten und vor allem auch Absatzgebieten zu zählen. In diesem Punkt führte die Vereinigung zunächst erst einmal dazu, dass hauptsächlich westdeutsche Unternehmen den einigungsbedingten Nachfrageschub bedienten, während sie international weiter (und wie vorher schon) an Wettbewerbsfähigkeit einbüßten. Erst Ende der 1990er Jahre gelang es ihnen, diesen Trend umzukehren, wie die rasch zunehmenden Exporterfolge für diese und die späteren Jahre belegen. Ursächlich hierfür ist, zum einen, dass deutsche Unternehmen ihre Arbeitsproduktivität durch Auslagerung unproduktiver Wertschöpfungsstufen in das Ausland erhöhen konnten. Zum anderen ist zu bemerken, dass sie sich auf die Nachfrage der rasch wachsenden Schwellenländer (z.B. China) nach Investitionsgütern besser als zuvor einstellen konnten. Von 1991 bis zum Jahr 2018 konnte deutschlandweit die exorbitante Summe von über 65 Billionen Euro in Preisen von 2010 erwirtschaftet werden. Davon entfielen fast 56 Billionen Euro auf die westlichen und etwas weniger als 10 Billionen Euro auf die ostdeutschen Bundesländer, einschließlich Berlin. Mit anderen Worten, schon in wirtschaftlicher Hinsicht hat sich die Wiedervereinigung mehr als ausgezahlt. Aber natürlich gehören nicht nur Wirtschaftsunternehmen zu den Gewinnern der deutschen Einheit. Gleichermaßen und noch viel wichtiger stehen hierfür die beträchtlichen Einkommens- und Wohlfahrtsgewinne der Bevölkerung in Ost und West, die sich bspw. auch in einer gestiegenen Lebenserwartung niederschlagen. Das soll natürlich nicht suggerieren, dass mit der Wiedervereinigung jetzt alles gut wäre: Neben den Erträgen war und ist die Einheit Deutschlands, wie schon weiter oben dargestellt, mit zusätzlichen nicht-materiellen Belastungen sowie problematischen Entwicklungen verbunden. Dazu zählen Asymmetrien zulasten Ostdeutschlands und seiner Bevölkerung im Hinblick auf die Einkommenshöhe und die Vertretung Ostdeutscher in gesellschaftlichen Führungspositionen (vgl. Gebauer / Salheiser / Vogel 2017, Vogel / Zajak 2020). Abb. 5: Persönliche Bilanz der deutschen Einheit (Vorteile / Nachteile), Interner Link: (Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Dennoch überwiegen für viele Menschen die Vorteile. Stellvertretend für diese Entwicklung verweisen wir hier auf einen entsprechenden Befund auf der Datengrundlage der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage 2018 (vgl. Abb. 5). Danach gefragt, ob die Wiedervereinigung für die Bürger in den neuen Bundesländern mehr Vorteile als Nachteile gebracht habe, äußerte sich die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen positiv. 22 Prozent beantworten die Frage mit "stimme voll und ganz zu" und weitere 43 Prozent mit "stimme eher zu" – das sind insgesamt zwei Drittel aller Ostdeutschen, eine Bilanz, die sich sehen lassen kann, aber an der weiter gearbeitet werden muss. Abb. 4: Vergleich der realen Entwicklung der Verteidigungsausgaben (mit Friedensdividende) mit einer Situation ohne Friedensdividende (jährliche Differenz als Projektion jeweilig für die alten Bundesländer anfallender Zusatzkosten) 1991-2018 Interner Link: (Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Abb. 5: Persönliche Bilanz der deutschen Einheit (Vorteile / Nachteile), Interner Link: (Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Quellen / Literatur Bauer, David Ragnitz, Joachim/Rösel, Felix (2017), Zur Neuregelung des Finanzausgleichs: Ein Beitrag zum Abbau regionaler Ungleichheit? WISO DISKURS 17/2017 Berlin, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung. Best, Heinrich/Holtmann, Everhard (Hrsg.) (2012), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung. Frankfurt am Main: Campus. Best, Heinrich / Michael Hofmann (Hrsg.), Zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes in Thüringen. Forschungsbericht im Auftrag des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit. Erfurt. Blum, Ulrich (2015), Wer profitiert, wer zahlt – Die Finanzierung der deutschen Einheit, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 142, Nr. 2, S. 3-9. Brenke, Karl (2014), Ostdeutschland – ein langer Weg des wirtschaftlichen Aufholens. In: Ders. u.a. (Hrsg.): DIW-Wochenbericht 40 / 2014, S. 939-956. Cornelsen, Doris / Kirner, Wolfgang (1990), Zum Produktivitätsvergleich Bundesrepublik – DDR. In: DIW-Wochenbericht 57, S. 172-174. Creuzberger, Stefan (2008), Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949-1969. Düsseldorf: Droste-Verlag. Deutscher Bundestag (2018), Transferzahlungen an die ostdeutschen Bundesländer. Sachstand. WD 4 – 3000 – 033/18. Fischer, Wolfram/Hax, Herbert/Schneider, Hans Karl (Hrsg.) (1993), Treuhandanstalt: das Unmögliche wagen. Forschungsberichte. Berlin: Akad.-Verl. Gebauer, Ronald (2019), Die Erfahrungen der anderen. Zur Konstruktion ostdeutscher Identität(en). In: Nicole Burzan (Hrsg.): Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen: Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2018 in Göttingen. Externer Link: Gebauer, Ronald/Salheiser, Axel/Vogel, Lars (2017), Bestandsaufnahme: Ostdeutsche Eliten. Träume, Wirklichkeiten und Perspektiven. In: Deutsche Gesellschaft e.V. u.a. (Hrsg.): Ostdeutsche Eliten. Träume, Wirklichkeiten und Perspektiven, S. 14-33. Online Publikation. Gloe, Markus (2005), Planung für die deutsche Einheit. Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung 1952 bis 1975. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Herles, Wolfgang (2004), Wir sind kein Volk: Eine Polemik. München: Piper. Intelmann, Dominik (2020), Kapitalmangel und Transferabhängigkeit. Zur Politischen Ökonomie Ostdeutschlands. In: Sören Becker / Matthias Naumann (Hrsg.): Regionalentwicklung in Ostdeutschland. Dynamiken, Perspektiven und der Beitrag der Humangeographie. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 99-110. Kowalczuk, Ilko-Sascha/Wolle, Stefan (2010), Roter Stern über Deutschland. Sowjetische Truppen in der DDR. Berlin: Christoph Links Verlag. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) (Hrsg.) (2019), Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall. Halle (Saale). Müller, Uwe (2005), Supergau Deutsche Einheit, Berlin: Rowohlt Berlin. Externer Link: Pfennig, Werner/Vu Tien Dung/Pfennig, Alexander (2017), The Costs of German Division: A Research Report. In: German Politics and Society, 35(3), 55-68. Retrieved Nov 8, 2019. Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB) (2016), Länderfinanzausgleich: Mehr Geld vom Bund. UVB Kompakt 4/2016. Vogel, Lars/Zajak, Sabrina (2020), Teilhabe ohne Teilnahme? Wie Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund in der bundesdeutschen Elite vertreten sind (=DeZIM Research Notes 4/20). Wölbern, Jan Philipp (2014), Der Häftlingsfreikauf aus der DDR, 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zinsmeister, Florian (2009), Die Finanzierung der deutschen Einheit: zum Umgang mit der Schuldenlast der Wiedervereinigung. Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Jg. 78, Nr. 2, Berlin: Duncker & Humblot, Berlin, S. 146-160. Bauer, David Ragnitz, Joachim/Rösel, Felix (2017), Zur Neuregelung des Finanzausgleichs: Ein Beitrag zum Abbau regionaler Ungleichheit? WISO DISKURS 17/2017 Berlin, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung. Best, Heinrich/Holtmann, Everhard (Hrsg.) (2012), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung. Frankfurt am Main: Campus. Best, Heinrich / Michael Hofmann (Hrsg.), Zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes in Thüringen. Forschungsbericht im Auftrag des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit. Erfurt. 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Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 99-110. Kowalczuk, Ilko-Sascha/Wolle, Stefan (2010), Roter Stern über Deutschland. Sowjetische Truppen in der DDR. Berlin: Christoph Links Verlag. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) (Hrsg.) (2019), Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall. Halle (Saale). Müller, Uwe (2005), Supergau Deutsche Einheit, Berlin: Rowohlt Berlin. Externer Link: Pfennig, Werner/Vu Tien Dung/Pfennig, Alexander (2017), The Costs of German Division: A Research Report. In: German Politics and Society, 35(3), 55-68. Retrieved Nov 8, 2019. Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB) (2016), Länderfinanzausgleich: Mehr Geld vom Bund. UVB Kompakt 4/2016. Vogel, Lars/Zajak, Sabrina (2020), Teilhabe ohne Teilnahme? Wie Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund in der bundesdeutschen Elite vertreten sind (=DeZIM Research Notes 4/20). Wölbern, Jan Philipp (2014), Der Häftlingsfreikauf aus der DDR, 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zinsmeister, Florian (2009), Die Finanzierung der deutschen Einheit: zum Umgang mit der Schuldenlast der Wiedervereinigung. Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Jg. 78, Nr. 2, Berlin: Duncker & Humblot, Berlin, S. 146-160.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-08T00:00:00"
"2011-12-08T00:00:00"
"2021-12-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47534/die-kosten-und-ertraege-der-wiedervereinigung-deutschlands/
Wie hoch war der Preis der Einheit? Heinrich Best und Ronald Gebauer meinen: Die geldwerten Vorteile der deutschen Wiedervereinigung bis zum Jahr 2016 überwiegen die Kosten, die bei einer fortwährenden Teilung aufgelaufen wären.
[ "Einheit", "DDR", "BRD", "1990", "blühende Landschaften", "DDR" ]
94
M 02.05.01 Experteninterview mit Dr. Simon Franzmann (Teil 1) | Bundestagswahl 2017 | bpb.de
Arbeitsaufträge: Wie funktioniert eine Parteiendemokratie im Idealzustand? Haltet die Ergebnisse stichpunktartig fest. Bespreche mit deinem Sitznachbarn mit welchem Problem die Parteien gegenwärtig konfrontiert werden und welche Wirkung dieses auf die Parteiendemokratie hat? Was könnten die Parteien tun damit wieder mehr Menschen wählen gehen? Diskutiert dies in der Klasse. Das Arbeitsmaterial ist hier als Interner Link: PDF-Datei abrufbar.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-07-04T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/grafstat-bundestagswahl-2017/251748/m-02-05-01-experteninterview-mit-dr-simon-franzmann-teil-1/
Anhand des Videos arbeiten die Schülerinnen und Schüler durch Fragen geleitet die gegenwärtigen Problemlagen der Parteien aus dem Experteninterview mit Dr. Simon Franzmann heraus.
[ "Bundestagswahl 2017" ]
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Digitale Pressekonferenz und Buchvorstellung zur SINUS-Jugendstudie 2020 | Presse | bpb.de
Sehr geehrte Damen und Herren, in welcher Verfassung ist die junge Generation? Was ist den 14- bis 17-jährigen Teenagern wichtig im Leben, und wie blicken sie in die Zukunft? Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigt sich die neue SINUS-Jugendstudie 2020 „Wie ticken Jugendliche?“. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb lädt Sie gemeinsam mit der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, der BARMER, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend, dem Deutschen Fußball-Bund, der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, der Deutschen Sportjugend und der DFL Stiftung herzlich ein zur digitalen Pressekonferenz und Buchvorstellung am 23. Juli 2020 um 10 Uhr via Zoom. Dr. Marc Calmbach, Director Research & Consulting beim SINUS-Institut, Berlin, wird Ihnen die zentralen Ergebnisse und das neue SINUS-Modell für jugendliche Lebenswelten vorstellen. Die Studie hat den Anspruch, neben Befunden, die für die Jugend insgesamt gelten, Unterschiede zwischen den verschiedenen Lebenswelten herauszuarbeiten. Daneben werden die zentralen Ergebnisse zu den Themen Politik, Gesundheit, Sport, Berufswahl und Wohlbefinden vorgestellt. Um auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Lebenswelt der Jugendlichen mitaufzunehmen, haben die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im April und Mai erneut geforscht. Die Ergebnisse finden Sie in einem Sonderkapitel, das erklärt, wie Jugendliche die Corona-Krise und deren Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Zukunftsperspektiven wahrnehmen. Im Anschluss an die Vorstellung der zentralen Befunde der Studie präsentieren die Studienpartner ihre jeweiligen Kernthesen aus den durch sie in Auftrag gegebenen Themenfeldern. Daran anschließend haben Sie die Möglichkeit, mit den Vortragenden ins Gespräch zu kommen und Ihre Fragen an sie zu richten. Die Studie wird als Printversion (Bestellnummer 10531, Bereitstellungspauschale 4,50 €) und ePub ab dem 23.07.2020 unter Interner Link: www.bpb.de/311857/ in unserem Angebot zu finden sein. Eine barrierefreie Version ist in Arbeit. Auf einen Blick Pressekonferenz: Präsentation Jugendstudie und Buchvorstellung SINUS-Jugendstudie 2020 „Wie ticken Jugendliche?“ Zeit: 23. Juli 2020 um 10 Uhr Ort: Hintergrundgespräch via Zoom, Zugangsdaten erhalten Sie nach der Anmeldung: Externer Link: https://zoom.us/meeting/register/tJArd-iqqjstGd181fP2UFnzvzJsxlgV3hq- Gesprächspartner/-innen: Dr. Marc Calmbach (Director Research & Consulting, SINUS-Institut), Bianka Mohr (Leitung, Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz/afj), Dirk Weller (Researcher, BARMER), Lisi Maier (Vorsitzende, Bund der Deutschen Katholischen Jugend/BDKJ), Thomas Krüger (Präsident, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb), Heike Ullrich (stell. Generalsekretärin, Direktorin Deutscher Fußball-Bund für die Sportpartner), Frank Hinte (Geschäftsführer, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung/DKJS), Christina Gassner (Leitung, Deutsche Sportjugend/dsj) Moderation: Daniel Kraft (Leiter Stabsstelle Kommunikation, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb) Bitte melden Sie sich über diesen Link an:Externer Link: https://zoom.us/meeting/register/tJArd-iqqjstGd181fP2UFnzvzJsxlgV3hq- Mit Ihrer Anmeldung willigen Sie der Verarbeitung Ihrer Daten zur Organisation der virtuellen Pressekonferenz gemäß Artikel 6, Absatz 1, lit a) DSGVO ein. Sie erhalten eine Bestätigungs-E-Mail mit Informationen über die Teilnahme an der virtuellen Pressekonferenz. Ein Pressekit mit ausgewählten Inhalten, Grafiken und Darstellungen der Partner ist zeitgleich mit dem Beginn der Pressekonferenz abrufbar. Sollten Probleme auftreten, kontaktieren Sie uns bitte direkt: E-Mail Link: presse@bpb.de Tel. +49 (0)228 99515-200 Die Teilnahme an der Veranstaltung ist nur möglich, durch den Besuch der Seite des Anbieters Zoom. Die Erstellung eines Accounts ist nicht notwendig. Es gelten die dort aufgeführten Datenschutzhinweise. Weitere Informationen zum Datenschutz bei der bpb und Ihren Betroffenen- Rechten finden Sie unter Absatz E. VI. VII. Anmeldung zu Terminen und Veranstaltungen und E. VII. Anmeldung zu digitalen Veranstaltungen und Online-Konferenzen der bpb auf ww.bpb.de/datenschutz. Die Presseeinladung als Interner Link: PDF Mit freundlichen Grüßen Daniel Kraft
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-04T00:00:00"
"2020-07-22T00:00:00"
"2021-08-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/313124/digitale-pressekonferenz-und-buchvorstellung-zur-sinus-jugendstudie-2020/
Digitale Pressekonferenz und Buchvorstellung am 23.07.2020 / Sonderkapitel zur Corona-Pandemie / Bitte vorher verbindlich anmelden
[ "Presseeinladung", "Pressekonferenz", "sinus-jugendstudie" ]
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Vom bescheidenen Wertarbeiter zur arroganten Chefin | Deutschland Archiv | bpb.de
Demonstration Spanischer Gewerkschaften gegen den Sparkurs der Regierung am 15. September 2012 in Madrid. (© dpa) In einem besorgten Artikel in der führenden spanischen Tageszeitung El País vom 26. April 2013 wendet sich der deutsche Botschafter in Spanien, Reinhard Silberberg, gegen das aus seiner Sicht ungerecht verzerrte Deutschlandbild der Spanier. Er sei es leid, ständig vom egoistisch-unsolidarischen Deutschland zu hören, das Europa im Stich lasse und die Südländer durch aufgezwungene Sparsamkeitsdiktate stranguliere, während Deutschland in Wahrheit am meisten für ein gemeinsames Europa leiste. Des Botschafters Sorge weist auf ein grundlegend verändertes Deutschlandbild in Spanien und anderen südeuropäischen Ländern hin. Das große Vertrauen in ein wiedervereintes Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa ist seit dem Beginn der Krise und der allzu deutlichen Führungsrolle der stärksten europäischen Wirtschaftsmacht einem wachsenden Misstrauen und Unmut gegenüber dem Land der neuen "eisernen Lady" gewichen. Der vorliegende Beitrag vergleicht das Deutschlandbild der Spanier der frühen 1990er Jahre mit dem aktuellen Image der Deutschen in Spanien. Er zeichnet die Entwicklung seit dem Betritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft (1986) und der folgenden Vereinigung Deutschlands (1990) bis zur aktuellen Krise des Integrationsprozesses und der Währungsunion nach. Die gegenseitige Wahrnehmung während des gesamten Zeitraums ist wesentlich durch die Rolle der beiden Länder im europäischen Einigungsprozess und durch den Verlauf des europäischen Integrationsprozesses bestimmt. Am Ende steht eine kritische Bestandsaufnahme der aktuellen Probleme eines allzu "deutschen Europas" und der einseitig verzerrten Wahrnehmung der deutschen Führungsrolle seitens der Spanier. Historisch unbelastet und entspannt Das traditionell sehr ehrfurchtsvoll und positiv besetzte Deutschlandbild der Spanier konsolidierte sich im Verlauf der Integration Spaniens in die Europäische Union (EU) nach dem Beitritt 1986, die mit der Vereinigung Deutschlands im Herzen des neuen, zusammenwachsenden Europa historisch zusammenfiel. Im Unterschied zu vielen europäischen Nachbarn leidet Spanien unter keinem Deutschland-Trauma. Zwischen Deutschland und Spanien gab es keine historischen Schlachten, keine kolonialen Auseinandersetzungen, keine Kämpfe um die Vormachtstellung in Europa, ja nicht einmal gescheiterte Allianzen wie diejenige zwischen Hitler und Mussolini. Während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-39) kam es auf der einen Seite zu Interventionen Hitlers zugunsten der aufständischen Franco-Generäle, mit dem traurigen Höhepunkt der Bombardierung der baskischen Stadt Gernika durch die deutsche Luftwaffe. Auf der anderen Seite kämpften aber auch viele deutsche Freiwillige in den Internationalen Brigaden für die Republik und gegen den Faschismus. Spaniens Blick auf Deutschland ist daher traditionell eher entspannt und respektvoll distanziert. Die Spanier haben große Hochachtung vor dem deutschen Wiederaufbau nach 1945, der Qualität der Produkte, den Automarken, der seriösen Organisation und dem leistungsfähigen Sozialstaat. Die Erfahrungen der meisten spanischen Gastarbeiter in Westdeutschland waren positiv und haben vielen Familien geholfen, einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten. Etwa 600.000 spanische Gastarbeiter nutzten das 1960 unterzeichnete und bis 1973 gültige Anwerbeabkommen der Bundesrepublik mit Spanien zu einem – in der Regel vorübergehenden, mehrjährigen – Arbeitsaufenthalt im "Wirtschaftswunderland" Deutschland. Die deutschen Touristen waren ebenfalls willkommene Gäste beim Aufbau der bis heute führenden Wirtschaftsbranche. Selbst die Übernahme des Automobilherstellers SEAT – ein Symbol des spanischen "Wirtschaftswunders" – durch den VW-Konzern wurde weniger als Verlust, denn als Zukunftssicherung gesehen. Parallele Normalisierung im zusammenwachsenden Europa Das historisch unbelastete Verhältnis und der Respekt gegenüber den Deutschen prägte auch die grundsätzlich positive Sicht der Spanier auf die deutsche Einigung. Ganz anders als viele Franzosen, Briten, Holländer, Tschechen, Polen oder Dänen befürchteten sie keine Gefahr von einem großen Deutschland in der Mitte Europas. Die friedliche Vereinigung der zwei deutschen Staaten erschien ihnen als natürlicher Prozess, eingebettet in das glückliche Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Selbst eine gewisse Führungsrolle der bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Nation erschien ihnen logisch, und das Vertrauen in Deutschland war und ist viel größer als das in Frankreich oder gar in das Vereinigte Königreich. Das historische Zusammenfallen von Demokratisierung und Europäisierung auf spanischer Seite sowie die Vereinigung zweier deutscher Staaten inmitten eines neuen Europa am Ende des Kalten Krieges erzeugte gar eine unterschwellige Interessensallianz: den gemeinsamen Wunsch nach Normalisierung. Spanien ist seit Langem bemüht, die Rolle der peripher zurückgebliebenen Nation hinter den Pyrenäen am Tor zu Afrika hinter sich zu lassen, um sich als ganz normales, modernes europäisches Land zu etablieren. Der EU-Beitritt war ein entscheidender Schritt in diese Richtung und das sich einigende Europa ein idealer Kontext. Deutschland wiederum hatte aus anderen Gründen ein gleichgerichtetes Interesse nach einer neuen Rolle als ganz normales europäisches Land. Die Schmach der Geschichte sollte endlich überwunden und auf historische Distanz gebracht werden, Nationalsozialismus und SED-Diktatur sollten Geschichte, Demokratie und Freiheit dagegen allseits anerkannte deutsche Realität werden. War die ursprüngliche Europäische Gemeinschaft noch ein Projekt zur Kontrolle und Zähmung Deutschlands und der Westbindung der Bundesrepublik, so wollte das vereinte Deutschland nun wieder ein vollwertiges, seiner Größe und Stärke entsprechendes Mitglied der Staatengemeinschaft werden. Die politische Freundschaft der "Europäer" Helmut Kohl (1982-1998 Kanzler der Bundesrepublik) und Felipe González (1982-1996 Ministerpräsident von Spanien) hat in dieser Interessenskoinzidenz ihr zentrales Motiv und repräsentierte einen breiten Konsens der Bevölkerungen. Die Spanier waren durchaus bereit, einige "deutsche" Tugenden wie seriöses Unternehmertum und gewissenhafte Arbeit zu übernehmen, um im Gegenzug den Deutschen ein bisschen mediterrane Lebensfreude zu vermitteln. Gegenseitige Anerkennung und Angleichung der Lebensstile bildeten ein unterschwelliges Programm für die Wahrnehmung und Beziehung beider Nationen untereinander. Während des langen Booms der spanischen Wirtschaft zwischen 1994 und 2007 und der gleichzeitigen Stagnation des deutschen Wirtschaftsriesen, der mit den Auswirkungen der Globalisierung und den Folgen der Vereinigung kämpfte, verschoben sich gar die Anerkennungs- und Selbstbewusstseinsbeziehungen. Die Spanier übernahmen dankbar ihr neues positives Image der kreativen, innovativen und flexiblen Zukunftsnation und entwickelten erstmals ein leichtes Überheblichkeitsgefühl gegenüber den schwerfälligen, rigiden und konservativen Deutschen. Dass deutsche Banken und Versicherungen an der enorm anwachsenden und politisch angeheizten privaten Verschuldung der Unternehmen und Haushalte gut mitverdienten und deutsche Rentner viele der Häuser und Appartements an der Mittelmeerküste und auf den Ferieninseln erwarben, störte dabei nicht. Es kam auch niemand auf die Idee, dass dahinter eine deutsche Eroberungs- oder Hegemoniestrategie stecken könnte, so wie sie heute Frau Merkel und den deutschen Banken häufig unterstellt wird. Die Deutschen wurden weiterhin respektvoll betrachtet, aber man hatte ja nun eigene spanische Tugenden vorzuweisen. Die Krise und die neue Führungsrolle Deutschlands Vor diesem Hintergrund ist das aktuelle Deutschlandbild der vermeintlich arrogant-autoritären Chefin Europas, die in egoistisch unsensibler Manier ihre Austeritätsideologie den südeuropäischen Krisenländern aufzwingt und dabei auch noch die Interessen der deutschen Banken vertritt, eine neue Erscheinung, deren längerfristige Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen und Europa insgesamt noch schwer abzusehen sind. Ohne das unverantwortlich dumme Gerede vom "Vierten Reich", demzufolge Frau Merkel mit wirtschaftlichen Mitteln das erreicht, was Hitler mit militärischen Mitteln versagt blieb, ernst nehmen zu wollen, gilt es aber umso mehr, die Hintergründe für diesen Wandel im Deutschlandbild zu analysieren. Auffällig ist zuallererst das enorme Interesse für Deutschland. Die umfassende Berichterstattung rund um die Bundestagswahl vom September 2013 ist allenfalls mit dem Interesse für US-amerikanische Präsidentschaftswahlen zu vergleichen. Diese sind allerdings traditionell ein großes Medienspektakel, während deutsche Bundestagswahlen für gewöhnlich selbst interessierte Bürger eher langweilten. Wochenlang berichteten die Medien über Deutschland, publizierten Serien über das Land der Frau Merkel, druckten Sonderbeilagen und förderten so das Bild, dass nicht nur Spanien, sondern ganz Europa vom Wohlwollen der deutschen Regierung abhänge. Die augenblickliche Krise wies Spanien und Deutschland rasch gegensätzliche Positionen zu. Spanien reihte sich in die südeuropäischen Dauerkrisenländer ein, während Deutschland schnell und erfolgreich aus der Krise heraus zur wirtschaftlichen und bald auch politischen Führungsmacht emporstieg. Aus der geteilten Position einer Normalisierung im europäischen Kontext sind nun zwei gegenpolige Standpunkte geworden, Nord gegen Süd, Gläubiger gegen Schuldner, Nettozahler gegen Hilfeempfänger. Darüber hinaus scheint sich Deutschland aufgrund der Bedürfnisse seines Exportsektors zu einer "Weltwirtschaftsmacht” zu entwickeln. Dadurch, dass es seine außenpolitischen Ziele durch wirtschaftliche Mittel zu erreichen versucht, wendet sich das Land immer mehr von seinen europäischen Partnern ab. "Wir müssen sparen und verzichten, damit die deutschen Banken ihre Kredite zurückbekommen und sollen dabei den Euro stabilisieren, damit die deutschen Unternehmen weiter ihre Produkte in ganz Europa verkaufen können. Umgekehrt hilft uns niemand, unsere marode Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und unserer verzweifelten Jugend Arbeit und Perspektive zu verschaffen." Dies ist der Tenor der spanischen Wahrnehmung des aktuellen, von Frau Merkel dominierten, Eurokrisenmanagements. Alle lindernden Maßnahmen wie Eurobonds, Umschuldungen oder der Ankauf von Staatsschulden durch die Europäische Zentralbank scheinen von der deutschen Hardlinerin blockiert zu werden. Kritische deutsche Intellektuelle wie Ulrich Beck, der die rigorose Machtpolitik als "Merkiavelli-Methode" (angelehnt an Machiavelli) bezeichnet, oder Jürgen Habermas, der vom "Scheitern der Eliten" angesichts des auseinanderbrechenden Europa spricht, werden in Spanien begierig aufgenommen. Ein Europa der Deutschen auf Kosten der Peripherie, selbst wenn es sich nur um eine verzerrte Wahrnehmung handeln sollte, ist auf Dauer nicht haltbar. Zwischen falsch verstandener Führung und verzerrter Wahrnehmung Bauruinen in Zafra, Spanien. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise platze die Immobilienblase. (© dpa) Aus der Interessensallianz der frühen 1990er Jahre ist seit der Krise eine gefährliche Interessensdivergenz geworden. Der Wandel der deutsch-spanischen Beziehungen spiegelt einen tiefen Bruch in Europa wider. Der eingangs zitierte deutsche Botschafter hat sicherlich Recht, wenn er der spanischen Öffentlichkeit eine verzerrte Wahrnehmung der Realität vorhält, um Deutschland für die Folgen einer Wirtschaftskrise verantwortlich zu machen, die zu allererst hausgemacht ist. Niemand hat die spanischen Regierungen gezwungen, eine fiskalisch angeheizte Wohnungsbaupolitik zu betreiben; niemand hat die spanischen Banken und Sparkassen dazu gezwungen, das auf den Finanzmärkten billig und im Überschuss vorhandene Geld in eine Immobilien- und Hypothekenblase zu investieren; niemand hat die spanische Zentralbank dazu gezwungen, ihre Aufsichtsfunktionen zu vernachlässigen und die meisten Sparkassen und einige Banken in die Überschuldung schlittern zu lassen; niemand hat die spanischen Kommunen dazu gezwungen, sich durch undurchsichtige Baugenehmigungs- und Lizenzvergaben zu bereichern und dabei ein korrupt-klientelistisches Verwaltungssystem zu errichten; niemand hat die spanischen Unternehmen dazu gezwungen, einen Schuldenberg aufzutürmen, der das Sozialprodukt bei Weitem übersteigt; und niemand hat die spanischen Haushalte dazu gezwungen, einen ebenso hohen Schuldenberg in Form von Hypotheken und Konsumentenkrediten anzuhäufen. Für all diese Krisenursachen will weder die spanische Politik noch die spanische Bevölkerung die Verantwortung übernehmen, und die Schuldzuweisung an "Señora Merkel" erfüllt dafür einen hervorragenden Dienst. Immer mehr Spanier bilden sich ein, dass eine Art von neoimperialistischer Vormachtstrategie der Deutschen das arme südliche Spanien unterjocht. Das dahinter verborgene politische Zukunftsproblem ist allerdings noch weitaus dramatischer als die realitätsverzerrende Entsorgung vergangener Verantwortlichkeiten und betrifft nicht nur Spanien, sondern auch Deutschland und den Rest Europas. Niemand zwingt die spanische Regierung (im Unterschied zu Griechenland) dazu, eine die Wirtschaft und Gesellschaft zerstörende Sparpolitik zu betreiben, die eine Deflationsspirale in Gang gesetzt hat, die noch für lange Zeit eine wirtschaftliche Erholung ausschließt. Statt eine gezielte Wirtschaftsförderungspolitik mit Anreizen für mehr Forschung, Entwicklung und Innovation zu betreiben, statt eine umfassende Steuerreform mit dem Ziel einer gerechteren Einkommensverteilung anzustoßen und statt eine ebenso notwendige Verwaltungsreform für mehr Transparenz und Effizienz in die Wege zu leiten, folgt die spanische Regierung dem neoliberalen Kürzungs- und Deregulierungsdogma. Dadurch gießt sie immer mehr Öl ins Feuer. Diese verheerende Politik wird in der Tat im Namen Merkels und der von ihr angeblich dominierten EU bzw. der "Troika" (Europäische Zentralbank, Europäische Kommission, Internationaler Währungsfonds) betrieben, um sich so bequem der eigenen Verantwortung zu entledigen. So wird in vielen Teilen Europas ein politischer Diskurs geführt, der Deutschland eine dominante Führungsrolle zuweist, die ihm weder zukommt noch der Realität entspricht. Die deutsche Regierungschefin repräsentiert in diesem Diskurs die unhintergehbare Macht der Märkte, die unvermeidlich befolgt werden muss und gegen die man allenfalls anjammern kann, ohne sie wirklich beeinflussen zu können. Dass die neue deutsche Hegemonie im Namen der (Finanz-)Märkte ausgeübt wird, birgt eine tödliche Gefahr für das europäische Projekt insgesamt. Es geht um die Zukunft Europas. "Wie lange kann man sich auf die Fähigkeit der Deutschen, sich kleiner zu machen als sie wirklich sind, verlassen?", hat der polnische Autor Krzysztof Wojciechowski jüngst im Deutschland Archiv die entscheidende Frage der europäischen Gegenwart und Zukunft formuliert. Die Frage muss leider mit "keine Minute länger" beantwortet werden. In der Wahrnehmung vieler Europäer sind Willy Brandts Demutsgesten Angela Merkels erhobenem Zeigefinger gewichen, und die Spanier reagieren auf die neue Überheblichkeit Deutschlands mit wachsender Kritik. Deutschland ist plötzlich in das Zentrum des europäischen Doppelproblems gerückt: die Rettung des Euro ist nur durch eine Vertiefung des europäischen Projekts denkbar, d.h. durch eine tiefgreifende institutionelle Reform der EU hin zu einer koordinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik und hin zu einer demokratischen politischen Union. Im Moment ist allein die Bundesrepublik zu einer derartigen Initiative in der Lage, doch eine solche ist wenig populär und ruft allerorten euroskeptische Kräfte auf den Plan. In dieser Situation erscheint business as usual, ein passives Abwarten, bequemer. Doch dieser Kurs droht Europa in eine historische Existenzkrise mit ebenso weitreichenden wie unkalkulierbaren Folgen und Risiken zu stürzen. Den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und Angela Merkel eint derzeit wenig, außer dem, was Jürgen Habermas das "Scheitern der Eliten" in Form eines Demoskopie geleiteten Opportunismus nennt: "Der europäische Einigungsprozess, der immer schon über die Köpfe der Bevölkerung hinweg betrieben worden ist, steckt heute in der Sackgasse, weil er nicht weitergehen kann, ohne vom bisher üblichen administrativen Modus auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung umgestellt zu werden. Stattdessen stecken die politischen Eliten den Kopf in den Sand. Sie setzen ungerührt ihr Eliteprojekt und die Entmündigung der europäischen Bürger fort." Das Spanienbild der Deutschen war lange nicht so schlecht wie heute, und das Deutschlandbild der Spanier war vielleicht noch nie so schlecht wie zurzeit: Der "sympathische Lebenskünstler" ist dem "ineffizienten und korrupten Dopingbetrüger" gewichen, so wie der "bescheidene und gewissenhafte Arbeiter" dem "hochnäsig arroganten Befehlsgeber". Beide Seiten sitzen dabei medial aufbereiteten Verzerrungen und Übertreibungen auf, und ein veränderter Kontext würde sicher rasch wieder zurück zu gegenseitiger Achtung und Sympathie führen können. Allein dieser Kontext eines tatsächlich und nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und kulturell zusammenwachsenden Europas ist derzeit in weite Ferne gerückt. Zitierweise: Holm-Detlev Köhler, Vom bescheidenen Wertarbeiter zur arroganten Chefin, Wandlungen im Deutschlandbild der Spanier von der Vereinigung bis zur Wirtschaftskrise, in: Deutschland Archiv Online, 11.11.2013, http://www.bpb.de/172169. Demonstration Spanischer Gewerkschaften gegen den Sparkurs der Regierung am 15. September 2012 in Madrid. (© dpa) Bauruinen in Zafra, Spanien. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise platze die Immobilienblase. (© dpa) Der Begriff "Europäische Union" wird hier generell für die verschiedenen Bezeichnungen wie Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft, etc. verwendet. Migration und Bevölkerung, Im Rückblick: 50. Jahrestag der Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland, März 2010, in: Externer Link: http://www.migration-info.de/node/100308. La Europa alemana y el IV Reich, in: La Voz de Galicia, 31.3.2013; Merkel y el IV Reich, in: El Público, 6.12.2012; Renace Alemania: ¿Habra un Cuarto Reich, in: El Mundo de Mañana, 2008, in: Externer Link: http://www.mundomanana.org/articulos/renace-alemania-habra-un-cuarto-reich-a059. Siehe Ulrich Beck, Das deutsche Europa, Berlin 2012; El País, 24.1.2013. Der Spiegel, 32/2013; El País, 20.8.2013. Vgl. u.a. Vicenç Navarro, Die deutsche Politik bedroht Europa, in: Kulturaustausch, Zeitschrift für internationale Perspektiven, Nr. II, 2013. Krzysztof Wojciechowski, Zeigt Format und gebt zu, dass die Deutschen etwas Großes geleistet haben, in: Deutschland Archiv Online, 31.07.2013, Externer Link: http://www.bpb.de/165462. Jürgen Habermas, in: Süddeutsche Zeitung, 7.4.2011. So zumindest einige Meinungsumfragen wie diejenige des Real Instituto Elcano, siehe: La Vanguardia, 11.9.2013.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-14T00:00:00"
"2013-11-07T00:00:00"
"2022-02-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/172169/vom-bescheidenen-wertarbeiter-zur-arroganten-chefin/
Das Deutschlandbild der Spanier hat sich seit der Wirtschafts- und Finanzkrise fundamental gewandelt, stellt Holm-Detlev Köhler in seinem Essay fest. Viele Spanier machen den von Angela Merkel verordneten Sparkurs für die anhaltende Krise in ihrem La
[ "Spanien", "Angela Merkel", "Merkel", "EU", "Euro", "Deutsche Einheit", "Finanzkrise", "Wirtschaftskrise", "Europa" ]
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"Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?" | Performing Documentary | bpb.de
Textauszug aus dem Film: Alfons Müller Wipperfürth ist Textilindustrieller. Alfons Müller Wipperfürth beginnt 1931 mit sieben Arbeitern und drei Nähmaschinen. Er verkauft die Ware vor Werkstoren, von der Ladefläche herab. Später hat er für jede seiner Filialen einen je eigenen Schlüssel. Nach Dienstschluss kommt er in die Verkaufsräume. Ist er unzufrieden, hinterlässt er eine Visitenkarte. Müller Wipperfürth darf nicht länger als 6 Monate in Österreich sein, sonst fallen Privatsteuern an. Um sich zu erweitern, errichtet er in Belgien und Österreich Produktionsstätten; und in Italien und Tunesien. Müller-Wipperfürth trennt die Nähte der Kostüme seiner dritten Frau auf. Er zeigt ihr, wie schlecht die Ware gemacht ist. Die Frau verliert jede Freude an ihrer Kleidung und trägt Lederkostüme. In der BRD hat Müller Wipperfürth Steuerschulden. Gerhard Friedl (Textauszug aus dem Film)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-17T00:00:00"
"2012-11-15T00:00:00"
"2021-12-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/149065/hat-wolff-von-amerongen-konkursdelikte-begangen/
Ein Film an der Grenze zwischen Dokument und Essay. Kamerafahrten durch deutsche Industriestätten treffen auf eine Off-Stimme, die zwischen Businessnachrichten und boulevardesquen Softnews wechselt.
[ "Dokumentarfilm", "Essayfilm", "Industrie" ]
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Migrationspolitik – Juni 2021 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Interner Link: Afghanistan zweitwichtigstes Herkunftsland von Schutzsuchenden Interner Link: Zahl in Deutschland geborener Schutzsuchender gestiegen Interner Link: Nettozuwanderung gesunken Interner Link: Weltweit immer mehr Menschen auf der Flucht Interner Link: Deutschland will mehr afghanische Ortskräfte aufnehmen Interner Link: EuGH: "Mindestopferzahl" darf nicht alleiniges Kriterium zur Vergabe subsidiären Schutzes sein Interner Link: Keine Einbürgerung bei antisemitischen oder rassistischen Straftaten Interner Link: Ausländische Pflegekräfte müssen Mindestlohn erhalten – auch in der 24-Stunden-Pflege Interner Link: Was vom Monat übrig blieb... Afghanistan zweitwichtigstes Herkunftsland von Schutzsuchenden Im ersten Halbjahr 2021 war Interner Link: Afghanistan das zweitwichtigste Herkunftsland von Externer Link: Asylerstantragstellenden – hinter Interner Link: Syrien, das seit 2014 in Deutschland durchgängig die Liste der Herkunftsländer anführt. Der Anteil von Afghaninnen und Afghanen an allen Asylerstantragstellenden belief sich auf 12,9 Prozent. Zum Vergleich: In den ersten sechs Monaten des Externer Link: Vorjahres belegte Interner Link: Afghanistan Platz drei der wichtigsten Herkunftsländer. Der Anteil afghanischer Staatsangehöriger an allen Erstantragstellenden lag damals bei 7,6 Prozent. Insgesamt nahm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seit Jahresbeginn 58.927 Erst- und 22.357 Folgeanträge auf Asyl entgegen. Die Gesamtzahl der Asylanträge belief sich damit auf 81.284, was einen Anstieg um 48,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet (Januar bis Juni 2020: 54.798 Asylanträge). Die Zahlen sind allerdings unter den Bedingungen der Corona-Pandemie zu betrachten: 2020 war die Zahl der vom BAMF entgegengenommenen Asylanträge im Zuge von Grenzschließungen und Einreisebeschränkungen im Frühjahr Interner Link: signifikant zurückgegangen; ein Vergleich mit den Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2021 ist daher nur eingeschränkt möglich. Das zeigen auch die monatlichen Asylzahlen: Im Juni 2021 nahm das BAMF 11.699 Asylanträge entgegen – im Juni 2020 waren es weniger als die Hälfte: 5.576. Im ersten Halbjahr 2021 waren 21,8 Prozent der Asylerstantragstellenden (12.830) in Deutschland geborene Kinder unter einem Jahr. Zahl in Deutschland geborener Schutzsuchender gestiegen Seit 2015 hat sich die Zahl in Deutschland geborener Schutzsuchender im Vergleich zu den fünf Jahren vor 2015 mehr als versechsfacht. Das hat das Statistische Bundesamt auf der Basis einer Sonderauswertung der Geburtsjahrgänge 2010 bis 2019 aus dem Ausländerzentralregister Externer Link: berechnet. Demnach kamen zwischen 2015 und 2019 im Jahresdurchschnitt 27.200 Kinder in Deutschland zur Welt, die anschließend als Schutzsuchende registriert wurden. In den Jahren 2010 bis 2014 waren es durchschnittlich 4.400. Von 2014 (7.490) auf 2015 (15.000) sowie von 2015 auf 2016 (32.920) hatte sich die Zahl jeweils verdoppelt und sank seitdem leicht auf zuletzt 26.795 im Jahr 2019 ab. Dass die Zahl der neugeborenen Schutzsuchenden derart sprunghaft angestiegen ist, hängt mit der erhöhten Zahl von Schutzsuchenden im jungen Erwachsenenalter zusammen, die im Zeitraum 2014 bis 2016 nach Deutschland kamen: Das Aufenthaltsrecht von in Deutschland geborenen ausländischen Kindern hängt vom Aufenthaltsstatus ihrer Eltern ab. Haben sie eine Asylberechtigung, den Flüchtlingsstatus oder Interner Link: subsidiären Schutz erhalten, kann die jeweilige Schutzform im Rahmen des Externer Link: Familienasyls auch auf die in Deutschland geborenen Kinder übertragen werden. Insgesamt geht das Bundesamt von rund 158.000 neugeborenen Schutzsuchenden zwischen 2010 und 2019 aus. Etwa die Hälfte der neugeborenen Schutzsuchenden wurde in eine unsichere Aufenthaltssituation hineingeboren: Bei 36 Prozent von ihnen war der Schutzstatus noch offen, weitere 14 Prozent der Neugeborenen waren als Personen mit abgelehntem Schutzstatus registriert. Die übrigen 50 Prozent verfügten kurz nach der Geburt über einen Schutzstatus. Insgesamt lebten Ende 2019 rund 497.000 minderjährige Schutzsuchende in Deutschland, von denen 30 Prozent (150.000) hier geboren worden waren (2016: 17 Prozent). Nettozuwanderung gesunken Im Jahr 2020 sind rund 220.000 Personen mehr nach Deutschland zugewandert als ins Ausland abgewandert. Wie das Statistische Bundesamt Externer Link: mitteilte, fiel die Nettozuwanderung damit deutlich geringer aus als im Vorjahr (2019: 327.000 Personen),. Sie ging im fünften Jahr infolge zurück. Insgesamt wurden 2020 rund 1.187.000 Zuzüge und 966.000 Fortzüge registriert. Es wird vermutet, dass die im Rahmen der Corona-Pandemie verhängten Einschränkungen im Reiseverkehr sowie pandemiebedingte wirtschaftliche Unsicherheiten zum Rückgang grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen beigetragen haben. Wanderungsgewinne verzeichnete Deutschland wie in den meisten Vorjahren vor allem mit Blick auf Personen aus anderen europäischen Staaten. Die Nettozuwanderung dieser Gruppe betrug 173.000 Personen (2019: 214.000), während sie sich bei Staatsangehörigen aus asiatischen Staaten auf 55.000 und bei jenen aus afrikanischen Staaten auf 16.000 Personen belief. Mit Blick auf Europa wurden die höchsten Wanderungsüberschüsse unter Staatsangehörigen aus Rumänien (rund 42.700), Bulgarien (24.500) und Kosovo (11.000) verzeichnet; die Nettozuwanderung aus asiatischen Ländern war bei syrischen (21.100), afghanischen (8.400) und indischen (7.800) Staatsangehörige am höchsten. Bzgl. der Wanderungsbewegungen aus Afrika lagen die höchsten Wanderungsgewinne bei Marokko (3.900 Personen), Tunesien (2.200) und Ghana (1.700). Die beliebtesten Zielländer fortziehender deutscher Staatsangehöriger waren die Schweiz, Österreich und die USA. Weltweit immer mehr Menschen auf der Flucht Ende 2020 waren weltweit 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Das geht aus dem Externer Link: Jahresbericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor, der anlässlich des Interner Link: Weltflüchtlingstags am 20. Juni veröffentlicht wurde. Die Zahl der Menschen auf der Flucht lag damit – wie schon in jedem der letzten Jahren – auf einem neuen Höchststand. Von den 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht waren 26,4 Millionen aus ihrem Herkunftsland in ein anderes Land geflohen, in dem ihnen ein Schutzstatus zuerkannt worden ist (Flüchtlinge). Darunter waren 5,9 Millionen Palästina-Flüchtlinge, die nicht unter dem Mandat von UNHCR, sondern unter dem Schutz des UN-Interner Link: Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) stehen. Hinzu kommen 3,9 Millionen vertriebene Venezolanerinnen und Venezolaner, die aufgrund der schweren wirtschaftlichen, politischen und humanitären Krise in Venezuela Interner Link: Schutz in anderen Ländern gesucht haben. Weitere 4,1 Millionen Menschen waren ebenfalls aus ihren Herkunftsländern geflohen, warteten Ende 2020 aber noch auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag. Den größten Anteil an Menschen auf der Flucht stellen Interner Link: Binnenvertriebene, also Menschen, die aus ihren Heimatorten fliehen mussten, sich aber weiterhin in ihren Herkunftsländern befinden. Ihre Zahl ist Interner Link: ebenfalls seit Jahren gestiegen und belief sich Ende 2020 auf rund 48 Millionen Menschen. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) aller unter UNHCR-Mandat stehenden Menschen, die über die Grenze ihres Herkunftslandes geflohen sind oder vertrieben wurden, stammten aus nur fünf Ländern: Interner Link: Syrien (6.7 Millionen Flüchtlinge), Interner Link: Venezuela (4,0 Millionen), Interner Link: Afghanistan (2,6 Millionen), Interner Link: Südsudan (2,2 Millionen) und Interner Link: Myanmar (1,1 Millionen). 73 Prozent von ihnen hatten in den direkten Nachbarländern Zuflucht gefunden. In absoluten Zahlen haben die Türkei (3,7 Millionen), Interner Link: Kolumbien (1,7 Millionen), Pakistan (1,4 Millionen), Interner Link: Uganda (1,4 Millionen) und Interner Link: Deutschland (1,2 Millionen) die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Die Hauptlast (86 Prozent) der Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen trugen 2020 erneut die Länder des Globalen Südens. Deutschland will mehr afghanische Ortskräfte aufnehmen Deutschland will mehr Afghaninnen und Afghanen aufnehmen, die für die Bundeswehr und andere deutsche Sicherheitsbehörden in Afghanistan gearbeitet haben. Zunächst war geplant, nur solchen sogenannten Ortskräften Schutz zu gewähren, die in den vergangenen zwei Jahren deutsche Einsatzkräfte unterstützt haben – etwa als Fahrer oder Dolmetscher. Nun sollen auch Personen aufgenommen werden können, die ab 2013 als Ortskräfte beschäftigt waren. Zu den ursprünglich erfassten rund 400 als gefährdet eingeschätzten Ortskräften und ihren Familienangehörigen kämen nun etwa weitere 350 Personen und ihre Familien hinzu. Anfang Juli gab das Auswärtige Amt bekannt, dass bislang Visa für rund 2.400 Personen erteilt worden sind. Hintergrund der Ausweitung des Schutzprogramms seien laut Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) neue Erkenntnisse zur Interner Link: Sicherheitslage in Afghanistan. Diese hatte sich bereit in den letzten Jahren aus Sicht von Beobachterinnen und Beobachtern zunehmend verschärft. Durch den am 14. April 2021 angekündigten (und teilweise bereits vollzogenen) Abzug aller NATO-Truppen bis zum 11. September, wird eine weitere Verschlechterung erwartet. Die mit der NATO-Intervention 2001 zurückgedrängten Taliban konnten ihren militärischen und politischen Einfluss in Afghanistan zuletzt wieder ausweiten. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass sich die Taliban an ehemaligen Ortskräften für die Unterstützung der internationalen Truppen nach deren Abzug rächen könnten. Das Aufnahmeprogramm für gefährdete Ortskräfte und ihre Familien besteht bereits seit 2013. Diese hatten bislang die Möglichkeit, innerhalb von zwei Jahren nach Ende ihrer Beschäftigung einen Antrag auf Aufnahme zu stellen. Im Rahmen des sogenannten Ortskräfteverfahrens prüft ein Gremium der Bundeswehr die individuelle Gefährdung der einzelnen Ortskräfte. Liegt eine konkrete oder latente Gefährdung vor, empfiehlt es dem Bundesinnenministerium, eine Aufnahmezusage zu erteilen (nach § 22 Satz 2 AufenthG). Nach Angaben des Bundesinnenministeriums fanden darüber seit 2013 rund 3.400 Personen Schutz in Deutschland. Flüchtlingsorganisationen Externer Link: wie Pro Asyl kritisieren, dass das Ortskräfteverfahren keine schnelle Ausreise garantiere und zu bürokratisch sei. Medienberichten zufolge sind viele gefährdete Ortskräfte bei der Antragsstellung vor Ort in Afghanistan auf sich alleine gestellt und müssen ihre Ausreise nach Deutschland selbst organisieren und bezahlen. Eine Externer Link: Kleine Anfrage der FDP-Fraktion im Bundestag habe zudem ergeben, dass die Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zunächst auf drei Jahre befristet sei. EuGH: "Mindestopferzahl" darf nicht alleiniges Kriterium zur Vergabe subsidiären Schutzes sein Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat gegen die Rechtsprechung des deutschen Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) Externer Link: geurteilt, wonach als maßgebliches Kriterium für die Zuerkennung Interner Link: subsidiären Schutzes in Gewaltkonflikten eine "Mindestopferzahl" von Zivilpersonen vorliegen müsse. Das darin ausgedrückte Verhältnis der Zahl ziviler Opfer zur Gesamtzahl der in der Herkunftsregion von Asylsuchenden lebenden Bevölkerung sei zwar relevant zur Bestimmung der "ernsthaften individuellen Bedrohung", dürfe aber nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium sein. Sattdessen müssten zur Einschätzung der Bedrohungslage alle Umstände umfassende Berücksichtigung finden, die die Situation der schutzsuchenden Person im Herkunftsland prägen, etwa die Dauer des Konflikts und der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte. Die Urteile des EuGH sind für alle Gerichte und alle Bürgerinnen und Bürger in der EU bindend, weshalb sowohl die deutsche Rechtsprechung als auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gehalten sind, ihre Entscheidungspraxis mit Blick auf die Gewährung subsidiären Schutzes anzupassen. Mit der Entscheidung reagierte der EuGH auf eine Anfrage des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg, ob die Rechtsprechung des BVerwG mit Unionsrecht vereinbar sei. Hintergrund waren die Klagen zweier Afghanen, deren Asylanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie den erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten in Karlsruhe und Freiburg im Breisgau abgelehnt worden waren, woraufhin die Männer vor dem VGH Baden-Württemberg Berufung eingelegt hatten. Dieser war zu dem Schluss gekommen, dass den beiden Männern subsidiärer Schutz zu gewähren sei, was aber der Rechtsprechung des BVerwG widersprochen hätte. Keine Einbürgerung bei antisemitischen oder rassistischen Straftaten Eingewanderte, die wegen einer Interner Link: antisemitischen oder Interner Link: rassistischen Straftat verurteilt werden, sollen sich zukünftig nicht mehr Interner Link: in Deutschland einbürgern lassen können. Auf eine entsprechende Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts haben sich die Bundestagsfraktionen von CDU, CSU und SPD geeinigt. Desweiteren beschloss die Regierung, Propagandamittel von Organisationen zu verbieten, die auf der EU-Terrorliste stehen, darunter Flaggen der militanten palästinensischen Widerstandsbewegung Interner Link: Hamas. Mit diesen Entscheidungen reagierten die Koalitionsparteien auf Kundgebungen in deutschen Städten im Mai, auf denen Israel-Flaggen verbrannt, antisemitische Parolen gerufen und Synagogen angegriffen wurden. Teilweise waren bei den Protesten auch Hamas-Symbole zu sehen gewesen. Zuvor war der Interner Link: Konflikt zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas im Gaza-Streifen Interner Link: erneut militärisch-gewaltsam eskaliert. Ausländische Pflegekräfte müssen Mindestlohn erhalten – auch in der 24-Stunden-Pflege Aus dem Ausland nach Deutschland Interner Link: entsandte Betreuungskräfte, die in Privathaushalten pflegebedürftige Menschen unterstützen, müssen für die geleisteten Stunden den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt Externer Link: entschieden. Die Mindestlohnverpflichtung gilt auch dann, wenn die Pflegekraft im Privathaushalt der zu betreuenden Person wohnt, um zu allen Tages- und Nachtzeiten Arbeit zu leisten (sogenannte Interner Link: 24-Stunden-Pflege bzw. Live-in-Betreuung). Geklagt hatte eine Bulgarin, die von einer bulgarischen Agentur nach Deutschland vermittelt worden war und nach eigenen Angaben rund um die Uhr für die Versorgung einer über 90 Jahre alten Frau in Berlin zur Verfügung stehen musste. Das BAG entschied, dass ihr auch für Bereitschaftszeiten der deutsche Mindestlohn zustehe. Das Urteil bringt das bisherige Modell der 24-Stunden-Pflege ins Wanken, da in Zukunft für die Bezahlung ausländischer Pflegekräfte deutlich höhere Kosten anfallen werden. Derzeit arbeiten die vor allem aus Osteuropa stammenden Pflegekräfte unter prekären Bedingungen. Leben sie im Haushalt der Pflegebedürftigen, sind sie von den Arbeitszeitregelungen ausgenommen, die im von Deutschland 2013 ratifizierten Externer Link: Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte der Internationalen Arbeitsorganisation festgelegt sind. Ferner haben sie zumeist keinen Anspruch auf Urlaub und verdienen wenig Geld. Laut Verbraucherzentrale und Branchenverbänden kosten osteuropäische Pflegekräfte monatlich zwischen 2.000 und 3.000 Euro – inklusive aller anfallenden Sozialabgaben, die entweder in Deutschland oder im Herkunftsland der Pflegekraft abgeführt werden müssen. Würden die gesetzlichen Maßstäbe des Arbeitsrechts an die 24-Stunden-Pflege angelegt, müssten für den Arbeitstag mehrere Vollzeitstellen verteilt und Erholungs- und Urlaubstage gewährt werden – was die Kosten deutlich steigen lassen würde. Schätzungen zufolge sind in bis zu 300.000 Privathaushalten in Deutschland eine oder mehrere ausländische Betreuungskräfte beschäftigt. Die meisten sind bei einer Agentur in ihrem Herkunftsland angestellt und werden für zwei bis drei Monate nach Deutschland entsandt, Interner Link: bevor sie in ihr Herkunftsland zurückkehren und von einer anderen Pflegekraft abgelöst werden. Was vom Monat übrig blieb... Deutsche Auslandsvertretungen haben 2020 deutlich weniger Visa für den Familiennachzug erteilt (Externer Link: 75.978) als 2019 (Externer Link: 107.520). Darunter sind auch Visa für ausländische Staatsangehörige zum Nachzug zu einem bereits in Deutschland lebenden Familienmitglied, das einen Schutzstatus anerkannt bekommen hat. Insgesamt wurden 2020 7.231 Visa für den Nachzug von Familienangehörigen von Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen ausgestellt (2019: 13.706) sowie 5.271 Visa für Familienangehörige von Subsidiär Schutzberechtigten (2019: 11.129). Bundestag und Bundesrat haben Externer Link: beschlossen, dass ins Ausland geflohene Verfolgte des NS-Regimes und ihre Nachkommen in Zukunft einen gesetzlichen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Bislang war eine erleichterte Einbürgerung für diesen Personenkreis nur möglich, wenn mindestens ein Elternteil vor dem 1. Januar 2000 geboren worden war. Nach der neuen Regelung müssen sie lediglich nachweisen, dass ihre Vorfahren zu Bevölkerungsgruppen gehören, die zwischen 1933 und 1945 verfolgt wurden. Griechenland will seine Landgrenze zur Türkei technisch aufrüsten – mit Unterstützung der EU. An der bereits durch eine Stahlmauer gesicherten Grenze im Nordosten Griechenlands sollen neben Infrarotkameras und Drohnen auch Schallkanonen eingesetzt werden. Kritiker sehen in derem Einsatz einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Urteil: Externer Link: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=242566&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=200513
Article
Vera Hanewinkel
"2021-09-30T00:00:00"
"2021-07-09T00:00:00"
"2021-09-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/336392/migrationspolitik-juni-2021/
Wie viele Menschen sind 2020 nach Deutschland zugewandert? Wie viele waren weltweit auf der Flucht? Der Rückblick auf migrationspolitische Entwicklungen im Juni.
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